Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha 9783412217457, 9783412223427

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Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha
 9783412217457, 9783412223427

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Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation Im Auftrag der »Historischen Kommission für Thüringen« herausgegeben von Werner Greiling und Uwe Schirmer in Verbindung mit Joachim Bauer, Enno Bünz, Ernst Koch, Armin Kohnle, Josef Pilvousek und Ulman Weiß Band 2

Eckhard Bernstein

Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gefördert mit freundlicher Unterstützung durch: Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), Kulturstiftung Gotha, Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Holzschnitt von Hans Schäufelin, aus: Emil Reicke, Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Jena 1924.

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Charlotte Bensch Redaktion und Satz: Dr. Alexander Krünes Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22342-7

Inhalt

I.

EINLEITUNG..........................................................................................................11

II. STATIONEN DER JUGEND: HOMBERG, DEVENTER, ERFURT .....................23 1. Deventer – Geistesschmiede deutscher Humanisten .............................24 2. Als Student in Erfurt ....................................................................................28 3. Humanismus in Erfurt .................................................................................31 4. Mutian als Dozent an der Philosophischen Fakultät ..............................35 III. STUDIENJAHRE IN ITALIEN ................................................................................39 1. Aufbruch nach Italien ..................................................................................39 2. Deutsche Studenten in Italien ....................................................................41 3. Mutians italienische Studien- und Aufenthaltsorte .................................43 3.1 Ferrara ....................................................................................................43 3.2 Bologna ..................................................................................................44 3.3 Rom ........................................................................................................52 3.4 Venedig, Mailand, Mantua und Florenz? .........................................53 4. Mutian – ein in Italien gefeierter Name? .....................................................56 IV. RÜCKKEHR NACH DEUTSCHLAND – SEINE ÄUSSEREN LEBENSUMSTÄNDE .............................................................. 59 1. Gotha zu Mutians Zeit ................................................................................60 2. „Fröhliche Armut“? – Mutians Vermögensverhältnisse ........................60 3. Mutians Haus in Gotha ...............................................................................64 4. Mutians Famuli .............................................................................................66 V.

BEATA TRANQUILLITAS – ALS LEBENSFORM UND PROGRAMM ................73 1. Mutian – eine Ausnahmeerscheinung .......................................................74 2. Philosophische Fundierungen ....................................................................79

VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“ ........................................................83 1. Nikolaus Marschalk – der Wegbereiter des mutianischen Kreises...............................................83 2. Entstehung des mutianischen Kreises ......................................................88 3. Der Charakter des Mutian-Kreises ............................................................90

6

INHALT

4. Wer gehörte zu dem Kreis? ........................................................................92 5. Mutian – unangefochtenes Haupt des Gothaer Kreises ........................95 6. Mutians Antike-Verständnis .......................................................................96 7. Methoden der Aneignung ........................................................................ 100 8. Mutians Gegner ......................................................................................... 105 9. Das humanistische Gastmahl .................................................................. 107 VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN .............................................. 111 1. Heinrich Urban – der „Odysseus mit Kapuze“ ................................... 111 1.1 Briefe ................................................................................................... 117 1.2 Das ungleiche Paar – Literatur für Käse und Fische .................. 120 1.3 Die Angelegenheit mit der Nonne ................................................. 123 1.4 Studium in Leipzig – „nichts als Lappalien“ ................................ 125 1.5 Verwalter des Georgenthaler Hofes in Erfurt.............................. 126 2. Georg Spalatin – ein Mann macht Karriere .......................................... 129 2.1 Das Triumvirat entsteht ................................................................... 130 2.2 Spalatin als Lehrer in Georgenthal – eine Bresche für den Humanismus................................................. 131 2.3 Mutians Motive .................................................................................. 135 2.4 Spalatin in Georgenthal .................................................................... 136 2.5 Spalatins Priesterweihe ..................................................................... 138 2.6 „Unser Kandidat hat gesiegt“ – Spalatin als Prinzenerzieher ............................................................. 139 2.7 Als „Studienleiter“ an der Universität Wittenberg ...................... 144 2.8 Das Diplom – „langsam wie eine Schildkröte“ ............................ 146 2.9 Der Bruder Stephan – „eine unerfreuliche Erscheinung“ .................................................. 147 2.10 Vielfältige Aufgaben am kurfürstlichen Hof .............................. 149 2.11 Martin Luther – „wie einen Apoll verehrt“ ................................ 151 3. Helius Eobanus Hessus – der König der Poeten ................................. 152 3.1 Bemühungen um den Dichterlorbeer ............................................ 157 3.2 Bucolicon – Freunde verkleidet als Hirten ....................................... 159 3.3 Mutian in dem Bucolicon .................................................................... 160 3.4 Auf der Suche nach grüneren Weiden – Eobanus verlässt Erfurt.................................................................... 162 3.5 Eobanus’ Rückkehr nach Frankfurt a.O. und Leipzig ................ 164 3.6 Die Heroides christianae – christliche Heldinnen............................. 165 3.7 Nach „langen Irrfahrten“ zurück in Erfurt ................................. 167 3.8 Hessus’ Heirat – Spott der Freunde ............................................... 170 3.9 Hessus als Haupt der Erfurter Humanisten ................................. 173

INHALT

7 4. Herebord von der Marthen – der unbequeme Freund ....................... 174 4.1 Zwischen Bewunderung und Ärger – Mutians Verhältnis zu von der Marthen ........................................ 175 4.2 Themen: Beata Tranquillitas, Religion und Sex .............................. 179 4.3 „Vadat cacatum!“ – Ärger mit von der Marthen ......................... 181 5. Peter Eberbach (Petreius) – der heitere Spötter................................... 184 5.1 Das Verhältnis zu Mutian ................................................................ 187 5.2 Streit mit Eobanus Hessus............................................................... 189 5.3 Berichte aus Rom .............................................................................. 190 6. Crotus Rubeanus – der geniale Satiriker ................................................ 192 6.1 Crotus und Mutian – Seelenverwandtschaft zweier Spötter ............................................. 195 6.2 In Fulda – unter „analphabetischen Opferpriestern“ ................. 197 6.3 Italien 1517–1519 – ambivalente Eindrücke ................................ 198 6.4 „Unser Crotus ist wieder in Deutschland“ – Rückkehr nach Erfurt ....................................................................... 199 6.5 In Königsberg und Halberstadt – Wanderer zwischen den Konfessionen ......................................... 200 7. Euricius Cordus – der scharfzüngige Feuerkopf.................................. 203 7.1 Der Erfurter Poetenstreit – ein humanistischer Binnenstreit ...................................................... 205 7.2 Mutians Reaktion auf die Eklogen ................................................. 208 7.3 Mutians späte Hochschätzung des Cordus ................................... 216 8. Justus Jonas – vom Erasmianer zum Lutheraner................................. 221 8.1 Herkunft und Studien ....................................................................... 222 8.2 Kontakt zum Mutian-Kreis ............................................................. 223 8.3 Rektor der Universität Erfurt .......................................................... 226 8.4 „Habemus Jonam“ – Mutian empfiehlt Jonas als Jura-Professor .................................... 227 8.5 Jonas wird Lutheraner ...................................................................... 228 9. Johannes Lange – Humanist und Reformator ...................................... 230 9.1 Mutian und Lange ............................................................................. 231 9.2 Begeisterung für humanistische Studien ....................................... 233 9.3 Langes Hinwendung zu Luther ...................................................... 235 10. Ulrich von Hutten: Ritter – Humanist – Publizist ............................. 236 10.1 „Verschonen soll man mich mit derartigen Geistern“ – Mutian und Hutten ................................................... 241 10.2 Hutten und Hessus – unverbrüchliche Freunde........................ 245 10.3 Crotus und Hutten – eine lebenslange Freundschaft................ 251 10.4 Ein „Niemand“ kehrt aus Italien zurück .................................... 252

8

INHALT

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT ................................................................... 255 1. Italienische Vorbilder und Briefrhetoriken ........................................... 256 2. Einmalige Innenansicht – der besondere Charakter der mutianischen Korrespondenz........................................................... 257 3. Vielfältige Funktion der Briefe ................................................................ 259 4. Die äußere Form ........................................................................................ 261 5. Wichtig: der angemessene Stil ................................................................. 264 6. Weitgefächerte Thematik ......................................................................... 265 IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE................................................................................... 269 1. Der Judenbücherstreit und Reuchlin...................................................... 270 2. Reuchlins Augenspiegel ............................................................................... 273 3. Mutian und Reuchlin – Gegenseitige Wertschätzung zweier Wissenschaftler .............................................................................. 276 4. „Liebe die Reuchlinisten“ – Mobilisierung des mutianischen Kreises ............................................... 283 5. Mutians Motive der Unterstützung Reuchlins ...................................... 286 6. Arnobardisten gegen Reuchlinisten – Strategien der Verleumdung .................................................................... 289 7. Literarische Schützenhilfe für Reuchlin ................................................. 292 X.

„GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“ – MUTIAN ÜBER KIRCHE, KLERUS UND GOTT .............................................. 299 1. Kritik an kirchlichen Gebräuchen .......................................................... 300 2. Kritik an der Geistlichkeit ........................................................................ 307 3. Spitzname: „Duronius“ – Der Abt von Georgenthal ......................... 310 4. Schilderung des Mönchslebens ............................................................... 313 5. „Was ist in Rom nicht alles käuflich?“ – Romkritik ............................ 316 Exkurs: Positive Beurteilung der Zisterzienser ......................................... 317 6. „Ich murmle mit den Murmelnden“ – Mutians Amtsführung ............................................................................... 321 7. Mutians Gottesverständnis und Christologie ....................................... 322 8. „Nam gud und god idem sunt“ – Primat der Ethik ............................ 325 9. „Hüte dich, das laut auszusprechen!“ – die doppelte Wahrheit............................................................................... 328

XI. MUTIAN IM SPANNUNGSFELD VON HUMANISMUS UND REFORMATION ........................................................................................ 331 1. Mutian und Erasmus von Rotterdam..................................................... 332 2. Erfurter Erasmus-Begeisterung............................................................... 335

INHALT

9 3. Erasmus’ Kontroverse mit dem Engländer Edward Lee ................... 337 4. Justus Jonas und Crotus als Rektoren der Erfurter Universität ................................................................................... 339 5. Umschwung: von Erasmus zu Luther ................................................... 342 6. Mutian und Luther .................................................................................... 347 7. Mutians Ablehnung der lutherischen Positionen ................................. 353

XII. MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD .............................................................. 359 1. Die Situation in Gotha.............................................................................. 363 2. Der Bufleber Bierkrieg und der Gothaer „Pfaffensturm“ .................. 364 3. „Der Schrecken eines anderen Sturms“ – Der Bauernkrieg und Mutian ................................................................... 367 4. Mutians Tod – vier Versionen................................................................. 374 XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE NACHRUFE ......................................... 379 1. Reaktionen auf Mutians Tod ................................................................... 379 2. Literarische Zeugnisse .............................................................................. 380 2.1 Epicedion des Helius Eobanus Hessus (1531)............................. 380 2.2 Hodoeporicon des Jakab Micyllus .................................................. 384 2.3 Epicedion des Johann Stigel ............................................................ 386 2.4 Epitaphium und Narratio de Helio Eobano Hesso des Joachim Camerarius ................................................................... 387 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS..................................................................................... 393 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS............................................................ 394 Abkürzungen......................................................................................................... 394 A. Quellen............................................................................................................. 396 B. Forschungsliteratur ....................................................................................... 399 PERSONENREGISTER ................................................................................................. 424

I. EINLEITUNG

Zu Beginn seines Romans Doktor Faustus lässt Thomas Mann den Erzähler Serenus Zeitblom sich selbst vorstellen als einen „conjuratus des ‚Lateinischen Heeres‘, … als einen Nachfahre[n] der deutschen Humanisten aus der Zeit der ‚Briefe der Dunkelmänner‘, eines Reuchlin, Crotus von Dornheim, Mutianus und Eobanus Hesse“.1 Der große deutsche Romancier weist damit auf einen Kreis von Männern hin, zu dessen Kern außer den von ihm genannten noch der spätere Reformationspolitiker und Theologe Georg Spalatin, der Zisterziensermönch Heinrich Urbanus und die Juristen Peter Eberbach und Herebord von der Marthen gehörten. Unangefochtenes Haupt dieser Gruppe, die in den Worten des französischen Historikers Jean-Claude Margolin „eine kleine freie Republik der Wissenschaften und Freundschaft“ („une petite république libre de la science et de l’amitié“) darstellte,2 war aber der Gothaer Kanoniker Conradus Mutianus Rufus. Conrad Muth (1470/71–1526), oder Conradus Mutianus Rufus, wie er sich später nach humanistischer Tradition nannte, war einer der großen Humanisten nördlich der Alpen, der oft in einem Atemzug mit Johannes Reuchlin, Willibald Pirckheimer und Erasmus von Rotterdam genannt wurde. Geboren in dem hessischen Homberg an der Effze, ging er nach dem Besuch der Stiftsschule St. Lebuin in Deventer und dem Studium an der Universität Erfurt (von 1486 bis 1494) nach Italien, wo er 1501 in Ferrara zum Doktor im kanonischen Recht promoviert wurde. Im Jahre 1503 kehrte Mutian nach Deutschland zurück. Auf Wunsch seines Bruders Johannes, des Kanzlers des Landgrafen von Hessen, Wilhelms II., trat er als Rat in den hessischen Dienst, den er aber bereits nach kurzer Zeit quittierte. Im Alter von 32 Jahren siedelte er, versehen mit einer kirchlichen Pfründe, nach Gotha über. Ein selbstbestimmtes, nur dem 1

2

MANN, Doktor Faustus, S. 10. Zu Thomas Manns Verhältnis zur Renaissance und zum Humanismus vgl. PIKULIK, Thomas Mann und die Renaissance, bes. S. 122 ff. Dass Mann sich für die Zeit des deutschen Renaissance-Humanismus interessierte, geht auch daraus hervor, dass er eine Novelle über Erasmus von Rotterdam und Ulrich von Hutten plante. Vgl. dazu: WYSLING (Hg.), Thomas Mann, Teil II: 1918–1943, S. 67 ff. Johannes Reuchlin gehörte natürlich nie dem mutianischen Kreis an, wird hier wohl nur von Thomas Mann erwähnt, weil er von Mutian und seinen Schülern in der Reuchlin-Affäre publizistisch verteidigt wurde. Gemeint mit „Crotus aus Dornheim“ ist Johannes Jäger, der seinen Namen zunächst in Venatorius, dann auf Veranlassung Mutians in Crotus Rubeanus änderte. MARGOLIN, Mutianus Rufus et son modèle Érasmien, S. 178.

I. EINLEITUNG

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wissenschaftlichen Forschen gewidmetes Leben zu führen, war sein Ziel und Ideal. Das Fehlen kongenialer Gesprächspartner unter seinen geistlichen Kollegen kompensierte er dadurch, dass er einen Kreis meist jüngerer hochbegabter Freunde um sich scharte, mit denen er Ideen austauschte, klassische Studien betrieb und sie persönlich oder brieflich als Mentor betreute. Bald wurde sein Haus, dem er den Namen BEATA TRANQUILLITAS gab, zum Zentrum dieses ordo literarius – eben jenes von Serenus Zeitblom beschworenen „Lateinischen Heeres“. I. Eine Biographie Mutians gibt es nicht. Zwar enthalten die Vorworte der beiden maßgeblichen, Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Editionen seines Briefwechsels durch Carl Krause und Karl Gillert (siehe unten) wertvolle Hinweise zum Leben und Wirken Mutians, eine vollständige Lebensbeschreibung können und wollen sie nicht bieten, zumal Gillert durch seinen Tod an der Vollendung seiner biographischen Skizze verhindert wurde. Die moderne Auseinandersetzung mit Mutian fängt mit Fritz Halbauers Dissertation „Die geistesgeschichtliche Stellung des Mutianus Rufus“ an.3 Wie der Titel bereits nahelegt, beschäftigte sich der Verfasser mit der religiösen und philosophischen Gedankenwelt Mutians, ohne freilich der Gefahr der Atomisierung seines Gegenstandes zu entgehen. Aus Mutians Briefen, zu unterschiedlicher Zeit und an die unterschiedlichsten Personen gerichtet, versuchte Hallbauer anhand aus dem Zusammenhang gerissener Zitate ein kohärentes Gedankengebäude zu errichten, das es in dieser Form sicherlich nicht gegeben hat, denn der Intellektuelle Mutian war eine durchaus widersprüchliche Persönlichkeit. Diese Widersprüchlichkeit thematisierte der amerikanische Historiker Lewis W. Spitz in seinem Aufsatz „The Conflict of Ideas in Mutianus Rufus“4 und in dem Kapitel „Mutian: The Intellectual Canon“ seines Buches „The Religious Renaissance of the German Humanists“.5 Methodisch etwas anders verfuhr Fred E. Baumann in seinem Aufsatz „Mutianus Rufus and Natural Religion: A Test Case“.6 Anhand ausgewählter Briefe konzentrierte sich der amerikanische Wissenschaftler auf den Widerspruch zwischen klassischer heidnischer Philosophie und christlicher Frömmigkeit in den Briefen Mutians. Zu erwähnen sind noch zwei ungedruckte Dissertationen: Friedrich Wilhelm Krapp beschäftigte sich mit dem „Erfurter 3 4 5 6

HALBAUER, Die geistesgeschichtliche Stellung des Mutianus Rufus, Leipzig/Berlin 1929. SPITZ, The Conflict of Ideas in Mutianus Rufus Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 16 (1953), S. 121–143. DERS., The Religious Renaissance of the German Humanists, Cambridge, Mass. 1963. BAUMANN, Mutianus Rufus and Natural Religion: A Test Case, in: Renaissance Quarterly 29 (1976), S. 567–598.

EINLEITUNG

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Mutiankreis und seine Auswirkungen“.7 Horst Rudolf Abes materialreiche Dissertation aus dem Jahre 1953 „Der Erfurter Humanismus und seine Zeit“ beansprucht, eine Gesamtdarstellung des Erfurter Humanismus von etwas 1450 bis 1516 zu bieten. Unter Einbeziehung geographischer, sozialer, bevölkerungsund universitätsgeschichtlicher Aspekte bietet die Arbeit ein umfassendes Bild des Erfurter Humanismus, in dem natürlich auch Mutian eine bedeutende Rolle spielt. Das Abbrechen der Arbeit mit dem Jahre 1516 bedeutet allerdings, dass das letzte, wichtige Jahrzehnt von Mutians Leben unberücksichtigt blieb.8 Wenn es auch keine intellektuelle Biographie Mutians gibt, so ist doch seine Korrespondenz in letzter Zeit mehrfach Gegenstand von Untersuchungen geworden. Fidel Rädle gibt im Verfasserlexikon (Deutscher Humanismus 1480– 1520) einen exzellenten ausführlichen Abriss von Mutians Leben, seines Kreises und seiner Briefe.9 In zwei weiteren Aufsätzen untersucht er das Thema „Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus“,10 in seinem Essay „Mutianus Rufus (1470/1–1526) – Ein Lebensentwurf gegen die Realität“ bietet eine Gesamtschau des mutianischen Lebens.11 Der Verfasser selbst hat sich in mehreren Aufsätzen mit dem Gothaer Kanoniker und dessen Kreis beschäftigt. Das Fehlen einer Biographie Mutians hat mehrere Gründe. Obwohl er zu seinen Lebzeiten hochgeschätzt wurde, blieb er doch nach seinem Tode nahezu vergessen. Dazu beigetragen haben sicherlich im protestantischen Lager seine ambivalente oder gar ablehnende Haltung gegenüber der Reformation, die dazu führte, dass er von den Wittenberger Reformatoren schon zu seinen Lebzeiten missachtet, wenn nicht gar verfemt wurde. Den Altgläubigen andererseits war er schon während seines Lebens wegen seiner freimütigen und unorthodoxen religiösen Anschauungen, die ihnen trotz aller Vorsicht Mutians zu Ohren gekommen sein müssen, ein Dorn im Auge. Als Mann zwischen den Stühlen wurde er deshalb von beiden Lagern in den konfessionspolitischen Kämpfen des 16. Jahrhunderts weitgehend ignoriert. Aber das allein kann nicht der Grund für die fehlende Anerkennung in den folgenden Jahrhunderten gewesen sein. Auch Erasmus von Rotterdam, sein Mitschüler in Deventer und zeitlebens von ihm verehrter Freund, lavierte bekanntlich zwischen den Konfessionslagern und wurde im 16. Jahrhundert gleichermaßen von orthodoxen Lutheranern und Katholiken verdammt, ohne dass sein Ruhm nachhaltig darunter gelitten hätte. Im 7 8 9

KRAPP, Der Erfurter Mutiankreis und seine Auswirkungen, Diss. phil. Köln 1939. ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, Diss. phil. Erfurt 1953. RÄDLE, Mutianus Rufus, Conradus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 377–400. 10 DERS., Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus, in: HUBER-REBENICH/ LUDWIG (Hg.), Humanismus in Erfurt, S. 111–129. 11 DERS., Mutianus Rufus (1470/1–1526) – Ein Lebensentwurf gegen die Realität, in: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies LX (2011), S. 3–33.

I. EINLEITUNG

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Unterschied zu Mutian hatte aber der Holländer ein umfangreiches literarisches Werk hinterlassen, während Mutian sich weigerte, irgendetwas zu veröffentlichen. Sein Briefwechsel, sein eigentliches literarisches Œuvre, wurde erst vollständig 360 Jahre nach seinem Tode veröffentlicht. Worauf sollte sich sein posthumer Ruf gründen? II. Mutian hat kein einziges Werk veröffentlicht, mit der ironischen Begründung, dass auch Plato und Christus nichts publiziert hätten.12 Sein Leben aber aus diesem Grunde als „bestenfalls verschwendetes Potenzial“ zu bezeichnen, wie es der amerikanische Historiker Fred Baumann getan hat,13 geht an der Sache völlig vorbei. Anachronistisch orientiert sich dieses Urteil an der im amerikanischen Universitätsbetrieb üblichen Maxime „publish or perish“, nach der ein Fehlen oder eine ungenügende Zahl von Publikationen das Ende einer akademischen Karriere bedeuten kann. Nicht durch Veröffentlichungen, sondern durch seine Persönlichkeit wirkte der Gothaer Kanoniker. Er war also in erster Linie Lehrer, und zwar, glaubt man zeitgenössischen Urteilen, ein begeisternder und charismatischer Pädagoge. In Erfurt genoss er Kultstatus.14 Seinen „Schülern“ stellte er Aufgaben, scherzte mit ihnen, tadelte sie, wenn nötig, lud sie zu Gelagen ein, ging auf jeden Einzelnen ein und begeisterte sie für die antike Literatur. Das Studium der lateinischen und griechischen Literatur war Ziel und Programm, und diese Liebe an seine meist jüngeren Freunde weiterzugeben, seine Lebensaufgabe. Der Einfluss des mutianischen Kreises auf das geistige Leben Deutschlands in den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts war beträchtlich. Nicht nur stellte er trotz der geringen Zahl seiner „Mitglieder“ – man geht von etwa 15 Personen aus (vgl. Kap. V) – eine Art lockere Kaderschmiede dar, aus der eine Reihe bemerkenswerter Individuen hervorgingen, die im einzelnen zu betrachten sein werden, sondern er stellte auch „einen Machtfaktor ersten Ranges“ in den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit dar.15 So zeigten die ReuchlinAffäre und die Kontroverse zwischen Erasmus und dem Engländer Edward 12 GILLERT Nr. 60 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1506–1507, S. 76 f.): „Quare mussare decrevi in omni vita, nihil edere. … Quid Socrates, quid Christus scripsere? Nihil, quod sciam. Illius enim sententias Platos celebrat, huius parabolas quattuor historici nobiles ecclesiae prodiderunt.“ 13 BAUMANN, Mutianus Rufus and Natural Religion: „he lived at best a life of wasted potential“, S. 99. 14 SCRIBNER, The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt, S. 8: „The Mutian circle had all the features of a personality cult.“ 15 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 140.

EINLEITUNG

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Lee, wie stark die von Mutian geprägten Erfurter Humanisten die öffentliche Meinung zu beeinflussen in der Lage waren. Sein Haus in Gotha wurde zum geselligen und intellektuellen Zentrum der Treffen seiner Freunde. Da aber keiner von ihnen länger in Gotha wohnte, entwickelte sich neben den persönlichen Kontakten eine rege Korrespondenz zwischen ihnen und Mutian. Seine eigentliche Bedeutung liegt also in dem Briefwechsel mit den Mitgliedern des mutianischen Kreises. Diese Korrespondenz ist deshalb nicht nur für eine Rekonstruktion seiner Lebensumstände unverzichtbar, weil sie uns den Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit, seinem Denken, seinen Schwächen und Stärken vorstellt. Die Briefe sind ehrlicher, offener und ungeschminkter als diejenigen anderer Humanisten, die zur Veröffentlichung bestimmt waren, und stellen somit eine unerschöpfliche Fundgrube für sozial-, mental- und profangeschichtliche Fragestellungen dar. Wir sehen die Welt des 16. Jahrhunderts durch das Prisma eines hellwachen Intellektuellen seiner Zeit.16 Briefe von schönster Alltäglichkeit finden sich neben Schreiben von verblüffender Modernität und Radikalität. Der Verwertung der Briefe für eine Rekonstruktion des Kosmos des Mutian stellen sich freilich vier Hindernisse in den Weg. Einmal sind in der Mehrzahl der Fälle nur die Briefe Mutians an seine Freunde erhalten, nicht die Rück- oder Antwortbriefe, obwohl diese in vielen Fällen zu erschließen sind.17 Wir haben es also mit einer asymmetrischen Korrespondenz zu tun. Zum anderen ist die Dichte der Briefe ganz unterschiedlich. So gibt es z.B. für die Jahre 1513 bis 1515 eine ungewöhnlich reiche Überlieferung der Briefe Mutians an Urban, sodass die Briefe fast schon Tagebuchcharakter annehmen, während für einige Jahre keine oder fast keine Briefe überliefert sind. Drittens sind zahlreiche Briefe nicht datiert, und da Anhaltspunkte wie Anspielungen auf äußere Ereignisse fehlen, auch nicht ohne Weiteres datierbar. Trotzdem bedeutet das Fehlen von Briefen zu einer bestimmten Zeit nicht unbedingt ein Erkalten der Freundschaft, sondern kann im Gegenteil auf deren Intensivierung hindeuten, da die Freunde in dieser Zeit persönlichen Kontakt hatten, sodass sie auf schriftliche Kommunikation verzichten konnten. Schließlich erscheint Mutian in seinen Briefen keineswegs als systematischer Denker. Oft dekonstruierte er durch einen Scherz oder eine ironische Bemerkung gerade das, was er im ersten Teil seines Briefes gesagt hat. Dazu kommt, dass Mutian eine Gabe hatte, sich seinen Korrespondenten anzupassen. Ein Brief an einen vertrauten Freund klang anders als an einen hohen kirchlichen Würdenträger. Dies alles gilt es zu 16 Man muss also BAUMANN (Mutianus Rufus and Natural Religion, S. 570) energisch widersprechen, wenn er die Briefe als „relatively unpromising material“ abtut. 17 Von seinen engeren Freunden gibt es lediglich 12 von Eobanus Hessus, 13 von Spalatin, 3 von Petreius und 2 von Crotus Rubeanus an Mutian.

I. EINLEITUNG

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bedenken, wenn man die mutianische Korrespondenz zur Grundlage einer kritischen Darstellung seiner Lebenswirklichkeit und Anschauungen machen will. III. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich mit Mutians Biographie, soweit sie aus den noch vorhandenen Quellen rekonstruierbar ist. Dabei widmet sich das 1. Kapitel seiner Herkunft aus dem hessischen Homberg, der prägenden Zeit an der berühmten Schule von Deventer und seinen Studienjahren an der Universität Erfurt, wo er den Bakkalaureus und Magister erwarb und noch einige Jahre als Dozent in der Philosophischen Fakultät wirkte. Trotz der Dürftigkeit der Quellen wird im 2. Kapitel versucht, seinen Aufenthalt in Italien zu rekonstruieren und seine Studienorte und Lehrer zu beschreiben. Da es über diese Zeit wenige Nachrichten gibt, wurde der Spekulation Tür und Tor geöffnet, sodass es über keine andere Zeit seines Lebens so viele unbewiesene Vermutungen gibt wie über diese sieben Jahre. Fakt und Fiktion gilt es also zu trennen. Zweifelsohne waren aber diese Jahre entscheidend für Mutians geistige Entwicklung. Hier legte er den Grundstock für seine enorme Belesenheit, hier wurde er mit den Ideen des Neuplatonismus, die seine Philosophie nachhaltig beeinflusst haben, vertraut, hier erwarb er sich Kenntnisse der zeitgenössischen italienischen Literatur – und einen Doktor im kirchlichen Recht (doctor decretorum). Das 3. Kapitel handelt von seiner Rückkehr nach Deutschland und versucht, wieder anhand der Korrespondenz seine äußeren Lebensverhältnisse zu beschreiben, während sich das 4. Kapitel der von Mutian gewählten Lebensform, der beata tranquillitas und deren philosophischen Fundierungen widmet. Um den Mutian-Kreis, den er selbst den ordo literarius zu nennen pflegte, geht es in den folgenden zwei Kapiteln. Im 5. Kapitel sollen zunächst die Entstehung und der Charakter des mutianischen Kreises skizziert werden soll, im 6. Kapitel werden einige der wichtigsten Mitglieder dieser heterogenen Gruppe vorgestellt. Nicht nur nach der Zahl der von Mutian an ihn gerichteten Briefe war Heinrich Fastnacht oder H e n r i c u s U r b a n u s der vertrauteste und intimste Freund des Gothaer Kanonikers. Eine ebenso enge Freundschaft verband Mutian mit G e o r g S p a l a t i n, einem jungen Mann, der bei der Etablierung des MutianKreises eine Schlüsselrolle spielte. Schon früh erkannte Mutian das außerordentliche Talent des aus bäuerlichen Verhältnissen stammenden E o b a n u s H e s s u s, der zu den bedeutendsten neulateinischen Dichtern der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum werden sollte. Der problematischste Schüler in dem mutianischen Kreis war vielleicht H e r e b o r d v o n d e r M a r t h e n: auch er hochgebildet und intelligent, aber arrogant und gewinnsüchtig. Ein weiterer Schüler, P e t e r E b e r b a c h (Petreius), entstammte einer begüterten Familie, war vielgereist, charmant, witzig, weltgewandt und hochgebildet.

EINLEITUNG

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Auf einem ähnlichen Gebiete lag die Begabung des C r o t u s R u b e a n u s (Johann Jäger). Von Mutian wegen seines Witzes und seiner Bildung geschätzt, war er der große Satiriker des Kreises. Seine von ihm und Ulrich von Hutten im Zusammenhang der Reuchlin-Affäre anonym verfasste Satire der Dunkelmännerbriefe (Epistolae obscurorum virorum) gehört wohl zu den wenigen aus Deutschland stammenden Werken der Renaissance, die man zur Weltliteratur rechnen darf. Relativ spät, nämlich 1513, schloss sich E u r i c i u s C o r d u s dem MutianKreis an. Als Dichter, den niemand an Bissigkeit, pointierten Witz und Schmählust übertraf, gilt er als bester Epigrammatiker des 16. Jahrhunderts in Deutschland. Ebenfalls zu dem informellen Bund um den Gothaer Kanoniker zu rechnen sind J u s t u s J o n a s, J o h a n n e s L a n g e und U l r i c h v o n H u t t e n. Als Rektor setzte Jonas 1519 entscheidende Reformen an der Universität Erfurt im Sinne des Humanismus durch. Mit dem Gräzisten Lange verband Mutian eine Begeisterung für die hellenische Literatur. Der deutsche Reichsritterspross Ulrich von Hutten, mit dem Mutian nur sporadisch Kontakt hatte, wurde von ihm zwar als begabter Dichter geschätzt, als leidenschaftlicher und kompromissloser Humanist und Reformer aber mit größter Skepsis betrachtet. Nachdem auf diese Weise die wichtigsten Mitglieder des Kreises vorgestellt worden sind, soll im 7. Kapitel versucht werden, vor dem Hintergrund einer Skizze der humanistischen Tradition des Briefschreibens das Charakteristische, ja Einmalige der mutianischen Korrespondenz und deren Funktion, Form, Thematik und Stil zu erörtern. Das 8. Kapitel widmet sich der Reuchlin-Affäre oder genauer gesagt, der Rolle, die der mutianische Kreis in dieser Kontroverse im vorreformatorischen Deutschland spielte. Ziel ist es nicht, den Streit in aller Ausführlichkeit zu referieren – das ist oft geschehen –, sondern darzulegen, wie dieser Streit in dem ordo des Gothaer Kanoniker wahrgenommen, rezipiert und durch die Mechanismen der Meinungsbildung instrumentalisiert wurde und wie Mutian trotz eigener epistolarischer Zurückhaltung seine Freunde immer wieder zum Kampf für den umstrittenen Wissenschaftler mobilisierte. Im Anschluss daran werden die wichtigsten literarischen Werke, die im Zusammenhang der Kontroverse entstanden, vorgestellt, wobei die Epistolae obscurorum virorum das berühmteste, wenn auch keineswegs einzige Produkt dieser Auseinandersetzung war. Kein Aspekt ist so oft in der Forschung diskutiert worden wie Mutians religiöse Anschauungen – Gegenstand des 9. Kapitels. Mutians Kritik an den kirchlichen Gebräuchen und Riten wie Fasten, die Ohrenbeichte, Ablass, Totenmessen, Reliquienkult und Pfründenjägerei, sein Verdruss über die mangelnde Bildung des Klerus und seiner Mitkanoniker und insbesondere deren Trunksucht und Sexbesessenheit, schließlich seine unter dem Siegel der Verschwiegenheit geäußerten unorthodoxen, wenn nicht ketzerischen Ansichten über das Wesen des Christentums sollen erörtert werden. Um schließlich seine Stellung zur

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Reformation auszuleuchten – Gegenstand des 10. Kapitels –, ist es notwendig, zunächst die Verehrung für Erasmus von Rotterdam, die dieser an der Erfurter Universität und bei Mutian in den Jahren kurz vor der Reformation genoss, darzustellen. Aber nicht nur das Festhalten an seiner Bewunderung für Erasmus, sondern seine Abscheu gegenüber dem politischen und sozialen Chaos, für das er die Lutheraner verantwortlich machte, und profunde theologische Differenzen entfremdeten ihn gegenüber der Reformation. Das 11. Kapitel beschäftigt sich, wieder zu einer rein biographischen Darstellung zurückkehrend, mit den letzen Jahren Mutians, die er, zunehmend ideologisch isoliert und wegen der Bauernunruhen verarmt, einsam in Gotha verbrachte. Die literarischen Reaktionen auf Mutians Tod sucht das letzte, das 12. Kapitel, zu beleuchten. IV. Nur vereinzelt wurden Briefe des Mutian zu seinen Lebzeiten herausgegeben.18 Es handelte sich dabei um quasi offizielle Schreiben, wie etwa die an Johannes Reuchlin, Conrad Peutinger und Erasmus von Rotterdam. Einzelne Privatbriefe erschienen Jahrzehnte nach Mutians Tod in den Sammlungen des Eobanus Hessus und Joachim Camerarius.19 Aber erst 1701 machte der herzoglichsächsische Polyhistor, Numismatiker und Historiograph Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707), einen ersten Versuch, den mutianischen Briefwechsel zu sammeln und herauszugeben.20 Tentzel stützte sich dabei auf den sogenannten Frankfurter Codex (siehe unten). Da er aber diesen weder vollständig abdruckte, noch dazu die Briefe oft nur in fragmentarischer Form, wird dieser Versuch im Allgemeinen als gründlich missglückt betrachtet. In den folgenden zwei Jahrhunderten fanden sich keine Forscher, die die Korrespondenz des bedeutenden Gothaers einer Neuausgabe für würdig erachteten. Erst gegen Ende des editionsfreudigen 19. Jahrhunderts erschienen innerhalb von fünf Jahren gleich zwei unabhängig voneinander erstellte Ausgaben des Briefwechsels Mutians: Carl Krause veröffentlichte 1885 den „Briefwechsel des Mutianus Rufus“, während fünf Jahre später, 1890, posthum, der von Karl Gillert (gest. 1888) „Der Briefwechsel des Conradus Mutianus“ erschien. Wie es zu dieser merkwürdigen Ver18 Zur frühen Publikationsgeschichte RÄDLE, Mutianus Rufus, Conradus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 384 f. 19 Eobanus Hessus, Epistolae familiares, Marburg 1543 (VD 16, M 1493); Camerarius, Libellus alter, Leipzig 1557; Tertius Libellus, Leipzig 1561 und Libellus Novus, Leipzig 1568 (VD 16, C 409–411). 20 W. E. Tentzelius, Supplementum Historiae Gothanae. Zu Tentzel: WEGELE, Tentzel, Wilhelm Ernst, in: ADB, 37, S. 571 ff.; JAUMANN, Tentzel, Wilhelm Ernst, in: KILLY, 11, S. 3230; EGERT, Wilhelm Ernst Tentzel.

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doppelung wissenschaftlicher Anstrengungen kam, wird nicht ohne gelegentliche kleinliche Polemik in den Vorworten beider Ausgaben erklärt, die uns hier nicht weiter zu interessieren haben und höchstens einen Beleg dafür bieten, wie boshaft und kleinlich Gelehrte sein können – selbst wenn sie sich mit den noblen Zielen des Humanismus beschäftigen. Drei Jahre nach dem Erscheinen der gillertschen Ausgabe, also fünf Jahre nach dessen Tod, griff Krause noch einmal zur Feder, um die beiden Ausgaben, denen er „eine schädliche Eilfertigkeit, deren Spuren in der Tat beide Werke aufweisen“, vorwarf, zu untersuchen.21 Hauptanliegen dieses längeren Aufsatzes schien aber doch in erster Linie eine Kritik der Arbeit seines verstorbenen Konkurrenten zu sein – de mortuis nihil nisi bene hin und her –, in deren Verlauf er zu dem vernichtenden Schluss kam, dass dessen „Ausgabe trotz vieler schätzenswerter Beiträge im Einzelnen für den wissenschaftlichen Gebrauch fast wertlos ist“.22 Das ist sicherlich nicht der Fall. Obwohl die Gillert’sche Ausgabe ebenso wie die von Krause Fehler enthält, ist sie doch der Kraus’schen in zweierlei Hinsicht überlegen. Zum einen edierte Gillert alle erhaltenen und ihm bekannten Briefe von und an Mutian, während Krause von den insgesamt 665 Briefen 95 lediglich in Regestenform vorstellte. Während man aber seine Begründung, dass „die bescheidenen Mittel diesen Luxus [alle Briefe abzudrucken] nicht gestatten“,23 noch verstehen kann, ist die zweite Begründung, dass die Briefe, da sie bereits in gedruckter Form vorliegen, „jedem leicht zugänglich sind“,24 nicht nachvollziehbar. Diese angeblich leichte Zugänglichkeit mag auf einige wenige Briefe zutreffen, die sich in den im 19. Jahrhundert von Ludwig Geiger, Karl und Wilhelm Krafft und Eduard Böcking veranstalteten Editionen anderer Humanisten finden, für die Mehrzahl der von Camerarius und Tentzel 300 bzw. 190 Jahre vorher gedruckten Briefe gilt das sicherlich nicht. Ein zweiter Vorzug der gillertschen Ausgabe ist, dass er die meist undatierten Briefe in eine chronologische Ordnung zu bringen versucht, während Krause die Briefe in drei, chronologisch nebeneinanderher laufende Abteilungen (Frankfurter Codex, andere Briefe, bereits gedruckte Briefe) unterteilt. Dass Gillert bei dieser komplexen Arbeit Fehler unterlaufen sind, ist angesichts der kritisierten „Eilfertigkeit“ verständlich. Zu den bleibenden Verdiensten Gillerts gehört drittens, dass er anhand eines Vergleichs eines handschriftlichen Briefes Urbans, Mutians vertrautesten Freundes, mit der Handschrift des Verfassers des sogenannten Frankfurter Codex Urban als Kopisten dieses überaus wichtigen Sammelbandes 21 KRAUSE, Beiträge zum Texte, zur Chronologie und zur Erklärung der Mutianischen Briefe. 22 Ebd., S. 8. 23 Ebd., S. 6. 24 KRAUSE, Briefwechsel, Vorwort, S. 8.

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identifizierte,25 während sich Krause in Gillerts Worten „eine merkwürdige Fabel“ über die Herkunft dieses Codex ausgedacht hat.26 In der Tat bildet der Frankfurter Handschriftenband mit seinen über 522 Nummern die Hauptquelle beider Ausgaben. Nach Gillert begann Urban ab etwa 1510 mit der Sammlung und dem Kopieren der mutianischen Briefe. Diese Sammlung ist dann auf verschlungenen Wegen nach Frankfurt gelangt.27 Wegen der angestrebten Vollständigkeit des Abdrucks und der versuchten zeitlichen Einordnung werden im Folgenden die Briefe nach Gillert zitiert, wobei aber stets auch die durchaus verdienstvolle Kraus’sche Arbeit mitbedacht sein will, zumal sie 17 Briefe enthält, die nicht bei Gillert abgedruckt sind.28 Zu berücksichtigen sind auch die von Krause in seinem späteren Aufsatze vorgeschlagenen Verbesserungen des Textes und der Chronologie. Die Briefe werden folgendermaßen zitiert: GILLERT, gefolgt von Nummer, Schreiber, Adressat und Datum in Klammern. In längeren, sich über mehrere Seiten erstreckenden Briefen werden wegen der leichteren Auffindbarkeit auch der Band und die Seitenzahl angegeben. Ebenso wird verfahren bei den sogenannten Beilagen in Gillerts Ausgabe, Briefe also, die weder von Mutian stammen noch an ihn gerichtet sind, sondern von dessen Freunden untereinander geschrieben wurden und deshalb von Gillert keine eigene Nummer erhalten haben. Anders als Gillert habe ich jedoch wie Krause die lateinische Orthographie der heute üblichen behutsam angepasst, also poetae statt poete und iustitia statt iusticia. Es wurde versucht, möglichst oft Mutian selbst zu Wort kommen zu lassen. Das Buch wendet sich nicht in erster Linie an den sehr kleinen Kreis von Forschern, die Mutian bereits gut kennen, sondern an ein größeres interessiertes Fachpublikum. Werbend möchte es zur faszinierenden Lebens- und Gedankenwelt des Gothaer Humanisten und Kanonikers hinführen, auch indem es Mutian möglichst oft zu Wort kommen lässt. Angesichts der Tatsache, dass die Lektüre langer lateinischer Texte immer mehr einem exklusiven Spezialistenkreis vorbe25 Urban hatte bereits 1516 zwei Bände gesammelt: „Dein Urbanum philosophum tibi amicissimum, cuius variam erudtionem ex hoc deprendo quod unus omnium doctissimus tuus Mutianus eum ob ingenii felicitatem singulariter amat adque adeo frequentibus epistolis invisit, ut [Urbanus] iam duo volumnia [sic] collegerit, in quibus penitior et elegantior quaepiam eruditio relucet digna multorum lectione.“ (Michael Hummelberger an Peter Eberbach, 24. Januar 1516; in: HORAWITZ, Zur Biographie und Correspondenz Johannes Reuchlins, S. 31 f.). 26 GILLERT, Briefwechsel, S. VIII. 27 Frankfurt am Main StUB, MsLat.Oct8. Beschreibung des Codex auch in RBW, II, S. XXXV ff. 28 Es handelt sich um die Briefe (nach der Kraus’schen Zählung): 39, 71,80, 108, 149, 164, 209, 210, 238, 296, 315, 344, 345, 403, 452, 453, 454. Andererseits findet man bei GILLERT Briefe, die nicht in Krauses Sammlung sind: GILLERT Nr. 557, 581, 605, 626, 4 Briefe (Beilage zu Nr. 620), 3 Briefe (Beilage zu Nr. 625).

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halten zu sein scheint, habe ich die lateinischen Zitate ins Deutsche übersetzt, auf die Gefahr hin, dass Mutians brillantes Latein in der Übertragung ins Deutsche seinen Witz, seine Ironie und seine Prägnanz verliert. Selbstverständlich wird der lateinische Originaltext in den Fußnoten geboten, sodass die Leser selbst die Richtigkeit der angebotenen Übersetzung beurteilen können.29

29 Nur beim Zitieren von Gedichten weiche ich von dieser Praxis ab. Hier wird erst der lateinische Text, dann die deutsche Übersetzung angeboten.

II. STATIONEN DER JUGEND: HOMBERG, DEVENTER, ERFURT

Johann Mudt war der erste Ratsherr unserer Stadt, ein freundlicher und unbescholtener Mann, beliebt bei seinen Mitbürgern, ein Anwalt der Armen. Er hatte eine Gattin, Anna von Kreutzburg aus dem Adelsgeschlecht derer von Kreutzburg. Diese Frau, die nicht genug gepriesen werden kann, brachte mich zur Welt.1

Mit diesen Worten gedenkt der 44-jährige Mutian im Jahre 1514 seiner Eltern. Das Städtchen, in dem der Vater als Bürgermeister zur lokalen Elite gehörte, war das nordhessische Homberg an der Effze bei Fritzlar, und in diesem Ort wurde Conrad Muth am 15. Oktober 1470 (oder 14712) geboren. Stolz wies er gelegentlich darauf hin, dass an dem gleichen Tag auch der große römische Dichter Vergil das Licht der Welt erblickte, wenn auch anderthalb Millenia vor ihm.3 Nach Humanistenmanier nannte er sich später Conradus Mutianus und fügte, spätestens seit 1501, wegen seines rötlichen Haares das Kognomen Rufus hinzu.4 Conrad hatte noch zwei Brüder, beide Johannes mit Namen. Der ältere Johannes wirkte im Dienste der Mainzer Kurie und war eine Reihe von Jahren Küchenmeister (magister coquinae), d.h. Verwalter des wirtschaftlichen Besitzes des Erzbischofs von Mainz in Erfurt. Er muss schon um 1495 gestorben sein.5 Der jüngste von den drei Brüdern kam zusammen mit Konrad nach Erfurt, setzte dann zeitweilig seine Studien auf einer anderen Universität fort und erwarb 1495 den Grad eines Lizenziaten des Rechts, worauf er Kanzler

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GILLERT Nr. 348 (Mutian an Urban, nach dem 8. Februar 1514): „Erat Johan Mudt decurio nostri oppidi primarius, vir comis et innocens, gratus suis civibus, patronus pauperum. Habuit uxorem Annam von Crutzpurgk ex illa nobili familia equitum der von Crutzpurgk. Haec matrona numquam satis laudata me genuit.“ Im März des Jahres 1513 schreibt Mutian an Petreius: „Saltat senex, si XLII annus senem facit.“ („Der Greis tanzt, wenn man mit 42 Jahren ein Greis ist.“) Demnach wäre er 1471 geboren. GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 18. März 1513). GILLERT Nr. 325 (Mutian an Herebord von der Marthen, 15. Oktober 1513): „Cursim ad meum et Vergilii natalem“. Mit diesen Worten beschließt er einen Brief an einen Freund. An anderer Stelle schreibt er an den gleichen Adressaten: „Felix sit mensis October, in quo natus Vergilius et ipse.“ (GILLERT Nr. 215, Mutian an Urban, 30. September 1512). So als „Martinus [sic] Rufus (alemannus) wird er bereits 1501 an der Universität Ferrara bezeichnet (siehe unten): So nennt er sich auch in seinem frühesten aus Deutschland geschriebenen Brief vom 1. Oktober 1503 (GILLERT Nr. 2, Mutian an Reuchlin, 1. Oktober 1503). KRAUSE, Beiträge zum Texte, S. 68.

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II. STATIONEN DER JUGEND: HOMBURG, DEVENTER, ERFURT

Wilhelms II., des Landgrafen von Hessen wurde und dieses Amt bis zu seinem Tode bekleidete. Er starb 1504.6

1.

Deventer – Geistesschmiede deutscher Humanisten

DEVENTER – GEISTESSCHMIEDE DEUTSCHER HUMANISTEN

Im Jahre 1481, also zu einem Zeitpunkt, als der kleine Konrad etwa 10 oder 11 Jahre alt war, schickten ihn seine Eltern auf die Stiftsschule St. Lebuin in Deventer in den Niederlanden, eine Schule, die am Ende des 15. Jahrhunderts einen hervorragenden überregionalen Ruf besaß. Lediglich zwei Mal hat sich Mutian später über die Zeit in Deventer geäußert. Im Jahre 1514 gestand er einem Freund, dass er, während er das Deventer Gymnasium besuchte, bei der Nachricht des Todes seines Vaters heftig geweint habe.7 Ein Jahr zuvor, im Jahre 1513, sprach er stolz von seinem damaligen Mitschüler, meus condiscipulus, Erasmus.8 Dieser hatte von 1475–1483 (oder 84)9 die Schule in Deventer besucht, während Mutians Aufenthalt von 1481 bis spätestens 1486 anzusetzen ist. Ihr Schulbesuch hat sich also maximal während zweier Jahre überschnitten. Bedenkt man, dass in diesem Alter der Altersunterschied von zwei bis drei Jahren stärker ins Gewicht fällt als in späteren Jahren, darf man vermuten, dass der Kontakt zwischen dem etwa zwei bis drei Jahre älteren Erasmus und Mutian relativ begrenzt war.10 Diesem Mitschüler Mutians, also dem später als „Fürst der Humanisten“ bezeichneten Erasmus von Rotterdam, und nicht Mutian selbst verdanken wir eine wenig schmeichelhafte Beschreibung des damaligen Schulbetriebs: Diese Schule war damals noch barbarisch. Es wurde das Vaterunser vorgelesen; die Zeiten des Verbums wurden abgefragt.11 Erst mit der Ernennung des Alexander Hegius (1433–1498)

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GILLERT Nr. 348 (Mutian an Urban, nach dem 8. Februar 1514): „Demum alter germanus vita excessit.“ Die vorangehenden Angaben weitgehend nach GILLERT, Briefwechsel, S. XVII. Vgl. auch den Brief an Urban vom 29. Juni 1505 (GILLERT Nr. 3, Mutian an Urban, 29. Januar 1505): „Ceciderant omnes Mutii solo Mutiano superstite.“ 7 GILLERT Nr. 348 (Mutian an Urban): „Olim in gymnasio Daventriensi audito parentis obitu flevi.“ 8 GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius zwischen 1. und 18. März 1513). 9 SCHOECK, Erasmus of Europe, S. 46 u. 57. 10 Auch das Geburtsjahr des Erasmus bereitet zumindest den Kulturfunktionären, die erasmische Gedenkfeiern auszurichten haben, erhebliche Kopfschmerzen. Es schwankt zwischen 1466 und 1469. 11 ALLEN, I, S. 48: „Ea schola tunc adhuc erat barbara; praelegebatur Pater meus; exigebantur tempora.“ Übersetzung in: TRILLITZSCH, Der deutsche Renaissancehumanismus, S. 333.

DEVENTER – GEISTESSCHMIEDE DEUTSCHER HUMANISTEN

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sollte sich das ändern.12 Dieser bedeutende deutsche Pädagoge wurde aber wahrscheinlich erst 1481/82 oder 1483 Rektor der Schule,13 also zu einem Zeitpunkt, als Erasmus bereits in seinen letzten Schuljahren war. Nur an einigen Tagen, aber nur an Festtagen, an denen er vor allen las, habe er Hegius gehört, gestand er später.14 Von Mutian sind keine Äußerungen über den berühmten Lehrer überliefert. Nur indirekt, durch Mutians Freund Spalatin, erfahren wir überhaupt, dass Hegius sein Lehrer war.15 Und tatsächlich begann mit Alexander Hegius die Schule einen Aufschwung zu nehmen. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass dieser Pädagoge als Leiter einer Anstalt mit 2.000 Schülern noch genügend Zeit für eigenes Unterrichten hatte,16 jedenfalls lassen die Äußerungen des Erasmus daran zweifeln. Auf alle Fälle hatte der neue Rektor aber den stärksten Einfluss auf die Curriculumgestaltung, sodass unter seinem Rektorat die Schule tatsächlich „eine radikale Neuorientierung“ erlebte.17 Neben den lateinischen Klassikern führte er Griechisch als Unterrichtsfach ein, „eine humanistische Großtat“.18 Außerdem lud er den schon damals berühmten friesischen Humanisten Rudolf Agricola (1444–1485) zu Gastvorträgen ein. Bei einem dieser Besuche hatte Erasmus das Glück, dem großen Gelehrten, der soeben aus Italien zurückgekehrt war, vorgestellt zu werden.19 Bei dieser Gelegenheit soll ihm der Friese prophezeit haben: „Du wirst ein großer Mann werden.“20 Erasmus seinerseits hatte für Agricola, der ein Lüftchen einer besseren Literatur aus Italien mitbrachte, zeitlebens

12 ALLEN, I, S. 46: „Nisi quod Alexander Hegius et Zinthius [Johannes Synthen] coeperant aliquid melioris litteraturae invehere.“ 13 Das Datum für Hegius’ Antritt als Rektor ist umstritten. Kohls hat in Anschluss an ältere Forschungen für den Beginn der Lehrttätigkeit des Hegius im Jahre 1475 argumentiert. Er weist darauf hin, dass die Brüder vom Gemeinsamen Leben nicht die Schulträger waren (KOHLS, Zur Frage der Schulträgerschaft der Brüder vom gemeinsamen Leben, S. 39). 14 ALLEN, I, S. 46: „Post aliquotiens audivit Hegium sed non nisi diebus festis quibus legat omnibus.“ Übersetzung: TRILLITZSCH, Der deutsche Renaissancehumanismus, S. 333. 15 1516 erinnert Spalatin Erasmus daran, dass Mutian sein Mitschüler in Deventer gewesen sei und dass Hegius ihrer beider Lehrer war: „Tuus etiam olim symmathetes in schola, si probe ex homine audivi, Daventriensi, Alex. Hegio praeceptore.“ ALLEN, II, Nr. 501. 16 Diese Zahl stammt von Johannes Butzbach, wird allerdings von Schwinges bezweifelt: SCHWINGES, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Realistischer sei 200, S. 337, Anm. 170 („mehrere hundert“). 17 KRAPP, Erfurter Humanismus, S. 21. 18 BÖMER, Alexander Hegius, S. 355. 19 STUPPERICH, Erasmus von Rotterdam, S. 25. 20 BÖMER, Alexander Hegius, S. 351.

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II. STATIONEN DER JUGEND: HOMBURG, DEVENTER, ERFURT

große Bewunderung.21 Von Mutian ist eine derartige persönliche Begegnung mit Agricola nicht überliefert. Möglich ist eine solche, denn in einem Brief aus dem Jahre 1513 oder 1514 an seinen Freund Urbanus berichtete er, Agricola habe einst auf die Frage, was Theologen überhaupt an einer Universität zu suchen hätten, geantwortet, so viel wie ein Hund im Bad,22 ein Spruch, der auf den später so theologieskeptischen Mutian einen großen Eindruck gemacht haben muss. Dies lässt natürlich nicht zwingend auf ein persönliches Zusammentreffen schließen, zumal Mutian diesen Ausspruch in den Adagia des Erasmus gelesen haben könnte. Dagegen besitzen wir von Johannes Butzbach (1477–1516), dem späteren Prior der Benediktinerabtei zu Maria Laach, ein aufschlussreiches Zeugnis über den Schüler Conrad Muth. Auch dieser Geistliche hatte, zwar im vorgerückten Alter von 21 Jahren – ab 1498, also knapp zwei Jahre nach Mutian – mit viel jüngeren Schülern die Deventer Schulbank gedrückt. Aus seinem zwischen 1508 und 1513 niedergeschriebenen Schriftstellerkatalog, dem Auctarium,23 geht hervor, dass Conrad aus Fritzlar (Conradus Fuerßlarie) unter Heinrich von Ammersfort Griechisch studiert habe, dass er ein fleißiger, begabter Schüler gewesen sei, der sich in Prosa und Versemachen versucht und einige geistreiche Aufsätze verfasst habe. Auch sei er durch sein lebendiges Temperament aufgefallen.24 Diese knappe Charakterisierung aus der Feder des DeventerAbsolventen Butzbach bediente sich offenbar des Fundus an Geschichten, die nachfolgende Generationen über bemerkenswerte Alumni zu verbreiten pflegen. Butzbach ist allerdings über den Verdacht erhaben, dass die spätere Berühmtheit Mutians seine Charakterisierung desselben gefärbt habe. Mit entwaff-

21 ALLEN, Opvs Epistolarvm, I, S. 2: „Rodolphus Agricola primus omnium aurulam quandam melioris litteraturae nobis invexit ex Italia.“ 22 GILLERT Nr. 418 (Mutian an Urban, 1513/1514): „Respondit olim Rudolphus Agricola per vetus et scitum proverbium: „nempe quod canis in balneo.“ 23 Auctarium Joa Boutzbacchi de Scriptoribus Ecclesiasticis. Vgl. BERIGER, Butzbach, Johannes, Sp. 345 f. 24 Zitiert nach KRAFFT/CRECELIUS, Mittheilungen über Alexander Hegius, S. 250. „Conradus Fuerßlarie, natione Hasso, homo studiosus et exercitate litterature, supranotati Heinrici de Ammersfordia quandoque auditor, ingenio clarus et eloquio scolasticus, metro exercitatus et prosa. Scripsit quedam ingeniosa sinthemata, dum adhuc Daventriae sub predicti et aliorum ferula scolasticis disciplinis operam impenderet, quibus viuacitatem ingenij sui cum predicto Gerhardo ostendebat.“ Krafft und Crecelius haben aber den Conradus Fuersslarie nicht als Conrad Muth identifiziert. Erst GILLERT machte darauf aufmerksam, dass mit Conradus aus Fritzlar Mutianus gemeint sein muss. GILLERT, S. XVII, Anm. 7. Zu Butzbach: RÜHL, Das Auctarium de scriptoribus ecclesiasticis des Johannes Butzbach.

DEVENTER – GEISTESSCHMIEDE DEUTSCHER HUMANISTEN

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nender Ehrlichkeit fügte er hinzu: Er wisse nicht, was Mutian inzwischen geschrieben habe. Er soll aber noch leben.25 Durch Hegius’ persönliches Wirken und seine vorausschauende Lehrplangestaltung wurde Deventer zu einer „Geistesschmiede deutscher und niederländische Humanisten“26 und zur „fruchtbarsten Humanistenpflanzschule seiner Zeit“.27 „Die Schule gewann unter ihm einen einzigartigen Ruf, zog eine wachsende Zahl von Schülern an und brachte binnen 15 Jahren bis zu seinem Tode mehr klingende Namen hervor als irgendeine andere deutsche Schule dieser Zeit“.28 Neben Erasmus, Mutian und Johannes Butzbach, dem man allerdings kaum als Humanisten reklamieren kann, absolvierten Hermann von dem Busche (Buschius),29 der holländische Humanist Johannes Murmellius30 und der zu Unrecht später von den Verfassern der Dunkelmännerbriefe verleumdete Kölner Humanist Ortwin Gratius die humanistische „Kaderschmiede“ in Deventer.31 Lange Zeit hielt sich in der Forschung die Vorstellung, dass die Stiftsschule von den Brüdern des Gemeinsamen Lebens, d.h. den Fratres der devotio moderna betrieben worden sei. Diese am Ende des 14. Jahrhunderts von Geert Groote (1340–1389) gegründete Laienbewegung betonte individuelle Frömmigkeit, wandte sich gegen die Korruption der Kirche und die äußeren Verrichtungen der Religionsausübung, forderte und praktizierte eine Rückkehr zur Bibellektüre. Aus dieser angeblichen Verbindung der Schule zur devotio moderna wurden dann weitgehende Schlüsse auf die religiöse Prägung der Schüler gezogen. In Wirklichkeit muss man zwischen dem Haus der Brüder des Gemeinsamen Lebens und der Stiftsschule in Deventer scharf trennen; denn die Brüder des Gemeinsamen Lebens waren keineswegs die Schulträger: „Das Bruderhaus in Deventer hat lediglich die Schüler der Schule betreut, ihnen auch z.T. Unterkunft gewährt. Seelsorgerlich und caritativ haben sich die Brüder in Deventer, wie auch anderwärts, der Schüler angenommen.“32 Bei dieser Aufgabenteilung gab es also einen Leiter des Stiftes und den Rektor der Schule, sodass „eine stiftungsmäßige und

25 KRAFFT/CRECELIUS, Mittheilungen über Alexander Hegius, S. 250: „Quod autem interea lucubrarit me latet. Vivere adhuc dicitur.“ Zu Butzbach vgl. außerdem: BERIGER, Butzbach, Johann, Sp. 330–348. 26 JOACHIMSEN, Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes, S. 453. 27 STRAUSS, Ulrich von Hutten, S. 29. 28 WORSTBROCK, Zur Biographie des Alexander Hegius, S. 162. 29 Hermann von dem Busche: 1468–1538. 30 Johannes Murmellius: 1480–1517. 31 Ortwin Gratius: 1475–1542. 32 KOHLS, Zur Frage der Schulträgerschaft, S. 34. Ebenso POST, The Modern Devotion, S. 11 f.

II. STATIONEN DER JUGEND: HOMBURG, DEVENTER, ERFURT

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eigentumsrechtliche Verbindung zwischen der Schule zu Deventer und dem dortigen Bruderhaus – als Schulträger – … niemals stattgefunden“ hat.33 Wenn auch die Schule in Deventer rein juristisch nicht von den Brüdern des Gemeinsamen Lebens geleitet wurde, so darf man den indirekten Einfluss der Fratres der devotio moderna nicht unterschätzen, da sie als Seelsorger und Betreuer auf die Schüler wirken konnten. Als Wegbereiter des Humanismus kann man sie sicher nicht reklamieren. Ob und welchen Einfluss die Brüder des Gemeinsamen Lebens, in deren Obhut sich der jungen Konrad Muth befand, auf ihn hatten, darüber lässt sich nur spekulieren. Fest steht aber, dass er in der Schule ein solides Fundament im Lateinischen und Griechischen hat legen können. Mutian blieb wahrscheinlich bis spätestens 1486 in Deventer, denn ab diesem Jahre ist er in Erfurt zu finden.

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Als Student in Erfurt

ALS STUDENT IN ERFURT

Im Sommersemester 1486 wurde „Conradus Muth“ zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johannes, dem späteren Kanzler in Hessen, unter dem Rektorat des Grafen Friedrich von Beichlingen an der Universität Erfurt immatrikuliert. Aus Rücksicht auf den Grafen von Hohenstein, den späteren Bischof von Straßburg, verzichtete man auf die üblicherweise anfallenden Immatrikulationsgebühren.34 Dass die Wahl des Studienortes auf Erfurt fiel, hatte mehrere Gründe. Zum einen genoss die 1392 gegründete Universität in ganz Deutschland einen hervorragenden Ruf, der dafür sorgte, dass diese Hochschule zu einer „Großuniversität des Reiches“ aufgestiegen war,35 die zwischen 1392 und 1520 von 21 Prozent der im damaligen Deutschland Immatrikulierten besucht wurde. „Erfurt war also über das gesamte [15.] Jahrhundert hin gesehen die nach Wien besucherreichste Universität. … Beinahe jede sechste Person, die innerhalb des Reiches Universitätsbildung suchte, ist einmal in Erfurt gewesen“.36 Aufgrund des Prestiges ihrer Hochschule wurden Erfurter Professoren häufig in wichtigen, die Zeit bewegenden Fragen als Gutachter bestellt.37 Bei der Welle der Universitätsneugründungen in der zweiten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts (Greifswald 1456; Basel 1460; Tübingen 1477; Trier 33 KOHLS, Zur Frage der Schulträgerschaft, S. 34. 34 WEISSENBORN, Acten der Erfurter Universtät, I, S. 411, Nr. 29 und 30: „Conradus Muth, Iohannes Muth gratis pro dno [domino] comite de Honstein.“ 35 MÄRKER, Geschichte der Universität Erfurt, S. 33. 36 SCHWINGES, Erfurts Universitätsbesucher im 15. Jahrhundert, S. 208. 37 MÄRKER, Geschichte der Universität Erfurt, S. 38; wie in der später noch zu erörternden Reuchlin-Affäre.

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1473; Mainz 1477; Wittenberg 1502) leisteten Erfurter Professoren „Aufbauhilfe“ und halfen somit die neu gegründeten Hochschulen zu gestalten.38 Zu der großen Ausstrahlungskraft der Erfurter Universität kam noch ein zweiter Grund dazu, weshalb Mutians Mutter – der Vater war, wie gesagt,39 während Conrads Deventer Schulzeit verstorben40 – den jungen Conrad nach Erfurt schickte. Zusammen mit Thüringen und Franken gehörte Hessen, das zu dieser Zeit keine eigene Universität besaß – die Universität Marburg sollte erst 1527 gegründet werden – zu den Kerneinzugsgebieten Erfurts.41 Schließlich mögen noch ganz persönliche Gründe die Mutter bewogen haben, Conrad nach Erfurt zu senden: Da der ältere Bruder Johannes schon seit 1485 als Verwalter des wirtschaftlichen Besitztums des Mainzer Erzbischofs in Erfurt wirkte,42 konnte er ein Auge auf seinen jüngeren, 16-jährigen Bruder werfen. Die Erfurter Universität war wie die meisten deutschen Universitäten eine Vierfakultätenuniversität. Alle Studenten durchliefen zunächst einmal die sogenannte Artistenfakultät, d.h. die Fakultät, in der die Studenten die sieben freien Künste (artes liberales) studierten.43 Der Ablauf des Studiums war streng geregelt, weshalb wir uns ein genaues Bild von dieser Studienphase Mutians machen können, wenn auch die persönlichen Belege äußerst spärlich sind. In einer „Regelstudienzeit“ von zwei bis zweieinhalb Jahren studierten die Studenten zunächst die Fächer des Triviums, d.h. Grammatik, Dialektik und Rhetorik, wobei das sogenannte Doctrinale des Alexander de Villa Dei (um 1195–1240/50) die Grundlage bildete. Nach der erfolgreichen Absolvierung dieser Kurse erwarb man den baccalareus artium. Nach weiteren zwei bis zweieinhalb Jahren und dem Studium des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) wurde man zum magister artium promoviert. Der Unterricht fand wie überall in Europa auf Latein statt, was bedeutete, dass man, obwohl es keine allgemeine Zulassungsbedingungen gab, umfassende Lateinkenntnis mitbringen musste, um überhaupt dem Unterricht folgen zu können. Falls diese nicht oder nur unzureichend vorhanden waren, musste man sie noch in sogenannten Pädagogien erwerben. Erst nachdem ein Student die Artistenfakultät durchlaufen hatte, 38 MÄRKER, Geschichte der Universität, S. 39. 39 Vgl. Anm. 7. 40 GILLERT Nr. 348 (Mutian an Urban, nach dem 8. Februar 1514): „Olim in gymnasio Dauentriensi audito parentis obitu flevi.“ 41 SCHWINGES, Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. IX. 42 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 139–40. 43 Kleineidam verwendet den heutigen Begriff „Philosophische Fakultät“, da wir mit Artisten heute etwas anderes verbinden (Universitas Studii Erffordensis, I, S. 233). Diese an sich sinnvolle Terminologie berücksichtigt aber nicht den oben skizzierten entscheidenden Unterschied zwischen einer modernen Philosophischen und spätmittelalterlichen „Artistischen“ Fakultät.

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konnte er sich in eine der „oberen Fakultäten“, also Medizin, Jura oder Theologie, einschreiben oder „rezipieren“ lassen. Diese idealtypische Skizze ist in vieler Hinsicht problematisch, da sie zu sehr von den Vorstellungen einer modernen Universität ausgeht. Sie bedarf deshalb einiger Korrekturen. Zunächst einmal ist schon der Begriff Student irreführend, jedenfalls für die Besucher der Artistenfakultät. Denn bei den meisten der in dieser Fakultät Immatrikulierten handelte es sich um 14- bis 16-jährige Schüler, sodass man den damaligen Baccalareus artium mit „einem [heutigen] mittleren Schulabschluss vor Erlangen der Hochschulreife vergleichen“ müsste.44 Oder anders ausgedrückt: Die Artistenfakultät entsprach einem „inneruniversitären Gymnasium“.45 Den Magistergrad könnte man dann mit der heutigen Hochschulreife, dem Abitur, vergleichen.46 Da die erfolgreiche Absolvierung der Artistenfakultät Voraussetzung für den Besuch der höheren Fakultäten war, überrascht es nicht, dass sich 80 Prozent aller Studenten in der Artistenfakultät drängelten.47 Universitätspolitisch hatten die Artisten allerdings weniger Einfluss als die höheren Fakultäten, was sich unter anderem darin niederschlug, dass deren Dozenten ein weit geringeres Gehalt bezogen. Will man die spätmittelalterliche Universität richtig verstehen, muss man sich von einer zweiten Vorstellung freimachen. Moderne Studierende immatrikulieren sich mit dem Ziel, ihr Studium mit einem Examen abzuschließen, sei es mit der Bachelor- oder Magisterprüfung, dem Staatsexamen oder der Promotion. Obwohl die Zahl der Studienabbrecher im heutigen Deutschland im Vergleich etwa zu den USA sehr hoch ist, beginnen doch die meisten Studierenden mit der festen Absicht, die Universität mit einem akademischen Abschluss zu verlassen. Das war im Spätmittelalter nicht der Fall. Die Mehrheit der Studenten plante gar nicht, das Bakkalaureat, geschweige denn den Magistergrad zu erwerben. Nur 30 Prozent der Immatrikulierten graduierten mit dem Baccalareus und 3,5 Prozent mit dem Magister artium.48 Da die Mehrheit der Studenten also gar nicht die Intention hatte, irgendeinen akademischen Grad zu erwerben, ist es auch irreführend, von „Studienabbrechern“ oder „Versagern“ zu reden.49 Diese Studenten, die sogenannten scholares simplices, d.h. die Ungraduierten, stellten also das Gros der Studentenschaft dar. Falls ein Student sich allerdings entschied, den Baccalareus oder Magister artium anzustreben, konnte er damit rechnen, dass er diesen Grad auch erwarb. Die Durchfallquote war äußerst gering. „Der for44 45 46 47 48

SCHWINGES, Der Student in der Universität, S. 183. MÜLLER, Zu Struktur und Wandel der Artisten- bzw. Philosophischen Fakultät, S. 149. Ebd., S. 183. MÄRKER, Die Universität Erfurt, S. 23 Ebd., S. 33; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, I, S. 228; ABE, Die frequentielle Bedeutung, S. 29–57. 49 Vgl. SCHWINGES, Der Student in der Universität, S. 182.

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malisierte Lehrplan und die ständige Kontrolle durch die Betreuer in den Magisterfamilien und Bursen leiteten systematisch zum Erfolg; ein Versagen war nicht vorgesehen.“50 Von der seit den Humboldt’schen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts gewöhnten (und gerühmten) akademischen Freiheit an deutschen Universitäten ist an der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität nichts zu spüren. Die Studenten – und hier muss man wohl auf das politisch korrektere Studierende verzichten, da es noch Jahrhunderte dauern sollte, bis Frauen eine Universität in Deutschland besuchen durften – waren „einem nahezu klösterlichen Reglement und einer fast lückenlosen Überwachung des Lebenswandels unterworfen“.51 Als Conrath Muth also 1488 den Grad des Baccalaureus und 1492 den Magister artium erwarb,52 gehörte er also zu einer Minderheit.53

3.

Humanismus in Erfurt

HUMANISMUS IN ERFURT

Wie stand es nun um diese Zeit in Erfurt mit der neuen Bildungsbewegung, die man seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff „Humanismus“ bezeichnet? Damit meinte man die Beschäftigung mit den studia humanitatis, einer Reihe von Fächern, die Rhetorik, Dichtung, Moralphilosophie, Geschichte beinhaltete, aber gerade die an der spätmittelalterlichen Universität gepflegten Fächer wie Logik und Theologie ausschlossen.54 Erfurt war der neuen Bildungsbewegung durchaus aufgeschlossen. In den Jahren 1460–61 hatte der Wanderhumanist Peter Luder Station in Erfurt gemacht und seine Zuhörer durch Vorlesungen über Vergil, Terenz und Ovid begeistert. Sechs Jahre später, im Wintersemester 1466/67, kam der Italiener Jacobus Publicius, und um 1483 tauchte Samuel Karoch von Lichtenberg auf. Andere „Wanderhumanisten“ kamen und gingen. Sie blieben aber Außenseiter, Randerscheinungen, die an der herrschenden scholastisch-nominalistischen 50 SCHWINGES, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. XXVIII. 51 WÄHLER, Lehre und Studium (insbesondere der Rechtswissenschaft) an der Universität Erfurt im 16. Jahrhundert, S. 57. 52 Magisterverzeichnis Nr. 886 in: KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 361, S. 140. 53 SCHWINGES, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät Erfurt, S. 222–223; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, No. 886.; WEISSENBORN, Acta, II, S. 183. 54 Ich schließe mich hier der bekannten Definition KRISTELLERS an: Renaissance Thought: „By the first half of the fifteenth century, the studia humanitatis came to stand for a clearly defined cycle of scholarly disciplines, namely grammar, rhetoric, history, poetry, and moral philosophy.“ S. 9 f.

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Grundrichtung nichts änderten. Humanistische Vorlesungen blieben eine Nebensache. Da sie nicht für die Examina obligatorisch waren, haftete ihnen etwas Unverbindliches an. Wenn also in der Forschungsliteratur immer wieder von der „friedlichen Koexistenz“ des Humanismus und der Scholastik in diesen Jahren, also den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, in Erfurt gesprochen wird,55 so hat das seine Berechtigung. Weil der Humanismus keine neue Ideologie war, wurde er zunächst auch nicht als bedrohlich wahrgenommen, sondern als Ergänzung des curricularen Angebotes begrüßt. Das galt auch noch, als Mutian in Erfurt sein Studium aufnahm. Es sollte noch drei Jahrzehnte dauern, bis aus den ehemaligen „Outsiders“ „Insiders“ werden sollten.56 Erst unter dem Rektorat des Mutian-Schülers Justus Jonas im Jahre 1519 erlebte die Erfurter Universität eine gründliche Reform im Sinne des Humanismus (vgl. Kap. VII.8). Beherrschend aber blieb zu Mutians Studienzeit die Scholastik. Die Situation an der Erfurter Universität in den achtziger und neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts wird auch in den wenigen Äußerungen Mutians über seine Jahre in Erfurt reflektiert. Im Jahre 1520, also mehr als 35 Jahre nach seinem Studium an der thüringischen Universität, bekannte er eher beiläufig: In Erfurt habe ich einst die Bücher Occams gelesen.57 Der Bezug auf den englischen Franziskanermönch und Philosophen William of Ockham (etwa 1285/90–1348) verweist auf eine der großen Gestalten des sogenannten Nominalismus. Das späte Mittelalter war bekanntlich beherrscht von dem Universalien- oder Wegestreit, d.h.von der Auseinandersetzung zwischen den Realisten (via antiqua) und Nominalisten (via moderna). Nach den Nominalisten bestanden Universalien nur in einer Begriffswelt und sind bloße Namen (nomina), während die Realisten den Universalien ein von der Seele unabhängiges Sein zusprachen.58 Deren große Vertreter waren Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Duns Scotus, während die bedeutendsten Vertreter der Nominalisten Johannes Buridan, Marsilius von Ingham und eben jener von Mutian erwähnte William of Ockham waren, dessen Nominalismus in Erfurt die herrschende philosophische Richtung darstellte. Die wenigen Äußerungen Mutians über Ockham deuten darauf hin, dass er ihn als einen typischen Vertreter der Scholastik sah. Im Dezember 1516 forderte er im Kontext einer Rezension der erasmischen HieronymusAusgabe seinen Freund Johannes Lange auf, er solle doch jetzt die sogenannten scholastischen Theologen wie Thomas von Aquin, Guillaume Durand, Duns Scotus und William of Ockham mit ihren scharfen Werkzeugen aus seiner 55 MÄRKER, Die Universität Erfurt, S. 44 f.; BAUCH, Frühhumanismus in Erfurt, S. 67. 56 Siehe BERNSTEIN, From Outsiders to Insiders. 57 GILLERT Nr. 594 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520): „Legi olim Erfordiae Occhani libros …“. 58 Vgl. PILVOUSEK, Jodocus Trutvetter, S. 106 ff.

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Bibliothek entfernen.59 Vier Jahre später, 1520, wandte er sich in einer fiktiven Anrede an den Engländer Edward Lee, der es gewagt hatte, den großen Erasmus anzugreifen, und fragte ihn sarkastisch, ob er etwa den Beistand des Ockham und Scotus wolle. Er selbst sei mit Christus und Paulus zufrieden.60 Wenigstens im Rückblick kann er wenig mit diesen doch im Grunde so unterschiedlichen Vertretern der Scholastik anfangen. Einen größeren Eindruck auf Mutian machten offenbar die Veranstaltungen, die wir heute als typisch humanistisch bezeichnen würden und die außerhalb des streng formalisierten Lehrplans angeboten wurden und deshalb auch nicht „examensrelevant“ waren. Besonders zwei über humanistische Themen lesende Dozenten imponierten ihm. Der erste war Johannes Sömmering, ein Mann, der nach 1500 eine einflussreiche Stellung als Siegler des Erzbischofs von Mainz in Erfurt innehaben sollte,61 während Mutians Studienzeit aber als Baccalareus Vorlesungen über römische Autoren hielt. Ein Vierteljahrhundert später, im Jahre 1512, spendete ihm Mutian im Rückblick auf seine Erfurter Studienerfahrungen ein verhaltenes Lob: Nicht gestern oder vorgestern, sondern vor Zeiten habe ich erkannt, dass Sömmering Dir [gemeint ist Urbanus], nein uns, sehr gewogen war. Er widmet sich den lateinischen Studien und hasst die Barbaren gleichermaßen und kümmert sich gern um unsere Interessen. Denn nur mit geringen Mittel ausgestattet, las er als baccalareus der philosophischen [d.h. der artistischen] Fakultät den Terenz. Ich war sein Hörer. Den Eunuchen [des Terenz] behandelte er während der Ferien der Hundstage. Er zeichnete sich durch ausreichende Beredsamkeit und viel Fleiß aus. Über rhetorische Eleganz will ich schweigen, da sie sich zu dieser Zeit noch nicht gezeigt hatte.62

Bemerkenswert ist nicht, dass Sömmering als Bakkalar las. Das wurde sogar von ihm erwartet. Dass er aber nur in der vorlesungsfreien Zeit lesen durfte, zeigt die marginale Stellung der studia humanitatis zu dieser Zeit. Bezeichnend ist aber 59 GILLERT Nr. 569 (Mutian an Lange, Dezember 1516): „Huic doctori eximio [gemeint ist Hieronymus] primam in Atheneo tuo cathedram dato semotis contentiosis illis, quibus ob scholasticam, ut vocant, theologiam te pro tempore dedicas. Cedant Capreolus [Thomas von Aquin], Durandus, Scotus et Occam, cadat e manu bickl, axchst, holparte.“ 60 GILLERT Nr. 590 (Mutian an Johannes Lange, 24. Mai 1520): „Num Occanicum Scoticumque praesidium? Non desideramus contenti Christo et Paulo.“ 61 Vgl. KLEINEIDAM, Universitas Studii Efffordensis, II, S. 146. 62 GILLERT Nr. 197 (Mutian an Urban, kurz nach dem 10. August 1512): „Tui, imo nostri amantissimum esse Sommeringum non heri et nudiustertius, sed olim cognovi. Favet latinis studiis ut qui maxime, odit barbaros ut qui valde, nostris commodis utqui libenter fert opem. Nam adhuc tenui fortuna et tantum philologiae baculo insignis Terencium in scola philosophorum enarrabat. Auditor eram. Eunuchum tractavit per ferias caniculares. Satis facundiae, multum diligentiae praestitit. De elegantia taceo, quae sub idem tempus nondum isthic emerserat.“

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Mutians Bemerkung, dass er bei aller Verehrung gegenüber Sömmering aus Höflichkeit nichts über dessen fehlende sprachliche Eleganz sagen möchte.63 Taktvoll will er nicht die Maßstäbe der späteren hochhumanistischen Zeit auf seinen alten Lehrer anwenden. Auch der zweite Lehrer, dessen Mutian später gedenkt, war Humanist, und zwar der berühmte Conrad Celtis, dem man im 19. Jahrhundert den Titel „Erzhumanist“ verlieh.64 In einem Brief an seinen Freund, den Augustiner Johannes Lange, aus dem Jahre 1520, in dem er u.a. das Aufblühen der humanistischen Wissenschaft skizzierte, rühmte sich Mutian, dass Celtis einst sein Lehrer gewesen sei.65 Obwohl dieser fränkische Humanist zu dieser Zeit in keiner Universitätsmatrikel auftaucht, wissen wir aus anderen Quellen, dass er sich tatsächlich am Ende des Wintersemesters 1486 in Erfurt aufhielt, aber im anschließenden Sommersemester bereits in Leipzig studierte und unterrichtete. Da sich aber Mutian erst im Sommersemester 1486 immatrikulierte, kommt nur ein schmales zeitliches Fenster zwischen Mutians Immatrikulation in Erfurt und Celtis’ Weggang in Frage, die kaum eine intensive Bekanntschaft zwischen dem Erstsemester Mutian und dem bereits berühmten „Erzhumanisten“ erlaubt haben mag. Dass Mutian ihn trotz der offenbar sehr kurzen Begegnung als seinen praeceptor reklamierte, ist sicherlich einem Quäntchen name dropping, einer humanistischen Untugend, zu verdanken. Der bekannte Humanist war inzwischen nicht nur zum poeta laureatus gekrönt worden, sondern auch zur ersten Garde der deutschen Humanisten vorgestoßen. Der Versuchung, sich als Schüler dieses berühmten Dichters zu rühmen, konnte der ansonsten uneitle Mutian nicht widerstehen, wie kurz und oberflächlich die Begegnung auch gewesen sein mag. Dazu kommt, dass Celtis trotz seines flüchtigen Aufenthaltes in Erfurt offenbar einen großen Eindruck auf den jungen Studenten gemacht hatte, denn anders als in späteren Universitätsstädten, in denen er durch negative Schlagzeilen auffiel, wie zum Beispiel in Ingolstadt, wo er seine scholastischen Kollegen als Gänse und röhrende Ochsen verspottete,66 zeigte Celtis in Erfurt eine andere Seite seiner Persönlichkeit, nämlich die Gabe, Freunde und Schüler um sich zu scharen.67 Celtis 63 Sömmering wurde nach seinem artistischen Studium Jurist, 1497 Doktor beider Rechte, Dozent der Jurisprudenz und Kanonikus zu St. Severi in Erfurt. Vgl. BAUCH, Der Frühhumanismus in Erfurt, S. 116. 64 Der Beiname wurde ihm von Friedrich von Bezold gegeben: Celtis der deutsche Erzhumanist. Celtis lebte von 1459–1508. 65 GILLERT Nr. 594 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520), II, S. 266: „Sciebam in Germania illustranda plurimum laborasse Chunradum Celten, praeceptorem olim nostrum.“ 66 RUPPRICH, Der Briefwechsel des Conrad Celtis, Nr. 32: „… velut anseres instrepare aut veluti mugientes boves aures conturbare.“ 67 BAUCH, Der Frühhumanismus in Erfurt, S. 67: „Die Matrikel weiß nichts von seiner Anwesenheit, aber dass er Erfurt nicht bloß als Durchgangsort auf seiner ersten Reise von

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blieb lange Zeit eine Kultfigur in Erfurt. Sechs Monate nach dessen Tod gedachten die Sodalen des mutianischen Kreises seines Todestages in einer heiteren Feier mit Wein, Scherzen und Stegreifgedichten – ganz im Sinne des Toten, der selbst humanistische Geselligkeit zu pflegen liebte.68 Obwohl Mutian Zweifel an dem ganzen scholastischen Betrieb gehabt haben mag, und jedenfalls später nur ätzenden Spott für das ganze System übrig hatte, legte er gewissenhaft seine vorgeschriebenen Prüfungen ab. Allerdings ließ er eine ungewöhnlich lange Zeit zwischen Bakkalaureat und Magisterprüfung verstreichen – nämlich das Doppelte der „Regelstudienzeit“. Hat er diese Zeit genutzt, die römischen Klassiker zu lesen? Zweifellos hat er nach seiner Gradierung zum Magister auch sein eigentliches Fachstudium, die Jurisprudenz, begonnen.69

4.

Mutian als Dozent an der Philosophischen Fakultät

MUTIAN ALS DOZENT

Nach Abschluss seines Magisterexamens lehrte Mutian in der Philosophischen Fakultät. Damit reihte er sich ein in das Heer der schlechtbezahlten Bakkalauren und Magister, die „eidlich dazu verpflichtet [waren] zwei Jahre lang, während des so genannten biennium Lehrveranstaltungen an der soeben absolvierten Fakultät“ anzubieten, während sie sich dem Fachstudium in Theologie, Medizin oder Jura widmeten.70 Dieses Arrangement hatte für beide Seiten Vorteile: Die Universität bekam für ihre Standardkurse in der Artistenfakultät billige Lehrkräfte, und der Student sammelte im frühen Alter pädagogische Erfahrung, konnte seine eigenen Lateinkenntnisse vertiefen und mit den Einkünften, d.h. den Hörergeldern und Examensgebühren, sein weiteres Studium finanzieren. Die Konsequenz war, dass die meisten Kurse in dieser Fakultät von nicht fest angestellten Lehrern bestritten wurden. Für die Universität bedeutete das, dass „an der Fundamental-Fakultät die Lehre weitgehend von einer großen fluktuierenden Gruppe von Magistern regentes getätigt wurde“.71

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dem Westen nach dem Osten berührte, verrät die Zahl seiner alten Freunde und Verehrer, die nach 1497 seiner treu anhänglich gedachten.“ In einem Brief vom 27. Februar 1497 gibt Petz Auskunft über diese Männer. RUPPRICH, Der Briefwechsel des Conrad Celtis, Nr. 152, S. 254–256. GILLERT Nr. 78 (Mutian an Urban, 11. August 1508). Celtis war am 4. Februar 1508 in Wien gestorben. Die ausgelassene Trauerfeier fand nach GILLERTs Datierung am 11. August des gleichen Jahres statt. Die Behauptung KALKOFFS, dass er in Erfurt „die Rechtswissenschaft mit Ruhm vertreten habe“, lässt sich durch nichts belegen. Humanismus und Reformation in Erfurt, S. 12. MÄRKER, Geschichte der Universität Erfurt, S. 23. MÜLLER, Zu Struktur und Wandel der Artisten- bzw. Philosophischen Fakultät, S. 153.

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Auch Mutian gehörte zu den „Magistri regentes“ – und, wie zwei seiner ehemaligen Hörer belegen, zu denen, die ihre nur wenig jüngeren Kommilitonen durch ihren Unterricht zu begeistern vermochten. Das erste Zeugnis dafür ist die Erinnerung seines späteren Freundes Heinrich Fastnacht, später Urbanus, der ihn als junger Student, wahrscheinlich noch 1494 gehört haben muss: Diesen [Mutian] habe ich als Junge [Urbanus wurde1494 wahrscheinlich im Alter von 14 bis 16 immatrikuliert, war also tatsächlich noch ein „puer“] nicht nur geliebt geschätzt, und verehrt; wie es sich gehört, dass so ein hochgelehrter und integrer Mann geliebt, geschätzt und verehrt wird. Die Wertschätzung und der berühmte Name dieses Mannes, der während meines ersten Studienjahres unter den Erfurter Dozenten am hellsten strahlte, haben auf mich einen starken Einfluss gehabt.72

Das zweite Zeugnis stammte von Nikolaus Marschalk, einem Mann, der später für den Erfurter Humanismus von überragender Bedeutung werden sollte.73 In welchem Verhältnis die beiden jungen Männer während der zwei Jahre, in denen sich ihre Aufenthalte in Erfurt überschnitten, standen, ist nicht ganz klar. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass Marschalk ein Student Mutians war, denn obwohl beide gleichaltrig waren, war Mutian schon als Dozent tätig, während Marschalk erst 1496, also nach dem Weggang Mutians, seinen Magister artium erwarb.74 Von Marschalk nun stammt ein Brief aus dem Jahre 1505, in dem er seinen ehemaligen Lehrer in den höchsten Tönen preist. Mutian sei humanissimus et eruditissimus, also äußerst freundlich und hochgelehrt, frei von jeglicher Prahlerei; denn er fühlt wie Pythagoras, teilt wie Socrates, erklärt wie Plato, schafft Verknüfungen wie Aristoteles, schmeichelt wie Aeschines, zürnt wie Demosthenes, glänzt wie Hortensius, schäumt wie Cethegus, wiegelt auf wie Curio und zögert wie Fabius.75

Indem er Mutian mit den berühmtesten Philosophen und Redner der griechischen und römischen Antike verglich, zeigte er nicht nur seine eigene Belesen72 KRAUSE Nr. 71 (Urban an Herebord von der Marthen, 1507): „Quem a puero non aliter dilexi, observavi, colui atque a bono scholastico diligi, observari, coli par est virum doctissimum eundemque integerrimum, commotus videlicet fama nomineque celeberrimo hominis, quo me primi anni inter Erphurdienses academicos auditore clarebat istic quam qui maxime.“ Nicht bei GILLERT. 73 Die Literatur zu ihm später in Kap. VI. 74 Magisterverzeichnis Nr. 936. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 336. Wegen der Pest wurde 1496 außer Marschalk in diesem Semester nur ein weiterer Student zum Magister promoviert. 75 BEEHR, Rerum Mecklenburgicarum libri octo, Leipzig 1741. Zitiert in BURGDORF, Der Einfluss des Erfurter Humanismus auf Luther, S. 35: „Omnis de se ostentationis expers. Nam sentit ut Pythagoras, dividit ut Socrates, explicat ut Plato, implicat ut Aristoteles, ut Aeschines blanditur, ut Demosthenes irascitur, vernat ut Hortensius, aestuat ut Cethegus, incitat ut Curio, moratur ut Fabius.“

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heit und Bildung, sondern machte dem ehemaligen Lehrer überschwängliche Komplimente. Drei Dinge werden angesprochen: einmal Mutian als kritischer Philosoph, zweitens Mutian als redegewandter Pädagoge, der seine Studenten zu überreden weiß, und drittens – und das scheint zunächst nicht in die vorherige Aufzählungsreihe zu passen: Er [Mutian] zögere wie Fabius. Falls Marschalk aus den etwa vierzig aus der römischen Antike bekannten Fabii den Fabius Cunctator meinte – und das legt das Verb moratur nahe – ist dies ein merkwürdiges Kompliment. Ist damit ein Zögern, ein Sich-nicht-Festlegenwollen, ein intellektueller Schwebezustand, gemeint? Trotzdem: selbst wenn man die humanistischen Übertreibungen abzieht: Mit solchen Worten charakterisierte man nicht einen staubtrockenen Dozenten, sondern jemanden, der Studenten mitzureißen weiß, einen charismatischen Lehrer. Dass Mutian ein lebhaftes Temperament besaß, hatte ja schon der Deventer-Absolvent Johannes Butzbach berichtet. Mutian seinerseits hatte nur höchste Verehrung für Marschalk. Besorgt erkundigte er sich nach seiner Rückkehr aus Italien bei Spalatin im Juni 1505, ob es wahr sei, dass Marschalck verstorben sei.76 Die Gerüchte über den Tod Marschalks erwiesen sich als falsch. Er lebte noch bis 1525 – fast genau so lang wie Mutian selbst. Noch im gleichen Sommer des Jahres 1505 sandte Mutian als Gegengabe für ein erhaltenes Geschenk an Urban einen Brief Marschalks, an dessen Eleganz er, Urban, Freude haben werde.77 Aber das war später. Zunächst brach Mutian im Jahre 1495 nach Italien auf.

76 GILLERT Nr. 4 (Mutian an Spalatin, um den 29. Juni 1505): „Scribe, an Thurius noster naturae debitum reddiderit.“ 77 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Ille nobilissimus Thurius sua te delectabit elegancia.“ Der so gerühmte Brief Marschalks ist nicht erhalten.

III. STUDIENJAHRE IN ITALIEN

1.

Aufbruch nach Italien

AUFBRUCH NACH ITALIEN

Ohne einen juristischen Grad erworben zu haben, verließ Mutian 1494 Erfurt, um in Italien sein Jurastudium fortzusetzen. Einen zwingenden fachlichen Grund dafür gab es nicht, denn seit der Mitte des 15. Jahrhunderts war es in Erfurt möglich, nicht nur kanonisches Recht, sondern auch römisches Recht zu studieren.1 Die Professoren der Juristischen Fakultät genossen einen hervorragenden Ruf, sodass sich Erfurt gelegentlich mit einem gewissen Stolz als das „Bologna des Nordens“ rühmte – in Anspielung auf die Reputation der italienischen Hochschule im Fache Jura.2 Mutian selbst hatte gesehen, dass seine zwei Brüder ihr juristisches Examen an der thüringischen Hochschule abgelegt und in Deutschland Karriere gemacht hatten.3 Trotzdem: Ein mit dem juristischen Doktor abgeschlossenes Studium an einer italienischen Universität erwies sich immer noch als „eine zwar kostspielige, aber in der Regel lohnende Bildungsinvestition“.4 Genügend finanzielle Mittel für einen längeren Italienaufenthalt scheint Mutian aus der Erbschaft seiner inzwischen verstorbenen Eltern gehabt zu haben. Als Mutian beschloss, sich nach Italien zu begeben, dürften aber neben dem Ziel, einen juristischen Doktortitel an einer italienischen Universität zu erwerben, andere Gründe eine Rolle gespielt haben, nämlich der Wunsch, die studia humanitatis, denen er sich seit seiner Zeit als Gymnasiast in Deventer gewidmet hatte, an ihrer Quelle zu studieren. So verließ Mutian frühestens im Herbst 1494, möglicherweise auch etwas später, Erfurt und begab sich nach Italien.5 Auf dem Weg in den Süden besuchte er in Mainz Theoderich (Dietrich) Gresemund den Jüngeren, einen Mann, der später ein nicht unbedeutender Rechtslehrer werden sollte und wie Mutian in Bologna Jura studieren und in Ferrara

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MÄRKER, Geschichte der Universität Erfurt, S. 25. Ebd. Der ältere Johannes wurde 1484, der jüngere 1498 zum Dr. jur promoviert. KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, Nr. 56 und II S. 145. STIEVERMANN, Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten, S. 39. Mehrmals empfiehlt er in späteren Jahren anderen Reisenden den Herbst als die beste Reisezeit. Zum Beispiel GILLERT Nr. 510 (Mutian an Urban, 24. Juni 1515): „Tempus autumnale iter cursoribus Romipetis aperit.“ Ebenso sein Ratschlag an Petreius (GILLERT Nr. 281, um die Mitte 1513): „I securus initio autumni!“

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III. STUDIENJAHRE IN ITALIEN

seinen Doctor jur. erhalten sollte.6 Von Mainz machte Mutian dem berühmten Abt von Sponheim, Johannes Trithemius (1462–1516), in dessen bei Kreuznach gelegenem Kloster seine Aufwartung.7 Dieser hatte in seiner Abtei eine hervorragende und viel gerühmte Bibliothek aufgebaut, betätigte sich schriftstellerisch als Literaturhistoriker und Hagiograph, wurde von vielen Humanisten gefeiert und pflegte mit diesen eine intensive Korrespondenz.8 Bei ihm muss Mutian auch, wenn auch nur kurze Zeit, „studiert“ haben, falls man seine Anrede in einem späteren Brief aus dem Jahre 1513 als praeceptor ter maximus so interpretiert, dass sie sich auf Trithemius als seinen Lehrer bezog.9 Mutians Aufenthalte in Mainz und Sponheim waren nicht ungewöhnlich für einen Humanisten; denn durch Reisen andere Länder, Gebräuche, Sitten und Menschen kennen zu lernen, war ein unverzichtbarer Teil der humanistischen Lebensform, sodass man auch die erheblichen Beschwernisse frühneuzeitlichen Reisens wie unsichere Wege, schmutzige Herbergen und die ständige Furcht vor Überfällen in Kauf nahm. Ein wichtiges Reisemotiv war, den Kontakt mit anderen Humanisten zu pflegen und dadurch das Bewusstsein wachzuhalten, der humanistischen res publica literaria anzugehören. Insofern hatte Reisen die Funktion, die in unserer Zeit bei Akademikern Tagungen, Symposien und Kongresse übernommen haben: persönliche Kontakte herzustellen und zu pflegen, gemeinsame Projekte zu planen und sich über Arbeitsmethoden zu beraten. Aus diesem Grunde plante man oft die Reiseroute nach den Wohnorten schon befreundeter oder noch zu befreundender Humanisten.10 Mutian selbst, der von seinem Temperament eher schüchtern und zurückhaltend war und auch später lieber Gastgeber als Gast war, entwickelte sich jedoch nach seiner langjährigen Italienreise zu einem ausgesprochenen „Reisemuffel.“ Einladungen an andere Orte lehnte er stets dankend ab und stand dieser humanistischen Wanderlust später eher skeptisch gegenüber, wenn er sie auch bei anderen duldete und 6

GILLERT Nr. 595 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520: „… item Gresemundum iuniorem nobis, dum Mogunciaci ageremus, amicissimum.“ Zu Gresemund: GRIMM, Gresemund(t), Theoderich (Dietrich), in: NDB, 7, S. 48–49; BROCKHAUS, Gresemundt, Dietrich, in: ADB, 9, S. 640 f. Er wurde 1475 geboren, ging 1495 nach Padua, dann nach Rom. Im Sommer 1497 setzte er sein Studium in Bologna fort, wo er vermutlich Mutian traf. Ebenso wie dieser erwarb er 1498 in Ferrara den Dr. legum. Er starb 1512. 7 GILLERT, Einleitung, S. XXI, Anm. 8. 8 Zu Trithemius grundlegend ARNOLD, Johannes Trithemius (1462–1516). Würzburg 19912 und GÜNTHER, Johannes Trithemius of Trittenheim, in: CoE III, S. 344–345. Bauch verlegt den Besuch bei Gresemund und Trithemius auf den Rückweg Mutians in das Jahr 1502 (BAUCH, Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus, S. 127). 9 GILLERT Nr. 295 (Mutian an Trithemius, 9. August 1513). 10 TRUNZ, Der deutsche Späthumanismus als Standeskultur, S. 163: „Im Grunde genommen reiste man gar nicht von Stadt zu Stadt, sondern von Gelehrten zu Gelehrten.“ Vgl. zu dem Vorhergehenden: BERNSTEIN, Humanistische Standeskultur, S. 109–113.

DEUTSCHE STUDENTEN IN ITALIEN

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Freunde mit Empfehlungsschreiben unterstützte. So schrieb er 1513 an Trithemius, der inzwischen Abt eines Klosters in Würzburg geworden war, einen Brief für seinen Schüler Peter Eberbach, fügte aber entschuldigend hinzu, nachdem er ihn gebührend gelobt hatte: Er reist nicht in die Fremde wie viele andere, die herumschweifen und sich selbst und ihre Sachen herumreichen, um mit ihrer Beliebtheit zu prahlen.11 Mainz und Sponheim waren aber nur Stationen auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel: Italien, der Wiege des Humanismus.

2.

Deutsche Studenten in Italien

DEUTSCHE STUDENTEN IN ITALIEN

Seit dem Spätmittelalter waren deutsche Studenten in immer größeren Zahlen auf die Appeninhalbinsel gezogen, um Jura und Medizin zu studieren. Besonders die norditalienischen Hochschulen Pavia, Bologna und Padua waren beliebt und transalpinen Studenten gegenüber aufgeschlossen, wobei die Deutschen immer die größte Gruppe der ausländischen Studenten bildeten.12 In Pavia zum Beispiel förderten die Sforzaherzöge aus wirtschaftlichen und außenpolitischen Gründen gezielt den Besuch deutscher Studenten. Wirtschaftlich versprachen sich die italienischen Herzöge, die ihre Universitäten sponserten, von den als wohlhabend geltenden deutschen Studenten eine Belebung ihrer Konjunktur, außenpolitisch erhofften sie sich zukünftiges Wohlwollen von den in das Heilige Römische Reich zurückkehrenden deutschen Scholaren und deren Regierenden. Wenn diese Studenten neben ihren juristischen und medizinischen Fachvorlesungen auch Kollegs über die studia humanitatis besuchten, so geschah das einmal, weil sie ihre lateinische Sprachkompetenz sozusagen an der Quelle zu vervollkommnen suchten, zum anderen aber auch, weil sie vom Inhalt der humanistischen Vorlesungen, von der andersartigen Welt der antiken Literatur und Geschichte fasziniert waren. Manch einer, wie etwa Ulrich von Hutten, vergaß, vom Reiz dieser neuen Welt verführt, sein trockenes Jurastudium gänzlich, sodass er, ohne einen akademischen Grad erlangt zu haben, als Niemand, als Nemo, so der Titel eines seiner Werke, in die Heimat zurückkam. Neben ihrer fachspezifischen Ausbildung, falls sie überhaupt abgeschlossen wurde, kehrten sie also oft mit guten Kenntnissen römischer Literatur zurück, und auch wenn sie später nicht unbedingt vollberuflich die studia humanitatis lehrten, so bleiben

11 GILLERT Nr. 295 (Mutian an Trithemius, 9. August 1513): „Non peregrinatur ut multi, qui vagantes se et sua circumferunt et ostentant pleni popularis aurae.“ 12 Vgl. ZONTA, Studenti stranieri in Italia: „Fra di essi pero il gruppo piu numeroso era senza dubbio quello dei tedeschi.“ S. 16–18. Wichtig: SOTTILI, Università e Cultura. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von 11 Aufsätzen zu diesem Thema.

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doch viele in ihrer weiteren Karriere als Geistliche, Gesandte und Administratoren den humanistischen Bildungsvorstellungen verbunden. Es waren nicht nur bekannte Namen, sondern Hunderte von unbekannten Studenten, die oft nach jahrelangem Italienaufenthalt ihre Begeisterung für die studia humanitatis mit geradezu missionarischem Eifer mitzuteilen suchten. Die zurückkehrenden Studenten stellten somit neben dem sporadischen Auftreten italienischer Humanisten in Deutschland einen, wenn auch nur einen, wichtigen Faktor im Kulturtransfer humanistischer Ideen nach Deutschland dar. Daneben waren aber auch für das allmähliche Eindringen des Humanismus in Deutschland einzelne italienische Humanisten verantwortlich wie Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst Pius II (1458–64), der sich fast 20 Jahre nördlich der Alpen aufhielt und während dieser Zeit intensive Kontakte mit deutschen Gelehrten pflegte, weshalb ihm ein deutscher Gelehrter des 19. Jahrhunderts den Titel „Apostel des Humanismus in Deutschland“ verlieh.13 Dazu gehörte auch Poggio Braccioloni (1380–1459), der als apostolischer Sekretär während des Konstanzer Konzils (1414–1418) nicht nur intensiv die Bibliotheken der nördlichen Barbaren durchkämmte und dabei manch schöne Handschrift entdeckte, sondern auch Verbindungen zu deutschen Kollegen knüpfte.14 Zu den italienischen Aposteln des Humanismus gehören schließlich auch wandernde Humanisten wie Petrus Antonius Finariensis (um 1440–1512), die im kühlen Norden feurig für die neuen humanistischen Studien warben.15 Mutianus verbrachte sieben Jahre in Italien, Jahre, die ihn entschieden prägten und für die Entwicklung seiner Weltanschauung eine enorme Bedeutung hatten. Angesichts der Länge seines Italienaufenthaltes ist es erstaunlich, dass sich seine Biographen mit nur wenigen Abschnitten über diese Zeit begnügen.16 Dafür gibt es jedoch gute Gründe. Während für seine Gothaer Zeit (1503–1526) sich Hunderte von Briefen erhalten haben, existiert nur ein einziger Brief aus der Zeit seines Italienaufenthaltes, nämlich ein kurzes Schreiben aus Bologna aus dem Jahre 1502.17 Da die dürftigen Quellen zu Spekulationen einladen, werden in der kritischen Literatur Treffen mit bedeutenden italienischen Humanisten und Besuche italienischer Städte erfunden, für die es keinerlei Beweise gibt. So schreibt etwa ein Kritiker: „An der Platonischen Akademie von Florenz saß er [Mutian] bei dem Dichter und Philosophen Giovanni Pico della Mirandola im Kolleg und an der angesehenen Universität von Bologna erwarb er den juristi13 VOIGT, Die Wiederbelebung des classischen Altherthums. 2 Bde; DERS., Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius II. 14 Zu Poggio: DAVIES, Bracciolini, Poggio. In CoE, I, 274–276. 15 Vgl. dazu: BERNSTEIN, Antonius Finariensis, Petrus, Sp. 266–269. 16 Zum Beispiel GILLERT, Briefwechsel, S. XXI–XXIV; KRAUSE, Briefwechsel, S. III–V. 17 GILLERT Nr. 1 (Mutian an Joh. Burckard, 1. Juni 1502).

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schen Doktortitel“.18 Das erste ist eine bloße Vermutung, das zweite nachweislich falsch. Zunächst gilt es also die Mythen von den Fakten zu trennen, die Spekulation von den gesicherten Zeugnissen zu scheiden, und vor allem Fragen nach den Orten seines Aufenthaltes zu klären und herauszufinden, wer seine Lehrer waren und wer ihn möglicherweise beeinflusste.

3.

Mutians italienische Studien- und Aufenthaltsorte

3.1 Ferrara MUTIANS ITALIENISCHE STUDIENORTE

Den Doktor im kanonischen Recht erwarb Mutian nicht an der renommierten Universität Bologna,19 sondern im Jahre 1501 an der Universität Ferrara. Dies geht klar aus einem Eintrag in den Akten dieser Hochschule hervor. Darin ist unter dem 16. November 1501 vermerkt: Martinus [sic] Rufus (alemannus) Magontinus … fuit approbatus in iure canonico.20 Als vorherige Studienorte werden Bologna, Rom und Ferrara vermerkt. Außer diesem Eintrag – der einzige einer italienischen Universität, der überhaupt Mutian erwähnt – gibt es zwei weitere Zeugnisse von Mutian selbst aus viel späterer Zeit, die diese akademische Verleihung bestätigen. Das erste stammt aus dem Jahre 1525. In dem Klima wachsender antipäpstlicher Agitation seitens der Wittenberger Reformatoren hielt es Mutian für nötig, in einem Brief an den kursächsischen Kanzler Gregor Brück21seine grundsätzlich papstkritische Haltung zu betonen und seinen Doktortitel im kanonischen Recht, den er von einer offiziell zum Kirchenstaat gehörigen Universität erhalten hatte, zu verteidigen: Ich habe nur in Ferrara den Titel des päpstlichen Rechts angenommen … Der Papst hat mir nichts gegeben.22 Empfindlich reagierte er auf die spöttische Bemerkung seines selbstbewussten Schülers Herebord von der 18 IGNASIAK, Das literarische Gotha, S. 66. 19 Wie noch Krause, Strauss, Kampschulte, Geiger, Burkard/Kühlmann und Mahal behaupten: KRAUSE, Der Briefwechsel des Mutian, S. IV; STRAUSS, Ulrich von Hutten, S. 30; KAMPSCHULTE, Die Universität Erfurt, S. 76. GEIGER, Renaissance und Humanismus, S. 433; BURKARD/KÜHLMANN, Narratio de Helio Eobano Hesso, S. 150, Anm. 14. MAHAL, Faust: die Spuren eines geheimnisvollen Lebens, S. 92. Richtig dagegen zuerst GILLERT, Briefwechsel, S. XXII. 20 PARDI, Titoli dottorali conferiti dallo studio di Ferrara nei sec. XV e XVI, S. 108–109. Matr. 237, 4. 21 Gregor Brück: 1484–1557. 22 GILLERT Nr. 626 (Mutian an Gregor Buck, 28. Juni 1525): „Tantum Ferrariae accepi iuris pontificii titulum. … Nihil papa dedit.“ Theoretisch unterstand die Stadt und damit auch die Universität dem Papst. Dieser hatte aber seine Rechte der Este-Familie als päpstliche Vertreter übertragen.

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Marthen, er habe seinen Doktortitel „gekauft“.23 Tatsächlich war Ferrara dafür bekannt, dass Studenten, besonders die Ultramontanen, also diejenigen, die von jenseits der Alpen kamen, und Studenten, die den größten Teil ihrer Studien woanders absolviert hatten, in Ferrara in kürzester Zeit ihren akademischen Grad erwerben konnten. So hatte zum Beispiel Nikolaus Kopernikus, der später berühmte Astronom, um ein paralleles, nicht untypisches Beispiel für die großzügige Vergabe des Doktortitels im kanonischen Recht zu zitieren, in Krakau mit dem Studium angefangen, dann in Bologna fünf Jahre lang dieses und Astronomie und in Padua weitere zwei Jahre Medizin studiert. Nach einem Aufenthalt von nur wenigen Monaten erhielt er 1501 von Ferrara den Doktor im kanonischen Recht verliehen.24 Ferrara scheint also den Ruf einer „diploma mill“, einer am laufenden Band Diplome produzierenden Hochschule, gehabt zu haben.25 Warum promovierte der hochbegabte Mutianus nicht in Bologna, wo er sich doch nachweislich mehrere Jahre aufhielt, sondern an dieser Universität mit zweifelhaftem Ruf? Hatte er dermaßen das Interesse an den juristischen Studien verloren, dass er sich in Bologna ganz den studia humanitatis widmete? Hatte er sich deshalb, um nicht ganz mit leeren Händen aus Italien nach Deutschland zurückzukommen (wie später Ulrich von Hutten), kurz vor seiner Rückreise noch schnell den Dr. jur. „gekauft“, wie von der Marthen respektlos später andeutete? Oder war die Promotion in Ferrara einfach billiger als in Bologna? All das sind Fragen, die unbeantwortet bleiben müssen.

3.2 Bologna Mit Paris gehörte die Universität von Bologna nicht nur zu den ältesten europäischen Hochschulen, sondern war auch zumindest während der Renaissance die größte Universität Italiens und nach Padua die bedeutendste.26 Mit ihren 1.000 bis 2.000 Studenten (1.000 zwischen 1400–1450, diese Zahl stieg auf 2.000 um 1550), die Diener und Tutoren mitbrachten, stellte sie auch einen bedeutenden

23 GILLERT Nr. 192 (Mutian an Urban, Anfang August 1512; Krause, Nr. 101, November 1508): „Emptum mihi honorem.“ 24 KIRCHHOFF, Kopernikus, S. 141. 25 So Paul Grendler, einer der besten Kenner italienischer Hochschulen: GRENDLER, The Universities of the Italian Renaissance. S. 105. Ähnlich urteilt RASHDALL, The Universities of Europe in the Middle Ages, S. 54: „after the more elaborate ‚reformation‘ of 1442 the university rapidly became a flourishing studium, though its celebrity was not of the highest kind. It had the reputation of a place where degrees could be had cheaply.“ 26 GRENDLER, University of Bologna, S. 249–250.

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wirtschaftlichen Faktor dar. Vor allem aber hatte die Juristische Fakultät einen exzellenten Ruf. Besonders beliebt war die Universität, und da auch wieder die Juristische Fakultät, unter deutschen Studenten, von denen zwischen 1289 und 1562 über 4.000 in Bologna studiert hatten.27 Darunter befanden sich so berühmte Namen wie die beiden Frühhumanisten Albrecht von Eyb und Dietrich Gresemund der Jüngere, Mutians Mainzer Gastgeber, Johannes Pirckheimer, der Vater des berühmten Nürnberger Willibald, die Humanisten Ulrich von Hutten, Hermann von Neuenahr, Johannes Rhagius Aesticampianus, Christoph Scheurl, Conrad Peutinger, Jakob Locher, Crotus Rubeanus, der spätere Luthergegner Johannes Cochlaeus, Huttens Gönner Eitelwolf von Stein und eben auch Nikolaus Kopernikus.28 Mutian wird also in erster Linie aus Erfurt, dem angeblichen „Bologna des Nordens“, in das authentische Bologna gezogen sein, um sein Jurastudium fortzusetzen. Wann er sich innerhalb seines 6- oder 7-jährigen Italienaufenthaltes in Bologna aufhielt, lässt sich wegen des Fehlens von Matrikeleintragungen nicht mehr bestimmen.29 Dass er in Bologna aber neben dem juristischen Fachstudium die studia humanitatis betrieben hat, geht eindeutig und gesichert aus zahlreichen späteren Hinweisen hervor. Denn anders als in Deutschland, und spezifisch in Erfurt, wo die humanistischen Studien noch ein Schattendasein führten, spielten sie im Bologna des 15. Jahrhunderts im Curriculum eine herausragende Rolle und wurden von bekannten und geschätzten Lehrern vertreten.30

27 Angaben nach KNOD, Deutsche Studenten in Bologna. Knod hat 4.398 davon namentlich erfasst. 28 Alle Angaben nach KNOD, Deutsche Studenten in Bologna. Mutian selbst traf in Bologna neben dem Humanisten Johann Aesticampianus und Dieter Gresemund, Jr. eine Anzahl der Erfurter Kommilitonen an wie den Straßburger Thomas Wolf und Valentin von Sunthausen. 29 GILLERT, S. XXII: „Wo er nach allem zu urteilen in den Jahren 1499–1502, wenn auch nicht ausschließlich lebte.“ Sein Name erscheint in keinem der einschlägigen Studentenoder Dozentenverzeichnisse von Friedlaender/Malagola (Acta Nationis Germanicae Universitatis Bononiensis) und Knod (Deutsche Studenten in Bologna). Das bedeutet keineswegs, dass er nicht in Bologna studiert hat, sondern „hat wohl den Hauptgrund darin, dass die Natio Germanica eine Juristennation war, bei der sich übrigens nicht jeder deutsche Bologna Student immatrikuliert hat.“ SOTTILI, Der Bericht des Johannes Roth über die Kaiserkrönung von Friedrich III., S. 49. 30 KRISTELLER, The University of Bologna and the Renaissance: „The fifteenth century was the culminating period of Italian humanism, and hence we are not surprised to note that the humanistic studies occupied a prominent place in the program of the University of Bologna and counted among the teachers a number of well-known scholars.“ (S. 318)

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a.) Filippo Beroaldo Unter den dortigen humanistischen Lehrern galt Filippo Beroaldo (1453–1505) als vielleicht der größte,31 und dieser charismatische Professor scheint auch Mutian in seinen Bann gezogen zu haben. Als er im Jahre 1505 von dessen Tod erfuhr, verfasste er spontan ein Gedicht auf seinen ehemaligen Bologneser Lehrer: Philippum sopor occupat. Doctis flebilior quis potuit mori? Non famae nocuit sopor, Quae splendet Pario marmore tersius. Ruhiger Schlaf empfängt den Philippus. Gab es je einen Tod, der für die Gelehrtenwelt beklagenswerter war? Der Schlaf schadete aber nicht seinem Ruhm, der reiner als Parischer Marmor glänzt.32

Wer war dieser Filippo Beroaldo der Ältere,33 dessen Ruhm reiner als der Parische Marmor geglänzt haben soll? Beroaldo stammte aus Bologna und „entwickelte schon früh, und zwar gegen die Absichten seiner Verwandtschaft, die ihm eine praktischere und einträglichere Karriere zugedacht hatten, ein ausgeprägtes literarisches Interesse“.34 Nach Studien und Lehren in Parma und Paris erhielt er 1479 an der Universität seiner Heimatstadt eine Professur für Rhetorik und Poetik, die er bis zu seinem Tode im Jahre 1505 innehielt. Offenbar war er ein äußerst beliebter, begeisternder Pädagoge, dessen überfüllte Vorlesungen von täglich über 300 Studenten besucht wurden.35 Beroaldos Popularität beruhte einerseits auf seiner Liebenswürdigkeit und seinem anregenden Vorlesungsstil, andererseits auf seinem phänomenalen Gedächtnis und seinen philologischen Werken, von denen sein Kommentar zu Apuleius’ Goldenem Esel (asinus aureus)36 in ganz Europa bekannt wurde. Dass er auch ein tüchtiger Geschäftsmann war, zeigt ein Vertrag mit seinem Verleger, wonach er sich zwecks Förderung des Absatzes der 1.000 gedruckten Exemplare des Goldenen Esels verpflichtete, in

31 RAIMONDI, Codro e l’humanesimo a Bologna, S. 81: „Forse il piu grande [maestro] dell’ Alma Mater.“ 32 GILLERT Nr. 635 (Kein Adressat bekannt). 33 So wird er meist genannt, um ihn von seinem Neffen Filippo Beroaldo juniore (1472– 1518), der ebenfalls in Bologna Professor für Rhetorik war, abzugrenzen. Vgl. MAZZETTI, Repertorio dei professori dell’universitá e dell’ instituto delle scienze de Bologna, S. 31. 34 KRAUTTER, Philologische Methode und humanistische Existenz, S. 11. 35 Vgl. WADSWORTH, Filippo Beroaldo the Elder and the early Renaissance in Lyons, S. 79. 36 Eigentlich Metamorphoses (2. Jahrhundert nach Christus).

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den Vorlesungen des kommenden Studienjahres ausschließlich dieses Werk zu interpretieren.37 Unter den sich in seinen Vorlesungen drängelnden Studenten befanden sich auch zahlreiche Ausländer, sodass sein Biograph Jean de Pins (ca. 1420–1537) ihn einen gemeinsamen Lehrer aller Länder nennen konnte.38 Besonders von den Scholaren aus Deutschland, einem Land, das er nicht müde wurde als Erfinderin der Druckkunst zu preisen,39 wurde er geschätzt, eine Zuneigung, die er offenbar erwiderte. In einem seiner Briefe heißt es: Auch zahlreiche Schüler von jenseits der Alpen sind hier, vor allem Deutsche, zu welcher Nation ich besonders herzliche Liebe hege. Sie selbst wiederum haben mich immer verehrt und bewundert; unter meiner Anleitung reinigten sie ihre Sprache von abscheulichen Barbarismen und Solözismen; meiner Bildung, so gering sie auch sein mag, bringen sie Lob und anhängliche Bewunderung entgegen.40

Zu seinen deutschen Studenten, denen er diese abscheulichen Barbarismen und Solözismen auszutreiben suchte, gehörten unter zahlreichen anderen Männer, die auf ihrem Gebiet bedeutende Rollen spielen sollten: Jakob von Baden, der spätere Erzbischof von Trier, Conrad Peutinger, Eitelwolf von Stein, Johannnes Rhagius Aesticampianus und Jakob Locher.41 Erasmus von Rotterdam hat ihn zwar nicht mehr lebend angetroffen – er kam erst 1506 nach Italien –, schrieb aber über dessen Reputation: Als ich zum ersten Mal Italien besuchte, war eben Philippus Beroaldus gestorben, der damals in Gedanken der Menschen außerordentlich gefeiert und beliebt war.42 Mutian befand sich also in bester humanistischer Gesellschaft.43 In seiner Korrespondenz befinden sich zahlreiche Hinweise, dass er tatsächlich nicht nur

37 KRAUTTER, Philologische Methode und humanistische Existenz, S. 26; BÜHLER, The University and the Press, S. 39. 38 „Communis omnium gentium praeceptor“. Ebd., S. 15. 39 Vgl. CALCATERRA, Alma Mater Studiorum, S. 155. 40 „Adsunt et frequentes scholastici transmontani maximeque Germani, quam ego nationem prope peculiariter amo et foveo quaeque me vicissim semper coluit atque suspexit, quae me duce linguas a barbaris morum solecismorumque feditate repurgat, meae quantulacunque est eruditionis laudatrix admiratrix assectarix.“ Übersetzung von KRAUTTER, Philologische Methode und humanistische Existenz, S. 19. 41 KRAUTTER, Philologische Methode und humanistische Existenz, S. 20. 42 ALLEN, V, Nr. 1347, S. 237–250, hier S. 244: „Quum primum adirem Italiam, iam perierat Philippus Beroaldus Bononiensis. Cuius memoria tum mire celebris erat et gratiosa.“ 43 Angesichts der zahlreichen Zeugnisse ist es eigentlich überraschend, dass Beroaldos Einfluss auf Mutian noch nicht untersucht worden ist, wie ja überhaupt eine Analyse des Wirkens des großen Bologneser Professors auf seine zahlreichen deutschen Studenten ein Desiderat der Forschung ist. Einige Anregungen dazu finden sich bei Krautter.

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zu Füßen des hoch angesehenen Literaturprofessors44 gesessen hatte, sondern auch, dass Beroaldo im Diskurs des späteren Gothaer ordo literarius sehr präsent war. Als Mutians Schüler Herebord von der Marthen 1508 z.B. als Novizenlehrer in das Kloster Georgenthal ging, gab Mutian ihm eine Anzahl Unterrichtsanregungen mit auf dem Weg. Unter anderem solle er sich Beroaldo nicht nur als Grammatiker, sondern auch als geschickten Didaktiker zum Vorbild nehmen. Seine Vorlesungen habe der Italiener nämlich stets mit einem gewöhnlichen Spruch oder einer Anekdote begonnen. So ein auflockerndes Geschichtchen (narratiuncula) sei wie ein Köder gewesen. Er selbst habe sich diese Einstiegsstrategie zu Eigen gemacht.45 Bei einer anderen Gelegenheit belehrte Mutian seinen jüngeren Freund, sich auf Beroaldo berufend, über lateinische Wortakzente.46 Es ging aber nicht nur darum, sich damit zu rühmen, Beroaldo als Lehrer gehabt zu haben, sondern in zahlreichen Briefen empfahl er den Ankauf und die Lektüre der Werke des italienischen Humanisten. So teilte Mutian seinem Schüler Spalatin 1508 mit, dass Eberbach das Werk Terrae motus des Beroaldo wünsche.47 Bei einer anderen Gelegenheit ließ Mutian einen anderen Freund wissen, dass er das Enchiridion Pythagoricum des Italieners erhalten habe.48 Wiederholt verwies Mutian auch auf Beroaldos Kommentar zu Apuleius’ Metamorphosen hin.49 Freunde wie Valentin von Sunthausen und der Straßburger Jurist Thomas Wolf wurden stolz als Beroaldo-Schüler apostrophiert.50 Mutian kannte also nicht nur Beroaldo persönlich, sondern verdankte ihm auch eine Fülle von Anregungen. Schwieriger ist freilich die Frage zu beantworten, worin dieser Einfluss bestand. Die Weltanschauung eines Menschen, seine Persönlichkeit, seine Vorliebe werden von einem ganzen Bündel unterschiedlichster Einflüsse geprägt: von Eltern, Freunden, Schule, Studium und persönlichen Begegnungen. Wie groß die Rolle Beroaldos in diesem Bündel zu veran44 GILLERT Nr. 158 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509): „Literatis literis primus professor.“ 45 GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Principium publicae lectionis semper et cottidie habeat proverbium aliquod vel brevem narratiunculam velut illicium. … Sic legitur in Italia. Philippus enim crebro cepit a verbo trito, deinde descendit ad lectionem … Habes rationem, quae fuit mihi auctor scribendi et preiudicandi.“ (S. 159). 46 GILLERT Nr. 409 (Mutian an Urbanus, nach dem 4. August 1514): „In dies“, „in horas“, „discrete Beroaldus enuntiavit.“ 47 GILLERT Nr. 67 (Mutian an Herebord von der Marthen, vor dem 2. Mai 1508): „Petrus Eberbachus ad me scripsit et, quod miror, Terrae motum Beroaldi desiderat.“ 48 GILLERT Nr. 158 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509): „Accepi Enchiridion Pythagoricorum enigmatum, que doctus Beroaldus per tropologiam exposuit.“ 49 GILLERT Nr. 177 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509–10): „Vidi commentarium Beroaldi in Apuleium“ und „lege sententiam Beroaldi non procul a fine Apuleii.“ 50 GILLERT Nr. 473 (Mutian an Valentin von Sunthausen, 1. März 1515) und GILLERT Nr. 641 (Spalatin an Mutian, 18. September 1506).

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schlagen ist, ist schwer abzuschätzen. Immerhin verweist eine Reihe bemerkenswerter Parallelen in Lebensart und Auffassung auf eine starke Prägung Mutians durch Beroaldo. Beide wurden dazu gedrängt, eine juristische Laufbahn einzuschlagen, beide gaben diese zugunsten der Beschäftigung mit den studia humanitatis auf. Beide schätzten als höchstes Gut die Freundschaft,51 und selbst wenn man bedenkt, dass die Freundschaft bei den Humanisten überhaupt eine zentrale Rolle spielte,52 so hat doch bei Mutian die Intensität, mit der er immer wieder die Freundschaft innerhalb seines ordo literarius beschwor, einen besonderen Stellenwert. Damit hängt auch beider Vorliebe für geselliges Beisammensein und der überaus freundliche Umgang mit den Mitmenschen zusammen. Beiden Gelehrten ist schließlich ihre stupende Gelehrsamkeit gemeinsam, die sich bei Beroaldo nicht nur in seinen Vorlesungen manifestierte, sondern auch in seinen weit ausufernden Kommentaren zu den klassischen Schriftstellern, bei Mutian hingegen in seinen Briefen an seine engsten Freunde.

b.) Antonius Urceus Codrus Neben Beroaldo lernte Mutian in Bologna auch einen zweiten bedeutenden Humanisten kennen: Antonius Urceus genannt Codrus (1446–1500).53 Neben lateinischer Grammatik, Rhetorik und Dichtung – bekannt wurde er unter anderem durch seinen ausführlichen Kommentar zu Plautus’ Aulularia (Goldtopfkomödie) – lehrte dieser auch griechische Literatur. Geradezu fanatisch besessen war er von den beiden Epen Homers.54 Man erzählt sich, dass er eines Tages jemandem auf die Frage, wohin er gehe, geantwortet habe: Zu einem lieben Freunde. Gefragt, wer der liebe Freund sei, habe er geantwortet: Homer.55 Codrus war nicht nur ein hervorragender Gräzist und Latinist, sondern auch ein begnadeter, wenn auch etwas exzentrischer Pädagoge; denn der kinderlose Junggeselle widmete seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit seinen Schülern, die er gelegentlich auch zu Hause auf sehr unorthodoxe Weise unterrichtete. Der iatlienische Dichter Baptista Mantuanus (1447–1516) berichtete in einem Gedicht darüber:

51 Zu Beroaldos Freundschaftsbegriff: KRAUTTER, Philologische Methode, S. 22. 52 TREML, Humanistische Gemeinschaftsbildungen, bes. S. 81 f. 53 Zu Codrus immer noch grundlegend: MALAGOLA, Della Vita e delle opere di Antonio Urceo detto Codro; ELLINGER, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert, S. 98–102; DEUTSCHER, Antonio Codro URCEO, in: CoE III, S. 356; LOWRY, The World of Aldus Manutius, passim. 54 MALAGOLA, Della Vita e delle opere di Antonio Urceo detto Urceo, S. 371: „Singulari fanatismo de Urceo verso Omero.“ 55 RAIMONDI, Cordo e l’humanesimo a Bologna, S. 187.

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50 Ilias in manibus, spumat manus una lebetem, una veru versat, tres agit ille viros.

Mit der Ilias in den Händen, schäumt die eine Hand den Kochtopf, die andere wendet den Bratspieß, jener treibt drei Männer.56

Ebenso unkonventionell wie seine Unterrichtsmethode war seine Einstellung zur Religion.57 Was das christliche Dogma angeht, so war er meistens etwas nachlässig, urteilte ein späterer Biograph.58 Das war vorsichtig formuliert. Als sein Haus in Forli abbrannte, soll er laut die Jungfrau Maria verflucht haben. Die Theologen und deren sophistische Haarspaltereien verachtete er mit aller Leidenschaft. „Allbekannt war seine Freigeisterei, er leugnete Himmel und Hölle ebenso wie die Unsterblichkeit der Seele und forderte zum Genuss des Lebens auf, da mit dem Tode doch alles vorbei sei.“59 Auf seinem Grabstein ließ er die schlichte Inschrift Codrus eram. – Ich war Codrus einmeißeln.60 In verblüffend ähnlicher Weise charakterisierte sich Mutian einmal gegenüber einem Freund: Wenn man alle Titel wegnimmt, was bleibt von mir? Mutianus.61 Zahlreiche Belege in Mutians späterer Korrespondenz bezeugen das große Interesse an Codrus’ Werken, die 1502 in Bologna und 1506 bei dem berühmten venezianischen Drucker Aldus Manutius in Venedig erschienen waren.62 So schrieb Mutian 1505 an Urbanus, dass er dessen [und Vallas] goldene Codices nicht unerfahrenen [Fuhrleuten] in die Hände geben wolle.63 Im zweiten Zeugnis aus dem gleichen Jahr Jahre teilt der Büchernarr Mutian seinen Freund Urban mit, dass bei zwei Erfurter Buchhändlern Bücher des Codrus eingetroffen seien, Bücher, die sehr schön und extrem rar seien.64 Auch in der dritten den Italiener betreffenden Textstelle, wiederum ein Brief an Urbanus, ging es um Bücher von

56 Zitiert bei MALAGOLA, Della vita, S. 183. ELLINGER, Geschichte der neulateinischen Literatur I, S. 99. 57 MALAGOLA, Della vita, S. 186. 58 Ebd., S. 185: „Circa christianum dogma plerumque claudicabat.“ 59 ELLINGER, Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands, I, S. 99. 60 MALAGOLA, Della vita, S. 194. Auch CALCATERRA, Mater Studiorum. L’università di Bologna nella storia della cultura e della civiltà, S. 159. 61 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509): „Mutianus: grammatista, philosophaster, decretarum indagator: aufer titulos, quid remanet? Mutianus.“ 62 Sie bestanden jeweils aus zwei Teilen, wobei der erste Teil die Prosa, der zweite die Dichtungen enthielt. Wie beliebt die Werke des Codrus waren, zeigen weitere Ausgaben im 16. Jahrhundert: 1515 erschien eine Ausgabe in Paris und 1540 eine in Basel. 63 GILLERT Nr. 19 (Mutian an Urban, Anfang September 1505): „Non ausim aurigis vestris concredere Vallam et Codrum … Aurei codices non sunt imperitis committendi.“ 64 GILLERT Nr. 24 (Mutian an Urban, November 1505): „In bibliopolis vel Hombergii vel Leonardi venit Codrus et Aldi grammaticum rudimentum.“

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Codrus, die es zu erwerben gelte.65 Die enorme Hochschätzung des Mutian für den italienischen Humanisten geht schließlich aus einem Gedicht an Spalatin hervor. Darin dankte er diesem für die geliehenen Bücher und zählte namentlich Lorenzo Valla (1407–1457), Poliziano (1454–1494), den comes Philippus [Beroaldus], den venezianischen Historiker Sabellicus und zweimal den centurio Codrus auf.66 Nicht nur befindet sich hier Codrus in sehr erlesener Gesellschaft, sondern er ist auch der einzige in dieser Aufzählung, den Mutian mit einer doppelten Erwähnung würdigte. Noch ein halbes Jahrzehnt später riet er einem Freund, er solle sich nicht von Feinden bedrängen lassen, denn schon Dein Codrus habe den Schreiberlingen gewünscht, sie sollten alle verfaulen.67 Mutians Verehrung für Codrus beruhte wie die für Beroaldo auf einer Wesensverwandtschaft: Beide waren leidenschaftliche Pädagogen, beide teilten eine Begeisterung für die antike Literatur und beide hatte ein markantes Desinteresse an metaphysischen Fragen, mit dem Unterschied, dass Codrus seine Meinungen im Zeitalter der italienischen Renaissance frei äußern konnte, während Mutian sie nur seinen engsten Freunden anzuvertrauen wagte. Beide waren schließlich von enormer Gelehrsamkeit und von Büchern besessen, wobei sie auch weder einen guten Trunk verschmähten noch zu einer asketischen Lebensweise neigten, wenn auch nicht bekannt ist, dass Mutian, das homerische Epos (oder sonst ein antikes Werk) in den Händen, seine Schüler oder Freunde selbst bekochte. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Erasmus von Rotterdam in seinem Ciceronianus Codrus einen Epikureer nannte.68 Als Kompliment war das nicht gemeint.

65 GILLERT Nr. 43 (Mutian an Urban, 8. April 1506): „Fac Erphordiae bibliopolia visites emasque Athanasium … et opus Reuchlin hebraicum et opera Codri et alia novitia.“ 66 GILLERT Nr. 101 (Mutian an Spalatin, zwischen 1505 und 1508). 67 GILLERT Nr. 232 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende 1512): „Eos, inquam, scribentes, quos ait. … Codrus tuus putrescere.“ 68 Desiderii Erasmi Roterodami opera omnia, 1–2, Amsterdam 1971, S. 665: „Codro nec Latinae Linguae facultas deerat, nec urbanitas, verum homo non dissentiens ab Epicuro.“ Mit dieser Bezeichnung, versuchte später auch Luther Mutian zu diffamieren. (WA TR, 3, Nr. 3795): „Nos autem in Germania habemus perfectum sodalitium Epicurorum: Crotum, Mutianum, Iustum Menium, summa, Itali sunt prophani et Epicurei.“ Es entbehrt vielleicht nicht einer gewissen Ironie, dass Luther denselben Erasmus auch einen Epikureer nannte (WA TR, 5, Nr. 5535: „Erasmus vere fuit Italicus Epicureus“), und zwar indem er den Begriff Epikureismus „sowohl in seiner philosophischen Bedeutung als auch im metaphorischen Sinn“ benutzt (BATTAFARANO, Luthers Romreise in den erinnernden Tischreden, S. 232).

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3.3 Rom Konkrete Beweise für ein Studium in Rom, wie es der Vermerk in den Akten der Universität Ferrara nahelegte,69 gibt es zwar nicht, dennoch darf ein Aufenthalt in der ewigen Stadt aufgrund anderer Zeugnisse als gesichert gelten. Ein eindeutiger Beleg dafür ist der Brief, den Mutian am 1. Juni 1502 aus Bologna an den päpstlichen Zeremonienmeister Johannes Burckard schrieb.70 Es ist nicht nur der einzige aus Italien geschriebene Brief Mutians, sondern auch der frühest erhaltene überhaupt. Der Elsässer Burckard (ca. 1450–1506), seit 1475 an der päpstlichen Kurie tätig, hatte von 1484 bis 1503 den wichtigen Posten des päpstlichen Zeremonienmeisters inne. Als solcher war er verantwortlich für den reibungslosen Ablauf der Liturgie und der Zeremonien im Vatikan. Dass es ihm gelang, diese Schlüsselposition in dem intrigenreichen Rom während der Pontifikate dreier Päpste (Innozenz VIII., Alexander VI. und Pius III.) zu behaupten (und zu überleben), spricht für sein enormes diplomatisches Geschick. Während seiner Amtszeit führte er ein geheimes Tagebuch, in dem er nicht nur Einzelheiten des komplizierten Hofzeremoniells beschrieb, sondern auch „mit einem ausgeprägten Faible für Skandalgeschichten des Typs ‚Sex and Crime‘71 pikante Details über das Privatleben seiner päpstlichen Arbeitgeber aufzeichnete. Da dieses Diarium, das für den heutigen Historiker eine einzigartige Quelle für das Leben dieser drei Renaissancepäpste darstellt, erst Jahrhunderte später veröffentlicht wurde, kann es natürlich weder Mutian noch andere Zeitgenossen gekannt haben.72 An diesen an der römischen Kurie wirkenden Protokollchef der Kurie richtete nun Mutian aus Bologna im Jahre 1502 seinen Brief. Darin klagte er, dass sich, während äußere und innere Kriege Deutschland zerfleischten, auch die Welt- und Ordengeistlichen befehdeten. Zu diesem Thema sandte er ihm eine Abhandlung eines gewissen Wigandus Trebellius, hinter dem sich kein anderer als der elsässische Humanist Jakob Wimpfeling verbarg.73 In dem jetzigen Kontext interessiert nicht so sehr der Inhalt des Briefes, sondern die Tatsache, dass Mutian offenbar mit Burckard auf vertrautem Fuße stand und ihn am Ende des Briefes bat, nicht nur die zahlreichen gelehrten Kleriker, von denen es in Rom 69 70 71 72

Vgl. PARDI, Titoli dottorali conferti dallo studio di Ferrara, S. 108–109. GILLERT Nr. 1 (Mutian an Johann Burckard, 1. Juni 1502). REINHARDT, Der unheimliche Papst, S. 76. Zu Burckard: OLIGER, Der päpstliche Zeremonienmeister Johannes Burckard, S. 199– 232. Das Tagebuch ist herausgegeben von THUASNE, Diarium sive rerum Urbanarum commentarii, 3 Bände; CELANI, Johannis Burckardi Liber, 2 Bände. Vgl. auch NOACK, Das Deutschtum in Rom, 2 Bände, passim. 73 MERTENS, Wimpfeling, Jakob, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 1312.

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so viele gebe, sondern auch die Kardinäle von Siena und Alexandrien zu grüßen.74 Gemeint damit sind Francesco Todeschini Piccolomini, der spätere Papst Pius III. und der Jurist Giovanni Antonio San Giorgio, der auch Bischof der italienischen Stadt Allesandria della Paglia in Piemont war und deshalb auch Alexandrinus genannt wurde.75 Mutian pflegte also während seines Romaufenthaltes nicht nur freundschaftlichen Umgang mit einem in einer Schlüsselposition an der Kurie wirkenden Kurialbeamten, sondern auch mit mindestens zwei Kardinälen. Mutians Haltung gegenüber Rom blieb immer ambivalent: Rom als Sitz einflussreicher gelehrter Männer und auch als von den Päpsten gefördertes Wissenschaftszentrum – das war die eine Seite; Rom als Hort der Geldgier, der Korruption und protzigen Prachtentfaltung die andere: Wir haben die römischen Paläste und die Tricks der Rabulisten gesehen, klagte er 1512 gegenüber einem Freund76 (vgl. Kap. X). Im Gegensatz zu Martin Luther aber, der seine negativen Erfahrungen während seiner Rom-Reise (November 1510 bis Januar 1511) zu einem Schlüsselerlebnis stilisierte, das den Bruch mit Rom entscheidend gefördert habe und Rom als Sitz des „Antichrist“ verleumdete,77 scheinen die Erfahrungen in Mutians Korrespondenz und Denken trotzdem relativ wenig Niederschlag gefunden zu haben. Seine Äußerungen bewegen sich im Rahmen der damals weit verbreiteten deutschen Gravamina gegen Rom.

3.4 Venedig, Mailand, Mantua und Florenz? Während seines 7-jährigen Italienaufenthaltes hat Mutian möglicherweise andere italienische Städte besucht. Genannt werden häufig Venedig, Mailand, Mantua und Florenz. Konkrete Beweise für derartige Besuche gibt es aber nicht. So heißt es etwa in einem Brief aus dem Jahre 1509 oder 1510, in dem Mutian mit dem Adressaten über die Etymologie des lateinischen Wortes „cingulum“ diskutierte: Ich habe venezianische Patrizier gesehen, die eine Schärpe aus Seide trugen, die auf der

74 GILLERT Nr. 1 (Mutian an Johann Burckard, 1. Juni 1502): „Praecipue vere reverendissimis dominis meis Senensi et Alexandrino cardinalibus impartiri possis.“ Beide werden übrigens häufig im Diarium erwähnt. Siehe CELANI, Johannis Burckardi Liber notarum, Index im zweiten Band. 75 GILLERT Nr. 1 (Mutian an Johann Burckard) und GILLERT, II, S. 360. 76 GILLERT Nr. 220 (Mutian an Musardus, 18. Oktober 1512): „Vidimus Romana palatia, artes spectavimus.“ 77 Dazu auch BATTAFARANO, Luthers Romreise, S. 215 und passim.

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einen Seite vom Hals herabhing, auf der anderen den Arm umschloss.78 Das vidi lässt zwar auf eine Augenzeugenschaft schließen, besagt aber nicht zwingend, dass Mutian diese Venezianer auch tatsächlich in der Lagunenstadt gesehen hat. Ob er auch während seines möglichen, aber nicht eindeutig belegbaren Venedigbesuches den berühmten Drucker Aldus Manutius, mit dem er später korrespondierte und dessen Bücher er schätzte, besuchte, ist ebenso wenig klar.79 Dass Mutian sich später in den Chor deutscher Humanisten einreihte, die während der Kämpfe in Oberitalien zwischen dem deutschen Kaiser Maximilian, den Venezianern, dem französischen König und dem Papst prokaiserliche und antivenezianische Gedichte verfassten, steht auf einem anderen Blatt.80 Auf solch ein antivenezianisches Gedicht beruft man sich als einen Beweis für einen Aufenthalt Mutians in Mailand. Die Behauptung beruht einzig auf der Gedichtüberschrift: In oratorem Venetum nuper in Mediolani visum – Gegen einen venezianischen Gesandten, der neulich in Mailand gesehen wurde. Darin verspottete er die wetterwendische, sich jeweils mit dem Stärkeren verbündende Politik der vene78 GILLERT Nr. 177 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509–1510): „Vidi patricios Venetos gerentes cingulum ex serico a collo in latus dependens alterumque brachium ambiens.“ 79 GILLERT, Briefwechsel, S. XXII: „Die Korrespondenz scheint das anzudeuten.“ 80 GILLERT Nr. 160 (1509). Weitere Erwähnungen der oberitalienischen Auseinandersetzungen in GILLERT Nr. 69, 70, 126, 143, 158. Wegen der politischen Zersplitterung existierte ein Machtvakuum in Italien, das die großen europäischen Mächte der damaligen Zeit zu füllen suchten. Obwohl der Kampf um die Vorherrschaft schon seit Jahrhunderten tobte, spitzte er sich in den Jahren 1508 bis 1516 zu. Eine halbe Generation lang wurde Oberitalien das Schlachtfeld, auf dem die großen Fragen der europäischen Politik entschieden wurden, ein Krieg, der durch ständig wechselnde Allianzen, Vertragsbrüche und Intrigen charakterisiert wurde. Die Hauptbeteiligten waren die venezianische Republik, der französische König Ludwig XII., der deutsche Kaiser Maximilian I. und Papst Julius II., wobei die Schweizer Eidgenossen und König Ferdinand von Spanien wichtige Nebenrollen spielten. Es ist hier nicht der Ort, die komplizierten Kämpfe und Schlachten nachzuzeichnen. Für unseren Zusammenhang genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Venezianer im Jahre 1508 Maximilian, der sich in Rom krönen lassen wollte, den Durchgang durch ihr Gebiet verweigerten, worauf dieser sie angriff. In ihrer Gegenoffensive eroberten sich die Venezianer Gebiete, die vorher zum Reich gehört hatten. Ende des Jahres schlossen sich Maximilian, Frankreich und Julius II. zur Liga von Cambrai zusammen, mit dem Ziel, Venedig zu zerstören. Im Mai 1509 besiegten die Franzosen die Venezianer in der Schlacht von Agnadello und Venedig musste die meisten Gebiete auf dem Festland abgeben. Die antivenezianische Propaganda wurde voll von den Humanisten, die Maximilian verehrten, geteilt. Diese Haltung bildet also den Hintergrund dieser Gedichte. Ein zweites Gedicht Mutians, wahrscheinlich zur gleichen Zeit geschrieben, beweist dies eindeutig. Es ist nicht frei von einer gewissen Schadenfreude, dass endlich die Venezianer von den Franzosen geschlagen wurden. „Ubi fama potens, ubi nunc tua gloria?“ „Wo ist dein mächtiger Ruhm, wo ist nun dein Ruhm?“ (GILLERT Nr. 160)

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zianischen Republik, indem er einen Venezianer schilderte, der eine deutsche Kopfbinde, einen französischen Helmbusch, einen spanischen Brustharnisch und ein römisches Kleid trug. Gefragt, was denn dieser Aufzug solle, habe er geantwortet, er hätte alles geraubt. Der Dichter, ein zweiter Aesop, habe prophezeit: Die Deutschen werden die Kopfbinde, die Franzosen den Helmbusch, die Spanier den Brustharnisch und das kriegerische Rom die Toga zurückrauben.81 Die Tatsache, dass der venezianische Redner in Mailand aufgetaucht sei, beweist nicht, dass Mutian ihn dort selbst gesehen hat, zumal er zum Zeitpunkt des Verfassens des Gedichtes (1509) schon sieben Jahre in Deutschland verbracht hatte. Fraglich scheint auch, ob Mutian Baptista Mantuanus in seiner Heimatstadt Mantua während seines Italienaufenthaltes besuchte. Als Beweis für einen derartigen Besuch wird eine Bemerkung Mutians in einem Brief an Urban angeführt, wohlgemerkt nach seiner Rückkehr: Ich werde Baptista Mantuanus ermahnen, über das Leben dieses großen Heiligen [gemeint ist der Heilige Benedikt von Nursia] in Versen zu schreiben.82 Das bedeutet lediglich, dass er den bekannten und von vielen Humanisten geschätzten Dichter kannte und mit ihm korrespondierte,83 aber nicht, dass er ihn persönlich kennen gelernt hat oder gar ihn in dessen Heimatstadt Mantua besucht habe.84 Schließlich gibt es auch keine schlagkräftigen Beweise für die Behauptung, Mutian habe in Florenz mit dem Neuplatoniker Marsilio Ficino und Pico della Mirandola Umgang gepflegt, nur weil er durch deren 81 GILLERT Nr. 159 (Mutian an einen Unbekannten, 1509): „(In oratorem Venetum nuper in Mediolani visum) Forma viri ignoti visa est mihi forte roganti Quis foret, ‚orator‘, plebs ait, ‚est Venetus‘. Vitta coercebat Germano more capillos, Velabat Venetum Gallica crista caput, Et thorax Hispanus erat Romanaque vestis. Quaerenti, varius quid sibi vult habitus, Rettulit hoc omnis: rapuit praedator ut omne, Quod tenet imperium, quid nisi praeda fuit. Verus ego vates, faveant modo numina vati, Aesopi merito graculus alter erit. Vittam Germani rapient, at Gallia cristam, Thorica Hispanus, Martia Roman togam.“ 82 GILLERT Nr. 40 (Mutian an Spalatin, 1506): „Hortabor Baptistam Mantuanum, ut vitam tanti patris versibus ornet.“ 83 Selbst das ist eine Vermutung, da sich kein Brief an Baptista erhalten hat. 84 GILLERT sagt denn auch etwas vorsichtig: „In Mantua scheint er den Dichter Baptista Mantuanus persönlich kennen gelernt zu haben. Die Worte hortabor Baptistam Mantuanum lassen eine solche Annahme zu, erheischen sie aber nicht.“ GILLERT, Briefwechsel, S. XXIII.

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Gedankenwelt maßgeblich beeinflusst wurde. Gesichert als Aufenthaltsorte bleiben also übrig Ferrara, Rom und Bologna. Alles andere ist Spekulation.

4.

Mutian – ein in Italien gefeierter Name?

MUTIAN – EIN IN ITALIEN GEFEIERTER NAME?

Schließlich muss noch gefragt werden, wie es um Mutians Bekanntheitsgrad im Italien der Renaissance stand. Die beiden miteinander konkurrierenden Herausgeber der mutianischen Korrespondenz ließen sich in dieser Frage in seltener Einmütigkeit zu kühnen Behauptungen hinreißen. Während Gillert bemerkte: „Sein [Mutians] Name war auf den italienischen Hochschulen allgemein bekannt“,85 formulierte Krause etwas vorsichtiger: „Noch nach langen Jahren hatte Mutian die Genugtuung zu erfahren, dass sein Name in Italien auch in weiten Gelehrtenkreisen nicht unbekannt und unbeachtet geblieben sei.“86 Die beiden Historiker der Stadt Erfurt Beyer und Biereye übernehmen nicht nur diese Meinung, sondern sprechen von seinem „gefeierten Namen“, den Mutian sich in Italien erworben habe.87 Grundlage für derartige Behauptungen ist ein Brief, den ein Italiener mit dem Namen Chrysostomos im Mai 1513, also mehr als ein Jahrzehnt nach Mutians Rückkehr aus Italien, an ihn schrieb.88 Dieser Italiener, der Gesandter für Isabella von Aragonien am Hofe Kaiser Maximilians war, berichtet in dem Brief, wie er auf einer Schiffsreise von Mainz nach Köln im Jahre 1512 einen jungen Deutschen getroffen und sich mit ihm auf Lateinisch unterhalten habe. Gefragt, wo er denn das von Germanismen so erfreulich freie Latein gelernt habe, habe dieser geantwortet: bei Mutian, dessen Schüler und Famulus er über zehn Jahre gewesen sei. Daraufhin habe er, Chrysostomos, gesagt: Ich habe sofort erkannt, dass dieser Name [des Mutian] auf italienischen Akademien bekannt war und dass das Bächlein jener Beredsamkeit jenen als Quelle habe.89 Beein-

85 86 87 88 89

GILLERT, Briefwechsel, S. XXIII. KRAUSE, Briefwechsel, S. 5. BEYER-BIEREYE, Geschichte der Stadt Erfurt, S. 258. GILLERT Nr. 255 (Chrysostomus an Mutian, 19. Mai 1513). GILLERT Nr. 255 (Chrysostomus an Mutian): „Huius iussu [gemeint ist Isabella von Aragonien] dum me ad Caesarem confero, superiori Augusto mense ac e Moguntia in Coloniam secundo Rheno devehor, forte sic accidit, ut eadem navi adolescens quidam Germanus Benedictus nomine sublatus esset. Is, dum ad navis foros otiosi asidemus, latino mecum sermone congreditur. Germanici enim ego penitus inscius tanquam mutus ad angulum quendam concesseram. Visa est mihi adolescentis elocutio pro aetate ac pro communi Germanorum usu tersiuscula, parum habere germanitatis, multa etiam referre a medio Latio. Rogo illum, ubi literas didicisset. Respondit in Germania. Tum a quo. Retulit a doctor quodam viro, cui Mutiano Rufo nomen esset, quo et hero et praeceptore supra

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druckt von dessen Sprachkompetenz habe er Benedictus – so hieß der ehemalige Diener Mutians – selbst als Famulus engagiert und bitte nun um Mutians Freundschaft. Bei aller Schmeichelei scheint zwar sich in diesem Lob ein für einen nach Deutschland kommenden Italiener nicht untypischer Dünkel erkennbar zu sein: Chrysostomos bescheinigte Benedictus eine für einen Deutschen fast fehlerfreie Redeweise, charakterisierte die Eloquenz des Famulus als ein Bächlein (rivulus) und hielt es für selbstverständlich, dass Mutian nur in Italien seine Bildung und Menschenfreundlichkeit erworben haben könne.90 Woanders war das offenbar nicht möglich. Dieser Chrysostomos bat nun Mutianus um seine Freundschaft. Nun war es keineswegs ungewöhnlich, dass ein Humanist einen anderen um seine Freundschaft bat. Das war die Grundlage des humanistischen Netzwerkes. Ungewöhnlich ist auch nicht, dass er diesen Freundschaftsantrag mit Schmeicheleien anreicherte, Schmeicheleien, die man in Deutschland vielleicht für Unaufrichtigkeit, in Italien aber für Höflichkeit hielt. Aber in diesem Fall scheint der italienische Diplomat die Grenze zwischen Höflichkeit und Heuchelei doch überschritten zu haben. Dass der deutsche Jurastudent Konrad Muth, dessen Namen bei der Promotion der Rektor der Universität Ferrara im Jahre 1501 noch falsch als Martin(!) Muth angab,91 am Ende des Quattrocento an italienischen Universitäten allgemein bekannt gewesen sei, entbehrt jeder Glaubwürdigkeit. Die Spuren, die Mutian in Italien hinterlassen hat, sind also äußerst spärlich. Eine kritische Betrachtung der Quellen sollte uns davor bewahren, Begegnungen zu konstruieren, für die es keine Beweise gibt, und einen Bekanntheitsgrad anzunehmen, für den ebenfalls keine Zeugnisse sprechen – außer der Aussage eines übertrieben höflichen Italieners. Beachtliche Spuren hat andererseits Italien im Denken des Mutian hinterlassen. Die sieben Jahre seiner italienischen peregrinatio literaria waren zweifelsohne für seine geistige Entwicklung prägend. Hier legte er den Grundstock seiner enormen Belesenheit in der lateinischen und griechischen Literatur, hier machte er sich mit den Werken zahlreicher zeitgenössischer italienischer Literaten vertraut,92 hier wurde seine Weltanschauung geformt, die einmal von der Begeisterung für die Antike, zum anderen auch von den neoplatonischen decennium usus fuerit. Cognovi extemplo istud nomen ex Italicis accademiis notam habere atque huius elocutionis rivulum fontem illum sapere.“ 90 GILLERT Nr. 255 (Chrysostomus an Mutian): „qui praeter cultussimas literas humanissimos etiam mores ex Italia hauserit.“ 91 PARDI, Titoli dottorali, S. 108–109. 92 Er erwähnt außer Beroaldo, Codrus, Ficino, Pico della Mirandola und Aldus Manutius noch Bessarion, Poggio, Poliziano, Lorenzo Valla, Flavius Blondus, Pomponius Laetus, Petrus Bembus, um nur die bekanntesten zu nennen.

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Gedanken eines Ficino und Pico della Mirandola getragen wurde. Als er später nach seiner Rückkehr nach Deutschland von einem Mitkanoniker einmal herablassend als Italiener bezeichnet wurde, wird er insgeheim stolz auf diese Bezeichnung gewesen sein.93

93 GILLERT Nr. 213 (Mutian an Urban, um den 24. September 1512): Dort schreibt er über seine Gegner unter den Gothaer Kanonikern „pestiferi homines venenum suum eo modo [indem sie in einen Poeten nennen und ihn beschuldigen, keine Messe zu lesen] evomunt et nos walen esse garriunt.“ (Hervorhebung vom Autor). Ebenso GILLERT Nr. 237.

IV. RÜCKKEHR NACH DEUTSCHLAND – SEINE ÄUSSEREN LEBENSUMSTÄNDE

Im Herbst 1502 oder Frühjahr 1503 kehrte Mutian nach Deutschland zurück.1 Auf Wunsch seines Bruders Johannes, des Kanzlers des Landgrafen von Hessen Wilhelms II., trat er als Rat in den hessischen Dienst ein. Es war offenbar zunächst als ein vorläufiges Beschäftigungsverhältnis gedacht, „bis sich die Gelegenheit zur Beförderung in ein höheres Amt bieten würde“.2 Darauf wartete Mutian aber nicht. Schon nach kurzer Zeit quittierte er den Dienst und mit den Worten Valete sollicitudines! – Lebt wohl, ihr Sorgen verließ er Kassel.3 Dort muss er aber einen positiven Eindruck auf Anna von Hessen hinterlassen haben, denn noch mehr als zehn Jahre danach sollte sich die Witwe des verstorbenen Landgrafen und Mutter des künftigen Landgrafen Philipps des Großmütigen an Mutian erinnern. Im Jahre 1514 nämlich bat sie den inzwischen bekannt gewordenen Humanisten als „einen gebürtigen Hessen“ um eine Grabinschrift für ihren Mann: ir wullet vns … ein wolgeziertes latinisch Epitauium, als ir wol thunt kunt, dichten entweder in Metren oder verssen, oder aber sunsten in Prose, die umb den begrebnusstein vmher gemacht muge werden.4 Im Alter von 32 Jahren siedelte Mutian nach Gotha über. Die thüringische Kleinstadt war also keineswegs als Altersitz gedacht, obwohl sie das auch später werden sollte; denn bis zu seinem Tode im Jahre 1526 blieb Mutian hier wohnen.

1

2 3 4

Da Mutians letzter Brief aus Italien das Datum 1. Juni 1502 trägt (GILLERT Nr. 1) und der erste aus Deutschland geschriebene Brief vom 1. Oktober 1503 stammt, kann man seine Rückkehr auf den Zeitraum vom Juni 1502 bis Oktober 1503 eingrenzen. Da dieser zweite Brief aber bereits von Gotha aus geschrieben wurde, muss man also noch einige Monate für seinen Aufenthalt in Kassel einfügen. Das verträgt sich durchaus mit Mutians Aussage vom März 1525, als er an Friedrich den Weisen schrieb, er habe 22 Jahre in Gotha gelebt (GILLERT Nr. 625): „In tua … Gotha, in qua innocenter XXII annos vixi.“ GILLERT, Briefwechsel, S. XXIV. Das berichtet Ulrich von Hutten in einem Brief an Jakob Fuchs: BÖCKING, I, S. 45. GILLERT Nr. 401 (Anna von Hessen an Mutian). Seinerseits scheint Mutian nicht viel von der Regentin gehalten zu haben. Wenig später schreibt er an Urban: „Hassia tumultuatur et male regitur a femina.“ (GILLERT Nr. 430, Mutian an Urban, vor dem 14. September 1514).

IV. RÜCKKEHR NACH DEUTSCHLAND

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1.

Gotha zu Mutians Zeit

Gotha war im 16. Jahrhundert eine Stadt mit 3.000–4.000 Einwohnern, etwa so groß wie das damalige Dresden oder Leipzig.5 Wie die meisten deutschen Städte hatte es ein aktives Kirchenleben. Neben einem Nonnenkloster mit 30 Nonnen, dem Kreuzkloster, gab es ein Kloster mit 20 Mönchen, das Augustiner-Eremiten-Kloster und schließlich das Chorherrenstift mit 14 bis 17 Chorherren.6 In diesem erlangte Mutian, wahrscheinlich mit Hilfe seines älteren Bruders Johannes, des damaligen Mainzer Küchenmeisters, ein mit jährlich 60 Gulden dotiertes Kanonikat.7 Die Augustinerchorherren zu Sankt Marien am Nordhang des Burgberges, die seit ihrer Übersiedlung aus Ohrdruf im Jahre 1344 in Gotha lebten, gehörten im Gegensatz zu den Mönchen und Nonnen nicht zur Klostergeistlichkeit, „sondern waren sogenannte Weltgeistliche, führten also anders als die Mönche kein gemeinsames Leben im Stift, sondern wohnten in eigenen Häusern und genossen dort ihre Pfründe, in die das Stiftsvermögen, bis auf einen gemeinsamen Rest, aufgeteilt war“.8 Die Entscheidung, sich den Chorherren anzuschließen, bot erhebliche Vorteile: Die Verpflichtung zu klerikalen Aufgaben wie den täglichen Chorgebeten war gering; eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus wie im Falle Mutians garantierten eine weitgehende Privatsphäre.9 Um in dieses Stift aufgenommen zu werden, musste er vorher in den geistlichen Stand getreten sein,10 was ihn nach kanonischem Recht auch zur Ehelosigkeit verpflichtete.

2.

„Fröhliche Armut“? – Mutians Vermögensverhältnisse

MUTIANS VERMÖGENSVERHÄLTNISSE

Mutian war kein armer Mann. Das geht aus einer Zusammenstellung seiner verschiedenen Immobilien und Einkünfte klar hervor. Zu seinem eigenen Haus in Gotha gehörte auch ein Garten, der zum Ärger seines Besitzers aber nur wenig Obst trug.11 Wegen dessen Unergiebigkeit erwarb Mutian deshalb innerhalb der Stadtgrenzen einen zweiten Garten. Damit verstieß er aber gegen eine 176 Jahre 5

HEß/SCHMIDT-EWALD, Gotha im Mittelalter, S. 129. Dagegen BECK, Geschichte der Stadt Gotha, S. 108. Er spricht von 700 Bürgern. 6 HEß/SCHMIDT-EWALD, Gotha im Mittelalter, S. 153. 7 KRAUSE, Briefwechsel, S. VI. 8 HEß/SCHMIDT-EWALD, Gotha im Mittelalter, S. 155. 9 Sein Haus hatte er aus eigenen Mitteln erstanden: GILLERT Nr. 625 (Mutian an Friedrich den Weisen, 27. April 1525): „… in hac tranquillitate quam emi.“ 10 GILLERT, Briefwechsel, S. XXV. Ebenso KRAUSE, Briefwechsel, S. VI. 11 GILLERT, S. XXV; auch GILLERT Nr. 90 (Mutian an Urban, zwischen 1505 und 1508): „Hortus meus fructiferarum minus ferax.“

MUTIANS VERMÖGENSVERHÄLTNISSE

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alte Verordnung, nach der Klerikern des Stifts der Erwerb von Gütern innerhalb einer halben Meile von Gotha untersagt worden war.12 Im Jahre 1523, nachdem die Beschwerden seitens der Bürger den Rat zum Handeln gezwungen hatten, erhielt Conradus Mueth, Doctor vnd Thumbherr, neben seinem Mitkanoniker Gerhard Marschalk, in ansehung, das sie ir wesen bey Inen woll herbracht vnd vnnseren diener sein, [die Erlaubnis], das sie die zcwen gerten, der ein jeder aynen hat vnd doch im burgk oder statrecht gelegen seind, zu iren lebtagen innen behalten mugen.13 Mit dieser Sondergenehmigung durften die beiden Chorherren zwar die Gärten bis zu ihrem Tode behalten, mussten sich aber testamentarisch verpflichten, bei ihrem Tode diese zum Kauf zur Verfügung zu stellen. Außer diesem Haus und den zwei Gärten in Gotha besaß Mutian noch ein weiteres Haus in Erfurt und einen Weinberg in oder bei dieser Stadt. Beide hatte er von seinem älteren, 1504 verstorbenen Bruder Johann geerbt. Den Weinberg, in dem er gelegentlich selbst arbeitete14 und dessen Wein er verkaufte,15 veräußerte er 1515 für 45 Gulden an die Erfurter Kartäuser.16 Mit der Immobilie in der Löwengasse, die er einmal scherzhaft colonia Mutiani nannte,17 hatte er nur Ärger. Das geht aus den fast 30 Briefen hervor, die er zwischen 1512 und 1515 an seinen Freund Urbanus schrieb.18 Das Haus musste zu dem damaligen Zeitpunkt ziemlich baufällig gewesen sein, sodass sich zunächst keine Käufer fanden. Die nötigen Reparaturarbeiten wollte Mutian zunächst nicht aufbringen, erklärte sich schließlich zähneknirschend bereit, einen Teil der Instandssetzungsarbeiten entsprechend seinen finanziellen Möglichkeiten zu tragen.19 Als sich schließlich doch ein Interessent fand, debattierte er lange mit Urban, ob 12 FASBENDER, Conradus Mutianus Rufus, S. 22; MÖLLER, Klöster zu Gotha, S. 27 und 62; BECK, Geschichte der Stadt Gotha, S. 294. 13 Zitiert nach FASBENDER, Conradus Mutianus Rufus, S. 22 und MÖLLER, Klöster zu Gotha, S. 62. 14 GILLERT Nr. 216 (Mutian an Pyrrhus, 7. Oktober 1512); „Rorans vindemia cogit, ut differam.“ 15 Vgl. GILLERT Nr. 57 (Mutian an Urban und Spalatin, 1505–1507): „Breve vendito vino tibi satisfaciam et nomen expungam.“ 16 GILLERT Nr. 510 (Mutian an Urban, 24. Juni 1515): „Soltarii [die Erfurter Karthäuser] XLV aureos dabunt.“; GILLERT Nr. 527, Nr. 544, Nr. 545 (alle drei Briefe von Mutian an Urban). 17 GILLERT Nr. 242 (Mutian an Petreius, 1. März 1513). 18 Alle Briefe außer GILLERT Nr. 242 (Mutian an Petreius) und GILLERT Nr. 505 (Mutian an Simon Voltzke) sind von Mutian an Urban gerichtet.: GILLERT Nr. 214, Nr. 243, Nr. 244, Nr. 253, Nr. 254, Nr. 270, Nr. 287, Nr. 288, Nr. 289, Nr. 292, Nr. 306, Nr. 309, Nr. 314, Nr. 407, Nr. 439, Nr. 453, Nr. 454, Nr. 455, Nr. 456, Nr. 466, Nr. 467, Nr. 480, Nr. 481, Nr. 505, Nr. 506, Nr. 508 (Urkunde). 19 GILLERT Nr. 287 (Mutian an Urban, Mitte 1513): „Utcunque sit, subministrabo, non quantum structura forsan exigit, sed pro facultatibus, subsidium.“

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IV. RÜCKKEHR NACH DEUTSCHLAND

er dieses Haus, das jährlich immerhin 30 Gulden an Mieteinnahmen einbrachte, überhaupt verkaufen sollte.20 Besonders verärgert zeigte er sich über seinen Erfurter Hausverwalter, den Prokurator Martin Schil, einen undankbaren, arroganten, ja kriminellen Bauern,21 der in seinem Namen Prozesse führe, von denen nur die Rechtsanwälte profitierten. Nach langem Hin und Her entschloss sich Mutian 1515 schließlich zum Hausverkauf.22 Über den Kaufpreis befinden sich in der Urkunde keine Angaben. Neben den zwei Erfurter Immobilien vererbte ihm der Bruder auch die Pfründe „Vicaria Sancti Liborii“ an der Matthiaskirche in Erfurt, die jährlich bescheidene 14 Gulden einbrachte.23 Dazu kam noch die sogenannte Pfründe „Vicaria Sanctae Annae in Capella Wira“, aus der ihm jährlich etwa 10 Gulden zuflossen.24 Beide ließ er von Vikaren verwalten, die sich allerdings als ebenso unzuverlässig erwiesen wie der raffinierte und verschlagene Erfurter Prokurator. Wütend bezeichnete Mutian sie als dumme und gemeine Verkäufer des erdichteten Seelenheils.25 Zu diesen festen Geldeinnahmen kamen noch Naturalienabgaben wie Getreide, Holz und Wein in unbestimmter Höhe. Rechnet man die festen Einnahmen zusammen, so kommt man auf ein jährliches Einkommen von etwa 100 Gulden.26 Bedenkt man, dass ein Student von etwa 20 Gulden zu leben hatte, ein Professor in der Artistenfakultät ein jährliches Salär von 50 Gulden erhielt27 und ein Professor in der angeseheneren Juristischen Fakultät mit 100 Gulden entlohnt wurde, so muss man zu dem Schluss kommen, dass seine finanzielle Lage nicht ungünstig war.28 In diesen Berechnungen, die aufgrund der unvollständigen Quellenlage unter erheblichem Vorbehalt gemacht werden müssen, sind noch nicht etwaige Einkünfte aus seiner 20 GILLERT Nr. 424, Nr. 453, Nr. 457 (alle drei Briefe von Mutian an Urban). 21 GILLERT Nr. 453 (Mutian an Urban, Ende Oktober 1514): „… ingratus, arrogans et sceleratus rusticus.“ Eigentlich war Schil Jurist. Zu Schil noch GILLERT Nr. 454, Nr. 455 und Nr. 457 (alle drei Briefe von Mutian an Urban). 22 GILLERT Nr. 457 (Mutian an Urban, November 1514): „Vendam domum et vineam.“ Kaufvertrag: GILLERT Nr. 508. 23 GILLERT, Briefwechsel, S. XXVII. 24 GILLERT, Briefwechsel, S. XXVII, Anm. 7. 25 GILLERT Nr. 505 (Mutian an Simon Voltzke, 1. Juni 1515): „… inepti et frivoli commentitiae salutis venditores.“ 26 Einkommen vom Stift 60 Gulden; Erfurter Pfründe 14 Gulden; Wira 10 Gulden, Erfurter Haus 30 Gulden. Gillert sagt dazu: „Das jährliche Gesamteinkommen Mutians nach seiner Niederlassung in Gotha kann nicht gering gewesen sein“, ohne sich freilich auf eine Schätzung einzulassen. 27 Der bekannte Humanist Aesticampianus (Sommerfeld) wurde z.B. im Jahre 1517 an der Universität Wittenberg mit einem Jahresgehalt von 40 Gulden entlohnt. Vgl. HÖSS, Spalatin, S. 110. 28 GILLERT, Briefwechsel, S. XXVII. KRAUSE (Briefwechsel, S. XIV) dagegen: „Mutian hatte ein äußerst bescheidenes Einkommen.“

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hessischen Erbschaft inbegriffen, wobei man freilich bedenken muss, dass auch der Verwalter in Homberg, dessen Namen mit Paulus angegeben wird, sich als ein ebenso verschlagener, sich selbst bereichernder Geizhals wie sein Erfurter Pendant erwies: Ich habe zwei Prokuratoren, sowohl diesen [in Erfurt] als auch den in Homberg: Es sind beide raffinierte, heimtückische alte Männer, die sich mehr um ihr eigenes Wohl als um das meine kümmern. Beide werden mir möglicherweise bis zu ihrem Tode nichts geben, klagte er im Jahre 1513.29 Er tröstete sich, dass sie beide Höllenqualen leiden werden, falls die Seele überhaupt Schmerzen empfinden könne. Aber mit Gespenstern wolle er nicht kämpfen.30 Gelegentlich schickte Mutian seine Diener zum Geldeintreiben auf die Jagd, wie er scherzhaft sagte, in die Heimat, woher sie aber meistens mit leeren Händen zurückkamen.31 Nur einmal, im Jahre 1515, kehrte ein Diener mit lächerlichen 10 Gulden zurück.32 Wenn Mutian also 1515 in einem Brief an Urbanus beteuerte: Ich bedarf keines Geldes,33 so kokettierte er nur mit seiner angeblichen Bedürfnislosigkeit; als mönchischen Verzicht auf materiellen Wohlstand darf man das nicht interpretieren. Er besaß Geld in ausreichendem Maße, wenn auch nicht im Überfluss. Klagte er dennoch über seine fröhliche Armut,34 so lag das daran, dass er von bemerkenswerter Großzügigkeit war und nie mit Geschenken oder Bewirtungen für seine Freunde geizte. Mutian lebte also auch von Pfründen. Bei aller Kritik an kirchlichen Benefizien beteiligte er sich selbst auch an der Pfründenjagd, besonders für seine Freunde, wenn er auch wegen seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art weniger erfolgreich war als seine aggressiven Kollegen. Als zum Beispiel im Jahre 1514 sein Mitkanoniker Georg Rueß an Fieber schwer daniederlag, witterte Mutian eine freiwerdende Pfründe für Spalatin. Der Kleriker erholte sich aber und sollte noch bis 1523 leben.35 Als ein anderer Kanoniker tatsächlich das Zeitliche gesegnet hatte, ermahnte Mutian eiligst Urban, schnelle Schritte zu unternehmen, diese Vakanz für den Freund Peter Eberbach zu sichern. Aber auch 29 GILLERT Nr. 270 (Mutian an Urban, Mai/Juni 1513): „Duos habeo procuratores et hunc et Hombergi alium: Senes callidos, versutos, sibi magis quam mihi consulentes. Uterque forsan dabit mihi nonnihil moriturus.“ 30 GILLERT Nr. 270 (Mutian an Urban): „Si nihil dederit, penas sentiet, si quid anima sit sensura. Ego tam nolo cum larvis luctari.“ 31 GILLERT Nr. 456 (Mutian an Urban, 2. November 1514): „Misi Adamum [seinen Diener] solum ut venationem excitaret. Nihil reportavit et frustra cucurrit.“ 32 GILLERT Nr. 466 (Mutian an Urban, Anfang Januar 1515). 33 GILLERT Nr. 524 (Mutian an Urban, 19, Juli 1515): „Non egeo pecunia.“ 34 GILLERT Nr. 201 (Mutian an Urban): „Laeta paupertas“; Nr. 376 (Mutian an Urban): „Laeta paupertas“; Nr. 448 (Mutian an Urban): „homo laetissimae paupertatis.“ 35 GILLERT Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21 Juni 1514) und GILLERT Nr. 388 (Mutian an Urban, nicht lange nach dem 21. Juni 1514); über Rueß: GILLERT, Briefwechsel, I, S. 206, Anm. 7.

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dieses Mal scheiterte der Versuch.36 Angesichts seiner oft wiederholten Kritik an kirchlichen Gebräuchen und Riten einschließlich der Pfründenjägerei, mag Mutians eigene Beteiligung an dieser Praxis als Heuchelei erscheinen. Bevor man aber über den Gothaer Kanoniker den Stab bricht, sollte man daran erinnern, dass es zu dieser Zeit die Kirche und nur die Kirche war, die Forschern ein sorgenfreies Leben garantieren konnte. Wie problematisch und „unsozial“ ein solch auf Kosten anderer geführtes Leben war, darüber war er sich aber selbst im Klaren (siehe unten).

3.

Mutians Haus in Gotha

MUTIANS HAUS IN GOTHA

Mutians Wohnsitz war sein Haus in Gotha. Über die genaue Lage können nur Vermutungen angestellt werden, da das ganze Quartier, in dem die Kanoniker wohnten, einschließlich der zum Stift gehörigen Marienkirche beim Ausbau der Festung Grimmenstein im Jahre 1530/31 abgerissen wurde.37 Eobanus Hessus nannte das Haus Mutians aedes satis elegantes, also ein ziemlich geschmackvolles Gebäude; der Dichter Euricius Cordus (1486–1535) bezeichnete es als nobile Daedalii pene laboris opus, ein Werk beinahe der Arbeit des Daedalus würdig, wobei er sicherlich nicht an den antiken Flugkonstrukteur, sondern an den Ahn- und Schutzherrn der Handwerker und Bauherren dachte.38 Hinter seinem Haus befand sich der oben erwähnte Garten mit Obstbäumen, die sich freilich hartnäckig weigerten, Früchte zu tragen. Das lag möglicherweise auch an dessen schattiger Lage, denn gleich hinter dem Haus befand sich ein Stück Stadtmauer, ein Bollwerk (propugnaculum).39 Etwa zwei Jahre nach seinem Einzug, 1505, beabsichtigte Mutian, eine kleine Scheuer, horreolum, zu bauen.40

36 GILLERT Nr. 364 (Mutian an Urban, 15. Mai 1514): „Dorfeldus Nicolaus [so hieß der Kanoniker] hodierno matutino spirare desiit. Vacat canonicatus in aede Mariana. Para, quaeso, breves saltem literas et da Mattheo [ein Pfründner in Gotha und Kanonikus in Erfurt] ad Petreium, virum amicum et eximium.“ 37 Vgl. zur Kirche: VOLKLAND, Die Bau-und Kunstdenkmäler der Stadt Gotha, S. 30 f.: „Die nicht mehr vorhandene Kirche … dürfte im 12. Jahrhundert als dreischiffige romanische Basilika errichtet und in gotischer Zeit erweitert worden sein. 1344 wird sie Stiftskirche für die aus Ohrdruf hierher übergesiedelten Augustiner-Chorherren, die, bei der Bürgerschaft wenig beliebt, in Privathäusern am Berg und Umgebung Wohnung nahmen; seit 1292 war bei der Kirche eine Schule.“ 38 In seinem Itinerarium (Reisegedicht). Abgedruckt bei GILLERT Nr. 477 (Mutian an Cordus), II, S. 137–138; hier S. 137, Vers 22. 39 GILLERT Nr. 91 (Mutian an Urban, Herbst 1505) 40 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Edificabo horreolum.“

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Jeder Besucher des mutianischen Hauses hatte sich einem bestimmten Ritual zu unterziehen.41 Bei seiner Ankunft musste der Ankommende zunächst dreimal an einer vom Giebel herabhängenden Kordel ziehen, worauf ein Glöckchen im Innern des Hauses erklang. Daraufhin erschien am oberen Fenster ein Junge, der den Besucher nach Herkunft und Verlangen befragte. Erst dann wurde die Türe geöffnet. Im Erdgeschoss befanden sich die Wohnräume, im Obergeschoss die Bibliothek. In einem der unteren Räume hatte Mutian die Wappen einiger seiner Freunde und sein eigenes anbringen lassen.42 In diesem Zimmer dürften sich die Freunde seines ordo literarius getroffen zu haben. An der Eingangstür aber hatte der Hausherr die Worte BEATA TRANQUILLITAS – selige Ruhe anbringen lassen.43 Im Inneren lud eine weitere Inschrift mit den Worten Bonis cuncta pateant – den Guten soll alles offen stehen, ein. Der Name BEATA TRANQUILLITAS war keine vorübergehende Laune, sondern muss auch im „Grundbuch“ gestanden haben, wie aus dem notariell bestätigten Kaufvertrag über das Erfurter Haus zu ersehen ist.44

41 Beschrieben in dem Reisegedicht des Cordus, abgedruckt bei GILLERT Nr. 447. 42 Dass man diese Wappen noch im 19. Jahrhundert sehen konnte, wie Treml (Humanistische Gemeinschaftsbildungen, S. 207, Anm. 124) behauptet, beruht auf einer missverstandenen Stelle KRAUSES (Briefwechsel, S. VII: „Hier sah man in einem Saale nachmals die Wappen der humanistischen Freunde, die sich da zu versammeln pflegten“). Das Haus wurde, wie gesagt, 1530 abgerissen. 43 Das Gedicht des Euricius Cordus ist abgedruckt in GILLERT Nr. 477: „Prima docet facies tranquillam exquirere vitam Idque tribus verbis parvulus asser habet. Illic trahe pendentem declivi ex culmine funem Et dabit internos tinnula nola sonos … Sedulus occurret puer exertusque fenestra Te, quare venias et quis et unde, rogat.“ KRAUSES Behauptung (Der Briefwechsel, S. VII), dieses Motto habe in goldenen Buchstaben über der Tür gestanden („Über der äusserem Thüre prangten in grossen vergoldeten Buchstaben die Worte: BEATA TRANQUILLITAS“), beruht auf einem Missverständnis. 44 GILLERT Nr. 508: „Ego Henricus Rhanis, presbiter notarius, assensum et ratificationem prestabilis viri domini Chonradi Mutiani doctoris in domum beate tranquillitatis vocatus …“. (Unterstreichung vom Autor).

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4.

Mutians Famuli

MUTIANS FAMULI

In dem Vierteljahrhundert, das Mutian in Gotha verbrachte, hatte er eine Reihe von Famuli oder Dienern verschiedenen Alters, von denen insgesamt sechs namentlich bekannt sind.45 Sie organisierten seinen Haushalt, kochten für ihn und seine Gäste, erledigten die unumgänglichen Botendienste46 und nahmen an seinen Gastmählern teil. Er unterrichtete sie im Lateinischen und kümmerte sich um ihr Wohl, selbst nachdem sie seine Dienste verlassen hatten. Seine Famuli waren seine eigentliche Familie. Anders als seine Mitkanoniker, die sich Köchinnen, Haushälterinnen und Konkubinen hielten, bestand Mutian darauf, nur Männer oder Jünglinge in seinen Haushalt aufzunehmen, selbst wenn sie nicht immer seinen Ansprüchen genügten. Als er sich wieder einmal über die Unzuverlässigkeit und mangelnde Intelligenz eines seiner Famuli beschwerte, erklärte er: Trotzdem ist es besser einen dummen oder verrückten Koch zu haben als eine gescheite und vernünftige Köchin.47 Frauen störten die „Tranquillitas“, war Mutians Begründung. Da er seinen Famuli ganz im humanistischen Sinne lateinische Namen gab – aus Adam Bueb wurde zum Beispiel Adamus Publius, aus Johannes Fastnacht aus Urba (Orb) ein Janus Urbicus – kennen wir von den meisten nur deren lateinischen Bezeichnungen. Am längsten diente ein gewisser Benedictus Rufinus bei ihm. Mehr als zehn Jahre, (supra decennium), – etwa von 1502 bis 1512 – war er nach seinen eigenen Worten Diener des Mutian und lernte bei ihm das Latein, das sogar, wie erwähnt, von dem italienischen Diplomaten Chrysostomos gelobt worden war.48 Von Mutian hatte er offenbar nicht nur das ausgezeichnete Latein gelernt, sondern auch dessen manische Vorliebe für Bücher übernommen. Betrübt musste Mutian zwei Jahre nach seinem Weggang feststellen, dass mit Rufinus wohl auch einige seiner Bücher verschwunden waren.49 Gleichzeitig mit Benedictus diente ihm spätestens seit 1505 ein gewisser Paulus Aquilius.50 Als administrator cibi, als Küchenchef,51 war er in erster Linie für das leibliche Wohl Mutians und seiner 45 Benedictus Rufinus, Paulus Aquilius, Adamus Publius, Ianus Urbicus, Vulcanus Drusillus und Johannes Marcellus. Zu den Famuli kurz: RÄDLE, Mutianus Rufus (1570/71–1526) – ein Lebensentwurf, S. 21; KRAUSE, Briefwechsel, S. XVII–XVIII. 46 GILLERT Nr. 91, 146, 152, 156, 158, 163, 182. 47 GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514): „Praestat habere stultum est inanum coquum quam catam et sanam coqueam.“ 48 GILLERT Nr. 255 (Chrysostomus an Mutian, 19. Mai 1513); vgl. Kap. III. 49 GILLERT Nr. 386 (Mutian an Urban, um den 21. Juni 1514): „Castigationes Vallensis amisi. Rufinus, opinor, surripuit.“ 50 Erste Erwähnung in GILLERT Nr. 13 (Mutian an Spalatin, vor dem 21. August 1505). 51 KRAUSE, Briefwechsel, S. 24, Anm. 3. Erwähnt wird Paulus in GILLERT Nr. 13, 35, 154, 185, 196, 197, 200, 203, 247, 249, 252, 423, 454.

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Gäste verantwortlich. Im Gegensatz zu Benedictus Rufinus war der schon ältere Aquilius ein einfacher Mensch,52 der wohl auch kaum über umfassende Lateinkenntnisse verfügte. Über die stets knappe Kasse des von ihm geführten Haushaltes klagte er (auf Deutsch): Frome leuthe haben wenig Geldes.53 Im Jahre 1512 sorgte Mutian dafür, dass der alte Mann seine letzten Jahre in einem Gothaer Hospiz verbringen konnte.54 Als sich Mutian im Jahre 1512 nach dem Weggang des Benedictus Rufinus und der „Pensionierung“ des Aquilius nach neuen geeigneten Kandidaten umsehen musste, bat er seinen welterfahrenen Freund Urban um Hilfe und schickte ihm ein genaues Anforderungsprofil der zu rekrutierenden Diener. Ein Famulus solle sexuell enthaltsam, einfach, aber nicht melancholisch sein; er solle den Grad des Bakkalaureus erworben haben, außerdem ziehe er einen Österreicher oder Bayer vor, da diese als zuverlässig und aufrichtig gelten; Schwaben und Franken möge er dagegen nicht; Reiche wüssten nicht zu dienen, Unzüchtige gehorchten nicht, und Ungebildete seien unfähig, in seinem Hause etwas zu lernen. Bevor er endgültig zusage, bedinge er sich von Urban eine Beschreibung des Bewerbers und dessen Qualifikationen aus.55 Der Kandidat, der diesen strengen Anforderungen genügte und den Urban zu empfehlen wagte, war zwar kein Bayer oder Österreicher, sondern ein Hesse, immerhin kein Franke oder Schwabe. Wie Urban kam Johannes Fastnacht aus Urba (Orb) – er war also ein Landsmann seines besten Freundes Urban56 – und bekam daher den lateinischen Namen Janus Urbicus.57 Zunächst zeigte sich Mutian zufrieden mit ihm. Er sei enthaltsam, sparsam, selbstbeherrscht und unermüdlich, teilte er Urban mit.58 Im Vergleich zu seinem Vorgänger Aquilius sei er geschickter, rühriger und munterer. Während Aquilius Sohn des Saturn gewesen sei, sei Urbicus Sohn des Mars. Beide seien aber ziemlich abergläubisch. Der eine bete wie ein Priester, der andere ginge sogar in die Kirche! Häusliche 52 In einem Brief spricht Mutian von dessen „simplicitas“ (GILLERT Nr. 423). 53 GILLERT Nr. 154 (Mutian an Urban, 1509). 54 GILLERT Nr. 200 (Mutian an Urban, August/September 1512): „Huc adde sumptus in Pauli nostri honorem factos. Nam cum dedissem Paulo altare in Xenodochio, fuit etiam institutio persolvenda.“ 55 GILLERT Nr. 247 (Mutian an Urban, März 1513): „Castum volo et simplicem, non tamen melancholicum, sive bacularius sive Austrius aut Bavarus sit. Fidi sunt illarum nationum adulescentes, non omnes impudici … Divites non serviunt. Vesticipes non obedient. Illiterati non sunt capaces beneficii. Suevum aut Francum nolo. Antequam conducas, narrabis mihi conditiones, ut probem aut respuam.“ 56 Mutian nennt ihn gegenüber Urbanus einen „municeps“ (GILLERT Nr. 352, Mutian an Urban, 27. März. 1514). 57 GILLERT Nr. 249 (Mutian an Urban, 18. März 1513). 58 GILLERT Nr. 269 (Mutian an Urban, vor dem 29. Juni 1513): „Ianus Urbicus valde mihi placet: est siccus, frugi, continens, impiger.“

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Gebete genügten ihm offenbar nicht.59 So angetan war Mutian von dem intelligenten Urbicus, dass er ihn zum notarius oder causidicus ausbilden lassen wollte.60 Merkwürdig ist allerdings, dass er bereits ein Jahr später den vielgepriesenen Janus Urbicus so überschwänglich gegenüber Urban pries, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass er ihn wegloben will. Er gab vor, Urbicus sei für seinen bescheidenen Haushalt eigentlich „überqualifiziert“. Besser geeignet sei er dagegen für Urban, der als Verwalter der zahlreichen Besitzungen des Georgenthaler Klosters einen so tüchtigen und umtriebigen Mann als Eintreiber der Abgaben gebrauchen könne.61 In Wirklichkeit schienen Mutian andere Gründe bewegt zu haben, sich des Urbicus entledigen zu wollen: Einmal störte der temperamentvolle Urbicus doch zu sehr die für Mutian essentielle, entspannte Sorglosigkeit, eben die tranquillitas.62 Wichtiger war aber ein anderer Grund. Mutian zeigte zwar gegenüber den Grillen seiner Diener eine erstaunliche väterliche Toleranz – Rufinus wünschte sich zum Beispiel einen jungen, doch kräftigen Hund von guter Rasse als Gefährten63 und Vulcanus Drusillus brachte einen Raben mit in die BEATA TRANQUILLITAS64 – Mutian bestand aber auf der sexuellen Enthaltsamkeit seiner Diener. In diesem Punkt kannte er keine Nachsicht. Ein Diener sei nur willkommen, wenn er nicht ins Bordell gehe, was Urbicus, Mutian scheint das anzudeuten, getan hatte. Denn keusch muss der sein, der in Ruhe zu leben gedenke.65 59 GILLERT Nr. 252 (Mutian an Urban, 1513): „Tuus Ianus bene servit. Erat Paulus Aquilius stupidior, remissior, sedatior. Ianus est agilior. Solertior. Alacrior. Ille Saturni, hic Martis filius, uterque prope supersticior. Oravit ille ut sacerdos, hic adhuc prophanus templa salutat non contentus domi rem sacram fecisse.“ 60 GILLERT Nr. 316 (Mutian an Urban, 12. September 1513): „Ego faciam Deo volente, ut Ianus fiat notarius elegans et causidicus.“ 61 GILLERT Nr. 355 (Mutian an Urban, 1. April 1514): „De Iano vero sic tibi persuadeas eum omnia, quae ad rem familiarem tuam pertinebunt, summa vigilantia et infatigabili procuratione diligentissime facturum. Sive enim domi tuae tornanda dolandaque sit materia, fabrum habebis quasi Deadalum sive pagatim census at annona cenobialis exigenda, circumvolabit alatis pedibus, denique ad omnia munia paratus erit atque armatus.“ 62 GILLERT Nr. 352 (Mutian an Urban, vor dem 27. März 1514): „Habe, habe tibi municipem acerrimum, cuius animus ita abhorret a tranquillitate, quod in ludo scholari ad alienas opiniones sodalium moribus et vita baccantium preformatus esse videatur.“ 63 GILLERT Nr. 86 (Mutian an Urban, zwischen Ende 1505 u. Herbst 1508): „Benedictus petit canem rusticum aetate tenellum, indole generosum, viribus conspicuum.“ 64 GILLERT Nr. 382 (Mutian an Urban, kurz vor dem 15. Juni 1514): „Habeo responsorem domi corvum mansuetum.“ KRAUSE Nr. 345 (Adamus Publius an Urban, 15 Mai 1514; nicht in GILLERT): „… corviculum, quod Vulcanus Drusus in aedes nostras tulisset.“ 65 So interpretiere ich den Brief GILLERT Nr. 355 (Mutian an Urban, 1. April 1514): „Tibi credo et credidi semper et tum credere desinam, cum spirare. Caput autem est, quod te meminisse ac trutinare velim: gratum fore novum administratorem, si scrota non attigit. Nam castus sit necesse est, qui tranquille volet vivere.“

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Während also Urbicus in die Dienste des Urban trat, stellte Mutian seit Ende April 1514 Adam Bueb alias Adamus Publius an, der vorher Diener des Urban gewesen war. Die beiden Freunde tauschten also ihre Famuli einfach aus. Des Publius’ Hauptaufgabe war die Küche und das damit verbundene Besorgen von Lebensmitteln.66 In dieser Aufgabe bewies er eine gewisse, von Mutian durchaus gewürdigte Kreativität in der Verfeinerung von Speisen.67 Als jemand, der zwar kein Rechtsgelehrter, sondern ein Küchengelehrter sei, so Mutian, empfahl er außerdem als kulinarische Bereicherung als zweiten Gang einen schweren Käse. Dieser solle zwar nicht faul und von Würmern zerfressen, sondern etwas rötlich und weich wie Butter sein. Deshalb bat Mutian, dem publianischen Befehle Folge leistend, Urban sich in Erfurt bei den Käsemachern umzusehen.68 Seine Kochkunst wurde jedoch durch seine Langsamkeit – Mutian gab ihm den Spitznamen Lentulus – und Faulheit relativiert.69 Nach anderthalb Jahren in Mutians Diensten hatte sein Eifer in der Küche spürbar nachgelassen. Als er im November 1515 einen frisch erworbenen Hasen als Geschenk an Urban schickte, geschah dies, glaubt man Mutian, weil er zu träge war, den Hasen selbst zu häuten, zu zerlegen und zu braten. Du brauchst mir nicht zu danken, schrieb Mutian entschuldigend an Urban, schon gar nicht Adam, da er mehr seine Trägheit als Deinen Tisch im Auge hatte.70 Zu den Aufgaben des Adam Bueb als Koch kamen noch die eines Boten, der die Verbindung zwischen Mutian und Urban in Erfurt aufrechthielt. Weil er sich aber gelegentlich erheblich länger als nötig in Erfurt bei Urban aufhielt, kam es zu Eifersüchteleien zwischen den beiden engen Freunden, besonders da Mutian Bueb nach dessen Rückkehr für diese Verspätungen hart bestrafte. Diese Strafe fand nun Urban wiederum unverhältnismäßig. Mutian seinerseits beschuldigte Urban, er sei der amator oder amasius, also ein Liebhaber des Knaben: 66 GILLERT Nr. 393 a (Adamus Publius an Neopotianus, 30. Juni 1514): „Gotham me contuli ad doctorem Mutianum, cuius promus sum et obsonator.“ Ebenfalls GILLERT Nr. 370 (Mutian an Urban, zweite Hälfte Mai 1514): „obsonator“. 67 GILLERT Nr. 407 (Mutian an Urban, Mitte des Jahres 1514): „Sorbet alius fervidum, alius concretum frigore. In quo Publius excellit, nam pernas et petasones croco tingit et reponit in prandio, ut ius congelatum inferat in cenam.“ 68 GILLERT Nr. 411 (Mutian an Urban, 8. August 1514): „Publius iuris non legitimi, sed iuris culinarii consultissimus ad mensam ait secundum pertinere ponderosum caseum saporis scitissimi, non rancida putralagine verminantem, non mucore putidum, sed subrufum, butyro proximum. Itaque Publianae iussioni parens peto a te, ut casearios in foro circumspicias.“ 69 GILLERT Nr. 362, 363, 539 (alle Briefe von Mutian an Urban). 70 GILLERT Nr. 546 (Mutian an Urban, nach dem 11. November 1515): „Leporem Adamus excoriare, ut est ineptus et iners, non potuit atque ideo tibi dare quam domi assare maluit. Non igitur mihi gratiam debes, imo ne Adamo quidem, quando suae potius socordiae quam tuae mensae consulit.“

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So nachlässig ist Dein Liebhaber durch Deine Güte und Nachsicht geworden, dass er jetzt Rufus verachtet und mit Dir zu leben beschließt. … Dir soll er gehören, da er sich weigert, zu mir zu gehören, schrieb Mutian gekränkt an Urban. Ich erlaube nämlich nicht, dass er gegen die Vorschrift des Evangeliums zwei Herren dient, sei es aus eigenem Wunsch oder weil andere ihm dazu raten.71 Gleichzeitig mit Adamus Publius arbeitete seit 1514 ein gewisser Vulcanus Drusillus (oder Drusus) bei Mutian. Sein „bürgerlicher“ Name ist nicht bekannt. Da für seine Dienstzeit die Quellen spärlicher fließen, erfahren wir wenig über ihn. Wie Publius war er voll in den mutianischen Haushalt eingebunden und nahm auch an den Gastmählern teil.72 Im Beisein beider, Publius und Vulcanus, zerriss Mutian, wie versprochen, einmal als Vorsichtsmaßnahme die Briefe Urbans.73 Beide bezeugten auch seinen Häuserverkauf im Jahre 1515.74 Im Übrigen scheint sich Mutian über seine Erziehungsbemühungen seiner teilweise sehr jungen Famuli keine Illusionen gemacht zu haben: Resigniert schrieb er an Urban Ende 1514 oder Anfang 1515: Ich habe einige mit guten Anlagen gefördert und keusch erzogen, aber sobald sie ins Teenager-Alter kamen, änderte sich ihr Charakter vom Guten zum Schlechten … Als Schafe treten sie ein, Wölfe werden sie. Das Gleiche geschehe wohl im Georgenthaler Kloster, teilte er Urban mit.75 Der letzte bekannte Diener war ein gewisser Johannes Marcellus, der beim Tode Mutians im Jahre 1526 zugegen und dessen Testamentsvollstrecker gewesen sein soll. Das berichten mehrere Quellen, u.a. Camerarius in seiner Biographie des Hessus.76 Marcellus, der auch gelegentlich wegen seiner Herkunft aus 71 GILLERT Nr. 435 (Mutian an Urban, September 1514): „Ita solutus est amasius tua bonitate et indulgentia, ut Rufum contemnat tecum vivere destinet. … Tuus sit igitur, quando meus esse recusat. Neque fero, qui duobus dominis contra praescriptum evangelicum sive suapte natura sive aliorum suasu servit.“ 72 GILLERT Nr. 395 (Mutian an Urban, Ende Juni, Anfang Juli 1514): „Assedit Hercules et tyro Vulcanus et Ianus [Janus Urbicus, füherer Diener Mutians).“ GILLERT Nr. 518 (Mutian an Eobanus Hessus, Anfang Juli 1515): „Prandebant … Nepotianus, Drusus, Publius et Paulus) 73 GILLERT Nr. 449 (Mutian an Urban, um den 10. Oktober 1514): „Legi tuas literas et, sicuti iusseras, statim testibus Publio et Vulcano concerpsi.“ 74 GILLERT Nr. 508 (Eine Urkunde Mutians, 13. Juni 1515): „… signavi hac manu Adamo Publio et Vulcano Druso, clericis domesticis, et ceteris astantibus.“ 75 GILLERT Nr. 461 (Mutian an Urban, Ende 1514/Anfang 1515): „Alui complures bonae indolis et pudice educavi, sed ubi adoleverunt, mutarunt mores de bonis facti peiores. Idem accidit in cenobio tuo. Oves intrant, sed lupi fiunt.“ 76 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio de Eobano Hesso, S. 72/73: „Affirmante etiam hoc optimo & doctissimo viro Io Marcello Regiomontanus, qui adfuit quum moreretur, & in sua omnia illius potestate habuit.“ Auch SPALATIN behauptete das: „… qui lateri morientis accubuit Marcellus Regius.“ In: Schelhorn, Amoenitates literariae, quibus variae observationes scriptae. IV, S. 430 (vgl. auch Kap. XII). Andere Hinweise auf Marcellus als

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dem fränkischen Königsberg Regiomontanus genannt wird,77 sollte nach dem Tode Mutians noch eine bemerkenswerte akademische Karriere haben.78 Es ist der Reiz der mutianischen Briefe, dass sie immer spontane Momentaufnahmen bieten, also seine jeweilige Stimmung ungeschminkt wiedergeben. Das gilt auch für seine Einschätzung seiner Diener, sodass sich ein durchaus widersprüchliches Bild ergibt. So kümmerte sich Mutian einerseits in rührender Weise um die ihm anvertrauten Famuli: Er kaufte zum Beispiel Adam eine schmucke Kappe, um für ein Fest angemessen gekleidet zu sein und sich selbst und seinem Herren keine Schande zu bereiten,79 brachte ihm nicht nur Latein bei,80 sondern auch, wie man griechische und hebräische Buchstaben malt,81 und schaltete sich ein, als ihm von dessen wiederverheirateter Mutter eine Vermögensschädigung drohte.82 Auf der anderen Seite kritisierte er ihn, weil er beim Einkaufen zu viel Geld ausgebe83 und beschimpfte ihn als einen Menschen zweifelhafter Treue, zweifelhafter Keuschheit, zweifelhafter Sauberkeit. Von Natur sei er dumm, träge, unzuverlässig, böswillig und missgünstig84 – im Übrigen aber einfach und gut (simplex et bonus).85

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Diener in Mutians letzten Jahren: GILLERT Nr. 625 (Mutian an Friedrich den Weisen, 27. April 1525): „Misi famulum meum.“ GILLERT Nr. 627 (Eobanus Hessus an Mutian, 1. August 1525): „Saluta Marcellum tuum.“ Er sollte aber nicht mit dem weit berühmteren Astronom und Mathematiker Johannes Müller (1436–1476) verwechselt werden, der wegen seiner Herkunft aus dem gleichen fränkischen Ort ebenfalls Regiomontanus heißt. Nach dem Studium an der Universität Erfurt, wo er unter anderem bei Hessus hörte, immatrikulierte er sich 1528 an der Universität Wittenberg. Dort erwarb er am 28. August 1534 den akademischen Grad eines Magisters und erhielt 1537 bzw. 1541 die Professur der lateinischen Grammatik und der Poetik. GILLERT Nr. 370 (Mutian an Urban, zweite Hälfte Mai 1514): „Decet adulescentem et Mutiani obsonatorem decora tyara, ut instructus nitore capitis et ornatu visendo herum et se ipsum publice cohonestare pergat.“ Fünf seiner lateinischen Briefe sind bei KRAUSE abgedruckt: Nr. 344 (Publius an Urban, 5. Mai 1514), Nr. 345 (Publius an Urban, 15. Mai 1515), Nr. 377 (Publius an Nepotian, 30. Juni 1514) und Nr. 52 (Publius an Urban, Februar 1515), Nr. 453 (Publius an Nepotianus, 22. Februar 1515). GILLERT Nr. 405 (Mutian an Urban, Mitte der Jahres 1514): „Iam effingit graecas et hebraicas literas et libenter pingit.“ GILLERT Nr. 437 (Mutian an Urban, 26. September1514): „Bonus ephebus fraudatur hereditate paterna astu matris, dolo vitrici. Nam bona Adami et fratris deducanda erant et seponenda ante secundas nuptias.“ GILLERT Nr. 381 und 384 (Mutian an Urban, 13. bzw. 15 Juni 1514). GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514, S. 113): „Homo dubiae fidei, dubiae puditiae, dubiae sanitatis. … Natura bardus et hebes, sed futilis, malignus, invidus.“ GILLERT Nr. 405 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1514).

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IV. RÜCKKEHR NACH DEUTSCHLAND

V. BEATA TRANQUILLITAS – ALS LEBENSFORM UND PROGRAMM

Der Schritt, sich in die relative Ruhe von Gotha zurückzuziehen, war von existentieller Bedeutung und wirft ein bezeichnendes Licht auf Mutians Lebensplanung. Mit seinen Qualifikationen – Bakkalar und Magister von der angesehenen Erfurter Universität, 7-jährigem Italienaufenthalt mit anschließender juristischer Promotion an einer italienischen Universität, ausgezeichnete Lateinkenntnisse und Auslandserfahrung – hätte Mutian eine glänzende Karriere in den verschiedensten Bereichen offen gestanden. Einmal hätte die Erfurter Universität, wo man sich des beliebten Dozenten aus den frühen neunziger Jahren vielleicht noch erinnerte, ihn möglicherweise mit offenen Armen empfangen. Auch in der kirchlichen Administration wäre ihm, dem Doktor im kanonischen Recht, eine erfolgreiche Laufbahn gewiss gewesen. Schließlich hätte dieser hochintelligente Mann auch als Verwaltungsfachmann am hessischen oder irgendeinem anderen der zahlreichen deutschen Fürstenhöfe reüssieren können. Aber mit bewundernswerter Konsequenz lehnte er immer alle Angebote ab und lebte von 1502 bis zu seinem Tode im Jahre 1526 ungebunden in seinem Haus in dem stillen Gotha und nicht in der lebendigeren, als Nachrichtenbörse bekannten Universitätsstadt Erfurt.1 Bei vielen stieß diese Entscheidung auf Unverständnis, weshalb sich Mutian einem ständigen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sah. Mit seinem Entschluss handelte er nämlich zunächst einmal gegen die Familientradition. Daran erinnerte ihn Urbanus, als er ihm nahelegte, sich seine inzwischen verstorbenen Brüder zum Vorbild zu nehmen.2 Mutian argumentierte: Mein Lebensplan ist so, der meiner Brüder war anders. Diese dienten Fürsten, der Kurie, dem Ruhm und Reichtum und erwarben bei den Ungelehrten (indocti) einen großen Namen. Dafür sind sie nicht zu tadeln; im Gegenteil, man soll sie loben, da der eine seinen Kindern eine ansehnliche Erbschaft, der andere sich selbst und mir nutzen wollte und beide den Namen der Familie Muth berühmt machen wollten. Ich aber denke anders.

1 2

MOELLER, Erwägungen zur Bedeutung Erfurts als Kommunikationszentrum der frühen Reformation, S. 275–282. Der ältere Bruder Johannes hatte bis 1496 den wichtigen Posten eines Magister coquinae in Erfurt inne, später wirkte er bis zu seinem Tode im Jahre 1503 als kurfürstlicher Rat in Mainz. Der jüngere Bruder war Kanzler am landgräflichen Hof in Kassel, war aber auch schon zwischen 1503 und 1506 verstorben (GILLERT, Briefwechsel, I, S. 6, Anm. 1 u. 2).

V. BEATA TRANQUILLITAS – ALS LEBENSFORM UND PROGRAMM

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Alle Muths sind gestorben, nur Mutianus ist übrig geblieben. Deshalb strebe ich nicht nach Ruhm bei dem Volke und Reichtum, sondern bin mit Wenigem zufrieden.3

Bei aller Anerkennung für seine Familie scheint doch ein selbstbewusster Stolz in diesen Äußerungen durch. Zwar gestand er seinen Brüdern den Erwerb von Reichtum und Ruhm zu, qualifizierte diese Aussage aber sogleich, indem er darauf hinweist, dass dies bei den indocti geschah. Indem er seinen selbst gewählten lateinischen Namen benutzte, wies er auf seinen humanistischen Sonderstatus hin. Ähnlich äußerte er sich drei Jahre später einem Freund gegenüber: Niemand ist so ungelehrt, so dumm und so unwissend, dass er nicht zugibt, dass ich ein offenes und einfaches Gemüt habe, da mich kein Ehrgeiz oder Interesse an Wohlstand antreibt. Ich habe nach reiflicher Überlegung Hochmut und Streben nach Beliebtheit hinter mir gelassen, um ohne Aufregung ruhig mein Leben zu führen.4

1.

Mutian – eine Ausnahmeerscheinung

MUTIAN – EINE AUSNAHMEERSCHEINUNG

Typisch für den deutschen Renaissance-Humanismus war Mutians Entscheidung keineswegs. Der Humanist, Dichter und Publizist Ulrich von Hutten zum Beispiel reiste in seinem bewegten Leben von Ort zu Ort, engagierte sich in der Politik und ging Kontroversen nicht nur nicht aus dem Wege, sondern suchte sie. Conrad Celtis, der, wie wir sahen, für kurze Zeit Lehrer Mutians in Erfurt gewesen war, wanderte ebenfalls ruhelos durch Europa, wirkte überall anregend und scheute nicht die Provokation. Willibald Pirckheimer, ein weiterer großer Vertreter des Humanismus in Deutschland, gestaltete als Ratsherr seiner Heimatstadt jahrelang die Politik Nürnbergs und zog sogar als Feldhauptmann in den Schweizer Krieg. Ähnlich verhielt sich der große Augsburger Humanist Konrad Peutinger, der als kaiserlicher Rat am Hofe Kaiser Maximilians wirkte und aktiv in die Politik seiner Vaterstadt eingriff. Johannes Reuchlin, obwohl seinem Wesen nach am ehesten mit dem stillen und öffentlichkeitsscheuen Mutian vergleichbar, wurde ab 1511 in einen der erbittertsten Streite der Vor3

4

GILLERT Nr. 5 (Mutian an Urban, um den 29. Juni 1505): „Aliud est meum propositum, aliud erat germanorum institutum. Hi regibus et curiae et opibus servierunt et assecuti sunt apud indoctos magnum nomen. Neque ideo culpandi, quin laudandi potius, quia alter suis liberis honestum patrimonium parare, alter sibi et nobis prodesse, uterque familiam Mutiorum illustrare voluit. Mihi vero non ea mens est. Ceciderunt omnes Mutii solo Mutiano superstite. Itaque popularem gloriam et divitias non quaero contentus parvo.“ GILLERT Nr. 77 (Mutian an Herebord von der Marthen, nach dem 28. Juli 1508): „Nemo est tam indoctus, tam brutus atque rudis, ut non fateatur me aperti et simplicis ingenii, quum me nullum vel ambitionis vel divitiarum studium inflammet. Deserui maturo iudicio fastum et popularitatem, ut omni animi affectione carens sine tumultu vitam agerem.“

MUTIAN – EINE AUSNAHMEERSCHEINUNG

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reformationszeit verwickelt (vgl. Kap. XI). Selbst Trithemius, ein Vertreter des sogenannten „Klosterhumanismus“, reiste im Auftrage seines Klosters unermüdlich durch Deutschland.5 Erasmus von Rotterdam schließlich, ein Gelehrter, den Mutian zeit seines Lebens bewunderte, wohnte und wirkte während seines Lebens in den Niederlanden, in Deutschland, Frankreich, Italien, in der Schweizer Eidgenossenschaft und in England. Wie Reuchlin konnte auch er sich nicht den Kontroversen, die er oft auch provozierte, entziehen. Mutian war also eine Ausnahmeerscheinung. Seine Lebensphilosophie brachte er auf eine griffige Formel: beata tranquillitas – glückliche Ruhe. Dieses Motto ließ er sich nicht nur, wie wir sahen, mit schwarzen Lettern über die Türe seines Gothaer Hauses malen, sondern verwendete es so oft, dass es schließlich auch von Freunden und Bekannten verwendet wurde. BEATA TRANQUILLITAS war nicht nur seine offizielle Adresse, sondern wurde auch zu einem Markenzeichen für ihn, gab ihm die eigene Identität. Crotus Rubeanus nannte ihn den Vater der Ruhe – tranquillitatis pater,6 und Eoban Hessus schrieb mit einem gewissen Neid Du pflegst in unserer Zeit als einziger die Ruhe des Lebens und machst sie sogar unsterblich.7 Mutian selbst fühlte sich als Initiator der Ruhe – tranquillitatis institutor, als ständiger Wächter der glücklichen Ruhe – beatae tranquillitatis perpetuus custos.8 An Hessus schrieb er schließlich: Ich besitze die glückliche Ruhe, die das Volk Religion nennt. Darin liegt meiner Meinung nach das wahre menschliche Glück.9 Die Entscheidung für politische, gesellschaftliche und, wie wir sehen werden, schriftstellerische Abstinenz war wohlüberlegt und geschah maturo iudicio – nach reiflicher Überlegung.10 Entsprechend seinem Vorsatz, sich zurückzuziehen, verließ er Gotha ganz selten. Eine Einladung zur Inthronisation des Fuldaer Fürstabtes, Hartmann von Kirchberg, eines Mannes, den er noch aus seiner Erfurter Studentenzeit kannte und der nicht nur ihm, sondern allen Gelehrten gewogen war,11 lehnte er ab mit der Begründung, dass er sich aus Gelagen, Theater und sonstigem Pomp nichts mache.12 Ebenso entzog er sich sowohl der Einladung zu den Feierlichkeiten anlässlich der Priesterweihe seines besten 5 6 7

ARNOLD, Trithemius, S. 29. GILLERT Nr. 507 (Crotus Rubeanus an Mutian, 11. Juni 1515). GILLERT Nr. 571 (Eobanus Hessus an Mutian, 1516): „… vitae tranquillitatem … tu unus nostro tempore sanctissime colis atque adeo facis immortalem.“ 8 GILLERT Nr. 590 (Mutian an Johannes Lange, 24. Mai 1520). 9 GILLERT Nr. 499 (Mutian an Eoban Hessus, 23. Mai 1515): „Ea mihi est beata tranquillitas, popularibus religio, in qua censemus beatam vitam hominum collocatam.“ 10 GILLERT Nr. 77 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz nach dem 28. Juli 1508). 11 GILLERT Nr. 262 (Mutian an Crotus Rubianus, 13. Juni 1513): „Favet eruditis erudititissimus“. 12 GILLERT Nr. 262 (Mutian an Crotus Rubianus): „Dicite me parvi facere convivium, spectaculum, pompam.“

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Freundes Heinrich Urban13 als auch der zur Hochzeit des Gerlach von der Marthen, des Bruders seines Schülers Herebord von der Marthen.14 Christus sei zwar auch zu Hochzeiten gegangen, scherzte er, aber man müsse doch nun Christus wirklich nicht in allen Dingen nachahmen. Bündig beschied er ihm: Der Philosoph wird nicht tanzen, er wird zu Hause bleiben.15 Dem wiederholten Drängen Friedrichs des Weisen, entweder als Professor in Wittenberg zu wirken oder als Rat nach Torgau zu kommen, widersetzte er sich ebenso wie anderen ehrenvollen Angeboten.16 Auf Titel legte er keinen Wert. Als er erfuhr, dass ein gewisser Degenhard sich damit brüstete, Friedrichs des Weisen Rat geworden zu sein, spottete er: Sei’s drum! Und wenn er König geworden wäre.17 Um dieses selbstbestimmte, nur der eigenen Selbstbildung gewidmete Leben zu gewährleisten, hatte er sich also, das darf und muss man ihm unterstellen, ohne innere Überzeugung entschlossen, Geistlicher zu werden, die Voraussetzung zur Erlangung eines Kanonikats. Mit entwaffender Ehrlichkeit bekannte er einmal: Das Priesteramt strebe ich nur an wegen der Bücher.18 Nur als unverheirateter Kleriker genoss er jene Freiheit, die ihm die Muße zur geistigen Selbstverkommnung gewährte. Oh wir glücklichen Kleriker! Was ist süßer als ein leeres Bett, gestand er dem ebenfalls zölibatär lebenden Zisterziensermönch Urban, als er von der Heirat seines nunmehr „unfrei“ gewordenen Freundes Eobanus Hessus erfuhr.19 Da sich Mutian durchaus der „unsozialen Qualität“ seiner Existenz bewusst war,20 problematisierte er wiederholt das Sichzurückziehen aus der Welt, diese Abstinenz, wobei seine Äußerungen oft einen apologetischen Charakter haben. 13 GILLERT Nr. 16 (Mutian an Urban, Sept. 1505): „Dabis mihi veniam, si ad dedicationem tuam non venero.“ 14 GILLERT Nr. 229 (Mutian an Urban, 1. November 1512). Für die Behauptung KRAUSES (Eobanus Hessus, S. 35), dass er auf die Frankfurter Buchmesse gereist sei, lassen sich keine Belege finden. 15 GILLERT Nr. 220 (Mutian an Henricus Musardus, 18. Oktober 1512): „Non saltabit philosophus, domi manebit. Christus adiit convivia nuptilia, sed non omnia debemus imitari.“ 16 GILLERT Nr. 96 (Mutian an Urban, um 1505). Dort sollte er sogar die Nachfolge des weithin berühmten Professor Henning Goede antreten. GILLERT Nr. 597 (Spalatin an Mutian); GILLERT Nr. 601 (Friedrich der Weise an Mutian); GILLERT Nr. 602 (Spalatin an Mutian). 17 GILLERT Nr. 86 (Mutian an Urban): „Esto! Quid si rex factus esset.“ 18 GILLERT Nr. 25 (Mutian an Urban, um den 10. November 1505): „Sacerdotia propter libros peto.“ 19 GILLERT Nr. 481 (Mutian an Urban, 19. März 1515): „O nos felices clericos. Quid enim libero lectulo dulcius?“ 20 RÄDLE, Mutianus Rufus (1470/1–1526) – Ein Lebensentwurf gegen die Realität, S. 19. Zitiert im Folgenden als RÄDLE, Ein Lebensentwurf.

MUTIAN – EINE AUSNAHMEERSCHEINUNG

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Am deutlichsten geschieht das in einem Brief an Herebord von der Marthen, in dem Mutian den Unterschied zwischen einem Gelehrten und einem Staatsdiener erörtert. Anlass des Briefes war der Karrieresprung seines Schützlings Spalatin (vgl. Kap. VII.2), der soeben die Position eines Novizenlehrers im beschaulichen Kloster Georgenthal mit der eines Prinzenerziehers am quirligen kursächsischen Hofe vertauscht hatte. Dieser [Spalatin] entflieht und verlässt die Ruhe nicht ohne Grund, da ihm das Hofleben einträglicher und seinem Ansehen und Ruhm förderlicher ist. … Mit Recht werden diejenigen, die im öffentlichen Leben stehen und fürstlichen Entscheidungen dienen, uns Faulenzern und Zurückgezogenen vorgezogen. Denn die Müßiggänger und Stillen im Lande, die mit sich und mit Wenigem zufrieden sind, tun alles ihrer selbst willen. Die Geschäftsleute und Politiker beschützen die Städte durch ihren Gerechtigkeitssinn, faire Gesetze, und nützliche Ratschläge, sie erwerben großen Reichtum, sorgen für ihre Angehörigen, nutzen allen, sofern sie gerechte und ehrenwerte Männer sind.21

Mutian würdigte also durchaus den sozialen und gesellschaftlichen Nutzen der im Leben stehenden Männer, die mit Recht Schmarotzern vorgezogen werden, als er fortfuhr: Jene[die Müßiggänger] suchen ihr eigenes Vergnügen, diese aber haben den Nutzen vieler im Blick. Jene vervollkommnen in Muße ihre Sprachkompetenz und ihren Stil, entweder zum Vergnügen, aus Liebe zum Erwerb oder Ruhmessucht, diese sorgen ständig für das Wohl der ihnen anvertrauten Freiheit.22

Mutian räumte also durchaus ein egoistisches Motiv ein, während er den im Staat Engagierten, für das Gemeinwohl Arbeitenden große Anerkennung schuldete.23 Und ebenso bewunderte er seinen Intimfreund Urbanus und dessen Fähigkeit,

21 GILLERT Nr. 108 (Mutian an Herebord von der Marthen, Herbst 1508): „Is tranquillitatem fugit et deserit non sine causa, quod aulica vita sibi sit fructiosior et ad claritatem amplitudinemque aptior. … Recte civiles viri et qui principalibus decretis serviunt nobis umbriaticis et seductis praeferuntur. Nam otiosi et quieti et suo et parvo contenti omnia sua gratia faciunt. Negotiosi et rem publicam gubernantes tuentur urbes aequitate, bonis legibus, salutaribus consiliis, iudiciis gravibus, acquirunt opes magnas, adiuvant suos, prosunt universis, si modo iusti sint boni viri.“ 22 GILLERT Nr. 108 (Mutian an Herebord von der Marthen, um Michaelis 1508): „Illi sequuntur oblectationem, hi vero utilitatem spectant plurimorum. Illi linguam et stilum in otio vel voluptatis vel questus vel laudis amore exercent, hi continuis vigiliis curant salutem libertatemque fidei suae creditam.“ 23 Ähnlich äußerte er sich in einem Brief an Urban über einen gewissen Pyrrhus: „Wer sollte den verdammen, der sich von der Herrin philosophischer Betrachtung zur Königin menschlicher Angelegenheiten, zur Handlung wahrer Tüchtigkeit, zum vollkommenen Amt, begab?“ (GILLERT Nr. 271, Anfang 1513): „Quis damnaret eum, qui se a domina contemplatrice ad rerum reginam, actionem verae virtutis, perfectum officium contulit.“

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wie Cicero, Muße und Geschäfte, d.h. seine Arbeit als Wirtschaftsverwalter am Kloster Georgenthal und seine literarischen Arbeiten zu vereinbaren.24 So klar ist die Dialektik von einer vita activa und vita contemplativa selten formuliert worden. Mutians briefliche Reflexionen muss man vor dem Hintergrund dieser im gesamten europäischen Humanismus geführten Debatte über die beiden unterschiedlichen Lebensformen sehen.25 Beide Positionen wurden heftig vertreten und ebenso entschieden gelebt. So darf man etwa Francesco Petrarca (1303–1374) und Michel de Montaigne (1533–1593) als Exponenten einer vita contemplativa, eine ganze Reihe italienischer Humanisten dagegen als Vertreter der vita activa im Sinne eines „Civic Humanism“ betrachten.26 Im deutschen Humanismus fand die Debatte Niederschlag in dem berühmten Brief, den Ulrich von Hutten im Jahre 1518 an Willibald Pirckheimer schrieb. Darin verteidigte Hutten gegenüber dem Nürnberger Patrizier seine Entscheidung, als Rat an den Hof des Erzbischofs von Mainz zu gehen. Pirckheimers Aufforderung, seine Zeit nicht unproduktiv am Hofe zu vergeuden, sondern sich ganz den literarischen Studien zu widmen, entgegnete er: Du weißt nicht, ob Du meiner Natur damit Rechnung trägst, wenn Du mich so früh in die Verborgenheit und in das Gelehrtenleben rufst, und ob Du meine Jugend berücksichtigst, die diese Stille noch nicht verträgt. Könnte ich denn dieses jugendliche Alter in den vier Wänden verborgen halten und mich in diese Einsamkeit und Stille vergraben, ehe ich noch den Trubel der Welt kennen gelernt und ihre Unruhe gespürt hätte?27

Hutten, dessen Bedürfnis, die Welt zu erfahren und in das politische Geschehen einzugreifen, der eigentliche Motor seines Handelns war, ist gewissermaßen der Gegenpol zu Mutians selbstgewähltem stillen Gelehrtenleben.

24 GILLERT Nr. 17 (Mutian an Urban, September 1505): „Talis erat Cicero, qui non minus literarum otia quam fori negotia tractabat.“ 25 Siehe zu dem ganzen Fragenkomplex: BUCK, Humanismus, S. 176–192. 26 Der Begriff wurde von BARON, In Search of Florentine Civic Humanism, geprägt. 27 BÖCKING, I, S. 195: „Nam quod in umbram me tam cito, et ad sedentarium illud studium vocas, nescio an naturae ibi meae rationem habeas, aut aetatem an respicias, quae illam non capit quietem: an ego possem hoc aetatis intra quatuor parietes latere et priusquam expertus essem istas mundi turbas, istos olfecissem tumultus, in hos me secessus, hoc tranquillum recondere?“ Übersetzung von TRILLITZSCH, Der Brief Ulrich von Hutten an Willibald Pirckheimer, S. 212.

PHILOSOPHISCHE FUNDIERUNGEN

2.

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Philosophische Fundierungen

PHILOSOPHISCHE FUNDIERUNGEN

Die „philosophische Fundierung“28 fand Mutian bei Marsilio Ficino (1433– 1499), dessen Werke er kannte. Von dem Florentiner Humanisten und Philosophen übernahm Mutian nicht nur „dessen Konzeption einer Konkordanz der Religionen in einer philosophia perennis, d.h. einer Harmonisierung von philosophischer und religiöser Wahrheitserkenntnis“,29 sondern auch seine Philosophie der „Beata tranquillitas,“ wie Fidel Rädle überzeugend nachgewiesen hat: „Mutian hat in vielem ziemlich umstandlos Ficinos Lehre in sein eigenes Handeln übernommen.“30 In mehreren Schriften (De voluptate, 1457, und De vita, 1489) hatte Ficino immer wieder die tranquillitas, die innere, abgeklärte Ruhe, die Gelassenheit, das Sichheraushalten aus den Geschäften der Welt propagiert. Die Wandinschrift, die Ficino in seiner Akademie anbringen ließ, könnte von Mutian stammen: Vom Guten wird alles zum Guten gelenkt. Genieße die Gegenwart. Mache Dir nichts aus Geld noch aus öffentlichem Ansehen. Meide jede Maßlosigkeit, meide weltliche Geschäfte. Genieße die Gegenwart.31 Der sich stets selbst reflektierende Intellektuelle Mutian versuchte aber auch selbstkritisch eine psychologische Erklärung seines Sichzurückziehen: Niemals wollte ich wegfliegen, mich emporschwingen, um auf den Gipfel der Anerkennung und Ehre zu gelangen, weil ich den Absturz fürchtete. Auf dem Boden krieche ich, damit ich nicht falle.32 Es war auch die Angst vor dem Versagen, die Mutian davon abhielt, sich als Fürstendiener in herausragender Position oder als Universitätsprofessor zu profilieren. Diese Furcht, seinen eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, hinderte ihn möglicherweise auch daran, seine Gedanken zu veröffentlichen. Auch darin war Mutian eine Ausnahmeerscheinung; denn anders als seine publikationsfreudigen humanistischen Kollegen, die, sich auf das berühmte und immer wieder zitierte horazische exegi monumentum aere perennius, dauerhafter als Erz schuf ich ein Denkmal (Oden III, 30) berufend, schriftliche Werke schufen, die für sie die Unsterblichkeit sichern sollten, brachte Mutian keine einzige Zeile zum Druck. Der um 1450 von Johann Gutenberg erfundene Buchdruck hatte diese Chancen auf unsterblichen Ruhm hundertfach erhöht, und die meisten Humanisten nutzten begeistert das neue Medium. Als Autoren, Korrektoren, Lektoren waren sie nicht nur maßgeblich an der Verbreitung des Buchdrucks beteiligt, sie 28 29 30 31

RÄDLE, Ein Lebensentwurf, S. 14. Ebd., S. 12. Darüber mehr in Kap. XII. RÄDLE, Ein Lebensentwurf, S. 16. „A bono in bonum omnia diriguntur. Letus in presens. Neque censum aestimes, neque appetas dignitatem. Fuge excessum, fuge negotia.Letus in presens.“ FICINO, Lettere I, Nr. 47, S. 92–93. 32 GILLERT Nr. 158 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509): „Numquam volui evolare et conscendere fastigium maioris gloriae casus metuens. In plano serpo, ne cadam.“

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V. BEATA TRANQUILLITAS – ALS LEBENSFORM UND PROGRAMM

waren, wie der Medienwissenschaftler Giesecke es einmal vielleicht etwas anachronistisch bezeichnete, die „Software-Ingenieure“ der frühen Neuzeit.33 Sie publizierten nicht nur antike und patristische Werke, sondern auch die Arbeiten von Zeitgenossen – und besonders gern ihre eigenen Werke. Auch in diesem wesentlichen Punkt unterschied sich Mutian also von den meisten anderen Humanisten: Wenn es jemals jemanden gab, der entfernt von eitlem Lob und Gunstbuhlerei war, so bin ich das, der in Distanz zur Menge wie einst Hismenias singt.34 Aus diesem Grunde scheine ich einigen zu unfreundlich. Sie glauben nämlich, dass ich mich deshalb von der Öffentlichkeit zurückziehe und gleichsam ohne Anstrengung unbeachtet daliege und Arbeit und Fleiß fliehe, weil ich nicht weiß, was für eine glühende Fackel der Ruhm ist und wie viel ich Freunden, der Heimat und der Gegenwart schulde oder verdanke. Die so argumentieren, sind blind und urteilen übereilt. Denn ich habe mir das genau vorher überlegt und bin bereit, diese meine sichere und wahrhaft glückliche Ruhe (beata tranquillitas) oder wie jene sagen Faulheit, Trägheit oder Untätigkeit gegen alle Verleumdungen zu verteidigen … Deshalb habe ich beschlossen, in meinem ganzen Leben leise zu sprechen und nichts herauszugeben, damit ich nicht scheine, mich dem blinden Zufall zu überantworten oder auf wohlfeile Weise ein Lorbeerkränzchen zu erhaschen.35

Seine Publikationsverweigerung unterlegte er – charakteristisch für einen Humanisten – mit Beispielen aus der heidnischen und christlichen Antike. Erstens habe auch Galba [gemeint ist ein Redner aus vor-ciceronianischer Zeit], nichts geschrieben, sondern sei nur kraft seines Denkvermögens ein hervorragender Redner gewesen. Zweitens hätten auch Sokrates und Christus, so weit er wisse, nichts Schriftliches hinterlassen. Des ersteren Gedanken habe aber Plato verbreitet, des letzteren die vier Evangelisten.36 Jedenfalls hielt sich Mutian strikt an 33 GIESECKE, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 320 ff. 34 GILLERT Nr. 60 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Si quisquam fuit unquam remotus ab inani laude et ambitu, ego profecto is sum, qui secretus a turbis mihi demum iuxta Hismeniam cano.“ Vgl. GILLERT, S. 72, Anm. 1. (Hismenias war ein Flötenspieler, der nach Valerius Maximus nur für sich selbst und die Musen spielte). 35 GILLERT Nr. 60 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1507), S. 76: „Qua in re videor quibusdam esse nimis austerus. Putant enim ideo nos abstinere a publico et quasi sine conatu iacere ac laborem industriamque refugere, quod nesciam, quam ardens fax sit gloria, quantum et quid amicis et patriae et saeculo debeatur. Caeci et precipites feruntur, qui eiusmodi rationibus agunt. Nam omnia mecum ante peregi et paratus sum hanc meam securam et vere beatam tranquillitatem vel, ut isti loquuntur, inertiam, desidiam, ignaviam ab omni calumnia defendere. Quare mussare decrevi in omni vita, nihil edere, ne aleam subire aut in mustaceo laureolam quaerere videamur.“ 36 GILLERT Nr. 60 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Habeo, quibus me tuear, exempla: Galba … nihil scripsit, cogitatione sola insignis orator. Quid Socrates, quid Christus scripsere? Nihil, quod sciam. Illius enim sententias Plato celebrat, huius parabolas quattuor historici nobiles ecclesiae prodiderunt.“

PHILOSOPHISCHE FUNDIERUNGEN

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seinen Vorsatz, nichts zu veröffentlichen. Außer einem Widmungsbrief37 ist während seines Lebens nie etwas von ihm gedruckt worden. Eine Rhetoriklehre von ihm, die Melanchthon publizieren wollte, ist nie erschienen. Der reformatorische Theologe hielt sie wohl nicht mehr für zeitgemäß. Sie ist verschollen.38 „Tranquillitas“ als Lebensform und Programm, also ein sich Absondern von dem Treiben und den Auseinandersetzungen der Welt, als ein Leben ganz der Selbstverwirklichung gewidmet, ohne Ehrgeiz und Streben nach Ruhm – das war das Ideal. Ein Kritiker nannte deshalb Mutians Haus eine „säkularisierte Eremitage“.39 Wenn man aber darunter eine Einsiedelei versteht, in der ein Mönch oder in säkularisierter Form ein Gelehrter in völliger Abgeschiedenheit, abgekapselt von seinem sozialen Umfeld, allein für Gott oder die Wissenschaft und seine Bücher lebt, so trifft das keineswegs auf Mutian zu. Aus zwei ganz verschiedenen Gründen wurde die BEATA TRANQUILLITAS nie eine säkularisierte Eremitage. Einmal war Mutian eingebunden in das Augustinerchorherrenstift. Die Gothaer Augustinerchorherren bildeten zwar keine klösterliche Gemeinschaft, trotzdem führte die von ihnen gewählte Lebensform zu erheblichen und aus der Sicht Mutians unvermeidbaren lästigen Kontakten: Die Kanoniker trafen sich z.B. zu den morgendlichen Besprechungen und zu den gemeinsamen Gebetsverrichtungen und Messen.40 Spannungen blieben nicht aus, Reibereien waren an der Tagesordnung (mehr darüber in Kap. X). Eine „säkularisierte Eremitage“ war aber die BEATA TRANQUILLITAS auch aus einem zweiten Grunde nicht. Mutian war keineswegs ein Einzelgänger, ein Eremit. Gerade weil er mit seinen ungebildeten geistlichen Kollegen im Marienstift keinen intellektuellen Umgang zu pflegen im Stande war, begann er bald nach seiner Rückkehr eine Schar von Männern um sich zu scharen, mit denen er seine Begeisterung für die Antike teilte, mit denen er Briefe austauschte, die er betreute und mit denen er sich gelegentlich zu geselligem Beisammensein und keineswegs immer nur ernsten literarischen Gesprächen im „Wappensaal“ seines Hauses traf. Dann konnte es auch vorkommen, dass die BEATA TRANQUILLITAS vom lauten Gelächter der Sodalen des ordo literarius widerhallte. Es war dieser Kreis, den der französische Historiker Jean Claude

37 GILLERT Nr. 1 (Mutian an Johann Burckard, 1. Juni 1502, aus Bologna). 38 Diese Rhetoriklehre existierte wohl noch nach seinem Tode als Manuskript. Vgl. KRAUSE, Der Briefwechsel des Mutianus Rufus, S. 112, Anm. 3. 39 KRAPP, Der Erfurter Mutiankreis, S. 28. 40 Die Namen seiner Mitkanoniker bei GILLERT, Briefwechsel, S. XXVII: Gerhard Marschalck, Georg Rueß, Martin Plattfuß, Heinrich Lindener, Daniel Siegfried, Ludwig Köteling (Lotius), Johann Schindekopf, Nicolaus Dorfeld, Paulus Myssner, Wilhelm von Gebesen, Johann Gerhard, Melchior Salzmann, Matthias Wagener, Jodocus Koch und Thomas Ludwig.

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V. BEATA TRANQUILLITAS – ALS LEBENSFORM UND PROGRAMM

Margolin „eine freie Republik der Gelehrsamkeit und Freundschaft“41 nannte und dessen Mitglieder in ganz unterschiedlichen literarischen Gattungen reüssieren und eine bedeutende Rolle im kulturellen Leben der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts spielen sollten.

41 Siehe Einleitung. MARGOLIN, Mutianus Rufus et son modèle erasmien, S. 178.

VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

1.

Nikolaus Marschalk – der Wegbereiter des mutianischen Kreises

NIKOLAUS MARSCHALK

Mutian wählte für seine BEATA TRANQUILLITAS das kleine, aber nicht weit von der großen Universitätsstadt Erfurt gelegene Gotha. Dieses Städtchen gewährte ihm einerseits die für seine wissenschaftlichen Studien unerlässliche Muße und garantierte ihm auch die nötige Distanz zu Erfurt, andererseits lag es doch nahe genug an Erfurt, um Kontakt zu den an der dortigen Universität studierenden oder lehrenden Freunden zu pflegen. Außerdem verfügte Erfurt über sehr gute Bibliotheken wie die berühmte nach dem Arzt und Gelehrten Amplonius Rating de Berka genannte Amploniana im Collegium Porta Coeli. Während der langen Jahre von Mutians Italienaufenthalt hatten sich an der Universität Erfurt beachtliche Veränderungen zugetragen. Die humanistischen Studien, die bis zu seinem Weggang im Jahre 1494 in friedlicher Koexistenz mit den vorherrschenden scholastischen Studien betrieben worden waren, waren während seiner Abwesenheit „in Riesenschritten“ vorangeschritten.1 Verantwortlich dafür war in erster Linie ein Mann, dem wir schon als Schüler Mutians in den Jahren 1492 bis 1494 begegnet waren, Nikolaus Marschalk (vgl. Kap. II). Als engagierter Lehrer, als Autor, Herausgeber und Drucker lateinischer, griechischer und in beschränktem Umfang hebräischer Schriften setzte er sich unermüdlich für die studia humanitatis ein, sodass man ihn mit Fug und Recht als „den Begründer des Erfurter Hochhumanismus“ bezeichnen kann.2 Geboren zwischen 1460 und 1470 in dem thüringischen Städtchen Roßla, erwarb Nicolaus Marsalcus Thurius [der Thüringer], wie er sich später nannte, im brabantischen (heute belgischen) Löwen den Bakkalaureus und kam nach einem Aufenthalt in Heidelberg im Jahre 1491 nach Erfurt,3 wo er 1496 zum Magister artium promoviert wurde. In den folgenden Jahren erwarb er auch den juristischen Bakkalaureus. 1500 wurde er zudem Stadtschreiber Erfurts, also nach heutigen Begriffen „Verwaltungschef“ der Stadt.4 1 2 3 4

BAUCH, Die Universität Erfurt, S. 206. ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, S. 170. SCHWINGES/WRIEDT (Hg.), Das Bakkalrenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 241. STIEVERMANN, Marschalk, S. 122. Zu Marschalk: HUBER- REBENICH, Marschalk, Nikolaus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 161–203 mit reicher Literatur. Literatur zu Marschalk auch bei bei HAYE, Notizen zu Nikolaus

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VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

Das Verfassen von Kochbüchern mag nicht zu den genuin humanistischen Anliegen gehören, aber genau damit begann Marschalk seine Karriere als Herausgeber. Im Jahre 1499 edierte er nämlich ein Kochbuch, genauer gesagt, die lateinische Übersetzung der griechischen Schrift des byzantischen Polyhistors Konstantinos Psellus (1018–1097?) De victus ratione (Über die Ernährung), eine Schrift, die der italienische Humanist Laurentius Valla wenige Jahre vorher in Venedig bei Aldus Manutius herausgebracht hatte. Dabei interessierte den Philologen Marschalk nicht in erster Linie die Zubereitung von Speisen, sondern die damit verbundene lateinische Fachterminologie. Aus diesem Grunde ließ er dem Werk ein eigens verfasstes „Interpretamentum“ folgen, ein alphabetisch geordnetes Glossar mit lateinischen Worten, denen gelegentlich deutsche und in wenigen Fällen auch griechische Übersetzungen folgten. In erster Linie zur Förderung und Verbesserung des sprachlichen Unterrichts gedacht, ließ Marschalk das Buch von dem Erfurter Drucker Wolfgang Schenck drucken.5 Kann man De victus ratione noch als humanistische Spielerei abtun, so musste das ebenfalls bei Schenck ein Jahr später erschienene von Marschalk herausgegebene De arte grammatica des spätantiken Polyhistors Martianus Capella Minneus als Provokation gegenüber dem scholastischen Lehrbetrieb angesehen werden.6 Es handelte sich dabei um eine Teilausgabe seiner Enzyklopädie De nuptiis Philologiae et Mercurii. Aus dieser wählte Marschalk die für den Lateinunterricht entscheidende Grammatik aus und warf damit den scholastischen Didaktikern den Fehdehandschuh hin; denn bisher wurde als Standardwerk für den lateinischen Unterricht das sogenannte Doctrinale des Alexander de Villa Dei benutzt. Versehen mit Epigrammen seiner Mitstreiter Maternus Pistoris und Henricus Aquilonipolensis,7 war es zunächst ein Versuch in Richtung einer curricularen Veränderung. Innerhalb kürzester Zeit veröffentlichte dann Marschalk weitere Texte, die das scholastische Establishment herausforderten: seine Orthographia, ebenfalls bei Schenck erschienen,8 ein lateinisch-griechisches Lehrbuch, „ein für die Zeit hochverdienstliches Unternehmen“,9 „das erste in Deutschland gedruckte Lehr-

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Marschalk, S. 206, Anm. 2. Über das weitere Schicksal Marschalks HUBER-REBENICH, Marschalk, Sp. 163–169. Interpretamentum leue in Psellum philosophum et medicum de natura ciborum communium, Erfurt: Wolfgang Schenk 1499. Eine genaue Beschreibung der Drucke aus der Schenk’schen Offizin bei BAUCH, Wolfgang Schenk und Nikolaus Marschalk, S. 353–409. Schenk nannte sich gelegentlich in latinisierter Form Lupambulus Ganymedes oder Lupambulus Poccillator. Vgl. VON HASE, Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 20. Pistoris: 1465/70–1534); Aquilonipolensis: gest. 1527. VON HASE, Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 33a (VD 16, M1116 und 1117). BAUCH, Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus. S. 195. Übersicht darin S. 195–197.

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und Lesebuch der griechischen Sprache“,10 das den Anspruch erhebt, die bisher herrschende Barbarei vertreiben zu können.11 Ebenso wie bei dem vorhergehenden Buch wurden Pistoris und Aquilonipolensis als Verfasser von programmatischen Epigrammen rekrutiert. So schreibt Maternus: Te duce, laus superis, fit barbara terra latina, Te sine barbariem lingua Latina sapit. Unter deiner Führung, für die Götter eine große Tat, wird die barbarische Erde lateinisch, Ohne dich schmeckt die lateinische Sprache nach Barbarei.12

Im selben Jahr 1501 erschien dann bei dem weniger bekannten Erfurter Drucker Paul von Hachenborg die Grammatica Exegetica – eine ausführliche Rhetorik, Poetik, Metrik und Brieflehre.13 Gewidmet ist sie keinem anderen als Peter Eberbach, dem späteren Schüler Mutians, damit er nicht mit ungewaschenen Füßen die studia humanitatis beginne.14 Marschalk warnt vor gewissen Lehrern, die die empfänglichen Ohren der Schulknaben mit scholastischen Albernheiten und dergleichen erbärmlichen Gaukeleien anfüllen, dass nicht einmal die ersten Fundamente gelegt erscheinen und dass diese einst als Mann kindisch werden müssen, wenn die Götter es zulassen.15

Es ist nicht bekannt, was Marschalk veranlasste, die Zusammenarbeit mit Schenck und Hachenborg zu beenden und das unternehmerische Risiko der Einrichtung einer eigenen Druckerei auf sich zu nehmen. Risikobereit muss Marschalk auf alle Fälle gewesen sein, denn selbst für eine kleine Druckerei benötigte man erhebliches Kapital zum Kauf der Typen, des Papiers und der Pressen. 1501 erschien sein erstes Werk aus dieser Werkstatt mit dem Titel Laus Musarum,16 eine Anthologie lateinischer und griechischer Dichter einschließlich 10 BAUCH, Die Universität Erfurt S. 198. 11 „Pellere is libet hanc [barbariem] Thuri peramato libellos/ Isthunc in primis.“ Zitiert nach der Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek (VD 16, M 1117), S. 5. 12 Orthographia, S. 5. 13 Grammatica exegetica. Erphordia 1501 (VD 16, M 1112); BAUCH, Die Universität Erfurt S. 199 f. 14 „… ne illotis, ut aiunt, pedibus humanitatis studia ingrediaris.“ Zitiert nach der Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek (Signatur: Res/4 L.eleg.g. 3), S. 9. Vgl. BAUCH: Die Universität Erfurt, S. 202. 15 „… professoribus olim sunt iniciati, qui scholicis nugalibus et id genus minutiis ac prestigiis aures ingenuas pedagogianorum puerorum complent, ut nondum prima iacta fundamenta videantur et viri aliquando repuerascere, si diis placet.“ Zitiert nach der Ausgabe in der BSB (Siehe oben), S. 10. Deutsche Übersetzung von BAUCH: Die Universität Erfurt, S. 203 16 Laus Musarum ex Hesiode Ascraei Theogonia (VD 16, S 7423); VON HASE, Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 90; HAYE, Notizen zu Nikolaus Marschalk, S. 211.

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einiger selbstverfasster Gedichte. Dass er seine eigenen Gedichte neben die von Laktanz, Ovid, Ausonius und Baptista Mantuanus stellte, zeigt ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Als Mitherausgeber und Erklärer der schwierigen Wörter fungierte sein damaliger Adlatus Georg Burckhardt, kein anderer als der spätere treue Schüler Mutians, der in der Reformationsgeschichte als Georg Spalatin so eine bedeutende Rolle spielen sollte. Diese schmale Anthologie sollte aber nur ein Vorgeschmack sein für ein viel umfangreicheres Werk (462 Bl.), das der unermüdliche Marschalk im nächsten Jahr unter dem Titel Enchiridion poetarum clarisissimorum (Handbuch der berühmtesten Dichter) veröffentlichte.17 Es ist nämlich ebenfalls eine Anthologie, und da es auch griechische Texte enthielt, kann man es mit Recht „die erste planmäßige Einführung in die griechische poetische Literatur in Deutschland“ nennen,18 gleichzeitig „ein inoffizieller Lektürekanon, der die Rezeption antiker und humanistischer Literatur an der Erfurter Universität um 1500 illustriert“.19 Das Buch enthält nicht nur wieder eigene Gedichte, sondern auch einige Selbstporträts, wobei er einem Bild seines Vorbildes Cicero sogar seine eigenen Züge verleiht. Was man vielleicht als humanistische Eitelkeit verspotten könnte, war im Grunde als Geste des Respekts gegenüber dem Römer gemeint. Wie Cicero die Aufgaben eines Anwaltes und Politikers mit denen eines Philosophen zu vereinen vermochte, gelang es auch Marschalk, seine wissenschaftliche Herausgebertätigkeit mit den Pflichten eines Verwaltungschefs einer für damalige Begriffe großen Stadt zu vereinbaren. Zwei weitere Bücher zeigen seinen unternehmerischen Wagemut und seine geistige Fortschrittlichkeit: eine Sammlung lateinischer Inschriften, die erste in Deutschland veröffentlichte,20 und eine Einführung in die hebräische Grammatik, Introductio ad litteras hebraicas vtilissima.21 Diese Basisgrammatik ist zwar eine wortwörtliche Wiederholung der vorher bei Aldus Manutius in Venedig erschienenen Grammatik, und die hebräischen Zeichen sind aus Holz geschnitten und somit kein Typendruck, es ist aber die erste in Norddeutschland gedruckte hebräische Schrift.22 Latein, Griechisch und Hebräisch – das waren die drei heiligen Sprachen, deren Beherrschung die Humanisten anstrebten, wenn auch selten erreichten.

17 VD 16, Z 10418; VON HASE, Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 91; BAUCH, Die Universität Erfurt, S. 212–215. 18 Ebd., S. 213. 19 HAYE, Notizen zu Nikolaus Marschalk, S. 214. 20 Epitaphia quaedam mire vetustatis (VD 16, E 1747). Vgl. ebd., S. 218. 21 VD 16, ZV 10364; VON HASE: Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 92. 22 BAUCH, Die Universität Erfurt, S. 216 f.

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Obwohl Marschalk während dieser Zeit keine offizielle Stellung an der Universität innehatte,23 bestand seine Bedeutung für die Erfurter Universität also einmal darin, dass er für die Studenten humanistische Texte und Textsammlungen bereitstellte, wobei ihm klar geworden sein muss, dass es einen Markt für derartige Bücher gab, weil er sich sonst nicht auf das kostspielige Unternehmen einer eigenen Druckerei eingelassen hätte. Zum anderen besteht aber seine Bedeutung darin, in Erfurt einen Kreis von Schülern um sich geschart zu haben, den Mutian gleichsam „erben“ konnte.24 Denn Marschalk war nicht nur der bedeutende humanistische Gelehrte und Pionier, sondern auch der große Lehrer der Jugend, der seine Schüler für die Werke der Antike zu begeistern vermochte. Dazu gehörte, dass er seine Schüler mit in seine editorischen Bemühungen einbezog, indem er sie zu eigener wissenschaftlicher Arbeit anleitete. So übertrug er dem jungen Spalatin, seinem damaligen Adlatus (auf dem Titelblatt wird er als puer amanuensis bezeichnet), bei der Herausgabe der Laus Musarum die Aufgabe, ein Glossar der schwer verständlichen Worte zu verfassen.25 Andere Schüler band er an sich, indem er ihnen einzelne Werke widmete, ein ungewöhnlicher Vorgang, denn meist waren es die Schüler, die ihre Werke ihren Meistern zueigneten. So dedizierte er sein erstes Erfurter Werk, das besagte diätetische Kochbuch, Peter Eberbach (Petreius Aperbacchus), während er das Enchiridion dessen Bruder Heinrich widmete.26 Neben diesen drei jungen Männern, deren Verhältnis als Studenten Marschalks als gesichert gilt, hielten sich noch einige Studenten zu dieser Zeit in Erfurt auf, die wahrscheinlich zu Marschalks Kreis gehörten. Dazu gehörten so unterschiedliche Männer wie der Dichter Hermann Trebelius, der Gräzist Johannes Lange und Johann Jäger alias Johannes Venatorius, alias Crotus Rubeanus, späterer Verfasser der Epistolae obscurorum virorum, Herebord von der Marthen sowie möglicherweise der spätere radikale Reformer Andreas Karlstadt, der zu dieser Zeit ebenfalls in Erfurt studierte.27 Bezeichnend aber ist, dass sich dieser Kreis außerhalb der Universität konstituierte, denn Marschalk lehrte während dieser Zeit nicht an der Universität.28 Durch seine mit großem unternehmerischem Einsatz erfolgten Veröffentlichungen humanistischer Standardwerke, durch seine mit starkem Selbstbewusstsein vorgetragenen Vorworte und schließlich durch seine Fähigkeit, junge Män-

23 KLEINEIDAM: Universitas Studii Erffordensis, S. 159. 24 HUBER-REBENICH spricht in diesem Zusammenhang von der „Keimzelle des Erfurter Humanismus“. In: Marschalk, Sp. 153. 25 Interpretatio glossematon horum carminum: hoc est vocum difficilium 26 BAUCH, Die Universität Erfurt, S. 214. 27 Ebd., S. 152 f. 28 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 159.

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ner für die studia humanitatis zu begeistern, wurde er somit zu einem entscheidenden Wegbereiter des Mutian-Kreises.29

2.

Entstehung des mutianischen Kreises

ENTSTEHUNG DES MUTIANISCHEN KREISES

Der Kreis, der sich seit 1505 um Mutian konstitierte, bildete sich nicht sofort nach Mutians Rückkehr aus Italien und seiner Niederlassung in Gotha. Zunächst fand offenbar Mutian in Gotha niemanden, mit dem er in nähere Beziehungen zu treten wünschte.30 Für seine Mitkanoniker am Marienstift hatte er nur Verachtung übrig, die sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte, zumindest in einigen Fällen, zu Hass steigern sollte. Sie ihrerseits beäugten den Italienrückkehrer mit wachsendem Misstrauen. Es war auch keineswegs so, dass man in Erfurt, geschweige denn in Gotha sehnsüchtig auf die Rückkehr Mutians gewartet und ihn nun „mit Pauken und Trompeten“ dort empfangen hätte. Acht Jahre Abwesenheit in einem fernen Land sind auch in unserem schnelllebigen Jahrhundert eine lange Zeit, damals waren sie eine Ewigkeit. Man hatte sich entfremdet. Dazu kam, dass auch in Erfurt die Zeit nicht stehen geblieben war, wie wir soeben gesehen haben. Man war also auch ohne Mutian ganz gut zurechtgekommen, und seine Anwesenheit war, wie wir sahen, nicht nötig für das Fortschreiten der humanistischen Sache.31 Mutian musste sich also erst wieder einen Freundeskreis aufbauen, indem er selbst die Initiative ergriff. Bezeichnend ist, dass der erste uns überlieferte Brief 29 In diesem Urteil unterscheide ich mich von Abe, der meiner Meinung nach die Bedeutung Marschalks für den Mutian überbewertet. So spricht er von Marschalks „rücksichtlosem Kampf“ gegen die Scholastik und urteilt: „Beide Männer waren demnach ebenbürtig, und der eine ist ohne den anderen nicht denkbar. Schuf Marschalk als Programmatiker und Vorkämpfer jene Grundlage, auf der Mutian aufbauen konnte, so setzte dieser wiederum das Werk Marschalks fort. Ob Mutian ohne diese günstigen Bedingungen, die er dank Marschalks Tätigkeit in Erfurt antraf, jene Bedeutung hatte erlangen können, die er tatsächlich erlangt hat, mag mit Recht bezweifelt werden.“ ABE, Der Erfurter Humanismus, S. 179. Marschalks weiteres Schicksal braucht uns hier nicht zu interessieren: zwischen 1502 und 1505 wirkte er als Professor in Wittenberg, danach ist er als Rat in Schwerin tätig und ab 1510 wirkt er als außerordentlicher Professor an der Universität Rostock. Dort starb er 1525. 30 Vgl. ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, S. 192. Vgl. zu diesem Kapitel meinen Aufsatz „Mutianus Rufus und der Gothaer ordo literarius.“ 31 ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, S. 192: „Denn auch die Erfurter Humanisten scheinen seine Übersiedlung nach Gotha ziemlich gleichgültig gegenüber gestanden zu haben. Jedenfalls ist nicht der geringste Anlass dafür vorhanden, anzunehmen, dass die Erfurter Humanisten Mutian als einen Abgesandten der Götter gefeiert hätten und sein Gothaer Heim zugleich ein Wallfahrtsort für sie geworden wäre.“

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aus Gotha nicht etwa ein freudiges Begrüßungsschreiben aus Erfurt ist, sondern ein Schreiben, das der Gothaer Kanoniker am 1. Oktober 1503 an den damals schon berühmten Johannes Reuchlin, den Nestor der deutschen Hebraistik, richtete.32 Dieser Brief ist nicht nur der erste Hinweis auf seinen Gothaer Aufenthalt, sondern zeigt auch, wie Mutian sich bemühte, wieder in Deutschland Fuß zu fassen. Darin warb er nämlich in charakteristisch humanistischer Manier um die Freundschaft des bekannten Mannes, eines Gelehrten, der nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa eine große wissenschaftliche Reputation besaß. Nach einem überschwänglichen Lob für dessen gerade erschienene Ausgabe des Rabanus Maurus (um 780–856) bekannte er: Oft wollte ich schon mit Dir Freundschaft schließen. Das kann mein Bruder, der Kanzler des hessischen Landgrafen, bezeugen, das kann auch Trithemius, das kann auch der Hirsauer Mönch Nikolaus Basellius bezeugen. Immer fehlte es mir an einer Gelegenheit. Deine einzigartige Bildung und hochherzige Beredsamkeit und Dein unermüdliches Studium liebe, bewundere und preise ich. … Von Dir als einem sehr menschlichen Mann bitte ich nur, dass Du den Mutian, der Deinem Namen und Deiner Ehre zugetan ist, in den Kreis Deiner Freunde aufnimmst und, wenn Du Zeit hast, mir die Titel Deiner bisher veröffentlichten Bücher mitteilst. Leb wohl, Du Zierde der Literatur und Weisheit.33

Der Brief enthielt alle Elemente eines Freundschaftsantrages: den Hinweis auf bekannte Humanisten wie den allseits geschätzten Trithemius, die gewissermaßen als Zeuge seiner wissenschaftlichen Kompetenz dienen, die Versicherung der Gelehrsamkeit des Adressaten und die Bitte um Aufnahme in das Album der Freunde.34 Gleichzeitig begründete Mutian mit diesem Brief eine 19 Jahre dauernde Freundschaft der beiden Gelehrten, die allerdings nur durch sechs, über15 Jahre verteilte Briefe dokumentiert werden kann und die sich in der Reuchlin-Affäre bewähren sollte (vgl. Kap. IX).

32 GILLERT Nr. 1 (Mutian an Reuchlin, 1. Oktober 1503). Jetzt auch RBW, I, Nr. 127. Zu dem Verhältnis von Reuchlin und Mutian RÄDLE, Reuchlin und Mutianus Rufus, bes. 196 ff. 33 GILLERT Nr. 2 (Mutian an Reuchlin, 1. Oktober 1503), RBW, I, Nr. 127: „Saepe volebam auspicari tecum amicitiam. Testis germanus meus, principis Hassiae cancellarius, testis Tritthemius, testis Nicolaeus, Hirsaugiensis monachus. Semper mihi defuit occasio. Doctrinam enim singularem et generosam facundiam et infatigabile studium amplector, admiror, praedico. Brevi fore spero, … ut tantum ab humanitate tua peto, ut Mutianum tui nominis at honoris studiosum in album amicorum recipias et, si vacat, indica mihi nomina librorum, quos hactenus invulgaveris. Bene valeas, decus omnis literaturae ac sapientiae.“ 34 Vgl. dazu TREML, Humanistische Gemeinschaftsbildung, bes. S. 45–77 und TRUNZ, Der deutsche Späthumanismus.

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3.

Der Charakter des Mutian-Kreises

DER CHARAKTER DES MUTIAN-KREISES

Zunächst: Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Gesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts gab es keine Statuten, keine Mitgliederlisten, keine regelmäßig stattfindenden Treffen. Das galt natürlich auch für die besser erforschten, von Conrad Celtis angeregten Sodalitäten in Heidelberg, Wien, Augsburg, Ingolstadt und anderen Städten.35 Wichtig aber war, dass weder der Erfurter Humanistenkreis noch die von Celtis gegründeten Sodalitäten auf fürstliche, städtische, kirchliche oder päpstliche Initiative zurückgingen, sondern von einer außerhalb dieser Institutionen stehenden Person angeregt wurden. Dieses Fehlen einer institutionellen Verankerung hatte zwar einerseits den Vorteil, dass man sich vor Einmischungen seitens der Obrigkeit relativ sicher war, andererseits führte das Gebundensein an eine Person zu einer gewissen Kurzlebigkeit. Mit dem Tode oder Weggang des Gründers lösten sich meistens diese Kreise auf. Unbestritten ist aber, dass sich die seit etwa 1505 um Mutian scharenden Freunde als Mitglieder einer Gruppe fühlten, in der sich ein deutliches Gruppenbewusstsein entwickelte. Das ergibt sich schon aus dem von Mutian am häufigsten benutzten Begriff für diesen Zirkel. Es mag vielleicht überraschen, dass Mutian ganz selten das Wort sodalitas benutzte, ein bei den süddeutschen humanistischen Kreisen gängiger Begriff.36 Stattdessen bezog sich Mutian fast immer auf seinen ordo, wobei häufig das Possessivpronomen noster hinzufügte.37 Gele35 Literatur dazu: TREML, Humanistische Gemeinschaftsbildung, bes. S. 46–77 mit älterer Literatur. FÜSSEL/PIROŻYŃSKI (Hg.), Der polnische Humanismus und die europäischen Sodalitäten. Besonders die Aufsätze von WIEGAND, MÜLLER, BERNSTEIN. Vgl. auch GARBER/WISMANN (Hg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition, bes. die Aufsätze von Entner und Dickerhof. 36 Zum Beispiel die „sodalitas Rhenana“, „sodalitas Danubiana“, „sodalitas litteraria Angilostadensis“, „sodalitas litteraria Augustana“. Bei Mutian taucht der Begriff nur einmal auf: GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, gegen Ende Februar 1524): „nostra sodalitas“. 37 Wenn nicht anders angegeben, sind die Briefe von Mutian an Urban gerichtet, der Begriff „ordo“ wird im Nominativ zitiert: GILLERT Nr. 9: „ordo latinus“; Nr. 10: „ordo noster“; Nr. 23 (Mutian an Herebord von der Marthen): „noster ordo“; Nr. 58: „noster ordo“; Nr. 94: „decus ordinis latini“; Nr. 99: „totus ordo doctorum“; Nr. 108 (Mutian an Herebord von der Marthen): „noster ordo“; Nr. 112: „noster ordo“; Nr. 140 (Mutian an Herebord von der Marthen): „noster ordo“; Nr. 165 (Mutian an Petreius): „noster ordo“; Nr. 180 (Mutian an Joachim von Watt): „ordo latinus“; Nr. 181 (Mutian an Herebord von der Marthen und Petreius: „noster ordo“; Nr. 194: „ordo latinorum“; Nr. 202: „noster ordo“; Nr. 205: „noster ordo“; Nr. 228: „noster ordo“; Nr. 237 (Mutian an Musardus): „sanctissimus ordo“; Nr. 245 (Mutian an Petreius): „literarius ordo“; Nr. 290 (Mutian an Petreius): „ordo“; Nr. 293 (Mutian an Pyrrhus): „ordo literarius“; Nr. 350: „ordo noster“; Nr. 359 (Mutian an Gregor Agricola): „ordo literarum“; Nr. 452 (Mutian an Hessus): „noster ordo“; Nr. 518 (Mutian an Eobanus Hessus): „noster ordo“; Nr. 528: „noster

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gentlich benutzte er die Kombination ordo literarius, um auf das Interesse der Gruppe für antike Literatur hinzuweisen. Was bedeutete das Wort ordo? Im klassischen Latein – und für Mutian war dieses Idiom der Maßstab – hatte ordo eine Reihe von Bedeutungen. Es konnte sich auf einen Rang, auf eine Klasse oder eine soziale Stellung beziehen. Humanisten bildeten natürlich eine eigene soziale Gruppe. Diese Bedeutung wird nahegelegt, wenn er zum Beispiel Jakob Wimpfeling, einen älteren Humanisten im weit entfernten elsässischen Schlettstadt und sicherlich nicht zum Gothaer Kreis gehörend, als Mitglied des ordo latinus bezeichnete,38 oder wenn er Eitelwolf von Stein, den Mainzer Kanzler, zum humanistischen ordo gehörig zählte.39 In diesem Falle bezeichnete das Wort die Gemeinschaft aller deutschen Humanisten. In den meisten Fällen bezogen sich Mutian und seine Freunde jedoch auf ihren eigenen, viel engeren Zirkel. Sie dachten möglicherweise dabei an eine andere Bedeutungsvariante des Wortes ordo, denn dieser Begriff kann auch eine für die Schlacht aufgestellte Gruppe von Soldaten bedeuten, also eine Kompanie. Dies scheint die plausibelste Erklärung für die Wahl des Begriffs zu sein. Von Anbeginn sahen sich die Humanisten im metaphorischen Sinne als eine Gruppe umkämpfter und kämpfender geistiger Soldaten, die mindestens zu dieser Zeit zahlenmäßig ihren Gegnern unterlegen waren. Nahegelegt wird diese Interpretation auch durch die gelegentliche Verwendung von Begriffen wie cohors und centuria, beides Gattungsbezeichnungen für relativ kleine römische militärische Verbände.40 So sprach Mutian vereinzelt von nostra latinorum centuria, cohors literaria, nostra cohors, cohors

ordo“; Nr. 554 (Petreius an Mutian): „ordo noster“; Nr. 410 (Urbanus an Eobanus Hessus): „noster ordo“. Nr. 571 (Hessus an Mutian): „universus studiorum ordo“; Nr. 575 (Mutian an Johann Lang): „noster ordo“; Nr. 586 (Mutian an Beatus Rhenanus): „noster ordo.“ Das Wort „academia“, wie TREML behauptete, verwendete Mutian aber nicht (Humanistische Gemeinschaftsbildung, S. 66). In seinem Bemühen um Synonyme benutzte Mutian gelegentlich andere Ausdrücke wie „societas coniunctioque nostra“ (Nr. 119), „conlegium nostrum“ oder „latini classis imperator“, als welchen er seinen Freund Petreius bezeichnet (GILLERT Nr. 296) oder wenn er von von der „tribus nostra“ (GILLERT Nr. 247) sprach 38 GILLERT Nr. 9 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „autor ipse latini ordinis dulce decus et praesidium.“ 39 GILLERT Nr. 518 (Mutian an Eobanus Hessus, Anfang Juli 1515). Vgl. dazu auch MÜLLER, Habitus, S. 345: „Der ‚ordo‘-Begriff ist bei Mutian und seinen Schülern vor allem mit der eigenen durch sprachliche und inhaltliche Vorlieben konstituierten Gemeinschaft verbunden. Er überspannt andere soziale Zugehörigkeiten, selbst die zu religiösen Orden.“ 40 Eine cohors umfasste etwa 500 Soldaten, eine centuria, also eigentlich eine Hundertschaft, 80.

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nostra.41 Auszuschließen ist schließlich nicht, dass der religiöse Begriff als ordo, also als Orden im Sinne einer mönchischen Gemeinschaft, mitschwang, etwa, wenn er die Zisterzienser und Benediktiner als Mitglieder eines ordo bezeichnete.42 Der mutianische Freundeskreis quasi als säkularisierter Orden – auch diese Bedeutung muss man bedenken.

4.

Wer gehörte zu dem Kreis?

WER GEHÖRTE ZUM KREIS?

Der lockere Charakter der Gruppe erschwert die genaue Zuordnung einzelner Humanisten zu diesem Kreis, in dem auch durch „Ab- und Zugänge“ über fast zwei Jahrzehnte eine gewisse Fluktuation herrschte. Einig ist man sich lediglich, dass es einen Kern gab, um den sich ein zweiter Kreis von Männern lagerte, die in lockerer Verbindung zu Mutian standen. Die unterschiedlichen von Forschern zusammengestellten Listen zeigen, dass es aber keinen Konsens darüber gibt, wer zu diesem erweiterten Kreis zu rechnen ist.43 Darf man jemanden, mit 41 GILLERT Nr. 91 (Mutian an Urban, 1505–1509); GILLERT Nr. 305 (Mutian an Herebord von der Marthen, 27. August 1513); GILLERT Nr. 342 (Mutian an Justus Jonas, 1513?); GILLERT Nr. 359 (Mutian an Gregor Agricola, 5. April 1514); GILLERT Nr. 372 (Mutian an Urban, Mai 1514); GILLERT Nr. 410 (Mutian an Urban, 8. August 1514). 42 In GILLERT Nr. 42 (Mutian an Urban) und GILLERT Nr. 247 (Mutian an Urban, März 1513) bezieht sich das „ecclesiasticus ordo“ auf die Benediktiner; in GILLERT Nr. 75 (Mutian an Urban) und GILLERT Nr. 277 (Mutian an Urban, Mitte 1513) auf die Zisterzienser. 43 So bestand er nach ABE (Der Erfurter Humanismus, S. 201 ff.) aus folgenden 15 Männern: Heinrich Urban, Georg Spalatin, Herebord von der Marthen, Hermann Trebelius, Eobanus Hessus, Ulrich von Hutten, Heinrich Apollo, Johann Roth, Justus Jonas, Ludwig Londergut, Heinrich Eberbach, Peter Eberbach, Euricius Cordus und Crotus Rubeanus. KRAPP (Der Erfurter Humanistenkreis, S. 80) unterschied einen Kern, zu dem Urban, Spalatin, Herebord von der Marthen, Peter und Heinrich Eberbach, Johannes Lang und Crotus Rubeanus gehörten und einem weniger engen Kreis, zu dem er Ludwig Londergut, Johannes Roth, Hermann Trebellius, Tileman von Conradi und Euricius Cordus zählte. KLEINEIDAM (Universitas Studii Erffordensis, S. 179) ordnete diesem „radikalen Flügel des Humanismus“ folgende Männer zu: Crotus Rubeanus, Heinrich Urbanus, Spalatin, Heinrich und Peter Eberbach, Eobanus Hessus, Euricius Cordus Ulrich von Hutten, Herebord von der Marthen, später seit 1515 Johann Lang, Justus Jonas, Euricius Cordus, Johannes Draco, Justus Menius, Adam Krafft und Joachim Camerarius. GILLERT (Der Briefwechsel, S. XXXIX) erstellte eine Liste von 24 Männern, die alle zu verschiedenen Zeiten dem mutianischen Kreis zuzuordnen seien. KRAUSE (Der Briefwechsel, S. X) schließlich nannte Spalatin, Urbanus, Petreius, Herebord von Marthen, Johannes Jäger (Crotus Rubeanus), Ulrich von Hutten, Hermann Trebellius, Musardus, Euricius Cordus und Tiloninus. Seit 1515 hätte sich dann ein zweiter Kreis gebildet, dem Justus Menius,

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dem Mutian einmal einen freundlichen Brief austauschte, schon zu seinem Kreis rechnen? Darf man einen Gelehrten wie Joachim Camerarius (1500–1574), der, als sich der Kreis 1505 zu bilden begann, ein 5-jähriger Knabe war und erst viel später sporadischen Kontakt zu Mutian hatte, überhaupt vergleichen mit einem Urban, mit dem Mutian zu bestimmten Zeiten fast täglich Briefe austauschte? Einen Konsens gibt es jedoch in der Frage, wer zu dem Kern gehörte, um den sich „eine zweite Garnitur“ lagerte.44 Zu dieser Kerntruppe gehörten Georg Spalatin, Heinrich Urbanus, Peter Eberbach, Herebord von der Marthen, Crotus Rubeanus, Eobanus Hessus und später Johannes Lange. Dazu kommt noch Ulrich von Hutten, der zwar zu Mutian nur wenig Kontakt hatte, mit den beiden Personen des inneren Mutian-Kreises, Hessus und Crotus, aber intensive Verbindungen pflegte. Welche Liste man auch ansieht, es fällt auf, dass es sich um eine höchst heterogene Gruppe handelte, was sowohl die geographische und soziale Herkunft als auch die berufliche Orientierung anging. Unterscheidet man die Mitglieder des mutianischen Kreises nach ihrer landsmannschaftlichen Herkunft, so ergibt sich folgendes Bild. Drei kamen aus Hessen: Urban, Hessus und Mutian selbst; vier waren Thüringer (Crotus Rubeanus, Hermann Trebelius, Johannes Lange und Justus Jonas); drei kamen ursprünglich aus Schwaben (Peter und Heinrich Eberbach) und vier aus Franken (Ludwig Londergut, Georg Spalatin und Ulrich von Hutten). Die Aufzählung könnte den Eindruck vermitteln, dass es sich um ein über Deutschland verbreitetes Netzwerk handelte. Das ist sicherlich nicht der Fall; denn alle außer Hutten, der sich nur kurze Zeit in Erfurt aufhielt, studierten in Erfurt oder waren längere Zeit in dieser Stadt oder deren Nähe tätig. Der literarische Austausch spielte sich im Wesentlichen in einem sehr eng begrenzten geographischen Raum ab. Zur unterschiedlichen regionalen Herkunft kam noch die berufständische Vielfalt: Urban war Mönch und Oekonomus seines Klosters, Spalatin war zunächst Klosterlehrer, später Geistlicher, Fürstenerzieher und Diplomat, Herebord von der Marthen war praktizierender Jurist, Hessus war Dichter, Lehrer und Universitätsdozent; Crotus Rubeanus Priester, Lehrer und Theologe, Euricius Cordus Dichter, Botaniker und Arzt und Peter Eberbach Jurist, ohne diesen Beruf allerdings auszuüben.

Justus Jonas, Adam Crafft, Joachim Camerarius, Johann Draco und Johann Lang angehörten. 44 Wie KRAPP diese Gruppe nannte (Der Erfurter Humanistenkreis, S. 90).

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Noch bezeichnender sind die Unterschiede in der geburtsständischen Herkunft.45 Mutian selbst stammte aus einer städtischen Patrizierfamilie, Herebord von der Marthen gehörte zum Erfurter Stadtadel, Heinrich und Peter Eberbach entstammten ebenfalls Patrizierfamilien, Crotus Rubeanus, Eobanus Hessus und Euricius Cordus hatten Bauern als Eltern; Urbanus, Justus Jonas, Georg Spalatin und Johannes Lange kamen aus bürgerlichen Verhältnissen. Ulrich von Huttens Familie schließlich gehörte zum reichsritterlichen Adel. Die unterschiedliche soziale Herkunft weist darauf hin, dass sich die neue Bildungsbewegung aus den verschiedensten sozialen Schichten rekrutierte – eine für die stark ständisch gegliederte Gesellschaft bedeutsame Tatsache. Nicht die Geburt, sondern die Leistung sollte jetzt den Ausschlag geben. Auch hier rekurrierte Mutian auf die römische Gedankenwelt, wenn er argumentierte: In der römischen Republik gab es die Emporkömmlinge Marius und Cicero. Dem Heerführer Marius [ca. 156–86 v. Chr.] werden wenige verglichen, mit Ciceros Eloquenz kann es niemand aufnehmen. Es genügt nicht, an einem berühmten Ort geboren zu werden, die Leistung zeichnet einen aus. Wie viele gibt es, die von berühmten Eltern geboren werden, dann ihrer Abkunft unwürdig wurden?46

Aus diesem Grunde sprach sich Mutian zum Beispiel auch für ein Wahlkönigtum aus und plädierte für eine Meritokratie (ohne diesen Begriff zu gebrauchen), wie sie moderne Gesellschaften zu verwirklichen suchen.47 Wahrer Adel wird nicht vererbt, sondern muss erworben werden, wie zahlreiche humanistische Schriften, u.a.die von Eobanus Hessus verfasste De vera nobilitate aus dem Jahre 1515 immer wieder betonten.48 Eine Hierarchie innerhalb der mutianischen Gruppe aufgrund der sozialen Herkunft gab es nicht, obwohl in Einzelfällen vorhandene Charaktereigenschaften durch eine höhere soziale Herkunft verstärkt werden konnten. So könnte man das an Arroganz grenzende Selbstbewusstsein Herebords von der Marthen als Zeichen seiner patrizischen Herkunft deuten, während der aus dem Handwerkermilieu stammende Spalatin zeitlebens ein bescheidener Mann blieb. 45 Vgl. dazu den wichtigen Artikel von STIEVERMANN, Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten. 46 GILLERT Nr. 168 (Mutian an Herbord von der Marthen, 1510): „Novi homines Marius et Cicero fuerunt in Romana republica. Atqui Mario, copiarum duci, pauci comparantur, Ciceroni nemo eloquentia respondet. Non satis est nasci claro loco, virtus illustrat. Quot sunt, qui ex claris parentibus nati degenerarunt?“ 47 GILLERT Nr. 168 (Mutian an Herebord): „Meliores essent reges, si eos electio faceret.“ Vgl auch TREML, Humanistische Gemeinschaftsbildungen, S. 4: „Inmitten der noch fest gefügten geburtständisch geordneten Gesellschaft stellten die Humanisten eine Gemeinschaft dar, die sich durch Kompetenzerwerb und Leistung definierte, ein auf künftige Strukturierung moderner Gesellschaften vorausweisendes Element.“ 48 VD 16, E 1559.

MUTIAN – UNANGEFOCHTENES HAUPT DES GOTHAER KREISES

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Zwingend ist das nicht. Beispiele, wie niedrige soziale Herkunft durch forsches und selbstbewusstes Auftreten kompensiert wurde, gab es genug. Weder dem Winzersohn Conrad Pickel, alias Conradus Protucius Celtis, noch dem Bauernsohn Eoban Koch, alias Helius Eobanus Hessus, mangelte es an IchBewusstsein. Hessus persiflierte die ständische Ordnung in seinem späteren Freundschaftskreis in Erfurt, indem er sich selbst als König, seine Frau als Königin, die Freunde als Herzöge, seine Kinder als Prinzen und Prinzessinnen stilisierte. Das Bewusstsein, einer meritokratischen Bildungselite anzugehören (oder angehören zu wollen), drückte sich auch in der fantasievollen Latinisierung und Gräzisierung der Namen aus, denn Familiennamen wie Müller, Koch, Fischer oder Pickel verwiesen deutlich auf Zugehörigkeit zu einer niederen sozialen Schicht. Mit der Annahme eines neuen Namens wollte der Namensträger einerseits seine eigene niedere Herkunft verschleiern49 und andererseits die Zugehörigkeit zu einer elitären Gruppe signalisieren. Wie der Mönch beim Eintritt in den Orden einen neuen Namen erhielt, so legte man sich als Humanist als Zeichen der Neugeburt einen neuen Namen zu. Beispiele dafür gibt es genug. So wurde aus Köpfel Capito, aus Hausschein Oekolampadius, aus Fischer Piscator, aus Müller Molitor, aus Kürschner Pellicanus, aus Spiesheimer Cuspinianus und aus Schreier Clamosus. Gelegentlich nannten sich die Humanisten auch nach ihrem Geburtsort. So änderte Georg Burckhardt aus dem fränkischen Spalt seinen Namen in Spalatinus; Heinrich Fastnacht aus dem hessischen Orb wurde Urbanus und Beat Bild aus Rheinau im Elsass verwandelte sich in einen Beatus Rhenanus. Mutianus selbst hatte seinen Geburtsnamen Muth bereits in Italien eher schlicht in Mutianus geändert.

5.

Mutian – unangefochtenes Haupt des Gothaer Kreises

MUTIAN – UNANGEFOCHTENES HAUPT DES GOTHAER KREISES

Unterschiedliche soziale Herkunft in einer noch immer stark ständisch gegliederten Gesellschaft, unterschiedliche landsmannschaftliche Provenienz in einem Land mit ausgeprägten regionalen Unterschieden und schließlich das Eingebundensein in ganz heterogene Berufe – das alles barg ein beträchtliches Konfliktpotenzial. Dass es in dem Kreis nicht zu größeren Konflikten kam, verdankte die Gruppe Mutian. Es war der Gothaer Kanoniker, der Anführer dieser 49 Vgl. dazu KRAMM, Besitzschichten und Bildungsschichten, S. 469: „… sodaß der Namensträger, wie es zumeist geschieht, anderwärts gleichsam als Unbekannter auftaucht, nicht abgestempelt wird durch das alte Milieu, neu beginnt und sich gewissermaßen erleichtert den Aufstieg zu ebnen versucht.“ Vgl. außerdem BERNSTEIN, Group Identity Formation, S. 381 f.

VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

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literarischen Kohorte, ductor cohortis literariae, wie ihn Urban einmal nannte,50 der als unangefochtenes Haupt des Kreises galt.51 Er nahm seine meist jüngeren „Schüler“ unter seine Fittiche, moderierte Konflikte zwischen ihnen und versuchte, sie für die damals noch „brotlose Kunst“ der studia humanitatis zu begeistern. Diese Faszination für die Antike seinen Freunden zu vermitteln, betrachtete er als seine Lebensaufgabe. Eintritt in den ordo literarius setzte also Liebe zu den römischen und griechischen Schriftstellern voraus, weshalb in den Begrüßungsformeln und in den Brieftexten häufig auf die besondere Neigung des Adressaten für die Antike hingewiesen wurde.52 Bedingung zu dem Zugang zum mutianischen Kreis war neben der Integrität deshalb in erster Linie die Bildung. Niemand war, ist und wird ein Freund Mutians sein, es sei denn er ist rechtschaffen, integer und vor allem gebildet, stellte er kategorisch fest.53 „Barbaren“ brauchten sich nicht zu bewerben.

6.

Mutians Antike-Verständnis

MUTIANS ANTIKE-VERSTÄNDNIS

Wie viele andere Humanisten vor ihm empfand Mutian die Wiederentdeckung der Antike als eine Wiedergeburt, also eine Entdeckung einer Periode, die mehr als tausend Jahre im Verborgenen gewesen, jetzt aber, in der Gegenwart, wieder erstanden sei.54 Da man nun durch die Güte der Götter die Früchte des Altertums wiedergefunden habe, warum solle man noch Eicheln sammeln?55 Aufgabe sei es nun, die griechische und lateinische Literatur vom Schimmel und Schmutz zu 50 GILLERT Nr. 258a (Urban an Hartmann von Kirchberg, 22. Mai 1513). 51 SCRIBNER, The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt, S. 8: „The Mutian circle had all the features of a personality cult.“ 52 Beispiele: GILLERT Nr. 115, wo Mutian Herebord von der Marthen „emulator veterum et cultor latinitatis“ nannte. Denselben Freund nannte er in einem anderen Brief „amantissimus vetustatis“. In einem Brief an Eobanus Hessus sprach Mutian von dessen „amor vetustatis“; in GILLERT Nr. 80 sprach er von ihm als einen „amator antiquitatis“; in GILLERT Nr. 60 benutzte er die Formel „studiosus vetustatis“; in GILLERT Nr. 140 sprach er von „linguae Romanae consultus“; in GILLERT Nr. 186 nannte er Musardus „latinis literis addicto.“ Umgekehrt bezeichnet Spalatin Mutian als „totius antiquitatis consultissimus“ (GILLERT Nr. 641). 53 GILLERT Nr. 29 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „Nemo enim Mutiano amicus unquam fuit aut est aut erit, nisi rectus et integer et apprime doctus.“ 54 GILLERT Nr. 52 (Brief an Herebord von der Marthen, 1. Mai 1507): „… ut intelligas optimam discendi rationem latuisse supra mille annos et eo amplius.“ GILLERT Nr. 285 (Mutian an Urban, gegen Mitte des Jahres 1513): „nuper isthic nata elegantia.“ 55 GILLERT Nr. 296 (Mutian an Herebord von der Marthen, 13. August 1513): „Nam frugibus deorum benignitate repertis cur glandes legamus?“

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befreien.56 Bedeutende Wissenschaftler wie Stapulensis [Jacques Lefèvre d’Etaples], Budaeus [Guillaume Budé], Erasmus von Rotterdam, Johannes Reuchlin und Zenobius [Acciaoli] hätten sich in diesem Bemühen schon große Verdienste um die griechische und hebräische Literatur erworben,57 und die res latinae, die römische Gedankenwelt, in unserem Jahrhundert vor dem Untergang, Verlust und Vernichtungskampf der Barbaren bewahrt.58 Der Begriff „Antike“ deckte für Mutian ein breites Spektrum von Kulturepochen ab; denn er umfasste nicht nur die heidnischen griechischen und römischen Autoren, sondern auch die christlichen Kirchenväter und die Bibel. Die griechische Literatur kann ich nicht genug loben. Sie ist so göttlich, dass zugegebenerweise jedes Lob unangemessen ist.59 So ermahnte er nicht nur seine Freunde immer wieder, sich dem Griechischstudium zu widmen, sondern ermunterte auch Urban, sein Leipziger „Exil“ dafür zu nutzen, und dem nach Wien aufbrechenden Petreius ließ er ausrichten, dass er die in Wien blühende griechische Literatur studieren solle.60 Er selbst räumte allerdings gegenüber Beatus Rhenanus ein, dass er sich mehr des Griechischen erfreue, als dass er es selber gebrauche.61 Auf seine Lesefähigkeit griechischer Texte deuten die zahlreichen Zitate griechischer Autoren in seinen Briefen. Unter anderem bezog er sich auf Aratos, Herodot, Hesiod, Homer, Lukian, Platon, Plutarch, Porphyrios, Strabo, Theokrit. Sein Renommee als Gräzist muss immerhin groß genug gewesen sein, dass Friedrich der Weise ihn bei der Anschaffung griechischer Bücher konsultierte. Stolz wies Mutian später darauf hin.62 Mutians Kenntnisse in der griechischen Literatur verblassen aber im Vergleich zu seiner stupenden Belesenheit in der römischen Literatur. Neben den 56 GILLERT Nr. 280 (Mutian an Urban, Mitte des Jahres 1513): „graecae latinaeque literae a situ et squalore vindicarentur.“ 57 GILLERT Nr. 296 (Mutian an Herebord von der Marthen, 13. August 1513): „Stapulensis, Budaeus, Erasmus, Reuchlin, Zenobius, ceteri cottidie castigant … vel hebraicam graecamque disciplinam emendant et proferunt in lucem.“ 58 GILLERT Nr. 62 (Mutian an Herebord von der Marthen, 18. März 1506–1508): „Res latina, quam prudentissimi nostro saeculo ab interitu, clade, ruina et internecivo barbarorum odio vindicarunt.“ 59 GILLERT Nr. 124 (Mutian an Urban, um Ostern 1509): „Graecam vero literaturam laudare satis non possum, neque aliter laudari res tam divina potest, nisi ut omnem illi laudem esse imparem fateamur.“ 60 GILLERT Nr. 171(Mutian an Urban, erste Hälfte August 1510, S. 244): „Illud a te peto, ut scribas ad Petreium nostrum hortando ad capessendam graecam literaturam, quae vigere apud Vinenses dicitur.“ 61 GILLERT Nr. 586 (Mutianus an Beatus Rhenanus, 11. August 1519): „Graecis [auctoribus] magis delector quam utor.“ 62 GILLERT Nr. 285(Mutian an Urban, gegen Mitte des Jahres 1513): „Meo consilio factum est, ut illustrissimus Fridericus graecam comparaverit bibliothecam.“

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kanonischen Autoren wie Cicero, Horaz, Gellius, Iuvenal, Livius, Martial, Ovid, Plautus, Plinius dem Jüngeren und dem Älteren, Quintilian, Seneca, Sueton, Terenz, Tibull, Valerius Maximus und Vergil finden sich in seinen Briefen auch Zitate aus oder Verweisungen auf Apuleius, Ausonius, Cato, Celsus, Curtius, Ennius, Hirtius, Flavius Josephus, Lucan, Lukrez, Pomponius Mela, Macrobius, Manilius, Cornelius Nepos, Properz, Sallust, Silius Italicus, Statius, Tacitus, Ulpianus und Vegetius. Als dritte Quelle tritt noch die christliche Antike hinzu, also die Kirchenväter, die veteres theologi, wie er sie gelegentlich nannte.63 Hier sind neben Augustinus, Hieronymus, dem Lieblingskirchenvater der Humanisten,64 Ambrosius, Cyprian, Hilarius von Poitiers, Laktanz und Origenes zu nennen. Dazu kam noch eine profunde Kenntnis der Bibel, wobei es ihm besonders die Sprüche Salamonis und der Psalter des Alten Testaments, das MatthäusEvangelium und die paulinischen Briefe an die Korinther angetan hatten. Für das Neue Testament setzt er die graeca veritas,65 für das Studium der Psalmen die Kenntnis der hebraicae literae voraus.66 Über diesen reichen Fundus verfügte Mutian souverän in seinen Briefen. Seinen Freunden teilte er interessante Realia mit, so zum Beispiel Herebord von der Marthen, dem er in ausführlichen Briefen militärische Ausdrücke, antike Spiele und ausgefallene Begriffe erklärte,67 Valentin von Sunthausen, den er an die römischen Saturnalien erinnerte.68 Es seien Tage, an denen die römischen Matronen mit sehr prächtigen Gastmählern die Sklaven bewirten und somit sich ihrer Loyalität für das folgende Jahr versicherten: Wenn nicht die Fastenzeit und der Dünkel der Theologen dies ausgelöscht hätten, würden die Gatten und Ehefrauen nach römischer Sitte jedes Jahr feiern und, obwohl der Kaiser die Sklaven der früheren Zeit und die Sklaverei zu einem guten Teil abgeschafft hat, würden wir unseren Hausangestellten Geschenke geben und uns mit ihnen freuen.69

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GILLERT Nr. 590 (Mutian an Johannes Lange, 24. Mai 1520). HAMM, Hieronymus-Begeisterung und Augustinismus vor der Reformation. GILLERT Nr. 628 (Mutian an Eobanus Hessus, 12. September 1525). In GILLERT Nr. 393 (Mutian an Urban, 30. Juni 1514) verweist er auf den hebräischen Urtext, zitiert ihn aber in der lateinischen Hieronymus-Ausgabe: „Hebraica interpretatio teste Hieronymo habet. Vana est enim salus ab homine.“ 67 GILLERT Nr. 145 (Mutian an Herebord von der Marthen, nach dem 19. August 1509). 68 GILLERT Nr. 473 (Mutian an Valentin von Sunthausen, 1. März 1515): „Dies antiqui Romanorum gaudii merito celebris et observandus.“ 69 GILLERT Nr. 473 (Mutian an Valentin von Sunthausen): „Hodie sunt … Calendae Martiae, dies voluptarius et genialis, dies antiqui Romanorum gaudii merito celebris et observandus. Nam hodie matronae convictu apparatissimo servos accipiebant.. Causam reddit Macrobius, ut videlicet initio anni – erat enim Martius primus mensis apud veteres – matronae beneficio et largitate servos sibi in annum secuturum obligarent haberentque obsequentissimos. … Quam nisi esuriales feriae et theologorum supercilium obliterarent,

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Die Beschäftigung mit den Werken der Antike sei ein Spiel und biete Entspannung,70 bekannte er gegenüber einem Freund. Deshalb erfreute ihn nichts so sehr wie eine Büchersendung, da sie ihm Stunden angenehmster Lektüre versprach. Daneben trat noch die therapeutische Funktion der Lektüre: Antike Schriften [er bezieht sich hier in erster Linie auf philosophische, im Gegensatz zu theologischen Schriften] heilen seelische Krankheiten.71 Seinen Freund Herebord von der Marthen ermunterte er: Dich aber sollen die geheimen und verborgenen Wissenschaften von der Trauer zur Freude zurückrufen, um dann fortzufahren: In angenehmen Stunden bereiten sie ästhetische Freude, in schwierigen und finsteren Stunden spenden sie den größten Trost. Jene werden zeigen, dass man nicht trauern muss, weil ein betrübtes Gemüt, wie Salomon sagt, das Gebein verdorren und den Körper abmagern, dahinsiechen und altern lässt.72

Als Mutian während eines geselligen Beisammenseins vom Tode des Eitelwolf von Stein, eines großen Mäzens der Humanisten, erfuhr, stürzte er sich in das innere Sanctum seines Hauses, in die im oberen Stockwerk seines Hauses gelegene Bibliothek, unicum vitae levamen, – einzigartiger Lebenstrost, und verschwand darin, einen Martialvers auf den Lippen.73 Lektüre der Alten als Trauerbewältigung. Aber die Beschäftigung mit der heidnischen und christlichen Antike bereitete nicht nur ästhetisches Vergnügen und spendete Trost, sondern stellte auch Normen und Verhaltensmuster für die eigene Lebensführung bereit. Diese beiden Seiten, ästhetisches Vergnügen und Bereitstellung neuer Verhaltensnormen, fand er beispielsweise bei dem Kirchenvater Ambrosius: Deshalb pflegt mich die allerheiligste Lektüre nicht nur zu erfreuen, sondern auch zu belehren und mich durch treffliche Lehren zu bilden, sodass ich alle meine Gedanken, alle meine Entschlüsse auf diesen einen Lehrer

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mariti et uxores Romano ritu [verbessert aus GILLERTs citu] colerent quotannis et quamvis imperator priscorum servos et servitutes ex bona parte submovit, daremus tamen munera domesticis et una laetaremur.“ GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen, gegen Ende November 1508): „ludus et laxamenta“. GILLERT Nr. 594 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520): „… morbos animi sanant“ (S. 269). GILLERT Nr. 158 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Te vero interiores et reconditae literae revocent a maerore ad gaudium. Illae sunt sicut in secundis ornamento ita in duris, in adversis, in tenebricosis solatio maximo. Illae monstrabunt non esse dolendum, quod spiritus tristis, ut inquit Solomon, ossa exsiccat, corpus sic conficiat, ut macescat, tabescat, senescat.“ Er bezog sich hier auf Salomon 147, 22. Der Spruch lautet in Luthers Übersetzung von 1534: „Ein frölich hertz macht das leben lustig/ Aber ein betrübter mut vertrocknet das gebeine.“ GILLERT Nr. 518: (Mutian an Eoban Hessus, Anfang Juli 1515): „Statim surrexi et recepi me in librariam, unicum vitae levamen. Dixi ad limen: ‚Vive velut rapto fugitivaque gaudia carpe‘.“[Martial, VII.47.11]

VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

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meines Glückes zurückführe.74 Für Mutian ist die Antike eine nachahmenswerte Autorität nicht nur in sprachlicher, sondern auch in ethischer Hinsicht.

7.

Methoden der Aneignung

METHODEN DER ANEIGNUNG

Wie eignet man sich diese Antike an, sodass sie Teil des eigenen Ich wird? Welche Schritte sind notwendig? In welcher Reihenfolge sollen sie erfolgen? Für die Menschen des 16. Jahrhunderts war Latein ebenso wenig wie für uns eine Muttersprache, sondern eine Zweitsprache, deren passive und aktive Beherrschung die Schüler mühsam erlernen mussten.75 Mutian empfahl drei Schritte, die idealerweise nebeneinander erfolgen sollten: Parallel zur intensiven Lektüre und dem aufmerksamen Zuhören sollten die Lernenden gezielt exzerpieren. Um aber die Sprache der Römer wirklich zu beherrschen, sollte man sie bewusst einsetzen, also selber schreiben und sprechen. Am Anfang jeder Beschäftigung mit der Antike stand die fleißige und kontinuierliche Lektüre der Alten, legendo proficere, sich durch Lesen vollenden.76 Dem jungen aufstrebenden Dichter Eoban Hessus legte er nahe, er solle sich die besten Autoren beider Sprachen, Latein und Griechisch, durch wiederholte Lektüre so aneignen, dass er sie „aus dem Effeff beherrsche“.77 Denn wir können nicht gut schreiben, wenn wir nicht vorher viel und das Richtige gelesen haben, denn der Stil folge der Lektüre, riet Mutian einem anderen Studenten.78 Bloßes passives Aufsaugen des Gelesenen führt aber noch nicht zu einem guten Stil. Als zweiten Schritt fordert Mutian deshalb das kluge, gezielte Exzerpieren von Texten: Ich möchte, 74 GILLERT Nr. 84 (Mutian an Urban, 1505–1508): „Itaque librorum eius [bezieht sich auf Ambrosius] sanctissima lectio non magis me delectare quam instruere solet atque ita praeceptis melioribus formare, ut omnes cogitatus meos, omnia consilia et facta huic uni felicitatis atque beatitudinis magistro accepta referam.“ 75 Wie mühsam der lateinische Spracherwerb war, zeigt der von Walther Ludwig herausgegebene Briefwechsel „Vater und Sohn im 16. Jahrhundert.“ Vgl. auch BERNSTEIN, Group Identity Formation in the German Renaissance. The Function of Latin, bes. S. 383 ff. 76 GILLERT Nr. 71 (Mutian an Urban, kurz vor dem 4. Juli 1508): „Bonos libros Herebordi beneficentia consecuti sumus. Eos ad Spalatinum nostrum mittam, ut pariter legendo proficiatis.“ 77 GILLERT Nr. 80 (Mutian an Eobanus Hessus, 27. August 1506–1508): „Quo magis, mi adolescens, gaudere debes iudicio meo dareque operam, ut utriusque linguae praestantissimos auctores varia tibi multiplicique lectione vel digitis tuis notiores efficias.“ Eigentlich „bis zu den Fingerspitzen“ beherrschen. Interessanterweise benutzt die englische Sprache dasselbe Bild: „To have something at one’s fingertips.“ 78 GILLERT Nr. 630 (Mutian an einen Unbekannten, unbekanntes Datum): „Bene enim scribere non possumus, nisi multa et idonea lectio processerit. … Stylus interim lectioni succedat. Crebro legendum esse praecipio.“

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dass Du nach bestimmten Regeln exzerpierst, nicht unsystematisch, ermahnte er Herebord von der Marthen. Auf diese Weise wirst Du das Gelesene besser behalten, denn richtige und auf das Wesentliche beschränkte Anmerkungen haften leichter im Gedächtnis.79 Es folgten konkreteVorschläge, nach welchen Kategorien er die Exzerpte arrangieren und ordnen soll. Um sich aber die Antike wirklich anzueignen, ist es notwendig, selbst Texte zu produzieren,80 wobei man sich guten Gewissens der vorher exzerpierten Formulierungen bedienen kann. Da es in der Renaissancepoetik nicht auf Originalität, sondern auf produktives Besitzergreifen von bereits Vorhandenem ankam, muss man sich bei der Beurteilung neulateinischer Texte von Ideen freimachen, wie sie seit der Goethezeit geläufig sind, nämlich dass ein Werk originell sein muss. In Mutians Ratschlägen an seine „Schüler“ findet sich deshalb oft das Bild der produktiven geistigen Plünderung, des intellektuellen Diebstahls. Diese Deine Versuche, mahnte er zum Beispiel Herebord von der Marthen, stellen also keine Arbeit dar, sondern ein Spiel und eine Entspannung, denn nichts ist angenehmer als auf diese Weise zu plündern und zu stehlen. Oh, ihr vortrefflichen Diebstähle!81 Das Bild der Plünderung spann Mutian weiter, wenn er sagte: Deshalb wirst Du heimlich Fremdes stehlen und aus dem gesammelten Material Dir ein Kleid aus der Wolle der Alten, Wein aus den Trauben der Historiker und Brot aus dem Getreide der Antike fertigen.82 „Plündern“ ist also keineswegs etwas Ehrenrühriges, worauf Mutian in einer Besprechung eines Versepos des Philippus Gualtherus de Castellione,83 der sich großzügig fremder Verse bedient hatte, ausdrücklich hinwies. Das verzeihen wir ihm, räumte Mutian ein, denn es ist keineswegs schädlich, Wörter und sogar ganze Sätze von großen Autoren zu borgen. Das machte Vergil, das macht sogar der heilige Dichter Baptista Mantuanus.84 Die produktive Anverwandlung der für vorbildlich gehaltenen lateinischen Autoren, die imitatio, war also ein leitendes Prinzip der Renaissancepoetik. Veranschaulicht wurde diese Methode durch das seit Petrarca immer wieder zitierte 79 GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen, gegen Ende November 1508, S. 157): „Ad normam velim excerpas, non confuse. Sic memoriam facies tenatiorem. Nam annotationes rectae demensaeque tenacius haerent.“ 80 GILLERT Nr. 115, S. 158: „Nemo insignis doctor, nisi qui olim audiendo, legendo, scribendo profecerit. (Meine Unterstreichung) 81 GILLERT Nr. 115, S. 158: „Erit autem conatus hic tuus non labor, sed ludus et laxamentum, cum nihil iucundius sit quam expilare et furari isto modo. O furta egregia!“ 82 GILLERT Nr. 115, S. 158: „Itaque suppilabis aliena et comparata rerum et verborum supellectile tibi facies vestem ex lana priscorum, vinum ex racemis historicorum, panem ex frumento vetustatis.“ 83 Der französösische Dichter lebte von 1135 bis 1201. 84 GILLERT Nr. 211 (Mutian an Petreius, 8. September 1512): „Praeterea libenter adoptat sibi versus alienos, quasi liceat expilare priores libera fronte. Sed hac in parte veniam damus. Non est enim turpe mutuari verba et sententias a magnis scriptoribus. Fecit hoc Vergilius, facit idem sanctus poeta Ioannes Baptista.“

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Bienengleichnis.85 Wie die Bienen sich nur die besten Blüten auswählen und daraus etwas qualitativ Neues, nämlich Honig und Wachs, machen, so suchen sich die neulateinischen Dichter aus der Fülle der antiken dichterischen „Blüten“ das Beste für ihre eigenen literarischen Neuschöpfungen.86 Allerdings bestünde bei diesem Verfahren immer die Gefahr des bloßen Nachäffens, der cacozelia, warnte Mutian in einer Besprechung des Stils des Tilonin Conradi, eines damals bekannten Dichters, dem wir noch später im Rahmen des Erfurter Poetenstreites begegnen werden (Kap. VII.7).87 Ebenso bezeichnete er in einem Brief von fast schon brutaler Offenheit an einen Unbekannten dessen poetische Ergüsse als kindisch und barbarisch, (puerile et barbarum), die nach dem Schwamm verlangen. Seine Plünderung lasse einem wie eine schmutzige Serviette die Nase rümpfen, wie Horaz gesagt habe. Denn es zeigt weder von Begabung noch Literaturkenntnis, wenn man Fremdes einfach zusammenstellt.88 Einen schlechten Koch, der die schon übel riechenden Reste immer wieder auftrage, könne er nicht ausstehen, vertraute er Urban an: Solche Speisereste erzürnen jeden Leser mit Geschmack.89 Als Mutian, der als inoffizieller Literaturkritiker bei den Erfurter Poeten großes Ansehen genoss – eine Rolle, die er selbst stets zurückwies90 – einmal von drei ihn besuchenden Poeten um seine kritische Meinung gebeten wurde, urteilte er anschließend: Wer von diesen drei der großmäuligste war, kann ich mit Worten kaum ausdrücken. Der eine ist ein elender Dieb und Ovid-Plagiator, der zweite ein Schwätzer, der dritte ein armer Wurm so blöden Gemütes, dass er sagt, niemand verstehe ihn – außer er sich selbst. Alle drei sind Nachäffer und gleichen Blutegeln, die das schlechte Blut aussagen, das gute aber in den Dichtern lassen.91

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VON STACKELBERG, Das Bienengleichnis: Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen „imitatio“, S. 271–293. Vgl. auch BERNSTEIN, Humanistische Standeskultur, S. 117 f. GILLERT Nr. 290 (Mutian an Petreius, 5. August 1513): „Huius [Tilonini] vero in epistolis cacozeliam nullo modo recipio.“ GILLERT Nr. 183 (Mutian an einen Unbekannten, 15. Juni 1512): „Carmen … puerile et barbarum, spongiam postulat. … Haec tua suppilatio ceu sordida mappa, ut inquit Horatius [epist. 1, 5, 92], corrugat nares. Neque enim ingenii est aut literaturae sic aliena compilare.“ GILLERT Nr. 405 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1514): „Non fero malum coquum, qui reliquiarum reliquias iam subolentes iterum atque iterum infert. Movent ista condimenta bilem lauto lectori.“ GILLERT Nr. 95 (Mutian Urban und Spalatin, 1505–1508): „Non sum publicus censor, nullius hominis praeceptor.“ GILLERT Nr. 95 (Mutian an Urban und Spalatin): „Tres [poetae] ad me veniunt. Quis eorum vaniloquentior sit, verbis exprimere nequeo. Unus pestilens fur est et plagiarius Ovidii, secundus barbarus blaterator, tertius ita hebetis animi homuntio, ut, quid dicat,

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Ziel eines modernen Dichters ist es also nicht, die antiken Autoren nachzuäffen, sondern mit ihnen in einen Wettstreit zu treten (aemulari). Diese vorsichtige Gratwanderung zwischen sklavischer Nachahmung auf der einen Seite und produktivem Wettstreit mit den antiken Autoren ist die Voraussetzung für die Bildung des eigenen Stils.92 Knappheit, Prägnanz, Sorgfalt und vor allem Klarheit (perspicuitas) zeichnen den plinianischen Stil aus, und es sind genau diese Eigenschaften, die er bei Freunden durch Kritik und Lob einzufordern und die er selbst in seinen Briefen zu verwirklichen sucht: Zwei Fehler habe ich hauptsächlich vermieden: Ich habe weder den Gestank veralteter Redewendungen gebraucht, noch habe ich mich durch häufiges Zitieren von Autoren ablenken lassen. Mir gefiel die Deutlichkeit und Klarheit (perspicuitas).93 Das größte Lob, das man einem Redner spenden kann, ist, wie ich glaube, dass man seinen eigenen Stil entwickelt und klar formuliert und die Sprache den Personen anpasst.94 Du bist, wie ich glaube, meiner Meinung. Wenn nicht, dann besteht die Rede aus von vielen Seiten herbeigeholten fremden Zitaten, was marktschreierisch und unangemessen ist und auf Diebstahl hindeutet. Von diesem Makel ist Tilonin [Conradi] befleckt, der … dunkler als kimmerische Finsternis ist. Heraklit und Cato würden lachen, und es ist lächerlich auf verschwundene Wörter Jagd zu machen, Beredsamkeit zu heucheln, Großes zu versprechen … Es kreißen die Berge, eine lächerliche Maus wird geboren.95

Der Humanismus war eine Kultur der Sprache. Fehlerhafter sprachlicher Gebrauch konnte Konsequenzen haben. So war der Wanderhumanist Peter Luder aus Leipzig verlacht worden, weil er in einer Vorlesungsankündigung „interesse“ mit dem falschen Kasus gebraucht hatte.96 Nicht mit beißendem Spott, sondern

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nemo praeter se ipsum intelligat … Omnes isti cacozeli sunt et quasi hirudines sugentes malum sanguinem bonum in poetis relinquunt.“ Was für die Dichtung galt, traf auch in gewisser Weise auf den Briefstil zu, für den es natürlich andere Vorbilder als für die Lyrik gab. Vgl. Kap. VIII. GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 18. März 1513): „Duo potissimum vitavi vitia: Non sum usus priscarum dictionum foetore, non crebra testium interpellatione. Placuit mihi perspicuitas.“ GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius): „Summa quidem laus oratoris, ut ego sentio, proprie ac dilucide loqui et aptare personis orationem.“ GILLERT Nr 245 (Mutian an Petreius): „Acquiescis, puto, meo iudicio. Sin aliter sentis, instruatur oratio undique accitis testimoniis inflata, quod est circulatorium et ineptum et furem arguit. Priori labe maculosus Tiloninus in epistola Cimmeriis tenebris obscurior. Rideret Heraclitus et Cato, et est plane risu dignum aucupari verba exoleta, simulare facundiam, ostentare linguam graecorum, promittere grandia … Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus.“ Die Episode wird mit einigen Details von BARON berichtet (The Beginnings of German Humanism, S. 212 f.).

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VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

mit einer Parodie machte sich Mutian über die Ausdrucksweise des Tilonin von Conradi lustig: Um es einmal witzig zu sagen: Denn es erhöht mitnichten das Attraktivitätspotential der glamourösen Wissenschaftslehre, aus Unvermögen und Maliziosität darüber nächtelang zu reflektieren. Denn den Preis eines Werkes optimiert nicht derjenige, der sein Urteil mit derartigen Formulierungen zu subventionieren und protegieren sucht. Zu kritisieren ist er nicht weniger als jener Halbgebildete, der die Autoren so zurechtzimmert, und aus Renommiergehabe so daherbramabasiert und seine Großsprecherei, die der Hörer mehr bewundern als verstehen soll, durch die Frequenz seiner Retardationen verhasst macht,

so etwa könnte man sehr frei im Deutschen Mutians vor ungebräuchlichen, obsoleten Wörtern strotzende Parodie des geschwollenen Stiles des Dichters Tilonin von Conradi wiedergeben.97 Dunkler als die kimmerische Finsternis in der Tat. Klarheit bedeutete aber nicht Schlichtheit, wie Mutian seinem Freund Herebord von der Marthen vorwarf: Keine erlesene Wortwahl, nichts ferner Liegendes, alles Allbekanntes … Ich gebe zu, dass man so an andere schreiben muss, an mich schicke bitte etwas Erleseneres, so dass wir nach bestem Wissen und Gewissen Dir zu Deinen Studien gratulieren können. Es genügt ja nicht, barbarische Wörter zu verwerfen, wenn man sie nicht mit andersartigen ersetzen kann.98

97 GILLERT Nr. 290 (Mutian an Petreius, 5. August 1513): „Nam, ut facete dicam, non est illectamentum aut suscitabulum doctrinae nitiusculae muginari per invalitiem (?) sive malitiam in noctisurgio. Non facit operae pretium, qui sententiam suam talibus affamiis statuminat et fulcit. Explodendus est non minus quam barbasculus, quisquis authores hoc scabro edolat dolatorio et ostentandi causa hallucinatur ac grandiloquentiam, quam miretur potius auditor quam intelligat, moramentis freqentariis odiosam reddit.“ 98 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1509): „Nulla verborum electio, nihil remotum omnia vulgaria. Fateor ita scribendum esse ad alios, ad me, queso, mittas exquisitiora, ut studiis ex animi sententia gratulemur. Non satis est barbara verba repudiare nisi diversa assumas.“ Selbst der hoch verehrte Reuchlin musste sich solch eine stilistische Kritik gefallen lassen, eine Kritik allerdings, die Mutian ihm nicht ins Gesicht sagte, sondern seinem Freund Urbanus anvertraute. Er beanstandete, dass Reuchlin den Kaiser „mundi dominum“ genannt habe. Lateinischer (latinius) wäre seiner Meinung nach gewesen, ihn „orbis terrarum imperator“ zu nennen, da ja „mundus“ den Himmel einschließe, und über den Himmel herrsche der Kaiser nun wirklich nicht.

MUTIANS GEGNER

8.

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Mutians Gegner

MUTIANS GEGNER

Nicht alle teilten Mutians Enthusiasmus für die Antike. Zunächst waren die Humanisten ja, wie wir sahen, jahrzehntelang an den Universitäten geduldete Außenseiter.99 Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bemühten sich einige Lehrer der studia humanitatis in Deutschland Fuß zu fassen, Lehrer wie der erwähnte Peter Luder, der trotz gelegentlicher Rückschläge unermüdlich von Universität zu Universität zog und mit missionarischem Eifer die Botschaft des Humanismus in Deutschland zu verbreiten suchte. Ebenso versuchten Samuel Karoch von Lichtenberg und der Italiener Petrus Antonius Finariensis, das Licht des Humanismus in die teutonische Finsternis zu bringen. Gleichzeitig übersetzten Frühhumanisten wie Niklas von Wyle, Albrecht von Eyb und Heinrich Steinhöwel römisch-klassische Werke und Texte aus der italienischen Renaissance ins Deutsche.100 Aber Luder und seine Mitstreiter blieben Außenseiter, harmlose Amateure, die keine ernsthafte Bedrohung des hergebrachten, von der Scholastik dominierten Lehrbetriebs darstellten. Trotzdem gab es immer wieder gerade in der Zeit zwischen 1500 und 1515 Auseinandersetzungen im universitären Bereich, wenn auch diese Konflikte im 19. Jahrhundert gelegentlich zum welthistorischen Kampf zwischen den Mächten der Dunkelheit und denen des Lichtes hochstilisiert wurden. Heute ist man vorsichtiger geworden und betrachtet diese Periode nuancierter. Nicht selten spielten Persönlichkeitskonflikte, akademische Grabenkämpfe und professorale Eitelkeiten eine Rolle. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass die Humanisten bis in die Mitte des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts einen Außenseiterstatus an den deutschen Universitäten einnahmen. Erst der Konflikt zwischen Humanismus und Scholastik, wie er sich in der Reuchlin-Affäre widerspiegelte, sollte eine Wende bringen. Wie skeptisch Mutians Umwelt auf seine und seiner Freunde Studium der Antike reagierte, zeigen die Reaktionen, die von Desinteresse bis zu bösartigen Anfeindungen und Verleumdungen reichten. Der Brief, in dem Mutian Spalatin mit dem Bild der schönen, begehrenswerten, die Antike verkörpernden Jungfrau zum Studium animieren wollte, geht nämlich weiter: Und dennoch kann man Dich nicht verheiraten. Von den jungen Männern ignoriert, bleibst Du bei uns. Es gibt niemanden, der Deine Öhrchen ergreifen und Deine niedlichen Lippen küssen wollte. Stattdessen strömt die Jugend zu den gewinnsüchtigen Gunstgewerblerinnen, d.h. zu den Disputationen, und sieht nicht die Schande der vergewaltigten Keuschheit und riecht nicht den faulen Gestank der Dirnen.101 99 Vgl. BERNSTEIN, From Outsiders to Insiders. Vgl. auch Kap. I. 100 Vgl. BERNSTEIN, Die Literatur des deutschen Frühhumanismus, bes. S. 41–90. 101 GILLERT Nr. 4 (Mutian an Spalatin, um den 29. Juni 1505): „Tota pulchra est, amica mea, et macula non est in te et tamen illocabilis et ab adulescentibus praeterita manes

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VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

Mutian führte also die Schwierigkeiten des Humanismus, an den Universitäten Fuß zu fassen, nicht unbedingt auf einen Konflikt zwischen studentischer Jugend auf der einen Seite und verknöcherten Professoren auf der anderen zurück, wie es oft geschehen ist, sondern darauf, dass die Studenten mehr an einem beruflichen Erfolg versprechenden Jurastudium als an einem ästhetisches Vergnügen bereitenden Studium der studia humanitatis interessiert waren. Das Verlangen, die antiken Autoren zu studieren, dürfe man nicht a priori voraussetzen. Es musste erst geweckt werden. Schlimmer als das angebliche studentische Desinteresse waren aber die ständigen Anfeindungen, denen sich Mutian ausgesetzt sah, Anfeindungen seiner Gegner, die er pauschal mit dem Begriff „Barbaren“ bezeichnete. Für sie fand er deutliche Worte: Ich kenne einige weitschweifige, verworrene und abstruse Leute, die erst mit dem Schwätzen aufhörten, als sie starben. Es gab einige, die ihre eigenen ungeschliffenen barbarischen Bücher, die moderiger als alle Morschheit und Fäulnis sind, in denen sich die Disputiersucht um des Kaisers Bart manifestiert, den wirklich gelehrten Büchern mit großer Frechheit und Kühnheit vorziehen. Es leben auch in dieser Zeit Geier in Togagestalt, verrückte und hirnrissige Leute, in den wirklich richtigen und ehrlichen lateinischen Studien unbedarft, damit ich nicht sage töricht und dumm, die die Humanisten, Historiker, Juristen und alten Theologen wegen ihrer angeblichen geistigen Verkehrtheit und Unwissenheit verdammen, sich und ihre Werke dagegen loben, uns und unsere Sachen bekritteln, und so elendiglich zu Habsucht, Hochmut und falschen Bildungsideen geboren sind, das Verschrobene für das Richtige, das Schlechte aber für das Gute, das Barbarische für das Lateinische halten.102

Zwischen Resignation und Hoffnung schwankend,103 plädierte Mutian dafür, die Antike vor dem Untergang, der Niederlage und dem vernichtenden Hass der Barbaren zu apud nos. Nemo est, qui cupiat prehendere auriculas et adaequare labella labellis. Ad quaestuarias lupas, hoc est altercandi artes, certatim iuventus confluit nec videt labes violatae pudicitiae neque sentit foedum meritorii scorti odorem.“ 102 GILLERT Nr. 47 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Novi aliquos verbosos, perplexos, intricatos, qui non videbantur blaterandi finem ante obitum facturi. Fuere nonulli, qui suos incultos et barbaros libellos atque omni carie ac putriligine cariosiores, in quibus fere de lana caprina concertatio continetur, doctissimis et disertissimis autoribus multa temeritate et audacia praeferrent. Vivunt et hac tempestate togati vulturii, homines vecordes et cerebrosi et in latinis studiis rectissimis quidem illis atque honestissimis prorsus infantes, ne dicam insipientes et stulti, qui poetas, oratores, historicos, iuris consultos et theologos veteres ob perversitatem mentis et ignorantiam damnant, se et sua laudant, nos et nostra carpunt et sic miseri et ad avaritiam, superbiam, falsamque scientiae persuasionem nati prava pro rectis, mala pro bonis, barbara pro latinis habent.“ 103 Resignation: GILLERT Nr. 62 (Mutian an Herebord von der Marthen, 18. März 1506– 1508): „Balbutiant asini suis barbaris compedibus compediti.“ Hoffnung: GILLERT

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retten.104 Und diese Aufgabe erfordert alle Kräfte und kann nur gemeinsam bewältigt werden, wobei sein latinus ordo eine zentrale Rolle spielen sollte und in der Tat auch spielte. Auf diese Weise wurde Mutian, obwohl er weder an der Universität lehrte noch publizierte, durch sein bloßes Wirken als Mentor und Lehrer „eine geistige Kraft ersten Ranges“.105 Aber gerade die Anfeindungen der Gegner und das Bewusstsein, einer kleinen exklusiven Gruppe anzugehören, schmiedete die Gruppe zusammen. Die Beschäftigung mit der Antike und gleichzeitig Auseinandersetzung mit den Feinden dieser Wiederbelebung schaffte Zusammenhalt und Identität. Das wird sich am deutlichsten in der zwischen 1512 und 1520 mit besonderer Heftigkeit geführten Reuchlin-Affäre zeigen (vgl. Kap. IX).

9.

Das humanistische Gastmahl

DAS HUMANISTISCHE GASTMAHL

Zur humanistischen Gelehrsamkeit und Zementierung gegen eine als feindselig wahrgenommene Umwelt gehörte auch das gelehrt-geistreiche Symposium, wie es Conrad Celtis in Deutschland nach italienischem Vorbild gepflegt hatte. Ob es in Mutians Haus zu regelmäßigen Treffen kam, darf man bezweifeln. Klar ist aber auch, dass man sich gelegentlich, solange es die anderen Verpflichtungen der Mitglieder erlaubten, in Gotha traf, denn warum sonst hätte er ein Zimmer seines Hauses mit den Wappen seiner besten Freunde schmücken lassen? Über die häufigen entweder spontanen oder geplanten Gastmähler geben einige Hinweise in der Korrespondenz Auskunft. So versammelte sich am 11. August 1508 ein kleiner Freundeskreis, die Liebhaber der guten und unverfälschten Antike106 in der BEATA TRANQUILLITAS. Anwesend waren außer dem Gastgeber die Dichter Eoban Hessus und Hermann Trebelius, Herebord von der Marthen, ein gewisser Pyrrhus107 und Conrad Celtis, der Wegbereiter des deutschen Humanismus. Letzterer allerdings nur im Geiste; denn er war sechs Monate vorher, am 2. Februar 1508, gestorben. Die Erinnerung an seinen Todestag war denn auch der Anlass zu diesem Gedenkgastmahl, bei dem die anwesenden Poeten

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Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Nam haec apud barbaros sophistas naufragium et cladem adiit, nunc autem disiectas vires undique colligit.“ GILLERT Nr. 62 (Mutian an Herbord von der Marthen, 18. März 1506–1508): „ab interitu, clade, ruina et internecivo barbarorum odio.“ KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 178. GILLERT Nr. 78 (Mutian an Urban): „bonae et sincerae vetustatis amatores.“ Nach GILLERT Nr. 78, S. 117, Anm. 1, handelt es sich um einen gewissen Johann Roth.

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VI. MUTIAN UND SEIN „ORDO LITERARIUS“

spontan Gedichte zu seinen Ehren verfassten.108 Bei einer anderen Gelegenheit berichtete Mutian seinem Freund Hartmann von Kirchberg, dem Abt der Fuldaer Abtei, von einem Gastmahl, bei dem die ungewöhnliche Frage erörtert wurde, warum die wilden Tiere wie Elche, Bären und Auerochsen, die nach den Worten der antiken Historiker den alten Germanen durchaus bekannt gewesen seien, nicht mehr in Deutschland zu finden seien. Während die hochgebildeten Anwesenden, die sich mit der antiken Literatur auskannten, mit viel gelehrtem Wissen die Frage erörterten, erklärte Hessus, der einige Zeit in Preußen verbracht hatte (siehe unten), auf Deutsch: in Prewssen lawffen die thiere vnd hab das wildpret gesehn.109 Eigene Anschauung triumphierte über Buchwissen. Schließlich ein drittes Beispiel aus dem Jahre 1514: Euricius Cordus und wiederum Eobanus Hessus, zwei Spötter, hatten sich bei Mutian zu einem Essen eingefunden und witzelten über eine unglückliche Formulierung in einem Brief der Anna von Hessen, der Mutter Philipps, des späteren Landgrafen. Diese hatte Mutian in mehreren Schreiben gebeten, eine lateinische Inschrift für ihren verstorbenen Ehemann zu verfassen. Einen dieser Briefe hatte sie mit Ewre gnedige fraw unterschrieben, worüber sich die anwesenden Junggesellen mokierten und Mutian bemerkte: Ich bin ein pfaf vnd philosophus, ich will key gnedige frawen annemen.110 Die wenigen Beispiele vermitteln einen Eindruck von dem Geist dieser Zusammenkünfte mit ihrem reichlichen, aber frugalen Essen, mäßigen Alkoholkonsum und heiter-geistreichen Gesprächen (bei denen offenbar auch Deutsch gesprochen werden durfte) und kontrastieren scharf mit der Beschreibung eines vom Georgenthaler Abt Duronius gegebenen Gelages, bei dem Mutian widerwilliger Zeuge der alkoholischen Ekzesse, sinnlosen Prasserei und sexuellen Ausschweifungen der Teilnehmer werden musste.111 Vor diesem Hintergrund sah sich Mutian häufig zu Richtigstellungen gezwungen, was seine in seinem Haus stattfindenden Gastmähler betraf. Um die Erwartungen eines jungen Mannes zu dämpfen, der in seinen Kreis eingeführt werden wollte, stellte er klar: Hier gibt es keine wilden Vergnügungen, keine Zechereien und keine ordinären Kartenund Würfelspiele, sondern vielmehr witzige Gespräche, geistsprühende Reden, manchmal auch gutartigen Spott, sodass sich hier mehr der Geist als der Körper erholt.112

108 GILLERT Nr. 78: Mutian berichtete darüber an Urban, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Leipzig aufhielt. 109 GILLERT Nr. 484 (Mutian an Hartmann von Kirchberg). 110 GILLERT Nr. 427 (Mutian an Urban). 111 GILLERT Nr. 147 (Mutian an Urban). 112 GILLERT Nr. 236 (Mutian an Petreius, 1512): „Non hic Dyonysia, non propinationes, non illiberalis lusio celebratur, sed lepidi sermones, urbane dicta, interdum sales sine felle, ut non magis corpora quam animi reficiantur.“

DAS HUMANISTISCHE GASTMAHL

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Begeisterung für die Antike und deren Kenntnis, die Mutian sich während der langen Jahre in Deventer, Erfurt und Italien erworben hatte, seinen Freunden mitzuteilen und sie zu formen, war demnach der eigentliche Impuls seines Wirkens in Gotha. Wie er das im Einzelnen tat, wird in den Kurzbiographien seiner Schüler/Freunde darzulegen sein.

VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Dass sich die Männer des mutianischen ordo literarius trotz ihrer unterschiedlichen landsmannschaftlichen und sozialen Herkunft und ihrer beruflichen Orientierung als Mitglieder eines exklusiven Kreises fühlten, sollte uns nicht blind gegenüber der Tatsache machen, dass sich ganz unterschiedliche Charaktere unter der Ägide des Gothaer Kanonikers zusammengefunden hatten. Gerade diese Vielfalt der Persönlichkeiten stellt das eigentliche Faszinierende an diesem Bund dar. Mutian tolerierte nicht nur diese Unterschiedlichkeit, sondern förderte sie. Der Gothaer Humanistenkreis bestand also aus Individuen mit all ihren Stärken und Schwächen, ihren Launen und vorgeprägten Meinungen. Mutian widmete sich jedem einzelnen, ermunterte, wo ein Freund Ermunterung bedurfte, kritisierte scharf, wo er Anmaßung und Arroganz sah, ohne das große Ziel, für das humanistische Projekt zu werben, je außer Acht zu lassen. Er half, wo er helfen konnte, und nahm auch gern, besonders in praktischen Angelegenheiten, die Hilfe seiner Freunde in Anspruch. Wie das im Einzelnen geschah, soll anhand der folgenden biographischen Skizzen gezeigt werden, auf die Gefahr hin, dass damit das vielfältige Beziehungsgeflecht zunächst etwas in den Hintergrund rückt.

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Heinrich Urban – der „Odysseus mit Kapuze“

HEINRICH URBAN

Von der Statur her ziemlich klein, von attraktivem Äußeren, einem ehrlichen Gesichtsausdruck, höflicher Ausdrucksweise, bündig im Reden, relativ vorsichtig im Handeln. Diesen liebe ich nicht wie viele es tun, sondern auf äußerst innige Weise.1 Mit diesen Worten charakterisierte Mutian seinen wichtigsten Freund, den Zisterziensermönch Heinrich Fastnacht aus Orb in Hessen, der sich nach Humanistenart Henricus Urbanus nannte. In seinen zahlreichen Briefen an den Freund redete Mutian ihn immer wieder als den liebsten, weisesten, den treuesten, zuverlässigsten Freund an,2 als ein 1

2

GILLERT Nr. 104 (Mutian an Urban, etwa 1507): „Statura paulo humilior, facie formosa, vultu ingenuo, sermone blando, brevior in dicendo, cautior in agendo. Hunc ego non ut multi, sed arctissime diligo.“ Dass Urban verhältnismäßig klein war, geht auch aus GILLERT Nr. 541 (Mutian an Urban, 18. September 1515) hervor: „Statura brevi est.“ GILLERT Nr. 3 (alle Briefe von Mutian an Urban): „Urbane carissime“; GILLERT Nr. 84: „Urbane dulcissime“; GILLERT Nr. 86: „dilectissime domine“; GILLERT Nr. 164, „mi Urbane carissime“; GILLERT Nr. 285: „ad fidissimum Urbanum“; GILLERT Nr. 340: „dulcis-

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Juwel unter meinen Freunden,3 als Stolz und Zierde,4 als einen Freund der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft,5 und als jemanden, der verdientermaßen den ersten Platz unter meinen gelehrten Freunden innehält.6 Die Liebe zu Dir bleibt und wird niemals aufhören, es sei denn, Du schneidest mir die Nase ab, versicherte er ihm.7 Die enge Freundschaft ist umso erstaunlicher, als man sich einen größeren Gegensatz als den zwischen dem Gothaer Kanoniker und dem Zisterziensermönch kaum vorstellen kann: auf der einen Seite Urban, der relativ weltläufige, als effizienter Verwalter eines großen Klosters in Geschäften erfahrene Mönch,8 das Bindeglied zur praktischen Welt, der seinen Freund in Geldangelegenheiten beriet, ihm Vorschüsse verschaffte, Bücher besorgte und schließlich auch ein Geschäft mit dem venezianischen Drucker Aldus Manutius einfädelte, aber auch ein Mann, der gelegentlich unter der ungeheuren Menge der Aufgaben stöhnte, da er nicht nur für das leibliche Wohl seines Ordensbrüder zu sorgen hat, sondern auch noch religiöse und kirchliche Pflichten wahrzunehmen hatte.9Auf der anderen Seite Mutian, der unpraktische Wissenschaftler, dem Urban einmal vorwarf, er könne nicht bis zehn zählen,10 öffentlichkeits- und publikumsscheu, ein Mann, der, auf eine Karriere verzichtend, sich ganz der stoischen beata tranquillitas hingab. Und dennoch entwickelte sich zwischen den beiden eine intensive Freundschaft, die ihresgleichen im deutschen Humanismus sucht. simo suo Urbano“; GILLERT Nr. 352: „amico certissimo“; GILLERT Nr. 362: „virorum sapientissime et amicorum sincerissime“; GILLERT Nr. 531: „Urbane mihi amicissime.“ 3 GILLERT Nr. 210 (Mutian an Urban, 1512): „gemma amicorum“. 4 GILLERT Nr. 231 (Mutian an Urban, 11. November 1512): „decus amicorum“. 5 GILLERT Nr. 378 (Mutian an Urban, 7. Juni 1514): „Amicus praesentis, praeteriti et futuri.“ 6 GILLERT Nr. 155 (Mutian an Urban, 1509): „… qui merito primatum tenet inter amicos sapientes.“ 7 GILLERT Nr. 444 (Mutian an Urban, 15. Juli 1517): „Amor erga te meus adhuc durat neque unquam, nisi mihi nasum amputaveris, desinet.“ Der spielerische, gelegentlich ins Obszöne abgleitende Ton der Korrespondenz lässt vermuten, dass mit „nasus“ nicht unbedingt nur die Nase gemeint war. Vgl. auch GILLERT Nr. 576 (Mutian an Justus Jonas). Darin wirft Mutian die Frage auf, ob Männer mit langen Nasen auch ein langes Glied haben: „In dubium revocatur a mulierculis num bene nasati sunt etiam bene mentulati.“ 8 GILLERT Nr. 411 (Mutian an Urban, 8. August 1514: „Cito conficies negotium.“ 9 KRAUSE Nr. 71 (Urban an Herebord von der Marthen, 1507, nicht in GILLERT): „… ingenti negotiorum multitudine. Quibus interim paene obruor atque praecipitor nedum distineor, obstringor, premor. Partim enim in procurando coetui irraso victu appellandisque ruri nominibus, partim persolvendis pensis religiosis et ecclesiasticis occupato optima diei pars eripitur, ut subcisivi temporis quota portio non relinquatur, quam vel amicis vel literis impertiam.“ 10 GILLERT Nr. 454 (Mutian an Urban, Ende Oktober 1514): „Indubitata refers: ‚sparsa est haec fabula, Rufe,/ Te nescire X connumerare stipes. Taliter Urbanus sapiens illudit amico,/ Cui potuit duro corde negare X‘: Tu me castigas et arguis imperitiae. Sero quidem. Quoniam numerare didici, non discere iam debeo.“

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Wer war dieser Urban? Was machte diesen Zisterziensermönch so attraktiv für Mutian? Wie entstand diese Freundschaft? Wann haben sie sich kennen gelernt?11 Wohl jünger als Mutian,12 hatte Urban 1494 die Universität Erfurt bezogen,13 sodass Mutian, der zu diesem Zeitpunkt bereits als Dozent in der Philosophischen (Artistischen) Fakultät lehrte, ihn noch unterrichtete, bevor er seine Reise nach Italien antrat. Nach dem Universitätsstudium, das er ohne einen akademischen Grad abschloss, trat er in das Zisterzienserkloster Georgenthal ein.14 Dieses im Jahre 1143 gegründete, etwa drei Stunden zu Fuß von Gotha entfernt liegende Kloster hatte im Laufe der Jahrhunderte durch Schenkungen und Stiftungen einen stattlichen Grundbesitz erworben und besaß Weinberge, Wiesen,

11 Zu Urbanus: KLEINEIDAM, Henricus Urbanus, in: CoE, III, S. 355–356; KRAUSE, Der Briefwechsel, S. VII–X. GILLERT, Der Briefwechsel, S. XXIX–XXXIV; POSSET, Renaissance Monks. (Über Urbanus: Kapitel 4, S. 109–181); DERS., A Cistercian Monk as Editor of the Carmen of the Croatian Humanist Marcus Marulus, S. 399–419. Vgl. auch MÜLLER, Habit und Habitus, bes. 342 ff.. 12 Wir wissen nicht, wann Urban geboren wurde. In einem Brief Mutians an Urban aus dem Jahre 1514 heißt es (GILLERT Nr. 394): Du bist mir ein Vater wie ich Dir einer bin: wer älter ist, weiß ich nicht, aber ich glaube, dass ich älter bin und ich ergraue schon („Tu mihi pater es et ego tibi; uter aetate praecedat, nescio, sed puto me natu maiorem et canesco“). Unter Verweis auf diese Stelle hat Krause auf eine Gleichaltrigkeit geschlossen (KRAUSE, Der Briefwechsel, S. IX). Zwingend ist das nicht, denn Mutian sagt selbst nicht, dass sie gleichaltrig sind, sondern lediglich, dass er nicht wisse, wer der Ältere sei. In Wirklichkeit muss Urban wesentlich jünger als sein Mentor gewesen sein, denn in einem Brief aus dem Jahre 1507 an Herbord von der Marthen schreibt er über Mutian: Den ich schon als Junge geliebt, und verehrt habe (a puero). Nicht in GILLERT, aber in KRAUSE Nr. 71 (Urban an Herebord, 1507): „… Mutianum Rufum … quem a puero no aliter dilexi, observavi, colui.“ Dieses a puero kann sich nur auf sein erstes Studienjahr in Erfurt beziehen, wo er noch zu Füßen des jungen Mutian gesessen hat. Nähme man die Gleichaltrigkeit an, so hieße das, dass Urban bereits 24 Jahre alt gewesen sei, als er sein Universitätsstudium begann. Grundsätzlich ist natürlich solch ein später Studienbeginn nicht auszuschließen, im Falle Urbans schon, denn ein 24-Jähriger wird sich wohl kaum als puer bezeichnen. Bleibt noch Mutians merkwürdige Behauptung aufzuklären, dass er nicht wisse, wer der Ältere sei. Ist es wirklich glaubhaft, dass er nicht das Geburtsjahr seines besten Freundes wusste? Ich persönlich halte das für unwahrscheinlich. Plausibler ist es jedoch, dass er den Altersunterschied – der sowieso mit zunehmendem Alter an Bedeutung verliert, herunterspielen wollte. Seine Briefe an Urban zeigen immer wieder, wie er sein Verhältnis nicht als Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern als eines unter Gleichen ansah. MÜLLER, Habit und Habitus, S. 183, gibt als Geburtsdatum das Jahr 1480 an, ohne das freilich zu dokumentieren. 13 WEISSENBORN, Acten der Erfurter Universität, II, S. 183. 14 Der genaue Zeitpunkt lässt sich nicht ermitteln. STIEHLER setzt den Klostereintritt in die Jahre 1494–95 (Kloster und Ort Georgenthal, S. 63).

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Mühlen, Felder, Wälder und Teiche.15 Außerdem gehörten ihm Häuser in mehreren thüringischen Städten, unter anderem in Erfurt, Schönau und Gotha. Dies waren gut ausgestattete Quartiere, die eine standesgemäße Unterbringung des Abtes und seines Gefolges bei ihren Besuchen garantierten. Verantwortlich für die wirtschaftliche Leitung dieses nicht unbedeutenden Unternehmens war Urban.16 Bei der Größe des Klosters und den weit verzweigten Besitzungen war das eine Aufgabe, die große Geschicklichkeit, betriebswirtschaftliche Kenntnisse, Organisationstalent und diplomatisches Geschick erforderte. Um die vielfältigen Aufgaben wahrzunehmen, musste Urban viel herumreisen, weshalb ihn Mutian gelegentlich scherzhaft als Odysseus in Mönchstracht (Ulysses cucullatus) bezeichnete.17 Für das Kloster sollte sich die Ernennung Urbans zum wirtschaftlichen Verwalter (oeconomus) als Glücksfall erwiesen. Denn dieser war nicht nur ein geschickter Manager der wirtschaftlichen Angelegenheiten des Klosters, sondern vermochte auch, ermutigt von Mutian, zwischen 1505 und 1509 zwei humanistisch geprägte Novizenlehrer, Georg Spalatin und Herebord von der Marthen, an das Kloster zu holen. Obwohl der Abt Johannes III. – Mutian nennt ihn Duronius – selbst weit davon entfernt war, sich für die studia humanitatis zu interessieren, war er doch klug genug, die beiden von Mutian protegierten Lehrer gewähren zu lassen und damit dem Humanismus in diesem Kloster wenigstens eine kleine Bresche zu schlagen. Welch angesehene Stellung Urban in seinem Kloster einnahm, zeigt ein Brief aus dem Jahre 1508, in dem Mutian sich zugunsten eines gewissen Johann Findeisen aussprach. Urban solle auf den Abt einwirken, da dieser nichts ohne Urbans Zustimmung tue.18 Von der durch Mutians langem Italienaufenthalt unterbrochenen und 1505 wieder aufgenommenen Freundschaft zwischen den beiden zeugt ein Brief an Urban vom 29. Juni 1505, also fast zwei Jahre nach Mutians Rückkehr nach Gotha. Es ist sicherlich nicht der erste in dieser Zeit ausgetauschte Brief, denn der 15 Zu diesem Kloster: STIEHLER, Kloster und Ort Georgenthal; SCHMIDT-EWALD, Der Georgenthaler Hof in Erfurt, S. 89–113; STARK, Die Cisterzienserabtei Georgenthal, S. 300–333; GROTE (Hg.), Lexikon deutscher Stifter, Klöster und Ordenshäuser I: Das heutige deutsche Reich, S. 172. 16 STARK, Die Cisterzienserabtei Georgenthal, S. 332. Seit wann er diesen Posten innehatte, ist nicht festzustellen. Aber da er erst um 1495 in das Kloster eingetreten ist, wird er nicht gleich sofort mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe betraut worden sein. 17 GILLERT Nr. 31 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „cucullatus Ulysses“. Ebenso 10 Jahre später in GILLERT Nr. 531 (Mutian an Urban, 22. Juli 1515): „Ulysses cucullatus.“ In anderen Briefen bezeichnet ihn Mutian als cellarius, procurator sodalitatis Georgianiae primarius, praepositus granarii cenobialis, rector praedii urbani Cisterciensium apud Erphurdiam und quaestor domus Georgi vallis. 18 GILLERT Nr. 110 (Mutian an Urban, 2. Hälfte Oktober 1508): „… propterea quod sine tuo nutu in rebus arduis abba nihil ageret.“

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vertrauliche Ton weist auf eine bereits bestehende Freundschaft hin. So redete er den Urban als meus Urbanus an und fügte mit der ihm eigenen Ironie in seiner Begrüßungsformel hinzu: Mutian grüßt den Urban, der die feine urbane Art eines Demosthenes, Plautus und Ciceros in sich vereint.19 Mit solchen Worten adressierte man nicht jemandem, den man gerade erst kennen gelernt hat und den man fast vor einem Jahrzehnt einmal als Schüler hatte. Andererseits enthielt der Brief Äußerungen, die darauf hindeuten, dass der Briefwechsel noch nicht lange bestanden haben kann. Es fanden sich nämlich darin Gedanken zu Mutians Lebensplanung, besonders aber zu seiner Entscheidung, das genügsame Leben in seiner BEATA TRANQUILLITAS einer Karriere in der Welt vorzuziehen.Hätte die Bekanntschaft schon wesentlich früher bestanden, hätte Mutian doch schon längst seinem Freunde mündlich oder schriftlich diese doch so grundsätzlichen Überlegungen mitgeteilt. Der Brief ist also eines der ersten, aber sicherlich nicht das erste Zeugnis der damals wieder aufgenommenen Freundschaft.20 Obwohl Urbanus nie in Gotha gewohnt hat, hatte er als Verwalter der weitgestreuten Besitzungen seines Klosters öfter auch Gelegenheit, nach Gotha in den Georgenthaler Hof zu kommen. Besonders aber übte das zum Klosterbesitz gehörende idyllische Schönau (belpratum), wo Urban eine „Dienstwohnung“ besaß, auf Mutian eine besondere Anziehung aus.21 Gern besuchte er seinen Freund in der bukolisch-friedlichen Landschaft und war ungehalten, als dieser wegen anderer Verpflichtungen selbst nicht nach Schönau kommen konnte, weshalb er ihm vorwarf, seine klösterlichen Aufgaben über die Sorge

19 GILLERT Nr. 3 (Mutian an Urban, 29. Juni 1505): „Urbano meo Demosthenis, Plauti, Ciceronis urbanitate memoratissima praedito Mutianus Rufus.“ 20 GILLERT, Der Briefwechsel, S. XXX: „Die ersten Briefe in unserer Sammlung machen den Eindruck, als wenn ein engeres Verhältnis zwischen beiden Männern erst soeben sich gebildet. Man wird deshalb nicht fehl gehen, wenn man die Erneuerung der Bekanntschaft frühestens in den Anfang des Jahres 1505 setzt.“ KRAUSE, Briefwechsel des Mutianus Rufus, S. VIII: „Die nähere Veranlassung ihrer Bekanntschaft ist uns unbekannt, ging aber wahrscheinlich schon auf die Erfurter Studienzeit zurück. Seit dem Anfange des Jahres 1505 finden wir beide näher befreundet, und zwar erst seit kurzem, wie es der ganze Ton der ersten gewechselten Brief verrät.“ 21 STARK, Die Cisterzienserabtei Georgenthal, S. 322. Mutian nannte es meist Belpratum. Es gehörte zu den Besitzungen Georgenthals, von dem es nicht weit entfernt lag. Es ist unwahrscheinlich, dass Urban dort eine Wohnung oder gar ein Hause besaß, wie STIEHLER (Kloster und Ort Georgenthal, S. 64) behauptete, sondern dass er sich dort eine Wohnung oder ein Häuschen mit Garten eingerichtet hat, wozu er als eine der wichtigsten Personen des Klosters sicher ein Anrecht hatte. Vgl.dazu: GILLERT Nr. 14 (Mutian an Urban): „Acessi … ad hortos Urbaniatos.“ Vgl. auch GILLERT Nr. 14, 15, 20, 65 (von Mutian an Urban).

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um seine Freunde zu stellen.22 Zu den offiziellen Funktionen des Klosters scheint Mutian aber selten gegangen zu sein, sodass er selbst zur Priesterweihe Urbans nicht erscheinen wollte, weil er an den „Bacchanalien“, wie der Abt Duronius und seine Zechbrüder sie liebten, keinen Gefallen finden könne.23 Urbans Besuche in Gotha andererseits fielen zum Ärger Mutians meist kurz aus. Aus diesem Grunde warf ihm Mutian einmal falsche Prioritäten vor, als der Odysseus in Kapuze sich wieder einmal als sehr beschäftigt bezeichnete: Das glaube ich, aber manchmal muss man allen Geschäften die Anwesenheit der Freunde voransetzen. Nicht immer sind die Freunde da. Ich ziehe dich (und Spalatin) Königen, Fürsten, den priesterlichen Pflichten, Geld und Ehren vor,

um dann vorwurfsvoll hinzuzufügen: Und Du weigerst Dich, wenn Mutian mit Dir oder Du mit Mutian etwas länger verweilt.24 In einem anderen, launigen Brief sprach Mutian sein Bedauern aus, dass Urban bei seinem letzten Besuch ihn nicht angetroffen habe und deshalb sofort umgekehrt sei: Dass dem Mutianbesucher die Türe nicht aufgeschlossen wurde, schau, wen willst Du letztlich dafür verantwortlich machen? Mich, der ich zu dieser Zeit das Stundengebet verrichtete? Meine Diener vielleicht, die beide nicht zu Hause waren, wie Zeugen beschwören können? Oder etwa unsere Katzen, die sich auf ihre Amtsbefugnisse beschränkten und, wie ein Reicher sein Gold beobachtet, ununterbrochen das Mäuseloch im Auge behielten? Dir muss man die Schuld zuweisen, weil Du keinen Kundschafter vorausgeschickt hast. Die großen Herren pflegen nämlich Gesandte vorauszuschicken, um ihren Ankunft anzukündigen.25

22 GILLERT Nr. 65 (Mutian an Urban, Frühjahr 1505–1508): „Id requirendum necessario fuit nam, ut es diligens magister redituum, officii tui munia diligenter, sedulo exequeris et procurationes tibi creditas cunctis amicorum solatiis anteponis.“ 23 GILLERT Nr. 16 (Mutian an Urban, September 1505): „Dabis mihi veniam, si ad dedicationem tuam non venero. Veniet tempus musis et genio gratius. Elige coepulones, quos patriarcha tuus diligit. Nam ista bacchanalia rudibus conveniunt et pares cum paribus facile congregantur.“ 24 GILLERT Nr. 102 (Mutian an Urban und Spalatin, 26. März 1505–1508): „Credo, sed interdum negotiis omnibus amicorum praesentia debet praeponi: non semper assunt amici. Ego regibus, principibus, sacerdotiis, nummis, honoribus te et Spalatinum antepono. Et tu gravaris, si tecum Mutianus aut tu cum Mutiano paulo diutius sessitas.“ 25 GILLERT Nr. 55 (Mutian an Urban, 22. September 1505–1509): „Quod autem adeunti Mutianum ianua non fuit reserata, vide, cui tandem hoc crimen imputes? Mihine, qui sub idem tempus chorum agitantibus inter sacra conspiravi? An domesticis, quorum neuter domi erat, uti iurantes testantur? An cattis nostris, quae sui limites officii non transcendunt, sed ut pecuniosus aurum ita continenter cavum murinum observant? Tibi culpa imputes necesse est. Quod non praemiseris exploratorem. Solent enim magni domini legatos mittere, qui adventum praedicant.“ Weitere Hinweise auf Besuche: GILLERT Nr. 14, Nr. 404, Nr. 429 (alle Mutian an Urban).

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1.1 Briefe BRIEFE

Da Urban nie in Gotha wohnte, sondern zunächst bis 1508 in Georgenthal lebte, dann zwei Jahre lang in Leipzig studierte und schließlich ab 1510 bis zu seinem Tode in Erfurt als Verwalter des Georgenthaler Hofes wirkte, schrieben sich die Freunde häufig Briefe. Ingesamt sind über 354 Briefe Mutians an Urban erhalten.26 Dieser bewahrte die Briefe seines Freundes entgegen dessen ausdrücklichen Wunsch auf, statt sie zu verbrennen oder zu zerreißen, sodass er bereits 1516 zwei Bände besaß.27 Von Urbans Briefen an Mutian sind dagegen keine erhalten,28 möglicherweise, weil Mutian sich gewissenhafter an die gegenseitige Abmachung hielt, die Briefe aus Sicherheitsgründen zu vernichten. Darauf deutet eine Bemerkung Mutians aus dem Jahre 1514 hin. Dort heißt es: Ich habe Deinen Brief gelesen und ihn sogleich, wie Du befohlen hattest, in Anwesenheit von Publius und Vulcanus [die zwei Famuli des Mutian zu dieser Zeit] zerrissen.29 Der Verlust der Gegenbriefe Urbans ist besonders schmerzlich, da Mutian sie häufig in den höchsten Tönen lobte, und zwar über den gesamten Zeitraum, für den Mutians Briefe erhalten sind. Nichts lese ich lieber, teilte er ihm1506 mit, über nichts freue ich mich so sehr und schließe enger ins Herz, nichts ist netter, ehrlicher und freundlicher [als Deine Briefe].30 Nicht nur lobte Mutian die klare Gliederung von 26 Vgl. Index bei GILLERT, wovon 11 an Urban und jeweils ein anderes Mitglied seines Kreises gerichtet sind. Allein zwischen 1505 und 1508 sind 85 Briefe erhalten. Besonders dicht ist auch die Überlieferung der Briefe für die Jahre 1512 bis 1515. Aus dem Jahre 1512 sind etwa 27 erhalten, aus dem Jahre 1513 etwa 70, aus dem Jahre 1514 etwa 83 und aus dem Jahre 1515 etwa 50. Im Jahre 1516 bricht die Überlieferung, aber sicherlich nicht die Korrespondenz ab. Aus den letzten Lebensjahren Mutians sind lediglich zwei Briefe Mutians an seinen Freund erhalten (GILLERT Nr. 604, Mutian an Urban, 21. März 1521) und GILLERT Nr. 617 (Mutian an Urban, 15. Juli 1523) 27 Das berichtete Michael Hummelberger in einen Briefe an Petreius: „ut [Urbanus] jam duo ipsarum [epistolarumn] justa volumina collegerit, in quibus penitior et elegantior quaepiam eruditio relucet, digna multorum lectione.“ (Rom 24. Januar 1516) Abgedruckt in: HORAWITZ, Zur Biographie und Correspondenz Reuchlins, S. 31 f. Vgl. Einleitung. 28 Es gibt natürlich andere, insgesamt 14, Briefe Urbans an andere Freunde und Personen: GILLERT Nr. 25 (Urban an Aldus Manutius); GILLERT Nr. 258a (Urban an Hartmann von Kirchberg); GILLERT Nr. 491a (Johannes Lange); GILLERT Nr. 122a, 605b, 620a, 620b, 620c, 625b (Urban an Spalatin). Zusätzlich bei KRAUSE nicht bei GILLERT abgedruckte Briefe: Nr. 71 (Urban an Herebord von der Marthen); Nr. 238 (Urban an Mathias Kaumler), Nr. 21 (Urban an Petreius); Nr. 291 und 315 (Urban an Johannes Reuchlin); Nr. 209 Urban an Sonfeld). 29 GILLERT Nr. 449 (Mutian an Urban, um den 10. Oktober 1514): „Legi tuas literas et sicuti iusseras statim testibus Publio et Vulcano concerpsi.“ 30 GILLERT Nr. 41 (Mutian an Urban, ungefähr im März 1506): „Nihil libentius lego, foveo, amplector quam tua scripta, nihil tersius, sincerius, amicius.“

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Urbans Briefen,31 sondern auch dessen Witz und humorvolle Einfälle,32 sodass in seinen Briefen die Rede süßer als bei Bernhard von Clairvaux, dem Mitbegründer des Zisterzienserordens, fließe.33 Man darf vermuten, dass hinter dem überschwänglichen und durch die Qualität der Briefe nicht unbedingt berechtigten Lob eine gute Portion dessen steckt, was moderne Verhaltenspsychologen „positive reinforcement“ (positive Verstärkung) nennen. Mutian wollte seinem Freund, der weder das Privileg gehabt hatte, eine Eliteschule wie das Internat von Deventer zu besuchen noch sieben Jahre in Italien zu studieren, der aber trotz deren Anfeindungen von den „Barbaren“ abgefallen war,34 immer wieder Mut machen; denn als Urban einmal schrieb, er habe ihm nicht aus Nachlässigkeit (incuria), sondern aus Furcht vor dessen Kritik nicht geschrieben, beruhigte Mutian ihn mit den Worten: Als ob ich jemanden erschrecken könne, der … in der Briefkunst fast Cicero gleiche.35 Auf diese Weise gewann Mutian selbst Urbans gelegentlichen grammatischen Regelverstößen noch etwas Positives ab. Er freue sich, dass Urban bei allem Respekt vor den angesehenen Autoren auch gelegentlich neue Formen benutze.36 In seinem Lob der urbanschen Briefkunst ließ sich Mutian auch gelegentlich zu etwas gewagten Vergleichen hinreißen: Man kann nicht sagen, wie sehr uns Dein Brief erfreut hat. Nichts darin ist läppisch, er hat genau den richtigen Umfang, alles ist perfekt. Die nackte Wahrheit, entkleidet der Schmeicheleien, zeigt ihre wahre Schönheit.37

Angeregt von dem Ausdruck „nackte Wahrheit“ spann Mutian das Bild weiter: So zeigt ein unbekleidetes Mädchen, nachdem sie sich des Kleides entledigt hat, die Blüte ihres Alters. Ihr Anblick entflammt das Herz stärker, als wenn die stark geschminkte [He31 GILLERT Nr. 38 (Mutian an Urban, Adventszeit 1505): „Ordinata sunt, non confusae, quae scribis.“ 32 GILLERT Nr. 350 (Mutian an Urban, 23. März 1514): „Salem urbanum et dulces facetias habuere tuae literae.“ Ebenso in GILLERT Nr. 38: „Salem et leporem in ea [epistola] suspitio.“ 33 GILLERT Nr. 206 (Mutian an Urban, August/September 1512): „Ex Urbani nostri epistola melle dulcior fluit oratio, ut minus sit meo iudicio mellifluus pater ordinis tui.“ 34 GILLERT Nr. 4 (Mutian an Spalatin, um den 29. Juni 1505): „… quia defecit a barbaris quibus est infestissimus“. 35 GILLERT Nr. 179 (Mutian an Urban, 1509–1511): „Scripsisti nuper ad me, carissime frater Urbane, te non incuria sed mei timore nullas dare literas. … An ego terrere possum eloquentia virum disertum, qui in epistolari stilo prope Ciceronem repraesentat?“ 36 GILLERT Nr. 154 (Mutian an Urban): „Quod in scribendo formam novitatis non contempta gravium authorum regula, sed ad tempus deposita tam scite amplecteris, plurimum me delectat.“ 37 GILLERT Nr. 124 (Mutian an Urban, um Ostern 1509): „Dici non potest, quantopere nos delectarint illae tuae literae. Nihil ineptum, nihil infra, nihil supra modum exarasti, absoluta sunt omnia. Nuda veritas remota veste blanditiarum amabilem sui formam exhibit.“

BRIEFE

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täre] Lais mit matronenhafter Stola und mit vielen Accessoires behängt an Dir vorbeiginget. Denn bei der Lais jucken die Achselhöhlen und die Scheide stinkt nach Schiffsjauche. In einem mädchenhaften Körper gibt es nichts, was einen anwidert. Eine noch jungfräuliche Geliebte, die Dir am Halse hängt, fasst Du gerne an, umarmst Du liebevoll und schläfst leidenschaftlich mit ihr.38

Erst nach diesem ungewöhnlichen Vergleich kommt Mutian wieder auf Urbans Stil zu sprechen: Wer aber würde nicht glauben, dass Dein Brief nicht süß, unbefleckt, rein und glänzend sei, da überhaupt Dein Latein rein, die Satzklarheit heilig und die Gliederung klar und deutlich ist.39

Da Urban so glänzende Briefe verfasse, solle er immer welche schreiben, ganz gleich, um was es sich handelt. Schreibe, schreibe, denn so ein langes Schweigen gehört sich nicht für Deine Bildung und unsere gegenseitige Zuneigung. Schreibe endlich als Freund dem besten der Freunde. Nichts lese ich lieber, schätze ich höher, liebe ich so sehr wie Deine Arbeiten … Ich erwarte einen langen Brief: irgendeine Geschichte, irgendeine angenehme Erzählung, irgendwelche Neuigkeiten.40

Dass Mutians Lob des urbanschen Briefstiles nicht nur eine rhetorische Floskel oder psychologische Ermutigungsstrategie war, belegen einige Schreibaufträge, um die er seinen Freund bat. So verfasste Urban beispielsweise im Auftrag Mutians Briefe an Aldus Manutius und Johannes Reuchlin, beides Humanisten, die auf gepflegtes Latein Wert legten.41 Da Briefe als Aushängeschilder der humanistischen Persönlichkeit galten, hätte Mutian nie einen unqualifizierten Freund für diese wichtige Aufgabe gewählt; denn ein fehlerhafter und uneleganter Brief

38 GILLERT Nr. 124 (Mutian an Urban): „Sic investis virguncula florem aetatis exuta tunica spectandum praebet, quod spectaculum inflammat penitissima praecordia longe quidem vehementius, quam si te fucata Lais matronali mundoque culta praeteriret. Etenim in ipsa Laide … loci prurient, sordent alae, cunnus olet nauteam. In puellari corpusculo nihil est, vel quod delicatum offendat. … Inherentem cervicibus intactam amasiam libenter tractas, amanter complecteris, avidissime comprimis.“ 39 GILLERT Nr. 124: (Mutian an Urban): „Quis autem epistolam tuam non censeat esse mellitam, intaminatam, puram, putam, quum omnino casta sit latinitas, sanctus candor sententiarum, conspicabilis dispositio?“ 40 GILLERT Nr. 41 (Mutian an Urban, ungefähr im März 1506): „Non decent istam eruditionem tuam, tam mutuum amorem nostrum tanta silentia. Scribe tandem amicus amicissimo. … Longissimas literas exspecto: aliquam fabulam, aliquam iucundam narrationem, aliquas novitates.“ 41 GILLERTt Nr. 25a (Urban an Aldus Manutius, 10. November 1505); Krause Nr. 315 (Urban an Reuchlin, 15. Oktober 1513).

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Urbans hätte auch einen Schatten auf sein eigenes humanistisches Renommee geworfen.42

1.2 Das ungleiche Paar – Literatur für Käse und Fische DAS UNGLEICHE PAAR

Was Urban an Mutian schrieb, wissen wir, wie gesagt, nicht, können es nur durch Mutians Antwortbriefe teilweise erschließen; denn dieser griff oft zur Feder, zu bestimmten Zeiten manchmal jeden Tag, und er schrieb über fast alles. Ich kann nicht anders als Dir alles mitzuteilen, gestand er ihm.43 Mutian hat Urban geliebt wie keinen anderen. Vor allem schätzte der Kanoniker, der sich für das otium entschieden hatte, Urbans Fähigkeit, otium und negotium zu verbinden, also den schwierigen Spagat zwischen einer sich der Gemeinschaft widmenden Tätigkeit und der literarischen Muße zu schaffen. Wer sollte Dich nicht loben? Ich habe viele sowohl erfahrene und sehr untadelige Klosterverwalter gekannt, unter denen mein Bruder einst am Mainzer Hof durch seine Klugheit hervorstach, aber so gebildete, so menschliche, so vorsichtige, Dir vergleichbare habe ich nur ganz wenige gekannt. Du vermehrst und vergrößerst Deine öffentlichen Aufgaben nicht auf unmäßige Weise, nicht übermütig wie Friedrich Hünerjager [der Oekonom des Klosters Reinhardsbrunnen],44 sondern auf Deine ruhige, bescheidene und kluge Art, sodass Du, obwohl Du nach dem Abt der zweitwichtigste Mann Deines Klosters bist, dennoch durch Deine Urbanität und Milde gleichsam der unterste der Brüder zu sein scheinst. Unsere Vertrautheit und Freundschaft ist ein Zeugnis für Deine Bildung und Güte.45

42 Über die Qualität der Briefe Urbans gehen die Meinungen auseinander: POSSET, A Cistercian Monk, sagt: „Urbanus’ outstanding knowledge of classical Latin is beyond doubt.“ (S. 118). Dagegen KRAPP, Der Erfurter Mutiankreis, S. 69: „Ihn als Humanisten zu bezeichnen ist eine Übertreibung. … Die wenigen erhaltenen Stilproben zeigen, dass er nicht ohne Begeisterung dabei ist, sich den humanistischen Jargon zu eigen zu machen, der Klassiker liest, aber das alles ist doch dürftig und nüchtern.“ 43 GILLERT Nr. 308 (Mutian an Urban, 29. August 1513): „Sed ego tecum non possum non omnia communicare.“ 44 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 40, Anm. 2. 45 GILLERT Nr. 29 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „Quis te non laudaret? Novi complures et peritissimos atque optimos economos, inter quos frater olim meus in palatio Moguntino prudentia floruit, sed ita doctos, ita humanos, ita cautos, ut tecum sint comparandi, sane quam paucissimos. Auges et amplificas rem tuam publicam non insolenter, non superbe velut Fredericus magnoculus, sed placide, modeste, sapienter, ut, quum post abbam primus sis ordinis tui, morum tamen urbanitate et comitate quasi infimus fratrum esse videaris. Literatura vero et bonitate quanta sis, declarat familiaritas nostra.“

DAS UNGLEICHE PAAR

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Urban seinerseits ließ seinem nicht gerade armen, aber doch durch seine gefährliche Großzügigkeit immer wieder in Geldverlegenheit steckenden Freund immer wieder Naturalien wie Butter, Fische, Fleisch, Käse und Holz zukommen.46 Mutian revanchierte sich auf verschiedene Art und Weise. Eine Fischsendung Urbans vergalt er mit einem Bündel von Briefen von Freunden, da Briefe als etwas Wertvolles angesehen wurden.47 Bei einer anderen Gelegenheit bedankte er sich bei Urban ebenfalls für Fische – die Zisterzienser waren berühmt für ihre Teiche und damit Fischzucht – mit einem angeblich extemporiert verfassten Gedicht – über Fische.48 Ein nicht profanes Werk Wimpfelings konnte ebenso als Dank für erwiesene Dienste dienen wie ein Brief,49 der einen interessanten Predigtstoff enthielt.50 Für eine sehr üppige Sendung von 60 Käsen und einem Fass Butter bedankte sich Mutian durch Mitteilung allerhand literarischer Neuigkeiten.51 Oft bedauerte er, dass er kein Gegengeschenk machen kann, dass er sich nur mit steriles literae, also einem nichtssagenden Brief, revanchieren könne.52 Damit die Briefe aber wertvoll und weniger steril wurden, bemühte er sich um etwas Besonderes. Als Urban ihm im Frühjahr 1508 eine höchst willkommene Holzsendung gesandt hatte – willkommen, denn das für den Winter zurückgelegte Holz war bereits aufgebraucht, als ein plötzlicher Kälteeinbruch neuerliches Heizen notwendig machte – ließ ihm Urban das bitter benötigte Heizmaterial zukommen. Bei dieser Gelegenheit beließ es Mutian nun nicht bei einem schlichten Dankschreiben, sondern verfasste einen ausführlichen mit Zitaten von Plinius, Lukrez, Ovid, Livius, Seneca, Tibull, Properz, Sueton, Ammianus Marcellinus und Vegetius gespickten Brief.53 Ein anderes Mal hielt er es schließlich sogar für eine göttliche Fügung, dass er an dem Tage, an dem er

46 Butter: GILLERT Nr. 48; Fisch: GILLERT Nr. 35; Fleisch: GILLERT Nr. 98; Holz: GILLERT Nr. 10 und 66; Käse: GILLERT Nr. 54. (Alle Briefe von Mutian an Urban) 47 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Verum ut aliquo saltem beneficio nostro gaudeas accipies collationis seu doni loco quinas amicorum literas. … Nam hoc tempore, quod tibi pro eruditione tua iucundius esse posssit, non habeo.“ 48 GILLERT Nr. 44 (Mutian an Urban, während der Fastenzeit 1506). 49 GILLERT Nr. 9 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „ neque autor irreligiosus est neque opus prophanum.“ Es ist nicht klar, um welches Werk Wimpfelings es sich handelte, da dieser in dem besagten Jahr drei Werke veröffentlicht hatte. 50 GILLERT Nr. 85 (Mutian an Urban 1505–1508): „Nam quod aliter respondere meritis tuis non possum, offero tibi concionatori argumentum salutare contionis futurae.“ 51 GILLERT Nr. 54 (Mutian an Urban, nicht lange nach dem 26. Juli 1507): „Volenter accepi, sed quid mercedis rependam nescio.“ 52 GILLERT Nr. 23 (Mutian an Urban, Herbst 1505): „Nam praeter has steriles literas nihil possum ad te mittere, quod grati animi testimonium prae se ferat.“ 53 GILLERT Nr. 60 (Mutian an Urban, Frühjahr 1508).

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Holz von Urban bekommen hatte, gleichzeitig ein Buch an diesem weggeschickt habe.54 Mit göttlicher Fügung hatte das wenig zu tun, denn so waren nun einmal die Rollen aufgeteilt: Urban erledigte die praktischen Angelegenheiten, während Mutian unermüdlich mahnte, sich den humanistischen Studien zu widmen. Liebe die lateinische Welt! Darin sind alle guten Künste beschlossen. Jeder, der außerhalb dieser ist, ist widerlich, barbarisch und ein fauler Schwätzer.55 Mutian nahm also für sich in Anspruch, Urban für die humanistischen Studien gewonnen zu haben: Vor allem danke Gott, der Dich den Barbaren abspenstig gemacht hat und in unsere, d.h. lateinische Zenturie gedrängt hat.56 Diesem glücklich aus den Fängen der Barbaren geretteten Mann gab er nun, ebenso wie Spalatin und seinen anderen Freunden, immer wieder Aufgaben, leitete und korrigierte sie und versorgte sie mit gezielten Literaturhinweisen. Nachdem er sich zum Beispiel des Längeren über das Problem der Armut ausgelassen hat, bekannte er, aus zwei Gründen darüber geschrieben zu haben, einmal weil seine Amtsbrüder in Gotha sich über die Armut der Geistlichen gestritten hätten, zum anderen aber, weil er Urban, den Verwalter eines der reichsten Klöster Thüringens, zu einem kurzen Werk über das Lob der Armut anregen wollte. Ich schlage Dir also folgendes Thema zur Bearbeitung vor: Ob das ganze Gold, was sich unterhalb und oberhalb der Erde befindet, verglichen werden könnte oder müsste mit jener Freude, die gebildete Menschen in ihren Studien über die Attraktivität der Literatur empfinden.57

54 GILLERT Nr. 10 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Spiritus domini, qui replet orbem terrarum et te pro sua benignitate inspiravit, ut silvestri, sed et magno nos munere donares et mihi sic aspiravit, ut novitium, pium, elegans Vuimphelingi opus tibi transmitterem.“ 55 GILLERT Nr. 39 (Mutian an Urban, vor Weihnachten 1505): „Ama rem latinam, in qua omnes bonae insunt artes. Extra quam quisquis est, putidus est et barbarus et nugator ignavus.“ 56 GILLERT Nr. 91 (Mutian an Urban, 1505–1508): „Omnium primum age Deo gratias, qui te abalienatum a barbaris in nostram, hoc est latinorum centuriam impegit.“ 57 GILLERT Nr. 95 (Mutian an Urban und Spalatin, Ende 1505 bis Herbst 1508): „Propono tibi hanc quaestionem: An aurum omne, quod sub terra supraque terram est, comparari possit aut debeat cum ea animi voluptate, quam eruditi homines de literarum suavitate studiis percipiunt.“

DIE ANGELEGENHEIT MIT DER NONNE

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1.3 Die Angelegenheit mit der Nonne DIE ANGELEGENHEIT MIT DER NONNE

Die Phase der gelegentlichen Besuche in Gotha und Schönau und des häufigen Schreibens kam im Juli 1508 zu einem vorläufigen Ende. Schuld daran war eine Nonne. Der Odysseus in Kapuze hatte sich offenbar nicht mit der metaphorischen Geliebten seiner Briefkunst begnügt, sondern seine Gothaer Besuche nicht nur zur Erledigung von Klostergeschäften und zu wissenschaftlichen Gesprächen mit seinem Mentor benutzt, sondern auch zu Stelldicheins mit einer Nonne des in dieser Stadt gelegenen Frauenklosters zum Heiligen Kreuz. In schwangerem Zustand war diese geflohen. Die Mitschwestern beschuldigten Urban der Tat, was dieser allerdings heftig abstritt. Da darüber keine unparteiischen Quellen existieren, ist man für die Rekonstruktion der Ereignisse im Wesentlichen auf zwei nicht ganz objektive Briefe Mutians angewiesen.58 Im ersten Brief schien Mutian die Angelegenheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Kirchenrechtlich sei die Entehrung einer Nonne natürlich ein Sakrileg, gab Mutian zu und fügte hinzu: Wenn Du also schuldig bist, ahme die Blinden nach und rufe aus: „Ach Du Sohn Davids, erbarme Dich unser.“ Und gleich darauf verschwindet die Strafe und die Schuld wird vergeben. So groß ist die Gnade Gottes. Wenn Du aber nicht mit der Geliebten geschlafen hast, lass die Aufregung bleiben und trinke einen guten Wein. Bacchus vertreibt die nagenden Sorgen.59

Und mit diesen Worten ging er zu den für einen Humanisten wichtigen Dingen über: den möglichen Ankauf von Büchern. So schnell ließ sich aber die Angelegenheit nicht aus der Welt schaffen. Urbans Georgenthaler Vorgesetzter, der Abt Johannes, ein Geistlicher, dem man nicht Prüderei vorwerfen konnte und an dessen Gelagen auch weibliche Gäste teilnahmen,60 nahm die Sache ernst, weil es sich dabei gewissermaßen um einen Inzest zwischen Geschwistern, einer Nonne und einem Mönch, gehandelt habe. Der Abt bestellte den von ihm sehr geschätzten Mutian zu Konsultationen ins Kloster, worüber Mutian in einem ausführlichen Brief an Urban – mit etwa 2.300 Wörtern einer der längsten Schreiben Mutians – berichtete. Es sei nicht glaubhaft, so habe er, Mutian, gegenüber Duronius argumentiert, dass Urban die Tat begangen habe. Als Beweis für den unbescholtenen Charakter seines 58 GILLERT Nr. 73 und 74 (beide von Mutian an Urban, um den 11. Juli 1508). 59 GILLERT Nr. 73: „Si igitur incestus es, imitare caecos et clama: ‚Fili David, miserere nostri.‘ Et continuo evanescit ultio, culpa condonabitur. Tanta est Dei clementia. Sin autem non rapuisti amatam, mitte consternationem et bibe bonum vinum. Dissipat curas Evius edaces.“ 60 Vgl. Die drastische Beschreibung eines Gastmahls in Georgenthal, an dem Mutian gezwungermaßen teilgenommen hatte: GILLERT Nr. 147 (Mutian an Urban, 1508–1509).

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Freundes habe er dessen umsichtige Amtsführung, seine Frömmigkeit und Liebe zu den humanistischen Studien angeführt: Urban ist für große Dinge geboren, die er in Deinem Auftrage genauso klug wie mit glücklicher Hand ausführt. Außerdem zeichnet er sich durch große Frömmigkeit und seine Bewunderung für Mutian aus.61

Er habe ihm also ein glänzendes Führungszeugnis ausgestellt. Freilich musste auch Mutian zugeben, dass es zwischen Urban und der Nonne eine Beziehung gegeben haben könnte: Vielleicht wechselten sie Briefe und kleine Geschenke, besuchten sich, trafen sich in ihren Zellen und unterhielten sich angeregt. Sollen wir daraus Verdacht schöpfen, da es doch eine alte Sitte ist, dass Mönche und Nonnen kleine Liebenswürdigkeiten austauschen?62

Auf diese verharmlosende Darstellung habe der Abt auf die unübersehbare Tatsache der Schwangerschaft der Nonne hingewiesen. Auch darauf habe er, der juristisch versierte Mutian, auf die baufällige Mauer auf der Rückseite des Klosters hingewiesen, durch die leicht andere Jünglinge den Weg zu der besagten Nonne hätten finden können. Mit anderen Worten, er habe Zweifel an der Vaterschaft Urbans geäußert. Dass dieses Argument, auch andere junge Männer kämen für die Nonnenschändung in Betracht, auf schwachen Füßen stand, wusste Mutian wohl auch selber, denn sobald er die Wiedergabe des Gesprächs mit Duronius beendet hat, wandte er sich mit der direkten Frage an Urban: Aber wenn es so ist, wie Du behauptest, nämlich dass es zwischen Euch nur eine keusche und züchtige Liebe gegeben hat, woher kommt dann der dicke Bauch der Nonne? Hat Mars sie etwa geschwängert, wie er die Priesterin Ilia schwängerte? Ist es einem Gott erlaubt, Priesterinnen zu schänden, Sterblichen aber nicht? Hart ist das menschliche Los. Denn das alte Rom hat den blutschänderischen Mars verehrt. Bewundernswert war die Toleranz der Römer.63

Mit diesen Überlegungen zur kulturellen Relativität moralischer Normen schuf er einen eleganten Übergang zu einem sehr ausführlichen Abschnitt über ähnliche Fälle in der heidnischen und christlichen Antike, in dessen Verlauf er auch 61 GILLERT Nr. 74 (Mutian an Urban): „Natus ad magna claraque negotia, quae mandato tuo non minus sapienter quam feliciter gerit, totus pietate insignis, totus Mutiani admirator.“ 62 GILLERT Nr. 74 (Mutian an Urban, S. 102): „Esto, dederint invicem internuntias epistolas, minuta donaria, inviserint se mutuo, libenter consederint in cella cupide confabulantes, ultro aures arrexerint, non ideo suspiciosi erimus, cum sit antiqui moris licere monastis habere caritatulas, quas ego nunquam amasias aut impudicas appellarem.“ 63 GILLERT Nr. 74 (Mutian an Urban, S. 103): „Si fuit, ut ais, inter vos sincerus et castus amor, unde venter protuberans? Num Mars Urbani delicias velut alterum Iliam, compressit? An deo fas est adyta divina contaminare, hominibus nefas? Dura mortalium conditio. Incestum Martem Roma coluit. Mira patientia Romanorum.“

STUDIUM IN LEIPZIG

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über eine mögliche Strafe für das frevelhafte Vergehen nachsann. Entschieden lehnte er Auspeitschen und Karzer für den schuldigen Mann als unchristlich ab. Für die Frau sei schon die Geburt selbst eine Strafe, da sie oft bei der Entbindung stürbe. Ob Mutian wirklich an die Unschuld Urbans geglaubt hatte, ließ er letztlich offen. Er gab zu, dass Urban kein Engel sei, dass er den Versuchungen des Fleisches nur schwer widerstehen könne und dass er mit Jungfrauen und verheirateten Frauen leidenschaftlichen Sex habe und sozusagen ein Bettnahkampfexperte (clinopalem) sei.64 Das Gebot der sexuellen Enthaltsamkeit war nicht Urbans Forte. Den Abt aber überzeugten weder Urbans eigene Unschuldsbeteuerungen noch Mutians glänzendes Charakterzeugnis. Zwar wurde Urban weder ausgepeitscht noch musste er in einem Karzer schmachten. Auch aus dem Orden wurde er nicht verstoßen, wohl aber vorübergehend seines Amtes als Oeconomus entbunden.65 Duronius schickte ihn zur Fortbildung nach Leipzig. Über das Schicksal der Nonne ist nichts bekannt.

1.4 Studium in Leipzig – „nichts als Lappalien“ STUDIUM IN LEIPZIG

In Leipzig wohnte Urban im Zisterzienserkolleg als frater sacerdos Henricus de monasterio vallis sancti Georgii.66 Des Abtes möglicherweise gut gemeinte Absicht, Urban die Möglichkeit zu geben, nachträglich den Bakkalaureus- und Magistergrad zu erwerben,67 empfanden die beiden Freunde keineswegs als willkommene Fortbildungsmaßnahme, sondern als Verbannung ins Exil und als „Strafversetzung“.68 Auch ohne diese akademischen Würden hätte Urban Abt oder sogar

64 GILLERT Nr. 74 (Mutian an Urban, S. 109): „Urbanus fornicarius non est, quamvis virgines maritatasque cupidissime futuat an unguem doctus clinopalen et amatoriam militiam.“ Getreu dem biblischen Gebot „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird man Euch wieder messen“ (Matthäus 7,2) wäre wohl die gerechte Strafe, wenn ein Müller mit einem kräftigen Glied ihn missbrauche. („Notum est illud: Qua mensura messi fueritis … ut scilicet pro tot futuariis flagitiis a membroso pistore miris modis paedicetur.“) 65 In dieser Hinsicht will ich den Satz in meinem Artikel „Der Erfurter Humanistenkreis“ (S. 148): „Nachdem er wegen intimer Beziehungen zu einer Nonne entlassen worden war“, verstanden wissen. So interpretierte es auch KLEINEIDAM in „Urbanus“, in: CoE III, S. 355: „After misconduct with a nun caused Urbanus to lose his office.“ 66 KRAUSE, Briefwechsel, S. 107, Anm. 1. 67 GILLERT Nr. 112 (Mutian an Urban, 20. Oktober 1508): „Postquam ita sylvanis tuis placuit, ut te prudentissimum abigerent ac relegarent, ferre debes hanc fortunam, ne si eam graviter molesteque tuleris, acerbius tibi ipsi facias exilium.“ 68 Exil: GILLERT Nr. 112 (Mutian an Urban); Strafversetzung: SCHMIDT-EWALD, Der Georgenthaler Hof in Erfurt, S. 95.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Bischof werden können, argumentierte Mutian.69 Urban hatte offenbar wenig Verständnis für den Leipziger Unterrichtsbetrieb. Gegenüber seinem Freund Spalatin klagte er: In dieser pythagoreischen Schule lese ich als fleißiger Hörer des dummen Zeuges außer Lappalien nichts. Die absurden und albernen Lehrsätze und Regeln der Sophisten stumpfen die angeborne Schärfe des Verstandes ab.70

Trotzdem erwarb er ohne innere Begeisterung, aber mit gewohnter Effizienz im Oktober 1509 den Bakkalaureus und ein Jahr später den Magister.71 Eine verlorene Zeit dürfte aber der Leipziger Aufenthalt trotzdem nicht gewesen sein. Der Aufforderung Mutians, seine Leipziger Studienzeit zu Griechischstudien zu nutzen,72 wobei er sich an Cato ein Beispiel nehmen solle, der noch in hohem Alter Griechisch gelernt habe, folgte Urban, indem er bei zwei Lehrern, einem unbekannten Kreter und dann bei dem Arzt Christopher Sonfeld Griechisch-Unterricht nahm. Auf Urbans neu erworbene Griechischkenntnisse vertrauend, flocht Mutian von nun an gelegentlich einzelne griechische Wörter, Sprichwörter und Zitate in seine Briefe an seinen Freund ein.

1.5 Verwalter des Georgenthaler Hofes in Erfurt VERWALTER DES GEORGENTHALER HOFES IN ERFURT

Auf Fürsprache Mutians wurde Urban 1510 nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums in Leipzig zum Verwalter des Georgenthaler Hofes in Erfurt ernannt.73 Der seit 1217 bestehende Gebäudekomplex war weit mehr als ein würdiges Absteigequartier für den Abt bei dessen gelegentlichen Besuchen in Erfurt. Nach einem Brand 1472 wiederaufgebaut, bestand der Hof des Klosters aus Haupt- und Wirtschaftsgebäuden, Pferdeställen, Brauhaus und Bleiche. Eine 69 GILLERT Nr. 112 (Mutian an Urban): „Ego sine lachrymis non possum animo replicare tuum casum, etsi antistes dicat te prae ceteris honestatum et delectum ac dignum habitum, quem e suo numero Lipsim dimitteret. Credat imperitus. Mihi non persuadet, quum Urbanus meus etiam sine baculo, sine magisterio fuerit et literis et peritia praestantissimus et dignus non solum archigalli throno, sed etiam episcopali sede.“ 70 GILLERT Nr. 122a (Krause Nr. 116, 1509, Urban an Spalatin): „Ego enim in hac schola Pythagorica sedulus nugamentorum auditor praeter quisquilias nihil lego. Et absurda frivolaque sophistarum dictata nativam aciem ingenii obtundunt et hebetant.“ 71 KLEINEIDAM, Urbanus, S. 356. 72 GILLERT Nr. 124 (Mutian an Urban, um Ostern 1509: „Graecam vero literaturam, cui studes, laudare satis non possum. Emulare Catonem illum Censorium.“ In GILLERT Nr. 126 (Mutian an Urban) wiederholte er die Bitte, Griechisch zu lernen: „… delector et ideo valde rogo, ut literas graecas belle scribendo discas sub praeceptore Christoforo, physico doctissimo.“ 73 Zum Folgenden besonders SCHMIDT- EWALD, Der Georgenthaler Hof in Erfurt, S. 94 ff.

VERWALTER DES GEORGENTHALER HOFES IN ERFURT

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der Hauptaufgaben Urbans war die Eintreibung der Zinsen – bei der bekannten Abneigung der Menschen, sich von ihrem hart erarbeiteten Geld zu trennen, eine nicht immer leichte Aufgabe, die bei dem weit gestreuten Besitz des Klosters häufige Reisen notwendig machte. Dabei hatte er wohl auch Wagen zur Verfügung, denn 1524 bot er Spalatin an, ihm einen solchen zur Verfügung zu stellen.74 Bis zu seinem Tode im Jahre 1538 sollte Urban in Erfurt als Verwalter des Georgenthaler Hofes wirken, wenn auch seit der Reformation in etwas anderer Funktion; denn in der zweiten Aprilhälfte des Jahres 1525 wurde das Kloster Georgenthal von Bauern zerstört, die Mönche flüchteten und fanden vorübergehende Aufnahme im Erfurter Georgenthaler Hof, bis sie etwa ein Jahr später in das Gothaer Augustinerkloster übersiedelten, wo sie zusammen mit den Augustinern und Reinhardsbrunner Mönchen als Altpensionäre ihr Leben in Ruhe beschließen konnten.75 Der Georgenthaler Hof selbst wurde zunächst von einem gewissen Nickel von Ende übernommen, dann von der Stadt Erfurt beschlagnahmt und gelangte schließlich in kursächsische Hände. In all diesen Jahren blieb Urban Verwalter. Offenbar wollte keiner der jeweiligen Eigentümer auf den tüchtigen Verwalter verzichten. Für Mutian hatte die Übersiedlung Urbans in das relativ nahe Erfurt unbestreitbare Vorteile. Von hier aus konnte sich Urban beispielsweise um Mutians Haus kümmern und die komplizierten Verhandlungen mit den Mietern und potenziellen Käufern führen. Die ganze Angelegenheit überlasse ich Deinem Eifer, Deiner Gewissenhaftigkeit und Deiner Geschicklichkeit,76 bat Mutian ihn. Urban erwies sich als umsichtiger und unersetzlicher Unterhändler nicht nur in dieser komplizierten Sache und beim Verkauf des mutianischen Weinberges, sondern auch bei der Besorgung von Geschenken77 oder dem Kauf von Gegenständen des persönlichen Bedarfs, die es in Gotha nicht zu kaufen gab. So bat er etwa 1515 Urban, ihm eine Handlaterne zu besorgen, die ihm im Winter beim morgendlichen Gang zur Kirche den Weg leuchte.78 74 GILLERT Nr. 620b (Urban an Spalatin, 7. März 1524): „Vale, charissime frater et fac me certiorem, an huc venire velis – nam vectabulum tibi volo procurare.“ 75 GILLERT Nr. 625b (Urban an Spalatin; 6. März 1526): „Ceteri monastae Georgiani die purificationis Marianae iussu generosi Ioannis Grefendorfii Gotham commigrarunt illic in cenobio Augustinensium una cum Reinhartzbornensibus et Aurelianis vitae reliquum acturi.“ Vgl. auch SCHMIDT-EWALD, Der Georgenthaler Hof, S. 96. 76 GILLERT Nr. 306 (Mutian an Urban, 27. August 1513): „Permitto totum negotium tuo studio, tuae fidei, tuae solertiae.“ 77 GILLERT Nr. 375 (Mutian an Urban, kurz vor dem 5. Juni 1514). 78 GILLERT Nr. 539 (Mutian an Urban, kurz vor dem 14. September 1515): „… ut dono mittant [die Karthäuser] laternulam manualem, qua utar mane templum aditurus. Wann die Carthuser machen schone latern vnd geben sie guten freunden.“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Auch für den Bücherenthusiasten Mutian wurde Urban zu einer unersetzlichen Hilfe. Immer wieder betraute Mutian Urban mit dem Kauf spezifischer Bücher bei Buchhändlern oder aus Privatbesitz.79 Kaum war zum Beispiel der bekannte Jurist und Kanzler des sächsischen Kurfürsten Johannes Biermost gestorben, bat Mutian seinen Erfurter Verbindungsmann, Bücher aus dessen Nachlass zu erwerben.80 Da aber auch die Universitätsstadt Erfurt Mutians Bücherhunger nicht stillen konnte, beauftragte er Urban, die Frankfurter und Leipziger Buchmessen aufzusuchen,81 und erboste sich über Duronius, der sich als Urbans Vorgesetzter geweigert hatte, diesen 1514 nach Leipzig reisen zu lassen.82 Vor allem aber wurde Urban zum wichtigsten Bindeglied zwischen dem in seiner BEATA TRANQUILLITAS das selbstgenügsame Leben eines Wissenschaftlers führenden Mutian und dem Humanistenzirkel, der sich seit 1514 um Eobanus Hessus in Erfurt gebildet hatte (siehe unten). Dessen heiteren Zusammenkünften auf der „Engelsburg“ in Erfurt wohnte auch nach dem Zeugnis des jungen Camerarius der äußerst freundliche (humanissimus) und nicht ungebildete Zisterziensermönch Urban bei. Gelegentlich soll er sogar den „Hofstaat“ des „Königs Hessus“ – so nannte man den Dichterkönig scherzhaft – in den Georgenthaler Hof eingeladen und dort relativ großzügig bewirtet haben, soweit es eben die Umstände und Zeiten erlaubten.83

79 GILLERT Nr. 271, 324, 367, 378 (alle Mutian an Urban). 80 GILLERT Nr. 221 und 222 (Mutian an Urban, kurz nach dem 18. Oktober 1512). 81 Frankfurter Buchmesse: GILLERT Nr. 523 (Mutian an Urban); Leipziger Buchmesse: GILLERT Nr. 542 (Mutian an Urban). 82 GILLERT Nr. 386 (Mutian an Urban, um den 21. Juni 1514) 83 BURKARD/KÜHLMANN (Hg.), Camerarius, De Helio Eobano Hesso Narratio, S. 84 f.: „Erat familiae cuiusdam religiosae (Georgiana nuncupabatur) curator Erphordiae, vir humanissimus & valde prudens neque illiteratus, cui Henrico Vrbano nomen. Is in Eobanico grege non ferebat postremas ac saepe illum cum suis accipiebat, vt res erant ac tempora, satis prolixe.“

GEORG SPALATIN

2.

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Georg Spalatin – ein Mann macht Karriere

GEORG SPALATIN

In diesem Jahr [1503 oder 1504] wurde ich von meinem Lehrer Dr. Nikolaus Marschalk aus Thüringen brieflich dem bedeutenden Doktor Conrad Mutianus Rufus, dem Kanoniker aus Gotha, empfohlen.84 Mit diesen knappen Worten beschrieb Georg Burckhardt, der sich seit 1502 nach seinem fränkischen Heimatort Spalt Spalatinus nannte, in seiner Lebensskizze den Beginn einer Freundschaft mit einem Mann, der ihn zeit seines Lebens wie einen Sohn lieben, in seiner geistigen Entwicklung entscheidend prägen und fördern sollte, den er selbst noch nach Jahrzehnten, als er längst in hohe politische Ämter aufgestiegen war, stets als seinen geliebten Lehrer (amantissimus praeceptor) adressieren würde. Spalatin war Humanist, Historiker, Übersetzer und Theologe und stand fast 20 Jahre im Dienste des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen, zu dessen engster Umgebung er als Privatsekretär gehören sollte. Als unermüdlicher Vermittler zwischen diesem und seinem Freund Martin Luther spielte er eine äußerst wichtige Rolle in den entscheidenden Jahren der Reformation. Mit Mutian war er seit 1504 aufs Engste befreundet und bildete zusammen mit Henricus Urbanus seit 1505 den Kern des mutianischen Kreises, dem sich in den folgenden Jahren andere Männer wie Peter Eberbach, Herebord von der Marthen, Crotus Rubeanus und Eobanus Hessus anschlossen.85 Georg Burckhardt wurde am 17. Januar 1484, also nur wenige Wochen nach Martin Luther, in der 35 km südwestlich von Nürnberg liegenden Gemeinde Spalt in Mittelfranken geboren. Seine Herkunft aus einer nicht kirchlich sanktionierten Verbindung sollte ihn in späteren Jahren, als er sich um eine kirchliche Pfründe bewarb, noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten (siehe unten). Da sein Vater, ein „Rotgerber“, bereits 1484 gestorben war,86 also im Jahr von Georgs Geburt, wurde er von der Mutter allein großgezogen.87 Einen älteren 84 BERBIG, Spalatiana, S. 17: „Eo anno commendatus sum literis Praeceptoris mei Doctoris Nicolai Marsalci Thuringii summo viro Doctori Conrado Mutiano Rufo Gothensium Canonico.“ Das von Spalatin angegebene Datum 1502 beruht auf einem Irrtum. Vgl. HÖSS, Georg Spalatin, S. 16. 85 Von den zahlreichen Briefen, die zwischen den zwei Männern gewechselt wurden, haben sich lediglich 13 von Mutian an Spalatin (von denen fünf sowohl an Spalatin als auch an Urbanus gerichtet sind) und 13 von Spalatin an Mutian erhalten: Mutian an Spalatin: GILLERT Nr. 4, 11, 13, 33, 40, 67, 79, 101, 109, 155; Mutian an Spalatin und Urban: GILLERT Nr. 37, 57, 69, 95, 102; Spalatin an Mutian: GILLERT Nr. 34, 584, 595, 597, 600, 602, 610, 613, 615, 618, 621, 631, 641; Urban an Spalatin: GILLERT Nr. 122a, 605b, 620a, 620b, 620c, 620d, 625b. Darüber hinaus wird Spalatin in mehr als 150 Briefen der mutianischen Korrespondenz mehr oder weniger ausführlich erwähnt. 86 So ULSAMER, Spalatins Beziehungen zu seiner fränkischen Heimat, S. 462. 87 HÖSS, Georg Spalatin, S. XX.

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Bruder oder Halbbruder musste er in späteren Jahren immer wieder finanziell unterstützen. Nach dem Besuch der Stiftsschule St. Nikolaus in Spalt schickte man den 13-Jährigen 1497 auf die Lateinschule St. Sebald in Nürnberg, eine Anstalt, die einen guten Ruf genoss, nicht zuletzt, da man den humanistisch orientierten, in Italien ausgebildeten Pädagogen Heinrich Grüninger dort engagiert hatte. Durch diesen dürfte der junge Burckhardt eine erste Bekanntschaft mit den antiken Klassikern gemacht und die Grundlagen seines ausgezeichneten Lateins gelegt haben. Im Sommersemester 1498 immatrikulierte sich Spalatin an der Universität Erfurt als Georius Borgardi de Spaltz.88 Erstaunlich schnell erwarb er sich innerhalb eines Jahres, also 1499, den Bakkalaureus.89 Wichtig für seine weitere intellektuelle Entwicklung wurde dort die Begegnung mit Nikolaus Marschalk, der, wie wir sahen (vgl. Kap. II), während Mutians Italienaufenthalt einen Kreis von Schülern um sich gesammelt hatte. Spalatin studierte Griechisch bei ihm und wurde bald dessen bester und treuester Schüler, sodass der Lehrer seinen puer amanuensis gleichzeitig mit Peter Eberbach, einem weiteren Mitglied des späteren Mutian-Kreises, mit der Herausgabe einer kleinen Anthologie beauftragte.90 Als Marschalk 1502 Erfurt verließ, um an der neugegründeten Universität Wittenberg zu lehren, schloss sich Spalatin seinem Lehrer an und erwarb dort im Jahre 1503 den höchsten Grad, den die Philosophische Fakultät zu vergeben hatte, den Magister Artium.91 Im Wintersemester 1504/05 kehrte er aber nach Erfurt zurück, nachdem Marschalk auch im Begriffe war, wegen persönlicher Schwierigkeiten die Universität Wittenberg zu verlassen. Im Spätherbst 1504 muss Spalatin nach Erfurt zurückgekommen sein, wo er sich zunächst dem Jurastudium widmete.

2.1 Das Triumvirat entsteht DAS TRIUMVIRAT ENTSTEHT

Spalatin begegnete also, mit der Empfehlung Marschalks in der Tasche, Mutian zum ersten Mal nach seiner Rückkehr nach Erfurt aus Wittenberg. Obwohl sich der präzise Zeitpunkt eines ersten Treffens nicht ermitteln lässt, erwähnte Mutian ihn spätestens am 30. Dezember 1504 in einem Brief an den Straßburger Freund Thomas Wolf: Als ich Deinen Brief erhielt, war Spalatin bei mir, ein rechtschaffener und

88 WEISSENBORN, Acten der Erfurter Universität, II, S. 204. 89 SCHWINGES, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 262: „Georius Burghardi de Spaltz.“ 90 Laus Musarum ex Hesiodi Ascraei Theogonia, Erfurt 1501 (VD 16, S 7423); BAUCH, Der Erfurter Frühhumanismus, S. 211. Erwähnt bei FRIEDENBURG, Wittenberg, S. 102; HÖSS, Georg Spalatin, S. 12. 91 HÖSS, Georg Spalatin, S. 14.

SPALATIN ALS LEHRER IN GEORGENTHAL

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gebildeter junger Mann, der diesen Brief nach meinem Diktat schrieb.92 Mit großem Interesse gebe er sich der wissenschaftlichen Erforschung der römischen Welt hin.93 Wenige Monate später machte dann Mutian Spalatin mit Urban bekannt: Morgen, glaube ich, wirst Du hier Urban sehen, mit dem Du eine enge Freundschaft schließen musst.94 Der Frühsommer 1505 markierte also den Beginn einer lebenslangen Freundschaft zwischen Spalatin und Urban, die bis in die zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts dauern sollte. Immer wieder unterstützte der als Klosterwirtschaftsverwalter erfahrene Urban seinen in finanziellen Angelegenheiten unerfahrenen und teilweise sehr naiven Freund. Andererseits bildete sich dadurch in diesem Jahr auch der Dreierbund, das Triumvirat, wie Mutian selbst die Freundschaft zwischen sich und den beiden Freunden bezeichnete,95 also der Kern des sich in den folgenden Jahren bildenden ordo Mutiani.

2.2 Spalatin als Lehrer in Georgenthal – eine Bresche für den Humanismus SPALATIN ALS LEHRER IN GEORGENTHAL

Nach seiner Rückkehr nach Erfurt stellte sich für Spalatin als jemanden, der von seiner Familie nicht unterstützt werden konnte, zunächst die Frage der Existenzsicherung. Eine Stelle als Hauslehrer bei der Erfurter Patrizierfamilie Gerlach von der Marthen befriedigte ihn offenbar nicht.96 Mutian, der mit seinen Jüngern nicht nur geistigen Verkehr pflegte, sondern sich auch stets um deren berufliche Existenz kümmerte, bemühte sich deshalb, Spalatin eine Stelle als Novizenlehrer in Urbans Kloster Georgenthal zu verschaffen. Über Mutians Motive, über die Schwierigkeiten, diese Stellung für seinen Schützling zu sichern, und über dessen dortige Aufgaben sind wir durch die Briefe, die in dem „Triumvirat“ zu diesem Thema gewechselt wurden, gut unterrichtet. Zunächst musste Mutian den Abt des Klosters, Duronius, überreden, den erst 21-jährigen Spalatin überhaupt anzustellen. Obwohl die auf Lateinisch und sicherheitshalber auch auf Deutsch geschriebenen Briefe an den Abt (da man 92 GILLERT Nr. 640 (Mutian an Thomas Wolf, 30. Dezember 1504): „Quo accepi tempore, fuit mecum Spalatinus, probus et litteratus iuvenis, qui nostras hasce me dictante conscribit.“ 93 GILLERT Nr. 640: „Est enim acer et diligens investigator rei latinae.“ 94 GILLERT Nr. 4 (Mutian an Spalatin, um den 29. Juni 1505): „Cras, puto, videbis istic Urbanum, cum quo debes societatem coire.“ 95 GILLERT Nr. 29 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „Spalatinus noster, qui sic implet triumviratum amicitiae nostrae.“ Ebenso: GILLERT Nr. 43 (Mutian an Urban, 8. April 1506): „Clarissimum faciemus triumviratum.“ 96 Spalatin berichtet darüber in seiner kurzen Vita: „Fit preaeceptor Margaritorum praeclari Wolfgangi Leonis fratrum Erphordiae.“ In: BERBIG, Spalatiana S. 17. Bei den zu betreuenden Kindern handelte es um die jüngeren Geschwister Herebords von der Marthen.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

ihm offenbar ausreichende Kenntnisse im Lateinischen nicht zutraute) nicht erhalten sind,97 können wir aus den Briefen Mutians an Urban die Argumente ersehen, mit denen dieser Duronius von der Eignung Spalatins für den Posten überzeugen sollte. Zum ersten Mal erwähnte Mutian die Idee, Spalatin nach Georgenthal zu holen, in einem Brief vom 29. Juni 1505. Geschickt ließ er dabei zunächst die Verwendungsmöglichkeit Spalatins offen. Wenn der Abt einen Oberkellner wolle oder einen Schüsselträger, wenn er einen verlässlichen Boten oder einen unterhaltsamen Gesprächspartner suche, mit dem er ernste und heitere Gespräche führen könne, würde er keinen besseren finden als Spalatin.98 Als Qualifikationen führte er Spalatins ausgezeichnete Beherrschung des Lateinischen und des Deutschen an, wobei er darauf hinwies, dass man in Nürnberg das eleganteste Deutsch spreche. Außerdem besitze er eine sehr schöne Handschrift.99 In seinem Charakterzeugnis schoss Mutian dabei sicherlich über das Ziel hinaus, wenn er den jungen Spalatin mit dem in ganz Deutschland geschätzten Jakob Wimpfeling verglich. Beide [Wimpfeling und Spalatin] sind gelehrt und rechtschaffen, beide sind reich und mächtig, freilich nicht im Sinne von „vermögend“ oder mächtig im Urteil der Ungebildeten, sondern wenn man auf ihre reichen Geistesgaben schaut.100 Das Nebeneinanderstellen des angesehenen, 34 Jahre älteren elsässischen Humanisten (1450–1528) mit dem 21-jährigen Spalatin, der noch nicht durch wissenschaftliche Publikationen aufgefallen war, war gewagt, denn Wimpfeling hatte damals schon neben einigen anderen Werken durch seine zwei erziehungstheoretischen Werke Isidoneus Germanicus (Wegweiser für die deutsche Jugend, 1497) und Adolescentia (Jugend, 1500) als Pädagoge deutschlandweit Anerkennung gefunden; Spalatin dagegen hatte außer dem bereits erwähnten kleinen Glossar für Nikolaus Marschalk nichts veröffentlicht. Mit dem Hinweis auf die pädagogischen Interessen beider wollte Mutian aber den Abt in die gewünschte Richtung lenken, denn Spalatin sollte nicht als Schüsselträger, Bote oder geistvoller Unterhalter, wie Mutian vorgab, sondern als Pädagoge nach Georgenthal gehen. 97

Gillert Nr. 6 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Scripsi ad eum, sed hui!, paulo latinius. Hic utor idiomate vernaculo.“ 98 GILLERT Nr. 3 (Mutian an Spalatin, 29. Juni 1505): „Si volet mensae structorem et discophorum, si fidelem nuntium, si in seriis iocisque collocutorem optimum, haud meliorem inveniet Spalatino.“ 99 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Continentissimus homo est, facundia tam latina quam vernacula ita conspicuus, ut inter equales excellat … Videbis etiam, quam sit Spalatini manus polita, castigatus stilus.“ 100 GILLERT Nr. 9 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Cum de Vuimphelingo loquor, crede me pariter de Spalatino disseruisse, qui nulla in re Iacobo excepta aetate inferior est. Uterque doctus et probus, uterque dives et potens, non quidem fortunae iudicio aut persuasione stultorum, sed si beatissima animi commoda spectes.“

SPALATIN ALS LEHRER IN GEORGENTHAL

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Der Abt zögerte jedoch. Das Problem für ihn war, dass die Stelle des Novizenlehrers noch durch einen hochbetagten Lehrer, der schon unter drei Äbten gedient hatte, besetzt war, und dass dieser keineswegs gewillt war, seinen Posten kampflos dem Jüngeren zu überlassen. In einem längeren, aus einer Mischung von Scherz und Ernst bestehenden Brief lieferte deshalb Mutian Urban, seinem Verhandlungsführer in dieser Angelegenheit, Argumente, mit denen man den Älteren überzeugen könne, sich pensionieren zu lassen. Besonders galt es, zwei mögliche Einwände gegen Spalatin zu entkräften: der Bewerber sei zu jung und von kleiner Statur. Gegen das erste Argument führte Mutian an, dass, bei allem Respekt vor dem Alter, Lebensalter und Klugheit wenig miteinander zu tun hätten. Es gebe neben weisen auch dumme Alte, genau wie es sehr kluge junge Männer gebe, wie man an der Karriere des Scipio Africanus sehen könne. Dieser habe in einem Alter, in dem er eigentlich noch nicht zur Führung eines Heeres berechtigt war, Spanien unterworfen, mit Klugheit und Weisheit die neugewonnene Provinz verwaltet und in kürzester Zeit vier Heerführer Karthagos besiegt. In vielen Fällen sei ein jugendliches Gehirn eben schneller als ein altes.101 Die gravitas, also Alterswürde, sei zwar eine schöne Tugend, trotzdem könne er sie nicht unbedingt gutheißen. Einem alten Pferd müsse man kräftig die Sporen geben, dass es schnell laufe, und einem Mühlesel müsse der Eselstreiber durch kräftige Schläge seine Langsamkeit austreiben.102 Auf das mögliche Argument, dass es doch einen Unterschied zwischen körperlicher und geistiger gravitas gebe, antwortete Mutian: Da stimme ich Dir zu, und jene [die geistige gravitas] gestehe ich Spalatin zu.103 Auch den zweiten Einwand gegen Spalatins Berufung, seine schmächtige Statur, widerlegte er scherzhaft. Ein behaarter, also alter Ziegenbock sei noch längst nicht ein Weiser, einen gebildeten Pygmäen verehre man eher als einen ungebildeten Riesen. Weißt Du denn nicht, dass Diamanten, Perlen und irgendwelche Preziosen immer klein sind?104 Das beste Argument hob er sich allerdings bis zuletzt auf: Urban solle dem alten Pädagogen Folgendes sagen:

101 GILLERT Nr. 17 (Mutian an Urban, September 1505, S. 27): „In multis celerior et cursus ingenii quam aetatis.“ 102 GILLERT Nr. 17: „Gravitas magna virtus est, hanc tamen in equo nullo modo probare possum, sed pugno calcaribus et verbere, ut alacriter decurrat. In asino molendinario tarditatem crebris ictibus asinarius castigat.“ 103 GILLERT Nr. 17: „At vero dices aliam esse morum, aliam corporis gravitatem. Concedo et hanc tibi permitto, illam Spalatino tribuo.“ 104 GILLERT Nr. 17: „An ignoras parvi corporis esse gemmas, margaritas et pretiosissima quaeque?“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Du hast schon eine reiche Weinlese gehabt, eine ausreichend ergiebige Ernte eingefahren, überlass dem jungen Mann wenigstens die Nach- und Ährenlese. Denn nach dem mosaischen Gesetz sollte ein Bauer nicht seinen Acker völlig abernten, sondern einen Teil den Bedürftigen überlassen.105

Welche Argumente Urban in seinen Gesprächen mit dem alten Hahn (vetulus gallus) – so nannte Mutian den betagten Pädagogen – tatsächlich verwendete, ob er sich ihrer überhaupt bediente, wissen wir nicht. Bei seinem bekannten Taktgefühl dürfte er zumindest selektiv vorgegangen und die Argumente, das alte Pferd und den faulen Mühlesel betreffend, unterschlagen haben. Inzwischen hatte Spalatin ein anderes berufliches Angebot als Stadtschreiber von Zwickau bekommen. Mit der Drohung, Spalatin könne in die ferne sächsische Stadt abwandern und damit dem Thüringer Kloster verloren gehen, erhöhte Mutian den Druck auf Duronius, schnell zu handeln.106 Sein häufiges Bitten, Flehen und Drängen hatten schließlich Erfolg.107 Mitte Juli 1505 meldete er Spalatin erfreut, dass er die Stelle im Zisterzienserkloster Georgenthal bekommen habe: Vorigen Samstag bist Du Magister der Bernhardischen Sodalität geworden oder besser Lehrer der rasierten Herde.108 Die Freude sollte sich zwar als voreilig erweisen; es vergingen nämlich noch mehr als drei Monate, bis Spalatin tatsächlich nach Georgenthal übersiedelte, um sein Amt anzutreten; und erst irgendwann im Spätsommer oder Herbst 1505 dürfte der alte Hahn das Feld geräumt haben. Spalatin wurde endgültig zum Novizenlehrer am Kloster Georgenthal ernannt.

105 GILLERT Nr. 17: „Fecisti, mihe crede, satis uberem vindemiam, satis fructuosam messem, relinque saltem racemationem et spicilegium. Cautum est enim lege Mosaica, ne quis agrum suum totum penitusque demeteret. Sed portionem aliquam egestosis relinqueret.“ 106 GILLERT Nr. 6 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Omnium nostri ordinis beatissimus esset Spalatinus noster, si princeps tuus ita illius modestam humanitatem ut tu cognosceret, utique probum iuvenem et hominem doctissimum mansuetudine sua, quae singulari est, comprehenderet. Neque enim tam suavem pedagogum sineret aberrare ac potiius Thuringiae fines excedere. Vidi literas, mi Urbane, quibus sollicitatur a senatu Czuickaviano, ut illius honestissimeae civitatis scriba publicus fiat.“ 107 GILLERT Nr. 11 (Mutian an Spalatin, Mitte Juli 1505): „Saepe et multum rogavi, postulavi, flagitavi.“ 108 GILLERT Nr. 11 (Mutian an Spalatin): „Sabbato vero proximo, … creatus es magister sodalitatis Bernardianae vel potius praeceptor derasi gregis.“ Bernhard von Clairvaux war zwar nicht der Gründer der Zisterzienser, aber eines der ersten prominenten Mitglieder.

MUTIANS MOTIVE

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2.3 Mutians Motive MUTIANS MOTIVE

Warum war Mutian so sehr daran gelegen, Spalatin an das Kloster zu binden? Als überzeugter Humanist sah er es als seine Aufgabe, humanistische Ideale zu verbreiten und die Barbaren zu bekämpfen.109 Er tat dies nicht mit blindem missionarischem Eifer, sondern auf seine behutsame, hinter den Kulissen wirkende Art. Hier in Georgenthal hatte er die Möglichkeit, eine Art „Fünfte Kolonne“ in das Kloster zu schleusen, zumal die Aussichten, das Bildungsniveau des Klosters zu heben, nicht schlecht standen, da bereits Urbanus die einflussreiche Stellung als Wirtschaftsverwalter innehatte. Voller Zuversicht prophezeite Mutian dem Kloster, nachdem Spalatin tatsächlich seinen Dienst angetreten hatte, eine große Zukunft. Ich sage Folgendes voraus: Euer berühmtes Kloster wird unter den bekanntesten Klostern Deutschlands durch seinen wissenschaftlichen Ruf glänzen.110 Neben dem Motiv, dem Humanismus in einem Kloster zu stärken, mag auch ein persönlicher zweiter Beweggrund für seinen Einsatz für Spalatin entscheidend gewesen sein. Da er den jungen, gelehrten und bescheidenen Mann äußerst sympathisch fand, wollte er ihn in seiner Nähe haben. Das zeigten auch seine späteren (gescheiterten) Bemühungen, dem Freunde ein Kanonikat an seinem Stift, dem Marienstift in Gotha, zu besorgen.111 Damit zusammenhängend kam noch ein drittes Motiv hinzu. Mutian war hocherfreut über die Freundschaft, die sich dank seiner Vermittlung zwischen Urban und Spalatin gebildet hatte und die er durch des Letzteren Übersiedlung nach Georgenthal zu vertiefen hoffte. Zwischen Dir und Spalatin herrscht große Harmonie; ihr kommt oft zusammen, sodass jeder von dem anderen profitiert,112 stellte er gegenüber Urban fest. Er beneide die beiden, fügte er hinzu: Was für eine geistreiche Tischgesellschaft, was für eine außerordentliche Gemeinschaft.113 Um diesen Dreierbund, das „Triumvirat“, zu festigen, forderte Mutian seine beiden jungen Freunde wiederholt auf, literarisch tätig zu werden und gemeinsam, sozusagen als „Team“, literarische Projekte zu realisieren. Treibt Euch gegenseitig an, Du und Spalatin, durch gegenseitige Ermahnungen,114 forderte er sie 109 Vgl. dazu: MÜLLER, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, S. 335 ff. 110 GILLERT Nr. 22 (Mutian an Urban, Herbst 1505): „Accipe vaticinium meum. Vestrum insigne conventiculum inter clarissima Germaniae coenobia fulgebit fama doctrinarum.“ Vgl. Auch KRAPP, Der Erfurter Humanismus, S. 39: „Hier [in Georgenthal] sollte ein zweites Sponheim entstehen.“ 111 GILLERT Nr. 219 (Mutian an Urban): „Diu multumque cogitavi, qua posset via venire in conlegium nostrum.“ 112 GILLERT Nr. 91: (Mutian an Urban, 1505): „Habes tu et Spalatinum convenientias et opportunissimos congressus, ut alter alteri sit magna commoditas.“ 113 GILLERT Nr. 91: „O lepidum convivium, o raram sodalitatem!“ 114 GILLERT Nr. 38 (Mutian an Urban, Adventszeit 1505): „Exacuite vos invicem, tu et Spalatinus, mutuis exhortationibus.“

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auf. So forderte er sie beispielsweise um die Adventszeit 1505 auf, ein Leben Jesu auf der Grundlage der Predigten Leos des Großen zu schreiben. Er wolle das Werk dann weiter an Friedrich den Weisen schicken.115 Zwei Jahre später, im Herbst 1507, ersuchte er Urban, das Leben des Heiligen Bernhard von Clairvaux, des charismatischen Predigers der Zisterzienser, zu verfassen. Bei diesem Unternehmen wie bei anderen Vorhaben könne er doch stets auf die Hilfe Spalatins zählen.116 Er kenne niemanden, der wahrhaftiger, ehrlicher, einfacher, treuer und in den humanistischen Studien gewissenhafter sei als dieser.117 Wenn Du Zeit hast, schreibe etwas, mahnte Mutian Urban immer wieder. Nur so könne er beweisen, dass er gelebt habe und ein Bild seines Charakters der Nachwelt und vielen anderen Ländern hinterlassen. Er habe Spalatin als einen stilsicheren und gewissenhaften Freund, der die Gaben seines hellen Verstandes fördern würde.118 Dass sich die beiden Georgenthaler Freunde während dieser Zeit tatsächlich literarisch betätigt haben, ist nicht bekannt. Vermutlich mag auch das Argument, dass man sich durch literarische Werken unsterblich machen könne, aus dem Munde eines Mannes, der sich weigerte, auch nur eine Zeile zum Druck zu geben, etwas hohl geklungen haben.119

2.4 Spalatin in Georgenthal SPALATIN IN GEORGENTHAL

Im Kloster war Spalatin ein anspruchsvoller Lehrer, der auch bei der Auswahl der Lektüre andere Maßstäbe setzte als der vorherige Lehrer. Trotzdem scheint er ein beliebter Pädagoge gewesen zu sein. Noch fünf Jahre nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit bekannte ein ehemaliger Schüler, dass er Spalatin geliebt habe, wie er auch von diesem geliebt worden sei.120 115 GILLERT Nr. 37 (Mutian an Urban, Adventszeit 1505): „Quia Leonem legitis, facite, quaeso, ut vitam Christi breviter componatis … Ubi perfeceritis, mittatis ad me et donabo opus Federicho.“ 116 Vgl. auch Kap. X. 117 GILLERT Nr. 53 (Mutian an Urban, 15. Mai 1507): „Habes Spalatinum, quo nihil verius, candidius, simplicius, fidelius et in liberalibus literis diligentius novi.“ 118 GILLERT Nr. 87 (Mutian an Urban, zwischen 1505 und 1508): „Si vacat, Urbane, compone aliquid, quo te vixisse et fuisse talem, qualis es, posteritati et multis nationibus testeris. Habes etiam Spalatinum, Deus bone, qualem iuvenem! Is limatulo quoque suo studio et mira diligentia promovebit ingenii tui clarissimi dotes.“ 119 Vgl. auch Kap. X. 120 Das geht aus einem Brief des Mutian an Musardus hervor (GILLERT Nr. 317, 16. September 1513). Darin berichtete Mutian über einen „Arbeitsunfall“ eines Georgenthaler Mönches, der beim Einpflocken eines Pfahles zur Befestigung des Gewächshauses sich versehentlich mit der Axt den Zeigefinger abgehackt habe. Dieser Mönch und ehemalige Schüler Spalatins habe seinen Lehrer geliebt und sei von diesem geliebt worden.

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Zu Spalatins Aufgaben als Novizenlehrer kam noch die Verwaltung der Klosterbibliothek hinzu, eine für einen buchbesessenen Humanisten wie Spalatin sicherlich angenehme Tätigkeit, von der auch Mutian indirekt profitierte, denn gelegentlich sandte Spalatin Bücher leihweise nach Gotha, wofür sich der Empfänger überschwänglich bedankte. Er liebe die Zisterzienser, schrieb er z.B. im Januar 1506 an Spalatin: Sie geben Holz und Baumaterial, Schweine und Fische, schicken Bücher und helfen bei meinen Geschäften mit Venedig.121 Denn auch bei den Geschäften mit den Veneziern, genauer gesagt mit einem Venezier, dem DruckerVerleger Aldus Manutius, einem Mann, den Mutian literatorum princeps – den Fürsten der Gebildeten nannte,122 erwies sich das neugebildete Triumvirat als äußerst nützlich. Da die exquisiten Drucke lateinischer und griechischer Autoren des von Humanisten sehr geschätzten Venezianers sehr teuer waren, reifte bereits im Sommer 1505 der Gedanke, sich direkt an Manutius zu wenden und damit kostspielige Mittelsmänner zu umgehen. Bei der Überweisung des Geldes wollte man sich der Fugger bedienen, die bei dem zum Kloster Georgenthal gehörigen Dorfe Hohenkirchen ein Bergwerk besaßen.123 In den Augen des Mutian war Urban der geeignete Mann, diese Transaktion in die Wege zu leiten. Briefe wegen der genauen Bestellung wurden zwischen den drei Freunden ausgetauscht, göttlicher Beistand erfleht.124 Mutian erstellte eine Liste der Desiderata und bat Spalatin, diese noch einmal abzuschreiben, da er eine klarere Handschrift habe.125 Die Briefe des bibliophilen Triumvirats gingen einschließlich der stattlichen Summe von vier Gulden an Manutius. Die Transaktion entwickelte sich trotz der von Gott erbetenen Hilfe nicht gut. Zwar schrieb Aldus am 22. Februar des folgenden Jahres, also 1506, einen artigen Brief an Urban,126 ob aber jemals Bücher tatsächlich bei dieser Gelegenheit angekommen sind, ist nicht bekannt.

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(„Doleo, quod pius sacerdos salutarem digitum sinistre manus detruncavit. Amavit Spalatinum ut maxime et vicissem amabatur ut optimus discipulus a praeceptore syncero.“) Ähnlich an einem Brief an Herebord von der Marthen (GILLERT Nr. 113), wo er ihn, den Nachfolger Spalatins in Georgenthal, warnte, er trete in die sehr großen Fußstapfen Spalatins. GILLERT Nr. 40 (Mutian an Spalatin, Januar 1506): „Dant ligna et materiam, dant sues et pisces, accommodant libros et me vel Venetiis adiuvant“. Ebenso GILLERT Nr. 90 und Nr. 101 (beide von Mutian an Spalatin). GILLERT Nr. 14 (Mutian an Urban, 21. August 1505). GILLERT Nr. 12 (Mutian an Urban, vor dem 21. August 1505). GILLERT Nr. 13 (Mutian an Spalatin, vor dem 21. August 1505): „Invoco te, fili Dei, subventa voto et promove coepta.“ GILLERT Nr. 33 (Mutian an Spalatin, kurz vor dem 7. Dezember 1505): „Nam tua scriptura politior est.“ GILLERT Nr. 25c (Aldus Manutius an Urban, 22. Februar 1506).

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2.5 Spalatins Priesterweihe SPALATINS PRIESTERWEIHE

In Spalatins Georgenthaler Zeit fiel noch ein Ereignis, das für seine weitere Lebensplanung von Bedeutung sein sollte: Spalatin wurde zum Priester geweiht. In seinen in der dritten Person geschriebenen autobiographischen Aufzeichnungen heißt es lapidar: Im Jahre 1508 wurde er von dem Bischof Johann Bonemilch von Laasphe zum Priester geweiht.127 Der Priesterweihe muss eine relativ lange Vorbereitungszeit vorausgegangen sein; denn schon drei Jahre vorher, 1505, hatte Mutian ihn zu diesem Schritt ermuntert: Glücklich sind die, die mit Gott Umgang pflegen … Am glücklichsten sind diejenigen Priester, denen aus den Geldsäcken und Äckern Christi Jahr für Jahr viel zufließ … Wenn Dir auch der Rest missfällt, gib dich ganz dem heiligen Amte hin. Auf diese Weise werden Dir niemals Altäre, Statuen, Kirchen, Kränze, Salben, Köstlichkeiten, Ruhe, Sicherheit, materielle Dinge, Würde und das Seelenheil fehlen.128

Bei der Beurteilung der Entscheidung Spalatins, Priester zu werden, muss man sich von der Auffassung freimachen, dass der Entscheidung zum Priestertum ein religiöses Erlebnis im Sinne einer Berufung vorausgegangen sein muss. Mutian betonte hier ganz im Sinne der Zeit die materiellen Vorteile der Priesterlaufbahn, denn ein Geistlicher, ausgestattet mit den entsprechenden Pfründen, konnte tatsächlich ein bequemes, sorgenfreies Leben führen. Die Kirche war eine großzügige Versorgungsanstalt. Mutian selbst hatte nicht aus innerster Überzeugung die geistliche Laufbahn gewählt, sondern weil sie ihm ermöglichte, sich ganz den Wissenschaften zu widmen. Ich bin Priester geworden wegen der Bücher, gestand er einmal.129 Bereits im Jahre 1507, also noch vor seine Priesterweihe, war Spalatin die Pfarre von Hohenkirchen zugesagt worden. Freilich hatte er an 127 Bonemilch von Laasphe (1434–1510) war Weihbischof von Erfurt. BERTIG, Spalatiana, S. 18: „Consecratur sacrificulus Papisticus Erphordiae ab Episcopo Sidoniensi Johanne Laisphero. MDVIII.“ Diese Datierung auf das Jahr 1508 wird durch einen Brief Willibald Pirckheimers an Spalatin bestätigt. Darin bedankte sich der Nürnberger Humanist für dessen Brief vom 26. August 1508 mit den Worten: „Dass Du aber Priester geworden bist, wie Du schreibst, dazu gratuliere ich Dir und wünsche, dass die Angelegenheit Dir zur Ehre und zum Wohle gereicht.“ PIRCKHEIMER, Briefwechsel, II, S. 30: „Quod vero te sacris iniciatum scribis, tibi gratulor optoque, ut res ea tibi honori ac saluti cedat.“ 128 GILLERT Nr. 4 (Mutian an Spalatin, um den 29. Juli 1505): „Felices sunt, qui cum Deo habent commercium. … Beatissimi sunt sacerdotes, quibus ex fundis et agris Christi multum redit quotannis. Itaque si cetera displicebunt, initiare sacris teque totum dede piis officiis. Sic tibi unquam deerunt arae, statuae, pulvinaria, coronae, unguenta, delitiae, quies, securitas, res, dignitas et salus.“ 129 GILLERT Nr. 25 (Mutian an Urban, um den 20. November 1505): „Sacerdotia propter libros peto.“

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dem ihn dort vertretenden Vikar später wenig Freude, denn dieser hatte offenbar exhibitionistische Neigungen. Gegenüber Nachbarn entblößte er gelegentlich sowohl sein Hinterteil also auch sein Geschlecht.130

2.6 „Unser Kandidat hat gesiegt“ – Spalatin als Prinzenerzieher SPALATIN ALS PRINZENERZIEHER

Als im Jahre 1508 Urban das Kloster verlassen musste und zum weiteren Studium an die Universität Leipzig „verbannt“ worden war, sah sich auch Spalatin nach einem neuen Wirkungsfeld um. Ein Grund für diesen Wunsch war auch, dass sich Georgental als reformresistenter als erhofft erwiesen hatte. Ein Leuchtturm der humanistischen Wissenschaften, wie es Mutian prophezeit hatte, war das Kloster trotz der Bemühungen Spalatins und Urbans nicht geworden. Eine Gelegenheit, Spalatin eine neue Beschäftigung zu verschaffen, bot sich, als der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der Mutian zeitlebens schätzte, von diesem Vorschläge für einen Erzieher seines damals 6-jährigen Neffen Johann Friedrich erbat.131 Ohne zu zögern schlug Mutian Spalatin vor und konnte bereits im Herbst 1508 jubelnd dessen Ernennung zum Prinzenerzieher melden.132 Es habe viele Mitbewerber gegeben, aber ihr Kandidat sei allen anderen vorgezogen worden, freute er sich.133 In pädagogischen Dingen genieße er, Mutian, eben Vertrauen.134 Mit dem neuen Schüler, Johann Friedrich, wurden sechs weitere adelige, gleichaltrige Kinder erzogen.135 Als Entschädigung erhielt Spalatin 20 Gulden und jährlich zwei neue Kleider.136 Für Spalatin bedeutete die Berufung als Prinzenerzieher einen ersten Schritt einer beispiellosen Karriere am kursächsischen Hof, denn von 1508 bis zu Friedrichs Tod im 130 GILLERT Nr. 447 (Mutian an Urban, um den 10. Oktober 1514): „Spalatinus popam suum insimulat et merito. Nam qui nates et Priapum vicinis ostentat, indignus est, qui pane illo mystico vescatur.“ Ebenso auch GILLERT Nr. 464 (Mutian an Urban, 9. Januar 1515). 131 Da Friedrich unverheiratet geblieben war und keine legitimen Kinder hatte, kümmerte er sich wie ein Vater um die Söhne seines Bruders Johann. Friedrich selbst hatte mehrere uneheliche Kinder mit Anna Weller von Molsdorf (GROSSMANN, Humanism in Wittenberg, S. 27). 132 GILLERT Nr. 105 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz vor Michaelis 1508): „Creatus rector et custos Ioannis, regis nostri filii.“ 133 GILLERT Nr. 105 (Mutian an Herebord von der Marthen): „Multi erant candidati; repulsi sunt.“ 134 GILLERT Nr. 105: „Mihi credunt de paedagogo.“ 135 GILLERT Nr. 105: „Sunt in eodem ludo sex, quos nominat, primae nobilitatis abcdarii pusiones, qui cum principe tenerrimo educantur et instituuntur.“ 136 GILLERT Nr. 105: „Accipiet quotannis statam mercedem XX aureos, bis novum vestibulum.“

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Jahre 1525 sollte er in immer verantwortungsvollere Positionen aufsteigen und schließlich als einer der engsten Berater des Kurfürsten und als unermüdlicher Vermittler zwischen Luther und dem kursächsischen Hof eine Schlüsselrolle in der Reformation spielen. Mutian verabschiedete den Freund mit einem Gedicht: Ito, bonis avibus, dextro pede, sidere fausto Felix optatum carpe, viator, iter. Aula patet, Spalatine, tibi, tribuentur honores. I, te praetereant, quae nocitura putas. Geh unter glücklichen Vorzeichen, munteren Schrittes unter günstigem Gestirn, Mach Dich, Wanderer, glücklich auf den ersehnten Weg. Der Hof steht Dir offen, Spalatin, Dir werden Ehren zuteil Geh, was Deiner Meinung nach Dir schaden kann, möge vorbeigehen.137

Um sich auf dem Gebiet der Pädagogik zu informieren und so Spalatin beratend zur Seite stehen zu können, bestellte Mutian sich unverzüglich zwei pädagogische Texte, die Fabeln des Laurentius Abstemius und Plutarchs De educandis liberis.138 Zum Ärger Mutians ließ sich Spalatin aber mit der Aufnahme seiner pädagogischen Verpflichtungen Zeit, und man hat den Eindruck, dass Mutian begeisterter von der neuen Aufgabe Spalatins war als dieser selbst;139 denn obwohl Spalatin sich wohl seit dem Spätherbst 1508 in Torgau aufhielt, trat er seinen Dienst nicht vor dem Januar des folgenden Jahres an; erst in diesem Monat konnte Mutian an Crotus melden, dass er gute Nachrichten von Friedrich dem Weisen erhalten habe.140 Im Übrigen habe er inzwischen durch Briefe von Hofbeamten erfahren, dass der neue Erzieher von dem Fürsten und von dem ganzen Hof geliebt und bewundert werde. Der kurfürstliche Rat Johannes Biermost,141 ein alter Bekannter Mutians, habe zum Beispiel geschrieben: Dein Spalatin und nicht weniger mein Spalatin wird von mir auf wunderbare Weise geliebt. Er genieße 137 GILLERT Nr. 109 (Mutian an Spalatin, um Michaelis 1508). 138 Laurentius Abstemius ist auch unter dem Namen Lorenzo Bevilaqua bekannt, war ein italienischer Schriftsteller, der in Urbino als Bibliothekar unter Herzog Guido Ubaldo wirkte. Sein Hauptwerk ist Hecatomythium, eine Sammlung von 100 Fabeln, die 1495 in Venedig gedruckt worden war. Auf diese bezieht sich Mutian. HAIN, Nr. 25; HAIN, Repertorium, Nr. 13146–13148. 139 MENTZ, Johann Friedrich der Grossmütige, S. 4: „Dieser [Spalatin] war weniger erbaut; nur ungern vertauschte er das stille Waldtal von Georgenthal mit dem gefährlichen Boden des Hofes, und es bedurfte dringender Ermahnungen seiner älteren Freunde, um ihn zum Antritt seiner Stelle zu bestimmen.“ 140 GILLERT Nr. 119 (Mutian an Crotus Rubeanus, 17. Januar 1509). 141 Johannes Biermost, ein geborener Erfurter, bezog 1474 die Universität seiner Vaterstadt. Das ernestinische Fürstenhaus machte den studierten Juristen zu einem seiner Räte und nahm vielfach seine Dienste in Anspruch. Er starb 1512.

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große Zuneigung wegen seines unvergleichlichen sittlichen Ernstes, seiner Höflichkeit, seiner Neigung, gefällig zu sein und seines untadligen Lebenswandels.142 Die vermeintliche Euphorie dauerte nur wenige Monate. Probleme ergaben sich aus zwei Gründen: Einmal war Spalatin nicht der einzige, der für die Erziehung des kurfürstlichen ABC-Schützen und seiner Kameraden verantwortlich war, ja in der Hierarchie stand der alte Hofmeister Ernst von Isserstedt sogar über ihm. Zuständig für die höfische Erziehung, besonders für die Ausbildung im Turnierwesen, war dieser Pädagoge kein verknöcherter alter Schulmeister, sondern ein Mann, der mit seinen jungen Zöglingen lachte, mit ihnen ausritt und Turniere übte, kurz, beliebt war.143 Die Konflikte zwischen ihm und Spalatin konnten also nicht durch dessen Pensionierung gelöst werden, wie es bei dem betagten Schulmeister in Georgenthal geschehen war. Das zweite Problem war, dass es Spalatin, der gewohnt war, ältere Knaben im Kloster zu unterrichten, offenbar an Einfühlungsvermögen in die Psyche 6-jähriger Knaben fehlte. Die Kinder fühlten sich überfordert, Spalatin frustriert. Diese Stimmung artikulierte er in einer Reihe von Briefen, die zwar verloren sind, deren Inhalt aber – möglicherweise leicht verzerrt – durch die Korrespondenz Mutians an Urban zu rekonstruieren sind. Er beklage sich, jammere, mache Mutian als Initiator des Wechsels verantwortlich, fühle sich schlecht und deprimiert, so der Tenor dieser Schriften.144 Auf diese Briefe reagierte Mutian auf seine gewohnte ehrliche Art und Weise: An einem Hof zu leben ist doch ganz anders, als Du gewohnt bist. Den ganzen Tag mit den Knaben zu verbringen, niemals auszugehen und sich der Muße zu widmen, wird von den Spöttern getadelt. Ich bitte Dich, ein Pädagoge soll lenken. Die Söhne der Fürsten müssen auf völlig andere Weise als Du glaubst erzogen werden. Es sollen doch keine Mönche werden.145

142 GILLERT Nr. 119: „Spalatinus tuus nec minus meus mirum in modum a me amatur et in delitiis est continuis propter hominis incomparabilem gravitatem, cum comitate literarum, obsequendi promtissimum animum et, quod reliquis longe praestat, vitae sanctimoniam.“ 143 GILLERT Nr. 156 (Mutian an Urban, 1509): „Eques veteranus tironibus praecipit, facit officium suum. Ridet coram pueris.“ Über von Isserstadt auch GILLERT Nr. 122 (Mutian an Urban, nicht lange vor Juni 1509). 144 GILLERT Nr. 124 (Mutian an Urban, um Ostern 1509). 145 GILLERT Nr. 155 (Mutian an Spalatin, 1509): „Ad aulam vero pertinet non omnino ita vivere, ut vivis. Totos dies sedere inter pueros, nunquam exire dareque otium reprehenditur a nasutis. Regat, obsecro, pappas. Principum filii longe alia via quam tu reris formandi sunt. Non sint monachi.“

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Spalatin – eine „zartbesaitete Gelehrtennatur“146 – wiederum reagierte auf die Briefe seines Mentors beleidigt, sodass dieser ihm zunächst gar nicht zu erwidern wagte, sondern Urban gegenüber klagte: Man hält Chirurgen für grausam, wenn sie Verwundete behandeln, während sie doch unerschrocken Heilmittel einsetzen … Ich habe dem Freunde große Hilfe geleistet, aber während wir seine Wunden heilen, verfällt er in ein kindisches Wimmern und glaubt, der Arzt sei ohne Mitleid. Es ist doch unmöglich, Krankheiten ohne seelischen Schmerz zu heilen. Von Natur sind wir so geschaffen, dass Fehler uns schmeicheln, die Wahrheit aber bitter schmeckt. Ein Mensch, der sonst ein Freund und gebildet ist, scheint mich quasi als Ankläger und nicht als einen gern gehörten Mahner zu betrachten. Wer aus berechtigter Sorge kritisiert, verleumdet doch nicht, und wer die Wahrheit sagt, will doch niemandem schaden. … Es ist eine große Sünde, einen Kritiker zu hassen, zumal wenn das Schlechte aus Liebe getadelt wird.147

Nach diesen allgemeinen Reflexionen diagnostizierte Mutian sowohl eine physische als auch eine psychische Komponente der Krankheit, an der Spalatin leide, Verstopfung und Jähzorn. Was das erste angehe, so habe Spalatin, an das frugale Klosteressen gewöhnt, Schwierigkeiten, sich auf die deftige Kost am Hofe umzustellen. Er solle also genügsamer essen und trinken.148 Zweitens solle er aber auch weniger geistig arbeiten, sich gelegentlich entspannen und lachen, denn Heiterkeit vertreibe bekanntlich die nagenden Sorgen.149 In seiner Fürsorge um seinen Schützling, für den er sich verantwortlich fühlte, bat er Urban, an Spalatin zu schreiben. Dieser Bitte kam Urban gewissenhaft und taktvoll nach.150 Er wies darauf hin, dass an einem Hof andere Umgangsformen als in einem Kloster herrschten, es gebe Rivalitäten, alles sei hierarchisch geordnet. Die Hauptsache sei aber doch, dass er von dem Fürsten wegen seiner Frömmigkeit, Integrität, Unschuld, Religiösität, Enthaltsamkeit und seiner wissenschaftlichen Bildung geliebt und 146 HÖSS, Spalatin, S. 50. 147 GILLERT Nr. 122 (Mutian an Urban, nicht lange vor Juni 1509): „ Χειρουργόι putantur esse crudeles in curationibus vulneratorum, dum intrepidi remedia imponunt. … Ego succursurus amico non mediocrem opem attuli, sed dum vulnera in eo sanamus, pueriles edit vagitus et medicum putat esse immisericordem. Fieri non potest, ut citra dolorem animi morbos extirpes. Ita natura comparatum est, ut vitia nobis blandiantur, veritas amaro sit gustu. Nam homo alioquin amicus et doctus me quasi criminatorem aversari, non ut monitorem libenter audire videtur. Qui bono zelo castigat, non calumniatur et qui verum dicit, non detrahit. … Grande peccatum est odisse corripientem, praesertim si pravum amore corrigas.“ 148 GILLERT Nr. 122 (Mutian an Urban): „Discat partius comesse et bibere.“ 149 GILLERT Nr. 122 (Mutian an Urban): „… minus lucubrare, amplecti hilaritatem, submovere curas edaces.“ 150 Abgedruckt als Beilage für GILLERT Nr. 122a (GILLERT, Briefwechsel, I, S. 170–173; KRAUSE Nr. 116. Zitiert hier mit Seitenzahl nach GILLERT.

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geschätzt werde. Deshalb solle er doch nicht so weinerlich und larmoyant sein wie eine alte Frau, die gerade ihr Zieglein verloren habe.151 Was den alten Pädagogen angehe, so solle er ihn tolerieren. Ältere Menschen seien nun einmal etwas wunderlich.152 Im Übrigen – und hier verrät Urban für die damalige Zeit außerordentlich psychologische Einsichten – liege der alte Schulmeister mit seinen Erziehungsprinzipien doch gar nicht so falsch. Spalatins einseitiges Ausrichten auf das Buchlernen sei nicht gesund, worauf schon antike Autoren wie Quintilian, Cornelius Celsus, Plato, Horaz, Plinius und Ovid hingewiesen hätten. Wichtig für eine kindergerechte Erziehung sei die angemessene Balance zwischen geistiger Arbeit und körperlicher Bewegung. Moderate Spaziergänge, kurze Ausritte, Ringen und Laufen sorgten für den richtigen Ausgleich. Selbst bei Erwachsenen führe doch Sesshaftigkeit zur Lethargie, das habe er am eigenen Leibe erfahren.153 Umso mehr treffe das doch auf Kinder mit ihrem unermüdlichen Bewegungsdrang zu. Nicht wie Schnecken sollten sie sich bewegen, sondern wie Hasen hüpfen.154 Außerdem müsse man den Kindern Freiräume geben und sie nicht durch ständige Anwesenheit und fortwährende Vorträge in Beschlag nehmen.155 Die Krise seines Schülers und Freundes veranlasste Mutian zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er reiste nach Torgau, um sich selbst ein Bild von der Situation und Stimmungslage Spalatins zu machen. Es war in der Tat eine außerordentliche Reise, denn nach der Rückkehr aus Italien hat Mutian, wie wir sahen, ganz selten Gotha verlassen. Er sei beeindruckt, so berichtete er nach seiner Rückkehr, von dem Prinzen Johann Friedrich, der einzigartigen Hoffnung des Landes (unica spes patriae), den er auf Wunsch des Vaters und Onkels, also Friedrich des Weisen, und in Anwesenheit des alten Pädagogen persönlich kennen gelernt habe.156 Diesen habe er als höchst rechtschaffen (probissimus), wenn auch etwas mürrisch, gefunden. Von den humanistischen Studien halte dieser zwar wenig, soweit er das beurteilen könne, trotzdem sollte Spalatin ihn nicht provozieren und sich seiner Führung widersetzen. In Gesprächen mit dem Kurfürsten habe 151 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 171 (Urban an Spalatin): „Aula nunquam caruit simultatibus. Quis tam stolidus, ut eorum cedat insolentiae, qui humanitatis studia et odio habent et ludibrio. Satis est gratiosum esse apud inclytos duces, quibus te tua pietas, integritas, innocentia, religio, continentia et literatura conciliant. … Non sis querulus et flebilis tamquam anus, quae capellam perdidit.“ 152 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 171: „Senes delirant.“ 153 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 172: „Quando me ratio cenobialis desidiae intra cellam tenuit, videbar veterno laborare.“ 154 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 172: „Non serpant instar limacis, exultent in more leporis.“ 155 GILLERT, Briefwechsel, I, S. 172: „Vitent inpuberes assiduitatem et perpetuas auditiunculas.“ 156 GILLERT Nr. 179 (Mutian an Urban, 1509–1511).

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er den Eindruck gewonnen, dass man Spalatin am Hofe außerordentlich schätze.157 Dass Spalatin tatsächlich bereits in diesen ersten Jahren einen außerordentlich guten Ruf am kurfürstlichen Hofe genoss, geht auch aus Briefen hervor, die der Nürnberger Humanist und Diplomat Christoph Scheurl, den Spalatin von Wittenberg kannte, an ihn schrieb.158 Auch die Tatsache, dass der kurfürstliche Hofmaler Lucas Cranach der Ältere den 26-Jährigen im Jahre 1510 in Öl porträtierte, spricht für des Kurfürsten Hochachtung.159 Die ganze Episode zeigt exemplarisch, dass das Triumvirat sowie später der gesamte mutianische Kreis mehr war als ein Bund, in dem man den wissenschaftlich-literarischen Austausch pflegte. Wenn Mutian einmal äußerte, er fühle sich gegenüber Spalatin wie ein Vater zu seinem Sohn,160so trifft das nicht nur auf Spalatin zu: Neben der wissenschaftlichen Betreuung kümmerte er sich in väterlicher Sorge um seine Schüler, ließ für sie seine Beziehungen spielen und ermahnte sie, wenn es auch gelegentlich schmerzte.

2.7 Als „Studienleiter“ an der Universität Wittenberg ALS „STUDIENLEITER“ AN DER UNIVERSITÄT WITTENBERG

Inzwischen hatte sich aber am kurfürstlichen Hofe die Einsicht durchgesetzt, dass Spalatin mit der Prinzenerziehung unterfordert, der inzwischen 8-jährige Prinz aber überfordert war.161 Für Spalatin suchte man deshalb einen anderen, seinen Fähigkeiten angemesseneren Aufgabenbereich und schickte ihn im Oktober 1511 von Torgau nach Wittenberg, wo er an der seit 1502 bestehenden Landesuniversität als Mentor das Studium zweier Neffen Friedrichs, der jungen Herzöge Otto und Ernst von Braunschweig und Lüneburg, Söhne von Friedrichs Schwester Margarethe, die mit dem Herzog Heinrich von Braunschweig und Lüneburg verheiratet war, betreuen sollte.162 Wie sehr Friedrich dem pädagogischen Talente Spalatins vertraute, zeigte sich auch darin, dass er ihm 1514 157 Der Empfang beim Kurfürsten war übrigens ein Privileg, das Luther niemals zuteil wurde. 158 Christoph Scheurl’s Briefbuch, I, Nr. 45, S. 65 und Nr. 52, S. 76. 159 Vgl. HÖSS, Spalatin, S. 48. 160 GILLERT Nr. 7 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Ego sum illi [Spalatino] quasi pater propter studia communia, in quibus excellit.“ 161 Scheurl drückte es so aus: „Durch Deinen zweiten Brief und gerüchteweise habe ich erfahren, dass Du inzwischen Mentor der Lüneburger geworden bist, nachdem feststand dass unser Prinz für Deine Gelehrsamkeit noch nicht empfänglich war.“ (Briefbuch, Nr. 55, S. 80). „Quid igitur ex altera epistula tua subduco quodque etiam fama didici, te Luneburgensis praeceptorem designatum, posteaquam constat nostrum regulum tuae eruditionis per aetatem nondum capacem.“ 162 HÖSS, Georg Spalatin, S. 61.

ALS „STUDIENLEITER“ AN DER UNIVERSITÄT WITTENBERG

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zusätzlich seinen natürlichen Sohn Sebastian von Jessen, der Friedrichs Liebesverbindung mit Anna Weller von Molsdorf entsprungen war, zur Betreuung anvertraute.163 Neben den Aufgaben als Mentor adliger Studenten beauftragte man Spalatin auch mit dem Aufbau der Universitätsbibliothek. Bei dieser Tätigkeit konnte er sich auf die tätige Mithilfe seines Gothaer Mentors verlassen, der sich in der Tat schon Mitte 1513 rühmte, dass auf seinen Rat Friedrich eine griechische Bibliothek habe zusammenstellen lassen.164 Dabei bediente sich Spalatin wie bei der bereits geschilderten Gelegenheit des venezianischen Druckers Aldus Manutius.165 Trotz seiner stetig wachsenden Aufgaben am kurfürstlichen Hof leitete Spalatin bis zu seinem Tode diese Bibliothek und hatte erst „von 1536 an einen hauptamtlich tätigen Magister zu seiner Unterstützung zur Verfügung.“166 Durch Spalatin (und indirekt durch Mutian) erfuhr die Universitätsbibliothek eine starke Gewichtung in Richtung humanistischer Bücher, sodass neben Schriftstellern des klassischen Altertums auch Werke eines Marsilio Ficino, Enea Silvio Piccolomini, Angelo Poliziano, Lorenzo Valla, Pico della Mirandola und anderer italienischer Humanisten zu finden waren. Selbstverständlich waren auch Werke Johann Reuchlins und des Erasmus von Rotterdam vorhanden, ja in einem Brief aus dem Jahre 1516 rühmte sich Spalatin gegenüber dem berühmten Holländer, dass die Bibliothek dessen gedruckt vorliegende Werke komplett besäße und auch die Absicht habe, die noch später erscheinenden zu erwerben.167 Weil Spalatin seinen verehrten Lehrer wegen der Entfernung zwischen Gotha und Wittenberg selten besuchen konnte, schrieb er ihm häufig. Allerdings ging es in diesen Briefen keineswegs immer um gewichtige religionsphilosophische oder zeitgeschichtliche Fragen, sondern oft um ganz persönliche Probleme Spalatins, die aber nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die Zeit und seinen Charakter werfen, sondern auch sein Verhältnis zu Mutian beleuchten. Einmal ging es um einen päpstlichen Dispens, zum anderen aber um den Bruder Spalatins.

163 HÖSS, Georg Spalatin, S. 70. 164 GILLERT Nr. 285 (Mutian an Urban, gegen Mitte des Jahres 1513): „Meo consilio factum est, ut illustrius Fridericus graecam comparaverit bibliothecam.“ 165 HÖSS, Georg Spalatin, S. 65 und 68. 166 HÖSS, Georg Spalatin, S. 154. 167 ALLEN, II; Nr. 501 (Spalatin an Erasmus, 11. Dezember 1516), S. 417: „Habet etiam Princeps meus clementissimus Dux Fridericus Saxoniae … libros tuos omnes, quoscunque invenimus in sua bibliotheca ducali, comparaturus etiam reliquos quotquot posthac vbicumque edideris terrarum.“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

2.8 Das Diplom – „langsam wie eine Schildkröte“ Spalatins Bewerbung um ein Kanonikat in Altenburg stellte sich das Problem seiner unehelichen Geburt in den Weg, denn nach kanonischem Recht war der Erwerb kirchlicher Pfründen unehelich geborenen Priestern verwehrt. In einer Kirche, in der aber fast alles käuflich war, konnte man sich durch einen Dispens von dieser Voraussetzung freikaufen. Das kostete nicht nur Geld, sondern dauerte eine geraume Zeit, bis der Antrag alle Instanzen des schwerfälligen kirchlichen Beamtenapparats durchlaufen hatte, denn das Gesuch oder das „Diplom“, wie es in der Korrespondenz genannt wurde, ging nicht direkt nach Rom, sondern musste dem päpstlichen Vertreter in Erfurt zugestellt werden, wonach es dann den langen Instanzenweg nach Rom und von dort zurück nach Erfurt ging. Eine Schildkröte, mein Gott, bewegt sich nicht so langsam fort, stöhnte einmal Spalatin.168 Es sollten noch drei lange Jahre vergehen, bis das Gesuch positiv beschieden wurde. Die mehr als siebzehn Briefe (mehrheitlich von Mutian an Urban geschrieben)169 reflektieren das Schwanken zwischen Hoffen, voreiliger Freude, Enttäuschung über die päpstliche Verzögerungstaktik, Spekulationen über Intrigen der Gegner und schließlich Jubel über das Gewähren des Dispenses. Eine Schlüsselrolle bei der endgültigen Erlangung des Dispenses spielte wieder einmal der praktische und in finanziellen Dingen erfahrene Urbanus, der die ungeheure Bestie, die Spalatin quälte, seine uneheliche Geburt, wie ein zweiter Herkules zu besiegen trachtete.170 Erst im März 1515 – also drei Jahre nach dem anfänglichen Gesuch – konnte Mutian melden, dass das Diplom angekommen sei.171

168 GILLERT Nr. 368 (Mutian an Urban, um den 25. Mai 1514): „Sed ubi diploma est, Iesu bone, quo non testudo tardus graditur.“ (Zitat Spalatins in diesem Brief Mutians). 169 GILLERT Nr. 231, Nr. 233, Nr. 238, Nr. 249, Nr. 302, Nr. 311, Nr. 316, Nr. 320, Nr. 338, Nr. 339, Nr. 361, Nr. 368, Nr. 398, Nr. 419, Nr. 441, Nr. 489 (Mutian an Urban), Nr. 479 (Mutian an Johann Nithard). 170 GILLERT Nr. 249 (Mutian an Urban, 18. März 1513): „Immanem, que vexat eum, beluam: culpam in nothum inclinantem velut alter Hercules exstinguis.“ 171 GILLERT Nr. 479 (Mutian an Johann Nithard, 15. März 1515): „Quod optatum et iucundum mihi est, allatum esse audio diploma Romanum.“

DER BRUDER STEPHAN

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2.9 Der Bruder Stephan – „eine unerfreuliche Erscheinung“ DER BRUDER STEPHAN

Nicht um einen von der römischen Kurie gewährten Dispens, sondern um Spalatins eigenen Bruder Stephan ging es in einer Reihe von Briefen, die im MutianKreis zwischen 1508 und 1516 ausgetauscht wurden. Eine der Eigenschaften, die Mutian besonders an Spalatin schätzte, war dessen pietas, also sein ausgesprochenes Pflichtgefühl gegenüber seiner Familie. Unter Berufung auf heidnisch-antike Quellen hatte er ihm deshalb als Wappentier den Storchen, das Sinnbild der Kinderliebe und des Familiensinns, gegeben.172 Leider besaß Spalatin einen Bruder, der dessen pietas und Gutmütigkeit immer wieder aufs Unverfrorenste ausnutzte. So grundverschieden seien beide Brüder, Stephan und Georg, dass Mutian nicht glaubte, sie seien Stamm desselben Samens.173 Immer wieder versuchte Mutian deshalb, seinen geliebten Schüler vor dessen eigenem Bruder, „einer unerfreulichen Erscheinung“, zu schützen.174 Bereits 1509 empörte sich Mutian über das Verhalten des Bruders. Obwohl Spalatin selbst seine Schulden an Peter Eberbach (Petreius) nicht begleiche, gebe er zuviel an seinen Bruder und dessen Familie, klagte Mutian gegenüber Urban, um dann fortzufahren: Trotzdem hoffe ich, dass das Vermögen des Mannes [Spalatins] vermehrt werde, wenn nicht das Brüderchen, das Frauchen und das Töchterchen den wohltätigen Bruder an den Rand des finanziellen Ruins treiben, was Du mit Recht fürchtest.175

Als dann Spalatin Georgenthal verlassen hatte und bereits als Prinzenerzieher in Torgau tätig war, hatte der Bruder, der offenbar von dem Ortswechsel nichts wusste, an Spalatin geschrieben, er möge ihm und seiner Familie eine Unterkunft in Georgenthal besorgen. Spalatin leitete den Wunsch an Urban weiter, der tatsächlich in dem Kloster Quartier für Stephans Familie schaffte.176 Mutians Versuche, der in Georgenthal weilenden Familie mit Naturalien auszuhelfen, 172 GILLERT Nr. 231 (Mutian an Urban): „Spalatinum officio pietatis insignem donavi ciconia, cuius pietatem Plinius et Graeci celebrant.“ In der christlichen Ikonographie gilt der Storch als Symbol der Klugheit, Wachsamkeit, Frömmigkeit und Keuschheit und wird mit Mariä Verkündigung in Verbindung gebracht, „because, as the stork announces the coming of spring, the Annunciation to Mary indicated the Advent of Christ.“ FERGUSON, Signs & Symbols of Christian Art, S. 25. 173 GILLERT Nr. 193 (Mutian an Urban, Anfang August 1512): „Non credo vos uno satos semine.“ 174 ULSAMER, Spalatins Beziehungen, S. 462. 175 GILLERT Nr. 125 (Mutian an Urban, in der ersten Hälfte des Jahres 1509): „Spero nihilominus auctum iri peculium hominis, nisi fraterculus et uxorcula et filiola beneficum fratrem in dispendii scopulum illident, quod non sine causa metuis.“ 176 GILLERT Nr. 179 (Mutian an Urban, 1509–1511): „Provideas suis, ut hospicium habeant pro Vallibus.“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

wurden von dem Bruder schnöde zurückgewiesen: Was nützt es [das Getreide], da es nur billig verkauft werden kann, referiert Mutian die angeblichen Gedankengänge Stephans, als ob er sagen wollte: Meine Frau will Geld, und zwar nicht eine kleine Summe, die aus dem Verkauf Deines Getreides zusammengekratzt werden kann, sondern viel, damit sie Tag und Nacht in Saus und Braus leben und ein fröhliches Leben führen könne.177

Er, Mutian, habe ihn aber trotzdem aufgefordert, einen Kutscher zum Abholen des Getreides zu schicken: Er tat das aber nicht. Was sonst hätte ich versprechen können?178 Die Klagen Mutians über den Bruder und über Spalatins allzu gutmütiges Benehmen ihm gegenüber sollten sich auch in den folgenden Jahren fortsetzen. Mutians Abneigung gegenüber dem schmarotzenden Bruder und dessen Familie ging soweit, dass er seinen Wunsch, Spalatin durch die Verleihung eines Kanonikats in Gotha in seiner unmittelbaren Nähe zu ziehen, zurücksteckte, da er fürchtete, dass, wenn Spalatin käme, Bruder samt Familie folgen würden.179 Noch im Jahre 1515 klagte Mutian: Der gute Spalatin darbt, weil seine Angehörigen ihn ausnehmen.180 Auch Zitate aus einem verehrten und normgebenden Klassiker wie Seneca konnten Spalatin nicht von seiner selbstzerstörerischen Gutmütigkeit abhalten. Der römische Autor hatte in seiner Schrift De beneficiis geschrieben: Ich werde den Bedürftigen helfen, aber nicht so, dass ich selber darbe, und Ich werde einem Ertrinkenden helfen, aber nicht so, dass ich selbst ertrinke.181 In dieser Zeit schreckte der Bruder auch nicht vor einem Gaunerstück zurück, um an das Geld seines Bruders Georg zu kommen. Aus einem Nassauer war ein Kleinkrimineller geworden. Empört berichtete Mutian darüber. In der begründeten Furcht, dass Spalatin ihm nicht schon wieder Geld geben wolle, schickten Stephan und seine Frau einen jungen Mann angeblich im Auftrag eines betuchten und damit vertrauenswürdigen Bürgers Spalts an die Universität Wittenberg mit dem Auftrag, von Spalatin kurzfristig Geld zu leihen. Ohne den Betrug zu durchschauen, händigte der gutmütige Spalatin dem jungen Mann den 177 GILLERT Nr. 193 (Mutian an Urban, Anfang August 1512): „Promisi frumentum. Ad haec ita respondit: „Quid iuvat, cum parvo vendatur.“ Quasi diceret: Uxor petit pecuniam, non quidem modicam, qualis corradi possit et tuo frumento, sed numerosam, ut dies noctesque pergraecari et κιχλίζειν genialemque vitam agere possit.“ 178 GILLERT Nr. 193: „Non tamen destiti hortari, ut mitteret aurigam, cui traderetur. Non misit. Quid aliud promitterem?“ 179 GILLERT Nr. 219 (Mutian an Urban, kurz nach dem 11. Oktober 1512): „Nimis acquiescit bardo fratri … Sed vereor, ne, si amicum attraxero, sequatur stultus cum uxore.“ 180 GILLERT Nr. 496 (Mutian an Urban, vor dem 23. Mai 1515): „Bonus Spalatinus eget, propterea quod sui eum deplumant.“ 181 GILLERT Nr. 496 (Mutian an Urban): „Dabo egenti, sed non, ut ipse egeam.“ „Succurram perituro, sed non, ut iopse peream.“ Aus De beneficiis, II, 15 und IV,15.

VIELFÄLTIGE AUFGABEN AM KURFÜRSTLICHEN HOF

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Betrag aus. Inzwischen forderte und erhielt im fernen Spalt Stephan von den Eltern des jungen Mannes das Geld. Da die Beutelschneiderei offenbar erfolgreich war, wiederholte sie der Bruder, sodass Spalatin ganz und gar mittellos blieb.182

2.10 Vielfältige Aufgaben am kurfürstlichen Hof VIELFÄLTIGE AUFGABEN AM KURFÜRSTLICHEN HOF

Im Jahre 1516 verließ Spalatin Wittenberg und trat in den Dienst der kurfürstlichen Kanzlei Friedrichs des Weisen in Torgau, wo er in den folgenden Jahren mit einer Vielzahl von Aufgaben betraut wurde.183 Als Geheimsekretär des Kurfürsten, der die diplomatische Korrespondenz Friedrichs mit fremden Mächten zu erledigen hatte, erhielt er Einblicke in die internationale Politik, ohne zunächst gestaltend darin eingreifen zu können. Anders war es bei seiner zweiten Aufgabe. Als „Hochschulreferent“,184 um es modern auszudrücken, war er nicht nur maßgeblich bei den einschneidenden Reformen der Hochschule im Wintersemester 1517/18 beteiligt, sondern hatte auch eine gewichtige Stimme bei den Berufungen „humanistischer Professoren“. Außerdem war er bei der Einrichtung eines auf Luthers Drängen eingerichteten Pädagogiums an der Wittenberger Universität beteiligt, einer sich auf den sprachlichen Unterricht konzentrierenden Vorbereitungsanstalt, und hatte als Bibliotheksdirektor, wie bereits erwähnt, entscheidenden Einfluss bei Akquisitionen. Als einer der Beichtväter Friedrichs hatte er zudem unmittelbaren Zugang zu dem Herrscher. In späteren Jahren sollte Spalatin auch das wichtigste Verbindungsglied zwischen Friedrich dem Weisen und Mutian darstellen. Der Kurfürst vertraute dem 182 GILLERT Nr. 502 (Mutian an Urban, Ende Mai 1515): „ Is [Abelus, ein Schüler Spalatins] mihi multa narravit de Spalatino. … Stephanus et uxor misere adolescentem cuisdam opulenti civis ad gymnasium Wittenburgium cum hac cautione, ut adolescens pecuniam pro tempore caperet a Spalatino. Hanc fraudem non intelligens Spalatinus dat adolescenti. Interea fatuus frater in Spalt percipit subsidium a parentibus adolescentis. Ita Spalatinus decipitur. Preterea miserunt alterum puerum simili lege, ut omnino totum auferant nihil Spalatino penitus relinquentes.“ Im Jahre 1512 kehrte Stephan möglicherweise nach Spalt zurück. Auf alle Fälle war er 1517 in seiner Heimatstadt, wo er ein Amt bekleidete. Als man ihm dort ungenaue Rechnungsführung vorwarf, bat er Christoph Scheuerl, Spalatins alten Freund, um juristische Hilfe. Dieser verschaffte ihm und seiner Familie eine Bleibe in Nürnberg, als er 1518 dort auftauchte. Da sich die Anschuldigungen als unbegründet erwiesen, siedelte er wieder nach Spalt um. 1521 fragt er bei Urban an, ob er nach Erfurt kommen könne. GILLERT, Briefwechsel, II, S. 283 (Brief Urbans an Spalatin vom 30. Juli 1521): „Frater tuus Steffanus scripsit mihi hac hora. Quid cupiat, vides. Fac me certiorem, an velis et cupias adventum eius.“ 183 Das folgende stützt sich auf HÖß, Georg Spalatin S. 81 ff. 184 So HÖSS, Georg Spalatin, S. 85, ebenso S. 109: „Referent für die Hochschulangelegenheiten“.

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Gothaer Kanoniker nicht nur in pädagogischen Angelegenheiten, wie man ihm bei der Auswahl des sächsischen Prinzenerziehers versichert hatte,185 sondern schätzte ihn auch als Juristen, denn im Jahr 1520 übersandte Spalatin im Auftrag des Kurfürsten einen Brief, in dem er seinen einstigen Mentor bat, einige das Reich und Reichstage betreffende Gesetzesvorlagen juristisch zu überprüfen und etwaige Änderungsvorschläge anzubringen.186 Der weitere Brieftext macht aber klar, dass es nur vordergründig um die Bitte um ein Rechtsgutachten ging. Der wahre Anlass für das Schreiben war, Mutian als Nachfolger des im Sterben liegenden berühmten Wittenberger Juraprofessors Henning Goede zu gewinnen.187 Es war nicht das erste Mal, dass Friedrich versucht hatte, Mutian nach Wittenberg zu ziehen, und es sollte nicht das letzte Mal sein. Acht Monate später, am 21. Januar 1521, wiederholte Spalatin sein Angebot mit der Versicherung, auch in Wittenberg werde er seine Ruhe genießen können, also weiterhin sich seinen Forschungen widmen können.188 Selbst während des Reichstages zu Worms im Frühjahr 1521, als Spalatin mit den komplizierten und zeitraubenden Verhandlungen in der causa Lutheri befasst war, fand er Zeit, den Wunsch des Kurfürsten, Henning Goedes Stelle mit Mutian zu besetzen, diesem mitzuteilen. Mutian lehnte alle diese Avancen des Kurfürsten mit einer schon an Arroganz grenzenden Kühle ab, ja er hatte sogar früher die unerhörte Unhöflichkeit besessen, Briefe des Kurfürsten unbeantwortet zu lassen.189 Einen Ausweg aus dieser Situation hatte schon Spalatin selbst in seinem Brief vom Wormser Reichstag angedeutet. Wenn er selbst nicht das Angebot annehmen wolle, solle er doch Justus Jonas vorschlagen. Zwei Wochen später ließ sich Mutian schließ185 Vgl. GILLERT Nr. 105 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz nach Michaelis 1508): „Mihi credunt de pedagogo.“ 186 GILLERT Nr. 597 (Spalatin an Mutian, 26. November 1520): „Mittit illustrissimus et Christianissimus princeps, eruditissime praeceptor, tuae humanitati leges et constitiones nonullas aliquot caesarum et conventuum imperialium petens, ut eas pellegas et illis ipsis lectis illustrissimae gratiae eius respondeas, quidnam tuo iudicio videatur vel addendum vel minuendum vel immutandum.“ 187 GILLERT Nr. 597: „Veretur doctorem Henningum non diu in vivis futurum. Cuius successorem neminem mortalium mavult quam te iampridem tam cupide, ut in summis hoc votis habeat.“ Goede starb 1521. 188 GILLERT Nr. 600 (Spalatin an Mutian, 21. Januar 1521). 189 Das geht aus einer Bemerkung Spalatins aus dem Jahre 1519 hervor: GILLERT Nr. 584 (Spalatin an Mutian, 7. Mai 1519): „Hoc igitur tantum peto, ut illustrissimo et pientissimo principi nostro divo Friderico, duci Saxoniae, Romani imperii archimarschalco, principi electori et hoc tempore interregi, respondeas.“ GILLERT bemerkt dazu trocken: „Die Korrespondenz zwischen Mutian und seinem Landesfürsten scheint überhaupt während der langen Zeit ihres Bestehens von jenes Seite nicht allzu lebhaft geführt worden zu sein, wie sehr dies auch von Friedrich bedauert wurde.“ (GILLERT, Briefwechsel, II, S. 250; Anm. 6).

MARTIN LUTHER

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lich herab, den persönlichen Brief des Kurfürsten vom 12. Februar 1521 selbst zu beantworten.190 Begeistert schlug er seinen Freund Justus Jonas für die freigewordene Stelle vor (vgl. Kap. VII.8).

2.11 Martin Luther – „wie einen Apoll verehrt“ MARTIN LUTHER

Spalatin hat seinem Gothaer Lehrer zeitlebens die Treue gehalten. Gleichzeitig trat ab 1514 ein Mann in sein Leben, der seinen weiteren Lebensweg entscheidend beeinflussen sollte: Martin Luther. Nach einem ersten brieflichen Kontakt im Februar dieses Jahres, bei dem Spalatin im Auftrage des Kurfürsten den Augustinermönch und Wittenberger Theologieprofessor um eine Stellungnahme im Reuchlin-Streit gebeten hatte und dieser geantwortet hatte,191 und nachdem sich die beiden kurze Zeit später auch persönlich begegnet waren, entwickelte sich eine intensive Freundschaft, von der nicht nur die über 400 Briefe zeugen, die Luther in den folgenden Jahrzehnten an Spalatin schrieb,192 sondern auch die zahlreichen persönlichen Begegnungen. So sehr war Spalatin von dem charismatischen Freund fasziniert, dass Johannes Lange, ein gemeinsamer Freund Mutians und Spalatins, bereits ein Jahr nach der ersten Begegnung, also 1515, an Mutian meldete: Wie einen Apollo verehrt unser Spalatin ihn [Luther].193 Unter Luthers Einfluss vertiefte sich Spalatin in dessen Theologie, widmete sich dem Bibelstudium, wobei er als kritischer Humanist auch immer wieder Luthers Folgerungen hinterfragte und so den künftigen Reformator zu Präzisierungen seiner Positionen zwang. Seine wichtigste Aufgabe seit 1517 war die Vermittlung zwischen dem rebellischen und temperamentvollen Augustinermönch Martin Luther und dem bedächtigen Kurfürsten. Als Vertrauter Luthers konnte er zunächst mäßigend auf ihn einwirken, während er als Privatsekretär Friedrichs, dessen volles Vertrauen er genoss, ihm Luthers Positionen erklären konnte. Dass sich Friedrich in den folgenden entscheidenden Jahren der Reformation schützend vor den Wittenberger Theologieprofessor stellte, ist in erster Linie Spalatin zu verdanken. Da der Erfolg der Reformation wiederum in entscheidenem Maße letztlich dem Verhalten Friedrichs, eines der wichtigsten deutschen Territorialfürsten, zu verdanken ist, ist das Verhalten Spalatins weit über Kursachsen hinaus von großer Bedeutung. Das Wirken im Einzelnen zu belegen, kann nicht Aufgabe dieser 190 GILLERT Nr. 601 (Friedrich der Weise an Mutian, 12. Februar 1521); GILLERT Nr. 603 (Mutian an Friedrich den Weisen, 1. März 1521). 191 Luther, WA Br, 1, Nr. 7 (Brief Luthers an Spalatin, Februar 1514). 192 Die Mehrzahl der spalatinischen Antwortbriefe sind verlorengegangen. 193 GILLERT Nr. 490 (Johann Lang an Mutian, 2. Mai 1515): „Eum [Lutherum] ipsum ut Apollinem Spalatinus noster veneratur.“

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Studie sein, in dem es um Mutian und Spalatin geht. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass aus dem schüchternen Novizenlehrer ein Mann geworden war, der jetzt auf der großen diplomatischen Bühne agierte, sei es bei der Heidelberger Disputation, auf dem Augsburger Reichstag im Jahre 1518, auf dem sich Luther gegenüber dem Kurienkardenal Thomas Cajetan verteidigen musste, sei es bei der Kaiserwahl im folgenden Jahr oder auf dem Reichstag zu Worms, als Luther sich weigerte, seine Thesen zu widerrufen.

3.

Helius Eobanus Hessus – der König der Poeten

HELIUS EOBANUS HESSUS

Hesse puer, sacri gloria fontis eris (Hessischer Jüngling, Du wirst der Ruhm der heiligen Quelle sein).194 Mit diesen Worten charakterisierte Mutian 1506 einen jungen Mann, der zu diesem Zeitpunkt lediglich durch einige Kurzgedichte aufgefallen war, ein junges Talent aber, der später zu den bedeutendsten neulateinischen Dichtern der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gehören sollte.195 Der hessische Jüngling, dem der Gothaer Kanoniker hier prophetisch eine große dichterische Zukunft voraussagte, war kein anderer als Eobanus Hessus, der seinen Geburtsnamen Koch zunächst in Hessus geändert hatte und ab 1514 seinem Namen noch das Helius hinzufügte, nicht nur, weil er an einem Sonntag (ήλιος = Sonne) geboren worden war, sondern auch, weil er sich als Dichter unter dem Patronat des Apollo, des Sonnen- und Musengottes, glaubte. Das facettenreiche Werk dieses hochbegabten Dichters zu würdigen, kann nicht Aufgabe dieser Skizze sein, deren Augenmerk sich vielmehr auf das Verhältnis des Hessus zu Mutian richtet, denn auch Eobanus Hessus (1488–1540) stieß zu dem Stammkreis der mutianischen Gemeinschaft. Bald wurde er zu dem erklär194 GILLERT Nr. 79 (Mutian an Spalatin, August 1506). 195 Grundlage dieser Skizze des Verhältnisses von Eoban und Mutian sind die 26 zwischen 1506 und 1525 geschriebenen Briefe Mutians an den Dichter, sowie die 11 Briefe, die Eobanus etwa im gleichen Zeitraum an den Gothaer Kanonikus verfasste. Hinzugezogen wurden auch die über 30 Briefe, die Mutian an seinen Freund Urbanus sandte und in denen er sich über Eobanus äußerte, sowie Briefe Mutians an Herebord von der Marthen, Petreius, Friedrich den Weisen, Johannes Lang und andere, in denen der Dichter erwähnt wird. Basis für jede biographische Darstellung bleibt die zweibändige Biographie von KRAUSE (Helius Eobanus Hessus). In jüngerer Zeit hat sich der amerikanische Forscher VREDEVELD durch Ausgaben, Aufsätze und biographische Abrisse außerordentliche Verdienste um Hessus erworben. Sehr nützlich z.B. sein Artikel über Eobanus in „Dictionary of Literary Biography“ mit einer Bibliographie seiner Werke und kritischer Literatur. Ausgezeichnet HUBER-REBENEICH/LÜTKEMEYER, Hessus (Koch; Coci), Helius Eobanus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, Sp. 1066–1122, mit reicher Bibliographie.

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ten Liebling des Meisters „nicht bloß wegen seines unvergleichlichen Talentes, sondern auch wegen seines liebenswürdigen, heiteren und kindlich-arglosen Charakters, der nur dann aufbrauste, wenn er seine Gutmütigkeit missbraucht sah.“196 Geboren wurde Hessus am 6. Januar 1488 im hessischen Halgehausen bei Frankenberg,197 wo sein Vater für das in der Nähe liegende Kloster Haina arbeitete. Früh erkannte man seine Begabung und schickte ihn zunächst auf die Lateinschule in Gmünden und anschließend nach Frankenberg. Dort wurde er von Jakob Horlaeus in die Metrik eingeführt. Im Jahre 1504 immatrikulierte er sich an der Universität Erfurt198 – möglicherweise auf Anraten seines Frankenberger Mentors, der ein Absolvent der thüringischen Hochschule war. Bereits ein Jahr später brach aber in Erfurt die Pest aus, sodass zahlreiche Magister und Studenten die Stadt verließen. Eine Gruppe machte sich auf den Weg in die hessische Heimat, wo sie zunächst in Melsungen und dann in Frankenberg im Winter 1505–1506 in einem gemieteten Haus ihre Studien fortsetzten. Kaum nach Erfurt zurückgekehrt, verfasste der 18-jährige Eoban ein aus 250 Hexametern bestehendes Gedicht, in dem er plastisch die Ereignisse der ausbrechenden Pest und des Auszuges der Studenten aus Erfurt beschrieb.199 Im gleichen Monat, also im September 1506, veröffentlichte er ein zweites Poem über eine nur einen Monat zurückliegende tätliche Auseinandersetzung zwischen Erfurter Studenten und einigen verschworenen Taugenichten.200 Das Gedicht schildert nicht ohne Eleganz und relativ frei von dem üblichen mythologischen Apparat einen für das Spätmittelalter nicht untypischen Zusammenstoß zwischen der städtischen Bevölkerung und den Studenten. Mitte bis Ende August 1506 sandte der 18-jährige Hessus einige Gedichte oder auch das unveröffentlichte Manuskript an Mutian, der schon damals in Erfurt ein gewisses Gewicht als literarischer Zensor besaß. Mutian regierte nicht mit trockener Kritikerprosa, sondern mit einem Gedicht an Spalatin, der es unverzüglich an Hessus weiter196 KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 50. 197 Die Aussage in der 4. Ekloge seines Bucolicon (siehe unten), dass die Mutter ihn unter einem schattigen Baum zur Welt gebracht habe, muss man wohl nur so verstehen, dass er auf dem Lande geboren wurde. 198 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenverzeichnis der Artistenfakultät der Universität Erfurt, Nr. 271.4. 199 Im September 1506 erschien es bei Wolfgang Stürmer in Erfurt unter dem Titel: De recessu Studentum ex Erphordia tempore pestilentiae (Über den Auszug der Studenten aus Erfurt zur Zeit der Pest) (VD 16, E 1544). Neuausgabe: VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 93–115; Erklärungen: S. 393–402. 200 De pugna studentum Erphordiensium cum quibusdam coniuratis nebolonibus Eobani Hessi Francobergi carmen (Erfurt: Wolfgang Stürmer, 1506) (VD 16, E 1543). Neuausgabe: VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 117–131; Erklärungen: S. 403–408.

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leitete.201 Darin spendete er in überschwänglichen Worten dem dichterischen Talent des Landsmannes aus Hessen Lob, das in den anfänglich zitierten Worten gipfelte: Hesse puer, sacri gloria fontis eris. Immer wieder, selbst Jahrzehnte später, sollte sich Eobanus dankbar an diese frühe Voraussage erinnern. Außer sich vor Freude, schickte ihm der Nachwuchsdichter Ende August Verse, in denen er sich für diese Anerkennung bedankte und an die gemeinsame hessische Herkunft erinnerte. Zwar sei er erst ein Knabe, aber der knabenhafte Geist besitze große Kräfte.202 Prompt antwortete Mutian auf dieses Gedicht mit einem Brief.203 Er bedankte sich für die geistreichen, mühelosen und anmutigen Verslein, die Zeugnisse einer großen Begabung seien. Sie hätten ihm Freude und Bewunderung abgenötigt. Sein Lob aber verband der Pädagoge mit konkreten Ratschlägen: Er solle die Autoren der beiden Sprachen häufig und gründlich lesen und sich mit ihnen so vertraut machen, dass er sie souverän beherrsche. Außerdem solle er sich ein umfassendes enzyklopädisches Sachwissen, besonders geschichtliche Kenntnisse aneignen und sich in die Moralphilosophie versenken; denn ein rechter Poet müsse vielseitig gebildet (multiscius) sein.204 Wenn Mutian hier das Bild eines poeta doctus entwarf, so ist die Begründung aufschlussreich. Geschehe das nicht, argumentierte Mutian, würden die Tadler die Humanisten verspotten und sie in den Hörsälen und den Sitzungen der Doktoren als lächerlich und kritikwürdig quälen.205 Mutian nahm also die an der Universität von den scholastisch orientierten Professoren verbreitete Verachtung der Poeten durchaus ernst. Als dann wenige Wochen später die beiden Jugendwerke über den Auszug der Erfurter Studenten und die Auseinandersetzung zwischen Studenten und Handwerkern in Druck erschienen waren, gratulierte Mutian dem „neuen

201 GILLERT Nr. 79 (Mutian an Spalatin, August 1506). 202 GILLERT Nr. 417 (Eobanus Hessus an Mutian); GILLERT datierte dieses Gedicht auf das Jahr 1514, allerdings versah er dieses Datum mit einem Fragezeichen. Richtig ist die Datierung bei KRAUSE Nr. 563 auf August 1506: „Hessia te genuit felici sidere tellus. … Sum puer, at vires mens puerilis habet.“ 203 GILLERT Nr. 80 (Mutian an Eobanus Hessus, 27. August 1506, nicht 1508 wie bei GILLERT). 204 GILLERT Nr. 80 (Mutian an Eobanus Hessus): „Quo magis, mi adolescens, gaudere debes iudicio meo dareque operam, ut utriusque linguae praestantissimos auctores varia tibi multiplicique lectione vel digitis tuis notiores efficias. … Est operae pretium tractare totam encyclopaediam, nosse praecipue veterum probatas historias, denique ab ea philosophiae parte, quae de moribus praecipit, mutuari non nudam tantum ut complures rerum cognitionem, sed ut pauci gravitatem morum.“ 205 GILLERT Nr. 80 (Mutian an Eobanus Hessus): „Alioquin opici momi habebunt nos ludibrio et in auditorio coetuque doctorum vexabunt tanquam ridiculos et nota dignos censoria.“

HELIUS EOBANUS HESSUS

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Pindar“ in einem begeisterten Brief.206 Schon als Jünglinge habe er so viel Ruhm erworben wie sonst grauhaarige Greise. Den Tumult der Studenten mit den Handwerkern habe er so anschaulich geschildert, dass er glaube, selbst dabei gewesen zu sein. Gleichzeitig riet er ihm, seine Verse zu sammeln und zu publizieren. Wie Mutian Urban durch gezielte Literaturhinweise und konkrete Aufgaben aus den Schlingen der „Barbaren“ befreien und zu einem Humanisten machen wollte, wie er den mittellosen Spalatin ständig ermunterte und ihn auf seine spektakuläre Karriere lanzierte, so erkannte Mutian frühzeitig das dichterische Ausnahmetalent des Eobanus Hessus und förderte ihn, soweit es in seinen Mitteln stand. Spätestens seit 1506 nahm Hessus auch an den „Sitzungen“ der Gothaer Sodalitas teil und erhielt als gern gesehener und unterhaltsamer Gast sogar ein eigenes Wappen von Mutian verliehen, einen Schwan auf einem Lorbeerzweig.207 Anwesend war er zum Beispiel auch bei der Sitzung, in der man des Todes des Conrad Celtis gedachte, bei welcher Gelegenheit er aus dem Stegreif auch ein Gedicht auf den Verstorbenen verfasste.208 Nachdem Hessus im Frühherbst 1506 das Bakkalaureatsexamen bestanden hatte,209 dankte er mit einem umfangreichen Gedicht seiner alma mater, der Universität Erfurt, dass sie ihm, dem armen Bauernsohn, ein Studium ermöglicht hatte.210 Ein weiterer Grund, wenn nicht der wichtigste, mag gewesen sein, dass er Johann Bonemilch von Laasphe, den Theologieprofessor und Weihbischof von Erfurt, von dem er unterstützt worden war, durch seine schmeichelhafte Widmungsvorrede um weitere finanzielle Zuwendungen bat. Dass er aus seinem Lob der Universität materielle Vorteile erhoffte, bekannte Hessus mit entwaffnender Ehrlichkeit am Ende seines Gedichtes: Jetzt habe ich den Ruhm und den Ruf unserer Universität besungen. Die Universität hat Macht, aber die Macht entbehrt der Substanz. Du, Erfurt, wirst dich nach meinen Verdiensten revanchieren. Wertlosen Dank benötige ich nicht.211 206 GILLERT Nr. 45 (Mutian an Eobnaus Hessus, 1. Oktober 1506): „Eobano Hesso Francobergio inter lyricos Pindaro neotericotero.“ 207 Vgl. GILLERT Nr. 477 (Mutian an Cordus, Beilage des Itinerarium des Cordus): „Praecipue condens caput inter nubila cygnus,/Hesseni merito tradita signa viro.“ Der Schwan galt seit der Antike als Sinnbild des Dichters. 208 GILLERT Nr. 78 (11. August 1508) Andere Zusammenkünfte, an denen er teilnahm: GILLERT Nr. 484. 209 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, Nr. 271.4. 210 De laudibus et praeconiis incliti gymnasii apud Erphordiam, Erfurt: Wolfgang Stürmer, 1507 (VD 16, E 1522). Moderne Ausgabe: VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 135– 191; Erklärungen: S. 409–431. 211 VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 184:

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Wertlosen Dank bekam er auch nicht. Nicht lange nach der Veröffentlichung wurde Hessus tatsächlich zum Rektor der Severinsschule in Erfurt ernannt. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Werk des Hessus der seit Conrad Celtis und anderen deutschen Humanisten gängige Gedanke, dass die Deutschen sowohl die alten Griechen und Römer wie auch die modernen Italiener nicht nur eingeholt, sondern in vieler Hinsicht übertroffen hätten. Zudem sei Erfurt nicht nur besser als die antiken Bildungsstätten, sondern auch unter den deutschen Universitäten genieße es den besten Ruf. Es übertreffe Wien, Köln, Freiburg, Mainz, Heidelberg, Leipzig und Wittenberg. Die Hochschule glänze nicht nur durch seine attraktiven Gebäude, seine hervorragenden Bibliotheken, sondern besonders durch die darin wirkenden Wissenschaftler, von denen Hessus dann tatsächlich eine Reihe aus der Juristischen, Theologischen und Philosophischen (Artistischen) Fakultät, aber nicht der Medizinischen, namentlich aufführt: Männer wie Jodocus Trutfetter, Maternus Pistoris, Arnold von Usingen, Henning Goede und Johannes Biermost. Ungewöhnlich ist aber, dass Hessus unter den Erfurter Koryphäen einen Mann mit der längsten Würdigung bedachte (Verse 261–284), der zwar in der ersten Hälfte der neunziger Jahre als Dozent in der Artisten-Fakultät gelehrt hatte, zum Zeitpunkt der Abfassung des Gedichts aber weder zum damaligen Lehrkörper gehörte noch in Erfurt residierte, eben Mutianus Rufus: Dessen Platz ist aber leer: Auf dem Stuhl saß vorher der gefeierte Rufus, der jetzt in den glänzenden Mauern des nahen Gotha wohnt und dort die ruhigen Jahre seines Lebens in seliger Ruhe verbringt und über das unvernünftige Volk lacht. Sein Rat ist gefragt wie der des Agamemnon, er ist unbesiegbar wie einst Achilles, in seinem Urteil weise wie Minos und in seiner Frömmigkeit gleicht er Numa.212

Bedenkt man ferner, dass neben Mutian auch Crotus Rubeanus und Herebord von der Marthen gewürdigt werden, und dass Ulrich von Hutten mit einer gesonderten Elegie vertreten ist, so darf man dieses Gedicht auch als eine Huldi-

„Susque deque ferendum Palladiae cecini titulumque decusque coronae. Numen habet Pallas, numen inane tamen. Tu mihi persolves dignas, Erphordia, grates, Namque nihil vacuis gratibus indigeo.“ 212 VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 162, V. 259–266: „Haec prius insignis coluit subsellia Rufus, Qui nunc finitimae fulgentia maenia Gothae Incolit et placidos vitae tranquillior annos Exigit, insani ridens ludibria vulgi, Consilio Atrides, animo non victus Achilles, Iudicio Minos, Numa relligione probatus.“

BEMÜHUNGEN UM DEN DICHTERLORBEER

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gung an den ordo Mutiani und dessen Mitglieder interpretieren, Männer die im damaligen Universitätsleben (noch) keine Rolle spielten.213

3.1 Bemühungen um den Dichterlorbeer BEMÜHUNGEN UM DEN DICHTERLORBEER

Wenn man einmal zu dem mutianischen Kreis gehörte, so scheute der Meister keine Anstrengung, um seinen Schülern zu helfen. Er schrieb ihnen Empfehlungsschreiben und verschaffte ihnen Positionen. Im Falle des Hessus äußerte sich seine Fürsorge darin, dass er sich seit 1508 bemühte, den Dichterlorbeer für Eobanus zu erlangen. Seit Conrad Celtis 1487 als erstem Deutschen diese Ehre, die Francesco Petrarca 1341 eingeführt hatte, zuteil geworden war, waren auch andere Deutsche zu poetae laureati gekrönt worden. Anders als in England, wo es jeweils nur einen poet laureate gibt, vergab der deutsche Kaiser Maximilian mit geradezu inflationärer Häufigkeit diesen Titel, sodass während seiner Regierungszeit nicht weniger als dreißig Dichter und Dichterlinge in den Genuss dieser Auszeichnung kamen. Da mit der Dichterkrönung gewisse Privilegien verbunden waren, wie die Erlaubnis, an Universitäten Vorlesungen zu halten, wuchs mit der Auszeichnung auch das Sozialprestige der poetae laureati.214 Vor allem aber wurde von ihnen erwartet, dass sie zur Verherrlichung des Monarchen beitrugen.215 Gedrängt von Eobanus selbst, bemühte sich nun auch Mutian, ihm bei der Erlangung dieser Auszeichnung behilflich zu sein, zumal er schon vorher einem anderen zweitrangigen Dichter, Hermann Trebelius, dazu verholfen hatte: Dieser Ehrgeiz ist lobenswert, teilte Mutian zwei Freunden mit, und die Ruhmessucht des jungen Mannes würdig; das Erwünschte sollte ihm gewährt werden.216 Mutians Begründung: In seinen Epigrammen finden sich wunderbarer Wortwitz, im Satzbau hat er die Silben schön gefügt und artikuliert, schön hat er auch die Verse gestaltet. In seiner Ausdrucksweise ist er so geschickt, dass ich es mit einem Wort sage: er ist ein guter Dichter.217

213 Crotus Rubeanus in Versen 300–324; Herebord von der Marthen V. 146–152. 214 Zur Dichterkrönung in dieser Zeit SCHIRRMEISTER, Gekrönte Dichter, bes. S. 230–235: Die verweigerte Dichterkrone. MERTENS, Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians, S. 327–348. 215 Vgl. MÜLLER, „Gedechtnus“. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian. 216 GILLERT Nr. 70: (Mutian an Crotus und Herebord von der Marthen, 2. Juli 1508): „Eobanus noster gloriae studio flagrans lauream petit. Laudabilis ambitio famaeque cupiditas dignus iuvenis, cui optata concedantur.“ 217 GILLERT Nr. 70: „In epigrammatis eius mirifica festivitas verborum, structura belle syllabas tetendit, belle corripuit, belle pedes composuit, aptus ad exprimenda veneres orationis, ingenio facili et eleganti, denique, ut uno dicam verbo dicam, bonus poeta.“

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Bonus poeta, ein guter Dichter, zusammen mit dem dreimal wiederholten abgegriffenen belle, das ist im humanistischen Diskurs ein eher laues Lob, keineswegs aber eine überschwängliche Empfehlung. Sie zeigt aber auch, dass Mutian sehr wohl zwischen einem als Ermutigung gedachten Lob innerhalb des engen Freundschaftskreises und der nach außen hin vertretenen, sein Renommee als literarischer Zensor aufs Spiel setzenden Einschätzung zu unterscheiden vermochte. Tatsächlich hatte Hessus zu diesem Zeitpunkt außer den drei erwähnten Werken nichts veröffentlicht. Sein Bucolicon und seine Heroiden, Werke, die ihn in ganz Deutschland bekanntmachen sollten, erschienen erst ein bzw. sechs Jahre später. Dass sich der Ruhm Eobans auf ein relativ bescheidenes Œuvre stützte, wusste Mutian natürlich auch, weshalb er anderen anvertraute, er vermöge nicht zu sagen, ob jetzt schon die Zeit reif sei, für Hessus den Dichterlorbeer anzustreben.218 Das Thema war aber längst nicht von der Tagesordnung. Zwei Tage später, am 4. Juli 1508, beklagte sich Mutian, dass Eoban ihn mit seinem Streben nach dieser Ehrung so belästige, als ob es in seiner Hand wäre, ihm dazu zu verhelfen. Trotzdem unterstützte er aus Freundespflicht Eobanus und bat auch andere Sodalen wie Herebord von der Marthen und Spalatin, sich für den Dichter einzusetzen, denn Hessus schreibe nichts Unfrommes, nichts Skurriles, nichts Schamloses, Unvorsichtiges, Barbarisches. In ihm strahle nicht weniger die himmlische Kraft seines Talentes als die Heiligkeit seines Charakters.219 Deshalb solle er, Herebord, dafür sorgen, dass Eobans Licht nicht unter einem Scheffel versteckt werde und dass immer wieder Empfehlungsbriefe am rechten Ort und zum rechten Zeitpunkt geschrieben würden. Da aber die erhoffte Dichterkrönung auf sich warten ließ und dann überhaupt nicht erfolgte, wollte Mutian dem Dichter wenigstens eine Ährenkrone schenken.220 Die Gründe für das Scheitern der Bemühungen Mutians kennen wir nicht. Schon weniger begabte Dichter waren in den poetischen Adelsstand erhoben worden.

218 GILLERT Nr. 70 (Mutian an Crotus und Herebord von der Marthen): „Verum an nunc tempus sit petendae coronae, statuere nequeo.“ 219 GILLERT Nr. 72 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1508): „Nihil impie, nihil scurriliter, nihil immodeste, incaute, barbare profert. In quo non minus coelestis ingenii vigor quam morum sanctitas eminet. Itaque ne tam clarum lumen sub modio lateat, curabis etiam atque etiam, ut literae reddantur suo loco suoque tempore. Donabitur, ut spero, corona poetica … Res non habebit impedimentum.“ 220 GILLERT Nr. 77 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz nach dem 28. Juli 1508): „Ego do spiceam coronam Eobano: hac contentus erit, quoad caesar dabit poeticam.“

BUCOLICON

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3.2 Bucolicon – Freunde verkleidet als Hirten BUCOLICON

Eobanus Hessus ließ sich durch seinen gescheiterten Versuch, die Dichterkrone zu erringen, keineswegs entmutigen. Im Jahre 1509 erschien bei Johann Knappe dem Älteren in Erfurt sein bisher ambitioniertetes Werk, das aus elf Eklogen bestehende Bucolicon.221 Stolz verkündete er bereits auf der Titelseite, dass er der erste sei, der auf teutonischer Flur die lateinische Herde geweidet habe.222 Das stimmte nur teilweise, denn vor ihm hatten bereits andere deutsche Dichter wie der Schwabe Heinrich Bebel (1472–1518) einzelne Eklogen verfasst. Eobanus war aber tatsächlich der erste, der einen Zyklus von Hirtengedichten in Deutschland veröffentlichte.223 Mit diesem Zyklus nahm Hessus sowohl antike (Theokrit, Vergil) als auch italienische Vorbilder (Dante Alighieri, Giovanni Boccaccio, Francesco Petrarca und vor allem Baptista Mantuanus) auf. Während es aber bei Theokrit um eine realistische Beschreibung des Hirtenlebens ging, benutzte Vergil die bukolische Dichtung, um hinter der Maske der Hirten Freunde, Bekannte, Gönner und Rivalen allegorisch verfremdet darzustellen. Diese vergilische Tradition nahm Hessus auf. So berichtet die erste Ekloge von Camillus’ (Eobanus’) Weggang aus Frankenberg und dessen Ankunft in Erfurt, während sich das zweite Gedicht mit Spalatin (Candidus) beschäftigt. Im Zentrum der vierten Ekloge steht Herebord von der Marthen, gleichzeitig schildert das Gedicht die katastrophalen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustände des Jahres 1509 in Erfurt, des sogenannten „Tollen Jahres“, die einzige Ekloge mit einem deutlichen Zeitbezug. Während die fünfte Ekloge von einem Sängerstreit zwischen den Hirten Vernus (Justus Jonas) und Floridus (Peter Eberbach) handelt, thematisiert die siebte Ekloge Eobanus’ Hoffnungen auf das dichterische Lorbeer im vergangenen Sommer, wobei Eobanus, hier in der Maske des Polyphemus, seine Enttäuschung darüber rationalisiert: Er leugnet, dass Gedichte nur dann etwas wert seien, wenn der Verfasser ein gekrönter Dichter sei. Das Messer macht nicht den

221 Bucolicon Eobani Hessi, Erfurt: Hans Knappe d.Ä., 1509 (VD 16, E 1479). Neuausgabe von VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 265–381; Erklärungen: S. 453 ff. Eobanus hat das Bucolicon später noch zweimal erweitert herausgegeben, 1528 und 1539, vgl. VREDEVELD, S. 269 f. Ich beschränke mich hier auf die Erstausgabe, da es hauptsächlich um Mutians Reaktion auf das Werk geht. 222 VREDEVELD, The Poetic Works, I: „Primus Teutonico pavi pecus orbe latinum.“ Diesen Anspruch wiederholte er in dem Gedicht selbst, z.B. in der VI. Ekloge, Vers 6 ff. 223 Einen knappen, exzellenten Überblick über die Forschungslage zur neulateinischen Bukolik bietet MUNDT, Simon Lemnius: Bucolica, S. 9 ff.

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Koch oder die Kutte den Mönch oder der Lorbeer den Dichter. Es kommt darauf an, wie gut man seinen Beruf meistert.224

3.3 Mutian in dem Bucolicon MUTIAN IN DEM BUCOLICON

Das Bucolicon bildete keineswegs die Wirklichkeit ab, denn innerhalb des mutianischen Freundschaftsbundes gab es durchaus Streitigkeiten und Eifersüchteleien, sondern es ist eine Wunschvorstellung, ein Akt „der Selbstvergewisserung, Selbstbestätigung und Profilierung als humanistische Poeten der neuen entstehenden Bildungswelt.“225 Auf diese Weise gewährt das Bucolicon Einblicke in das Selbstbild des mutianischen Kreises um diese Zeit, denn fast alle Mitglieder – außer Urbanus – tauchen unter verschiedenen Decknamen auf: Eobanus selbst nannte sich abwechselnd Camillus, Cygnus, Sylvius, Polyphemus und Argus; Spalatin trat als Pudicus auf, Crotus als Philaegon, Iarbas und Iucundus; Herebord von der Marthen als Phileremus, Peter Eberbach als Floridus, Justus Jonas als Vernus und der nicht zum mutianischen Kreise zu rechnende Hermann Trebelius als Heliade. Innerhalb dieses Kreises spielte aber der Gothaer Kanoniker unter dem bezeichnenden Hirtennamen Tranquillus eine zentrale Rolle. Während sich nämlich die Hirten mit ihren Herden in der idyllischen Landschaft unterhalten, beobachtet sie von einem Hügel herab ein anderer Hirte – aliquis pastor.226 Noch deutlicher wird das in der zweiten Ekloge, einem Loblied auf Spalatin-Pudicus. Der sich hinter einem Haselnussstrauch versteckende Tranquillus, also Mutian, hört das Lied, lernt es auswendig und schnitzt die süßklingenden Worte in eine Baumrinde mit der Prophezeiung: Eines Tages wird ein Wanderer vorbeikommen und ausrufen: Wachst, wachst zum ewigen Ruhm Eures Dichters.227 In der fünften Ekloge 224 VREDEVELD, The Poetic Works, I, V. 125 ff., S. 342: „Non culter facit esse coquum, monachumve cucullus,/ Nec laurus vatem. Sua quemque professio monstrat.“ 225 MUNDT, Simon Lemnius: Bucolica, S. 24. 226 1. Ekloge V. 83–84: Iamque aliquis summo speculans a vertice pastor … Certantes in valle stupet, plena omnia Musis. Walter LUDWIG hat diesen „aliquis pastor“ als Mutian identifiziert: Eobanus Hessus in Erfurt, S. 159. 227 VREDEVELD, The Poetic Work of Helius Eobanus Hessus, I, S. 290, V. 103–110: „… cum proxima forsan Pastor Tranquillus subter coryleta latebat, Omnia concepit, namque illo doctior alter Non erat, et suaves incidit in arbore versus. Extat adhuc pregnans in cortice littera. Foelix Cresce arbor; viridi crescetis in arbore versus. Atque olim spectans aliquis vos, ‚Crescite‘, dicet, ‚Crescite et in vestri titulum supereste poetae‘.“

MUTIAN IN DEM BUCOLICON

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fungiert Mutian-Tranquillus als Schiedsrichter in einem Sängerwettstreit zwischen Vernus (Justus Jonas) und Floridus (Peter Eberbach alias Petreius), in dem es um die Frage geht, wer größer ist, Gott der Weltenschöpfer oder die Jungfrau Maria. Tranquillus salomonisches Urteil lautet: Beide haben recht. Mit der Auffordung Concordes pascite thauros – Geht friedlich und weidet Eure Bullen (V. 116) entlässt er die beiden Hirten. Spielt Tranquillus/Mutian in diesen Eklogen eine wichtige, wenn auch nicht die zentrale Rolle, so beherrscht er in der sechsten Ekloge – die sich bezeichnenderweise genau im Zentrum des Zyklus befindet – das Gedicht. Seine Idee der beata tranquillitas wird zwar zum nachahmenswerten Ideal erhoben, gleichzeitig wird er aber aufgefordert, sich ihnen, den Hirten-Dichtern, anzuschließen. Das Gedicht hat somit eine Doppelfunktion: einmal Mutian zu ermuntern, seine eigenen Verse zu publizieren, verschlüsselt hier als Einladung, sich zu ihnen in den Wäldern und Hügeln zu gesellen, also am literarischen Leben teilzunehmen,228 und zweitens das Versprechen, für seinen Ruhm zu sorgen: Solange Haine und Wälder stehen, solange Flüsse fließen, solange das Meer und die Erde existieren und Winde wehen, so lange werde ich dich durch meine ungeschliffenen Verse preisen.229 Mutian reagierte auf die Zusendung des Bucolicon nicht mit einem Brief, sondern dem Genre angemessen mit einem aus 54

228 Der gleiche Gedanke findet sich in der um 1508 geschriebenen Ode des Eobanus Hessus an Mutian, die er 1509 bei Johannes Knappe in Erfurt veröffentlichte. Das Gedicht wurde zum ersten Mal von Harry VREDEVELD mit englischer Übersetzung und Kommentar veröffentlicht: „A Forgotten Poem by Eobanus Hessus to Mutianus Rufus.“ Es ist eine sich an Horaz anlehnende Meditation auf die Kürze des Lebens, die Sterblichkeit des Menschen und die Notwendigkeit, die den Menschen zur Verfügung stehende Zeitspanne zu nützen. Eingebettet in diese philosophischen Reflexionen ist aber der spezifische Aufruf an Mutian, zu publizieren und somit an dem öffentlichen wissenschaftlichen und dichterischen Diskurs teilzunehmen. In immer neuen Wendungen wird dieser Appell vorgebracht: „Warum genießt du, während die Tage vorbeifliehen, die eitle Muße? … Es ist nicht richtig, dass Du bei der Verachtung des gemeinen Volkes nur stoischen Prinzipien folgst. … Glaubst du, dass wir auf dich verzichten können? Literarische Studien genießen immer mehr Wertschätzung, der Ruhm unseres Ordens wächst. Das Feld, das Du so sorgfältig kultiviert hast, blüht und trägt Früchte. Jetzt ist Zeit zu ernten. … Wirst Du dich jetzt verweigern?“ V. 73: „Quid te fugientibus ergo diebus/ Ocia vana iuvant?“ V. 77: „Non decuit spreto tantum commertia vulgo/ Stoica sola sequi.“ V. 85: „… nos te/ Posse carere putas? Surgit honor studii, nostri decus ordinis exit./ Scis ubi, Musa sile./ Floret ager, tanto cultus tibi, Rufe, labore,/Fructificatque tibi./ Nunc bene vernamus: nostra est nunc messis in herba,/ Noster abundat bonos./ Nunc aberis, nostro nunc adversabere voto?“ 229 VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 320, V. 35 ff.: „Dum nemora et sylvae stabunt, dum flumina current, Dum mare, dum tellus, dum ventus et aura manebunt, Rufe, meis et si rudibus dicere Camaenis.“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Versen bestehenden Gedicht, als wolle er zeigen, dass er sich durchaus mit Eobanus auf dessen ureigensten Gebiet messen könne.230 Das Bucolicon war eine Pioniertat mit weitreichenden Folgen.231 Bis zum Barock und darüber hinaus sollte die Hirten- oder Schäferdichtung in Deutschland in lateinischer und später auch in deutscher Sprache eine Blüte erleben.232

3.4 Auf der Suche nach grüneren Weiden – Eobanus verlässt Erfurt AUF DER SUCHE NACH GRÜNEREN WEIDEN

Bildet die allegorisch chiffrierte Beschwörung der Gemeinsamkeiten des mutianischen Kreises das Hauptthema des Hirtengedichte-Zyklus, so sind die Klagen über die traurigen Zustände ihrer Weiden, d.h. der Arbeitsmöglichkeiten als Dichter, ein wichtiges Nebenthema. Während nämlich in der ersten Ekloge Erfurt, wohin der Dichter aus Frankenberg übersiedelte, noch als das gelobte Land dargestellt wird, so bietet sich ab der vierten Ekloge ein anderes, düsteres Bild. Phileremus, alias Herebord von der Marthen, wundert sich, dass Argus (Eobanus Hessus) seine Herde noch nicht von den unheilvollen Fluren zurückgezogen habe: Warum verlässt Du nicht die Unglück bringenden Felder? Warum trennst Du dich nicht von den Weiden, die für die Herden so schädlich sind. Das Einzige, was hier gedeiht, sind unfruchtbare Dornensträuche, Unkraut, Schwindelhafer, Kletten und Disteln. Hier macht keine Muse die Hirten glücklich. Im Gegenteil. In ewiger Armut werden sie aller Hoffnung beraubt und ihre Wünsche bleiben unerfüllt. Die Wiesen wimmeln von Schlangen, die schattigen Höhlen sind voller Echsen. Leicht kannst Du in den nahen Schatten auf eine Schlange treten und von ihr gebissen werden.233

230 GILLERT Nr. 149 (Mutian an Eobanus Hessus, 15. Oktober 1509). 231 MUNDT (Simon Lemnius: Bucolica, S. 16, Fußnote 55) zählt nicht weniger als 30 neulateinische Dichter im deutschsprachigen Raum auf, die im 15. und 16. Jahrhundert Eklogen verfassten. 232 Vgl. dazu MUNDT und GARBER, Schäferdichtung, in: KILLY, 13, S. 338–341. 233 VREDEVELD, The Poetic Works, I, 4. Ekloge, S. 302, Verse 7–14. „Phil. O Arge, infaustos quid adhuc non deseris agros? Noxia quid pecori non linquis pascua, quando Hic steriles tribuli, lolium, zizania, lappae, Carduus, et spinae surgunt, ubi nulla beatos Otia pastores faciunt, sed semper egentes Spe rapiunt facili suspensaque vota morantur? Pascua serpentes habitant, umbrosa lacerate, Heu fuge, vicinae ne dum successeris umbrae Forte pedem tenerum calcata remordeat anguis.“

AUF DER SUCHE NACH GRÜNEREN WEIDEN

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Die nur leicht verschlüsselten Klagen über seine Armut, die mangelnde Anerkennung, die Unmöglichkeit, eine Stelle an der Universität zu erhalten, die Anfeindungen seitens einiger Gegner, veranlassten Eobanus schließlich, im Spätherbst 1509 Erfurt zu verlassen und sich „grünere Weiden“ zu suchen. Diese fand er bei dem Bischof Hiob von Dobeneck in Riesenburg in Pomesanien, wie andere deutsche Bischöfe ein Absolvent der Universität Erfurt.234 Ab 1510 erledigte Hessus als einer seiner Sekretäre dessen Korrespondenz und begleitete den Kirchenfürsten gelegentlich auf ausgedehnten Reisen. „Eine trockene Berufstätigkeit war an die Stelle des begeisterten Musenkultes getreten“, urteilte Krause, der Biograph des Hessus.235 Wenn auch der Briefkontakt zu Mutian zunächst abbrach,236 so hatte Hessus doch seinen Mentor keineswegs vergessen. Im Jahre 1513, also noch während seines Aufenthaltes in Preußen, verfasste er ein an Mutian gerichtetes Gedicht. Es handelt sich um die sogenannte Preußenelegie, also eine in der Tradition des carmen topographum bestehende Beschreibung dieses Landes.237 Die Landschaftsschilderung beschränkt sich allerdings nur auf den Binnenteil,238 denn Anfang und Ende des aus 98 Distichen bestehenden Gedichtes signalisieren, dass es sich um nichts anderes als um eine Versepistel an Mutian handelt: Es grüßt dich vom Meeressstrand, Rufus, Hessus, der eben noch Mitglied Deines Freundeskreises war. Hier lebt Dein Hessus, dem Du oft Beifall spendetest, wenn er zur Leier wohlklingende Verse schmiedete.239

Und dann beschwört er die Freundschaft, die zwischen beiden trotz der großen geographischen Distanz besteht. Zwei Körper mögen physisch getrennt sein, deren Seelen seien aber fest verbunden; denn die Seele, der göttliche Macht

234 235 236 237

KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 135. Er lebte von ca 1450–1521. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 95. Zwischen Herbst 1509 und Herbst 1513 sind keine Briefe erhalten. Helij Eobani Hessi Sylvae duae nuper aeditae Prussia et Amor (o.J., o.O.; Leipzig: Melchior Latter, 1514.) Zuerst in der Neuzeit abgedruckt bei GILLERT als Nr. 343 (Eobanus Hessus an Mutian, 1. Januar 1514); dann wieder bei KÜHLMANN/STRAUBE, Zur Historie und Pragmatik humanistischer Lyrik, S. 702–705; deutsche Übersetzung und Kommentar: S. 705–711; VREDEVELD, The Poetic Works, II, S. 74–85; Introduction, S. 45 ff. 238 Zum kulturgeographischen Teil: KÜHLMANN/STRAUBE, S. 680–682. 239 Übersetzung KÜHLMANN/STRAUBE, S. 705. „Mittit ab aequoreo tibi littore Rufe salutem, Hessus amicitiae pars modo iusta tuae.“ (V. 1–2) „Hic tuus ille Hessus vivit, quem saepe probabas Ludere ad auratam verba canora chelym.“ (V. 7–8)

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innewohne, überwinde alle räumlichen Entfernungen.240 Erst nach diesen Überlegungen kommt er zur eigentlichen Beschreibung Preußens, die sich teilweise aus eigener Anschauung, teilweise aus literarischen Quellen speist. Der abschließende Rahmenteil (V. 119–136) erinnert noch einmal an die unverbrüchliche Freundschaft zu Mutian, dem er die entscheidende Prägungen seiner Jugend verdanke,241 geht aber über den Anfangsteil insofern hinaus, als sich hier Hessus auch nach den anderen Mitgliedern des mutianischen Kreises erkundigt.242

3.5 Eobanus’ Rückkehr nach Frankfurt an der Oder und Leipzig EOBANUS’ RÜCKKEHR

Auf die Dauer konnten die Aufgaben am bischöflichen Hof den begabten Dichter nicht befriedigen: Die von ihm zu erledigende Korrespondenz wiederholte sich, die häufigen Gesandtschaften, die extravaganten Bankette, das ganze Hofleben erforderten viel Zeit und versprachen wohl auch kein berufliches Fortkommen. Aus diesem Grunde akzeptierte er das Angebot des Bischofs, sich mit einem Jurastudium für eine gehobene Verwaltungsposition in der bischöflichen Kanzlei zu qualifizieren. Ausgestattet mit genügend finanziellen Mitteln und einem Bündel juristischer Fachbücher begab er sich im Frühjahr des Jahres 1515 an die Universität Frankfurt an der Oder, die er aber bereits nach einem Semester aus ungeklärten Gründen verließ. Nach einem Umweg über Wittenberg, wo er alte Bekannte besuchte, schrieb er sich an der Universität Leipzig ein, wo er den jungen Joachim Camerarius kennenlernte, der ihm später in seiner Narratio de Helio Eobano Hesso ein literarisches Denkmal setzte.243 Aber statt sich den juristischen Studien zu widmen, veräußerte er seine dickleibigen Bücher und wählte den Beruf, zu dem ihm die Natur bestimmt zu haben schien. Wie Mutian ein Jahrzehnt vor ihm, verzichtete er also auf eine möglicherweise glänzende Karriere im Fürstendienst und entschied sich für das unsichere Leben eines Poeten.

240 KÜHLMANN/STRAUBE, S. 678: „Freundschaft wird hier nicht in Anlehnung an Aristoteles’ Nikomachische Ethik, an Ciceros Laelius oder an die Briefe Senecas als moralische qualifizierende Solidarität beschrieben, sondern als Phänomen einer alle Räume überwindenden Seelenverwandtschaft.“ 241 V. 119: „At tu, Rufe meae formator primae iuventae.“ 242 Er fragt zum Beispiel, ob sich Phileremus, d.h. Herebord von der Marthen, noch im Kloster Georgenthal befinde, was Crotus und Petreius trieben und ob Spalatin noch Prinzenerzieher am sächsischen Hof sei. Da dieser Georgenthal bereits 1511 verlassen hatte, war Hessus vermutlich nicht über die Lebensumstände der Sodalen des mutianischen Kreises informiert. 243 KÜHLMANN/BURKARD, Joachim Camerarius: Narratio de Helio Eobano Hesso (1553); vgl. Kap. XIII.

DIE HEROIDES CHRISTINAE

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Im Wintersemester hielt er Vorlesungen über sein soeben erschienenes Werk, die Heroiden.

3.6 Die Heroides christianae – christliche Heldinnen DIE HEROIDES CHRISTINAE

Die Heroiden waren Hessus’ bisher bedeutendstes und originellstes Werk.244 Es orientierte sich an der Gattung des heroischen Briefes, wie sie Ovid in die Literatur eingeführt hatte. Der römische Dichter hatte in einem Zyklus von 25 fiktiven Briefen meist mythologische Heldinnen vorgeführt, die sich an ihre Liebhaber wandten mit der Bitte, zurückzukehren und ihre Liebe zu erwidern. Hessus übertrug dieses Konzept auf die christliche Gedankenwelt; seine Heldinnen sind keine mythologischen oder heidnischen Gestalten, sondern Märtyrerinnen oder Frauen aus den Heiligenlegenden, die an Christus oder ihre Geliebten schreiben. So appelliert etwa Maria Magdalena an den auferstandenen Christus, sich ihr am Ostermorgen zu zeigen; die Märtyrerin Katharina von Alexandrien redet ihren Bräutigam Christus an; Helena teilt ihrem Sohn Kaiser Konstantin mit, dass sie das wahre Kreuz gefunden habe, und Kunigunde drängt ihren Gatten, Kaiser Heinrich II., sie über heiße Kohle laufen zu lassen, um ihm ihre Treue zu beweisen. Mutian war von Beginn an begeistert von dem Werk seines Schülers. Dessen [Hessus’] Heroiden, ein wunderbares Werk, weisen ihn ganz klar als den größten, gleichsam als einen göttlichen Dichter aus,245 schwärmte er, ein Lob, das er einige Tage später in einem gemeinsamen Brief an Hessus und Urbanus wiederholte: Die Frömmigkeit des Dichters, voll jugendlichen Schwunges, strahlt heller als das Licht des Südens. Er wird von göttlicher Begeisterung hingerissen. Er eignet sich bewundernswerte Bilder an und singt mit unglaublicher Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit. Dazu kommt die gleichsam erhabene Sprache Homers,246

sein Ruhm wachse in ganz Deutschland247 und werde ihm wie ein Schatten folgen,248 ja durch die Heroiden sei er unsterblich geworden.249 Durch seine Heiter244 Helii Eobani Hessi Heroidum Christianarum epistolae. Leipzig: Melchior Lotter, 1514 (VD 16, E 1506). Abgedruckt mit englischer Übersetzung und Kommentar in VREDEVELD, The Poetic Works, II, S. 63–68. 245 GILLERT Nr. 409 (Mutian an Urban, nach dem 4. August 1514): „Illius Reginae, opus pulcherrimum, plane arguit summum aetatis nostrae et quasi divinum poetam.“ 246 GILLERT Nr. 410 (Mutian an Urban und Hessus, 8. August 1514): „At Hessei hymnographi pietas plena iuvenilis ardoris meridiana luce clarior est. Rapitur furore divino et admirandas rerum imagines animo complectitur et incredibili facilitate suavitateque canit. Huc adde magniloquentiam quasi Homericam.“ 247 GILLERT Nr. 446 (Mutian an Urban, vor dem 10. Oktober 1514): „Ingeniosissimus homo quantum carmine valeat, testis est Germania.“

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keit und freundliche Gewandtheit und durch sein Talent sei er in die Fußstapfen Ovids und des Baptista von Mantua getreten. Da er den Stoff aus den frommen Legenden geschöpft habe, könnten sich selbst orthodoxe Kritiker (ab orthodoxea persuasione), die normalerweise poetischen Werken skeptisch gegenüberstünden, nicht daran stoßen.250 Andere Humanisten wie Crotus Rubeanus, Ulrich von Hutten, Michael Hummelberger und Johannes Reuchlin schlossen sich der Begeisterung für den „christlichen Ovid“ an.251 Spalatin habe seinen Freund den Vergil der Deutschen genannt,252 berichtete Mutian stolz, ein Lob, das er, Mutian, aus dem Munde Spalatins, der kein Schmeichler sei, teile.253 Mutian beließ es nicht bei seinem Beifall für die Heroiden, sondern sandte das Werk bereits am 13. August an seinen Landesherren Friedrich den Weisen,254 wohl auch in der Absicht, den Versuch zu erneuern, den poetischen Lorbeer für seinen Schützling zu erlangen, zu einem Zeitpunkt also, als der Dichter auf ein wesentlich umfangreicheres Œuvre verweisen konnte. Am gleichen Tag informierte er Urban: Ich habe gerade die Reginae [die Heroiden] dem göttlichen Friedrich übersandt. Ich habe den Dichter, der unserer Freundschaft äußert würdig ist, empfohlen. Er wird, wenn er will, die Dichterkrone haben. Ich werde darauf drängen. Ich habe nun die Tür zur Krone geöffnet.255

Merkwürdigerweise verzichtete er aber in dem auf Deutsch geschriebenen Begleitbrief an Friedrich den Weisen darauf, seine Bitte um die Dichterkrönung zu erneuern. Dort hieß er lediglich: „… bitt ich vnterteniglich E. C. G. wolle meines Eobani gar lieplich vnd schon buch lesen.256 Ebenso wenig erwähnte er seine angeb248 GILLERT Nr. 410: „ … quam durabilis vos gloria velut umbra sequitur. O quanta ingenii feliciate praediti estis.“ 249 GILLERT Nr. 412 (Mutian an Eobanus Hessus, 13. August 1514): „In eo certissimis et praecipuis aludibus, quibus flores, immortalem te fecisti.“ Weiteres Lob in GILLERT Nr. 413, 414, 436, 446. 250 GILLERT Nr. 412: „Consecutus es autem hilaritate tua et gratiosissima facilitate et ingenio, quo vales, ut inter eloquentia clarissimos: Ovidium et Baptistam Mantuanum medius – Quid enim aliud dicam magis proprie? – videaris ambulare. Argumentum sumis ex recepta sanctaque fabula … Ut nusquam ab orthodoxa persuasione ne ungue quidem latius recessisse videare.“ 251 Vgl. VREDEVELD, The Poetic Works, II, S. 107. 252 GILLERT Nr. 421 (Mutian an Urban, 22. oder 23. August 1514):„Spalatinus, natura bonus et doctus homo, appellat Eobanum Germanorum Vergilium.“ 253 GILLERT Nr. 421: „… neque enim adulator est.“ 254 GILLERT Nr. 413 (Mutian an Friedrich den Weisen, 13. August 1514). 255 GILLERT Nr. 414 (Mutian an Urban, 13. August 1514): „Dedi Reginas Eobani divo Friderico. Commendavi poetam nostra necessitudine dignissimum. Habebit, si volet, lauream. Ego impetrabo, nunc aditum ad coronam patefeci.“ 256 GILLERT Nr. 413 (Mutian an Friedrich den Weisen).

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lichen Bemühungen in einem Brief an Eoban selbst.257 Der fromme Kurfürst bedankte sich für die Übersendung der Heroiden, interpretierte sie aber nicht so sehr vom künstlerisch-literarischen Standpunkt als eine genuine literarische Pionierleistung, sondern als eine erbauliche Lektüre, die als Mahnung diente, die widerwertigkait mit geduld zu vberwinden.258 In der Angelegenheit des Poetenlorbeers stellte er sich weiterhin taub.

3.7 Nach „langen Irrfahrten“ zurück in Erfurt NACH LANGEN IRRFAHRTEN ZURÜCK IN ERFURT

Am 21. Juli 1514 traf Eobanus nach langen Irrfahrten in Erfurt ein.Vierzehn Tage später kündigte er seinem Gothaer Mentor seine Ankunft an. Er erwarte sehnsüchtig seine Briefe, durch langes Warten solle er ihn doch nicht auf die Folter spannen.259 Tatsächlich führte die räumliche Nähe in der Folgezeit zu einer Intensivierung der Korrespondenz, sodass die meisten der uns erhaltenen mutianischen Briefe an Hessus aus den Jahren 1514 bis 1515 stammen. Neben der Diskussion seiner poetischen Werke stehen zwei eng miteinander verbundene Themen im Vordergrund: die Bemühungen Mutians, dem mittellosen Dichter eine Stellung an der Universität zu verschaffen, und die Heirat des Freundes. Obwohl Mutian in der Angelegenheit des Poetenlorbeers resigniert haben dürfte, setzte er sich um so engagierter dafür ein, dem jungen Poeten eine permanente Stelle zu besorgen, denn durch die Publikation der Heroiden war Hessus zwar bekannt, reich war er davon aber nicht geworden. Da Mutian zwar als literarischer Zensor hohes Ansehen genoss, aber seiner Natur nach scheu war, bat er den weltgewandten Herebord von der Marthen, der inzwischen als Syndikus der Stadt Erfurt und Rechtsprofessor erheblichen Einfluss besaß, seine Beziehungen spielen zu lassen: Hilf dem Eobanus, sodass er eine dauerhafte Stellung mit einem Gehalt erhält,260 eine Bitte, die er ein wenig später mit der Begründung wiederholte, eine humanistische, mit einem langfristigen Salär ausgestattete Lektur wäre auch für die Juristen von Nutzen.261 Wenn sich einige mit der ewigen Geldknappheit herausreden wollten, so solle er bitte die Vertreter des Mainzer Erzbischofs und die Erfurter Ratsherren einschalten und ihnen sagen: Wir wollen und fordern, dass es jemanden gibt, der unter so vielen verwirrten und geschmacklosen Vorlesungen 257 GILLERT Nr. 416 (Mutian an Eobanus Hessus, 13. August 1514). 258 GILLERT Nr. 422 (Friedrich der Weise an Mutian, 23. August 1514). 259 GILLERT Nr. 408 (Eobanus Hessus an Mutian, 4. August 1514): „… post longos errores. … Rogo, ne earum [literarum] desyderio me excarnifices.“ 260 GILLERT Nr. 434 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz nach dem 17. September 1514): „Eobanum adiuva, ut obtineat lectionem perpetuam cum stipendio.“ 261 GILLERT Nr. 442 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende September 1514): „Instituatur lectio humanioris politiorisque doctrinae cum aeterno stipendio.“

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jemand gibt, der lateinische Literatur kompetent unterrichtet.262 Die Gelehrten und Ungelehrten würden es ihm danken. Da die Bemühungen von der Marthens, sollte er tatsächlich welche unternommen haben, zu diesem Zeitpunkt nicht von Erfolg gekrönt wurden, wandte sich Mutian im März 1515 an einen zweiten möglichen Gönner, den Abt der Fuldaer Abtei, Hartmann von Kirchberg, einen dem Humanismus durchaus aufgeschlossenen Mann, in dessen Kloster bereits Crotus Rubeanus als Lehrer tätig war. Mutian fiel allerdings nicht mit der Tür ins Haus, sondern bereitete zunächst in einem Brief vom 15. März 1515 den geistlichen Adressaten ganz unverfänglich vor, indem er ihm kurz von dem hochberühmten Dichter (poeta celebrissimus) berichtete.263 Erst etwa vierzehn Tage später, am 29. März 1515, brachte er sein Anliegen vor. Es ist ein äußerst geschickter Brief, der Mutian als einen Meister der psychologischen Überredungskunst zeigt.264 Im lockeren Gesprächston berichtete er von dem bereits erwähnten Gastmahl in der BEATA TRANQUILLITAS, in der Hessus mit seinem Insiderwissen über die Tierwelt Preußens geglänzt hatte.265 Außerdem habe Hessus bei dieser Gelegenheit erwähnt, dass Hartmann von Kirchberg bei den Preußen, Polen und bei den Deutschordensrittern sehr geschätzt werde.266 Mit dieser Anekdote hatte Mutian schon geschickt den Boden für sein eigentliches Anliegen vorbereitet. Erst nachdem er also die Weltläufigkeit und Erfahrung des Hessus mit Schmeichelei verbunden hatte, brachte er seine eigentliche Bitte vor: Ich wundere mich, dass so ein Lehrer, so ein ausgezeichneter Dichter, obwohl alle Gelehrte Deutschlands ihm das höchste Lob spenden und, was noch mehr ist, ihm den Lorbeer und die Palme eines christlichen Dichters geben, Dir nicht bekannt ist. Ich habe ihn gebeten, sich sofort bei Dir, unserem Mäzenas, einzuschmeicheln.267

Crotus sei schon „ein Kardinal“ bei ihm, übrig bleibe, dass er ihm den edelsten Dichter beigebe.268 Als verheirateter Mann könne er zwar keine geistliche Lauf262 GILLERT Nr. 442: „Volumus et iubemus, ut sit qui latinas literas optime doceat, inter tot confusas et insulsas lectiones.“ 263 GILLERT Nr. 475 (Mutian an Abt Hartmann, 15. März 1515). 264 GILLERT Nr. 484 (Mutian an Abt Hartmann, zwischen 18. und 29. März 1515). 265 Vgl. Kap. VI. GILLERT Nr. 484. 266 Hartmann von Kirchberg war einige Jahre vorher als kaiserlicher Legat in Angelegenheiten des Deutschen Ordens bei König Sigismund von Polen gewesen. 267 GILLERT Nr. 484 (Mutian an Abt Hartmann): „Miror autem hunc talem magistrum, tam egregium poetam minus esse tuae sublimitati familiarem, cum doctissimus quisque Germanorum huic lauream primam imo, quod maius est, Christianorum poetarum palmam et praestantiae coronam assignet. Iussi igitur, ut statim se tibi, Maecenati nostro, insinuaret.“ 268 GILLERT Nr. 484: „Crotum fecisti cardinalem, restitit, ut Croto poetam nobilissimum adiungas.“ Das Dichterlorbeer muss man hier metaphorisch verstehen.

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bahn einschlagen, sicherlich gäbe es doch andere Verwendungsmöglichkeiten für den begabten Humanisten. Was seinen Charakter angehe, so stelle er ihm ein glänzendes Zeugnis aus: Weder bösartig, neidisch noch arrogant sei er, sondern rechtschaffen, aufrichtig, bescheiden und diensteifrig. Im Scherz und Ernst ist er gleichermaßen geistreich, außerdem ist er dem Saitenspiel zugetan, kurz er ist ein Mann für alle Stunden. Hier hast Du, schloss Mutian seinen Brief, einen Eobanus sozusagen aus Papier; wenn Du ihn in Fleisch und Blut sehen und hören willst, wirst Du nicht fehlgehen.269 Als Postscriptum fügte er hinzu: Einen besseren Verherrlicher Deines Ruhmes habe ich nie, so wahr mir Gott helfe, gefunden.270 Um dieses wichtige Argument zu bekräftigen, sandte Mutian wenig später einen zweiten kürzeren Brief an von Kirchberg, in dem er den Abt bereits in der Salutatio als Mäzen der Dichter apostrophierte. Wie Vergil einst dem Mäzenas Unsterblichkeit verlieh, so werde dies Eoban für Hartmann tun.271 Aber weder die Aussicht auf Unsterblichkeit durch den deutschen Vergil/ Ovid/Pindar/Homer noch Mutians kluge und charmante Briefe bewogen von Kirchberg, Eobanus nach Fulda zu holen. In dieser Lage erwog der Dichter, sich einem Brotstudium, der Jurisprudenz oder der Medizin zu widmen. Davon riet aber Mutian dringend ab: Zum Dichten bist zu geboren. Die Musen betreten das Forum nicht, und wenn sie es betreten, trinken und fliehen sie wie ein Hund in Ägypten. Was das Medizinstudium angehe, so meint er, Ärzte seien von den Griechen σκατοφáγοι, Kotfresser, genannt worden, weil sie Urin und Exkremente äßen272 – keine gute Empfehlung.

269 GILLERT Nr. 484: „Totus enim probus est, totus sincerus, totus modestus et officiosus: in seriis attentus, in iocis urbanus et cytharae deditus et plane omnium horarum homo. Habes, amplissime pater et domine noster, papyraceum Eobanum; si verum aspicere et audire volueris, non errrabis.“ 270 GILLERT Nr. 484: „Meliorem tuae gloriae propagatorem, ita me Deus amet, numquam inveni.“ 271 GILLERT Nr. 485 (Mutian an Abt Hartmann, 29. März 1515): „Tantum Hartmanno praestabit Eobanum, quantum Maro Maecenati suo praestitit, hoc est, immortalitatem.“ 272 GILLERT Nr. 488 (Mutian an Eobanus Hessus, 29. März 1515): „ Ad carmen es natus. Musae forum non intrant vel si intrant, bibunt et fugiunt instar canis in Egypto.“ (Aus Furcht vor Krokodilen löschen ägyptische Hunde ihren Durst im Laufen). Später studierte Hessus tatsächlich Medizin, ohne aber je als Arzt zu praktizieren.

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3.8 Hessus’ Heirat – Spott der Freunde HESSUS’ HEIRAT

Als Hindernis für eine mögliche Beschäftigung in einer kirchlichen Institution wurde gelegentlich Eobanus’ Heirat angeführt,273 ein Thema, das in der Korrespondenz zwischen Herbst 1514 und Frühjahr 1515 eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Bereits im August 1514 teilte Mutian dem Urban Eobans Heiratsabsichten mit.274 Ende September bat er von der Marthen, die Federführung sowohl bei der Beschäftigungssuche als auch in der Heiratsangelegenheit zu übernehmen: Wenn er schon heiraten wolle, solle er wenigstens eine reiche Witwe finden.275 Um Michaelis wünschte Mutian – ohne offenbar die Identität der Braut zu kennen – dem „glücklichen Schwan“, Eobans Name im MutianKreis, alles Gute: Heilig seien schließlich die Fesseln der Ehe.276 Billigte Mutian gegenüber Hessus grundsätzlich dessen Heirat, so klang das seinen Freunden gegenüber ganz anders. Hinter seinem Rücken munkelte man, die erwählte Braut sei nicht einmal schön, die erste Blüte der Jugend sei vorbei; dazu sei sie mittellos und bringe keine Mitgift in die Ehe.277 Den von Mutian gemachten Vorschlag, eine ältere reiche Witwe zu heiraten, soll Eobanus mit deutlichen Worten abgelehnt haben: Ich verabscheue alte Scheiden.278 Eobanus aber heiratete, wahrscheinlich Ende Dezember 1514 oder Anfang Januar 1515, seine Jugendliebe, die Erfurter Bürgerstochter Katarina Spater.279 Aber auch nach der Hochzeit hörten die Sticheleien nicht auf. In den Briefen der Zeit, also Frühling/Frühsommer 1515, finden sich immer wieder Klagen über die angebliche Herrschaft der Verwandten. Besonders die Schwiegermutter sei unerträglich, wusste Mutian zu berichten. Eobans Haus, die Engelsburg, habe sich in eine Burg der Dämonen verwandelt, in die statt des Friedens der

273 GILLERT Nr. 496 (Mutian an Urban, vor dem 23. Mai 1515): „Eobanus utinam uxorem non haberet … mittirem ad Eytelvolphum et melius haberet.“ 274 GILLERT Nr. 427 (Mutian an Urban, August/September 1514): „Ducturus est uxorem.“ 275 GILLERT Nr. 442 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende September 1514): „Cupit [Eobanus] etiam uxorem ducere. Ducat tuo auspicio ditissimum viduam.“ 276 GILLERT Nr. 443 (Mutian an Eobanus Hessus, um Michaelis 1514): „Sanctum et legitimum vinculum.“ 277 GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514): „Eobanus sua sponte libertatem amisit. Omnes male taxant sponsalia … Ah Deus! Dicitur esse praeflorata et inops maleque dotata.“ Das „praeflorata“ kann auch heißen „keine Jungfrau mehr,“ wie bei Apuleius. 278 GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514): „A veteribus enim cunnis abhorreo.“ 279 Das geht aus dem Brief, der er am 6. Januar 1515 an Johannes Reuchlin schrieb: „Ego his diebus uxorem duxi.“ GEIGER, Johann Reuchlins Briefwechsel, Nr. CC; RBW, III, Nr. 257, S. 148.

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Engel die Verleumdungen der Teufel eingekehrt seien.280 Im Frühjahr 1515 fiel sogar wegen der Heirat ein Schatten über das sonst so herzliche Verhältnis Mutians mit Hessus. In nicht weniger als sechs Briefen, geschrieben innerhalb kürzester Zeit im Mai dieses Jahres,281ging es um wenig schmeichelhafte Äußerungen des Crotus Rubeanus über die Gattin des Dichters, die Mutian in etwas abgemilderter, doch noch beleidigender Form Eobanus gegenüber referiert hatte. Der als Spötter bekannte Crotus, der etwa zur gleichen Zeit an den Dunkelmännerbriefen arbeitete, hatte behauptet, wenn er drei Blitze zur Verfügung hätte, würde er den ersten gegen Eobans Frau, die „großnäsig und hässlich“ sei, den zweiten gegen den päpstlichen Inquisitor Jakob von Hoogstraten und seine Sekte richten,282 den dritten würde er sich aber für späteren Gebrauch aufsparen.283 Mutian selbst fügte diesen Taktlosigkeiten seine eigenen hinzu: Der Feind ist innen; der häusliche Wegelagerer geht Dir an die Gurgel und Du, wie es Deiner Sorglosigkeit und Treuherzigkeit entspricht, schläfst sorglos auf beiden Ohren und bemerkst nicht den Bluttegel oder besser die Hydra aller Übel … Die Gattin ist dem Dichter ein süßes Übel, eine hässliche Verführung, ein Ungewitter und ein Unglück.

Alle wunderten sich, warum er [Eobanus] so ein großnäsiges, blasses und mageres Ding liebe.284 Eobanus war ob dieser Taktlosigkeiten verständlicherweise verärgert, und Mutian bemühte sich redlich, die Wogen zu glätten.

280 GILLERT Nr. 482 (Mutian an Heinrich Eberbach, 20. März 1515): „Ah, Angeloburgum arx facta daemonum, pro angelica pace successit diabolica criminatio.“ Über die zahlreichen Spötteleien im Mutian-Kreis vgl. Auch GRÄßER-EBERBACH, Eobanus Hessus, S. 59–62, KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, I, S. 140–143. 281 GILLERT Nr. 493, Nr. 494, Nr. 495, Nr. 497, Nr. 498 und Nr. 499 (alle Mutian an Eobanus Hessus) 282 Er spielte damals in der Reuchlin-Affäre die entscheidende Rolle (vgl. Kap. IX). 283 GILLERT Nr. 494 (Mutian an Eobanus Hessus, vor dem 23. Mai 1515): „Si tria fulmina in manu haberem, primum excuterem in uxorem Eobani, nasutam et deformem, secundum in sectam Hochstratinianam, tertium mihi in usum aliquem necessarium reservarem.“ 284 GILLERT Nr. 493 (Mutian an Eobanus Hessus, vor dem 23. Mai 1515): „Intus est hostis, domesticus grassator iugulum impetit et tu, quae tua est securitas et simplicitas, dormis in utramque aurem otiosus neque sentis irudinem vel potius lernam malorum. Dulce malum, deformis illecebra, grando et calamitas poetae uxor. … Mirantur omnes, qua ratione possis tam nasutam, tam lurore et macie confectam amare. Hei, heu, ohe!“ Noch im Jahre 1519 spottete Ulrich von Hutten über Hessus’ Ehe, als er ihm vorwarf, dass er, Hessus, ihn nicht in Mainz besucht habe. Seine Schenkel seien von dem häufigen Geschlechtsverkehr mit seiner Frau wohl so geschwächt gewesen, dass er die 10 bis 12 Meilen zu ihm nicht mehr laufen konnte. BÖCKING, I, S. 302: „Ob assiduo concubitu homini uxorio infirmato sunt crura, ut X aut XII milia ambulare non possis.“

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Über das Eheleben des Eobanus sind wir hauptsächlich durch den Zerrspiegel der Briefe Mutians und seiner Freunde unterrichtet. Nichts in dem umfangreichen Briefwechsel des Hessus deutet darauf hin, dass er je seine Wahl bereut hätte.285 Die 26-jährige Ehe scheint trotz aller finanziellen Nöte glücklich gewesen zu sein. Eobanus und seine Frau hatten sechs Kinder, fünf Jungen und ein Mädchen. Seine finanzielle Lage blieb allerdings während seines ganzen Lebens angespannt, selbst als er ab 1536 als Professor in Marburg ein regelmäßiges Einkommen hatte. Trocken bemerkte sein Freund Camerarius in seiner Narratio de Helio Eobano Hesso: Den Seinen [hinterließ er] fast nichts außer einem hervorragenden Ruf, einen berühmten Namen und der Anerkennung seiner Begabung, seiner Gelehrsamkeit und seiner Tüchtigkeit.286 Die jeden Takt entbehrende Reaktion Mutians und einiger seiner Freunde auf die Heirat ihres Freundes mag zwei Gründe haben: einerseits die Tatsache, den geliebten Freund mit einer anderen, dazu noch weiblichen Person teilen zu müssen, andererseits der Gedanke, dass Hessus durch seine Heirat seine Ungebundenheit eingebüßt habe.287 So spottete Mutian in der Salutatio, also der epistolarischen Grußformel, die üblicherweise Titel und schmeichelhafte Anreden enthielt: An den glücklichen Eobanus Hessus, wenn er keine Gattin hätte.288 Drastisch drückte er es mit einem Bilde aus: Siehst Du nicht, wie die Schildkröte ihr eigenes Haus mit sich herum trägt? Diejenigen, die durch die Scheide verbunden sind, hm, ich wollte sagen verheiratet sind, vermögen das nicht zu tun.289 Dem „Ehejoch“ setzte Mutian das Ideal des selbstbestimmten, unverheirateten, freien Klerikers entgegen: Oh wir glücklichen Kleriker. Was ist süßer als ein freies Bett!290 In der Ehe sah er, so seine gegenüber seinen engsten Freunden geäußerte zynische Meinung, lediglich ein Arrangement, seine sexuellen Bedürfnisse gratis zu befriedigen. Es ist besser umsonst zu kopulieren als eine Hure oder Konkubine zu ernähren.291 285 Vgl. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 144. 286 KÜHLMANN/BURCKARD (Hg.), Narratio de Helio Eobano Hesso., S. 132–133: „Reliquerat autem nihil fere suis nisi famam excellentem, & nomen celebre, & laudem ingenii, doctrinae, virtutis.“ Übersetzung von Burkard. 287 GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514): „Eobanus sua sponte libertatem amisit.“ 288 GILLERT Nr. 499 (Mutian an Eobanus Hessus am 23. Mai 1515): „Eobano Hesso fortunato, si uxorem non haberet.“ 289 GILLERT Nr. 497 (Mutian an Eobanus Hessus, vor dem 23. Mai 1515): „Vidistine testudinem suam secum domum circumferentem: Hoc male cunno iugati, hem, coniugati dicere volui, facere nequeunt.“ Das Wortspiel „cunno iugati – coniugati“ lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben. 290 GILLERT Nr. 481 (Mutian an Urban, 19. März 1515): „O nos felices clericos. Quid enim libero lectulo dulcius?“ 291 GILLERT Nr. 456 (Mutian an Urban, 2. November 1514): „Melius est gratis futuere quam scortum sive concubinam alere.“

HESSUS ALS HAUPT DER ERFURTER HUMANISTEN

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3.9 Hessus als Haupt der Erfurter Humanisten HESSUS ALS HAUPT DER ERFURTER HUMANISTEN

Einem Wortspiel ist es zu verdanken, dass sich der für Schmeicheleien empfängliche Eobanus seit 1514 rex poetarum nannte. Als solchen hatte ihn nämlich der große Hebraist Johannes Reuchlin in Anspielung auf seinen Namen Hessus mit dem griechischen Titel έσσήν (König) bezeichnet.292 Eobanus griff den Titel freudig auf, ernannte seine Frau zur Königin, seine Kinder zu Prinzen und Prinzessinnen und seine humanistischen Gäste zu Herzögen und Fürsten.293 Man tagte in der Engelsburg, dem Königsschloss, ein Gebäude, das die Schwiegereltern wegen finanzieller Schwierigkeiten an den humanistischen Mäzen Dr. Georg Sturz verkauft hatten. Dieser stellte es dem „König“ und seinem Gefolge dann zur Verfügung.294 Nicht die mutianische BEATA TRANQUILLITAS, sondern das eobanische CASTRA ANGLORUM in Erfurt wurde also ab 1514 zum Zentrum humanistischer Geselligkeit und Diskussionen. Von hier aus regierte der gutmütige Hessus seinen poetischen Hofstaat. Die Gründe für diese Verlagerung vom stillen Gotha in die quirlige Universitätsstadt hängen offensichtlich mit den beiden so unterschiedlichen Humanistenfreunden zusammen. Mutian, inzwischen 45 Jahre alt, war stets ein stiller Gelehrter gewesen, der das Ideal der glückseligen Ruhe gepflegt hatte, dabei scheu, zurückgezogen und reserviert war. Eobanus auf der anderen Seite war leutselig, kontaktfreudig, mit seinen 27 Jahren noch jung, ein glänzender Gesellschafter. Es verkehrten in dem Haus u.a. Urban, Justus Jonas, Caspar Schalbe, Justus Menius, Johannes Draconites (Draco), Petreius und Euricius Cordus. „Es scheint, dass diesem Kreise die alte Exklusivität der mutianischen Sodalität gefehlt hat. Eoban war ein Allerweltsfreund und auf Popularität bedacht.“295 Mutian aber blieb weiterhin ein hochgeachteter, väterlicher Freund. Das änderte sich auch nicht, als Hessus, nachdem er zunächst die Erasmus-Begeisterung der Erfurter mitgemacht hatte, sich ab 1520/21 zu einem glühenden Anhänger Luthers entwickelte, während Mutian stets eine skeptische Distanz zu dem Reformator hielt. Bis fast zu Mutians Tode im März 1526 korrespondierten

292 Brief vom 26. Oktober 1514. REUCHLIN, Briefwechsel, 3, Nr. 252. RBW, III, Nr. 252, S. 120: „Inter enim aetatis tuae Christianos poetas ipse rex es, qui scribendis versibus quodam potestatis et ingenii dominis eminentiore plus caeteris metro imperas et syllabas quasque ad regulam regis.“ 293 KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 145. 294 Bezeichnend ist auch, dass Crotus Rubeanus in seiner Rektoratstafel das Wappen des Hessus, den Schwan, mit einer Krone versah (siehe unten). 295 KRAPP, Der Erfurter Humanistenkreis, S. 91. Lebensdaten von Justus Menius: 1499– 1558; Johannes Draco: 1484–1566; Caspar Schalbe: starb nach 1526.

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die beiden Freunde.296 Und als der alte Mentor starb, war es Hessus, der in einem bewegenden Epicedion, einer Totenklage, seinem Mentor und Freund ein Denkmal setzte und noch einmal die goldenen Jahre des mutianischen Freundeskreises beschwor.297

4.

Herebord von der Marthen – der unbequeme Freund

HEREBORD VON DER MARTHEN

Anders als Eobanus Hessus, Georg Spalatin und Urbanus, die aus einfachen Verhältnissen kamen, stammte Herebord von der Marthen (um 1480–1529) aus einer angesehenen Erfurter Patrizierfamilie. Der Vater, Gerlach von der Marthen, war bis zum Jahre 1504 Mainzer Vizedominus in Erfurt, und auch die Brüder Martin und Gerlach waren politisch tätig. 1496 immatrikulierte sich Herebord an der Erfurter Universität, 1500 erwarb er den Baccalaureus artium und vier Jahre später, 1504, den Magister in der Philosophischen Fakultät.298 Als im Jahre 1505 in Erfurt die Pest wütete und zahlreiche Studenten und Professoren aus der Stadt flohen, begaben sich Herebord von der Marthen und sein Freund Peter Eberbach nach Straßburg, wo sie mit dem gebürtigen Thomas Wolf, einem ehemaligen Erfurter Studenten, und Jakob Wimpfeling Freundschaft schlossen. Im Gegensatz zu den meisten Freunden des mutianischen Kreises, die sich mit einem akademischen Abschluss in der Artistischen Fakultät begnügten, setzte von der Marthen seine Studien nach seiner Rückkehr nach Erfurt in der Juristischen Fakultät fort und erwarb 1507/08 zunächst den Bacularius in utroque iure, also im kanonischen und römischen Recht, und dann 1512 das Lizentiat und den Doktor beider Rechte.299Ab 1512 wirkte er als Juraprofessor, 1515/16 bekleidete er das Amt des Rektors der Universität und ab 1514 war er Großsyndikus der Stadt Erfurt. Als solcher nahm er unter anderem an Gesandtschaften nach Mainz, Braunschweig und Augsburg teil.

296 GILLERT Nr. 608 (Eobanus Hessus an Mutian, 8. August 1521); Nr. 619 (Mutian an Eobanus Hessus, nach dem 2. November 1523); Nr. 624 (Mutian an Eobanus Hessus, 8. April 1525); Nr. 628 (Mutian an Eobanus Hessus, 12. September 1525); Nr. 627 (Eobanus Hessus an Mutian, 1. August 1525). 297 GILLERT Nr. 637 (Mai 1526). Vgl. hierzu Kap. XIII.2.1. 298 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 265. 299 Die feierliche Doktorpromotion Herebords fand am 8. November 1512 statt. Vgl. GILLERT Nr. 223 (Mutian an Urban, kurz nach dem 22. Oktober 1512). Tabellarischer Lebenslauf bei KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 329.

ZWISCHEN BEWUNDERUNG UND ÄRGER

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4.1 Zwischen Bewunderung und Ärger – Mutians Verhältnis zu von der Marthen ZWISCHEN BEWUNDERUNG UND ÄRGER

Von allen Freunden des mutianischen Kreises war von der Marthen vielleicht der problematischste.300 Einerseits war er intelligent und hochgebildet, andererseits galt er als arrogant, geldgierig, schreibfaul, undankbar, „beratungsresistent“301 und sexbesessen. So erscheint er jedenfalls in den Briefen Mutians. Weder war er so anhänglich und loyal gegenüber dem Gothaer Kanoniker wie Spalatin und Eobanus Hessus noch so uneigennützig hilfreich wie Urbanus. Anders als diese drei Freunde blieb er stets auf Distanz – zur großen Enttäuschung Mutians. Lag es daran, dass von der Marthen bereits 26 Jahre war, als er Mutian kennen lernte und deshalb bereits in seiner geistigen Entwicklung geformt war, oder war der Grund, dass er aus einer alten, selbstbewussten Familie stammte? Trotzdem muss Mutian von diesem schwierigen jungen Mann gefesselt gewesen sein. Anders kann man sich nicht seine häufigen Briefe erklären, die er immer wieder – trotz ausbleibender Rückantwort – an den jüngeren Freund richtete. Vielleicht faszinierte auch Mutian von der Marthens Kombination von solider juristischer Ausbildung und humanistischen Interessen, denn zeitlebens wohnten in dem Erfurter Patrizierspross „zwei Seelen, ach, in seiner Brust“,302 eben das Interesse für das Recht und die Begeisterung für die studia humanitatis, und beide schätzte Mutian, selbst promovierter Jurist und leidenschaftlicher Verehrer der antiken Kultur. Einen seltenen Freund der Literatur303 nannte Mutian ihn bereits 1506, als er ihn, vermutlich durch Vermittlung Spalatins, kennen gelernt hatte,304 hochgebildet, jemand, der die feine Literatur und alle Literaten schätzt,305 als

300 Über sein Verhältnis zu Mutian geben einerseits die über sechzig Briefe Aufschluss, die Mutian zwischen 1506 und 1514 an ihn schrieb (siehe Index bei GILLERT), andererseits zahlreiche Briefe Mutians an andere Freunde, besonders an Urban, in denen er sich über von der Marthen äußerte. Briefe Herebords von der Marthen an Mutian sind nicht erhalten. Wir haben es also wieder mit einer asymmetrisch erhaltenen Korrespondenz zu tun. 301 GILLERT Nr. 192 (Mutian an Urban, Ende August 1512): „Non credit Mutiano, non Urbano, quibus aetas et pericula prudentiam maiorem conciliant.“ 302 GILLERT, Mutians Briefwechsel, S. XLII. 303 GILLERT Nr. 45 (Mutian an Eobanus Hessus, 1. Oktober 1506): „amicus rarus literatorum.“ 304 Vgl. ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, S. 195. Jedenfalls findet sein Name erstmalig Erwähnung in einem Brief Spalatins an Mutian vom 18. September 1506 (GILLERT Nr. 641). 305 GILLERT Nr. 80 (Mutian an Eobanus Hessus, 27. August 1506): „Est enim eruditissimus, humanissimus, politioris literaturae et literatorum omnium amantissimus.“

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jemanden, der in der Antike bewandert ist und das Altertum außerordentlich liebt.306 Mutians ausführliche, zahlreiche literarische Anspielungen enthaltende Briefe an ihn setzten bei dem Empfänger große Belesenheit voraus. Und diesen Liebhaber der Antike suchte er gleich mit einem seiner ersten erhaltenen Briefe gegen die an der Universität herrschenden scholastischen Professoren zu mobilisieren.307 Sie seien streitsüchtig, reizbar und durch Geld korrumpierbar (contentiosi, genus irritabile et arrogans, exorabile pecunia). In ihren Disputationen seien sie betrügerisch, unverständlich und aalglatt (captiosi et incomprehensibiles ac lubrici velut anguillae). Er kenne einige Professoren, die so weitschweifig seien, dass sie erst mit dem Tode ihr Plappern einstellen (qui non videbantur blaterandi finem ante obitum facturi). Außerdem gebe es Kollegen, die ihre ungeschliffenen und barbarischen Bücher, in denen man sich um des Kaisers Bart streite, den gelehrtesten und gebildetsten Autoren vorzögen.308 Heutzutage gebe es togabekleidete Geier, verrückte, ja tollwütige Menschen, in den richtigen lateinischen Studien noch Kinder, um nicht zu sagen törichte Narren, die aus Dummheit oder Unkenntnis die Dichter, Redner, Historiker, Juristen und alten Theologen verdammten und sich und ihr Programm lobten, während sie die Humanisten und deren Anliegen verrissen.309 Die Zeit der Koexistenz von Scholastik und Humanismus war zu Ende. „Nunmehr geht der Humanismus zum Generalangriff über.“310 Und angeführt wurde der Angriff von dem Mutian-Kreis, in dem der zurückhaltende Mutian Herebord eine wichtige Rolle zugedacht hatte. Ihm, dem selbstbewussten Spross einer angesehenen Erfurter Familie, traute er eine Schlüsselrolle in dem Kampf gegen die „Barbaren“ zu. Einzeln seien sie deren Verschwörung nicht gewachsen, zusammen würden sie aber tapfer und mit erhobenen Fahnen kämpfen.311 306 GILLERT Nr. 307 (Mutian an Herebord von der Marthen, 29. August 1513): „peritus antiquitatis“; GILLERT Nr. 145 (Mutian an Herebord von der Marthen, nicht lange nach dem 19. August 1509): „amantissimus vetustatis.“ 307 GILLERT Nr. 47 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende September oder Anfang Oktober 1506). Alle folgenden Zitate aus diesem Brief. 308 GILLERT Nr. 47: „… fuere nonulli, qui suos incultos et barbaros libellos …, in quibus fere de lana caprina concertatio continetur, doctissimis et disertissimis autoribus multa temeritate et audacia praeferrent.“ 309 GILLERT Nr. 47: „Vivunt et hac tempestate togati vulturii, homines vecordes et cerebrosi et in latinis studiis rectissimis quidem illis atque honestissimis prorsus infantes, ne dicam insipientes et stulti, qui poetas, oratores, historicos, iuris consultos et theologos veteres ob perversitatem mentis et ignorantiam damnant, se et sua laudant, nos et nostra carpunt.“ 310 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 179. 311 Besonders wichtig: GILLERT Nr. 62 (Mutian an Herebord von der Marthen, 18. März 1506–1508, S. 83): „… me primum pilum inter auxiliarios, secundum latinas legiones ducente magnus eris assertor et idoneus vindex contra barbaros, quorum conspirationi

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Zunächst musste sich aber von der Marthen auf einem bescheideneren Schlachtfeld bewähren. Um die Bresche, die er für das humanistische Projekt in Georgenthal durch die Ernennung Spalatins zum Novizenlehrer geschlagen hatte, zu erweitern, sorgte Mutian dafür, dass von der Marthen im Jahre 1508 Spalatins Nachfolger in dem Kloster wurde,312 und das, obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre Jura studiert hatte und eigentlich für diese Aufgabe überqualifiziert war. Erstaunlich dabei ist nicht, dass er nur drei Jahre blieb (bis 1511), sondern dass er überhaupt dorthin ging – offenbar auch gegen den Willen seines Vaters Gerlach, der wie viele die Poeten, also die Humanisten, als brotlose Künstler verachtete. Von der Marthen und übrigens auch Mutian haben denn auch die Georgenthaler Tätigkeit als eine vorübergehende betrachtet.313 Obwohl Mutian selbst Doktor beider Rechte war, betrachtete er die Studienwahl Herebords skeptisch. Er, Herebord, tue nur seinem Vater einen Gefallen, obwohl er seiner Begabung nach ein fremdes Studium betreibe, denn um Jurist zu werden, brauche man weder Intelligenz noch rhetorische Eleganz und Bildung.314 Als Herebord dann aber die Entscheidung gefällt hatte und sich von den lateinischen Gipfeln [d.h. den humanistischen Studien] in die cimmerische Dunkelheit [die Juristerei] begeben hatte,315 überhäufte Mutian ihn mit Ratschlägen. Wie er fast gleichzeitig Eobanus zu einem guten Poeten zu formen und aus dem schlichten Zisterziensermönch Urban durch ausführliche Literaturhinweise und Schreibaufgaben zu einem Humanisten zu machen suchte, so bemühte er sich, aus Herebord einen guten Juristen zu formen. Noch während seiner Georgenthaler Lehrtätigkeit gab er ihm nicht nur Tipps für einen lebendigen Unterricht,316 sondern auch konkrete Hinweise auf geeignete Lektüre, korrigierte

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singuli sumus impares, coniuncti vero stabimus in acie viriliter et sublatis signis proeliabimur.“ GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende November 1508, S. 156): „Scribis te, quod est in valle Georgiana, Cisterciense coenobium ex urbe Erphurdia meis auspiciis et ductu sancti Silvani [der Abt von Georgenthal] demigrasse praefectumque, cui praefuit Spalatinus, museo professorum nemini secundus.“ Die Georgenthaler Zeit wird immer wieder zum Thema in den Briefen Mutians an von der Marthen: GILLERT Nr. 113, 114, 115, 116, 121, 123, 127, 131, 133, 134, 135, 137, 138, 140. GILLERT Nr. 67 (Mutian an Spalatin, vor dem 2. Mai 1508): „Feliciter proficiat, quando patri et suis hac in re gratificatur, etsi rem faciat a suo genio alienam. Non enim est ingenii, elegantiae, eruditionis ista scire.“ GILLERT Nr. 67: „Iuvenis humanus et eruditus et optimae indolis ex latina specula descendet in tenebras Cymmerias.“ (Die Cimmerii waren ein mythisches Volk im äußersten Westen am Ozean, eingehüllt in Finsternis und Nebel.) GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen, Ende November 1508, S. 157): „Fac igitur, ut in antro sacrarioque Vallensi nihil agas aut dicas nisi sanctum et

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sorgfältig seine Aufgaben und schlug ihm vor, sich juristische Kompendien anzulegen. Ein Jurist benötige zudem nicht die lateinische Sprache in demselben Maße wie ein Poet, beruhigte er ihn, bei ihm komme es auf calliditas, also auf Schlauheit und geistige Gewandtheit, auf temeritas, also eine gewisse Dreistigkeit und die Beherrschung der Muttersprache an, merkte er mit der ihm eigenen Ironie an. Um von der Marthen zu schmeicheln, verkleinerte er sogar das Verdienst der Poeten: Unsere Verslein, unsere Ansichten, unsere rhetorischen Einschiebsel – was sind das anderes als luftige Blümchen, die im gleichen Augenblick blühen und verdorren?317 Das Verhältnis der beiden so unterschiedlichen Freunde beruhte auch wie im Falle Urbans auf einem gegenseitigen Geben und Nehmen. Während Mutian als erfahrener Mentor gewissenhaft Erklärungen juristischer Begriffe und seltener lateinischer Ausdrücke anbot,318 spannte er den weltläufigen und betuchten Herebord häufig zum Büchererwerb bzw. zur Bücherbeschaffung ein. So meldete Mutian bereits am Anfang ihrer Freundschaft dem Herebord, dass er beim Empfang einer umfangreichen Büchersendung Freudentränen geweint habe.319 Auch bei anderen Gelegenheiten lobte Mutian gegenüber Dritten die große Gefälligkeit, die ihm der patrizische Freund beim Kauf oder bei dem Ausleihen von Bänden erwiesen habe.320 Tatsächlich muss Herebord eine gute Nase und die nötigen Mittel beim Aufspüren interessanter Bücher gehabt haben.321 Umso größer war die Enttäuschung, als der Bücherfresser (bibliophagus) von der Marthen sich in späteren Jahren in dieser Beziehung als unkooperativ erwies.322

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quod in decus et gloriam cedat. … Ad normam velim excerpas, non confuse. Sic memoriam facies tenatiorem. Nam annotationes rectae demensaeque tenacius haerent. Principium publicae lectionis semper et cottidie habeat proverbium aliquod vel brevem narratiunculam velut illicium.“ GILLERT Nr. 145 (Mutian an Herebord von der Marthen, nicht lange vor dem 19. August 1509, S. 209): „Nostri versus, nostrae sententiae, nostra emblemata, quid aliud sunt quam flosculi diales, qui eodem momento florent et arent.“ GILLERT Nr. 145 (Mutian an Herebord von der Marthen, nicht lange nach dem 19. August 1509) GILLERT Nr. 62 Mutian an Herebord von der Marthen, 18. März 1506–1508, S. 82): „Accepti [libri] sunt sermone et grato et erudito et animo ita laeto, ut continere me nequiverim, quin prae gaudio lacrymas effunderem.“ KRAUSE Nr. 592 datiert den Brief nach dem 15. Februar 1512, versieht aber diese Datierung mit einem Fragezeichen. GILLERT Nr. 71 (Mutian an Urban, kurz vor dem 4. Juli 1508); GILLERT Nr. 101 (Mutian an Spalatin, 1506–1508). GILLERT Nr. 134 (Mutian an Herebord von der Marthen, 14. Juni 1509): „In expiscandis probis bibliopoliis semper hamus tibi pendeat. Quo minime gurgite credis, piscis erit.“ GILLERT Nr. 185 (Mutian an Urban, 25. Juni 1510–1512). Weitere Hinweise auf Bücherangelegenheiten in GILLERT Nr. 77, 105, 221.

THEMEN: BEATA TRANQUILLITAS, RELIGION UND SEX

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Unverzichtbar in einer Sodalität, selbst einer so lockeren wie der mutianischen, war, dass man sich gegenseitig half. Als ein Mann mit wenigen materiellen Bedürfnissen – außer Büchern – bat Mutian äußerst selten seine Schüler/Freunde um Hilfe – mit der Ausnahme des äußerst praktisch veranlagten Urbanus. Umso mehr setzte er sich für andere ein, und da Herebord von der Marthen ab 1512 als Juraprofessor und ab 1514 als Syndikus in Erfurt erheblichen Einfluss genoss, wandte sich Mutian gelegentlich an ihn mit der Bitte, anderen Freunden des Kreises zu helfen. Besonders den hochbegabten, aber ständig unter Geldsorgen leidenden Eobanus Hessus empfahl er der besonderen Fürsorge Herebords. So sollte er sich zum Beispiel um die Publikation von dessen Werken kümmern, wobei er eine Arbeitsteilung vorschlug: Hessus verfasste die Gedichte, Mutian übernahm deren Anordnung, und von der Marthen kümmerte sich um die eigentliche Publikation.323 Auch für Hessus’ Dichterkrönung sollte er sich einsetzen, wie wir sahen.324 Später, nachdem von der Marthen Juraprofessor und zeitweise auch Rektor der Universität geworden war, drängte Mutian ihn, wie wir sahen, Hessus eine bezahlte Stellung an der Universität zu besorgen.325

4.2 Themen: Beata tranquillitas, Religion und Sex THEMEN: BEATA TRANQUILLITAS, RELIGION UND SEX

Wie sehr Mutian Herebord vertraute und als intelligenten Partner schätzte, zeigen seine Briefe – denn von einem Briefwechsel kann angesichts der nur einseitig erhaltenen Korrespondenz nicht gesprochen werden. Gerade die Schreiben aus den ersten Jahren ihrer Bekanntschaft gehören zu den umfangreichsten, gehaltvollsten und wohldurchdachtesten, die Mutian verfasste. Nirgends – außer in den Briefen an Urbanus – äußerte er sich so freimütig über seine Abneigung gegenüber der Scholastik, skizzierte so eindrucksvoll seine Lebensphilosophie und äußerte sich so freimütig über Religion und Sex. Mit niemandem, außer mit Urban, erörterte Mutian auch so freimütig religiöse Themen. Ich murmele mit den Murmelnden, damit sie mich nicht der Gottlosigkeit beschuldigen, bekannte er ihm gegenüber, um fortzufahren: Jeder ist für sich ein Gott. Wer nicht hier fleißig Gebete spricht, dem ergeht es hier schlecht.326 Als Kanoniker müsse 323 GILLERT Nr. 46 (Mutian an Herebord von der Marthen, spätestens 1. Oktober 1506). Ebenso in GILLERT Nr. 72 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1508). 324 GILLERT Nr. 72 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1508). 325 GILLERT Nr. 541 (Mutian an Urban, 18. September): „Scimus quanta sit authoritas Herebordi.“ 326 GILLERT Nr. 135 (Mutian an Herebord von der Marthen, 16. Juni 1509): „Musso cum mussantibus, ne me arguant impietatis. Sibi quisque profecto est deus. Ignavis precibus fortuna repugnat.“

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er sich verstellen (dissimulare), und sein frommes Gemurmel dem großen Gott anbieten, während von der Marthen es sich leisten könne, über diese Dinge zu spötteln.327 Wie sehr die beiden sich in dieser Beziehung verstanden, zeigt auch ein Brief Mutians an Herebord aus dem Jahre 1509. Mit gespielter Entrüstung beschwerte sich Mutian über Crotus Rubeanus, der in einem Gedicht Jupiter und Christus gleichgesetzt habe. Was zunächst als echte Empörung über die unzulässige Vermischung von heidnischer und christlicher Terminologie aussieht, wird im Folgenden von Mutian auf ironische Art dekonstruiert. Es bestünden doch große Unterschiede zwischen beiden Gottheiten. So habe Jupiter Mädchen und Lustknaben in seinem Reich empfangen, während Christus Epheben kastrieren lasse und sich an Eunuchen und keuschen Vestalinnen (Nonnen) erfreue.328 Gelegentlich musste er dabei auch den wenig kirchenfrommen von der Marthen zu mehr Toleranz gegenüber den Strenggläubigen auffordern: Wenn Dich auch die Dinge auf dieser Erde erfreuen, so sollst Du doch wenigstens den anderen erlauben, zum Himmel zu blicken und sich auf die frommen Fabeln zu verlassen.329 Eher peinlich berühren uns Mutians gegenüber Herebord geäußerte sexuelle und skatologische Auslassungen. So teilte er ihm im Jahre 1509 einige Obszönitäten in Bebel’scher Facetien-Tradition mit, allerdings mit dem Hinweis auf die Zollfreiheit der Gedanken und mit der ausdrücklichen Bitte, den Brief nach der Lektüre zu zerreißen.330 Ein Jahr später erörterte er in einem gemeinsamen Brief an Urban und Herebord die Masturbationsgewohnheiten des griechischen Philosophen Diogenes, des Vorbilds der Mönche.331 Schließlich philosophierte er in dieser Zeit mit Herebord über die Frage, wie jeweils die athenischen und christlichen Priester mit ihrer Libido fertig geworden seien: Die Priester in Athen versuchten sich nach dem Zeugnis des Hieronymus mit Schierlingssaft zu kastrieren, bei den Christen unserer Zeit scheine die vierzigtägige Fastenzeit mit dem 327 GILLERT Nr. 135: „Itaque quae tu risu exploderes utpote ridicula, ego silentio dissimulanda duco et offero pia murmura tranquillo pectore Deo magno.“ 328 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1509): „Jupiter puellas at catamitos in album celeste recepit, Christus castrat ephebos et gaudet eunuchis et vestalibus puellis.“ 329 GILLERT Nr 175 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509–1510): „Si enim te tantopere delectat ipsa terra, permitttas aliis caelum suspicere et piis fabulis niti.“ 330 GILLERT Nr. 143 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1509): „Concerpe quaeso tantas obscenitates“ und „Gedancken sein zolfrei.“ „Außklibium est malum condimentum. Vulgo dicunt: Schabent das hembde und machet sempf. Iterum dico: concerpe.“ 331 GILLERT Nr. 169 (Mutian an Urban und Herebord von der Marthen, kurz nach dem 28. Juni 1510): „Apud aras religiosissimas Diogenes, futurum monachis exemplar, manu pennem tractavit ratus nefarium esse flagitium vel imbubinare vel imbulbitare prurientem carunculam.“

ÄRGER MIT VON DER MARTHEN

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Ziel eingeführt worden zu sein, dass Priester keusch Gott gegenüberträten.332 Herebords zahlreiche sexuelle Abenteuer verurteilte Mutian nicht aus grundsätzlichen moralischen Gründen, sondern weil sie seinen politischen Karriereplänen im Wege stünden. Politik und Liebe folgten eben unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Habe er erst einmal eine Stellung erreicht, möge er so viele intime Beziehungen haben wie er wolle, riet er seinem jungen Freund,333 dem er auch den für einen Priester höchst ungewöhnlichen Rat gab, nur außerhalb der Ehe Geschlechtsverkehr zu haben.334

4.3 „Vadat cacatum!“ – Ärger mit von der Marthen ÄRGER MIT VON DER MARTHEN

Zu den großen Enttäuschungen Mutians zählte, dass sich der junge Patrizier, je mehr er sich in der Kommunal- und Universitätspolitik engagierte, desto mehr dem älteren Freunde entzog. Immer wiederkehrendes Thema, das sich dann seit 1509 wie ein roter Faden durch die Briefe Mutians zieht, ist deshalb Herebords Vernachlässigung der Korrespondenz, eine Todsünde, denn der Briefwechsel spielte im Freundschaftskult der humanistischen res publica literaria bekanntlich eine zentrale Rolle.335

332 GILLERT Nr. 177 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509/10): „Hierophantae Atheniensium, quo castius sacris divinisque rebus operarentur, consueverunt sorbitione cicutae se ipsos castrare teste Hieronymo. … In Christianis sacris aetate nostra turpiorem libidinem pruritumque membrorum quadragesimalis haec ceremonia domat atque ob eam rem instituta videtur, ut caste deos salutemus.“ 333 GILLERT Nr. 191 (Mutian an Urban, Ende August 1512): „Mihi consultum videtur, ut rem maxime diversam non copulet: ambire et futuere. Aliam leges, aliam Venus telam texunt. Adeptis honoribus tum futuat et amet et genio suo indulgeat.“ 334 GILLERT Nr. 325 (Mutian an Herebord von der Marthen, 15. Oktober 1513): „Cave futuas in matrimonio. Contentus sis futatione extraordinaria.“ Der katholische Historiker JANSSEN (Zustände des deutschen Volkes, S. 5) benutzte diesen Brief, um Mutian die „wenig sittlichen Beweggründe“ im Reuchlin-Streit vorzuwerfen. Vgl. zu diesem Thema auch Fidel RÄDLE (Mutians Briefwechsel), der von einem „zum Teil schockierenden Macho-Gehabe dieses Männerbundes und seine, auch Mutians, penetrante Vorliebe für Obszönitäten“ spricht. (S. 125 f.) Vgl. auch KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 49: „Im vertraulichen Umgange gestattete er sich zuweilen derbe und für unser Ohr nicht immer erträgliche Scherze.“ Die Behandlung der Sexualität in dem Briefwechsel verdient eine eigene Abhandlung. 335 GILLERT Nr. 123 (Mutian an Herebord von der Marthen, nicht lange vor Juni 1509): „Sunt enim amicorum iucundi sermones moerenti solatio et anxietatem elevant.“ Von Marthens Schreibfaulheit wird thematisiert in: GILLERT Nr. 127, Nr. 141, Nr. 146, Nr. 172 (alle von Mutian an Herebord von der Marthen); Nr. 173, Nr. 191, Nr. 250 (an Urban). Vgl. TREML, Humanistische Gemeinschaftsbildung, S. 77.

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Die ausführlichen Briefe Mutians beantwortete Herebord offenbar zunächst mit kurzen Antworten, sodass Mutian ihn fragte, ob sein [Mutians] Redefluss (profluentia) ihn eher beleidige als erfreue. Er selbst wolle nur kurze Briefe schreiben, damit er ihn nicht in seinen Arbeiten störe, merkte er ironisch an.336 Die Reaktion Mutians auf Herebords hartnäckiges Schweigen schwankte zwischen Ironie, Wut, Schmähung, Frustration, Verzweiflung und Vergebung. In der ersten Jugendfrische sei Herebord ausgelöscht worden. Er sei schlaff, untätig, schlafe, „schnarche“ und schreibe nichts,337 versuchte er ihn aufzurütteln. Einerseits ermunterte er ihn mit den Worten: Reiß Dich bitte zusammen und kehr auf den Weg zurück und umarme Mutian liebevoll, der dich wie ein Vater liebt.338 Aber alle diese Ermahnungen nützten nichts; resigniert stellte er 1515 fest: Er hüllt sich in Schweigen, lässt keinen Ton verlauten, ist stumm. Trotzdem brennt die Liebe für ihn in mir. Darin schwanke ich nicht.339 Wenn er einmal schreibe, so ein weiterer Vorwurf Mutians, so handele es sich um reine Routine, während er doch von einem humanistisch Gebildeten etwas Exquisiteres erwarte: Nicht einfache Gaben wie sie vom fruchtbaren Land kommen, sondern mit echter Rafinesse zubereitete Speisen, d.h. einer Sauce, die Du aus den Früchten Deiner kontinuierlichen Lektüre abgestimmt hast;340 denn für ihn, Mutian, brächten Briefe nicht nur eine Freude, sondern seien auch eine Art, seinen Verstand zu schärfen. Wie die Bauern die Stöcke hobelten und dann zuspitzten, mit denen die Weinstöcke gehalten werden, so müsse der Geist, der zu erschlaffen drohe, immer wieder durch Briefe angespitzt und geschärft werden.341 Aber Mutian bekam weder schlichte landwirtschaftliche Produkte noch raffiniert zubereitete Speisen von seinem schwierigen Freund. Während er Herebord noch mit Schmeichelei und Ironie zum Schreiben motivieren wollte, machte er gegenüber Urban aus seiner Frustration mit dem 336 GILLERT Nr. 120 (Mutian an Herebord von der Marthen, Winter 1508/09): „ Ad te celeriter et exigue scribo, quod vigiliis et laboribus tuis parcam. … Quantum enim sentio, non tam delectat te quam offendit inanis scribendi profluentia.“ 337 GILLERT Nr. 141(Mutian an Herebord von der Marthen, 29. Juni 1509): „In primo flore extinctus est Herebordus. Marcet, languet, dormit, stertit, non scribit.“ 338 GILLERT Nr. 141: „Excita te ipsum, quaeso, et redi in viam et Mutianum amanter amplectere, qui tuo honori favet ut parens.“ 339 GILLERT Nr. 511 (Mutian an Urban, 26. Juni 1515): „Tacet, silet, totus est mutus, me tamen urit amor. Ea sum stabilitate.“ 340 GILLERT Nr. 143 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1509): „Expecto a te non fecundi ruris munera qualia dedisti, sed edulia legitima conditione condita, hoc est intinctum ex continuis lectionibus tuis concinnatum.“ 341 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1509): „Aspice, ut rustici palos dolent, dolatos acuant, quibus vites sustentantur. Sic flaccescens ingenium putandum est et dedolandum acuendumque, ut cultura anni pro impensa ac labore fructum reddat.“

ÄRGER MIT VON DER MARTHEN

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schreibfaulen Freund keine Mördergrube. Schon als er noch in Georgenthal unterrichtete, konnte Herebord kaum durch zwanzig Briefe aufgeweckt werden, klagte er.342 Sein Ehrgeiz und seine sexuelle Gier stürzten ihn ins Verderben. Er liebe sich selbst zu sehr, höre weder auf ihn noch auf Urban, die durch ihr Alter größere Lebenserfahrung erworben hätten. Vadat cacatum. Er soll sich verpissen.343 Trotzdem brach der Kontakt mit dem spröden Herebord nicht ab. Er war ein schwieriger Freund, aber er war ein Freund. Von der Marthen sei zwar arrogant, aber er gehöre zu ihnen. Eine einmal geschlossene Freundschaft dürfe nicht durch das schlechte Verhalten eines Einzelnen gebrochen werden.344 Ich weiß wol, das er nit vil nach mir fraget, doch kann ich das nit umbgaen. Ich muß im auß liebe vnd freuntschafft etwas der warheit ansagen zu guter warnung, schrieb er ausnahmsweise auf Deutsch an Urban.345 Offenbar auf dessen Bitte schickte Mutian dem Patrizier im Jahre 1513 Sinnsprüche für ein Familienwappen.346 Das Motiv für diesen Freundschaftsdienst vertraute er am gleichen Tag Urban an: Er habe die Sprüche mit einer bestimmten didaktischen Absicht ausgewählt, er wolle ihm damit sozusagen eine Lektion erteilen.347 Mit einer Engelsgeduld versuchte Mutian immer wieder einzulenken, brachte Entschuldigungen vor. Ich tadle seinen Hochmut und seine ohne Zweifel schädliche Arroganz, aber ich würde ihn nicht mit Worten so scharf angreifen, wenn ich ihn nicht so gern hätte und er so einen gepflegten Stil hätte, bekannte er gegenüber Urban im Jahre 1513.348 Bei den Humanisten konnte ein gepflegter Stil manche Charakterschwäche ausgleichen. Die Briefe Mutians endeten im September 1514,349 als Mutian Herebord zur Ernennung zum Syndikus gratulierte. Das Schreiben klingt in seiner abgehobenen, für Mutian untypischen Sprache leicht ironisch: Erhebe dich, allmächtiger Vater, ewiger Gott und begünstige das neue Glück der Familie von Marthen, da durch Deinen

342 GILLERT Nr. 191 (Mutian an Urban, Ende August 1512): „Olim in Vallibus adeo siluit, ut vix vicenis literis potuerit excitari.“ 343 GILLERT Nr. 191. 344 GILLERT Nr. 425 (Mutian an Urban, August 1514): „Admonui superbientem Herebordum, tamen nostrum. Mores enim non disturbant amicitiam semel firmatam.“ 345 GILLERT Nr. 455 (Mutian an Urban, 1. November 1514). 346 GILLERT Nr. 307 (Mutian an Herebord von der Marthen, 29. August 1513). 347 GILLERT Nr. 308 (Mutian an Urban, 29. August 1513): „Ego castigavi, ut soleo insolentem amicum, sed do altera manu lapidem, altera panem. Videbis mirabilia. Petiit unicum titulum, dedi sex et amplius. Ita sum liberalis cum aceto quodam acerrimo.“ 348 GILLERT Nr. 312 (Mutian an Urban, Ende August 1513): „Herebordi fastum et nocituram procul dubio iactantiam castigamus. Non autem incurrerem in eum verborum libertate, si non carissimus et politioris dictionis studiosus esset.“ 349 Von der Marthen taucht aber noch bis 1516 gelegentlich in der Korrespondenz der Freunde auf.

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Willen ewige Ehren nicht nur gegeben, sondern auch bewahrt werden.350 Bei dem ständigen Lavieren Erfurts zwischen Kurmainz und Kursachsen war die Position eines Großsyndikus nicht ungefährlich; sie sollte ihm denn auch zum Verhängnis werden. Als er nämlich mit einer Delegation vom Augsburger Reichstag zurückkehrte, wurde er am 16. Juni 1516 verhaftet. Auf Bitten der Universität durfte er zwar nach Hause, musste sich aber eidlich verpflichten, die Stadt nicht zu verlassen. Er brach diesen Eid und floh nach Mainz, wo er zunächst für den Erzbischof wirkte. In späteren Jahren bekleidete er das Amt eines Rates für Kaiser Maximilian und dessen Nachfolger Karl V. In Erfurt wurde von der Marthen, dem Mutian zehn Jahre vorher eine hervorragende Führungsrolle im Kampf gegen die Scholastik zugewiesen hatte, weder von Mutian noch von seinen Freunden je wieder erwähnt.

5.

Peter Eberbach (Petreius) – der heitere Spötter

PETER EBERACH (PETREIUS)

Ich habe schallend gelacht, als mir [mein Diener] Benedikt von den Vorwürfen Deiner Mutter erzählte, dass Du so selten in die Kirche gehst und die Fastenvorschriften nicht einhältst, indem Du gegen alle Konventionen immer Eier isst. Dies meldete Mutian seinem Freund Peter Eberbach, um mit der ihm eigenen Ironie ein apokalyptische Horrorszenario einstürzender Kirchen und Türme, die durch das häufige Glockengeläut geschwächt werden, und anderer Gebäude ob dieses frevelhaften Verhaltens an die Wand zu malen.351 Es ist der witzige, ironische Umgangston der beiden Freunde, der die Lektüre der bedauerlicherweise nur wenigen erhaltenen Briefe zu einem solchen Vergnügen macht. Das geistreiche Witzeln ging so weit, dass Mutian einmal, als es um eine ernste Angelegenheit ging, dies mit einem extra iocum ankündigen musste.352 Peter Eberbach, oder Petreius,353 wie er sich als Humanist nannte, war neben Urban, Hessus, Spalatin und Herebord von der Marthen einer der Lieblingsschüler Mutians. Dieser schätzte nicht nur dessen profunde Kenntnisse der 350 GILLERT Nr. 432 (Mutian an Herebord von der Marthen, 17. September 1514): „Exsurge, Domine, pater omnipotens, aeterne Deus, et novae felicitati familiae Margaritanae propitius aspira, quandoquidem tui numinis nutu non solum dantur, sed etiam conservantur honores perpetui.“ 351 GILLERT Nr. 163 (Mutian an Petreius, 1509): „Risi mirabiliter, quando Benedictus retulit querelas matris te quasi obiurgantis, quod raro sacra frequentes, nolis ieiunare, ova comesse soleas contra ritum opinionis publicae. … Templa collabuntur, spectacula ruunt, aera crebro mota turres quatiunt, multa casum minantur.“ 352 GILLERT Nr. 236 (Mutian an Petreius, 1512). 353 Ich werde beide Namen in dieser Publikation verwenden.

PETER EBERACH (PETREIUS)

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lateinischen, griechischen und sogar hebräischen Sprache,354 sondern vor allem eben dessen spöttischen Witz: Es ist keine lärmende Heiterkeit, keine übertriebene Bissigkeit, sondern eben sein lateinischer, literarisch-geistiger, lockerer Ton.355 Eberbach wurde 1480 in Rothenburg ob der Tauber geboren.356 Noch als Junge muss er nach Erfurt umgesiedelt sein, denn sein Vater, Georg Eberbach, lehrte seit 1489 Medizin an der Erfurter Universität. Peter hatte noch zwei Geschwister, einen Bruder Heinrich, der wie sein Vater Medizinprofessor in Erfurt wurde, und eine Schwester Christine, die später den Bruder Herebords von der Marthen, Gerlach, heiratete. Die beiden Eberbach-Brüder wurden 1497/98 in Erfurt immatrikuliert, im Frühjahr 1502 wurde Peter der Grad eines Baccalaureus und 1508 der des Magister artium verliehen.357 Wie Johannes Lange, Crotus Rubeanus, Herebord von der Marthen und Georg Spalatin schloss er sich, während Mutian in Italien studierte, dem Kreis um Nikolaus Marschalk an, der ihnen nicht nur Grundkenntnisse des Griechischen vermittelte, sondern auch, wie wir sahen, zwei seiner Werke widmete. Nach dem Besuch Straßburgs, wohin er sich mit von der Marthen begeben hatte, kehrt er 1506 nach Erfurt zurück. Zu diesem Zeitpunkt nahm er wahrscheinlich durch Vermittlung der ehemaligen Marschalk-Schüler Spalatin und Crotus Verbindung zu Mutian und dessen sich langsam bildenden Kreis auf.358 Besonders eng befreundete er sich mit Eobanus Hessus, der den hochbegabten und gebildeten jungen Mann schon liebte, als er noch ein Teenager war, so berichtete später Joachim Camerarius.359 Hessus widmete ihm nicht nur sein Werk De amantium infoelicitate/ Über das Elend der Liebenden,360 354 Vgl. Spalatins Lob: „Jesu bone, quam eruditus homo et graecae et latinae adde hebraicae studiosus.“ Zitiert nach KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 67. Anm. 3. 355 GILLERT Nr. 163 (Mutian an Petreius, 1509): „Non est haec dissoluta comitas, non dicacitas scurrilis, sed Latina, sed literata animi remissio.“ 356 Zu Eberbach: GEIGER, Aperbacchus, Petreius, in: ADB, 1, S. 504; GRIMM, Aperbacchus, Petreius, in: NDB, 1, S. 324; DÖRNER, Eberbach, Peter, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, Sp. 569–576, mit neuester Literatur. 357 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät Erfurt, S. 270; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, 2, Nr. 1071. 358 Das lassen die positiven Erwähnungen Mutians ab dem Jahre 1506 in Briefen an andere Sodalen vermuten. GILLERT Nr. 45 (Mutian an Herebord von der Marthen, spätestens am 1. Oktober 1506): „Petrum Eberbacchum Musas religiosissime suspicientem.“ Es könnte natürlich auch sein, dass er bereits vorher mit Mutian Kontakt aufgenommen hatte. Beweise dafür fehlen allerdings. 359 De Eobano Hesso Narratio, hg. von VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 52–53: „Sed ex omnibus familiariter complectebatur … et affectione praecipua in prima adolescentia cognitum constantissime diligebat Petreium Aperbachum Erphordiensem, iuvenem ingenii cultu et eruditione doctrinae excellentem.“ 360 Erfurt: Hans Knappe d.Ä., 1508 (VD 16, E 1457), hg. von VREDEVELD, The Poetic Works, II, S. 202–205.

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sondern ließ ihn, wie wir sahen, auch in seinem ein Jahr später erschienenen Bucolicon verkleidet als der Hirte Floridus mit den anderen Mitgliedern des mutianischen Kreises auftreten.361 Da seine Eltern relativ wohlhabend waren, konnte er sich auch längere Reisen und Auslandsaufenthalte leisten. Von allen Freunden des mutianischen Bundes war es deshalb auch Petreius, der immer wieder versuchte, Kontakte zu anderen Humanistenzirkeln im deutschen Kulturraum zu knüpfen. Außer der Reise im Pestjahr 1505 nach Straßburg begab er sich 1510 nach Wien, wo er sich an der Universität immatrikulierte, und von da nach Ölmütz. In beiden Städten schloss er sich vorübergehend den dortigen humanistischen Sodalitäten an. In Wien begegnete er Ulrich von Hutten, den er wahrscheinlich schon vorher kennen gelernt hatte und mit dem er bis zu dessen Tod im Jahre 1523 befreundet blieb.362 In besonders engen Kontakt trat er aber mit dem Schweizer Humanisten Joachim Watt (Vadianus). Zusammen mit einem anderen Schweizer Humanisten, Arbogast Strub, und dem Nördlinger Johannes Mair bildeten sie vorübergehend eine humanistische „Vierergruppe“.363 Eine permanente Freundschaft mit Vadian entwickelte sich aber daraus nicht, da dieser sich später trotz wiederholter Bitten weigerte, seine Briefe auch nur zu beantworten. Klagen über die Saumseligkeit des Schweizer Humanisten bildeten das Thema von insgesamt acht Briefen Eberbachs an Vadian zwischen 1510 und 1514.364 Während Petreius am Anfang noch spielerisch über die Gründe von Vadians NichtSchreiben spekulierte und die Routine der täglichen Vorlesungen, die große Zahl der Schüler und sein Verhältnis zur „liebestollen Lesbia“ taktvoll als mögliche Erklärungen anführte,365 stellte er schließlich selbst enttäuscht den einseitigen Briefwechsel ein.366

361 Bucolicon Eobani Hessi Magistri Erphurdiensis, Erfurt, Johann Knappe d.Ä. 1509, hg. von VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 267–381, Eberbach in der 5. Ekloge. 362 In Wien beteiligte sich Petreius auch an der Ausgabe von Huttens an Kaiser Maximilian gerichteten Exhortatio. 363 BONORAND, Aus Vadians Freundes- und Schülerkreis in Wien, S. 23. 364 Vadianische Briefsammlung, I, Nr. 2, 4, 5, 6, 8, 16, 33 u. 40. 365 Vadianische Briefsammlung I, Nr. 8: „An te cotidianae lectiones et disciplinorum turba, an subans Lesbia venereis amplexibus irretitum moratur.“ 366 Eberbach spielte auch eine Mittlerrolle zwischen Mutian und Vadian. Vgl. GILLERT Nr. 7, wobei es aber bei einen kurzen Austausch von Briefen blieb.

DAS VERHÄLTNIS ZU MUTIAN

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5.1 Das Verhältnis zu Mutian DAS VERHÄLTNIS ZU MUTIAN

Eine umso engere Freundschaft verband ihn mit Mutian, reflektiert in den Briefen, die in den etwa zehn Jahre (1506–1516), in denen sich die beiden näher standen, ausgetauscht wurden, und selbst als Petreius sich nach seiner Rückkehr aus Italien im Jahre 1515 dem Erfurter Kreis um Eobanus Hessus anschloss, brach der Kontakt mit dem Gothaer Humanisten keineswegs ab.367 Während Mutian sich gelegentlich über seine anderen Schüler kritisch äußerte, kam ihm nie ein böses Wort über den Arztsohn über die Lippen. Im Gegenteil. Wiederholt nannte er ihn den ersten der Freunde,368den ersten der Meinigen,369 den angenehmsten Freund370 und adressierte ihn als den teuersten und liebenswertesten Petreius.371 Nicht nur schätzte er dessen charmanten und witzigen Charakter, der übrigens auch von anderen Freunden immer wieder hervorgehoben wurde – Ulrich von Hutten bescheinigte ihm eine Ader für Spott und geistreiche Kritik372 –, sondern auch dessen Bildung, sowohl auf seinem eigentlichen Fachgebiet, der Rechtswissenschaft,373als auch in den bonae literae.374 So bezeichnete er ihn als Oberbefehlshaber der lateinischen Flotte und Verteidiger der römischen Sache,375 pries ihn als hochgebildet mit einer unglaublichen Liebe zur Antike.376 Kein Wunder, 367 Über das Verhältnis der beiden sind wir durch den Briefwechsel der beiden gut unterrichtet Er umfasst insgesamt 17 Briefe, davon 14 aus Mutians Hand und drei von Petreius. Mutians Briefe: GILLERT Nr. 132, 153, 163, 165, 211, 225, 236, 242, 245, 281, 290, 294, 562, 181 (auch an Herebord von der Marten); von Petreius an Mutian: GILLERT Nr. 182, 554, 555. Außer den Briefen an Eberbach selbst erwähnte der Gothaer Kanoniker Petreius noch in zahlreichen anderen Schreiben an Freunde; siehe Register bei GILLERT, Mutians Briefwechsel. 368 GILLERT Nr. 281 (Mutian an Petreius, um die Mitte des Jahres 1513): „Primus amicorum.“ 369 GILLERT Nr. 133 (Mutian an Herebord von der Marthen, 14. Juni 1509): „Primus meorum.“ 370 GILLERT Nr. 290 (Mutian an Petreius, 5. August 1513): „amicus iucundissimus.“ 371 GILLERT Nr. 357 (Mutian an Johann Hessus, 5. April 1514): „ad carissimum et suavissimum Petreium.“ 372 BÖCKING, I, S. 302: „et natura sis ad irridendum et facete obiurgandum valde accommodatus.“ 373 GILLERT Nr. 211 (Mutian an Petreius, 8. September 1512): „Propugnator legitimae harenae adeo strenuus.“ 374 GILLERT Nr. 295 (Mutian an Trithemius, 9. August 1513): „… eminet singulari doctrina Petreius.“ 375 GILLERT Nr. 236 (Mutian an Petreius, 1512): „Latinae classis imperator“ und GILLERT Nr. 190 (Mutian an Herebord von der Marthen, 3. August 1512): „rei latinae vindex“. 376 GILLERT Nr. 357 (Mutian an Johan Hessus, 5. April 1514): „Doctus et disertus“ und GILLERT Nr. 312 (Mutian an Urban, Ende August 1513): „literatissimus iuventutis et totius antiquitatis amantissimus.“

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dass der Büchernarr Mutian den weltgewandten Petreius auch für seine Büchereinkäufe einspannte, denn er verfügte über die notwendige Sachkenntnis für die richtige Auswahl.377 Petreius seinerseits fasste seine Hochschätzung Mutians in einem seiner drei erhaltenen Briefe an Mutian so zusammen: Lehrer, Beschützer, Vater und äußerst liebenswürdiger Freund.378 Zu gern hätte Mutian Petreius näher an sich gebunden. Eine Gelegenheit bot sich, als im Mai 1514 ein Gothaer Kanoniker gestorben war und Mutian seinen Freund Urban bat, Schritte zu unternehmen, diese Pfründe dem Petreius zu verschaffen. Mutian hatte dabei durchaus ein eigennütziges Interesse an dem Kommen eines Mannes, der die humanistische Präsenz an seinem von „Barbaren“ dominierten Marienstift erhöhen konnte.379 Die Freude, dass Petreius diese Pfründe angeblich erlangt habe,380 erwies sich allerdings als verfrüht; denn im Juni 1515 erfuhr Mutian, dass sein Freund das erhoffte Kanonikat nicht bekommen habe. Verantwortlich für diesen Fehlschlag machte Mutian den Bruder Heinrich Eberbach. In einem ungewöhnlich scharf formulierten Brief warf er ihm vor, durch seine Nachlässigkeit das leicht zu erlangende Gothaer Chorherrenamt verspielt zu haben. Wer in Rom etwas erreichen wolle – und letztendlich wurde auch in Rom über Vergabe von Kanonikaten entschieden –, brauche nicht nur in Rom Geld, Freunde und Fürsprecher, sondern auch in der Heimat einen engagierten Sachwalter, und genau als solcher habe Heinrich versagt,381 denn gerade das Zusammenspiel von dem heimatlichen Prokurator und Lobbyisten in Rom sei unerlässlich für den Erwerb eines Kanonikats. Nicht nur Mutians persönliche Enttäuschung, sondern auch den Unmut darüber, dass der Versuch, das humanistische Element am Marienstift zu stärken, gescheitert war, bestimmen also den Tenor dieses Schreibens: Es freuen sich unsere Gegner, sie gratulieren einem glücklichen Freund, wie sie selbst prahlend sagen, merkte Mutian sarkastisch an.382 377 GILLERT Nr. 194, Nr. 233, Nr. 238, Nr. 241, Nr. 294, Nr. 312. 378 GILLERT Nr. 554 (Petreius an Mutian, 26. Januar 1516): „Meus patronus unicus, praeceptor et patronus et pater et amicus dulcissimus.“ 379 GILLERT Nr. 364 (Mutian an Urban, 15. Mai 1514): „Vacat canonicatus in aede Mariana.“ 380 Ausgedrückt in einem Brief an Peters Bruder Heinrich: GILLERT Nr. 482 (Mutian an Heinrich Eberbach, 20. März 1515): „Petreius noster dicitur impetrasse canonicatum Gothanum. Expecto diploma et nihil avidius desidero quam videre tandem in choro nostro fratrem tuum.“ 381 GILLERT Nr. 529 (Mutian an Heinrich Eberbach, 21. Juli 1515): „Qui Romae degunt, quod tu probe nosti, multis indigent tum opibus, cognatis, affinibus, amicis, tum etiam assiduitate procurationis in patria.“ 382 GILLERT Nr. 529: „Laetantur adversarii nostri, congratulantur amico, ut ipsi iactant, felici.“

STREIT MIT EOBANUS HESSUS

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5.2 Streit mit Eobanus Hessus STREIT MIT EOBANUS HESSUS

Petreius war freilich nicht immer nur der liebenwürdige Mensch, als den ihn Mutian und andere rühmten. Das bewies die Auseinandersetzung im März 1509 mit Eobanus Hessus, seinem bis zu diesem Zeitpunkt besten Freund. Bei einem Essen im Eberbach’schen Haus in Erfurt war es, möglicherweise wegen eines Mädchens, zu einem Streit gekommen, in dem auch Alkohol eine Rolle gespielt haben soll. Es kam zu Tätlichkeiten, in deren Verlauf der sonst so sanfte Petreius, provoziert durch Hessus, ihn so kräftig ins Gesicht schlug, dass dieser blutete. Hessus zahlte es seinem Freund mit gleicher Münze heim. So jedenfalls stellte Hessus die Angelegenheit dar, als dessen Motiv er des Petreius Neid auf seinen wachsenden Ruf als Dichter nannte.383 Als Beweis für seine Version fügte Hessus in seinem Brief an Mutian, den er gewissermaßen als unabhängigen Schiedsrichter anrief, zwei Briefe seines Kontrahenten bei. Nun lassen diese beiden Briefe in der Tat wenig von der gerühmten Liebenswürdigkeit des Petreius spüren. Schon die Anrede stellte eine Beleidigung dar; denn während die Humanisten normalerweise die Begrüßungsformel nutzten, dem Adressaten mit schmeichelhaften Wendungen Komplimente zu machen, adressierte Petreius sein Schreiben an den armen Poeten Eobanus Hessus,384 eine Formulierung, die den tatsächlich aus ärmlichen Verhältnissen kommenden Bauernsohn und zeit seines Lebens unter Geldmangel leidenden Dichter tief verletzen musste. Noch bösartiger war die Anrede seines zweiten Briefes, in dem er Hessus in Anlehnung an das Lustspiel des Plautus als einen miles gloriosus, einen großsprecherischen Hauptmann verspottete.385 Die Charakterisierung im Brief selbst als eitlen Versemacher386 stellte ebenfalls einen ungeheuren Affront dar. Wenn Alkohol im Spiel gewesen sei, was Hessus wohl in einem nicht erhaltenen Brief als Entschuldigung für seine Provokationen vorgebracht hatte, so verwies Petreius auf den griechischen Staatsmann Pittakos (651/50–617 v. Chr.); dieser hatte angeordnet, dass Betrunkene doppelt bestraft werden müssten. In dem zweiten Brief drohte nun Petreius, den eitlen Versemacher wegen seiner orthographischen, sprachlichen und sachlichen Fehler öffentlich bloßzustellen.387 Die Veröffentlichungen dieser Schnitzer

383 GILLERT Nr. 643 (Eobanus Hessus an Mutian, 4. März 1509): „Famae nostrae potius invidet.“ 384 GILLERT Nr. 643, II, S. 337: „Petrus Aperbacchus Eobano Hesso poetae egestoso.“ 385 GILLERT Nr. 643, II, S. 338. 386 GILLERT Nr. 643, II, S. 337. 387 GILLERT Nr. 643, II, S. 338: „… daboque in publicum visendos errores tuos, quibus non modo in latinitate, sed et orthographia et rerum ignorantia foedissime lapsus es.“ Beide Herausgeber der mutianischen Korrespondenz kommentieren: GILLERT, Briefwechsel, II, S. 338, Anm. 4. „Die Jugendarbeiten des Hessus weisen in der Tat eine

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wird bei Fachleuten Deinen Ruhm schmälern, obwohl mir nicht ganz klar ist, worauf sich Dein Ruhm überhaupt gründet, höhnte Petreius.388 Ebenso wenig zimperlich war freilich Hessus in der Charakterisierung seines Freundes, den er einen wahnsinnigen Schwachkopf und Zwerg nannte.389 Das vorübergehende Zerwürfnis zwischen dem wahnsinnigen Schwachkopf und eitlen Verseschmied wurde ausführlich im mutianischen Kreis diskutiert. Der friedfertig veranlagte Hüter der BEATA TRANQUILLITAS war entsetzt über die ungewöhnliche, um nicht zu sagen grässliche Angelegenheit,390 Herebord von der Marthen versuchte sich einzuschalten,391 und Crotus bat Mutian zu vermitteln, nachdem seine eigenen Schlichtungsbemühungen gescheitert waren.392 Dieser rügte zwar Petreius wegen seiner beleidigenden Wendung armer Poet, (aber nicht wegen seiner kräftigen Ohrfeige),393 zu einer unparteiischen Haltung konnte er sich aber bei seiner „beinahe schwärmerischen Hinneigung“ zu Petreius394 nicht durchringen. Im ganzen Streit habe sich Petreius doch äußerst liebenswürdig gezeigt, argumentierte er. Stets halte er ihn für den ersten seiner Anhänger, der ewigen Liebe und Verehrung würdig.395

5.3 Berichte aus Rom BERICHTE AUS ROM

An dieser gegenseitigen Hochschätzung änderte auch des Petreius’ Abwesenheit während seiner zweijährigen Italienreise zwischen 1513 und 1515 nichts. Mutian stattete ihn für diese Bildungsreise (literatoria peregrinatio)396 mit einem überschwänglichen Empfehlungsschreiben an den Abt Trithemius aus, der inzwischen in dem an der Reiseroute liegenden Würzburg wirkte. Er, Petreius, könne

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Reihe solcher Verstöße auf.“ KRAUSE, S. 593: „Eobans Jugendprodukte … zeigen allerdings noch manche Mängel.“ GILLERT Nr. 643, II, S. 338: „Quae errorum annotatio tantum tibi apud rectorum studiorum peritos laudis adimet (quamquam quid verae laudis habeas, non invenio) quantum nobis poterunt leves tui versiculi.“ GILLERT Nr. 643 (Eobanus Hessus an Mutian, 4. März): „insanus homuntio“ (II, S. 339) und „pumilio iste“ (II, S. 339). GILLERT Nr. 131 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz vor dem 14. Juni 1509): „rara et notabilis res, ne dicam atrox.“ GILLERT Nr. 131(Mutian an Herebord von der Marthen, kurz vor dem 14. Juni 1509; GILLERT Nr. 132 (Mutian an Petreius, kurz vor dem 14. Juni 1509). GILLERT Nr. 644 (Crotus an Mutian, 8. März 1509). GILLERT Nr. 132 (Mutian an Petreius, kurz vor dem 14. Juni1509): „Notandum est miniata cerula, quod scripseris: ‚egestoso poetae‘, quasi vero divitias in vate requiras.“ GILLERT Mutians Briefwechsel, S. XLVI. GILLERT Nr. 133 (Mutian an Herebord von der Marthen, 14. Juni 1509): „Deum testem habeo dignum meorum esse Petreium dignum amore et observantia sempiterna.“ GILLERT Nr. 294 (Mutian an Petreius, 1513).

BERICHTE AUS ROM

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ohne Weiteres mit den von den Humanisten so bewunderten besten Köpfen der Antike mithalten, versicherte er dem Abt. Nicht nur in den drei Sprachen glänze er, sondern er erfreue sich auch an den „ehrenhaften Mysterien“.397 Letzteres war wohl lediglich eine Verbeugung vor des Würzburger Abtes Beschäftigung mit der Magie, denn von einem Interesse des ironischen Rationalisten Petreius an derartigen Dingen konnte nicht die Rede sein. Seinem jungen Freund selbst gab der ehemalige Italienbesucher Mutian einige praktische Reiseratschläge mit auf den beschwerlichen Weg über die Alpen. Er solle im Herbst reisen und sich außerdem mit ausreichenden finanziellen Mitteln versorgen, denn es ist ein Irrtum zu glauben, nur Redner können überreden und überzeugen. Nein, auch Geld hat eine starke Überzeugungskraft.398 Während seines Aufenthaltes in Italien, den Petreius hauptsächlich in Rom verbrachte, nahm er regen Anteil an dem literarischen Leben in der Ewigen Stadt, knüpfte Verbindungen mit dem Kurialen Johannes Goritz (Gorycius), mit Michael Hummelberger und dem Dichter Caspar Ursinus Velius. Seine Erfahrungen teilte er seinem Gothaer Mentor in zahlreichen Briefen mit; denn im August 1514 meldete dieser, dass er fast jeden Monat zwei Briefe von Petreius erhalte, sodass dieser ihm schon zehn Mal geschrieben habe.399 Leider sind alle diese Briefe, die Mutian stolz an seine Sodalen zur Lektüre weiterreichte400 und die sicherlich faszinierende Einblicke in das Leben an der römischen Kurie erlaubt hätten, verloren gegangen. Das ist umso bedauerlicher, da zu dieser Zeit der Berufungsprozess gegen den Hebraisten Johannes Reuchlin in Rom verhandelt wurde (vgl. Kap. IX). Nach seiner Rückkehr aus Italien schloss sich Petreius dem Kreis um Eobanus Hessus in Erfurt an und wurde an dessen „Hof“ ein Herzog (dux) – ein weiterer Beweis, dass es sich bei dem Streit im Jahre 1509 um ein vorübergehendes Zerwürfnis gehandelt hatte. In dem Rektoratsblatt des Crotus Rubeanus, das dieser zum Abschluss seiner Amtszeit seinem Bericht beifügte und gewissermaßen ein visuelles Porträt der Erfurter Humanisten in dieser Zeit darstellt, befindet sich Petreius’ Wappen – ein schwarzer, nach rechts springender Eber 397 GILLERT Nr: 295 (Mutian an Trithemius, 9. August 1513): „Mihi amicissimus adeoque cultus et elegans utraque lingua, ut cum praeclaris ingeniis etiam antiquorum, quos admiramur, certare possit!.. Delectatur etiam magorum honestioribus mysteriis, quae tibi penitus perspecta sunt et cognita.“ 398 GILLERT Nr. 281 (Mutian an Petreius, um die Mitte des Jahres 1513): „Errant, qui autumnant oratores demum persuadere. Etiam argentum persuadet.“ 399 GILLERT Nr. 414 (Mutian an Urban, 13. August 1514): „Petreius singulis prope mensibus bis scribit.“; GILLERT Nr. 415 (Mutian an Urban, 13. August 1513): „Petreius, puto, decies ad me scripsit.“ 400 GILLERT Nr. 419 (Mutian an Urban, erste Hälfte August 1514): „Remitte literas Petreii.“

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auf goldenem Grund – vielleicht nicht ganz zufällig genau über dem des Mutian.401 Obwohl sich nach 1516 keine Korrespondenz zwischen Mutian und Petreius erhalten hat, brach der Kontakt nicht ab. Noch im Juni 1521 erregte sich Mutian in einem Brief an seinen Freund Johannes Lange, mit dem auch Petreius aufs Engste befreundet war, über die Ausschreitungen der Lutheraner in Erfurt, die sogenannten Pfaffenstürme, und schrieb, dass Johannes Draco und Petreius schon lange in seinem Schuldbuch ständen.402 Und noch einmal, zwei Jahre später, schrieb er an Urban, dass Hessus auf Anraten des Petreius ein Rechtsstudium angefangen habe, was er, Mutian, missbillige, da es nicht seiner wahren Begabung entspräche.403 Petreius selbst ging aber diesen Weg. Bereits 1509 hatte er mit dem Jurastudium angefangen, nachdem er zunächst nach Abschluss seines artistischen Studiums sich dem Medizinstudium zugewendet hatte.404 Erst 1529 erlangte er in Heidelberg seinen iuris utriusque baccalaureus und einige Monate später wurde er zum Licentiaten in den Rechtswissenschaften promoviert. Ausgeübt hat er diesen Beruf nie.1532 starb er, sechs Jahre nach seinem Mentor.405

6.

Crotus Rubeanus – der geniale Satiriker

CROTUS RUBEANUS

Als einen Mann aller Stunden (vir omnium horarum) pries Mutian wiederholt seinen Freund und Protegé Crotus Rubeanus. Gemeint war damit, dass er für Heiteres und Ernstes gleichermaßen eine Begabung habe.406 Dass Crotus gebildet war, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt.407 Kenntnis der antiken Autoren und Kompetenz im klassischen Latein gehörten zum Anforderungsprofil eines Mit401 Vgl. BERNSTEIN, Der Erfurter Humanismus am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation, bes. S. 147. 402 GILLERT Nr. 606 (Mutian an Johannes Lange, nach dem 13. Juni 1521): „Draco, Petreius iam diu sunt in meo calendario.“ 403 GILLERT Nr. 617 (Mutian an Urban, 15. Juli 1523): „Poeta multo maximus hortatu Petreii iurisconsultus esse coepit.“ 404 Vgl. GILLERT Nr. 132 (Mutian an Petreius, kurz vor dem 14. Juni 1509). In diesem Brief redet er ihn als „philosophus und medicus“ an. 405 Vgl. Eobanus Hessus, Epistolae Familiares, Marburg 1543. Brief an Martin Hune, 23. Dezember 1537: „Petreus [sic] defunctus est.“ Dig. Sammlung der Bayr. Staatsbibliothek (VD 16, E 1493). 406 GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, März 1513): „Crotus, vir omnium horarum et valde lepidus“ und GILLERT Nr. 594 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520, S. 268): „Rubianum, virum omnium horarum, hoc est, iocis et seriis pariter aptum.“ 407 GILLERT Nr. 580 (Mutian an Justus Menius, 18. Oktober 1518): „Doctissimus“, GILLERT Nr. 251 (Mutian an Urban, Ende März 1513): „ Crotus, vir imprimis eruditus“.

CROTUS RUBEANUS

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gliedes des mutianischen Kreises.408 Dass Crotus, ähnlich wie sein Freund Peter Eberbach, darüber hinaus geistreich und witzig war, hob ihn ab von dem Rest seiner Freunde. Immer wieder rühmte Mutian seine einfallsreiche Ironie, die auch in seinen Briefen, von denen die meisten, bis auf zwei, leider verloren gegangen sind, aufgeblitzt haben muss.409 Im Jahre 1518 teilte Mutian zum Beispiel einem Freund mit, dass Crotus ihm einen Brief aus Bologna geschrieben habe, den er gern weiterreichen würde, wenn nicht ein anderer Freund bereits Besitzansprüche angemeldet habe. Dieser habe protestiert: Willst Du mich um mein Vergnügen betrügen. Einmal gabst Du mir einen Brief des Crotus. O mein Gott, wie lustig war er, wie viel Charme, Bildung und Neuigkeiten steckten in ihm! Crotus habe so plastisch die Zeitereignisse geschildert und so viele Neuigkeiten enthalten, dass es grausam, wäre, so einem Freundchen (amiculus) den Brief vorenthalten zu wollen.410 Und gegenüber Petreius, bekanntlich auch einem Mann mit Ironie und Humor, bekannte er, die Scherze der beiden bedeuteten für ihn, den schon alternden Mann – Mutian war damals 42 Jahre – einen wahren Jungbrunnen; sie stellten seinen jugendlichen Witz und sein fröhliches und heiteres Gemüt wieder her.411

408 GILLERT Nr. 29 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „Nemo enim Mutiano amicus unquam fuit aut est aut erit, nisi qui rectus et integer et apprime doctus.“ 409 GILLERT Nr. 507 (Crotus Rubeanus an Mutian, 11. Juni 1515) und Nr. 644 (nicht 614 wie bei GILLERT), (Crotus an Mutian, 8. März 1509). Dass Crotus häufig an seinen Gothaer Mentor schrieb – auch während seiner Abwesenheit in Fulda und Italien –, geht aus zahlreichen Verweisen in anderen Schreiben hervor. GILLERT Nr. 252 („multas a Croto accepi literas“; Nr. 249, Nr. 250, Nr. 361, Nr. 372, Nr. 384, Nr. 493, Nr. 499, Nr. 580; GILLERT Nr. 268 (Mutian an Urban, Juni 1513): „Scribit Crotus facetissime“; GILLERT Nr. 493 (Mutian an Hessus, vor dem 23. Mai 1513): „Crotus facetissime tecum iocatur.“ Die Korrespondenz des Crotus ist noch nicht herausgegeben worden. Knappe Zusammenstellung der erhaltenen Briefe bei HUBER-REBENICH, Crotus Rubeanus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, Sp. 509. 410 GILLERT Nr. 580 (Mutian an Justus Menius, 18. Oktober 1518): „Nuper ad me scripsit Crotus noster e Bononia. Darem ego tibi literas viri optimi, quem tu unice veneraris ut hominem doctissimum et integerrimum, nisi Suebus tecum certaret in amando. Tam amat Crotum quam tu. Eia, inquit, mi Mutiane, siccine me mea defraudas voluptate? Semel Croti epistolam dedisti, o, qualem, Deus aeterne, suavem hilarem, plenam iucunditatis, eruditionis, novitatis … Haec omnia video verbis electis, compositione aptissima describi. … Ferreus essem et expers omnis officii, si tam bono, tam docto amiculo tam bellas et delicatas Croti literas auferrem.“ 411 GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 18. März 1513): „,et vestris cavillis me iam senescentem excitatis et restituitis mihi iuvenilem dicacitatem et laetum et serenum genium.“

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Johannes Jäger, der sich zunächst Johannes Venatorius, später Crotus Rubeanus nannte, wurde um 1480 in Dornheim bei Arnstadt in Thüringen geboren.412 Er war also etwa zehn Jahre jünger als Mutian. Wie Eobanus Hessus und Euricius Cordus stammte er aus bäuerlichen Verhältnissen. Dass er als Knabe Ziegen gehütet habe, ist deshalb nicht auszuschließen. Im Jahre 1513, nachdem er zum Priester geweiht worden war, meldete er aus Fulda: [Früher] habe ich Ziegen gehütet, jetzt habe ich eine Kapelle. – capras pavi, nunc cappellam habeo.413 Ein derartiges Wortspiel (capras – capellam) konnte sich ein literarisch geschulter, sprachverliebter Humanist wie Crotus nicht entgehen lassen. Im Jahre 1498 immatrikulierte er sich an der Universität Erfurt, zwei Jahre später erwarb er den Bakkalaureus.414 Seine Lehrer waren Maternus Pistoris und der für die Entwicklung des Erfurter Humanismus so wichtige und bereits mehrmals erwähnte Nikolaus Marschalk, also Männer, bei denen auch einige der späteren Sodalen Mutians das humanistische Handwerk gelernt hatten (vgl. Kap. VI). Während seines Studiums traf er im Jahre 1501 Martin Luther; beide wohnten in der gleichen Burse, in der Georgienburse in Erfurt.415 Noch 18 Jahre später sollte Crotus Luther an ihre gemeinsame Studienzeit in Erfurt erinnern.416 In diese Zeit fiel auch der Beginn der lebenslangen Freundschaft mit Ulrich von Hutten. Dessen Bekanntschaft machte er spätestens 1503 an der Universität Erfurt, als dieser, der seit 1499 die Fuldaer Klosterschule besucht hatte, das sogenannte zweijährige Normstudium in Erfurt absolvierte. Nach einem gemeinsam verbrachten Semester an der Universität Köln (WS 1505–1506), wo sie die „Syllogismen und propositiones der Scholastiker“ gründlich studierten,417 kehrten beide an die Universität Erfurt zurück, wo sie sich dem gerade sich bildenden Mutian-Kreis anschlossen. Während aber Crotus noch vier Jahre in Erfurt blieb, wechselte der ruhelose Hutten nach kurzem Aufenthalt in Erfurt an die 1502 gegründete Universität Frankfurt an der Oder, die Viadrina.

412 Zur Biographie: HUBER-REBENEICH, Crotus Rubeanus, Sp. 505–510, mit Literatur. 413 GILLERT Nr. 321 (Mutian an Urban, Anfang Oktober 1513) 414 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister, S. 264. Nr. 28: „Johannes Jheger de Dornheym. 1. SR 1498, II 205 a; 2. 1507. 415 JUNGHANS, Der junge Luther und die Humanisten, S. 72 ff. 416 BÖCKING, I, S. 309, Nr. 140: „firmum in te amorem meum custodiunt, quod summa familiaritate Erffordiae bonis artibus simul operam dedimus aetate iuvenili, quod tempus inter similes mores arctissima fundamenta amicitiae collocate.“ Auch in: Luthers Werke, Briefwechsel, I, Nr. 213 (Bologna, 16. Oktober 1519), S. 541. 417 Hutten erinnert den jüngeren Freund daran in seinem Begleitschreiben zu seinem Nemo (BÖCKING, I, Nr. 84, S. 175 ff).

CROTUS UND MUTIAN

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6.1 Crotus und Mutian – Seelenverwandtschaft zweier Spötter CROTUS UND MUTIAN

Der Bauernsohn aus Dornheim, der im benachbarten Erfurt seinen Studien nachging, wurde dagegen einer der engsten Freunde des Gothaer Kanonikers418 und pilgerte auch häufig in die BEATA TRANQUILLITAS; denn unter den Wappen, die Mutian in einem Raum seines Gothaer Hauses für seine engsten Freunde anbringen ließ, befand sich auch das des Crotus: Dem Crotus, dem Jäger der Musen, habe ich ein Horn gegeben – als sichtbares Zeichen seines Ruhmes und seiner Ehre,419 ein Wappen, das dieser zeit seines Lebens beibehalten sollte. Crotus war offenbar ein gern gesehener Gast bei den geselligen Zusammenkünften im Hause des Mutian, denn mit seinem Witz und seiner Ironie brachte er die Tischgesellschaft oft zu schallendem Gelächter. Justus Menius, damals ein Freund des Crotus, erinnerte ihn Jahrzehnte später an seine geistsprühenden Plaudereien, an Deine parodistischen Darstellungen der päpstlichen Messe, deren ganzen Pomp Du theatralisch nanntest, Deinen Spott über die Suffraganbischöfe und deren und des Papstes Ölungen, an die Reliquien der Heiligen … und die Stundengebete der Kanoniker, die Du mit dem Jaulen von Hunden in der Kirche verglichst und deren Murmeln nicht dem Summen fleißiger Bienen gleicht, sondern fauler und träger Drohnen.

All diese Zeremonien seien doch nichts als leerer Wahn.420 Zu diesem Zeitpunkt, also etwa zwischen 1508–1509, änderte der Humanist, motiviert durch sein Abgrenzungsbedürfnis von der ungebildeten Masse, auch seinen Namen von dem schlichten Jäger über das latinisierte Venatorius zu Crotus Rubeanus, eine Namensänderung, zu der es vieler Fantasie und guter 418 Crotus lernte Mutian also frühestens 1506 kennen, als er mit Ulrich von Hutten in Erfurt auftauchte. Der erste erhaltene Brief Mutians an Crotus stammt freilich erst aus dem Jahre 1508. Es ist eine Ermahnung: seine jungen Freunde sollten zu ihm Vertrauen hegen und sich auch freundlichen Tadel gefallen lassen. (GILLERT Nr. 70, Mutian an Johannes Venatorius und Herebord von der Marthen, 2. Juli 1598). Der Brief setzt also eine vorherige Bekanntschaft voraus 419 GILLERT Nr. 231 (Mutian an Urban, 11. November 1512): „Croto, venatori Musarum, erogavi cornu sui decoris et honorificentiae notam spectabilem.“ Vgl. auch: GILLERT Nr. 477 (Mutian an Crotus, 15. März 1515, Beilage des Gedichtes des Cordus, S. 138, Z. 47). Dazu auch BERNSTEIN, Der Erfurter Humanistenkreis, bes. 151 ff. 420 In einem Brief an Crotus, auf den noch später eingegangen werden soll. Abgedruckt in BÖCKING, Ulrichi Hutteni Opera, I, S. 456–465, hier S. 462, Zeile 1–9: „Non recitabo hic confabulationes illas cum amico illo Gotano quem nosti [Mutianus], cuiusmodi ibi risus et cachinnos saepe moveris de Missa Papistarum, quorum ornatum scaenico similem dicebas, de Suffraganeis Episcoporum, de unctionibus ipsorum et amurca, ut vocabas, Papae, de reliquiis Sanctorum; item de horis Canonicis, quas in templo eiulatus dicebas canum in domibus Canonicorum, murmura non apum, sed inertium et ignavorum fucorum; item de Baptismo Campanarum, quem ridiculum super omnia praedicabas, et has ceremonias omnes quovis somnio esse vaniores.“

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Kenntnisse der antiken Mythologie bedurfte; denn Krotus war eine relativ unbekannte Gestalt aus der griechischen Mythologie, ein Satyr, der auf dem Berg Helikon mit den Musen Umgang pflegte,421 und ein geschickter Jäger, dem man die Erfindung des Jagdbogens zuschrieb. Nach seinem Tod belohnten ihn die Musen mit einem Platz unter den Sternen in der Konstellation Sagittarius (Schütze), und so wurde aus dem deutschen Jäger, der auch ein Bogenschütze ist, ein Crotus. Gerade die Exotik – aus dem Griechischen abgeleitete Namen galten unter den Humanisten als besonders vornehm – machte den Reiz für einen nach einem exquisiten Namen suchenden Humanisten aus. Weniger kompliziert ist die Etymologie des zweiten Namensbestandteils Rubeanus oder Rubianus. Der Name leitet sich nämlich von dem lateinischen rubus (Brombeerstrauch) her, und da dieser schließlich auch Dornen hat, war der Zusammenhang mit Dornheim, dem thüringischen Geburtsort des Hans Jäger, zum mindesten für die Gebildeten nachvollziehbar. So ganz ernst konnte Mutian die fantasievolle Namensänderung seines Schützlings, zu der er schließlich selbst beigetragen hatte, offenbar nicht nehmen. Scherzend schrieb er an ihn: Nachdem Du aber wiedergeboren wurdest und statt als Jäger Crotus, statt aus Dornheim als Rubianus begrüßt wurdest, fielen Dir auch die langen Ohren, der herabhängende Schwanz und das ungekämmte Fell ab. Auch Apuleius sagt, da ihm das widerfuhr, als er, der bis dahin ein Esel war, durch die Tat der Luna, der Himmelskönigin, in einen Menschen zurückverwandelt wurde.422

Mutian konnte sich derartigen gutmütigen Spott gegenüber Crotus leisten, da er wusste, dass dieser selbst zu Späßen aufgelegt war. So hatte Crotus zum Beispiel in einem Kirchenkalender auch heidnische Namen eingefügt:, wie die der (heidnischen) römischen Kaiser Augustus und Domitian, also Sankt Augustus, Sankt Domitian, Sankt Vergil. Der Freund habe das vermutlich getan, so spekulierte Mutian, damit die ungebildeten Päpste auch die Heiden, z.B. Vergil, an seinem festgesetzten Tage verehrten. Die Sache sei im Grunde lächerlich. Aber was werden die Theologen dazu sagen? Sie werden wüten. Dabei gebe es wahrhaftig doch gravierende Unterschiede zwischen Jupiter und Christus. Wenn aber der Leser nun eine ernsthafte theologische Diskussion zwischen heidnischen und christlichen Positionen erwartet, wird er enttäuscht; denn Mutian ironisiert den Unterschied selbst. Die beiden Religionen könne man doch wirk421 SMITH, A Dictionary of Greek and Roman Biography and Mythology, I, S. 898. 422 GILLERT Nr. 260 (Mutian an Crotus Rubianus, kurz vor dem 13. Juni 1513): „Postquam vero renatus es et pro Iheger Crotus, pro Dornheim Rubianus salutatus, ceciderunt et aures praelongae et cauda pensilis et pilus impexus, quod sibi accidisse dicit Apuleius, cum adhuc asinus esset et lunae beneficio, quae est regina caeli, restitueretur sibi, hoc est humanitati.“

IN FULDA

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lich nicht gleichsetzen. Jupiter habe Mädchen und Lustknaben in seine himmlische Schar aufgenommen, Christus dagegen lasse die Epheben kastrieren und erfreue sich an Eunuchen und vestalischen Mädchen, also Mönchen und Nonnen.423 Dieses „Umkippen“ vom scheinbaren Ernst in die Ironisierung ist ein bevorzugter literarischer Kunstgriff Mutians. Da das Verhältnis der beiden „dauernd äußerst zärtlich und innig“ war,424 vergab Mutian seinem Freund manche scherzhafte Bemerkung, der der nötige Respekt fehlte.425 Lasst uns offen miteinander scherzen,426 schlug ihm Mutian deshalb vor. Wie fließend freilich der Übergang vom gutmütigen Spott zu verletzender Beleidigung sein konnte, hatte die Episode mit der Frau des Eobanus Hessus gezeigt (vgl. Kap. VII.3), als die beiden witzige, aber für den Betroffenen kränkende Briefe über die zukünftige Gattin des Eobanus Hessus ausgetauscht hatten.427

6.2 In Fulda – unter „analphabetischen Opferpriestern“ IN FULDA

Ab 1510 finden wir Crotus als Leiter der dortigen Stiftsschule. Im Jahre 1513 trat er wohl auch auf Anraten Mutians in den geistlichen Stand, eine Entscheidung, die er allerdings bereits ein Jahr später bereut zu haben schien, wie Mutian im April 1514 meldete: Crotus aber stimmt mich mit seinen Klagen traurig: bald macht er das Priestertum verantwortlich, bald mich, weil ich ihm dazu geraten habe. Was er sich zeihe, das er pfaffe wurde. [Der letzte Satz im Original auf Deutsch].428 Dazu kam, dass Crotus mit seiner Tätigkeit in der alten Reichsabtei nicht glücklich war. Es scheint mir hart, klagte er gegenüber Mutian, das Leben unter ungebildeten und fast analphabetischen Opferpriestern verschwenden zu müssen. Mit ihnen ist keine Gemeinschaft möglich; außer man will trinken, spielen, Geld besorgen und Sex haben. Hier ohne einen seelenverwandten Studienfreund zu leben,

423 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1509): „Quanquam alius sit senatus Iovis, alius Christi. Iupiter puellas et camitos in album celeste recepit, Christus castrat ephebos et gaudet eunuchis et vestalibus.“ 424 GILLERT, Mutians Briefwechsel, Einführung, S. XLIX. 425 Vgl. GILLERT Nr. 192 (Mutian an Urban, Anfang August 1512). 426 GILLERT Nr. 118 (Mutian an Crotus, 1508): „Nos vero iocemur liberaliter.“ 427 GILLERT Nr. 493 (Mutian an Eobanus Hessus, vor dem 23. Mai 1515): „Facetus Crotus facetissime tecum iocatur.“ 428 GILLERT Nr. 361 (Mutian an Urban, kurz vor dem 28. April 1514): „Crotus vero me contristat suis querelis modo sacerdotium accusans modo culpans consilium sibi datum a nobis.“

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scheint mir ein schlimmeres Leben zu sein als das der Tiere, die von Natur aus eine ähnliche Veranlagung haben.429

Trotzdem sollte man sich hüten, Crotus’ Fuldaer Jahre allzu negativ zu sehen; denn als Mutian, der den Weggang seines Freundes aus dem nahe gelegenen Erfurt bedauerte,430 den geliebten Schüler durch Beschaffung eines Kanonikats in Gotha in seine Nähe zu bringen versuchte, lehnte Crotus ab, da er der Fuldaer Schule ganz ergeben sei und sie deshalb nicht verlassen könne.431 Auf Initiative des Crotus wurde Mutian sogar im Jahre 1513 zu den Inthronisationsfeierlichkeiten des neuen Fuldaer Fürstabtes Hartmann von Kirchberg eingeladen.432 Obwohl Mutian diesen humanistisch gebildeten Kirchenfürsten zeitlebens schätzte und jenem seinerseits so viel an dem Besuch des berühmten Gothaer Humanisten gelegen war, dass er sogar ein Pferd zu dessen Abholung zu schicken bereit war, lehnte Mutian die Einladung ab. Er, Mutian, mache sich nichts aus Gelagen und Pomp, ließ er Crotus bündig wissen; der Freund, der für die Einladung verantwortlich sei, solle nun die Sache auch ausbaden und ihn beim Abte entschuldigen. Schließlich schrieb Mutian aber doch noch selbst einen Brief an von Kirchberg und fügte sozusagen als Geschenk eine selbst verfertigte Festrede bei.433 Auf seine launig-geistreiche Art (facetissime) berichtete Crotus anschließend über das Fest.434

6.3 Italien 1517–1519 – ambivalente Eindrücke ITALIEN 1517–1519

Enttäuscht von den ungebildeten, fast analphabetischen Opferpriestern verließ Crotus 1516 Fulda und begab sich nach kurzen Aufenthalten in Mainz und Bamberg, wo er Freunde besuchte, im Frühjahr 1517 nach Italien, wo er bis 1519 blieb. Während dieser Zeit besuchte er auch Rom: Neulich war ich in Rom…. Ich sah die alten Monumente, ich sah den Sitz der Pestilenz. Freude empfand ich beim ersteren, Ekel 429 GILLERT Nr. 507 (Crotus Rubeanus an Mutian, 11. Juni 1515): „Videtur mihi incivile inter sacrificulos idiotas et pene analphabetas vitam terere, quibuscum societas nulla, nisi velis bibere, ludere, fenus et Venerem sequi … Vivere absque ullo consorte morum et studii sors mihi videtur beluarum inferior, quas natura similitudine genuina conciliat.“ 430 GILLERT Nr. 223 (Mutian an Urban, kurz vor dem 22. Oktober 1512). 431 GILLERT Nr. 226 (Mutian an Urban, 26. Oktober 1512): „… ille [Crotus] vocatus non veniet, quia scholae addictus abire non potest.“ 432 GILLERT Nr. 262 (Mutian an Crotus Rubeanus, 13. Juni 1513): „Gratulor patrono nostro dulcissimo et exacte gratiasago, quod me illustrium cetui et ipsius sacrosanctis insignibus adesse voluit.“ 433 GILLERT Nr. 263 (Mutian an Hartmann von Fulda, nach dem 13. Juni 1513). 434 GILLERT Nr. 268 (Mutian an Urban, Juni 1513): „Scribit Crotus facetissime de festo coronationis heri sui.“ Der Brief des Crotus ist nicht erhalten.

RÜCKKEHR NACH ERFURT

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beim letzteren, teilte er seinem alten Studienfreund Martin Luther mit.435 Als Humanist erfreute er sich an den antiken Monumenten, als Kirchenkritiker war er entsetzt über die Zustände an der Kurie. In Rom erfuhr er auch aus erster Hand, welches Aufsehen sein einstiger Studienkamerad Martin Luther durch seine 95 Thesen und sein Auftreten bei der Leipziger Disputation mit Johannes Eck im Sommer 1519 erregt hatte. Brühwarm berichtete er dem künftigen Reformator darüber.436 Eck wird in Rom als Sieger gefeiert. Besonders wegen seiner positiven Bewertung des hussitischen Dogmas habe man Luther getadelt.437 Er aber verteidige ihn stets, versicherte er ihm: Sobald das Gespräch auf Dich kommt, pflege ich Dich, Martin, den Vater des Vaterlandes zu nennen, würdig einer goldenen Statue und jährlichen Festen, der Du als erster wagtest, das Volk von den verderblichen Vorurteilen zu befreien und die wahre Frömmigkeit wieder herzustellen.438

6.4 „Unser Crotus ist wieder in Deutschland“ – Rückkehr nach Erfurt RÜCKKEHR NACH ERFURT

Nachdem er 1519 den theologischen Doktor von der Universität Bologna erworben hatte,439 kehrte Crotus ein Jahr später zur großen Freude Mutians über Bamberg nach Erfurt zurück.440 Obwohl er seiner Alma Mater nur einen kurzen Besuch abstatten wollte, um alte Freundschaften zu erneuern, wurde er zu seiner Überraschung am 18. Oktober für das Wintersemester 1520/21 zum Rektor gewählt. Zum Abschluss seiner Amtszeit trug Crotus am 2. Mai 1521 in das 435 WA Br, 1, Nr. 213 (Crotus Rubeanus an Luther, 16. Oktober 1519), S. 542: „Fui nuper Romae; vidi veterum monumenta, vidi cathedram pestilentiae, vidisse iuvat, vidisse piget.“ 436 BÖCKING, I, Nr. 140, S. 308 „Dum his diebus Rhomae essem!“ WA Br, 1, Nr. 214, S. 546. 437 BÖCKING, I, Nr. 140 und WA Br, 1, Nr. 214, S. 545: „Eckius Romae celebratur victor Lipsiacae disputationis. … Tractus es ad invidiam imprimis propter Bohemicam religionem atque approbationem Hussaici dogmatis.“ „Luther hatte, von Eck in die Ecke getrieben gesagt: ‚Jawohl: Unter den Artikeln des Hus und der Hussiten sind sehr viele wahrhaft christliche und evangelische Sätze.‘“ FRIEDENTHAL, Luther, S. 249. 438 WA Br, 1, Nr. 213, S. 543: „Ego te, Martine, saepe, cum de te sermo oritur, patrem patriae soleo appellare, dignum aurea statua et festis quotannis, qui primus ausus es vendicare populum domini a noxiiis opinionibus, et rectam pietatem asserere.“ Auch an Mutian schrieb Crotus mehrere Briefe aus Italien (GILLERT Nr. 580, Mutian an Justus Menius, 18. Oktober 1518): „Nuper ad me scripsit Crotus.“ Diese Briefe sind aber verloren gegangen. 439 KNOD, Deutsche Studenten in Bologna (1289–1562): Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae Bononiensis (Neudruck 1970), S. 463, Nr. 3040. 440 GILLERT Nr. 593 (Mutian an Justus Menius, Mai/Juni 1520): „Crotus noster in Germania est.“

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Immatrikulationsbuch einen kurzen Bericht und die Namen der im Wintersemester 1520/21 eingeschriebenen Studenten ein. Diesem Bericht fügte er eine große (29,5 x 21,4 cm), farbige, künstlerisch gestaltete Tafel bei, auf der sein eigenes Wappen sowie die Familienzeichen von sechzehn anderen Humanisten dargestellt wurden. Die vier etwas größeren Schilde in den Ecken repräsentieren die vier einer Meinung nach führenden humanistischen Intellektuellen seiner Zeit: Mutianus Rufus, Johannes Reuchlin, Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Zwischen diesen befinden sich die etwas kleineren Wappen seiner engeren humanistischen Freunde.441 Diese Illumination war mehr als ein kleines Kunstwerk, das dem Repräsentationsbedürfnis des Rektors diente. Es enthielt vielmehr ein sorgfältig konzipiertes Programm; es war in gewisser Weise ein visuelles Manifest, das wesentliche Elemente humanistischer Selbstauffassung und Selbstdarstellung ausdrückte, nämlich (1) die Idee, Mitglied einer Gemeinschaft gleichgesinnter Freunde zu sein, (2) das selbstbewusste Gefühl, einer nobilitas litteraria anzugehören, (3) die Idee des dreisprachigen Wissenschaftlers, (4) die Überzeugung, dass der Kampf für eine humanistische Reform noch längst nicht abgeschlossen sei und schließlich (5) den Gedanken des Einsatzes der humanistischen Gemeinschaft für die Ideen Martin Luthers; denn es war Crotus, der an der Spitze einer Universitätsdelegation Luther bei dessen Besuch Anfang April 1521 begrüßte (vgl. auch Kap. XI).

6.5 In Königsberg und Halberstadt – Wanderer zwischen den Konfessionen IN KÖNIGSBERG UND HALBERSTADT

Im Jahre 1524 ging Crotus nach Königsberg an den Hof des Albrecht von Brandenburg, wo er unter anderem die lateinische Korrespondenz des Herzogs erledigte,442 und auch den Grundstock zu der späteren großen Bibliothek legte.443 Da die verschiedenen Tätigkeiten ihm offenbar wenig Zeit für eigene literarische Arbeiten ließen, beklagte er sich 1526 gegenüber Camerarius: Zum Schreiben habe ich keine Muße, und mein an diesem Gemütszustand leidender Geist wird durch andere Sachen in Anspruch genommen.444 441 Vgl. zu diesem Rektoratsblatt BERNSTEIN, Der Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation. S. 137–165. Ich folge diesem Aufsatz in meinen Bemerkungen hier. Vgl. auch POSSET, Polyglot Humanism in Germany, S. 5– 33. 442 DIESCH, Crotus Rubeanus im Dienste des Herzogs Albrecht, S. 52; FORSTREUTER, Johannes Crotus Rubianus in Preußen, S. 293–312. 443 DIESCH, Crotus Rubeanus im Dienste des Herzogs Albrecht, S. 57 ff. FORSTREUTER, Johannes Crotus Rubianus in Preußen, S. 293. 444 „Otium scribendi nullum est mihi, et animus affectibus aeger circa alia occupatur.“ Zitiert bei DIESCH, Crotus Rubeanus im Dienste des Herzogs Albrecht, S. 52.

IN KÖNIGSBERG UND HALBERSTADT

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Nach seiner Rückkehr aus Königsberg wandte sich Crotus wieder dem alten Glauben zu. Nachdem er 1531 in den Dienst des Kardinals und Erzbischofs von Magdeburg und Mainz, des Erzfeindes Luthers, getreten war, bekam er anschließend ein Kanonikat an der Stiftskirche in Halle und 1537 eine gut ausgestattete Pfründe in Halberstadt.445 Zur Verteidigung seines neuen Herrn verfasste er 1532 eine Verteidigungsschrift: Apologia,446 das einzige Werk, das unter seinem Namen veröffentlicht wurde. Darin wies er nicht nur die gegen den Erzbischof erhobenen Angriffe zurück, sondern verteidigte auch die Ohrenbeichte und vertrat eine altgläubige Position im Abendmahlstreit. Als Luther von dieser Schrift erfuhr, war er außer sich und beauftragte seinen Mitarbeiter Justus Menius, eine Antwort darauf zu verfassen, um den Apostaten einmal richtig „durchzukämmen“.447 Menius (1499–1558), der einst Schüler des Crotus in Fulda und einer der von Crotus auf seiner Rektoratstafel dargestellten Humanisten gewesen war und sich zu einem begeisterten Lutheraner entwickelt hatte,448 entledigte sich der Aufgabe des „Durchkämmens“ nicht auf lutherisch-polternde Weise, sondern durchaus verständnisvoll in einem amicum epistolium. Das freundliche Briefchen von immerhin etwa 3.300 Wörtern erschien 1532 unter dem Titel Ad Apologiam Joannis Croti Rubeani responsio amici.449 Menius’ Strategie war einfach und naheliegend: Er konfrontierte seinen alten Freund mit seiner antipäpstlichen, kirchenkritischen Vergangenheit. Schon lange vor dem Auftreten Luthers, ja sogar schon vor der Veröffentlichung von Erasmus’ Laus Stultitiae450 habe Crotus Pasquillen veröffentlicht, sodass alle Buchläden randvoll mit dessen „stacheligen Schriften“ gewesen seien, mit seinen Epigrammen, Satiren und Dialogen, die er aus Furcht [vor Repressalien] alle habe anonym drucken lassen. 445 Vgl. REDLICH, Cardinal Albrecht von Brandenburg, S. 63 ff. 446 Apologia qua respondetur temeritati calumniatorum non verentium confictis criminibus in populare odium protrahere Rev. In Christo Patrem et Dom Albertum … Archiep. Mog. Et Magd. et a Ioanne Croto Rubeano privatim ad quendam amicum. Leipzig: Mich. Blum, 1531 (VD 16, J 156). Abdruck in BÖCKING, II, S. 456–65. 447 BÖCKING, II, S. 456: „Mittimus ad te exemplum [der Apologia], et tu interim te para ut illum depexum nobis recte reddas et Epicurismi sui coloribus pingas: hoc enim tui officii erit.“ 448 Er hatte 1515 sein Bakkalaureat und ein Jahr später den Magister an der Erfurter Universität erhalten. 1519 verließ er Erfurt, um sein Studium in Wittenberg fortzusetzen. 1521–22 befand er sich auf einer Italienreise. Später wurde er lutherischer Pastor in Mühlberg bei Erfurt, in Erfurt selbst und in Eisenach. Lit.: WAGENMANN, Menius, Justus, in: ADB, 21, S. 354–356; WILHELM-SCHAFFER, Menius Justus, in: BBKL, 5, Sp. 1263–1266; KAWERAU, Menius, Justus, in: RE, 12, S. 577–581. SCHMIDT, Justus Menius der Reformator Thüringens. 449 Wittenberg 1532 (VD 16, M 4536). Abdruck bei BÖCKING, II, S. 456–65. REDLICH, Cardinal Albrecht von Brandenburg, S. 57 ff. 450 Was unwahrscheinlich ist, da diese Satire bereits 1508 veröffentlicht worden war.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Mit großer Frechheit habe er über den unmäßigen Pomp des Papstes, den Luxus der Kardinäle, über die Hurereien der Priester und die gespielte Armut der Mönche gespottet.451 Mutianus war zu diesem Zeitpunkt schon sechs Jahre tot, und diese Episode wäre auch nicht erwähnenswert, wenn sie nicht bei der Identifizierung des Autors der Dunkelmännerbriefe eine wichtige Rolle gespielt hätte (vgl. Kap. IX). Der Reformator selbst vergab seinem einstigen Jugendfreund nie den Abfall vom lutherischen Glauben. In Anspielung auf seinen humanistischen Namen Crotus verleumdete er ihn 1533 als des Cardinals zu Mentz Tellerlecker, Dotter Kroete.452 In seinen Tischgesprächen bezeichnete er ihn mehrfach als einen Judas, bezichtigte ihn der Frauenfeindlichkeit, weil er sich gegen die Priesterehe gewandt hatte, und verdächtigte ihn, ein epikureischer Atheist zu sein.453 Während die Katholiken Crotus noch wegen seines Einsatzes für den mit dem Bann bedrohten Luther im April 1521 misstrauisch im Gedächtnis behielten, verziehen die Lutheraner dem Apostaten nie. Beide Parteien bestraften ihn mit der Damnatio memoriae. Nicht einmal sein genaues Todesjahr (um oder nach 1540?) ist bekannt.

451 BÖCKING, II, S. 461, Zeile 11 ff.: „Hinc ante exortum etiam Lutherum, adeoque ante Moriam illam Erasmi, foeminam minime mutam, omnia bibliopolia plena erant vestris illis aculeatis scriptis, vestris epigrammatis, ubi omnino magna libertate de pompa immodica Romani pontificis, de luxu regio Cardinalium, de scortacionibus Sacerdotum, de falsa inopia Monachorum, nunc Satyrae, nunc Dialogi extabant, quorum tu author eras, sed occultus propter metum.“ 452 WA, 38, S. 84. 453 Crotus als Judas: WA TR, 1 (Herbst 1533) Nr. 597, S. 283: Nr. 604, S. 284. Crotus’ angebliche Frauenfeindschaft: WA TR, 3 (Nov./Dez. 1532): Nr. 2807a und 2807b, S. 3; Nr. 3395b („Crotus ist ein Lästerer des weiblichen Geschlechts. Doctor Crotus ist ein heftiger Lästerer und Schänder der Priesterehe gewesen“, S. 4). Crotus als Epikureer: WA TR, 3, Nr. 3795, S. 620; als Atheist: WA TR, 2, Nr. 2741b, S. 627: „Doctoris Muth et Doctoris Crothi, qui non credebant ullum esse Deum.“

EURICIUS CORDUS

7.

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Euricius Cordus – der scharfzüngige Feuerkopf

EURICIUS CORDUS

In seinem Wappen befand sich ein stacheliger Igel (lateinisch: ericius). Ein passenderes heraldisches Tier hätte sich Euricius Cordus nicht wählen können.454 Kein deutscher Dichter der Zeit übertraf ihn an Widerborstigkeit und Bissigkeit. Als ein Gegner ihm einmal mit den Worten drohte Laes den hunt schlaffen, er beyst dich, entgegnete er: Beisz mich nit, ich stich dych.455 Mit seinem pointierten Witz, seiner Spott- und Schmählust erreichte in ihm in den Worten Georg Ellingers „das Epigramm der Neulateiner den Höhepunkt; kein lateinischer Dichter kann sich mit ihm auf diesem Gebiete vergleichen“.456 Im Laufe seines Lebens verfasste Cordus ca. 1300 Epigramme von immenser thematischer Bandbreite. Veröffentlicht in 13 Büchern, von denen die letzten vier allerdings posthum erschienen,457 reflektieren sie auf literarische Weise seine innere Entwicklung und äußeren Lebensumstände und besitzen teilweise den Charakter eines „poetischen Tagebuchs“.458 Gleichzeitig bieten sie „ein sehr lebendiges Bild seines Lebens und Ringens um die Literatur, Wissenschaft und Religion … Cordus und seine Familie, die bunte Welt der Humanisten, Religionskämpfer und Mediziner, Simtshausen [sein Geburtsort], Erfurt, Braunschweig, Marburg, Friesland und Bremen treten uns vielschichtig, farbig, witzig und auch grobianisch vor Augen.“459 Aber nicht des Cordus dichterische Leistung, sondern dessen Verhältnis zu Mutian und seinem Kreis sollen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen.460 454 Der Igel ist in der Heraldik ein eher seltenes Wappentier. Ob Mutian dieses Wappen für ihn entworfen oder ob Cordus selbst dieses Wappentier gewählt hat, ist unklar. Siehe unten. 455 Über diesen Austausch mit Tilmann Conradi weiter unten. 456 ELLINGER, Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, S. 24. Ähnliches Lob von RUPPRICH: „Diese Epigrammendichtung … ist für die Zeitgeschichte von hoher Bedeutung. Sie … ist abgesehen von ihrem hohen dichterischen Gehalt eine wertvolle kulturgeschichtliche Quelle, originell, künstlerisch auf der Höhe, scharf, witzig und erfüllt von tiefem sittlichem Ernst.“ In: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock, I. Teil, S. 624. 457 Vgl. DILG, Cordus, Euricius, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, Sp. 484. Cordus veröffentlichte die ersten zwei Bücher 1517, die ersten drei 1520; 1529 erschienen dann neun Bücher und der Rest posthum 1550 bzw. 1564. Genaue bibliographische Angaben bei DILG, Sp. 485. 458 SCHMIDT, Euricius Cordus, S. 309: „Sie sind nicht nach sachlichen Prinzipien geordnet, ihre Abfolge scheint vielmehr chronologisch zu sein, d.h. sie wurden in der Reihenfolge publiziert, in der sie entstanden.“ 459 IJSEWIJN, Euricius Cordus als Epigrammatiker, S. 1054. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Kritikern beurteilt Ijsewijn das Latein des Cordus sehr kritisch, S. 1051. 460 Zu Cordus: Immer noch lesenswert: KRAUSE, Euricius Cordus. Eine biographische Skizze aus der Reformationszeit. Vgl. hierzu außerdem DILG, Cordus, Euricius mit

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Mit Mutian kam Cordus erst relativ spät in Kontakt, nämlich 1513, und zwar im Rahmen einer jener für die Zeit nicht untypischen, kleinlichen akademischen Auseinandersetzungen, dem sogenannten Erfurter Poetenstreit. Erst zu dieser Zeit nahm der Gothaer Kanonikus nach anfänglicher Skepsis gegenüber dem poetischen Hitzkopf Cordus in seinen ordo literarius auf. Ab 1513 verkehrte der Dichter häufig in seinem Haus, pries seinen väterlichen Freund überschwänglich in einem Reisegedicht und entwickelte auch Freundschaften mit anderen Sodalen des mutianischen Kreises, wie Eobanus Hessus, Heinrich Urbanus, Justus Jonas, Georg Forchheim und Johannes Lange. Wie sein Landsmann und späterer Freund Eobanus Hessus stammte Cordus aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Geboren 1486 in Simtshausen bei Marburg als das 13. Kind eines Bauern und Müllers namens Kunz Cord oder Cort,461 besuchte er die Lateinschule in Frankenberg und möglicherweise Marburg und schrieb sich an der Universität Erfurt ein, wo er 1507 den Grad eines Bakkalaureus erwarb.462 In diesem Jahr, also mit 21 Jahren, heiratete er die zu dieser Zeit als Erzieherin am Landgrafenhof in Kassel tätige Kunigunde Dunwat. 1509 verließ er wie Hessus, Crotus Rubeanus, die Gebrüder Eberbach und Justus Jonas das durch die städtischen Unruhen erschütterte Erfurt. Eine Anstellung fand er bis 1511 als Rektor der Altstadtschule in Kassel; ab 1513 war er wieder in Erfurt, wo er 1516 die Magisterwürde erwarb und 1517 oder 1518 das Amt des Rektors an dem Erfurter Marienstift übernahm. Da aber das dürftige Gehalt ebensowenig für den Unterhalt seiner Familie reichte wie seine gelegentlichen Vorlesungen, entschloss er sich, Medizin zu studieren. Zum Abschluss dieses Studiums begab er sich 1521 mit seinem Gönner Georg Sturz, der ihm die Reise finanzierte, nach Ferrara, wo er im gleichen Jahr zum Doktor der Medizin promoviert wurde. Zurück in Deutschland erhielt er die Stelle des Stadtarztes in Braunschweig, wo er, der inzwischen zum glühenden Anhänger Luthers geworden war, Schwierigkeiten in der damals noch durchweg altgläubigen Stadt bekam, weshalb er 1527 den medizinischen Lehrstuhl an der neu gegründeten Marburger Universität annahm. Aber auch hier gab es bald mit Kollegen und den Universitätsbehörden Reibereien, sodass er 1534 die Stadt an der Lahn

reicher Literatur. KÜHLMANN/WIEGAND, Humanistische Lyrik des 16. Jahrhundert, S. 221–245; Literatur S. 1082–1086. Weitere Literatur weiter unten im Kontext der Einzelbesprechungen seiner Werke. 461 Aus diesem Vaternamen leitete er vermutlich auch seinen Humanistennamen Cordus ab, der außerdem auf seine Geburt als letztes Kind (Cordus heißt im Lateinischen der Spätgeborene) hinweist. 462 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 287 und WEISSENBORN, Acten der Universität Erfurt, II, S. 241b, 32: „Heinrich Solde de Franckinbergk.“

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verließ und als Stadtarzt und Gymnasiallehrer nach Bremen ging, wo er bereits ein Jahr später, im Alter von nicht einmal fünfzig Jahren, starb.

7.1 Der Erfurter Poetenstreit – ein humanistischer Binnenstreit DER ERFURTER POETENSTREIT

Zum ersten Mal trat Cordus also im Jahre 1513 in den Gesichtskreis Mutians, und zwar im Rahmen des bereits erwähnten Literaturstreites. Besorgt meldete Mutian Mitte des Jahres 1513 Urban: Es herrscht Unruhe an der Erfurter Schule. Die Humanisten und Barbaren streiten untereinander.463 Das stimmte nicht ganz, denn es handelte sich nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Scholastikern und Humanisten, oder im zeitgenössischen Sprachgebrauch zwischen Sophisten und Poeten. Das wäre nicht ungewöhnlich gewesen in einer Zeit, in der die Humanisten noch lautstark um Anerkennung rangen und von den Vertretern der traditionellen Lehrmethoden bekämpft wurden. Es war stattdessen eine kuriose Kontroverse, insofern als es im Grunde ein Streit zwischen verschiedenen Humanisten war, wobei sich zuweilen auch merkwürdige Allianzen bildeten, in denen sich einzelne Humanisten mit Scholastikern verbündeten, um gegen andere Humanisten zu polemisieren. Hauptkontrahenten waren ein gewisser Tilmann Conradi und eben Euricius Cordus.464 Im Jahre 1507 veröffentlichte Conradi ein Gedicht auf die Jungfrau Maria,465 ein Werk, über das der immer an literarischen Neuerscheinungen interessierte Mutian ein vernichtendes Urteil fällte: Tilmann trägt eine unverdaute Masse zusammen. Diese abenteuerliche Häufung, deren man sich schämen muss, zeigt klar, dass es ihm nicht nur an Eifer (studium), sondern auch an Talent und Urteilsvermögen fehlt. … Ihm genügt es nicht, nach unserer, d.h. der menschlichen Art zu reden. Seelenlos produziert er lediglich Töne. … Er ist dunkler als

463 GILLERT Nr. 277 (Mutian an Urban, Mitte des Jahres 1513): „Tumultuatur scola Erfordiensis. Latini et Barbari rixantur inter se.“ 464 Conradi wurde um 1482 in Braunschweig als Sohn eines Priesters geboren, wuchs in Göttingen auf. 1502 immatrikulierte er sich in Erfurt und erwarb dort 1504 das Bakkalareat. Zu Conradi: KIPF, Conradi, Tilmann (Thiloninus Philymnus Syasticanus), in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd 1, Sp. 460–470 mit weiterführender Literatur. VOLZ, Der Humanist Tileman Conradi aus Göttingen, S. 76–116. Zum Streit auch: BAUCH, Die Universität Erfurt, S. 164–167; KRAUSE, Eobanus Hessus, S. 149–152; ABE, Erfurter Humanismus, S. 315–322; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 199–201. Zu Conradis Erfurter Immatrikulation siehe WEISSENBORN, Acten der Universität Erfurt, II, S. 277. 465 Carmen de XVIII Annunciationis Diei Insigniis. Accedunt Epigrammata quaedam et alia (VD 16, C 4862). Ein Exemplar ist nicht erhalten.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Heraklit. Wenn Du nicht gerade eine Sybille oder einen Ödipus als Deuter zur Hand hast, verstehst Du nichts.466

Während sich aber Mutian, dessen Stilideal bekanntlich die perspicuitas, Klarheit, war,467 mit ein paar deutlichen, in einem Privatbrief geäußerten stilkritischen Bemerkungen zufrieden gab, veröffentlichte Euricius Cordus einige Spottgedichte auf Conradi. Dieser verließ 1509 Erfurt und begab sich nach Wittenberg, wo er im gleichen Jahr eine Comoedia, cui nomen est Teratologia [Erzählung auffallender Begebenheiten], veröffentlichte, „die sich gegen die scholastischen Geistlichen – eine beliebte Zielscheibe humanistischer Angriffe – die obscena sanies, obszöne Jauche der lateinischen Sprache der Priester, ihre Unwissenheit in der Bibel und ihre Unkenntnis der hebräischen und griechischen Sprache richtete“.468 Diesem Werk gab er ein gegen Cordus gerichtetes Spottgedicht bei: Satire gegen den verheirateten Dichterling (Satyra in coniugalem quendam poetellum). Gleichzeitig veröffentlichte er ziemlich freizügige Gedichte mit dem Titel Triumphus Bacchi. Cupido. Xenia.469 Dieser kurze Schlagabtausch war aber nur ein erstes Scharmützel zu der bedeutenderen Kontroverse zwischen 1513 und 1515. Nach seinem Aufenthalt in Wittenberg, wo er im Wintersemester 1509/10 zum Magister artium promoviert wurde, und einer möglichen Italienreise470 kehrte Conradi 1513 nach Erfurt zurück. Inzwischen hatte er sich den bombastischen Namen Thiloninus Cunradus Philymnus Syasticanus zugelegt,471 weshalb ihn später Mutian gelegentlich als Proteus, den Verwandlungskünstler der griechischen Mythologie, der sich bekanntlich in Tier, Wasser und Baum transformieren konnte, verspottete. Trotz eines Verbotes des Fakultätsrates, Vorlesungen zu halten, begann Conradi in einem Privathaus über Lukan, Hesiod und Juvenal zu lesen. Selbstgefällig beschrieb er später seine Lehrtätigkeit und den großen Zulauf, den er hatte: Die Ölbude verwandelte sich in eine duftende Werkstatt Apollos. Kaum reichte der Hof des Hauses, obwohl er tausend Mann fasst, für die Menge der Zuhörer.Dicke Bücher, alte Fässer und dergleichen dienen als Schemel, der Poet hat sich selber am Hofbrunnen ein 466 GILLERT Nr. 59 (Mutian an Urban, 1507): „Tilmannus … verborum indigestam molem congerit. Quae congeries pudenda et portentosa plane ostendit, non tantum studio opus esse, sed etiam ingenio et iuditio. … Non est contentus nostro, hoc est humano more, loqui. Dat sine mente sonum … Heraclito tenebricosior [verbessert aus GILLERT: tenebrosior]. Nisi tecum sit Sibylla aut coniector Oedipus, non intellegis.“ 467 GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 8. März 1513): „Placuit ipsa mihi perspicuitas.“ 468 VOLZ, Der Humanist Tileman Conradi, S. 83; KIPF, Conradi, Tilman, Sp. 464. 469 Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1511 (VD 16, C 4863). 470 Wofür allerdings jegliche Beweise fehlen. Vgl. DILG, Cordus, Euricius, Sp. 461. 471 Nach VOLZ, Der Humanist Tileman Conradi, S. 77, Anm. 7, bezeichnet Syasticanus seine Herkunft aus Göttingen, „ gebildet aus ‚sia‘ (= Göttin), lakonische Form des klassischen Wortes ‚thea‘ und ‚asty‘ (= Stadt.)

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Katheder zusammengebaut und redet von hier aus dem Stegreife. Alles klatscht Beifall und klingender Lohn wird ihm zuteil. Und in der großen Stadt nennt man mich einen neuen Propheten.472

Mit seinen Vorlesungen forderte er den Hohn des durchaus humanistisch gesinnten Erfurter Magisters Johannes Femel heraus, der eine der Vorlesungen besucht hatte und seine Spottverse über den neuen Propheten öffentlich aushängen ließ. Die Sophisten, d.h. die scholastisch orientierten Professoren, stellten sich, eingedenk der giftigen Angriffe Conradis in seiner Teratologia, auf die Seite Femels, und auch Cordus ergriff, wenn auch aus anderen Motiven, nämlich aufgrund seiner alten Feindschaft zu ihm, für Femel Partei und publizierte gesondert eine Ekloge.473 Der bukolischen Tradition folgend, die unter anderen sein Freund Eobanus Hessus wiederbelebt hatte, gab Cordus darin zeitgenössischen Personen antike Namen und bediente sich eines literarischen Kunstgriffes, den dann auch die Autoren der Epistolae obscurorum virorum benutzen sollten, nämlich den der Selbstentlarvung. Das Gedicht fängt nämlich damit an, dass Proteus – also Conradi – sich selbst vorstellt.474 Er sei ein gelehrter Dichter, der die Dichterweihen empfangen habe und der allen zeitgenössischen und antiken Dichtern, sogar Orpheus überlegen sei, brüstet er sich. Keiner übertreffe ihn in der Verfertigung lateinischer und griechischer Verse.475 Dadurch sei er auch reich geworden. Nach diesen Hinweisen auf seinen Ruhm, seine Leistung und seinen Reichtum entrüstet er sich, dass jemand wage, sich über ihn abfällig zu äußern (V. 36 ff.). Besonders ein Rivale, ein gewisser Sphodrus – das ist der Name, den Cordus sich selbst gibt – habe ihn beschimpft. Diesen Dichterling, dessen Herkunft und 472 Zitiert nach KRAUSE, Schilderungen Erfurter Zustände und Sitten aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, S. 210. Die Stelle aus dem Choleamynterium zitiert Krause in seiner Ausgabe der ersten drei Bücher der Epigrammatica, S. XX II: „It nova tunc magnam celeberrima fama per urbem,/ Fama Thilonini cognita vatis erat./ Vndique concurrunt, legit omnis turba Philymnum,/ Quae dederant titulum nomina clara novum. / Omnis turba favet, geminato pollice plaudit,/ Et vates magna dicor in urbe novus.“ 473 Sie bildete später in der Ausgabe seines Bucolicon von 1514 die letzte, 10. Ekloge. Dass es tatsächlich eine gesonderte Ausgabe der 10. Ekloge gab, weist MÖNCKE (Der hessische Humanist Euricius Cordus und die Erstausgabe seines Bucolicon von 1514, S. 88, Anm. 72) nach. 474 Die zehnte Ekloge wird in der zweiten Ausgabe von 1518 die fünfte. Ich zitiere nach der Erstausgabe von 1514, hg. von PASCHOU, Euricius Cordus, Bucolicon. Die 10. Ekloge findet sich auf den Seiten 54–62. 475 PASCHOU, Euricius Cordus, Bucolicon S. 56, V. 30–33: „Preferor hac cunctis in tempestate poetis, Quos Germana fovet, quos aedidit Itala tellus, nec mihi se quisquam potis est componere pastor seu Latium certet, seu Graecum ludere Carmen.“

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Erziehung er nun schildert, würde er gern einmal richtig durchprügeln (V. 70 ff.). Nach dieser Drohung erhält nun Sphodrus zum ersten Mal das Wort (V. 76–80), worauf ein heftiger Schlagabtausch zwischen den Rivalen erfolgt, den Tranquillus, hinter dem sich unschwer Mutian verbirgt, zu schlichten versucht: Was für ein schlimmer Wahnsinn ist das! Was für einen Streit habt ihr im Sinn?476 Er drängt beide, ihre Knüppel beiseite zu legen. Aber Tranquillus’ Deeskalationsversuche fruchten nichts. Im Gegenteil: Die gegenseitigen Beleidigungen beginnen erst richtig, und auch ein zweiter Versuch des Tranquillus, die Wogen mit dem Hinweis zu glätten, dass sich so ein Kampf für Hirten nicht zieme, verhallt ungehört.477

7.2 Mutians Reaktion auf die Eklogen MUTIANS REAKTIONEN AUF DIE EKLOGEN

Der Beginn der Bekanntschaft Mutians mit Cordus stand also unter einem ungünstigen Vorzeichen, denn er fiel mitten in diesen Poetenstreit, und gegen Kontroversen war der Herr der BEATA TRANQUILLITAS bekanntlich allergisch. Von den beiden sich befehdenden Dichtern war ihm zu diesem Zeitpunkt lediglich Conradi bekannt, ein Dichter, den er, wie wir sahen, keineswegs für ein großes Talent hielt, dessen schwülstigen Stil und unverständliche Ausdrucksweise er immer wieder getadelt und gelegentlich parodiert hatte478 und den er sogar als Plagiator bezeichnete, als dieser eine lateinische Übersetzung der homerischen Batrachomyomachia veröffentlicht hatte.479 Gleichzeitig aber sah er in ihm einen Verbündeten im Kampf gegen die Barbaren. Unser Reuchlin erschreckte die Theologen. Tilonin erschreckt die Sophisten [die Scholastiker], kommentierte er den Streit.480 Cordus andererseits scheint er zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht näher gekannt zu haben. Mitte des Jahres 1513 bat er Urban um Zusendung eines Exemplars der Eklogen: 476 V. 102–105 „Quis malus iste furor? Quae vos hic bella paratis? 477 Diese heftige Polemik findet sich in der zweiten Ausgabe von 1518 nur noch in abgeschwächter Form. Vgl. MÖNCKE, Der hessische Humanist Euricius Cordus, S. 85; und PASCHOU: Euricius Cordus, Bucolicon, S. 197. 478 Beispiele: GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen 1. und 18. März 1513): „Tilonus in epistola Cimmeriis tenebris obscurior.“ An anderer Stelle zitiert er Crotus, der Tilonin Scotonos den Dunklen, den Beinamen des Heraklit genannt hatte. GILLERT Nr. 493 (Mutian an Eoban Hessus, vor dem 23. Mai 1515): „Hostem vero Heliani imperii Tiloninum recte nominat [Crotus] scotinum, id est, tenebricosum.“ 479 GILLERT Nr. 294 (Mutian an Petreius, 7. August 1513) und Nr. 330 (Mutian an Urban, 23. November 1513) 480 GILLERT Nr. 277 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1513): „Terruit theologos noster Reuchlin. Terret sophistas Tiloninus.“

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Man sagt, dass es dort bei Euch [in Erfurt] zwei Hessen gibt, der eine ein sehr gebildeter Mitbürger von mir, der andere von poetischem Eifer entfacht. Dieser soll Eklogen geschrieben haben und in der letzten Ekloge Tiloninus angegriffen haben.481

Als Manuskript muss dieses Gedicht also im August 1513 in Mutians Hände gelangt sein,482 denn wenig später teilte er Urban mit: Ich habe noch einmal die Bucolica eines gewissen Cordus Ricius gelesen, oder besser Dokumente des Neides. … Jenen Kritiker [Cordus] kann man meiner Meinung nach der Dummheit und Arroganz bezichtigen. Indem er die Selbstverherrlichung eines anderen aufdeckt, offenbart er doch nur seine eigene Prahlerei und leistet damit letztlich nur dem Neid der Sophisten Vorschub. Im Grunde ist er damit nicht weniger schuldig als Proteus [Conradi].483

Der Ausdruck eines gewissen Ricius sowie das äußerst abfällige Urteil über diesen Dichter zeigen, dass Mutian ihn erst jetzt kennen gelernt hat. Inzwischen hatte Cordus ihm das Manuskript geschickt, denn Mutian berichtete seinem Freund Petreius am 7. August 1513: Soeben hat mir Cordus sein Spätheu oder besser gesagt seine unreifen Auswürfe gegeben. Ich habe ihm keine schönrednerische und schmeichlerische Antwort gegeben, wie er es vielleicht erwartet hat. Ich habe seine schamlose Bissigkeit kritisiert und ihn ermahnt, dass er aus Liebe zu den Musen Proteus [Thilonin] verzeihe [wegen dessen Angriffen als verheirateter Dichterling] und einen Widerruf, eine Palinodie, dichte und es in Zukunft lieber mit dem Mann der Wissenschaft als mit der frivolen Lehre der Sophisten halte. Im Übrigen gab ich ihm den Rat, den übrigen Eklogen Zeit zum Abkühlen zu geben und sich nicht mit der Publikation zu überstürzn. Wenn er vernünftig ist, wird er den Rat annehmen, wenn nicht, habe ich in ein Wespennest gestochen.484

481 GILLERT Nr. 278 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1513: „Aiunt isthic esse duos Hessos, alterum meum municipem valde literatum, alterum poetico ardore incensum eclogas scripssise et ultima Tiloninum lacerasse.“ 482 Die zehnte Ekloge wird in der zweiten Ausgabe von 1518 die fünfte. Ich zitiere nach der Ausgabe von Ioanna PASCHOU, Euricius Cordus, Bucolicon. Die 10. Ekloge findet sich auf den Seiten 54–62. 483 GILLERT Nr. 279 (Mutian an Urban, in der Mitte des Jahres 1513): „Relegi … Bucolica vel potius invidiae testimonium nescio cuius Cordi Ricii. … Subiit ille censor iudicio meo stultitiae atque arrogantiae crimen, dum sophorum invidiae serviens suam iactantiam alienam notando detegit, non minus culpabilis quam Proteus.“ 484 GILLERT Nr. 294 (Mutian an Petreius, 7. August, 1513): „Hoc temporis punctulo dedit ad me Cordus suum fenum serotinum, imo praecocia eiectamenta. Responsum accepit, non quale forsan optabat, fucatum et blandum, sed severum. Castigavi mordacitatem impudentissimam hortatusque sum, ut amore Musarum ignosceret Proteo et Palinodiam cantaret ac dein latino potius homini quam frivolae sophistarum doctrinae adhaereret. Porro dedi consilium, ut ceteris eglogis [sic] daret tempus refrigerandi, non praecipitaret editionem. Si sanus est, obtemperabit, si insanus, irrativi crabrones.“

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Noch deutlicher wurde Mutian in einem Briefe an Urban. Er sei höchst unglücklich über den Poetenstreit; denn wenn auch beide Parteien mit Ruhm und viel Leidenschaft kämpfen, um sich zu profilieren, werde ihnen der Kampf keinen Triumph bringen, im Gegenteil: Siegen werden diejenigen, die sich in ihren kleinen Schiffchen fürchten, die die Motte des Neides frisst, die die Beredsamkeit anderer nicht fröhlich ertragen können, die, obwohl es doch inzwischen Früchte gibt, sich noch mit Eicheln zufrieden geben und das Licht, oder besser die Bildung, mit den Augen eines Kauzchens sehen.485

Weniger poetisch ausgedrückt: Mutian fürchtete um das humanistische Projekt, das durch das Engagement einzelner bereits Erfolge gezeigt habe. Die Provokationen des Cordus gegenüber Conradi sah er sogar von den Scholastikern angestiftet.486 Wenn dieser nämlich als Folge der Kontroverse die Stadt verlassen müsse, so hätte das fatale Folgen für die Humanisten.487 Was bedeutete das aber für Cordus? Der neue Theokrit – so hatte ihn ja Mutian sarkastisch genannt488 – werde noch unverschämter, er werde seine Geschmacklosigkeiten für so kostbar halten, dass er sich den Ruhm eines Homer anmaßt. Von den Sophisten, d.h. Scholastikern, werde er aber wie ein Herkules gefeiert. Was das Bucolicon des Cordus angehe, so bemängelte Mutian, dass Cordus nicht die für die bukolische Dichtung angemessene Sprachebene gefunden habe. Er soll die bäuerlichen Gewohnheiten darstellen, nicht von dem bäuerlichen Charakter zum Schwert greifen. Außerdem solle er sich aller Obszönitäten enthalten: Was sei scheußlicher als ein Vers wie Attoniti pavido canent in podice crines. (Erschreckt ergrauen die Haare auf dem zitternden Po)? Was unflätiger als jener Vers Non manibus vestras, sed lingua ducite causas? Letzteres solle sich auf die sexuellen Praktiken der Schäfer beziehen.489 Was nun Conradi betreffe, so solle Urban, der ihn gut kannte, den Rat geben, er möge wieder die Universität besuchen, Jura studieren, eine Weile schweigen und dem Cordus nicht antworten, sondern eher Freundschaft mit ihm suchen, sodass die Philosophen, d.h. Scho485 GILLERT Nr. 280 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1513, S. 367): „Nulla ratione factum videtur, ut poetarum acies temere concurrant. Nam neutra pars, etsi utraque gloria et animi elatione ostentationis causa dimicet, triumphum et insignia laurea consequetur. Sed victoria stabit penes eos, qui parvulis suis timent navigiis, quos livoris tinea comest, qui alienam facundiam laeta fronte accipere non possunt, qui frugibus inventis adhuc glande vescuntur et politioris doctrinae lucem vere noctuinis intuentur oculis.“ 486 GILLERT Nr. 280: „Sic lacessit Tiloninum Cordus sophorum vafritia subornatus.“ 487 GILLERT Nr. 280: „Si Erphurdiam reliquerit, clamabunt adversarii expulsum superatumque poetam, se autem victoria potiri.“ 488 GILLERT Nr. 280: „Novus Theocritus“. 489 GILLERT Nr. 280: „Rusticae simplicitati talia non conveniunt. Ducere lingua est fellare, ducere manu stuprari manu, quod monachorum est.“ Also Fellatio und Masturbation seien zwar bei den Mönchen gängige Praxis, aber nicht bei den schlichten Schäfern.

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lastiker, vor Eifersucht verletzt werden. Außerdem solle er dem Cordus sagen: Du bist mein Alter Ego. Wenn er auch ein popularitätsssüchtiger, etwas angeberischer und hochnäsiger Dichterling sei, wie Cordus behaupte, so treffe das doch ohne Zweifel auch auf Cordus selbst zu. Schließlich seien doch beide Dichter etwas exzentrisch. Er solle ihm sagen: Las uns gut geseln sein vnd glawb nit zu vil den Theologen. Sie haben vns beide nit liebe.490 Auch seinen Freund Petreius, der sich offenbar auf die Seite des Cordus gegen Conradi in diesem Streit geschlagen hatte, mahnte er zur Mäßigung: Über Tilonin urteilst Du hart. Er strebt zwar wie Nero nach Ruhm, ist aber weniger schrecklich und blutdürstig.491 Auf dessen angebliches Plagiat beim Verfassen seiner Batryomachie solle man gelassen reagieren: Ich habe zwar den Diebstahl dieses kleinen Langfingers bemerkt – denn wer sähe nicht die offenkundige Schändung Homers? – Aus Freundlichkeit und als guter Anwalt wollte ich nicht im Prozess um Freiheitsrechte meine Hand erheben. Der Apostel empfiehlt uns, beim Kampfe nicht die Luft zu schlagen und Salomon befahl: Ersinne nichts Böses gegen Deinen Freund.492

Trotz des Rates des Mutian, die Eklogen etwas „abkühlen“ zu lassen, veröffentlichte Cordus das Bucolicon im Jahre 1514, wenn auch, verglichen mit der Erstausgabe der 10. Ekloge, mit geringfügigen Veränderungen.493 Inzwischen war das eingetroffen, was Mutian befürchtet hatte. Conradi, alias Thiloninus Cunradus Philymnus Syasticanus, musste, vom heftigen Gegenwind 490 GILLERT Nr. 280, S. 369: „Proinde dabis hoc Tilonino consilium, ut scholas inhabitet, iuri studeat, paulisper taceat et Cordo non respondeat, sed potius amicitiam cum eo ineat, ut philosophi rumpantur invidia. Dicat: mi frater, tu es alter ego, si non deterior. Si ego sum popularis iactanticulusque poetaster plus nimio superbiens, ut tibi videor esse, nimirum tu talis es et pari nota dignus. Musas sectamur. Insania nostra late patet.“ 491 GILLERT Nr. 294 (Mutian Petreius vom 7. August 1513): „De ipso Tilonino gravissime iudicas. Gloriae studet Neronis exemplo, tametsi non ita dirus et sanguinarius.“ 492 GILLERT Nr. 294: „Notavi suppilationem furunculi – quis enim manifesta non videat Homeri sacrilegia? Sed humanitatis respectu ut bonus fautor nolebam asserere liberali causa manum. Praecepit apostolus [1. Korinther 9, 26], ne pugnis aera verberaremus et Solomon iussit, ne fabriceris in amicum tuum mala.“ [Sprüche Salomons 3, 29] 493 Ricij Cordi Simsusii bucolicon per decem aeglogas iucundissime decantatum, Erfurt: Hans Knappe d.Ä., 1514 (VD 16, C 5073). Nach MÖNCKE (Der hessische Humanist Euricius Cordus, S. 89) weicht die Einzelausgabe in manchem von der später veröffentlichten Fassung ab“ (S. 88 f.). Eine zweite Auflage erschien 1518 in Leipzig. Zum Bucolicon MÜLLER, Das Bucolicon des Euricius Cordus und die Tradition der Gattung und PASCHOU, Euricius Cordus. Die Veränderungen, die Cordus gegenüber dem Mutian vorliegenden Manuskript vorgenommen hat, lassen sich natürlich nicht mehr genau ermitteln, da sich weder ein Manuskript noch eine Einzelausgabe der 10. Ekloge erhalten hat. Die spezifisch von Mutian bemängelten Stellen finden sich jedenfalls nicht in der Ausgabe von 1514.

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seiner Gegner verschreckt, Erfurt verlassen und war im Sommersemester 1514 wieder in Wittenberg zu finden. Damit war aber der Streit zwischen den beiden Dichtern keineswegs zu Ende. In Wittenberg veröffentlichte Conradi 1515 seine in Prosa verfasste, mit zahlreichen Epigrammen untermischte Streitschrift Choleamynterium (Abwehr der Galle).494 Obwohl der Titel der Schrift als Hauptgegner den Mann nennt, der Conradi mit seinen Versen verspottet hatte, nämlich den Magister Femelius, dessen Namen hier als Fellifluus (Gallefließend) verzerrt wurde, ist doch Cordus ebenso Ziel seiner satirischen Angriffe. „Femel und Cordus werden darin mit einer Flut von Schimpfwörtern überschüttet; so heisst es von jenem: er quake wie ein Frosch, grunze wie ein Schwein, Afrika habe nicht so viele Esel, als Thüringen zahme, Indien nicht so viel Elefanten, als sich gegen ihn erhoben hätten, er sei ein Ungeheuer des Orkus u.s.w.“495 Während Conradi Femel seine Abkunft von Handwerkern vorwarf, spottete er über Cordus bäuerliche Vorfahren, dessen Namen und unzureichende Ausbildung bei den Brei essenden Guglern in Marburg. Dort habe er Latein anhand des [bei den Humanisten verrufenen] Alexander de Villa Judaei [sic] gelernt, dann sich unter Leitung des Bruders Johannes von Kassel die Regeln der Dichtkunst angeeignet, sei dann nach Erfurt gekommen, wo er aber mehr Zeit in den Cavaten als in Hörsälen verbracht habe,496 also bei Prostituierten, denn die Cavaten waren die offenen Gewölbe unter den Mauern der Domkirche, damals Stätten der Unzucht.497 Conradi selbst hatte seinem Choleamynterium das deutsche Motto Laes den hunt schlaffen, er beyst dych vorangestellt. Den Hund ließ Cordus aber keineswegs 494 Thilonini Philymni Choleamynterium in fellifluum Philymnomastigiam Hercenefurdensem. Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg, 1515 (VD 16, A 4397). Erschien zusammen mit einem Textabdruck eines Gedichtes des spätrömischen Dichters Ausonius. 495 KRAUSE, Schilderungen Erfurter Zustände und Sitten aus dem Anfange des 16. Jahrhundert, S. 210 f. 496 Choleamynterium (S. F4b f.) Zitiert nach KRAUSE, Epigrammata, S. VI: „Qui postquam adolevit inter asinorum mandras et oviaricam conversatus, Martipyrgum tandem … ad quosdam cucullatos atharaphagos, quos Lullardos vocant, ut operam in litteris qualemlibet navaret, a patre Cuntio Comarcho deductus. Sub tantis litterariae militiae imperatoribus Neoptolemus militavit, istos deliritatis suae praeceptores rudibus non paenitendos selegit, invenit extaris patella iam dignum cooperculum. Qui ibi in ea ignorantiae schola ultra άλφα καί βήτα Alexandri de villa Iudaei partes et grammaticas quasdam inregulares ac significandi modos casusque, non tamen citra ingenii ipsius gravem casum, imbibisset, ad poetas animum etiam vertit, ad pedes fratris Ioannis de Cassel commentarios et glossas interlineares in Alanum, Floristam, Graecistam et id genus poetarum sedulo excepit. Subinde etiam Hercinefurdiam sublimioris studii scholam concendens in hypaethris etb pavimentis subdialibus, quae a fornicatis caveis cavata appellate, plus quam magistrorum auditoriis versatus est.“ 497 KRAUSE, Epigrammatica, S. VI.

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schlafen, sondern konterte mit einem ebenfalls auf Deutsch geschriebenen, auf sein Wappentier Bezug nehmenden anfangs zitierten Leitspruch: Beysz mich nit, ich stich deych. Und das tat er auf eine spöttische, gelegentlich grobianische Weise mit der Veröffentlichung einer Sammlung von sechzig lateinischen Epigrammen unter den Titel Euricij Cordi contra maledicum Thiloninum Philymnum Defensio.498 Für eine kurze Einleitung dieser Ausgabe, eines „Nachklangs zu diesem Poetenkampf“,499 bat er seinen Freund Eobanus Hessus, den Conradi als Freund und Parteigänger zu reklamieren glaubte, ein in Prosa verfasstes Vorwort gegen den Gegner beizusteuern. Auf engstem Raum – es besteht lediglich aus 76 Worten – und mit für den friedlich-gutmütigen Eoban ungewöhnlicher Schärfe distanzierte sich darin der „König“ der Erfurter Poeten von ihm. Er wolle nichts mit dem schmähenden Bastard und seinem gehässigen und albernen Buch zu tun haben, schrieb er. Der Plagiator scheine Narretei und Nörgelei vereinigt zu haben. Ja, er sei so wahnsinnig, dass er lebenslang des [den Wahnsinn in Schranken haltenden] Nieswurzes bedürfe.500 Aus Freude über das anfangs erwähnte Wortspiel von dem schlafenden Hund und dem sich wehrenden Igel griff Cordus nun diesen Spruch gleich in mehreren Epigrammen auf: Dass ich den Hund schlafen lasse, mahnst Du mich, vorzüglicher Dichter. Einen passenden Namen hast Du Dir zugelegt, einen, der einen Hund mit seinem wütenden Gebelle bezeichnet. Droh nur als bissiger Kampfhund, spei’ weiter mannstollen Speichel als Cerberus in dreiköpfiger Gestalt. Der sich mit Stacheln sträubende Igel wird nicht den weit aufgerissen Rachen fürchten, denn eh wirst Du Dein eigenes Blut sehen, als dass Du mich verwundest.501

498 Erfurt: Hans Knappe d.Ä., 1515 (VD 16, C 5077). 499 VOGEL, Euricius Cordus in seinen Epigrammen, S. 24. 500 KRAUSE, Epigrammata S. 90: „ Thilonini Spurii αλαζόνος maledici criminosum et ineptum libellum legi non sine risu: totus est ridiculus et mordax, ut cum moro Momum copulasse videatur. … Boni vero et literati norint plagiarium istum calvum comatum habere faenum in cornu eguisse in omni vita elleboro.“ 501 KRAUSE, Epigrammata, S. 94, Nr. 10: „Thiloninum se vere canem appellare, quem hystrix non timeat: Vt dormire canem sinam cubantem, Praestantissime commones poeta. Te dignum tibi nomen indidisti, Qui saevo referas canem latratu. Acer vertagus et molussus insta, Immo triplice Cerberus figura Virosum exspue protinus salivam. Nil horrens patulos timebit hystrix Rictus, namque tuum prius cruorem, Quam vulnus facias ei, videbis.“

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Die Dichter sollen sich bewaffnen, um mit ihren kräftigen Knüppeln den tollwütigen Hund totzuschlagen, damit nicht seine giftigen Bisse noch mehr Unheil anrichten. Cordus’ Technik ist einfach: Er nimmt zahlreiche Vorwürfe und Behauptungen Conradis auf und dreht sie um, indem er den Gegner gleichsam mit seinen eigenen Waffen schlägt. Dem Vorwurf etwa, nur bäuerliche Vorfahren gehabt zu haben, begegnete er mit dem Satz, er sei stolz darauf und wirft ihm seinerseits seine uneheliche Abkunft vor.502 Da sich der Dichter seines ausgezeichneten Gedächtnisses gerühmt habe, könne er sich doch bestimmt auch an sein Fräulein Mutter erinnern.503 In anderen Epigrammen verneinte Cordus, dass Conradi überhaupt Griechisch könne, dessen er sich immer wieder gebrüstet hatte,504 dass er fälschlicherweise mit italienischen Lehrern prahle,505 ja, Cordus bestritt, dass Conradi jemals in Italien gewesen sei.506 Zahlreiche Epigramme leugnen überhaupt seine dichterischen Qualifikationen,507 bezeichnen ihn als Plagiator508 und verspotten seine Vorliebe für Namensänderungen,509 – nach Cordus hat er allein den Vornamen acht Mal geändert.510 Dass einige der Epigramme sich auch mit Conradis angeblichem Verhältnis zu Mutian beschäftigen, zeigt, wie die beiden so unterschiedlichen Humanisten eifersüchtig um die Gunst des Gothaer Kanonikers buhlten. Jeder will dem angesehenen Mutian so nahe wie möglich stehen oder gestanden haben. So hatte Conradi behauptet, Mutian sei sein Lehrer gewesen. Wenn das so gewesen wäre, konterte Cordus, würde er nicht solche Schmähreden führen,511 in Wirklichkeit habe er doch nie den Mutian zu Gesicht bekommen.512 Tatsächlich hatte sich Mutian, wie wir sahen, zunächst auf die Seite Conradis gestellt. Er hielt ihn zwar

502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512

Ebenso KRAUSE, Epigrammata, S. 106, Nr. 46: „Thiloninum tamquam rabidum canem occidendum.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 98, Nr. 25: „Thiloninum sui generis oblitum aliis ignobilitatem obicere.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 99, Nr. 27: „Thiloninum miram habere memoriam.“ Ähnlich Nr. 24. „Thiloninus patri sacerdoti scribit.“ (S. 98) KRAUSE, Epigrammata S. 103, Nr. 42: „Thiloninum nihil Graece intellegere.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 95, Nr. 15: „Thiloninum falso Italos praeceptores iactare.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 95, Nr. 16: „Thiloninum Italiam nunquam vidisse.“ KRAUSE, Epigrammata, Nr. 3, 4, 5, 7, 8, 12, 18, 19,20, 21, 22 (S. 92–94, 96, 97). KRAUSE, Epigrammata, S. 95. Nr. 14: „Thiloninum non suis sed aliorum scriptis victturum.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 102, Nr. 39: „Thiloninum multinomium derideri“, S. 107; Nr. 58: „De variis Thilonini nominibus.“ KRAUSE: Epigrammata, Nr. 58: von Thilo zu Tylus, Thiellus, Thielmannus, Tilimannus, Telamon, Telamonius Thilominus. Das ist allerdings ein satirisches Epigramm. KRAUSE, Epigrammata, S. 96, Nr. 17: „Thilonino Mutianum non praecepisse.“ KRAUSE, Epigrammata, S. 96, Nr. 17: „Qui tanti numquam videris ora viri.“

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für einen unbegabten Dichter und spottete über dessen affektierten, in Archaismen schwelgenden, dunklen Stil. Gleichzeitig gestand er ihm aber zu, dass er die Musen, d.h. Literatur, verteidige und die Jugend zum Studium der antiken Literatur begeistere. Auch die, die schlecht unterrichten, hätten ihr Verdienst, argumentierte er. Jeder opfere in der Kirche nach seinen individuellen Möglichkeiten: Die einen Holzscheite, die anderen Käse und Eier. Gott freut sich über alles, verschmäht nichts…. Er [Conradi] gibt, was er gelernt hat zu geben. Ich glaube, wenn er es hätte, würde er Besseres geben.513 Vermutlich zählte Mutian Conradi eher zu denen, die Holzscheite und nicht die wertvolleren Milchprodukte und die Eier in die Kirche zu tragen imstande waren – ein mildes, wenn auch leicht herablassendes Urteil. Auch einige seiner engen Freunde wie Herebord von der Marthen und besonders Urban pflegten weiterhin sehr freundschaftliche Verbindungen mit Conradi.514 Im Jahre 1514 verschwand Conradi für immer aus dem literarischen Leben der Stadt und ging zurück nach Wittenberg. Hatte er 1511 in seinem Triumphus Bacchi. Cupido. Xenia zum ungezügelten Wein- und Liebesgenuss aufgerufen, so veröffentlichte er jetzt, wieder zum schlichten Thiloninus Conradi zurückverwandelt, eine Sammlung geistlicher Gedichte, die unter dem Titel Triumphus Christi 1516 in Wittenberg erschien.515 Später schloss er sich der Reformation an; 1521 war er auf dem Reichstag zu Worms zu finden und wurde von Melanchthon hoch geschätzt. Nach 1522 verlieren sich seine Spuren.516

513 GILLERT Nr. 330 (Mutian an Urban, 23. November 1513): „In eo laudandus est, quod Musas tuetur et excitat iuvenum studia. Nam et illis debent studiosi, qui male docuerunt. Offert in templo quisque, quod potest. Alii stipem, alii caseos et ova. Deus omnia bene consulit, nihil fastidit. … Tradit, quantum didicit traditurus, arbitror, meliora, si haberet.“ 514 Herebord von der Marthen: vgl. GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 18. März 1513): „Adit Tiloninum Herebordus … Favet … polyhistori philograeco.“ Urbanus’ Verhältnis zu Tiloninus GILLERT Nr. 272 (12. Juli 1513) und GILLERT Nr. 300 (Mutian an Urban, kurz vor dem 21. August 1513). Tilonin spricht von ihm „ im Coleamynterium mit großer Zuneigung“ (KIPF, Conradi, Tilman, Sp. 462). 515 Bei RHAU-GRUNENBERG (VD 16, C 4864). 516 KIPF, Conradi, Tilman, Sp. 463.

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7.3 Mutians späte Hochschätzung des Cordus MUTIANS SPÄTE HOCHSCHÄTZUNG DES CORDUS

Mutian war keineswegs glücklich über die Veröffentlichung der Schmähgedichte gegen Conradi. Ohne provoziert worden zu sein, beißt Ricius den Tilonin; jetzt wird er zurückgebissen. Beide handeln verwerflich, vertraute er Urban an.517 Im Laufe der Jahre scheint aber Mutian doch das überragende Talent des Cordus schätzen gelernt zu haben. Obwohl dieser trotz seines Rates den Gedichtzyklus einschließlich der Angriffe auf Conradi im Jahre 1514 veröffentlicht hatte, traten die beiden spätestens ab diesem Jahre in ein sehr freundschaftliches, wenn nicht sogar enges Verhältnis. Der Mann, dessen schamlose Bissigkeit und unreife Auswürfe518 er vorher gegeißelt und den er sarkastisch einen novus Theocritus genannt hatte,519 wird zu einem seiner engsten Freunde. Ricius sei begabter als er geglaubt habe, revidierte er gegenüber Urban seine Meinung im Spätsommer 1514.520 Gleichzeitig scheint sich das Verhältnis zu Conradi abgekühlt zu haben, wenn er auch noch bis 1515 mit ihm in brieflichem Kontakt war.521 Anzeichen für das nunmehr engere und freundschaftliche Verhältnis zu Euricius Cordus hingegen gibt es genug. Offensichtlichster Beleg dafür, wie sehr Mutian Cordus jetzt zu schätzen gelernt hatte, ist die Tatsache, dass er um diese Zeit die griechische Vorsilbe „eu“ dem Vornamen Ricius voranstellte, wodurch aus dem schlichten, von dem deutschen Ritze (dialektische Kurzform für Heinrich) abgeleiteten Ricius das wohlklingende Euricius wurde.522 Er erhielt jetzt auch Zugang zu dem nur den engsten Freunden vorbehaltenen mutianischen 517 GILLERT Nr. 496 Mutian an Urban, vor dem 23. Mai 1515): „Riciius momordit Tiloninum non lacessitus, nunc remordetur. Male quidem isti.“ KRAUSE (Nr. 474) datiert den Brief auf den April des gleichen Jahres. 518 GILLERT Nr. 294 (Mutian an Petreius, 7. August, 1513): „mordacitatem impudentissimam“, „praecocia eiectamenta“. 519 GILLERT Nr. 280 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1513). 520 GILLERT Nr. 427 (Mutian an Urban, zwischen dem 27. August und 13. September, 1514): „Ricius maior est in pangendis versibus quam credebam.“ 521 GILLERT Nr. 506 (Mutian an Urban, 1. Juni 1515): „Idem scribit de te Tiloninus alioqui dicax et petulantior.“ 522 KRAUSE, Epigrammata, Nr. 37, S. 102: „Cur Euricius dicatur Legerat ut Rici versus, ‚Euricius esto‘, Rufus ait ‚studii est syllabi prima tui‘. Hunc mea, tam vafer es, culpasse poemata garris. Non mea, sed culpat quae, Thilonine, facis. Hic tibi nescio quid scripsit; si non pudet, ede, Vt monstres, quo te Rufus amore colat. Qui docuisse nihil, sed semper discere dicit, Huic tu discipulus quo potes esse modo.“

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Haus. So treffen wir ihn beispielsweise bei jenem bereits erwähnten geselligen Zusammentreffen, bei dem drei Männer – anwesend war auch Eobanus Hessus – über Anna von Hessen witzelten.523 Dass Cordus in der zweiten Dekade des 16. Jahrhunderts zu dem engeren Freundeskreis der mutianischen Sodalität gehörte, geht auch daraus hervor, dass Mutian das Wappen des Cordus, den Igel, in seinem Wohnzimmer anbringen ließ, eine Ehrung, die sonst nur Hessus, Spalatin und Crotus Rubeanus zuteil wurde. Die beiden tauschten auch gelegentlich Briefe aus, obwohl man über den Umfang dieser Korrespondenz nur Vermutungen anstellen kann, denn kein einziger Brief des Cordus an Mutian und lediglich ein Brief des Mutian an den Dichter hat sich erhalten.524 In diesem bedankte er sich für ein Schreiben, das er selbst von Cordus zur Zeit, in der die geilen Böcke und Schlemmer durch Nichtessen gezähmt werden,525 also zur Fastenzeit, erhalten habe. Es ist einerseits ein Gratulationsschreiben zur Geburt seines Sohnes Valerus – Wunderbare Produktivität Deines Hauses: Während dich die Gattin durch die Zahl der Kinder beglückt, erfreust und ehrst Du die literarische Welt durch Deine geistigen Geburten526 – andererseits eine Kritik des Reisegedichts, das Cordus im März 1515 veröffentlicht hatte.527 Bei diesem Itinerarium handelt es sich um einen poetischen Bericht einer Fußwanderung, die der Dichter Anfang des Jahres 1515 von Erfurt zu seinem Heimatdorf Simtshausen in Hessen in Erbschaftsangelegenheiten unternommen hatte. Auf dem Rückweg, berichtete Cordus, sei er beinahe ertrunken, als er von den Fluten der über ihre Ufer tretenden Schwalm überrascht wurde. Diese lebensgefährliche Situation habe er als Sühne für sein bisher vernachlässigtes Seelenheil angesehen, weshalb er dem Werk den Titel Expiatorium Poema, Sühnegedicht, gegeben habe. Im spottlustigen Kreise des Mutian wurde die in dem Gedicht dargestellte, hochdramatische Rettung aus den Fluten der Schwalm offenbar nicht ganz ernst genommen.

523 GILLERT Nr. 427 (Mutian an Urban, zwischen dem 27. August und dem 13. September 1514): „Eodem die venerunt ad me Ricius et Eobanus, iucundi hospites. Risimus quod ita scriptum: Das sie weil, ein gnedige fraw sein. Que malum uxor! Ich ein pfaf vnd philosophus, ich weil keyn gnedige frawen annemen.“ Mutian berichtet noch von einer weiteren Zusammenkunft in Gotha mit Cordus, bei der man obszöne Scherze über die uneheliche Herkunft des Tilonunus gemacht habe. „Talia cum Euritio nostro ludebam“ GILLERT Nr. 498 (Mutian an Eobanus Hessus, vor dem 23. Mai 1515). 524 GILLERT Nr. 477 (Mutian an Cordus, 15. März 1515). 525 GILLERT Nr. 477: „Quo tempore salaces et apitii cicurantur inedia.“ 526 GILLERT Nr. 477: „Mira fecunditas tuae domus. Auget te uxor liberorum numero, tu literariam rem publicam ingenii fetu iuvas et ornas.“ 527 Ricij Cordi Nocturnae periclitationis hessiaticorum fontium nimphis sacrum expiatorium poema, Erfurt: Hans Knappe d.Ä., 1515 (VD 16, C 5090). Vgl. WIEGAND, Hodoeporica, S. 48–53; Kommentar S. 349–352.

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Der witzige Crotus scherzte geistreich mit Dir [Eobanus Hessus] und ernannte den Euricius Cordus zum Befehlshaber der Landstreitkräfte, weil er wegen des zornigen Neptuns zu wenig Glück als Flottenkommandant gehabt habe. Die ganze Sache ist lächerlich,

schrieb Mutian an Hessus.528 Anstoß nahm Mutian aber nicht in erster Linie an dem Gedicht als solchem, sondern an den Versen, in denen der Wanderer seinen Besuch bei ihm in Gotha beschrieben hatte.529 Wenn wir einige Einblicke in die häuslichen Umstände Mutians haben, so verdanken wir sie zum großen Teil diesem Gedicht, denn Cordus schildert mit viel Sympathie die Rituale, denen sich jeder Besucher unterziehen musste; er beschreibt die Diener und das Esszimmer, in dem der Hausherr die Wappen seiner engsten Freunde hatte anbringen lassen, einschließlich seines eigenen Wappens, des die Stacheln spreizenden Igels.530 Cordus scheint selbst etwas verwundert über die seiner Ansicht nach unverdiente Ehre, in diese illustre Gesellschaft aufgenommen worden zu sein. Erstaunt fragte er, wie so ein hässliches Nachttier unter den ledäischen Schwänen Aufnahme gefunden habe.531

528 Das geht aus einem Brief des Mutian an Eobanus Hessus vom Mai 1515 hervor: GILLERT Nr. 493: „Facetus Crotus facetissime tecum iocatur. Ricium Euritium praefecit terra militantibus, quasi irato Neptuno parum felix sit in gubernanda classe. Res risu digna.“ 529 Die Beschreibung ist abgedruckt bei GILLERT als Anhang zu Brief Nr. 477, II, S. 137 f. Ich zitiere danach. 530 GILLERT, II, S. 138, V. 45–52: „Hic pia serpentem crepitante ciconia rostro Enecat, haec volucris te, Spalatine, refert. Illic complicitis Rubiani cornua lovis Et quae sunt alia singula parte patent. Praecipue condens caput inter nubile Cygnus Hesseni merito tradita signa viro.“ 531 GILLERT, II, S. 138, V. 53–58: „Quae propter quota horreus subrepit et histrix, Et lenta triplex laurea fronde viret Quid cum ridiculo portent, Ruffe, quid inter Laedaeas turpis noctua quaerit aves? Sicne tua in nostras errat sententia nugas, Ut tantum iuvenem nomen habere putes? Non facis, ut mereor, sed ut urget amica voluntas, Iudicio longe sum minor ipse tuo.“ In Krauses Übersetzung: „Neben ihm [dem Schwan] kriecht ein winziges Stück, der stachlige Igel, dreifacher Lorbeer umgibt rings ihn mit biegsamem Zweig./ Lächerlich Tier, wie kommst Du hieher? Wie will doch, o Rufus, hässliches Eulengeschrei passen zum Schwanengesang?“ KRAUSE, Der Briefwechsel des Mutianus Rufus, Einleitung, S. XVIII–XIX.

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Zwar bedankte sich Mutian für die poetische Huldigung, lehnte aber das überschwängliche Lob entschieden ab. Lob und Tadel von Fremden höre er sich mit äußerst geduldigen Ohren an. Wer ihm aber schmeichle, sei ihm verhasst, obwohl Eigenliebe eine menschliche Grundgegebenheit sei. Stets habe er Lobhudeleien und Popularitätshaschereien verabscheut. Die Ruhe lehnt den Lärm ab. Was für einen Grund hast Du, dass Du mit diesen nuttenhaften Lappalien mein Haar sanft streichelst… Es soll mir aber fern liegen, einem guten Dichter und Freund seinen guten Ruf zu beschneiden. Aber, damit Du die Wahrheit hörst: über die Maßen strotzt Du vor Schmeicheleien, und dieses Geplapper scheint mir doch mehr dem Laub, um nicht zu sagen der Spreu zu gleichen. Dennoch ist es nicht wertlos, wenn nicht Deinem Eifer und Wohlwollen das rechte Maß gefehlt hätte.532

Am gleichen Tag drückte er seine Missbilligung des Itinerarium auch gegenüber Urbanus aus: Es gefällt mir nicht, dass Euricius sein Itinerarium veröffentlicht. Er lobt zu sehr, und zwar ziemlich unvorsichtig. Er möge solch dummes Zeug in Zukunft unterlassen. Es schadet meinem Ruf.533 Mutian lehnte die Veröffentlichung des Gedichtes sicherlich nicht nur ab, weil er eine Abscheu gegen jede Art von Publizität hatte, sondern auch weil Cordus sein Haus als Mysterientempel verklärt hatte.534 Besonders habe ihn aber geärgert, dass Cordus ihn zwar wegen der vestalischen Keuschheit, [d.h dass er keine weiblichen Angestellten in seinem Hause beschäftigte] feierte, aber gleichzeitig den im Hause tätigen Knaben erwähne, und damit, so lautet wohl der Subtext, falsche Vorstellungen von der sexuellen Orientierung des Hausherrn verbreite. Während er also die Charybdis vermeiden will, stößt er auf die Skylla, beschwerte er sich bei Urban.535 Immerhin hält er seinem Freunde zugute, aus lauteren Motiven gehandelt und das Werk im Übereifer veröffentlicht zu haben. Vierzehn Tage nachdem er es so heftig kritisiert hatte, schickte er ein Exemplar Itinerarium an

532 GILLERT Nr. 477 (Mutian an Cordus, 15. März 1515): „ Semper abhorrui ab encomiis et ambitione ac missum feci arbitrium popularis aurae. Tranquillitas aversatur strepitum. Quae, malum, ratio est, ut istis quaestuariis nugis meum caput demulceas. … Absit, ut bono poetae et amico suum nomen detraham. Sed ut verum audias, praeter modum tumes in assentacione et videtur ista βατταλογία foliis, ne dicam paleis, persimilis, non omnino tamen inanis, si studio et benevolentiae tuae iudicium deesset.“ 533 GILLERT Nr. 480 (Mutian an Urban, 15. März 1515): „Non placet quod Euricius Itinerarium publicat. Me nimium laudat et satis incaute. Omittat ista nugamenta, nocent famae.“ 534 Vgl. dazu auch WIEGAND, Hodoeporica, S. 48. Von einer „charakteristischen Verbindung von neuplatonisch-mystischen Gedankengut“ in diesem Zusammehang zu sprechen scheint mir aber trotzdem fraglich. 535 GILLERT Nr. 480: „… dum e Vestali castimonia celebrat, ingerit tamen pueri mentionem. Incidit in Scyllam cupiens vitare Carybdim.“

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Crotus Rubeanus.536 So ganz unberührt von den „nuttenhaften Lappalien“ des Cordus kann er also nicht gewesen sein. In seinem Itinerarium hatte Cordus erwähnt, wie eine Parteinahme für Reuchlin gleichsam eine Aufnahmebedingung in den mutianischen Kreis darstelle.537 Obwohl Mutian sich mit öffentlichen Äußerungen zugunsten Reuchlins zurückhielt, mobilisierte er umso eifriger seine Freunde, zugunsten Reuchlins Stellung zu beziehen, einschließlich Euricius Cordus538 (vgl. Kap. IX).539 Des Cordus Teilnahme an diesem publizistischen Feldzug gegen die Reuchlin-Feinde zeigte, wie eingebunden Cordus zu diesem Zeitpunkt im mutianischen Kreis war. Außerdem lassen sich freundschaftliche Verbindungen zu anderen Erfurter Humanisten wie Eobanus Hessus, Justus Jonas, Johannes Lange und Crotus Rubeanus belegen.540 Zusammen mit diesen Freunden engagierte er sich auch in der von Erasmus erbetenen Kampagne gegen den Engländer Edward Lee, der es gewagt hatte, den Fürst der Humanisten, Erasmus von Rotterdam, in seiner Ausgabe des Neuen Testaments zu kritisieren. Von Cordus stammen natürlich die derbsten Epigramme. Als sich aber Erasmus später mit Ulrich von Hutten überwarf, veröffentlichte Cordus kritische Epigramme gegen den holländischen Gelehrten. Den vollständigen Bruch mit ihm vollzog er jedoch erst, als es nach der Debatte um den freien Willen zwischen Luther und Erasmus zu einem Zerwürfnis der beiden so unterschiedlichen Männer gekommen war; denn seit etwa 1520 war Cordus, wie so viele Erfurter Humanisten, ein glühender Anhänger Luthers, den er 1521 auf dem Reichstag zu Worms persönlich kennen gelernt hatte.541 Ein Lob auf den der Reformation aufgeschlossenen sächsischen Kurprinzen Johann Friedrich aus dem Jahr 1522 erweitete Cordus um das Fünffache und gab es als ein aus 762 Versen bestehendes Epos 1525 unter dem Titel Antilutheromastix heraus.542 In diesem Werk griff er nicht nur die altgläubigen 536 GILLERT Nr. 488 (Mutian an Eobanus Hessus, 29. März 1515): „Misi recens Euritii poema ad Crotum.“ 537 GILLERT, II, S. 137 V. 37 ff.: „Non optata magis dabis illi nuntia quam quae Impia Capnionem monstra domasse ferunt. Hunc magnum laudato virum primumque poetam Plurima victorem saecla valere iube. Sic tibi se facilem Rufus praebebit amicum Inque sodalitium te leget inde suum.“ 538 Vgl. dazu BERNSTEIN, Liebe die Reuchlinisten, verachte die Arnoldisten, S. 295–315. 539 Vgl. ebd., S. 304 ff. 540 Dazu besonders VOGEL, Euricius Cordus in seinen Epigrammen, S. 25 ff. 541 Vgl. seine Epigramme auf Luther in KRAUSE, Epigrammata, S. 88 (Nr. 85) und S. 75 (Nr. 44). 542 Wittenberg: Joseph Kluge (VD 16, C 5069). Dazu BRÄUER, Der Humanist Euricius Cordus und sein neulateinisches Epos „… Antilutheromastix“.

JUSTUS JONAS

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Gegner des Reformators an, sondern auch die beiden radikalen Theologen aus dem evangelischen Lager Thomas Müntzer und Andreas Karlstadt. Zu diesem Zeitpunkt waren aber die Kontakte zu Mutian und den meisten der ehemaligen Erfurter (außer Hessus) schon längst abgebrochen. Für kaum ein halbes Jahrzehnt lassen sich enge Beziehungen zwischen Mutian und Cordus nachweisen. In vielen glichen sich die beiden Männer. Ähnlich waren sie in ihrer heftigen Kritik an Klerus, Kirche, Heiligenverehrung und Aberglauben. Während aber der öffentlichkeitsscheue Mutian seine Kritik in privaten Briefen äußerte, suchte der streitbare Cordus die Öffentlichkeit.

8.

Justus Jonas – vom Erasmianer zum Lutheraner

JUSTUS JONAS

Unter Reformationshistorikern gilt Justus Jonas (1493–1555) als einer der wichtigsten Mitarbeiter und Wegstreiter Luthers. Er übersetzte u.a. einige der lateinischen Schriften des Reformators und Philipp Melanchthons (1497–1560) ins Deutsche, nahm aktiv am Marburger Religionsgespräch zwischen Martin Luther und Huldreich Zwingli (1529) teil, war wesentlich an der Ausarbeitung des Augsburger Bekenntnisses (1530) beteiligt und wirkte in Naumburg, Zerbst und Halle an der Einführung der Reformation. 1546 begleitete er Luther nach Eisleben, wo er Zeuge von dessen Tod war. Johannes Cochlaeus, einer der entschiedensten katholischen Gegner Luthers, rechnete ihn nicht ohne Spott neben Johannes Bugenhagen (1485–1558), Philipp Melanchthon und Luther selbst zu einem der vier Apostel der Reformation.543 Welche Rolle spielte er aber im mutianischen Kreis? Wann ist er zum ersten Mal mit dem Gothaer Kanoniker in Kontakt gekommen? Wie wurde er vom begeisterten, von Mutian und Erasmus geprägten Humanisten zu einem der aktivsten Unterstützer Luthers?

543 KLEINEIDAM, Justus Jonas, S. 246.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

8.1 Herkunft und Studien Jodocus (Jost) Koch stammte aus dem thüringischen, am Südhang des Harzes gelegenen Nordhausen, wo sein Vater Jonas Koch als Angehöriger des örtlichen Patriziates zeitweise Bürgermeister war.544 Seinen Vornamen änderte er später von Jost zu Justus; als Familiennamen nahm er den Vornamen seines Vaters Jonas an. Gediegene Grundkenntnisse im Lateinischen eignete er sich in der städtischen Lateinschule an, sodass er bereits als 13-Jähriger 1506 die Universität Erfurt bezog,545 ein Jahr später das Bakkalaureat an der Artistenfakultät erwarb und sein Grundstudium 1510 mit seinem Magister Artium abschließen konnte.546 Ein Jahr später wechselte er nach Wittenberg, um an der dortigen Leucorea ein Rechtsstudium zu beginnen. Der Grund für diesen Wechsel war sicherlich nicht nur, dass Erfurt in den Jahren 1509–11 durch politische und soziale Unruhen erschüttert wurde,547 sondern auch die Attraktivität der als modern geltenden Wittenberger Universität, die seit ihrer Gründung dank einer umsichtigen und weitblickenden Berufungspolitik eine Reihe von bedeutenden Professoren an sich gezogen hatte.548 Bereits 1513 erwarb Jonas sein juristisches Bakkalaureat und kehrte 1515 nach Erfurt zurück. 1516 ließ er sich zum Priester weihen und erhielt daraufhin ein mit Lehrverpflichtungen an der Universität verbundenes Kanonikat an der Severi-Kirche.

544 PRESSEL, Justus Jonas; Delius, Justus Jonas, mit vollständiger Bibliographie seiner Werke; KLEINEIDAM, Justus Jonas, S. 244–246; Artikel in: ADB, NDB, TRE und KILLY; KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas; DINGEL (Hg.), Justus Jonas (1493–1555) und seine Bedeutung für die Wittenberger Reformation. 545 WEISSENBORN, Acta der Universität Erfurt, II, 244a, 53: „Jodocus Jonas de Northusen.“ 546 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, S. 287 (Nr. 273, 7): „Jodocus Ione de Northussen“; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, Nr. 1104. 547 BENARY, Zur Geschichte der Stadt und der Universität Erfurt, 3 ff. 548 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordenis, II, S. 170.

KONTAKT ZUM MUTIAN-KREIS

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8.2 Kontakt zum Mutian-Kreis KONTAKT ZUM MUTIAN-KREIS

Der erste erhaltene Brief Mutians an Justus Jonas stammt aus dem Jahre 1513 oder 1515.549 Wäre das aber tatsächlich der erste von Mutian an Jonas gerichtete Brief, würde das bedeuten, dass Jonas relativ spät zu dem Kreis gestoßen ist. Dass aber der Nordhausener tatsächlich schon lange vor seinem Wechsel nach Wittenberg dem mutianischen Kreis verbunden war, wird durch zwei vor 1509 veröffentlichte Gedichte nahegelegt, von denen eines von Eobanus Hessus, das zweite von ihm selbst stammte. In der fünften Ekloge seines im Jahre 1509 erschienenen Hirtenliedersammlung, dem Bucolicon, hatte Eobanus Hessus, wir erinnern uns (vgl. Kap. VII.3), einen Wettstreit zwischen den beiden Hirten Floridus und Vernus über die Frage, wer größer sei, Gott, der Schöpfer des Universums, oder Maria, die Gottesmutter, geschildert. Der Schiedsrichter Tranquillus hatte ein salomonisches Urteil gefällt: Beide hätten Recht.550 Hessus beabsichtigte bekanntlich (vgl. Kap. VII.3) mit seinem Bucolicon keine realistische Beschreibung des Hirtenlebens, sondern benutzte die Gedichte, um in der Tradition Vergils Freunde, Gönner und Rivalen allegorisch verfremdet darzustellen. Dass mit Tranquillus Mutian gemeint war, war allen klar: Aber wer verbarg sich hinter Floridus und Vernus? Nach Hessus war mit Floridus Peter Eberbach (Petreius) und mit Vernus (zum Frühling gehörend) kein anderer als der erst 15-jährige Justus Jonas gemeint.551 Das bedeutet aber, dass Jonas trotz seiner Jugend in der Gruppe eine gewisse Wertschätzung als Verseschmied genossen haben muss. Wie eng er mit Eobanus Hessus, dem vielbewunderten Dichtertalent dieses Zirkels, tatsächlich befreundet war, zeigt dann auch ein Gedicht, das er dem Bucolicon beisteuern durfte. Zusammen mit solchen des Herebord von der Marthen, des Crotus Rubeanus und des Johannes Pistoris erschienen diese Quorundam amicorum testimonia (Beweise der Wertschätzung einiger Freunde) als Anhang des Bucolicon. Für den jungen Jonas bedeutete es sicherlich eine große Ehre, neben den beiden älteren Freunden (Herebord von der Marthen und Crotus Rubeanus waren beide fast 549 GILLERT Nr. 342 (Mutian an Jonas) GILLERT datiert den Brief auf 1513; KRAUSE (Nr. 612, nur als Regest) datiert den Brief jedoch auf 1515 ebenso wie KAWERAU (Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 4). Briefe des Justus Jonas an Mutian haben sich nicht erhalten. 550 Bucolicon Eobani Hessi Erphurdensis, Erfurt: Johann Knapp, 1509 (VD 16, E 1478). Abgedruckt in VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 310–317. Jonas veröffentlichte noch 1510 eigene Verse unter dem Titel „Jocus tumultuarius in defensionem Cupidinis adversus Mistotheum, i.e. Ludwig Londergut“. VON HASE, Bibliographie der Erfurter Drucke, Nr. 327. 551 Hessus entschlüsselte die Figuren in seiner Ausgabe des Bucolicon von 1539. Vgl. VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 310.

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dreißig) solch ein poetisches Geschenk für seinen Freund beitragen zu dürfen.552 Der Neid könne ihm, Hessus, nichts anhaben, heißt es darin, denn sein Name sei bereits unsterblich. Der Dichter sei freundlich, umgänglich, gelehrt und rechtschaffen (facilis, habilis, doctus, probus.) Seine Dichtung besitze homerische Qualitäten.553 Der so überschwänglich gelobte Hessus sollte auch in der Zukunft das wichtigste Bindeglied zwischen ihm und Mutian bleiben. Ein Briefwechsel zwischen Jonas und Hessus ist bis zum Jahre 1533 nachweisbar.554 Es ist also unvorstellbar, dass Jonas, der mit Hessus eng befreundet war, nicht auch Kontakt zu Mutian gehabt haben sollte. Verständlich ist aber auch, dass Jonas wegen seiner Jugend im Schatten der älteren Freunde stand und deshalb in der Korrespondenz dieser Jahre nicht erwähnt wird. Dass diese Freundschaft aber bestanden hat, ist anzunehmen, denn der erste bereits erwähnte Brief aus dem Jahre 1513 legt eine bereits bestehende Vertraulichkeit und die Zugehörigkeit zum Gothaer Mutian-Kreis nahe.555 Das eigentliche Thema dieses Briefes aber, der Unterschied zwischen guten und schlechten Juristen, ist ganz auf Jonas, den frisch promovierten Lizentiaten beider Rechte zugeschnitten: Ein Jurist ist ein gelehrter und integrer Mann, ein aufrichtiger Verteidiger der besten Gesetze, dozierte Mutian. Anderen, die unsere Definition nicht billigen und sich aneignen, wird eine andere Erklärung gegeben: Ein Doktor juris und ruhmsüchtiger Jurist ist ein schlechter Mensch, versteht sich auf faule Tricks, und praktiziert schlechtes Recht.

552 Abgedruckt in: VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 377–379; KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 1. 553 VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 378, Zeile 15: „Prodit agreste canens Germanus origine vates, Abstulit hic nostri nomina prima soli. At si Teutonicus scripsit quis ovile poeta, Res tamen et versus non meliore stilo … Meonidis venam carmine nosse licet. Teutonis ora suo nunc vate superbiat Hesso, Dissimulare suum velit illa decus.“ JUNGHANS, Justus Jonas und die Erfurter Humanisten, S. 28: „Und wenn Jonas in der nachfolgenden Zeit auch nicht als Poet neben Eoban Hessus und Euricius Cordus in Erscheinung tritt, hat er von den Erfurter Poeten doch genügend gelernt, um zum Jahreswechsel 1523/24 sogleich Luthers Wunsch nach deutschen Kirchenliedern zu entsprechen. Er bearbeitet Ps. 124 zu dem Lied „Wo Gott, der Herr, nicht bei uns hält, wenn unsere Feinde toben“, das auch im jetzigen Gesangbuch noch enthalten ist.“ 554 JUNGHANS, Justus Jonas und die Erfurter Humanisten, S. 28, in: DINGEL, Justus Jonas, S. 30 555 Falls GILLERTs (Nr. 342) Datierung auf das Jahr 1513 stimmt.

KONTAKT ZUM MUTIAN-KREIS

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Jonas solle ihm mitteilen, welche der beiden Definitionen ihm besser gefalle.556 Mit der Rückkehr des Jonas nach Erfurt im Jahre 1515 scheint sich die Freundschaft zwischen beiden Männern verstärkt zu haben, wenn man von der Häufigkeit der ausgetauschten Briefe auf eine Intensivierung schließen kann. So versicherte Mutian Jonas am 22. Juli 1515 seine Freundschaft und Liebe und bat ihn jetzt, in den Sommerferien öfter an ihn zu schreiben, egal was ihm einfalle, am liebsten aber über gute Bücher, von denen er, Mutian, unglaublich gefesselt werde.557 Am 28. November des gleichen Jahres erkundigte er sich bei seinem geliebten Freund (amicus dilectus) über das Befinden der beiden Freunde Petreius und Hessus.558 So meldete Hessus 1516 dem Mutian, wie sehr Jonas Mutian verehre: Du kennst doch den Jüngling Jonas, der doch zu unserem Kreis gehört? Ist es verwunderlich, wie sehr er dich liebt, wie sehr er dich ins Herz geschlossen hat.559 Wie eng sich das Verhältnis Mutians zu Jonas in diesen Jahren entwickelt hatte, zeigen auch die leicht zweideutigen Scherze, die er nur seinen ganz engen Freunden wie Urban, Herebord von der Marthen und Hessus mitzuteilen pflegte. In einem Brief vom 15. Juli 1517 an Jonas stellte Mutian zum Beispiel fest, dass in der Gegenwart drei Männer mit langen Nasen die Welt regierten: Kaiser Maximilian, der französische König Franz I. und Papst Leo X.560 Von den liederlichen Frauenzimmern werde allerdings bezweifelt, fuhr Mutian nun fort, ob diejenigen, die lange Riechorgane hätten, auch über entsprechend beeindruckende Geschlechtsorgane verfügten.561 Das Mitteilen von frivolen Witzchen – mit der

556 GILLERT Nr. 342 (Mutian an Justus Jonas): „Haec autem sic habet me autore: iureconsultus est vir doctus et integer, optimarum legum syncerus vindex. At qui nostratia minus probant neque attingunt, illis dabitur alia finitio. Doctor iuris et gloriosus iurista est malus malis artibus maloque tum iure tum usu praeditus. Utra tibi descriptio magis arriserit, dicito.“ 557 GILLERT Nr. 530 (Mutian an Justus Jonas, 22. Juli 1515); KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 6: „In hac studiorum intermissiuncula scribe verbosius ad me, quicquid in buccam venerit, sed de bonis libris potissimum, quorum incredibili desiderio teneor.“ 558 GILLERT Nr. 547 (Mutian an Jonas, 28. November 1515): „Quid agunt familiares Petreius et Eobanus?“ 559 GILLERT Nr. 571 (Eobanus Hessus an Mutian, 1516): „Nostin’, Ionam iuvenem plane nostri ordinis? Is te mirum est, quam amat, quam unice suspiciat.“ 560 Franz I. wurde 1515 französischer König; er starb 1547. Giovanni de Medici war 1513 im Alter von 38 Jahren zum Papst Leo X. gewählt worden. 561 GILLERT Nr. 576 (Mutian an Jonas 15. Juli 1517): „Satis est nosse tres nasasos terrarum marisque regimen tenere. Est Maximo Aimiliano enormis nasus, Gallorum regi Francisco spectabilis et longus, domino papae non minimus. Tantorum, ut non inurbane iocemur, tanti nasi tanta gubernant imperia. In dubium revocatur a mulierculis, num bene nasati sunt etiam bene mentulati.“

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entsprechenden Aufforderung, den Brief nach Erhalt zu zerreißen (concerpe!) – stellt sozusagen den Ritterschlag der Aufnahme in den engsten Zirkel dar.

8.3 Rektor der Universität Erfurt REKTOR DER UNIVERSITÄT ERFURT

Während seiner Pilgerreise nach Löwen, der zweiten eines Erfurter Humanisten innerhalb zweier Jahre (vgl. Kap. XI), war Justus im Mai 1519 in absentia zum Rektor der Erfurter Universität für das Sommersemester 1519 gewählt worden. Als solcher führte er eine von einem Gremium von acht Professoren vorbereitete Reform der Hochschule im Sinne des Humanismus durch, deren Kern eine systematische und umfangreiche Pflege der lateinischen und griechischen Sprachstudien war. Zur Durchsetzung der Reform benötigte Jonas jedoch wichtige Berater und Helfer. Er fand sie in dem Gräzisten Johannes Lange, einem Freund Mutians, in dem Theologen Bartholomäus Arnoldi von Usingen (um 1465–1532) und in Eobanus Hessus selbst. Und Mutian? Er hätte doch die Möglichkeit gehabt, seine universitätspolitischen Reformvorstellungen, die er schon 1514 mit der ihm eigenen Ironie vorgetragen hatte, zu verwirklichen.562 Er schwieg jedoch, so dass sich Jonas über Mutians angeblich egoistisches Verhalten in einem bitteren Brief beklagte, einem Brief, der auf ein Kernproblem von dessen Philosophie hinwies, nämlich den Kontrast zwischen den in seinen Briefen geäußerten radikalen Ideen und seiner Weigerung, diese auch öffentlich zu vertreten, geschweige denn umzusetzen. Mutian liege in seiner Höhle, mit sich selbst unzufrieden, ohne zu wissen, wie bedeutend er sei, und je mehr er anderen helfen könne, desto weniger tue er das. Mutian habe eine eiserne Mauer um sich errichtet. Kurz: Mutian wisse nicht, was sich gehöre, klagte Jonas.563

562 GILLERT Nr. 418 (Mutian an Urban, Juli bis Mitte August 1514): „Weren genugk in der grossen schule: eyn sophist, zwene mathematici, drei theologi, IIII juristen, V medici, VI oratores, VII hebrei, VIII greci, IX gramatici, X rechtsinnige philosophi … tamquam praesides et principes totius rei literariae.“ 563 KAWERAU, Nr. 27, S. 27: Der Briefwechsel des Justus Jonas (Jonas an Johann Lang, 19. Juli 1519): „Iacet in suo antro ibi perpetuo displicens sibi, nesciens ipse, quam sit magnus, quo magis incipit posse hoc, ut prosit multis, eo minus incipit velle. Quodque magis dolendum est, ipse sibi domi concinnat et persuadet has opiniones non umquam edendum esse quicquam, subinde inducens se ipsum hoc verbo: hic murus aheneus est. … Mutianus novit, quid se deceat.“

MUTIAN EMPFIEHLT JONAS ALS JURA-PROFESSOR

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8.4 „Habemus Jonam“ – Mutian empfiehlt Jonas als Jura-Professor MUTIAN EMPFIEHLT JONAS ALS JURA-PROFESSOR

Wenn man auch im Freundeskreis des Mutian über dessen Weigerung, sich aktiv an der Universitätsreform zu beteiligen, verärgert war, seinen Ruf bei dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen als hervorragender Gelehrter hatte Mutian keineswegs eingebüßt. Als nämlich der angesehene Juraprofessor und Propst der Schlosskirche zu Wittenberg Henning Goede am 21. Januar 1521 gestorben war, bot der Kurfürst bereits drei Wochen später Mutian an, dessen Nachfolger zu werden. Falls er dazu nicht bereit wäre – er kannte Mutians Abneigung gegen Ämter –, möge er ein Gutachten für Justus Jonas, der ihm von anderer Seite empfohlen worden sei, abgeben.564 Am gleichen Tag schrieb Spalatin, der als Sekretär auch den lateinischen Brief des Kurfürsten abgefasst haben dürfte, persönlich am Rande des Wormser Reichstages an Mutian einige hastige Zeilen, in denen er seinen geliebten Lehrer aufforderte, sich für Jonas einzusetzen.565 Die Hoffnung, ihn aus seiner Gothaer tranquillitas herauszulocken, hatte Spalatin längst aufgegeben; die Einladung des Kurfürsten blieb unerwähnt, während die Bitte, ein Gutachten für Jonas zu erstellen, sein einziges Anliegen war. In seinem vierzehn Tage später verfassten Antwortschreiben an Friedrich den Weisen ging Mutian auch gar nicht auf die ehrenvolle Einladung ein, sondern platzte gleich mit einem ironischen habemus Jonam heraus.566 Was folgte, klang denn auch eigentlich nicht wie ein Empfehlungsschreiben für jemanden, der sich für eine noch zu besetzende Stelle bewarb, sondern war eine Lobeshymne auf einen Mann, der bereits zu diesen Posten ernannt zu sein schien. Nach einer deutschlandweiten Suche habe man Jonas endlich gefunden, behauptete Mutian.567 Dem tatsächlichen Sachverhalt entsprach das keineswegs. In Wirklichkeit standen nur der von Luther ursprünglich favorisierte Wittenberger Theologe Andreas Rudolf Bodenstein, der sich nach seinem Geburtsort Karlstadt nannte, und Jonas, dem Spalatin den Vorzug gab, zur Auswahl.568 Als Theologe, als Jurist und als ein Mann untadeligen Charakters könne Jonas nicht genug gelobt 564 GILLERT Nr. 601 (Friedrich der Weise an Mutian, 12. Februar 1521): „Verum si adeo in conservanda tranquillitate beata perseveras, hoc saltem nobis praesta, ut praemonstres et veluti precas, quem recte et utiliter praepositorae Vvittenbergensi praeficiamus et quem speres et usu et honori futurum Divorum omnium templum et academiae nostrae divino muneri non incelebri. Et quia nobis commendatus a nonullis.“ 565 GILLERT Nr. 602 (Spalatin an Mutian, 12. Februar 1521): „preaceptor amantissimus“. 566 GILLERT Nr. 603 (Mutian an Friedrich den Weisen, 1. März 1521). Dass Mutian die bei der Papstwahl gebrauchte Formel „Habemus papam“ ironisierte, scheint mir offensichtlich. 567 GILLERT Nr. 603 (Mutian an Friedrich den Weisen): „Talis successor Henningi ubique in omni Germania quaerendus erat.“ 568 HÖSS, Spalatin, S. 203 f.; WA Br, 2, Nr. 370 (vom 22. Januar 1521).

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werden, schrieb Mutian. Bei seinen Predigten seien die Kirchen immer brechend voll, bei seinen Studenten sei er so beliebt, dass regelmäßig 600 in seinen Vorlesungen zu seinen Füßen säßen. Dem Generalvikar der Augustinereremiten Johann von Staupitz sei er bekannt, Luther teuer. Wittenberg liebe er seit seinem Studium, ein Ortswechsel sei also kein Problem. Zweifellos werden die Menschen zusammenströmen, fuhr Mutian fort, um den Prediger Christi zu hören wie einen zweiten Luther. Ja, man solle Gott danken, dass es einen solchen Mann, der eines Bischofssitzes würdig sei, gebe. Als möglichen Nachfolger habe er auch an Erasmus gedacht, aber dieser schreibe ja nur, während Jonas mit seiner kraftvollen Stimme allen nütze.569 Jonas erhielt den Posten. Wieder einmal hatte das von Mutian gesponnene Netzwerk funktioniert.570

8.5 Jonas wird Lutheraner JONAS WIRD LUTHERANER

Der von Mutian hoch geachtete Wissenschaftler, aber als öffentlicher, charismatischer Redner weniger geschätzte Erasmus hatte 1519 einem Brief an Jonas geschrieben. Darin riet er diesem, von der Rechtswissenschaft – Jonas war ja seit 1518 Professor an der Juristischen Fakultät in Erfurt – zur Theologie zu wechseln, zu einer Theologie freilich, wie er sie verstand: Obwohl ich voraussetze, schrieb Erasmus, dass Du Dich selbst kennst, glaube ich dennoch, dass es angebracht ist, Dich zu ermahnen, das Gott Dich nicht zur Behandlung schmutziger Rechtshändel, sondern als ein auserwähltes Instrument zur Verherrlichung des Ruhmes seines Sohnes bestimmt hat, dass Du die Liebe der Menschen zu dessen Studium anfachst, und alle Deine Kräfte diesem Beruf zuwendest, solange der Körper die Mühe erträgt und der Geist frisch ist.571

569 GILLERT Nr. 603 (Mutian an Friedrich den Weisen): „Ita theologiae consultus, ita iurisperitus, ita moribus sanctis, ut laudari promerito nunquam possit. In sacris contionibus ad populum ea est autoritate, ut plenis templis audiatur, ea celebritate apud studiosos, ut sexcentos habeat auditores. Notissimus reverendo patri Stupitio, charissimus divino Martino. Quid multis? Vvittembergae diu studuit, Vuittembergam amat et libens mutabit sedem Erphordianam demigraturus ad Vuittembergenses canonicos, quam primum favori et gratiae tuae placuerit. Tale ornamentum chori et scholae summa cum electione accipient doctores et studentes. Fiet, certo scio, ingens concursus plebis ad audiendum praedicatorem Christi velut alterum Lutherum. Gratias ago Domino Deo, qui nobis, imo tuae sublimitati talem virum dedit dignum quovis episcopatu. Cogitabam de Erasmo, sed Erasmus tantum scribit. Hic noster Ionas viva voce prodest omnibus.“ 570 Im August 1521 gratulierte ihm Mutian, dass er zum Doktor der Theologie ernannt worden war. GILLERT Nr. 609 (Mutian an Jonas, 29. August 1521). 571 ALLEN, III, Nr. 985; KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 24: „Quamquam arbitror te tibi non ignotum esse, tamen visum est admonere, ut quando Deus te

JONAS WIRD LUTHERANER

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Tatsächlich wandte sich Jonas in diesen Jahren der Theologie zu und wurde schon 1521 zum Dr. der Theologie promoviert. Es ist freilich nicht Ironie, dass dieser von Erasmus zum Theologiestudium gedrängte Jonas in wenigen Jahren zu einem der markantesten Vertreter der lutherischen Theologie werden sollte. Der Übergang vom Theologen erasmischer Prägung im Sinne einer philosophia Christi zu einem glühenden Lutheraner war allerdings graduell und nicht untypisch für eine Reihe anderer deutscher Humanisten. Noch 1519 hatte Jonas in der Leipziger Disputation zwischen Luther und Johannes Eck lediglich einen Angriff Ecks auf seinen bewunderten Erasmus gesehen hatte – und damit die theologische Bedeutung dieses Ereignisses verkannt.572 Zwei Jahre später, am 6. April 1521, als Luther von der Universität in Erfurt begeistert empfangen worden war, war es Jonas, der den rebellischen Mönch demonstrativ zum Reichstag in Worms begleitete und damit öffentlich seinen Schulterschluss mit ihm demonstrierte. Nach Luthers Widerrufsverweigerung auf dem Wormser Reichstag versuchte Erasmus vergeblich, Jonas davon abzubringen, sich Luther anzuschließen (was natürlich längst geschehen war) und ihn für eine Reform im Einverständnis mit Papst und Kaiser zu gewinnen. In einem sehr langen Brief vom 10. Mai 1521 drängte er den Erfurter Freund außerdem, wenigstens mäßigend auf Luther einzuwirken. Ihm ging es nicht so sehr um theologische Fragen – er gibt zu, dass er Luthers Schriften nur auszugsweise gelesen habe573 –, sondern er beklagte die aggressive Sprache, die schonungslose und öffentlich geäußerte Kritik, die zu offenem Aufruhr führen könne. An zahllosen Beispielen aus der Kirchen- und Philosophiegeschichte versuchte Erasmus zu belegen, dass diese Kritik auch auf schonendere Art geäußert werden könne. Adressat dieser Vorbehalte war aber nicht nur Jonas, sondern auch andere Humanisten in Erfurt und Wittenberg;574 denn letztlich ging es Erasmus darum, auch diese Humanisten vor einer Unterstützung Luthers zu warnen. Nur indirekt kritisierte Erasmus Luthers Vorgehen in einem zweiten, einen Monat später geschriebenen Brief, non agitandis sordidis causis destinasse, sed velut organum quoddam electum finxisse videtur ad illustrandum filii sui Iesu gloriam, ad mortalium animos in huius studium inflammandos, ad hanc omnium saluberrimam functionem omnia tua studia conferas, idque mature, dum corpus laborum patiens, dum viget animus.“ 572 KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 27 (Jonas an Johann Lang, 19. Juli 1519): „Male me habet, inquis, Eccium illum eo processisse impudentiae, imo furoris et insaniae, ut nec sycophantiis suis in insectando illo sine controversia clarissimi Erasmi nomine temperet.“ 573 ALLEN, IV, Nr. 1202, S. 487: „Lutheri libros hactenus non vacauit legere, sed ex his quae degustavi, quaeque recitantibus aliis nonnumquam obiter hausi quanquam de veritate sententiarum quas adferebat fortasse non erat meae mediocritatis pronunciare, certe modus et ratio negocii aggrediendi mihi neuterquam probabatur.“ 574 ALLEN, IV, Nr. 1202, S. 493: „Haec quae tecum nunc ago, mi Iona, velim agas cum Philippo [Melanchthon], aut si qui alii Philippo similes.“

VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

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denn es handelt sich darin um das literarische Porträt zweier Männer, des reformfreudigen französischen Franziskaners Jean Vitrier und des englischen Theologen John Colet, die trotz aller Kritik an der Kirche, anders als Luther, so lautete die unausgesprocheme Botschaft, am alten Glauben festgehalten hätten.575 Der endgültige Bruch mit Erasmus folgte allerdings erst im Jahre 1527, zwei Jahre nach dem Streit über den freien Willen zwischen Luther und Erasmus, als Erasmus Jonas einen „arroganten Gecken“ und Jonas den Holländer „eine Giftschlange“ nannte. Und Jonas? Obwohl er ab 1521 im Herzen der lutherischen Bewegung wirkte, beteiligte er sich nicht an den Ausgrenzungsbemühungen seiner Wittenberger Kollegen gegenüber Mutian. Im Gegenteil. Als Mutian 1526 starb, drängte er seinen alten Freund Hessus, ein Werk über den verehrten Lehrer zu verfassen. Keiner kenne doch besser dessen Gelehrsamkeit und Verdienste.576

9.

Johannes Lange – Humanist und Reformator

JOHANNES LANGE

Mutian lernte den Augustinermönch und späteren Reformator Erfurts Johannes Lange erst relativ spät kennen. Der erste der insgesamt neunzehn erhaltenen Briefe, die er zwischen 1515 und 1521 an Lange schrieb,577 erweckt den Eindruck, dass er den Adressaten als einen etwa gleichaltrigen, hochgebildeten, im Griechischen ihm weit überlegenen Kollegen schätzte, mit dem er sich auf Augenhöhe wissenschaftlich austauschte, und nicht wie einen jener deutlich jüngeren „Schüler“, mit denen sich er sich seit seiner Rückkehr aus Italien umgeben hatte. Der Eindruck täuscht; denn Lange war fast fünfzehn Jahre jünger als Mutian und gehörte also in Wahrheit zur Generation eines Peter Eberbach, Crotus Rubeanus, Eobanus Hessus, Heinrich Urbanus, Herebord von der Marthen und Georg Spalatin.578 Die falsche Vorstellung konnte nur deshalb 575 ALLEN, IV, Nr. 1211. 576 KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 121, S. 117 (Jonas an Eoban Hessus, 1527 oder 1528): „Quare te denuo et obsecro et obtestor per Musas et Gratias, doctissime atque optimi herois manibus, quod debes ut praestes. Neque porro opus arbitror esse ad id negocii multis te argumentis stimulisque incitare, quod si mortalium cuiquam, certe tibi notissima et eruditio et virtus eius viri est.“ 577 GILLERT Nr. 491, 561, 563, 566, 567, 568, 569, 570, 574, 575, 577, 582, 585, 589, 590, 594, 599, 605, 606. 578 Peter Eberbach *1480; Crotus Rubeanus *1480, Herebord von der Marthen *1480; Spalatin *1484, Eobanus Hessus *1488. Literatur zu Lange: BURGDORF, Johann Lange – der Reformator Erfurts; KALKOFF, Humanismus und Reformation in Erfurt; JUNGHANS, Der junge Luther und die Humanisten, passim; KRAPP, Erfurter Humanismus, 94 ff.; BRECHER, Lange, Johannes, in: ADB, 17, S. 635–637; BURGDORF, Der Einfluß

MUTIAN UND LANGE

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entstehen, weil Mutian Lange wohl erst kennen lernte, als dieser bereits trotz seines noch immer jugendlichen Alters von damals 28 Jahren ein anerkannter und geschätzter Gräzist war.

9.1 Mutian und Lange MUTIAN UND LANGE

Der 1486/87 in Erfurt geborene Lange hatte sich bereits mit dreizehn Jahren an der Universität seiner Vaterstadt immatrikuliert579 und unter Nikolaus Marschalk die ersten Anfänge des Griechischen gelernt. Er hielt sich auch noch in Erfurt auf, als sich Mutian nach seiner Rückkehr aus Italien in Gotha niederließ und zwischen 1505 und 1506 damit begann, gleichgesinnte junge Männer um sich zu sammeln. Dass sich aber schon zu dieser Zeit Kontakte zwischen Mutian und Lange ergeben hätten, ist äußerst fraglich; denn gerade zu dieser Zeit trat Lange 1505 oder 1506 in das Augustinereremitenkloster in Erfurt ein, also kurz nachdem sich Martin Luther am 17. Juli 1505 dahin zurückgezogen hatte. 1508 wurde Lange zum Priester geweiht und 1511 holte ihn Luther nach Wittenberg, wo er die Magisterprüfung der Philosophischen Fakultät ablegte, ein Jahr später eine außerordentliche Lektur für Moralphilosophie erhielt und über die Nikomachische Ethik des Aristoteles las. Wenn sich auch Lange relativ spät mit Mutian anfreundete, so hatte er doch schon lange durch seine Freundschaften mit anderen Sodalen des Kreises indirekten Kontakt mit Mutian; denn einige von den Freunden Mutians wie Peter Eberbach, Crotus Rubeanus (damals noch Johannes Venatorius), Georg Spalatin und Herebord von der Marthen, kannten Lange schon von ihren gemeinsamen Studien unter Marschalk. Eberbach durfte ihm sogar noch besuchen, als dieser 1505/06 ins Erfurter Kloster eingetreten war, da das Erbbegräbnis seiner Familie sich auf dessen Friedhof befand. Später nahmen Eobanus Hessus und Justus Jonas bei Lange Griechischunterricht. Auch mit Spalatin blieb er zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden.580 Er war also auf vielfältige Weise mit dem Mutian-Kreis vernetzt. Obwohl Mutian ihn also nicht wie die anderen „Schüler“ in persönlicher und wissenschaftlicher Entwicklung begleitet und geprägt hatte, entwickelte sich spätestens

der Erfurter Humanisten auf Luthers Entwicklung bis 1510; STUPPERICH, Lang(e), Johannes, in: NDB, 13, S. 540 f.; KLEINEIDAM, Lang, Johann, in: CoE 2, S. 287–289; SCRIBNER, The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt, bes. S. 14 ff.; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 306–308; KILLY, 7, 134 ff. 579 SCHWINGES/WRIEDT, Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt, 261, Frühjahr 1503, Nr. 12, Johannes Lang Erffordensis. 1. WR 1500, II 218a, 22. 580 So existieren drei Briefe des Eobanus Hessus an ihn, vier des Spalatin und einer des Euricius Cordus: HERING, Epistolae Langianae, Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10, 12.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

seit 1515 ein reger Gedankenaustausch zwischen beiden Männern, und Mutian hat ihn stets zu seinem ordo gerechnet.581 Zu einem ersten brieflichen Kontakt zwischen Mutian und Lange kam es aber erst, als Luther in Begleitung von Johannes Lange zu einer Versammlung seines Ordens nach Gotha gekommen war und bei dieser Gelegenheit eine Predigt gehalten hatte.582 Von dieser muss Mutian gehört haben, denn in einem nicht erhaltenen Brief fragte er, wer wohl der leidenschaftliche Prediger gewesen sei, der am Vortage so eifrig gegen die Unmoral der Mönche gewettert habe. Bevor Lange die Frage beantwortete, spendete er zunächst Mutians Briefstil Lob. Seine Briefe seien latinissimae, d.h. dem Geist der lateinischen Sprache angemessen, und dufteten nach feinem Humor und seien gemischt mit wertvollem Zitronenholz, d.h. sie seien etwas ganz Edles. Was nun den hitzigen Redner angehe, so handele es sich um Doktor Martinus, mit dem er, Lange, in Erfurt sehr vertraut zusammengelebt habe. Dieser habe ihn zwar früher in den humanistischen Studien geholfen, aber rhetorischen Glanz dürfe man weder von Luther noch von ihm selbst erwarten. So sehr seien sie beide in Wittenberg von ihrer Lehrtätigkeit in Anspruch genommen, dass sie kaum Zeit zum Atmen hätten.583 Als Zeuge für die Hochachtung Luthers rief er Spalatin auf, von dem Lange wusste, dass Mutian ihn seit seiner Jugend gefördert hatte, wie einen Sohn liebte und auf dessen Meinung er Wert legte.584

581 Zum Beispiel in GILLERT Nr. 575 (Mutian an Lange, 15. Mai 1517): „Iterum vale et ama Petreium et doctos nostri ordinis.“ (Unterstreichung vom Autor) 582 Mutian hatte von Lange bereits schon seit spätestens 1513 gehört, worauf ein Brief Mutians an Urban aus dem Jahre 1513 deutet (GILLERT Nr. 311, Mutian an Urban, August 1513): „Si Langius ante tris menses scripsit de futatione culpabili, profecto nugas egit.“ 583 GILLERT Nr. 490 (Johannes Lange an Mutian, 2. Mai 1515): „… quae [literae] sunt et latinissimae et citreum leporem commistum olent. De acri illo oratore rogas, qui hesterno die in fratrum sanctulorum mores invectus est. Is doctor Martinus est, quocum Erfurti perquam familiariter vixi, nec parum auxilii bonis in literis olim mihi attulit. … Dictionem eius fuco vacantem (quem ex industria fugit) mitto una cum nostra. Demosthenis autem lucernam in neutra reperies, quippe quod nostrum uterque lectionibus Wittenburgi adeo disturbatur, ut vix respirare liceat.“ BURGDORF (Der Einfluß der Erfurter Humanisten auf Luthers Entwicklung bis 1510) argumentiert überzeugend, dass Luther und Lang sich schon vor dem Klostereintritt gekannt haben mussten, und dass der etwas ältere Luther ihm auf dem Gebiete der Klassiker und möglicherweise bei den Anfängen des Hebräischen geholfen habe. (S. 57) 584 GILLERT Nr. 490: „Eum ipsum Apollinem Spalatinus noster veneraturque et consulit.“

BEGEISTERUNG FÜR HUMANISTISCHE STUDIEN

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9.2 Begeisterung für humanistische Studien BEGEISTERUNG FÜR HUMANISTISCHE STUDIEN

Mutians Briefe an Johannes Lange besitzen weder die Intimität seiner Briefe an Urban noch den freimütigen ketzerischen Ton der an Herebord von der Marthen gerichteten Schreiben. Vergeblich sucht man in ihnen auch den Witz und Humor der Briefe an Eobanus Hessus und Peter Eberbach oder die väterlichen Ratschläge für Spalatin. Sie sind kühler und sachorientierter. Meist geht es um genuin humanistische Themen: Besprechungen humanistischer Neuerscheinungen, die bemerkenswerte Bibliothek Langes, die Ablehnung der Scholastiker und die anfängliche beiderseitige Verehrung des Erasmus von Rotterdam. Als Verbeugung vor dem Gräzisten Lange flocht Mutian gelegentlich griechische Zitate in seine Briefe. Im Gegenzug bedachte ihn einmal Lange mit einem (nicht erhaltenen) Brief auf Griechisch.585 Einige der mutianischen Briefe sind regelrechte Rezensionen von Neuveröffentlichungen. So weitete sich seine Besprechung der Musicae institutiones (Strassburg 1515) des Othmar Nachtigall (1487–1537) zu einem gelehrten Abriss der Instrumentalmusik bei den Griechen und Römern aus.586 Ebenso ausführlich äußerte sich Mutian 1520 über das historische Werk des humanistischen Historikers Franciscus Irenicus (1494/95–1553), Germaniae Exegesis (Nürnberg 1518), um dessen Beurteilung ihn Lange gebeten hatte.587 In einem anderen Brief erörterte er die literaturtheoretische Frage, ob man als christlicher Dichter biblische Themen poetisch behandeln könne; konkret ging es darum, ob Hessus berechtigt war, Christi Höllenfahrt als Poem darzustellen, oder mutianisch ausgedrückt, eine heilige Sache mit Lockenwicklern zu frisieren. Mutians Antwort war klar und eindeutig: Selbstverständlich dürfe man das; schließlich hätten die Evangelisten auch mit Metaphern und poetischen Bildern gearbeitet.588 Um Reuchlins kabbalistische Arbeiten, die zu studieren Mutian sich als Freund des großen Hebraisten verpflichtet gefühlt hatte, ging es in einem anderen Brief. Auf deren Wert antwortete der Rationalist Mutian mit einem ironischen Dominus vobiscum. Pax vobis!, um sie dann noch mit einem im Deutschen nicht wiederzugebenden 585 GILLERT Nr. 589 (Mutian an Lange, 15. Mai 1520): „Epistola tua graeca.“ 586 GILLERT Nr. 563 (Mutian an Lange, 13. Juni 1516). 587 GILLERT Nr. 594 (Mutian an Lange, 1. Juli 1520): „Sunt enim haec tua verba: Historicum mittimus tuum de hoc iudicium requirentes [verba].“ Dazu: HORAWITZ, Nationale Geschichtsschreibung im sechzehnten Jahrhundert; JOACHIMSEN, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, S. 169–183. Zu Irenicus: MÜLLER/WORSTBROCK, Irenicus, Franciscus, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, bes. Sp. 1247 ff. 588 GILLERT Nr. 574 (Mutian an Lange, April 1517): „Si licet eiusmodi calamistris inurere rem sacram, et laudem meruit Eobanus et orthodoxae plebi profuit. Sed non video, cur non liceat: cum evangelistae metaphoris et poetarum floribus gaudeant.“

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Wortspiel über caballus und Kabalistik zu bespötteln. Solche merkwürdigen und verborgenen Dinge zu untersuchen, schadet und wird der einfachen Meinung schaden.589 Ein weiterer Gegenstand der Korrespondenz war die überaus reiche Bibliothek Langes. In den bis an die Decke reichenden Regalen Deiner Bibliothek schlafen 600 … Griechen, nein sie wachen und halten Dich durch ihr Schwatzen wach.590 Ja, einige der Bücher hätten von sich aus den Wunsch gehegt, sich auf den Weg zu ihm zu machen.591 Bei einer anderen Gelegenheit versah er eine Weinsendung mit der nicht ganz uneigennützigen Ermahnung, in dem Eifer für seine Büchererwerbungen nicht nachzulassen – nicht ganz uneigennützig, weil Mutian sich häufig Bücher aus dieser Bibliothek auslieh.592 Als er sich einmal für einen Besuch bei Lange ankündigte, legte er gleich den geplanten Gesprächsstoff fest. Ohne sich bei Nebensächlichkeiten aufzuhalten, bestimmte er: Hauptgegenstand unserer Unterredung wird die Bibliothek sein, und dann überschüttete er den bibliophilen Gastgeber gleich mit Fragen: Was druckt man in Wittenberg? Was in Leipzig? Was Frobenius? Was Anselm? Was kann man kaufen? Was besitzt Du bereits? Was erwartest Du?593 Seine bekannte eigene Ungeduld gegenüber den lästigen Verpflichtungen eines Chorherrn, die ihm von der Lektüre abhalten, projizierte er bedenkenlos auf Lange: Muße hast Du ja wohl genug [zum Studium], obwohl der Psalmengesang immer dazwischenkreischt.594 Trotz des angeblich die literarische Muße störenden Psalmengesanges hatte Lange zur großen Freude Mutians 1515 genügend Zeit gefunden, einige Briefe des von den Humanisten sehr geschätzten Kirchenvaters Hieronymus heraus589 GILLERT Nr. 575 (Mutian an Lange, 15. Mai 1517): „Ego cabalistica lego. Sed dum Capnioni nostro damus operam, cogimur interea pythagorissare. Itaque sufficit illa gemina Simonis salutatio: „Dominus vobiscum. Pax vobiscum.“ Illud addo, ne festo tuo desit festivum dictum – est enim perendie templi vestri natalis dies – fore ut pro cabalicis, cabaleis, et cabalistis nascantur meri caballi et novus scaturiat fons caballinus. Nocet enim nocebitque opinionem simplicitati tam curiosa, tam abdita.“ 590 GILLERT Nr. 567 (Mutian an Lange, 1. Januar 1516): „Surrigit … parietaria cubiculi bibliotheca et ita sublimis apparet, ut tectum contingat. In ea sexcenti … graeculi dormiunt, imo vigilant teque suo more garriendo fatigant.“ 591 GILLERT Nr. 568 (Mutian an Lang, 1. Dezember 1516): „Nuper (ut accepi) deambulare et ad me proficisci cupiebant.“ 592 GILLERT Nr. 577 (Mutian an Lange, Sommer 1517): „Perge, amabo, illustrem comparare bibliothecam faventibus propitiis numinibus, quae hanc curam dextro respiciunt oculo.“ 593 GILLERT Nr. 585 (Mutian an Lange, 1517–1518): „Caput confabulationis erit bibliotheca: „Quid imprimit Vuittenberga? Quid Lipsis? Quid Frobenius? Quid Anselmus? Quid venale? Quid habes? Quid expectas?“ Weiteres Rühmen der Lang’schen Bibliothek in GILLERT Nr. 594. 594 GILLERT 577 (Mutian an Lange, Sommer 1517): „Non deest otium, quanquam psalliani interstrepunt.“

LANGES HINWENDUNG ZU LUTHER

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zugeben.595 In seiner Widmung dieser Ausgabe griff Lange die drei scholastischen Hauptrichtungen, die in Wittenberg vertreten waren, rücksichtslos an.596 Es gebe in Wittenberg Leute, die außer William of Occam, Duns Scotus und Capreolus [Thomas von Aquin] nichts anderes lesen und zuließen, sodass diese scholastischen Theologen höheres Ansehen genießen als Augustinus, Ambrosius und eben Hieronymus.

9.3 Langes Hinwendung zu Luther LANGES HINWENDUNG ZU LUTHER

Während der Erfurter Erasmuskult, zunächst befördert durch Mutian und auch Lange selbst,597 mit „Pilgerfahrten“ des Hessus (1518) und Justus Jonas (1519) nach Löwen seinen Höhepunkt erreichte, begannen sich bei Lange unter dem Einfluss seines Freundes Luther Zweifel an Erasmus’ Position zu regen (vgl. Kap. XII), sodass seit etwa 1517 mindestens bei Luther und Lange der allgemeinen Erasmus-Begeisterung der Erfurter eine gewisse Skepsis gewichen war. Der letzte Brief Mutians an Lange stammte aus dem Jahre 1521. Es ist eine Klage über die streitbaren lutherischen Geister, die keine Rücksicht auf seine Stellung nähmen: Türen werden mit Steinen zertrümmert, Fenster eingeworfen. Wir leben mitten in der Barbarei. Ich wäre töricht, wenn ich mit den wütenden Lutheranern fühlte.598 In seiner Verurteilung der Lutheraner differenzierte Mutian allerdings zwischen den mali und boni lutherani. Die guten Lutheraner mögen ihm seine Wut verzeihen. Er bescheinigte ihnen Güte und Klugheit und versicherte ihnen, dass er trotzdem zu ihnen gehöre.599 Aber natürlich gehörte er nicht dazu: Man ignorierte ihn, wenn man ihn nicht offen oder hinter seinem Rücken befeindete. Ab 1521 existieren weder Briefe Mutians an Lange noch solche von Lange an Mutian. Die Begeisterung für die lateinische und griechische Literatur und für eine neue, auf den Kirchenvätern und der Bibel fußende Theologie, die sie einst zusammengeführt hatte, genügte nicht mehr.

595 596 597 598

Wittenburgi in aedibus Joan. Grunenbergo, 1515. BAUCH, Die Universität Erfurt im Zeitalter des Frühhumanismus, S. 159. Vgl. SCRIBNER, Erasmians and the Reformation in Erfurt, S. 15. GILLERT Nr. 606 (Mutian an Lange, nach dem 13. Juni 1521): „Ianuae saxis ceduntur, fenestrae deturbantur. Spiramus in media barbarie. Stultus sum, si profitear hic me sentire cum saeventibus Lutheranis.“ 599 GILLERT Nr. 605 (Mutian an Johannes Lange, 13. Juni 1521): „Quare mihi ignoscant boni Lutherani. Attestor vestram bonitatem atque prudentiam. Ego sum vester.“

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Lange verließ 1522 das Kloster, zwei Jahre später heiratete er eine begüterte Witwe. In den nächsten Jahren sollte er einer der wichtigsten Mitarbeiter Luthers600 und der Reformator Erfurts werden, eine Aufgabe, für die er besonders viel Geschick und Mut brauchte, da die Stadt, bedingt durch ihre prekäre politische Lage zwischen Kurmainz und Kursachsen, zwischen Altgläubigkeit und Reformation schwankte. Im Jahre 1525 führte er die einheitliche evangelische Kirchendienstordnung ein. Kurz vor seinem Tode sollte er noch die Gräuel des Schmalkaldischen Krieges erleben. Er starb zwei Jahre nach Luther. Im Jahre 1515 hatte Urban Johannes Lange um dessen Freundschaft gebeten und hoffnungsvoll hinzugefügt: Die Strenge der Religion wird uns niemals von den humanistischen Studien und der gegenseitigen Liebe abbringen.601 Wenigstens im Falle Mutians und Langes war das eine zu optimistische Hoffnung gewesen.

10. Ulrich von Hutten: Ritter – Humanist – Publizist ULRICH VON HUTTEN

Hitzig und leidenschaftlich ist Ulrich von Hutten, gleichzeitig ist er ein großer Dichter; er ist aber so, dass er durch die geringfügigste Äußerung gereizt werden kann. Verschonen sollen mich derartige Geister.602

Mutians Urteil aus dem Jahre 1515 war ambivalent: Einerseits schätzte er Hutten als einen begabten Dichter, andererseits fühlte sich der Vertreter der beata tranquillitas von dessen impulsivem und aufbrausendem Temperament abgestoßen. In späteren Jahren gingen die Ressentiments Mutians gegenüber Hutten so weit, dass er sich gelegentlich sogar weigerte, dessen Briefe überhaupt zu lesen, geschweige denn zu beantworten.603 In der Tat kann man sich keinen größeren Kontrast vorstellen als den zwischen dem kontaktscheuen, sich in den Elfenbeinturm seiner wissenschaftlichen Studien einschließenden, bescheidenen Mutian und dem unruhigen, streitbaren und lebenshungrigen Ritterssohn Ulrich von Hutten. Beide verkörperten als Vertreter einer vita contemplativa und einer vita activa auf extreme Weise die unter600 Allein zwischen 1516 und 1522 schrieb Luther über 40 Briefe an Lange. Vgl. WA BW, I und II. 601 GILLERT Nr. 491a (Urban an Lange, 4. Mai 1515): „Neque unquam religionis austeritas a politioribus literis nos removebit et amore mutuo.“ 602 GILLERT Nr. 543 (Mutian an Urban, nach dem 18. September 1515): „Acer et vehemens Ulricus Huttenus et magnus poeta, sed talis, ut levissimo dicto irritari possit. Parcant mihi ista ingenia.“ 603 GILLERT Nr. 571 (Eobanus Hessus an Mutian, 1516): „Cuius [Hutteni] epistolam, quoniam superiore tempore, cum ex Georgianis Vallibus ad te divertissem, legere non voluisti.“

ULRICH VON HUTTEN

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schiedlichen Ausprägungen innerhalb des deutschen Humanismus (vgl. Kap. V). In seinem berühmten Brief an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer vom 25. Oktober 1518 widersprach Hutten heftig dessen Aufforderung, seine Zeit nicht an einem Fürstenhof zu vergeuden, sondern sich ganz den literarischen Studien zu widmen.604 Des Nürnberger Humanisten Einwand, er habe doch während seines 12-jährigen Wanderlebens genug erlebt, entkräftete er mit dem Argument, dass er mehr Erfahrung brauche, denn welche Geschichten soll ich dann erzählen, über welche Dinge reden, wenn ich gar nichts erfahren habe?605 Lasst die Glut sich abkühlen, fuhr er fort, meinen unruhigen und beweglichen Geist etwas ermüden, bevor er jene Ruhe verdient, zu der Du mich, wie es scheint, vor der Zeit, mahnst.606 Und dann kommt Hutten auf den Kern seines Wesens zu sprechen: Du kennst auch meine Natur nicht, wenn Du mich aus dem menschlichen Verkehr entfernen zu können vermeinst, einen Menschen, der bei aller Befähigung für die Studien dabei doch vor keinem ehrenwerten Umgang und Verkehr, zuweilen auch der Gesellschaft Andersdenkender [dissimilium] zurückschreckt.607

Das Bedürfnis, die Welt kennen zu lernen und sich mit ihr einzulassen – das ist der eigentliche Motor von Huttens Handeln. Es ist die unabdingbare Voraussetzung seines Wunsches nach Selbstverwirklichung. Darin unterschied er sich von vielen deutschen Humanisten seiner Zeit, am radikalsten von Mutian. Trotzdem: Beide, Mutian und Hutten, die sich spätestens seit 1506 persönlich kannten, waren mit ganzem Herzen Humanisten, jeder auf seine Art, beide engagierten sich im Kampf gegen die Reuchlinfeinde: Mutian, indem er seine Freunde mobilisierte (vgl. Kap. IX), Hutten, indem er selbst sich publizistisch betätigte, etwa durch sein Gedicht Triumphus Reuchlini und den zweiten Teil der Epistolae obscurorum virorum. Beide waren sich auch in ihrer Verehrung für Erasmus einig. Was schließlich zur Entfremdung führte, waren nicht nur ihre ungleichen 604 BÖCKING, I, S. 195–217, hier S. 195: „Nam quod in umbram me tam cito, et ad sedentarium illud studium vocas, nescio, an naturae ibi meae rationem habeas, aut aetatem an respicias, quae illam non capit quietem: an ego possem hoc aetatis intra quatuor parietes latere et priusquam expertus essem istas mundi turbas, istos olfecissem tumultus, in hos me secessus, hoc tranquillum recondere?“ Übersetzung von UKENA, Deutsche Schriften, S. 317. 605 BÖCKING, I, S. 196: „… quas fabulas, quibus de rebus, tam nihil expertus miscebo?“ UKENA, Deutsche Schriften, S. 318. 606 BÖCKING, I, S. 201: „Sine defervere hunc ardorem, animum irrequietum et versatilem parumper delassari, dum istam mereatur quietem, ad quam me ante tempus, ut videtur, exhortaris.“ UKENA, Deutsche Schriften, S. 323. 607 BÖCKING, I, S. 196: „Porro naturam meam haud nosti, ab hominum conversatione si me secorsum degere posse arbitraris, hominem ita bonarum disciplinarum studiis aptum, ut a nulla tamen interim honestae consuetudinis frequentia aut sodalitiis, etiam a dissimilium aliquantum conventibus abhorream.“ UKENA, Deutsche Schriften, S. 318.

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Temperamente, sondern auch ihre unterschiedlichen Reaktionen auf die lutherische Reform. Während Mutian nach anfänglicher Zustimmung für „Bruder Martin“ zu diesem auf eine kritische Distanz ging, kämpfte der streitbare Hutten mit allen ihm verfügbaren Mitteln auf Lateinisch, Deutsch und schließlich sogar mit Waffengewalt für die reformatorische Sache, wenn er auch nach eigenem Eingeständnis andere Ziele als Martin Luther verfolgte.608 Den Unterschied zwischen beiden dürfte auch ein kurzer vergleichender Blick auf ihre Biographien verdeutlichen. Während man Mutians Lebensstationen in vier kurzen Stichworten zusammenfassen könnte – Besuch der Schule in Deventer, Studium in Erfurt, 7-jähriger Italienaufenthalt, etwa 20 Jahre als Kanoniker in Gotha –, bedarf selbst die dürrste Skizze von Huttens bewegtem Leben mehrerer Seiten. Ulrich von Hutten (1488–1523) stammte aus einer reichsritterschaftlichen Familie.609 Als er elf Jahre alt war, also 1499, übergaben ihn seine Eltern der Stiftsschule der alten Reichsabtei Fulda, nicht nur zum Besuch der Schule, sondern mit dem fürsatz ich solt darinn verharren vnd eyn münich seyn.610 Der schwächliche, zum ritterlichen Militärdienst kaum taugliche Ulrich sollte also nach dem Willen des Vaters später eine geistliche Laufbahn einschlagen. Im Jahre 1503 verließ er das Kloster611 und begab sich zum zweijährigen Normstudium, dem sogenannten biennium studii, an die nächstgelegene Hochschule, die Universität Erfurt.612 Als Mentor stellte man ihm den acht Jahre älteren Johannes Jäger (Crotus Rubeanus) zur Seite. In Erfurt erwarb Hutten nicht nur die notwendigen sprachlichen Grundlagen, sondern traf durch Vermittlung von Crotus auch auf eine Gruppe von jungen Männern, die den Kern des mutianischen Kreises bilden sollten. Neben Crotus Rubeanus und Eobanus Hessus waren dies Georg Spalatin und die beiden Brüder Peter und Heinrich Eberbach. Möglicherweise begegnete er auch schon Mutian zu dieser Zeit. Man kann also den Erfurter Aufenthalt durchaus als Schlüsselerlebnis bezeichnen; denn die Gemeinschaft, 608 BÖCKING, II, S. 55 (Hutten an Luther, 17. April 1521): „Sed in eo differunt utriusque consilia, quod mea humana sunt, tu perfectior iam totus ex divinis dependes.“ 609 Die umfangreiche Literatur zuletzt ausführlich aufgeführt in: JAUMANN, Hutten, Ulrich von, in: Deutscher Humanismus 1480–1520, Verfasserlexikon, Bd. 1, Sp. 1185–1237, Literatur in Sp.1232–1237. Vgl. auch BERNSTEIN, Ulrich von Hutten. Aus diesem Buch werden auch einzelne Formulierungen übernommen, ohne dass diese extra gekennzeichnet werden. 610 BÖCKING, II, S. 145: „Hutten Entschuldigung wider etlicher unwarheit auszgeben.“ 611 Lange glaubte man im Anschluss an STRAUSS (Ulrich von Hutten), den großen HuttenBiographen des 19. Jahrhunderts, dass Hutten unter dramatischen Umständen mit Hilfe seine Freundes Johannes Jäger, dem späteren Crotus Rubeanus, dem Kloster entflohen sei. Inzwischen ist diese Version als romantische Legende verworfen worden. 612 GRIMM, Ulrich von Hutten, S. 32.

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auf die er hier stieß, verkörperte eine andere Gedankenwelt als die des Klosters, die freiere, sich an den antiken Vorbildern orientierende Welt des Humanismus. Gegen den Willen des Vaters kehrte Hutten aber 1505 nicht in das Kloster zurück, sondern begann ein unstetes Leben und zog von Universität zu Universität. Das Sommersemester 1505 verbrachte er an der Universität Mainz, dann schrieb er sich ebenso wie Crotus Rubeanus für das Wintersemester 1505/06 an der Universität Köln ein, verließ diese aber bereits im Frühjahr 1506. Über Erfurt, wo er sich aber nur kurz aufgehalten haben kann und wo er alte Freundschaften erneuerte, kam er im Sommersemester 1506 nach Frankfurt an der Oder, an deren Universität er bereits am 14. September sein Bakkalaureatsexamen ablegte. Fast zwei Jahre verbrachte er hier, bis er sich Anfang 1508 für kurze Zeit an der Universität Leipzig aufhielt. An Syphilis leidend, mit der er sich in Leipzig infiziert hatte und die zu seinem frühen Tod führen sollte, und ohne Mittel, schrieb er sich 1509 also an der Universität Greifswald als Ulricus Huttenus poeta clericus ein613 und fand Unterkunft bei der angesehenen Kaufmannsfamilie des Wedig Lötze. Man kleidete ihn ein und lieh ihm Geld. Dieses gute Einvernehmen wurde aber bald durch Spannungen gestört. Die Lötzes wollten ihre Auslagen zurückerstattet haben. Im Dezember beschloss Hutten deshalb, angeblich im Einverständnis mit seiner Gastfamilie, diese Stadt zu verlassen und sein humanistisches Glück an der nahen Universität Rostock zu versuchen. An einem klirrend kalten Dezembertag – sogar die Ostsee war an der Küste gefroren – machte er sich allein auf den Weg. Gerade als er einen hartgefrorenen Sumpf überquerte, verstellten ihm Diener der Familie Lötze den Weg, rissen ihm die Kleider vom Körper und nahmen ihm das kleine Bündel eigener Schriften ab. Mühsam schleppte er sich nach Rostock, wo er Aufnahme bei Freunden fand. Ob sich der Vorfall tatsächlich so zugetragen hat, wie uns Hutten berichtet, wissen wir nicht, da wir nur seine Version kennen.614 Jedenfalls war der Vorfall Anlass zur Entstehung der Lötze-Klagen, eines Zyklus von 20 Gedichten, über deren Entstehung Hutten selbst sagte: Meine sanfte Natur verkehrt sich in plötzlich Wut, und die Gerechtigkeit spornt mein empörtes Gemüt an.615 Bündiger drückte es David Friedrich Strauß an: „Die Hebamme von Huttens Geiste war der Zorn.“616 Zorn und Empörung über das erlittene Unrecht bestimmen nicht nur den Te613 GRIMM, Huttens Lehrjahre, S. 44; Matrikel der Universität Greifswald, Sommer 1509. 614 Dargestellt in: Vlrici Hutteni … Querelarum libri duo. Frankfurt/Oder: Johann Hanau, 1510 (VD 16, H 6361). Abgedruckt in BÖCKING, III, S. 19–83. Zu den Lötze-Klagen kurz BERNSTEIN, Ulrich von Hutten, S. 24 ff.; BECKER, Ulrichs von Hutten Querelae in Lossios; Roloff, Poeta vapulans – Ulrich von Hutten und die Lötze. 615 BÖCKING, III, S. 62, Zeile 83 f.: „Vertitur in subitum mitis natura furorem/ Et movet iratum tam bona causa animum.“ 616 STRAUß, Ulrich von Hutten, S. 50

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nor der Sammlung, sondern erklären auch die karikaturhafte Verteuflung, die sich die Familie Lötze gefallen lassen musste. Die Lötze-Klagen sind ein zutiefst rhetorisches Werk, mit dem er die öffentliche Meinung oder besser, die humanistischen Freunde und Bekannte zu mobilisieren suchte, denn die einzelnen Elegien sind an verschiedene Adressaten gerichtet, bei denen er um Sympathie für seine Sicht werben wollte. Von Rostock begab er sich nach Wittenberg und dann im Jahre 1511 über Mähren nach Wien, mit der Absicht, weiter zum Jurastudium nach Italien zu wandern. Seine Ankunft und sein Auftreten wurden Joachim von Watt mit einer Mischung aus wohlwollender Verwunderung und deutlicher Faszination plastisch geschildert.617 Der Wiener Universitätsaufenthalt endete jedoch mit einem Eklat, dessen Schilderung in parodistischer Verzerrung wir Crotus Rubeanus, dem vermeintlichen Verfasser der Dunkemännerbriefe zu verdanken. Darin schreibt ein gewisser Ioannes Krabacius: Einmal, während ich in Wien war, kam ein Geselle aus Mähren, der ein Poet sein soll, und auch Gedichte machte; er wollte Vorlesungen über die Poetik halten, war aber noch nicht inskribiert. Da verbot es ihm unser Magister Heckmann; jener aber war so vermessen, dass er sich um dessen Verbot nicht kümmern wollte. Nun verbot der Rektor der Studentenschaft, seine Vorlesungen zu besuchen. Hierauf verfügte sich jener Lotterbube zu dem Rektor, stieß viele hochmütige Reden aus und duzte ihn sogar. Dieser schickte nun nach den Pedellen der Universität und wollte ihn in den Karzer sperren lassen, da es großes Ärgernis gab, dass ein bloßer Geselle einen Rektor der Universität, der unser Magister ist, duzen sollte. Bei dieser Gelegenheit hörte ich auch, dass jener Geselle weder Bakkalaureus, noch Magister, noch auf irgend eine Weise befähigt oder graduiert ist, sondern wie ein Streiter einhersteigt, oder wie einer, der in den Krieg ziehen will: er trug auch eine Sturmhaube und ein langes Messer an der Seite.618

Die Epistolae obscurorum virorum sind kein historisches Dokument, sondern eine Satire: Trotzdem steckt in vielen der geschilderten Episoden ein historischer 617 SCHÄFER, Hutten als lateinischer Poet, S. 60. Schäfer hat Vadians Bericht ins Deutsche übersetzt. Der Bericht selbst in BÖCKING, I, S. 22–23. 618 Übersetzung von RIHA, Dunkelmännerbriefe, S. 41. Lateinischer Text: „Semel venit unus socius ex Moravia, quando ego fui Viennae, qui debet esse poeta et scripsit etiam metra, et voluit legere artem metrificandi, et non fuit intitulatus. Tunc ipse magister noster Heckman prohibuit ei, et ipse fuit ita praetensus, quod non voluit curare mandatum eius; tunc rector prohibuit suppositis, quod non deberent visitare eius lectionem: tunc ille ribaldus accessit rectorem et dixit ei multa superba dicta, et tibisavit eum; tunc ipse misit pro famulis civitatis et voluit eum incarcerare, quia fuit magnum scandalum, quod simplex socius deberet tibisare unum rectorem universitatis, qui est magister noster; et cum hoc ego audio, quod ille socius neque est baccalaurius neque magister, nec est aliquot modo qualificatus seu graduatus, et incessit sicut bellator, vel qui vult ambulare ad bellum, et habuit pileum et longum cultrum in latere.“ Epistolae obscurorum virorum. Hg. von BÖMER, II, S. 28.

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Kern. So auch hier: Forscher haben längst die Beschreibung des „frechen Burschen“, der sich anmaßt, ohne entsprechende Qualifizierung an der Wiener Universität Vorlesungen über Metrik zu halten, als eine Parodie des Crotus auf seinen guten Freund Hutten identifiziert. Zu groß sind die Übereinstimmungen zwischen dem realen Hutten und dem in der Satire karikierten Scholaren: Vor allem aber passt das auch von Mutian kritisierte an Arroganz grenzende selbstbewusste Auftreten zu dem Bild des jungen Adligen. Im Spätherbst 1511 verließ Ulrich von Hutten den Magister „Heckmann“ und die angeblich so ungastliche Wiener Universität und begab sich nach Italien, mit dem Ziel, an einer der dortigen Universitäten Jura zu studieren, wozu sein Vater zähneknirschend zugestimmt hatte. In Pavia und Bologna widmete er sich bis Juni 1512 der Rechtswissenschaft, musste dann aber aus finanziellen Gründen sein Studium abbrechen und verdingte sich für kurze Zeit als Soldat im Heere Kaiser Maximilians. Im Februar 1514 kehrte er nach Deutschland zurück. Er fand eine Tätigkeit bei dem Erzbischof von Mainz und begann eine Freundschaft mit Erasmus von Rotterdam, die erst am Ende seines Lebens in einem bitteren Zerwürfnis endete. 1515 begab er sich zur Fortsetzung seines Studiums wieder nach Italien, ohne allerdings dort sein Jurastudium abzuschließen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland und der Krönung zum poeta laureatus im Jahre 1517 widmete er sich zunehmend dem publizistischen Kampf gegen Kurie, Papst und dessen Deutschlandpolitik. Eine Lösung von der Bevormundung durch die mächtige römische Zentralkirche wollte er notfalls mit Waffengewalt erzwingen. Im Jahre 1522 unterstützte Hutten den militärischen Feldzug seines Freundes Franz von Sickingen gegen den Erzbischof und Kurfürsten von Trier, Richard von Greiffenklau. Als diese Kampagne scheiterte, floh er in die Schweiz und fand bei Huldreich Zwingli Zuflucht. Auf der Insel Ufenau im Zürchsee starb er 1523 im Alter von nur 35 Jahren an den Folgen seiner syphilitischen Erkrankung.619

10.1 „Verschonen soll man mich mit derartigen Geistern“ – Mutian und Hutten MUTIAN UND HUTTEN

Ulrich von Hutten und Mutian kannten sich wahrscheinlich schon aus den Jahren seines Biennium-Studiums in Erfurt in den Jahren 1503–1505, spätestens aber lernten sie sich bei Huttens kurzem zweiten Aufenthalt im Frühjahr 1506 kennen; denn in der 10. Elegie des 2. Buches seiner Querelen gegen Lötze beschrieb Hutten Mutian als jemanden, der nicht weit von Erfurt ein selbstbestimmtes Leben (ipse sui totus) zu führen liebe. Auch ihm [Hutten] habe er oft 619 Vgl. zu Hutten und der Syphilis: BERNSTEIN, Ulrich von Hutten, bes. S. 77 ff.

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genützt.620 Das ist zwar ein etwas verhaltenes Lob für einen Mann, der zu einer Zeit, 1510, in Erfurt bereits Kultstatus genoss, trotzdem muss der junge Adlige Mutian schon damals als einflussreichen literarischen Zensor geschätzt haben, denn er schickte sein poetisches Erstlingswerk, eben die Querelae Lossii, nicht an seinen Freund Crotus, sondern an Mutian, und erst dieser sandte die Sammlung weiter an den Freund.621 Zwischen dem Gothaer Kanoniker und Hutten entwickelte sich ein Briefwechsel, über dessen Umfang man aber nur spekulieren kann, da alle Briefe zwischen den beiden Humanisten verloren gegangen sind und nur aus Anspielungen in Schreiben an Dritte erschlossen werden können.622 Gegenüber Hessus bedauerte Mutian etwa am 15. März 1515, den beiden Dichtern Hutten und Hessus, die so köstliche Briefe schrieben, nicht helfen zu können: Ihr zwei großen Dichter [Hessus und Hutten] zieht mich so an der Nase, dass ich wohl oder übel Euch folgen möchte, denn Eure Briefe sind nicht nur elegant und rhetorisch geschliffen, sondern haben auch, bedingt durch das Asyl, eine unwiderstehliche Kraft, und während andere mich ermahnen, drängt ihr mich. Ich werde Euch lieben, ihr guten Männer.623

Auch die Nachricht vom Tod seines verehrten Freundes Eitelwolf von Stein habe er, Mutian, durch einen Brief Ulrichs von Hutten, teilte er Hessus mit.624 Ein Schatten über diese briefliche Freundschaft schien aber bereits im September des gleichen Jahres gefallen zu sein, als Mutian seinem Vertrauten Urban anvertraute, dass Hutten und Crotus sich über die Kürze seiner Briefe beschwert hätten. Wer wirklich liebe, brauche keine großen Worte zu machen. Ihm liege es, sich kurz zu fassen, weitschweifige Breite missfalle ihm, ein Wort-

620 BÖCKING, III, S. 70: „Passibus hinc aliquot spacio seiunctus iniquo Tranquillam vitam ducere Ruffus amat, Ipse sui totus, se enim nec cedere cuiquam … Non nihil et crebro profuit ille mihi.“ 621 BÖCKING, I, Nr. 8 (Crotus an Hutten, 3. Februar 1511): „Deinde lectione tui Lossii dono missi a Mutiano illo polyhistore.“ 622 Zum Beispiel GILLERT Nr. 410 (Mutian an Urban und Hessus, 8. August 1514): „Salutant te Petreius et Ulrichus, testes profero literas.“ 623 GILLERT Nr. 478 (Mutian an Eobanus Hessus, 15. März 1515): „Vos duo magni poetae ita me naribus trahitis, ut velim nolim sequar vos. Nam epistolae vestrae non solum teretes sunt atque rotundae, sed etiam velut asylo concitae fulmen habent, et cum alii me admoneant, vos cogitis. Amabo, boni viri.“ 624 GILLERT Nr. 518 (Mutian an Eobanus Hessus, Anfang Juli 1515): „Supervenit quidam cursor Hutteni literas perferens, poetae, ut nosti, non ignobilis.“

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schwall sei nicht nötig.625 Dass ausgerechnet Mutian, der gern sehr umfangreiche Briefe schrieb und auch seine Freunde durchaus zur Weitschweifigkeit ermunterte, hier für briefliche Knappheit plädierte, zeigt, dass es ihm gar nicht um die relative Länge oder Kürze von Briefen ging, sondern, dass er Huttens Auftreten befremdlich fand, denn assoziativ gleitet Mutian von diesem Thema zu den Dichtern im Allgemeinen und deren angeblicher Arroganz über: Wenn zum Beispiel drei Dichter zusammen säßen, mokierte sich Mutian, und Kaiser Maximilian betrete den Raum, so würden sie sich nicht einmal erheben. So selbstgefällig seien sie. Aus diesem Grunde fürchte er ihre Überheblichkeit und wage nicht mit ihnen zu streiten. Wie würden sie ihn beleidigen, wenn er sie nur mit einem einzigen Worte reizte.626 Seit etwa 1515 schien Mutian daraufhin seine Korrespondenz mit Hutten stark eingeschränkt, wenn nicht gar beendet zu haben, denn im Jahre 1519 beschwerte sich Hutten bei Freunden über Mutians Schweigen. Wie steht es mit jenem Mutian? Ich glaube, er hat den Namen Hutten gänzlich aus dem Album seiner Freunde gestrichen. Er schreibt nichts, deutet auch durch nichts an, weshalb er mir zürnt. Ich weiß nicht, ob es ein böswilliger Verdacht ist oder die Denunziationen eines nichtswürdigen Menschen sind, weshalb er mir zürnt.627

Er selbst habe diesen Menschen immer nur aufs Höchste verehrt und liebe ihn auch jetzt noch.628 Sie sollten ihn herzlich grüßen und ermahnen, dass aus dem Mutian (Mutianus) kein Stummer (mutus) werde.629 Er seinerseits wolle ihn schreiben, sobald sich ein Bote fände. Erstaunen kann die sich allmählich abzeichnende Distanzierung Mutians von dem ritterlichen Hitzkopf nicht, denn seit seiner Rückkehr aus Italien hatte 625 GILLERT Nr. 543 (Mutian an Urban, nach dem 18. September 1515): „Dequeruntur [Huttenus et Crotus] et me quasi postulant brevitatis in scribendo. Amoris id est: qui amat, non nisi locupletissimas expectat. Ego vero laconicas scribo; placet μικρολογε̃ιν, displicet otiosa latitudo et copia non valde necessaria.“ 626 GILLERT Nr. 543 (Mutian an Urban): „Si tres poetae sederent in collegio et caesar Maximilianus veniret, non assurgerent. Ita sibi placet hoc genus hominum. … Ideo, mi Urbane,vereor insolentiam poetarum, non audeo cum tantis ingeniis certare … Hui, quomodo insultarent mihi, si unico verbo stomachum illis moverem!“ 627 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302 (Hutten an Peter Eberbach und Eobanus Hessus, 3. August 1519): „Quid ille istic vero Mutianus? In totum credo ex amicorum suorum albo Hutteni nomen ademit; ita nihil scribit, nihil significatione etiam ulla testatur, quo non iratus mihi sit. Quod nescio an ille decreverit sinistra aliqua suspitione aut perditi alicuius delatione inductus.“ 628 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302: „Ego certe hominum reverenter semper colui, et nunc ut meretur studiosissime veneror et amo.“ 629 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302: „Salutate ex me reverenter, et ne ex Mutiano mutus sit, admonete.“

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sich dieser zunehmend der politisch-reformatorischen Agitation gegen die römische Kurie gewidmet: In vier lateinischen Dialogen (Febris I, Febris II, Vadiscus und die Inspicientes), die er dann 1520 auch in deutscher Übersetzung als Gesprächsbüchlein auf den Markt brachte, hatte er den Papst aufs Heftigste angegriffen und immer wieder auf das gesamte im Laufe der Jahrhunderte verfeinerte Herrschafts- und Finanzierungssystem der römischen Kurie hingewiesen, deren Opfer aus seiner Sicht besonders seine Landsleute waren.630 Auch Mutian hatte die Kirche kritisiert, sich aber getreu seiner Auffassung, seine Kritiken seien nur für die Gelehrten bestimmt, jeder öffentlichen Stellungnahme enthalten, und spürte deshalb nicht die geringste Neigung, Hutten zu schreiben und sich durch eventuelles Bekanntwerden dieser Briefe öffentlich zu kompromittieren. Während also Mutian die Verbindung mit Hutten abbrach, dessen Briefe unbeantwortet ließ, ließ Hutten den Gothaer Kanoniker 1519 treuherzig in einem Brief an Hessus grüßen, obwohl er ihm selbst nicht schreibe.631 Mutian seinerseits beschwerte sich noch im Februar 1524 gegenüber Erasmus über die Frechheit (audacia) Huttens. Dass dieser bereits sechs Monate vorher einsam in der Schweiz gestorben war, hatte er offenbar noch nicht erfahren.632 Kann man also Hutten, eine der bedeutendsten deutschen Humanistenpersönlichkeiten, einen Mann, der in der deutschen Kulturgeschichte eine große Rolle spielte, den wortgewaltigen Verfasser lateinischer und deutscher politischreligiöser Pamphlete, den Begründer des Hermann-Mythos (siehe unten), überhaupt zu dem ordo literarius des Mutian zählen, wie es die meisten Kritiker getan haben?633 Wenn auch kein enges Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Hutten und Mutian bestand, so gibt es doch zahlreiche Zeugnisse für die Freundschaft zwischen Hutten und zwei Schlüsselfiguren des mutianischen Humanistenkreises: Eobanus Hessus und Crotus Rubeanus. Beiden blieb Hutten bis zu seinem Tode trotz räumlicher Distanz auf Engste verbunden, und mit beiden kooperierte er bei wichtigen literarischen Projekten. Wenn man also Hutten zu dem Gothaer/Erfurter Humanistenkreis zählen will, so ist es nicht aufgrund eines beson630 Febris I: BÖCKING, IV, S. 27–41; Febris secunda: BÖCKING, IV, S. 101–144; Vadiscus: BÖCKING, IV, S. 145–261; Inspicientes: BÖCKING, IV, S. 269–308. 631 BÖCKING, I, Nr. 142 (Hutten an Eobanus Hessus, 26. Oktober 1519): „Aperbachium et Mutianum nihil scribentes ex me saluta.“ 632 GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, Ende Februar 1524). Erstaunlicherweise, denn Hessus hatte noch im Jahre 1523 aus Erfurt seinen Freund Draco von Huttens Tod berichtet (BÖCKING, II, Nr. 337, S. 354). 633 ABE, Der Erfurter Humanismus und seine Zeit, S. 201; BEYER-BIEREYE, Geschichte der Stadt Erfurt, S. 262; KRAPP, Der Erfurter Mutiankreis, S. 80; KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 179; KRAUSE, Eobanus Hessus, S. 39; SCHÄFER, Ulrich von Hutten als lateinischer Poet, S. 66.

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ders engen Verhältnisses zu Mutian, sondern wegen seiner Freundschaft zu einzelnen Figuren dieses Kreises, aber besonders zu Hessus und Rubeanus.

10.2 Hutten und Hessus – unverbrüchliche Freunde HUTTEN UND HESSUS

Die seit etwa 1504 bestehende Freundschaft Huttens mit Hessus sollte die produktivste seiner zahlreichen Freundschaften sein.634 Nachdem der Ritter den Bauernsohn bereits während seines Studiums zwischen 1503 bis 1505 in Erfurt kennen gelernt und mit ihm Freundschaft geschlossen hatte, erneuerte er bei seinem zweiten kurzen Besuch in Erfurt im Frühjahr 1506 diese Freundschaft, wovon ein erstes Zeugnis ein aus 18 Distichen bestehendes Gedicht, Huttens erstes erhaltenes, zeugt.635 Nach dem traditionellen Topos, dass der Ruhm eines Dichters ihn überleben werde, verweist Hutten auf Hessus’ dichterische Pionierrolle, seine Leichtigkeit im Verfertigen von Versen, seine Stilsicherheit und Beherrschung verschiedener literarischer Genres.636 Das ist viel Lob für einen Dichter, der zu diesem Zeitpunkt lediglich ein aus 230 Hexametern bestehendes „Epos“ über die Flucht der Erfurter Professoren und Studenten vor der Pest im Sommer 1505 zu Druck gebracht hatte.637 Hessus revanchierte sich mit einem Sechszeiler, in dem er seinen scheidenden Freund versicherte, dass mit seinem Weggange auch die Hälfte seines Selbst die Stadt verlasse.638 Außerdem adressierte er ihn als einen zweiten Ovid, der es verdiene, mit dem Lorbeerkranz eines poeta laureatus ausgezeichnet zu werden, eine Ehre, die viel mehr bedeute als

634 SCHÄFER, Ulrich von Hutten als lateinischer Poet, S. 66: „Eoban hat auf Huttens Entwicklung als Dichter großen Einfluss ausgeübt. Keinem Neulateiner ist Hutten zeitlebens mehr verbunden gewesen als Eoban, dem bewunderten Poeten des Erfurter Humanistenkreises.“ 635 Erstdruck in: „In Eobanum Hessum elegia“. In: De laudibus et praeconiis … incliti atque Gymnasii apud Erphordiam, Erfurt: Wolfgang Stürmer, 1506 (VD 16, E 1522). Abgedruckt in BÖCKING, I, S. 3–4. Neuausgabe mit englischer Übersetzung: VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 186–189. 636 Pionierrolle: „Primus ad ignotum, qui duxti Pallada terram“ (V. 7); Leichtigkeit im Dichten: „Est tibi cum facili fluidissima vena lepore“ (V. 23); Stilsicherheit: „Nec maculant versus barbara verba tuos“ (V. 28); Beherrschung verschiedener literarischer Genres: „Sive canas grandes, heroica munera versus/ Gestaque terribili proelia quaeque manu, Sive cothurnatus curvis videare theatris/ et recites veterum trista fata ducum,/ Aut sua cum tensis modulere poemata nervis“ (V. 17 f.). 637 De recessu studentum ex Erphordia, Erfurt: Wolfgang Stürmer, 1506 (VD 16, E 1544). Neuausgabe mit engl. Übersetzung: VREDEVELD, The Poetic Works, I, 93–113. 638 BÖCKING, I, S. 4: „Dimidium nostri te fugiente fugit.“ VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 188 f.

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der Adelstitel „Ritter“,639 ein Gedanke, den Hessus in seinem späteren Epicedion auf Hutten wiederholen sollte. Dort lässt nämlich Hessus, vom Tod gefragt, warum er Huttens adlige Herkunft nicht erwähne, Hutten selbst sagen: Ich schäme mich nicht, von so edler Geburt zu sein, dass ich von väterlicher Seite fränkischer Ritter war. Ich kümmere mich aber mehr darum, durch die ewigen Gaben eines reichen Geistes edler zu werden.640 Nicht der adlige Stammbaum, sondern die eigene Leistung begründe seinen Ruhm. Die Überlegenheit des Geistes gegenüber dem Geburtsadel war ein Thema, das wiederholt von den aus bürgerlichen oder bäuerlichen Verhältnissen stammenden Humanisten aufgegriffen wurde, die aufgrund ihrer Leistung, nicht ihrer Herkunft Karrieren als Professoren, Juristen und Ratgeber an Fürstenhöfen machen konnten. Hessus selbst sollte in seinem knapp zehn Jahre später veröffentlichten Gedicht De vera nobilitate die Überlegenheit des Seelenadels gegenüber dem Geburtsadel besingen.641 Wie stark verbunden Hutten sich gegenüber Hessus fühlte, zeigen auch die Lötze-Klagen, jene bereits erwähnte Sammlung von zwanzig Gedichten, die Hutten voller Zorn nach der angeblich brutalen Behandlung durch die Greifswalder Lötzes geschrieben hatte, denn eine der längsten Elegien des ersten Buches, die achte, ist an Hessus gerichtet, eine Elegie zudem, in der Hutten ein zentrales Ereignis der Episode, nämlich den Überfall der lötzischen Reiter, schilderte.642 In dem gleichen Gedichtzyklus, in der 10. Elegie des zweiten Buches mit dem programmatischen Titel Ad poetas Germanos schickte Hutten seine Muse auf eine Reise durch Deutschland mit dem Ziel, die humanistischen Kollegen für seine Sache zu mobilisieren. Auf dieser Reise kommt die Muse auch nach Erfurt, was Hutten Gelegenheit gibt, seinen dortigen Freunden ein literarisches Denkmal zu setzen. In der Stadt lebten hervorragende Dichter (excelsi vates), schreibt er. Namentlich führte er Crotus, Hessus und Mutian auf. Crotus habe ihn in seinen Anfangsjahren sehr unterstützt; niemand übertreffe Hessus als Dichter; auch viel ältere Poeten erkennten ihn widerwillig an. Seiner Meinung nach habe seine Zeit kein größeres Talent hervorgebracht.643 639 So wenigstens interpretiere ich mit Vredeveld die Zeilen: „Aemule Nasoni, viridi signande corona/ Et titulo multis nobiliore.“ VREDEVELD, The Poetic Works, I, S. 189, Anm. 91: „Hutten too is worthy of being crowned with the laurel wreath and of being called ‚poeta laureatus‘ – a title more noble than ‚knight‘.“ 640 Übersetzung von KÜHLMANN, Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, S. 288. Lat. Text: ebd.: „Non pudet ingenuis adeo natalibus ortum,/ Vt fuerim patrio sanguine Francus eques./ Sed mihi plus curae fuit, ut generosior essem,/ Diutis aeternis dotibus ingenij.“ 641 Helius Eobanus Hessus de vera nobilitate, et priscis Germanorum moribus carmine elegiaco. [Erfurt: Matthes Maler, um 1515] (VD 16, E 1559). 642 BÖCKING, III, S. 59–63. 643 BÖCKING, III, S. 69:

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Reflektiert wird diese Wertschätzung Huttens durch Hessus schließlich dadurch, dass er Hutten als einzigen Dichter namentlich in seinem Gedicht Eobanus Posteritati (Eobanus an die Nachwelt), des letzten der insgesamt 24 Gedichte der Heroidum Christianarum Epistolae (Briefe christlicher Heldinnen) erwähnte. Vielleicht bittest Du mich, adressierte der Dichter den Leser, einige der Dichter zu erwähnen, die Deutschland in unserer Zeit hervorgebracht hat. Wer immer Du seist, Leser, überfliege das Büchlein, in dem er [Hutten] ihre Namen und ihren Wohnsitz nennt. Nachwelt, schau Dir die Gedichte Huttens an. Diesen kannst Du mit Recht Dir zugehörig nennen. Aus diesem Grunde und vielleicht noch aus einem anderen Grunde, wird der Name keines anderen Dichters in unserem Gedichte erscheinen.644

Nicht nur verwies er also den Leser explizit auf Huttens Gedicht Ad Germanos poetas, sondern pries auch die anderen Gedichte Huttens. Während der folgenden Jahre blieben die beiden Freunde in Kontakt, obwohl sich das wegen des Verlustes zahlreicher Briefe im Einzelnen kaum nachzeichnen lässt. Jahre später, am 3. August 1519, ermahnte Hutten seine beiden Erfurter Freunde Eobanus Hessus und Peter Eberbach, die alte Freundschaft dürfe nicht durch Trägheit und Sorglosigkeit gefährdet werden.645 Sich zunächst an Hessus wendend, warf er ihm vor, dass dieser ihn letztes Jahr auf seiner

„Offeret excelsos digressae Erphordia vates Atque omnes iunxit quos habet illa mihi: Crotus in hac nobis sub primis praefuit annis, Crotus, Apollineae fama superba togae … Qui non ingenio cesserit, Hesse, tuo? Te iuvenem tetrico texentem verba boatu, Vincentem cultu tempora nostra novo, Pallida miratur victa gravitate senectus: Iudice me nil te haec tempora maius habent.“ 644 VREDEVELD, The Poetic Works, II, S. 430, Zeile 141–147: „Quos tulerit nostro Germania tempore vates Ex multis aliquot dicere forte rogas. Quisquis es, Hutteni, lector, percurre libellos. Quemque suo reddit nomine, quemque loco. Inspice, Posteritas, Hutteni carmina vatis. Hunc recto poteris dicere iure tuum! Hac igitur, forte atque alia ratione poetae Nullius in nostro carmine erit. Auch in KÜHLMANN, Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, S. 328–337; Kommentar: S. 1140–1143. 645 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 301: „Rumpam illud tandem pene iam confirmatum inter nos silentium, nec patiar veterem amicitiam ulla segnitie aut incuria obliterari.“

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Reise zu Erasmus nicht in Mainz besucht habe.646 Auch sein alter Freund Eberbach verdiene eine Tracht Prügel, scherzte Hutten, weil er ihm schon seit vier Jahren nichts Literarisches habe zukommen lassen, ihm, der ihn wie alle Gelehrten liebe.647 Als Beweis, dass er selber nicht so mit seinen literarischen Gaben geize, schickte Hutten den beiden Freunden seine Türkenrede.648 Sich wieder an Hessus wendend, verrät er ihm, dass er gerade an einem Dialog mit dem Titel Vadiscus: Die römische Trias (Trias Romana) arbeite: Nichts Heftigeres, nichts Freiheitlicheres ist bisher gegen die römische Goldsauger geschrieben worden. Sobald es abgeschlossen ist, werdet ihr es bekommen.649 Tatsächlich ist das als Gespräch zwischen Hutten und den fiktiven Freund Ernold und aus griffigen Dreiersprüchen bestehende Werk einer der schärfsten Angriffe gegen die römische Kirche. Die lebenslange Freundschaft zwischen Hutten und Hessus endete erst mit dem Tod Huttens. Am 21. Juli 1523, also etwa fünf Wochen vor seinem Ende auf der Insel Ufenau, schrieb Hutten an Hessus einen ergreifenden Brief. Wann hört dieses schreckliche Schicksal auf mich zu verfolgen? … Ich bin in die Schweiz geflohen, wo mich ein langes Exil erwartet; denn in seinem gegenwärtigen Zustand wird Deutschland mich nicht ertragen; dennoch hoffe ich, dass es nach Vertreibung der Tyrannen einen Wechsel geben wird. Vom kriegerischen Tumult habe ich mich ganz zur literarischen Muße zurückgezogen.650

Diese Muße habe ihn erlaubt, ein Werk über die Tyrannen zu schreiben, bei dessen Veröffentlichung er nun Hessus um Hilfe bitte. Als Druckort biete sich Erfurt an, da ihn dort niemand kenne.651 Wie auch bei den Lötze-Klagen machte Hutten einen persönlichen Vorfall zu einem Gegenstand nationalen Interesses; 646 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302: „Tu Hesse, cum hic esses autumno superiori, neque ego longissime abessem, quid me noluisti accedere, pigerrime? Siccine ab assiduo concubitu homini uxorio infirmata sunt crura, ut X aut XII milia ambulare non possis?“ 647 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302: „At te, Aperbacche, acriter vapulare decet, qui annis iam plus quattuor nihil literarum dederis ad Huttenum, amantem te, ut doctos utque ingeniosos et industrios omnes.“ 648 Vlrichi de Hutteni equitis Germani ad Principes Germaniae, ut bellum Turcas invehant. Exhortativa. Augsburg 1518 (VD 16, H 6267). Abgedruckt in BÖCKING, V, S. 97–134. 649 BÖCKING, I, Nr. 135, S. 302: „Cuditur mihi nunc dialogus cui titulus ‚Trias Romana‘, quo nihil vehementius, nihil liberius adhuc editum est in Romanos aurisogas. Brevi perfectum habebitis.“ 650 BÖCKING, II, Nr. 317, S. 252: „Est tandem modus, Eobane, aut finis est improbae fortunae acerbissime nos persequenti? … Abstulit in Elvetios fuga me: inde longinquius exilium prospicio. Neque enim feret me Germania hoc ipsius statu, quem tamen spero pulchre paulo post immutatum iri, exactis tyrannis. Recepi ad literarum ocium me a bellico tumultu, et ad scribendum penitus contuli.“ 651 BÖCKING, II, Nr. 317, S. 253: „Potest silentio transigi negocium et occulte; neque usquam rectius quam in vestra urbe, ubi nemo actum suspicabitur, praesertim sic longe cum absim ego.“

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denn nach dem gescheiterten Aufstand Franz von Sickingens gegen den Trierer Erzbischof im September 1522, an dem Hutten zwar wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht persönlich teilgenommen hatte, den er aber publizistisch unterstützt hatte, schlossen sich mehrere deutsche Fürsten zu einem erbarmungslosen Rachefeldzug gegen Sickingen und seine Verbündeten zusammen. Des Ritters Burgen wurden geschleift, Sickingen selbst starb an den Verwundungen auf seiner Burg Landstuhl. Unter den Rächern zeichnete sich der Pfalzgraf bei Rhein, Ludwig V., durch besonders grausame Sanktionen aus. Er ließ, während sich Hutten auf der Flucht in die Schweiz befand, dessen Gepäck beschlagnahmen und dessen Diener gefangen nehmen und hinrichten. Wütend brandmarkte Hutten daraufhin den Pfalzgrafen als „Rechtsbrecher, Zerstörer des Landfriedens, strafwürdigen Tyrannen, Exponenten der Feindschaft gegen ein ideales Reichsrittertum“.652 Das Buch fand zu Huttens Lebenszeit keinen Drucker, weder in Erfurt noch anderswo.653 Im September 1523, also kurz nach Huttens Tod, schrieb Hessus an seinen Freund Johann Draco einen rhetorisch aufgeladenen Brief: dreifache Nennung des Adressaten, die Spannung aufbauende Nennung einiger Freunde, die Gott sei Dank nicht gestorben sind, schließlich die schreckliche Nachricht vom Tode Huttens: Ach, mein Draco! Mein Draco! Was ist es? Ein Unglück ohnegleichen. – Welche üble Nachricht meldest Du, Hessus, warum beunruhigst Du Deinen Draco! Nein, Erasmus ist nicht gestorben. Gott sei Dank! Aber er ist hin. – Wer? Er, der unsrige.- Welche Unsrige? Jonas? Nein, das sei ferne: und doch der unsere … Hutten ist nicht mehr. Beurteile nun, ob mein Seufzer von Herzen kommt … Unser Hutten ist an Gift gestorben. … Wer war, fast möchte ich sagen, der feindselige Gott, der um diesen reichen Gast uns beneidete. Immer wieder soll man ausrufen: Oh, ihr grausamen Götter, Du grausames Schicksal!654

Da ein Brief kaum seine tiefe Trauer ausdrücken könne, nehme er Zuflucht zu einer Elegie. Dieses aus 54 Distichen bestehende Epicedion, als Streitgespräch

652 JAUMANN, Hutten, Ulrich von, Sp. 1222 f. 653 Ebd. 654 BÖCKING, II, Nr. 337 (Eobanus Hessus an Draco, 1523), S. 354: „Sed o mi Draco, sed heu mi Draco, ah Draco! Quid est? Rem pessimam, rem incomparabilis iacturae! ‚Quid novi nuncias, Hesse? Quid tuum perturbas Draconem? Non periit Erasmus?‘ Deo gratia, sed periit ille. ‚Quis‘? Ille noster. ‚Quis noster? Ionas?‘ Non; absit hoc: non vellem vivere: et tamen noster. Iam non ludam diutius, iam te non suspendam amplius: periit noster Huttenus. Vide nunc an ita ficte gemam. … Huttenus noster obiit potionatus … ‚Quis fuit ille tam, pene dicere ausim iniquus deus, qui hoc tam floridum ingenium nobis inviderit?‘ Libet iterum ac saepius exclamare heu crudeles, heu crudelia fata!“ Übersetzung von STRAUSS, Hutten (1914), S. 488. Dass Hutten an Gift gestorben sei, war ein Gerücht. In Wirklichkeit starb er, wie gesagt, an der Syphilis.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

zwischen Hutten und dem Tod gestaltet, wurde allerdings erst acht Jahre später von Joachim Camerarius veröffentlicht.655 Hessus ließ es aber nicht bei dieser kurzen Elegie bewenden, sondern besorgte auch 1529 die posthume Erstausgabe des Dialogs Arminius, eines Werkes, das in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte eine enorme Wirkung entfalten sollte.656 Während seines Romaufenthaltes im Jahre 1515 war Hutten bei der Lektüre der Annalen des Tacitus auf die Gestalt des Cheruskerfürsten Arminius (Hermann) gestoßen, unter dessen Führung die Germanen den Römern im Jahre 9 n. Chr. eine demütigende Niederlage beigebracht hatten. In dem huttenschen Dialog erscheint Arminius vor dem Unterweltrichter Minos mit der Beschwerde, dass zwar Alexander der Große, Scipio Africanus und der karthagische Feldherr Hannibal, aber nicht ihm ein Platz unter den berühmten Heerführern zugewiesen worden sei. Beeindruckt von dessen Rede, beschließt Minos daraufhin, Arminius unter die Tyrannenmöder und Vaterlandsbefreier einzureihen.657 Hessus stellte der Ausgabe ein aus 30 Distichen bestehendes Widmungsgedicht voran, in dem er Hutten als denjenigen feierte, der, vergleichbar mit den griechischen und römischen Dichtern und Historikern, den Ruhm seines Landes vor dem Vergessen bewahrt habe. Mit diesem Dialog begründete Hutten durch die Vermittlung des Hessus den Arminiuskult in Deutschland. In Dramen, Romanen, Epen und Liedern erfuhr der Stoff in Deutschland seither zahllose literarische Bearbeitungen.658 Schließlich erwies sich Hessus noch in anderer Hinsicht als ein treuer Sachwalter des literarischen Œuvre seines Freundes, indem er im Jahre 1538 eine Sammlung der lateinischen Gedichte Huttens zum Druck brachte; sie sollte die erste und für fast 200 Jahre einzige Edition des poetischen Werkes seines Freundes bleiben.659 Mit diesen beiden Veröffentlichungen – dichterische Gesamtausgabe und Arminusdialog – prägte Hessus ganz entscheidend die frühe Rezeption des huttenschen Werkes: einerseits der humanistische Ritter als herausragender neulateinischer Dichter, andererseits als Vorkämpfer der deutschen Freiheit.660

655 Illustrium ac clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia Per Helium Eobanum Hessum. Nürnberg: Friedrich Peypus, 1531 (VD 16, E 1509); BÖCKING, II, Nr. 338, S. 355–357. 656 Vgl. BENZING, Drucker, Nr. 206, A. 116. 657 BÖCKING, IV, S. 407–418. Hessus Gedicht in: BÖCKING, II, S. 439–440. 658 FRENZEL, Stoffe der Weltliteratur, S. 53–56. 659 Vlrichi Hutteni Equitis Germani opera poetica ex diversis illius monumentis in unum collecta, quorum elenchum sequens pagina habet. [Straßburg: Kraft Müller (Mylius), 1538] (VD 16, H 6395); BENZING, Ulrich von Hutten und seine Drucker, Nr. 1, S. 20. 660 Vgl. KREUTZ, Die Deutschen und Ulrich von Hutten, S. 30 f.

CROTUS UND HUTTEN

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10.3 Crotus und Hutten – eine lebenslange Freundschaft CROTUS UND HUTTEN

Eine ebenso enge Freundschaft verband auch Hutten mit einer zweiten Schlüsselfigur des Erfurter/Gothaer Humanistenkreises, mit Crotus Rubeanus. Der acht Jahre ältere Rubeanus hatte Hutten in den Jahren 1503–1505 als Mentor an der Universität Erfurt betreut, mit ihm in Köln studiert und seinen Schüler wahrscheinlich auch in Gotha bei Mutian eingeführt.661 Zeitlebens blieben die beiden eng befreundet. So war es selbstverständlich, dass Hutten in seinen Lötze-Klagen auch eine Elegie an Crotus richtete und den Freund zu seinem „Krieg“ gegen den auf Rache sinnenden Lötze drängte.662 Gib etwas heraus, zögere nicht, jage den Verbrecher, forderte er ihn auf. Kein Gesetz erlaubt, dass Du so einen Mann schonst.663 Weder Hessus noch Crotus haben sich aber literarisch an der Fehde gegen die Lötzes beteiligt. Als Hutten sich weigerte, nach Abschluss seiner Studien in das Kloster Fulda zurückzukehren, war es der seit 1510 als Lehrer in Fulda tätige Crotus, der zwischen Hutten und dessen Vater zu vermitteln suchte. Dieser hatte, entrüstet über die Weigerung seines Sohnes, sich wieder ins Kloster zu begeben, die Verbindung mit ihm abgebrochen und ihm weitere finanzielle Unterstützung versagt. In einem umfangreichen Brief vom 3. Februar 1511 referierte Crotus ein Gespräch, das er mit Huttens Vater geführt habe: Einerseits verdamme dieser dessen nutzloses Studium, andererseits freue er sich, wenn man denselben als Dichter lobe. Schließlich habe der Vater, berichtete Crotus weiter, einem Jurastudium des Sohnes zugestimmt, falls er seine Lappalien (nugae), also das Studium der bonae literae, fallen lasse. Er wolle lieber einen für die Huttens nützlichen „Rechtsverdreher“ (rabula forensis) als einen falschen Mönch (monachus perversus) in der Familie haben.664 In seinem Brief an Hutten verzichtete Crotus zwar auf eine spezifische Empfehlung, bot ihm aber Alternativen an: Entweder solle er dem Vorschlag des Vaters folgen oder ihm nach dem Vorbild des italienischen Humanisten Pomponius Laetus schreiben: Was ihr fordert, kann nicht geschehen. Auf

661 HOLBORN, Ulrich von Hutten, S. 33. Dort korrigierte Mutian ihm auch gelegentlich Texte, denn nur so könnte man den Satz in den Lötze Klagen interpretieren: „… auch mir war er [Mutian] öfter nützlich“. BÖCKING, III, „Ad poetas Germanos“, S. 70, Zeile 94: „Non nihil et crebro profuit ille [Mutianus] mihi.“ 662 BÖCKING, III, S. 56, „Elegia Hutteni ad Crotum“, S. 56, Zeile 57 ff.: „Nunc igitur tristes consumit lividus horas,/ Et quia non potuit laedere, posse cupit:/ Nulla quies illi, noctes vigilantur amarae,/ Dum solitas animo concipit insidias.“ 663 BÖCKING, III, S. 56: „Ede aliquid, sed rumpe moras, impelle nocentem! … Huic te tulla sinunt parcere iura viro.“ 664 BÖCKING, I, Nr. 8 (Crotus an Hutten), hier S. 19, Zeile 16: „… melius in foro fieres rabula forensis, profuturus genti Huttorum, quam monachus perversus.“

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

Wiedersehen!665 Hutten entschied sich für die erste Variante und begab sich zum Jurastudium nach Italien, ohne jedoch von seinen „Lappalien“ abzulassen. Obwohl sich die Lebenswege der beiden Freunde trennten, blieben sie in brieflichem Kontakt: So sandte Hutten von seiner zweiten Italienreise an Crotus Epigramme,666 in denen er in immer neuen Variationen die Käuflichkeit der Kurie, den Prunk des Papstes und seiner Kardinäle, die aufgeblasene und korrupte Bürokratie, die sexuellen Ausschweifungen und Zuchtlosigkeit der Kleriker und die Ausbeutung Deutschlands durch Rom thematisierte.

10.4 Ein „Niemand“ kehrt aus Italien zurück EIN „NIEMAND“ KEHRT AUS ITALIEN ZURÜCK

Ohne einen akademischen Grad erlangt zu haben und damit auch die Hoffnungen des Vaters zerschlagend, einen „Rechtsverdreher“ in der Familie zu haben, wurde Hutten von seinen Verwandten bei seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1514 kühl empfangen, und diesen Empfang verarbeitete er literarisch in einer umfangreichen Praefatio zu seiner erweiterten Neuausgabe seines Nemo (entstanden zwischen 1507 und 1508, Erstausgabe 1510).667 Adressiert an Crotus, verteidigte er sich, indem er seine eigenen biographischen Erfahrungen mit der geistigen Situation seiner Zeit verwob. An die gemeinsame Kölner Zeit erinnernd, verspottete er die (damals noch, wenigstens in Köln) unangefochten herrschende Scholastik mit ihren endlosen Disputationen, Syllogismen und ihrer Neigung, lächerliche Fragen spitzfindig zu erörtern.668 Da er sich diesem System verweigert habe und keinen akademischen Grad erworben habe,669 sei er bei seiner Rückkehr in die Heimat als ein Nemo, ein Niemand, verspottet worden, und das, obwohl er so viele Erfahrungen ausgestanden und zahlreiche Entbehrungen auf sich genommen habe. Resigniert stellte er fest: Wir sind also nichts und bleiben auch nichts, bis wir in dieser Komödie eine Rolle annehmen.670 Die Rolle, die Hutten schließlich für sich fand, war weder die eines Juristen noch Theologen, beides Berufsgruppen, gegen die er in diesem Vorwort in einer derben Sprache, die sich auch vor skatologischen Ausdrücken nicht scheute, aufs Heftigste angriff, sondern die eines der aktivsten Vorkämpfer der Reformation. 665 BÖCKING, I, Nr. 8, S. 19, Zeile 30: „Quod petitis, fieri non potest. Valete.“ Pomponius Laetus: 1428–1498. 666 BÖCKING, III, S. 278 f. Vgl. auch STRAUSS, Ulrich von Hutten, S. 65 ff., wo er einige dieser Gedichte ins Deutsche übersetzt. 667 BENZING, Hutten und seine Drucker, Nr. 5. 668 Nemo Vorwort in: BÖCKING, I, S. 178. 669 Was nicht ganz stimmte, denn in Frankfurt hatte er ja den Bakkalaureus erworben. 670 BÖCKING, I, S. 180 (Hutten an Crotus): „Sumus enim nihil, Crote, nec prius desinimus nihil esse, quam aliquam nobis in hac comoedia personam assumamus.“

EIN „NIEMAND“ KEHRT AUS ITALIEN ZURÜCK

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Bevor sich aber Hutten dafür auf seine eigene Art engagierte, spielte er in dem sogenannten Reuchlin-Streit671 eine wichtige öffentliche Rolle, denn bei ihm ging es, anders als bei Mutian, stets darum, gewonnenen Erkenntnissen Taten folgen zu lassen. Wie sehr sich nicht nur Hutten selbst, sondern auch die anderen prominenten Mitglieder des Erfurter Humanistenkreises ihn als zu ihrem Kreis gehörig betrachteten, zeigt das bereits mehrfach erwähnte Rektoratsblatt des Crotus, das dieser am Ende seines Rektorats im April 1521 seinem Tätigkeitsbericht zufügte. Denn es ist höchst bemerkenswert, dass er Hutten als einen der 16 dargestellten Intellektuellen ehrte, einen Mann also, der seit mehr als 16 Jahren nicht in Erfurt gewesen war, gegen den zudem seit Ende 1520 eine päpstliche Inquisitionsvollmacht vorlag, die seine Inhaftierung und Aburteilung als Ketzer vorsah. Die dargestellte Gruppe ist keine Darstellung der geistigen humanistischen Elite Deutschlands um 1520, denn sonst hätten auch Hermann von dem Busche, Beatus Rhenanus, Johannes Cuspinianus, Conrad Peutinger und Willibald Pirckheimer piktorial geehrt werden müssen, sondern eine Darstellung von Humanisten, die in irgendeiner Weise mit Erfurt in Verbindung standen. Es ist gleichzeitig ein visuelles Manifest, das wesentliche Elemente der humanistischen Selbstauffassung und Selbstdarstellung enthielt, wie sie die Erfurter vertraten. Und Hutten wurde als Teil dieser Gemeinschaft angesehen, die sich zunächst um Mutian und später um Eobanus Hessus geschart hatte.672 Anders als Urban, Eberbach, Crotus, Spalatin und Herebord von der Marthen gehörte Ulrich von Hutten aber trotz seiner lebenslangen Verbindungen zu Eobanus Hessus und Crotus Rubeanus nicht zur Kerngruppe weder des mutianischen noch des eobanischen Humanistenkreises. Zu unterschiedlich waren auch die Auffassungen darüber, was mit einem humanistischen ordo literarius gemeint war. Wenn Mutian diesen Begriff verwendete, meinte er stets die relativ kleine Gemeinschaft von Freunden, mit denen er persönlichen Kontakt pflegte; wenn Hutten aber von den „Humanisten“ sprach, dachte er an eine überregionale Gemeinschaft. Nichts hatte das deutlicher gemacht als das Gedicht Ad poetas Germanos, das letzte Gedicht der Lötze-Klagen. Darin schickte er seine Muse auf eine Reise durch ganz Deutschland. Von Rostock ging die Reise zunächst nach Danzig, von da nach Frankfurt an der Oder, nach Schlesien, Böhmen, Wittenberg, Leipzig, Magdeburg, Erfurt, Franken, Westfalen, Köln, Koblenz, rheinaufwärts nach Speyer, Schlettstadt, Freiburg und Tübingen. In jeder dieser Städte besuchte seine Muse die dort lebenden und wirkenden Humanisten. Insgesamt entwarf Hutten etwa fünfzig biographische Stenogramme zeitgenössischer Humanisten, deren wesentliche Züge er mit sicherem Blick einfing. Was dabei 671 Zum Reuchlin-Streit vgl. Kap. IX. 672 Vgl. BERNSTEIN, Der Erfurter Humanistenkreis, bes. S. 162 ff.

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VII. DER MUTIAN-KREIS IN KURZBIOGRAPHIEN

entstand, ist aber nicht nur ein kulturgeschichtlich faszinierendes Dokument, eine Momentaufnahme der literarischen Avantgarde um 1510 – oder was Hutten dafür hielt –, sondern auch der Versuch, zu demonstrieren, wie beeindruckend die Zahl der deutschen Humanisten war, einer Gruppe, die durchaus von Alter, Ideologie und sozialer Herkunft ganz unterschiedlich war. Was Hutten mit diesem Katalog geschaffen hatte, war keine objektive Bestandaufnahme, sondern eine Fiktion, ein Mythos, der Mythos einer einheitlichen Front, eines Zusammenhaltes, den es in Wirklichkeit weder zu dieser Zeit noch später gab.673 Kein Ereignis sollte das deutlicher zeigen als die Reformation.

673 BERNSTEIN, Creating Humanist Myths.

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT1

Keiner der Freunde des Mutian-Kreises wohnte in Gotha. Mutians gelegentliche Versuche, seinen Freunden Kanonikate am Marienstift zu verschaffen, scheiterten am Widerstand seiner Mitkanoniker.2 Da aber die meisten von ihnen in dem nur etwa 25 km entfernten Erfurt lebten – unterbrochen durch mehr oder weniger lange berufsbedingte Aufenthalte an anderen Orten –, traf man sich gelegentlich, solange es die Verpflichtungen der Mitglieder erlaubten, im „Wappenzimmer“ von Mutians Haus zu gelehrt-geistreichen Gastmählern. Wie häufig und ob überhaupt man sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit in der Gothaer BEATA TRANQUILLITAS traf, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Gegen periodische Treffen spricht, dass außer Urban, der abgesehen von den zwei Jahren (1508–1510), die er an der Leipziger Universität verbrachte, im nahen Georgenthal und Erfurt lebte, die anderen Freunde, wie wir sahen, immer wieder aus beruflichen oder privaten Gründen Erfurt verließen. Für den Historiker erweist sich aber gerade die Tatsache, dass die Freunde nicht in Gotha wohnten, als ein ungeheurer Glücksfall, denn die Kommunikation zwischen den Freunden erfolgte zwangsläufig über das Medium des Briefes, die ihrem Wesen nach „der Struktur des Gesprächs nahe kommen, wie man es im geselligen Kreise Gleichgesinnter pflegte“.3 Ohne die ausgetauschten Briefe wäre es unmöglich, die geistige und soziale Lebenswelt dieses Kreises zu rekonstruieren. Mutian war wie die meisten humanistischen Zeitgenossen ein unermüdlicher Briefschreiber. Er korrespondierte mit zahlreichen Zeitgenossen, u.a. mit den Kurfürsten und Erzbischof von Mainz Albrecht von Brandenburg und Friedrich dem Weisen, mit dem humanistisch gesinnten Abt Trithemius, den Gelehrten Joachim von Watt (Vadianus) und Joachim Camerarius, dem Hebraisten 1

2

3

Teile dieses Kapitels beruhen auf einen Vortrag, den ich am 22. Januar 2010 in Freiburg bei der Tagung „Humanisten edieren“ unter dem Titel „Tolle epistolas et barbaries erit. – Überlegungen zur Korrespondenz des Mutianus Rufus“ gehalten habe. Die verschriftlichte Fassung wurde unter dem Titel „Gedancken sein zolfrei. Der Humanist Mutianus Rufus als Korrespondent“ in dem Buch von Sabine HOLTZ ET AL. (Hg.), Humanisten edieren, S. 33–60, veröffentlicht. Vgl. hierzu auch RÄDLE, Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus. Über den Versuch, ein Kanonikat für Petreius zu erlangen vgl. GILLERT Nr. 364 (Mutian an Urban, 15. Mai 1514) und GILLERT Nr. 482 (Mutian an Heinrich Eberbach, 20. März 1515). Über seine Versuche, Spalatin ein Kanonikat in Gotha zu sichern vgl. GILLERT Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21. Juni 1514). BUCK, Epistolographie in der Renaissance, S. 101.

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

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Johannes Reuchlin, dem venezianischen Drucker Aldus Manutius, dem Freiburger Juristen Ulrich Zasius, dem oberrheinischen Humanisten Beatus Rhenanus, mit Erasmus von Rotterdam und mit dem Augsburger Humanisten und kaiserlichen Rat Conrad Peutinger. Das sind nur die bekanntesten Vertreter. Seine eigentliche Bedeutung liegt aber in der Korrespondenz mit einer Reihe junger Männer, eben den Mitgliedern des mutianischen Kreises. Die mit diesen Freunden ausgetauschten Briefe geben nicht nur faszinierende Einblicke in die Gruppendynamik dieses Kreises, sondern auch ehrlichere und offenere Einsichten in Mutians Denken als die förmlicheren, mit entfernteren Bekannten und hohen Persönlichkeiten gewechselten Briefe.

1.

Italienische Vorbilder und Briefrhetoriken

ITALIENISCHE VORBILDER UND BRIEFRHETORIKEN

Mit der Vorliebe für briefliche Äußerungen reihte sich der Gothaer Chorherr und Humanist in eine lange humanistische Tradition ein. Seitdem Francesco Petrarca 1345 in der Kathedralbibliothek von Verona Teile der Briefe Ciceros wiederentdeckt hatte, und „durch diesen Fund zur Sammlung und Herausgabe seiner eigenen Briefe angeregt worden war“,4 und seitdem 75 Jahre später der italienische Humanist und Staatsmann Coluccio Salutati (1331–1406) die Briefe des Plinius des Jüngeren aufgespürt hatte, war in der Renaissance eine reiche Briefliteratur entstanden. Italien war also, wie in fast allen Bereichen des Humanismus, Vorbild und Vorreiter. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts blühten in Florenz Humanistenzirkel, die besonders an Briefsammlungen interessiert waren. Unter diesen verbreiteten Leonardo Bruni (um 1369–1444) und Poggio Bracciolini (1380–1459) ihre Briefe unter Freunden in Manuskriptform.5 Die Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts begünstigte die weite Verbreitung wichtiger Briefeditionen der Antike und der Renaissance. Ciceros Epistolae ad familiares erschienen zum ersten Mal in Rom im Jahre 1467, die Briefe des Plinius des Jüngeren im Jahre 1471. In Deutschland publizierte Enea Silvio Piccolomini, der Jahrzehnte in Deutschland gelebt und einen starken Einfluss auf die deutschen Frühhumanisten ausgeübt hatte, seine Briefe. Gerade die den humanistischen Korrespondenzen innewohnende Unsystematik übte auf die Humanisten eine starke Anziehung aus, konnten sie doch eine Vielfalt von Themen aus allen Lebensbereichen erörtern, sodass der Brief „zum spezifischen und integralen Bestandteil humanistischer Lebensform“ wurde.6 Mutians humanistische Zeitgenossen in Deutschland wie Willibald Pirckheimer, Conrad Peutinger, 4 5 6

HARTH, Poggio Bracciolini und die Brieftheorie des 15. Jahrhunderts, S. 81. CLOUGH, The Cult of Antiquity: Letters and Letter Collections, S. 39. WORSTBROCK, Der Brief im Zeitalter der Renaissance, S. 6.

EINMALIGE INNENANSICHT

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Erasmus von Rotterdam, Johannes Reuchlin und Beatus Rhenanus waren ebenso wie die älteren Humanisten wie Conrad Celtis und Jakob Wimpfeling passionierte Korrespondenten. Die Humanisten verwendeten viel Mühe auf die Abfassung von Briefen, weil sie immer an deren Veröffentlichung dachten und auf diese Weise das Fremdbild beeinflussen und steuern konnten. Briefe dienten also nicht zuletzt der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung. Um seine europaweite Reputation unter Beweis zu stellen, veröffentlichte zum Beispiel Johannes Reuchlin 1514 eine Briefsammlung, die berühmte Männer an ihn geschrieben hatten, die er unter dem Titel Clarorum virorum epistolarum publizierte.7 Keiner aber nutzte seine Briefe geschickter zur Selbstdarstellung als Erasmus von Rotterdam, der von sich behauptete, am Tage bis zu 60 Briefe geschrieben zu haben.8 Aus diesem Grunde haben auch die meisten humanistischen Briefsammlungen als historische Dokumente nur bedingten Wert,9 zu vieles ist Pose darin, zu sehr sind die Briefe „eher das Produkt eines bewussten literarischen Ausdruckswillen als eines intimen Mitteilungsbedürfnisses“.10

2.

Einmalige Innenansicht – der besondere Charakter der mutianischen Korrespondenz

EINMALIGE INNENANSICHT

Das „intime Mitteilungsbedürfnis“ war aber gerade der Impuls für Mutians Briefeschreiben, denn in einem ganz entscheidenden Punkt unterschied er sich von der großen Mehrzahl der Humanisten: Anders als die „notorisch publizitätssüchtigen Humanisten“11 dachte er nie an eine Veröffentlichung, sondern verbat sich diese sogar, indem er seinen Korrespondenten häufig einschärfte, die Briefe nach Erhalt zu zerreißen (concerpere) oder zu verbrennen (comburere).12

7

Tübingen 1514 (VD 16, R 1241). Diese Sammlung wurde die Folie zu den weitaus bekannteren Epistolae obscurorum virorum (siehe unten). 8 ALLEN, VII, Nr. 2451. Zur Selbstdarstellung des Erasmus vgl. JARDINE, Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print, bes. Kapitel 6: Concentric Circles: Confected Correspondence and the Opus epistolarum Erasmi. 9 CLOUGH, The Cult of Antiquity, S. 35: „In general terms a humanist’s letter collection has its dangers as a source of historical document, and this complication has not usually been sufficiently appreciated by modern editors.“ 10 HARTH, Poggio Bracciolini und die Brieftheorie des 15. Jahrhunderts, S. 82. 11 RÄDLE, Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus, S. 111. 12 Zum Beispiel GILLERT Nr. 35: „combure literas“; Nr. 62: „Concerpe … iterum concerpe!“; Nr. 103: „ut literas concerpas“; Nr. 105: „tu literas meas concerpe“; Nr. 142: „literas combure“; Nr. 143: „concerpe“; Nr. 163: „subito concerpito“; Nr. 228: „literas dis-

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VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

Gelegentlich begründete er diese Bitte um Vernichtung damit, dass sie nicht besonders gelungen oder gefeilt wären,13 sodass ein Brief sozusagen eine unreife Frühgeburt (abortus partus) sei.14 In zahlreichen Fällen bat er aber auch um deren Beseitigung, weil er mögliche Repressalien fürchtete.15 Da seine Briefe nicht zum Publizieren bestimmt waren, besitzen sie eine Qualität, die den meisten Humanistenbriefen abgeht. Innerhalb des mutianischen Briefkorpus nehmen die Briefe an seine engeren Freunde und besonders die an Urban wiederum einen einmaligen Platz ein. Sie geben ungeschminkte Einblicke in das Denken eines bemerkenswerten Individuums zu Beginn des 16. Jahrhunderts. In den Briefen konnte Mutian ungehemmt sein Herz über seine Gegner ausschütten, konnte sich über Sexualität auslassen und seinen Freunden mit einer an Ketzerei grenzenden Offenheit radikale religiöse Ansichten anvertrauen, die ihn, wenn sie publik geworden wären, womöglich auf den Scheiterhaufen gebracht hätten. Glücklicherweise entsprach aber Urban nicht der Bitte seines Freundes, die Briefe zu vernichten, sondern sammelte sie sorgfältig, sodass er 1516 bereits zwei Bände davon besaß.16 Von diesen ist allerdings der zweite Band verloren gegangen. Von den 572 erhaltenen Briefen aus Mutians Feder sind etwa 350, also 61 Prozent, an Urban gerichtet. Wenn man diese Zahlen auf den fehlenden zweiten Band extrapoliert, so kommt man nach Fidel Rädle auf eine Zahl von „mehreren tausend Briefen“, die Mutian im Laufe seines Lebens geschrieben haben muss. Für die Jahre 1513 bis 1515 haben wir eine ungewöhnlich dichte Überlieferung, sodass die Briefe fast schon Tagebuchcharakter haben. Sie bieten ein Selbstporträt von unschätzbarem Wert, indem sie Mutian in seinen Stärken und Schwächen, in seinen Leidenschaften und Überzeugungen zeigen.17

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cerpe“; Nr. 266: „conscinde“; Nr. 217: „epistolas concerpe“; Nr. 251: „pone in ignes“; Nr. 522: „concerpe“; Nr. 464: „concerpe“. GILLERT Nr. 522 (Mutian an Urban, vor dem 16. Juli 1515): „Concerpe raptim fusa magis quam scripta.“ GILLERT Nr. 62 (Mutian an Herebord von der Marthen). GILLERT Nr. 143 (Mutian an Herebord von der Marthen, 4. Juli 1509): „Monemur ante omnia, ut linguam coerceamus, multa complectamur cogitatione, pauca loquamur. Vivimus inter Coryceos, inter Clodios et Catilinas et idiotis ludibrio sumus. Nihil ergo tutius quam tacere.“ HORAWITZ, Zur Biographie und Correspondenz Johann Reuchlins, Nr. XVII, S. 31 f. (Michael Hummelberger an Peter Eberbach, 24. Januar 1516): „Dein Urbanum philosophum tibi amicissimum, cuius uariam eruditionem ex hoc deprendo, quod unus omnium doctissimus tuis Mutianus ob ingenii felicitatem singulariter amat atque adeo frequentibus epistolis inuisit, ut iam duo ipsarum iusta uolumina collegerit in quibus penitior et elegantior quaepiam eruditio relucet digna multorum lectione.“ Die Briefe Urbans sind dagegen nicht erhalten. Vgl. Kap. VII.1.

VIELFÄLTIGE FUNKTIONEN DER BRIEFE

3.

259

Vielfältige Funktionen der Briefe

VIELFÄLTIGE FUNKTIONEN DER BRIEFE

Zwar hatte der Brief im 16. Jahrhundert eine Vielzahl von Funktionen, die im Laufe der nächsten Jahrhunderte von anderen Medien wie Zeitungen, wissenschaftlichen Journalen, in unserer Zeit sogar vom Telefon, E-Mail und wissenschaftlichen Diskussionsforen übernommen wurden,18 am besten versteht man die humanistische Korrespondenz aber, wenn man sie als „gemeinschaftsbildende Kommunikationsform“, um einen Begriff aus der modernen Psychologie zu bemühen, interpretiert. Indem man Briefe austauschte, bestätigte man, dass man einer durch eine besondere Sprache verbundenen Elite angehörte. In der Herausbildung eines gemeinsamen humanistischen Bewusstseins waren sie deshalb konstitutiv für die Formung eines humanistischen Standesbewusstseins.19 Tolle epistolas et barbaries erit. – Nimm die Briefe hinweg und die Barbarei wird herrschen, schrieb der deutsche Späthumanist Erycius Puteanus.20 Wie schon in der Antike – Plinius bezeichnete Briefschreiben als officium amicitiae – als Freundespflicht, und Briefe selbst als vincula amicitiae, als Freundschaftsbande,21 – galten Briefe auch für Mutian als Freundschaftsbeweise, wie er es einmal gegenüber Urban formulierte: Dein Brief ist gewissermaßen ein Zeugnis Deiner Liebe,22 oder wenn er Joachim von Watt mahnte: Du wirst Dir Mühe geben, die mit mir geschlossene Freundschaft zu stärken, wenn Du häufig und viel schreibst.23 Selbst wenn man sich nicht viel oder gar nichts mitzuteilen hatte, schrieb man, um von sich hören zu lassen und die Freundschaft zu stärken: Deine einzigartige Freundlichkeit und Dein Wohlwollen mir gegenüber veranlasst mich, an Dich des öfteren zu schreiben, obwohl eigentlich ein wichtiges Thema fehlt.24 Seinen Freund Justus Jonas forderte Mutian auf: Schreibe nur, und zwar ausführlich, was Dir so einfällt.25 Wichtig war also gar nicht unbedingt der Inhalt, sondern die Kommunikation selbst: Ich erwarte einen ziemlich langen

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Vgl. dazu HEIMANN, Mittelalterliches Briefwesen und moderne Schreibmedienkultur. Vgl. BERNSTEIN, Humanistische Standeskultur, bes. S. 106–109. Zitiert nach TRUNZ, Der deutsche Humanismus um 1600 als Standeskultur, S. 167. THRAEDE, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, S. 129. GILLERT Nr. 20 (Mutian an Urban, in den ersten Tagen des September 1505): „… nam epistula tua quaedam est amoris testificatio.“ 23 GILLERT Nr. 180 (Mutian an Joachim Watt, 5. August 1511): „Quod superest, dabis operam in confirmanda iam inita mecum amicitia, ut crebro et abundanter ad me scribas.“ 24 GILLERT Nr. 68 (Mutian an Urban, 5. Mai 1506–1508): „Facit singularis humanitas tua et summa erga me benevolentia, ut scribam ad te saepius, etiamsi grave deest argumentum.“ 25 GILLERT Nr. 530 (Mutian an Justus Jonas, 22. Juli 1515): „Scribe verbosius ad me, quicquid in buccam venerit.“

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VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

Brief: irgendeine Geschichte, irgendeine angenehme Erzählung, irgendwelche Neuigkeiten,26 forderte Mutian einmal Herebord von der Marthen auf. Wenn man dann einen Brief erhielt, löste das ungeheure Freude aus. So freute sich zum Beispiel Eobanus Hessus derartig über einen Brief Mutians, dass er ihn sofort an seine Freunde weiterreichte, worauf diese dann die Eleganz der mutianischen Epistel gebührend bewunderten. Mit großer Spannung erwarte er weitere Briefe. Man sollte ihn nicht durch langes Zögern auf die Folter spannen.27 Da Briefe als wertvoll, gewissermaßen als geistige Währung galten, konnte sich Mutian mit gutem Gewissen auch für eine ganz mundane Fischsendung, die er von Urban erhalten hatte, mit einem Bündel Briefe als Gegengeschenk revanchieren.28 Epistolarisches Schweigen wurde dagegen als freundschaftstötend betrachtet: Officit amiciae silentium – Schweigen schadet der Freundschaft.29 Ausflüchte, einschließlich eifrigen Studiums der Antike, wurden nicht akzeptiert.30 Seinen Freund Herebord von der Marthen schalt er, dass er ihn durch nichts zum Briefschreiben bewegen könne: Ich habe Dir mahnende und gleichsam vorwurfsvolle Briefe geschickt, in der Hoffnung, Dich wenigsten durch Tadel nach den endlosen Schmeicheleien aus dem Schlaf wecken zu können. Auch das hat nichts genutzt. Ich habe schließlich Clunia, die weibische Alte, geschickt. Sie kam ebenfalls ohne eine Antwort von Dir zurück. So sehr hast Du Dich aus einem beredten und gebildeten Jüngling zu einem stummen und ungebildeten verwandelt.31

Es darf nicht überraschen, dass Mutian, der wegen seiner etwas lässigen Ausübung seines Kanonikeramtes wohl über die meiste Zeit verfügte und sich in der thüringischen Kleinstadt isoliert fühlte, am häufigsten schrieb und deshalb auch am begierigsten war, Briefe zu empfangen. Da seine Korrespondenten sich nicht immer mit der gleichen brieflichen Begeisterung revanchierten, wurden sie 26 GILLERT Nr. 41 (Mutian an Urban, ungefähr im März 1506): „… aliquam fabulam, aliquam iucundam narrationem, aliquas novitates.“ 27 GILLERT Nr. 408 (Eobanus Hessus an Mutian, 4. August 1514): „Circumtuli statim ad amicos … Mirabantur omnes orationis tuae perpetuam elegantiam. … Literas tuas expecto. Rogo, ne earum desyderio me excarnifices.“ 28 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Nam hoc tempore, quod tibi pro eruditione tua iucundius esse possit, non habeo. Invenies lectu digna tuisque scriptis simillima.“ 29 GILLERT Nr. 194 (Mutian an Urban, 5. August 1512). 30 GILLERT Nr. 313 (Mutian an Urban, Ende August 1513): „Malum studium quod impedit salutationis officium.“ 31 GILLERT Nr. 172 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1510): „Misi ad te literas exhortatorias et quasi criminosas, ut saltem convitiis post infinita blandimenta dormientem excitarem. Nihil profeci. Misi postremo Cluniam effetam anum. Aeque sine responsione tua rediit. Adeo ex vocali et literato iuvene es mutus et illiteratus.“

DIE ÄUSSERE FORM

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von ihrem Mentor ermahnt und getadelt. Dabei konnte Mutian charmant und verspielt sein, wie wenn er an Spalatin und Urbanus schrieb: Freunde, ihr schreibt so selten, ihr verbergt Euch in den Büschen wie die Nachtigall im Winter. Jetzt ist Frühling! Gestern war Frühlingsanfang und Vögel fangen zu singen an.32 Den schreibfaulen Herebord von der Marthen fragte er einmal, was denn los sei, da er so lange nicht geschrieben habe. Und da dieser nicht antwortete, verfasste er selbst einen Brief, den sein Freund eigentlich hätte schreiben sollen.33 Selbst der treue Urbanus konnte nicht mit der Korrespondenz seines älteren Freundes Schritt halten. Enttäuscht tadelte Mutian ihn: Du schreibst nicht, Urbanus. Elefanten gebären schneller.34 Die Schwangerschaft eines Elefanten beträgt zwanzig Monate.

4.

Die äußere Form

DIE ÄUSSERE FORM

So sehr auch ein Brief in Thematik und Ton ein lockeres Gespräch in geselliger Runde nachzuahmen bemüht war, folgte er doch bestimmten Gesetzen, was die äußere Form anging. Wert wurde zunächst gelegt auf die angemessene Anrede, die salutatio, ein in allen Briefrhetoriken immer wieder betontes Element, deren Funktion war, den Adressaten nicht nur den nötigen Respekt zu erweisen, sondern ihn auch für den Verfasser des Briefes einzunehmen. Diese Einleitung zeichnete sich deshalb durch eine möglichst schmeichelhafte und originelle Anrede unter Berücksichtigung aller Titel aus. Besonders aufschlussreich und vielleicht auch überraschend ist dabei, dass Mutian in den Briefen an seinen Freund Urbanus immer wieder neue Wendungen der salutatio erfand. Bedenkt man die enge Freundschaft und die Vielzahl der ausgetauschten Briefe, würde man erwarten, dass Mutian auf alle Förmlichkeiten verzichtet. Ein schlichtes „Henrico Urbano Mutianus Urbanus [salutem dat]“35 hätte eigentlich genügen müssen. Tatsächlich beschränkte sich Mutian z.B. in den stichprobenartig untersuchten ersten 80 an Urban gerichteten Briefen nur in zwölf mit dieser schlichten, aber für intime Freunde ausreichenden Anrede.36 In den übrigen Fällen ersann er mit bewundernswertem Einfallsreichtum immer wieder neue Wendungen, sodass sich keine der 69 Anreden wörtlich glich. Einmal hob er Urbans rhetorische 32 GILLERT Nr. 102 (Mutian an Urban und Spalatin, 26. März 1506–1508): „Amici, raro scribitis, siletis in vepreculis vestris, ut hieme luscina solet. Ver est. Heri fuerunt Hilaria Romana, ad carmen revocantur aves.“ 33 GILLERT Nr. 141 (Mutian an Herebord von der Marthen, 29. Juni 1509). 34 GILLERT Nr. 166 (Mutian an Urban und Herebord von der Marthen, 30. Mai 1510): „Tu, Urbane, nihil scribis. Citius elephanti pariunt.“ 35 Das „salutem dat“ wird fast immer weggelassen. 36 GILLERT Nr. 17, 20, 25, 65, 73, 76, 97, 899, 107, 124, 125.

262

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

Begabung37 oder dessen Charakter hervor,38 seinen Beruf als Hausverwalter des Klosters Georgenthal,39 seine Gelehrsamkeit,40 oder sein Mönchsein,41 oder schlicht seine Qualitäten als Freund.42 Ein andermal drückte er seine Verehrung dadurch aus, dass er ihn ironisch als einen Halbgott (hemitheus) bezeichnete,43 dann wieder titulierte er Urban scherzhaft als einen Feldwebel der priesterlichen Armee,44 spielte mit seinem Namen, wenn er ihn als urbanissimus Urbanus, als äußerst urbanen Urban45 oder, auf dessen Situation unter den als barbarisch geltenden Mönchen seines ausgedehnte Ländereien besitzenden Klosters und dessen Rolle als Hausverwalter anspielend, ihn den großen Richter der Rüpel und des gesamten Nährstandes46 nannte. Selbst in ganz kurzen Mitteilungen verzichtete Mutian nicht auf eine angemessene Grußformel, was gelegentlich zu grotesken Missverhältnissen führen konnte, so etwa, wenn die Grußformel in einem Brief an Herebord von der Marthen aus neun Worten bestand, der Brief selbst nur aus zweiunddreißig.47 Wie wichtig diese Förmlichkeiten auch für Mutian waren, dem man im Allgemeinen keine Eitelkeit vorwerfen kann, zeigt ein Brief, in dem er sich beschwerte, dass Herebord von der Marthen und Crotus bisweilen in den an ihn gerichteten Briefen den gebührenden Respekt vermissen ließen. Ständig verspottet mich Herebord von der Marthen in den Briefaufschriften. Auf gleiche Weise muss Crotus getadelt werden, ein im Übrigen redlicher Mann, der aber keinerlei Rücksicht auf meine Bildung und Religiosität auf der Rückseite der Briefe nimmt. Wenn sie mich im Brief selbst einen ausgezeichneten Doktor nennen würden, würde ich ihnen das sehr übelnehmen, da ich nun mal Schmeicheleien nicht gern habe. Aber die Aufschriften werden dem Volk gezeigt, und viele lesen es vorher, bevor man sie selbst liest.48 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

GILLERT Nr. 3, 36. GILLERT Nr. 6, 30, 54. GILLERT Nr. 9, 10, 21, 29, 38, 49, 56, 87, 88, 89. GILLERT Nr. 10, 24, 55, 66, 90, 100. GILLERT Nr. 16, 86. GILLERT Nr. 26, 35, 106. GILLERT Nr. 41 (Mutian an Urban, ungefähr im März 1506). GILLERT Nr. 63 (Mutian an Urban, 24. März 1506–1508): „… militiae sacerdotalis optio.“ GILLERT Nr. 66 (Mutian an Urban, im Frühjahr 1508) GILLERT Nr. 68 (Mutian an Urban, 5. Mai 1506–1508): „Magno iudici rupiconum et totius agrariae classis Henrico Urbano suo Mutianus Rufus.“ 47 GILLERT Nr. 347 (Mutian an Herebord von der Marthen, 9. Februar 1514): „Herebordo Margarito, iuris professori docto, diserto, perito, amico colendo.“ 48 GILLERT Nr. 192 (Mutian an Urban, Anfang 1512; KRAUSE Nr. 101, November 1508) : „Semper me derisit in titulis literarum … Eodem calculo mordendus est Crotus, vir alioqui candidus, qui nullam rationem vel studii nostri vel pietatis habet in tergo literarum. Si intus me doctorem vel excellentem nominarent, aegerrime ferrem, utpote impatiens blanditiarum. Sed inscriptiones populo exhibentur et multi ante legunt quam ipse.“

DIE ÄUSSERE FORM

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Zur Tradition des Briefeschreibens gehörte auch, dass man vorgab, Briefe seien spontan verfasst worden. Auf keinem Fall dürfe man ihnen die darauf verwandte Mühe ansehen. Um diesen Eindruck der Spontaneität zu erwecken, deutete Mutian gelegentlich die Schreibsituation an, wie wenn er sagte, er habe den Brief nach dem Essen mitten in Gesprächen verfasst.49 Sehr häufig ließ auch Mutian durchblicken, wie schnell er den Brief geschrieben habe, weil er keine Zeit gehabt habe, weil die Nacht angebrochen sei, ein Bote gerade aufbrechen wolle,50 oder weil er zum Chorgebet schreiten müsse.51 Selbst in den Hinweis auf die Schnelligkeit des Schreibens kann er dabei ein wenig Bildung einschmuggeln, wenn er etwa sagt: schneller geschrieben als Spargel gekocht wird, eine auf Sueton zurückgehende Redensart.52 Eine Ausnahme stellte deshalb die Bemerkung Mutians dar, als er am Ende eines sehr ausführlichen Briefes nicht ohne einen gewissen Stolz an Urban bemerkte: Hier hast Du, Urbanus, einen nicht ganz geistlosen Brief.53 Zur Lebendigkeit und Spontaneität trugen auch die Andeutungen und Bemerkungen zum Wetter, zur Abfassungszeit eines Briefes hin,54 oder wenn er das vorherrschende wechselhafte Aprilwetter schilderte: Geschrieben im April, ich meine Mai, nein April, nein, nein Mai. Beides stimmt. Der Himmel verhält sich anders als der Kalender an diesem heutigen Sonntag.55

49 GILLERT Nr. 5 (Mutian an Urban, um den 29. Juni 1505): „post cenam inter confabulationes“; GILLERT Nr. 388 (Mutian an Urban, nicht lange nach dem 21. Juni 1514): „Haec, cum essem cenaturus exaravi.“ 50 GILLERT Nr. 141, 617, 644. 51 GILLERT Nr. 8: „raptim“; Nr. 68: „quam pressisime“; Nr. 311: „nox impedit stilum“; Nr. 390: „nox tardat calamum“; Nr. 585 und 591. 52 GILLERT Nr. 42 (Mutian an Urban, 21. März 1506): „Datum celerius quam asparagi coquantur.“ C. Suetoni Tranvuilli opera. I. De vita Caesarum libri III, hg. von DEMS., Leipzig 1958, Paragraph 67, S. 97: „celerius quam asparagi cocuntur“. 53 GILLERT Nr. 147 (Mutian an Urban, um Michaelis, Michaeli 1509 oder in einem der folgenden Jahre), S. 216: „Habes, Urbane, non illepidam epistolam.“ 54 GILLERT Nr. 120 (Mutian an Herebord von der Marthen, Winter 1508/09): „caelo nivoso“; Nr. 222: „gelidus frigor“. 55 GILLERT Nr. 252 (Mutian an Urban, April 1513): „ Datum mense Aprili, imo Maio, imo Aprili, imo Maio. Utrumque verum. Aliter caelum habet quam calendarium die solis hodierno.“

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

264

5.

Wichtig: der angemessene Stil

Stilistisch sollte sich ein Brief an dem Gegenstand, der Person des Adressaten und der Intention des Absenders orientieren. Ein Schreiben an Anna von Hessen, die Mutter des hessischen Landgrafen von Hessen Philipp des Gutmütigen, oder an den Kurfürsten Friedrich dem Weisen erforderte eine gehobenere, förmlichere Sprache als Briefe an seine Freunde, an die Mutian in einem plaudernden, oft ironischen Ton schrieb. Gerade das Leichte, Gesprächshafte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mutian seine Briefe aufs Sorgfältigste durchfeilte, da ein Brief dem Empfänger Freude bereiten sollte. Nachlässiger Stil zog Kritik auf sich: Faul, träg nur und äußerst phlegmatisch schreibst Du, schalt er Herebord von der Marthen, bei der Wortwahl keine erlesenen Worte, nur allgemein bekannte wählst Du. Ich gebe zu, dass man so an andere schreibt, an mich schreibe doch bitte etwas Exquisiteres … Es genügt nicht, barbarische Wörter abzulehnen, wenn man sie nicht durch andere ersetzt.56

Aus diesem Grunde verwandte Mutian selbst große Sorgfalt auf die Abfassung von Briefen, was umso erstaunlicher ist, da er, wie gesagt, an eine Publikation, offensichtlich bei den meisten Humanisten die Hauptmotivation für eine kunstvolle Ausgestaltung eines Briefes,57 nicht dachte, diese sogar ausdrücklich verbot. Sein Publikum war in den meisten Fällen eine einzige Person. Um deren Lesefreunde zu erhöhen, streute er in seine Briefe oft Sprichworte, Sentenzen, Scherze und Zitate lateinischer und (seltener) griechischer Autoren ein – auch darin folgte er humanistischen Briefrhetoriken. Gelegentlich verlieh er einem Argument durch das Zitieren einer antiken Autorität zusätzliches Gewicht; manchmal geschah das aber auch sehr spielerisch, wenn er zum Beispiel einen gegenwärtigen Zustand mit einer antiken Referenz charakterisierte. Die mit antiken und humanistischen Referenzen gespickten Briefe belegen nicht nur auf eindrucksvolle Weise seine immense Belesenheit – sondern setzten auch voraus, dass der Empfänger diese Anspielungen verstand, sie identifizieren und dadurch natürlich selbst seine Bildung beweisen konnte. Nur die sich selbst als Bildungselite verstehenden Mit-Humanisten vermochten diesen Geheimcode zu entschlüsseln. Antike Vorbilder für Mutians Korrespondenz waren die Briefe Ciceros und Plinius’ des Jüngeren, deren relative Verdienste er mit plinianischer Prägnanz so 56 GILLERT Nr. 146 (Mutian an Herebord von der Marthen, 21. August 1509): „Pigre tantum et lentissime pauca scribis. Nulla verborum electio, nihil remotum, omnium vulgaria. Fateor ita scribendum esse ad alios, ad me, quaeso, mittas exquisitioria. … Non satis barbara verba repudiare, nisi diversa assumas.“ 57 CLOUGH, The Cult of Antiquity, S. 35: „Aware that one’s letter might be collected and published caused the writer to elaborate every letter as a conscious literary creation.“

WEITGEFÄCHERTE THEMATIK

265

beschrieb: Cicero ist weitläufig, Plinius bündig. Jener besticht durch Ausdrucksfülle, dieser durch eine kraftvolle Ausdrucksweise.58 Vermutlich war er in seiner Vorliebe für Plinius von seinem Bologneser Lehrer Filippo Beroaldo beeinflusst worden, denn dieser hatte in der Vorrede zu seiner wichtigen Pliniusausgabe von 1498, also zu einer Zeit, in der sich Mutian noch in Bologna befand, betont, „dass der Briefstil des Plinius von den Zeitgenossen gegenüber dem des Cicero bevorzugt werde.“59 Mutian ließ sich zwar von antiken und zeitgenössisch-humanistischen Briefschreibern inspirieren, entwickelte aber im Laufe der Jahre einen ganz eigenen Stil, der sich durch Witz, Ironie, Urbanität und eine ungekünstelte Sprache auszeichnete.

6.

Weitgefächerte Thematik

WEITGEFÄCHERTE THEMATIK

Inhalt und Thematik der Briefe waren weit gefächert und widersetzen sich jeder Systematisierung. Im Grunde konnte jedes Thema Gegenstand eines Briefes werden. Bedenken sollte man zunächst, dass selten nur ein Thema einen Brief beherrscht, sondern dass in den meisten Fällen die verschiedensten Sujets berührt werden. Ein Extremfall bildete ein Brief an Urban aus dem Jahre 1512, dessen Inhalt Mutian mit den Worten einleitete: Breves literae, diffusum argumentum – ein kurzer Brief, die verschiedenartigsten Themen,60 worauf er dann eben diese Stoffe – es handelt sich um acht – in zügiger Weise und durchnumeriert „abhakte“. Obwohl dieser Brief eine Ausnahme war, nicht nur bezüglich der Anzahl der Themen, sondern auch bezüglich der spielerischen und ironischen Systematik, stellten die meisten Briefe eine thematische Mischform dar. Gegenstand eines Briefes ist natürlich zunächst einmal die Nachrichtenübermittlung. Mutian war stets begierig, Neues aus Leipzig, einem Zentrum des Buchdrucks (und Urbans zeitweiligem Studienort), oder aus dem als Nachrichtenbörse bekannten Erfurt zu erfahren und weiter zu geben.61 Ob es sich dabei um internationale oder nationale Themen wie die militärische Niederlage der kaiserlichen Truppen im Venezierkrieg im Jahre 150862 oder den Tod des in 58 GILLERT Nr. 333 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1511–1513: Krause datiert den Brief auf 1509, Nr. 123.): „Latus Cicero, strictus Plinius. Ille copia, hic robore et nervis vincit.“ 59 KIERDORF, Plinius: Sämtliche Briefe, S. 911 (Nachwort). 60 GILLERT Nr. 215 (Mutian an Urban, 30. September 1512). 61 MOELLER, Erwägungen zur Bedeutung Erfurts als Kommunikationszentrum der frühen Reformation, S. 275–282. 62 GILLERT Nr. 69 (Mutian an Urban und Spalatin, Mai 1508).

266

VIII. MUTIAN ALS KORRESPONDENT

ganz Deutschland angesehenen Erzbischofs von Mainz, Uriel von Gemmingen, handelte,63 oder ob es um regionale Ereignisse, wie die im geschliffenen Latein verfasste Schilderung der Überschwemmung des Kloster Georgenthal64 oder um den politischen Umsturz in Erfurt ging,65 spielte keine Rolle. Bei der Bibliophilie oder besser gesagt Bibliomanie Mutians darf es auch nicht überraschen, dass sich eine beträchtliche Anzahl von Briefen um den Ankauf, die Besorgung, den Austausch und die Besprechung von Büchern drehte, und dass Mutian mit seinen Freunden Leseerfahrungen und -eindrücke austauschte.66 Insgesamt wird dieser Themenkreis in 43 Briefen angesprochen, manchmal als Hauptthema, in vielen Fällen nur beiläufig.67 Nicht mit Büchern, sondern mit seiner Hausangelegenheit in Erfurt beschäftigten sich ganz oder teilweise zahlreiche Briefe (etwa 26). Dort besaß er bekanntlich ein recht baufälliges Haus, das ihm aber nur Ärger bereitete, und das er deshalb veräußern wollte.68 Ebenso handelte eine Reihe von Briefen von seinem Weinberg und dessen Verkauf.69 Wie sehr Mutian an dem Schicksal des von den Kölner Dominikanern verfolgten Humanisten und Hebraisten Johannes Reuchlin interessiert war, zeigen die etwa 35 Briefe, die zwischen 1512 und 1516 im Mutian-Kreis ausgetauscht wurden (vgl. Kap. IX).70 Eine relativ große Zahl von Briefen befasste sich mit der Vermittlung von Ämtern, Stellen, Pfründen und Empfehlungen. Auch hier reihte sich Mutian durchaus in die humanistische Praxis ein, denn sich gegenseitig zu empfehlen, war Freundespflicht, und Mutian, der selbst auf alle Angebote von Ämtern verzichtete, wurde nicht müde, andere für Ämter und Ehrungen brieflich zu empfehlen, worauf wir in den Kurzbiographien der Mitglieder des mutianischen Kreises wiederholt hingewiesen haben. Auf der anderen Seite konnte Mutian seinen Briefen, auf die Diskretion der Empfänger bauend, immer wieder Klagen anvertrauen. In einem ausführlichen, an Urban gerichteten Brief erging sich Mutian zum Beispiel in Beschwerden über die Mönche71 und Geistlichkeit, besonders über seine Gothaer Kollegen.72 Selbst 63 64 65 66 67

68 69 70

71

GILLERT Nr. 348 (Mutian an Urban, nach dem 8. Februar 1514). GILLERT Nr. 396 und 397 (Mutian an Urban, kurz nach dem 30. Juni 1514). GILLERT Nr. 176 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1509–1510). GILLERT Nr. 211, 245, 259, 333, 377, 521, 506, 582, 594. GILLERT Nr. 12,13, 25, 26, 33, 34, 38, 171, 194, 205, 216, 221, 260, 265, 269, 305, 323, 324, 328, 331, 345, 375, 378, 382, 386, 387, 420, 467, 492, 507, 523, 532, 544, 566, 568, 577, 585, 586, 595. GILLERT Nr. 242, 243, 244, 253, 254, 270, 286, 287, 288, 289, 294, 304, 306, 427, 431, 439, 453, 454, 455, 467, 480, 487, 492, 505. GILLERT Nr. 467, 471, 480, 481, 527, 536, 538, 540, 545. GILLERT Nr. 218, 219, 225, 226, 250, 251, 252, 269, 274, 277, 298, 320, 321, 326, 349, 353, 359, 360, 363, 374, 378, 455, 459, 465, 469, 470, 471, 503, 516. 565. GILLERT Nr. 94, 335.

271, 294, 524, 530, 309, 314,

322, 325, 554, 555,

WEITGEFÄCHERTE THEMATIK

267

über seine Diener73 und gemeinsamen Freunde beklagte er sich gelegentlich in Briefen an Dritte.74 Im Übrigen konnte alles Gegenstand eines Briefes sein, wovon schon eine bloße Aufführung der Themen einen Eindruck zu geben vermag: Mutian schrieb über richtiges Essen,75 ließ sich über die Korrelation von langen Nasen und männlichen Genitalien aus,76 regte sich über die Heirat des Protegés Eobanus Hessus auf,77 teilte seinen Korrespondenten amüsante Geschichten, Vorgänge oder Unterhaltungen mit,78 ließ sich über Pfründenangelegenheiten aus,79 verspottete einen Ablasskrämer,80 hielt dem angehenden Juristen Herebord von der Marthen ein Privatissimum über die künftige Rolle eines Juristen,81 dozierte über semantische Fragen82 und die richtige Akzentuierung der Wörter,83 um nur einige der zahlreichen Themen zu nennen. All das ist unerlässlich für eine Rekonstruktion der äußeren und inneren Lebenswelt des Gothaer Kanonikers und seines Kreises. Unentbehrlich sind aber auch die Briefe, um Mutians Verhalten in der Reuchlin-Affäre, seine subversivradikalen Gedanken über Religion und Kirche und schließlich seine Reaktion auf Luthers Reformation zu verstehen. Bücher oder Essays darüber hat Mutian bekanntlich nicht geschrieben; alles was wir darüber wissen, steht in diesen Briefen. Fast dreihundert Jahre später schrieb Goethe in einem ganz anderen mentalgeschichtlichen Kontext über die Bedeutung von Briefen: Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. … Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los; und als dauernde Spur eines Daseins, eines Zustandes sind solche Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn kam.84

Wenn diese Worte überhaupt auf einen deutschen Humanisten zutreffen, dann ist es Mutian. 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

GILLERT Nr. 32, 93, 96, 147, 206–209, 292, 336, 338, 534. GILLERT Nr. 485 (Mutian an Abt Hartmann von Kirchberg, 29. März 1515). Zum Beispiel in GILLERT Nr. 122, 191, 179, 196, 256. GILLERT Nr. 122 (Mutian an Urban, nicht lange vor Juni 1509). GILLERT Nr. 576 (Mutian an Justus Jonas, 15. Juli 1517). GILLERT Nr. 465, 481, 482, 531, 540. GILLERT Nr. 202, 250, 395. GILLERT Nr. 204, 205,207, 208, 209. GILLERT Nr. 151 (Mutian an Urban und Herebord von der Marthen, 1509). GILLERT Nr. 52 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1. Mai 1507). GILLERT, Nr. 60, 213. GILLERT Nr. 409 (Mutian an Urban, nach dem 4. August 1514). GOETHE, Winckelmann und sein Jahrhundert, in: Schriften zur Kunst, Bd. 33, München 1962, S. 256 f.

IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Es war eine bunte, sehr heterogene Gruppe von jungen Männern, die sich um Mutian geschart hatten, unterschiedlich in ihrem Temperament, ihrer sozialen Herkunft, ihrem beruflichen Werdegang und ihren Begabungen. In diesem Kreis gab es naturgemäß erhebliche Zentrifugalkräfte, wie die kleinen Zwistigkeiten innerhalb der Gruppe zwischen Hessus und Petreius gezeigt hatten.1 Zusammengehalten wurde die Gruppe einerseits durch Mutian, der sie, wenn möglich, in seiner BEATA TRANQULIITAS versammelte und ansonsten, da keiner der Sodalen in Gotha wohnte, intensive briefliche Kontakte mit ihnen pflegte, andererseits durch das Interesse an den studia humanitatis. Anders aber als die durch Conrad Celtis angeregten Sodalitäten im süddeutschen Raum, die sich in gemeinsamen Editionsvorhaben zusammenfanden, gab es in dem ordo literarius des Mutian keine gemeinsamen Projekte, obwohl die meisten der Mitglieder des Kreises wie Hessus, Crotus, Cordus, Jonas, Lange und Hutten als Individuen sich durchaus literarisch oder wissenschaftlich betätigten und bedeutende Werke publizierten. Was aber die Gruppe noch enger zusammenschweißte, war ein Ereignis, das in dieser Dimension nicht vorhersehbar war. Gemeint ist die Reuchlin-Affäre – die causa Reuchliniaria –, der Streit zwischen dem Juristen und angesehenen Hebraisten Johann Reuchlin und den Kölner Dominikanern, eine Affäre, die zu einer „europäischen Sensation“ wurde.2 Mehr als 50 Schriften auf Deutsch und Latein wurden verfasst,3 Hunderte von Briefen ausgetauscht, ein Teil von ihnen auch gedruckt, gelegentlich auch ohne Einverständnis der Verfasser. Der Streit wurde mit allen Mitteln der damaligen Publizistik ausgetragen und brachte neben Invektiven auch eine Reihe von Satiren hervor, unter denen das im Erfurter Humanistenkreis entstandene antischolastische Meisterwerk der Renaissance, die Epistolae obscurorum virorum, die Dunkelmännerbriefe von 1515, hervorragt. Prozesse wurden in Mainz, Speyer und schließlich in Rom geführt, und erst zehn

1 2 3

Vgl. Kap. VII.5 ff. KISCH, Zasius und Reuchlin, S. 24. Die genaue Anzahl lässt sich nicht ermitteln, da eine ansehnliche Zahl der ephemeren Flugschriften verloren gegangen sein dürfte. Die Zahlen ergeben sich aus dem „Index scriptorum cavsam Revchliniarum spectantium.“ In: BÖCKING, Suppl. II, S. 53–115. Böcking kommt auf 44 Schriften, wobei er allerdings die deutschen und lateinischen Fassungen der Schriften Pfefferkorns jeweils als eine Schrift zählt. Zählt man sie getrennt, ergeben sich 51 Druckwerke.

IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

270

Jahre nach Beginn der Fehde endete die Affäre mit einem Urteil in Rom.4 Wie reagierte der Erfurter humanistische Freundeskreis auf den Streit? Welche Rolle spielte Mutian dabei? Welche Bedeutung hatte er für seinen ordo literarius?5

1.

Der Judenbücherstreit und Reuchlin

DER JUDENBÜCHERSTREIT UND REUCHLIN

Auslöser der causa Reuchlini war der konvertierte Jude Johann Pfefferkorn.6 Zwischen 1507 und 1509 veröffentlichte er vier Werke, in denen er seine früheren Glaubensgenossen scharf angriff: Der Joedenspiegel, Der Juden beicht, Das Osterbuch und Der Juden veindt. Die Werke, verkaufsfördernd mit Holzschnitten versehen, wurden sofort ins Lateinische übersetzt, wahrscheinlich von Mitgliedern der Kölner Theologischen Fakultät, die den Konvertierten in seinen Aktivitäten unterstützten und protegierten. In diesen vier Schriften, die erhebliche Verbreitung gefunden haben müssen und im Tonfall immer schärfer wurden, forderte Pfefferkorn, den Wucher der Juden zu verbieten, sie zu harter Arbeit zu zwingen, ihnen ihre Bücher (mit Ausnahme der Bibel) zu nehmen und schließlich im Juden veindt, sie sogar aus dem Lande zu vertreiben.7 Im Jahre 1509 ließ er es aber nicht bei Worten bewenden, sondern machte den „entscheidenden Schritt von der Theorie zur Praxis“.8 Er erwirkte bei Kaiser Maximilian eine Vollmacht, die ihm die reichsweite Konfiskation jüdischer Bücher zu Prüfungszwecken 4

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Zum Reuchlin-Streit: GRAETZ, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, IX; GEIGER, Johann Reuchlin; BROD, Johannes Reuchlin und sein Kampf; KISCH, Zasius und Reuchlin; PETERSE, Jacobus Hoogstraeten gegen Johannes Reuchlin; KIRN, Das Bild der Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhundert; MARTIN, Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn. Ebenso: RBW, II, S. XVI–XXI und RBW, III, S. XIII–XLI. Die Quellen sind bekannt und werden jetzt auch durch die Berliner Reuchlin-Ausgabe Forschern leicht zugänglich sein. Johannes Reuchlin: Sämtliche Werke, hg. von EHLERS, MUNDT, ROLOFF und SCHÄFER, IV, Schriften zum Bücherstreit, 1. Teil: Reuchlins Schriften; 2. Teil: Johannes Pfefferkorn Schriften; 3. Teil: Kommentar und Dokumente zum historischen Umfeld der Texte Reuchlins und Pfefferkorns; 4. Teil: Der Ablauf des Bücherstreits; OVERFIELD, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, bes. S. 247–297; RUMMEL, The Case against Johann Reuchlin. Vgl. zu diesem Thema meinen Aufsatz „Liebe die Reuchlinisten, verachte die Arnoldisten“, aus dem ich hier die wichtigsten Argumente übernommen habe. Pfefferkorn: 1469–1523. Zu Pfefferkorn: KIRN, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts; MARTIN, Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn; GEIGER, Johannes Pfefferkorn. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden und zur Charakteristik des Reuchlin’schen Streites. Bibliographische Angaben bei BÖCKING, Hutteni Opera, Suppl. II und bei MARTIN, Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn, S. 392–393. BROD, Johann Reuchlin, S. 190.

DER JUDENBÜCHERSTREIT UND REUCHLIN

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erlaubte, und begann im September 1509 in Franfurt, mit kaiserlicher Vollmacht „lustig zu konfiszieren.“9 Nach Protesten der dortigen jüdischen Gemeinde verbot jedoch der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen weitere Beschlagnahmungen. Die Angelegenheit ging zurück an den Kaiser, der zunächst in einem Mandat vom 23. Mai 1510 die Rückgabe der Bücher befahl, aber in einem zweiten Mandat den Mainzer Erzbischof beauftragte, Gelehrte von den Universitäten Mainz, Köln, Erfurt und Heidelberg sowie den Inquisitor Jakob von Hoogstraten, den Geistlichen Victor von Karben, wie Pfefferkorn ein Konvertit, und Johann Reuchlin um Gutachten zu ersuchen, um die Frage zu klären, „ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Die Gutachten der Universitäten Mainz und Köln, sowohl die Einzelgutachten von Hoogstraten und von Karben befürworteten die Konfiskation; die Universität Heidelberg spielte auf Zeit und plädierte für eine mündliche Verhandlung. Erfurt billigte ebenfalls eine Vernichtung von Büchern, die „Irrtümer und Blasphemien des christlichen Namens enthielten“, ohne diese Bücher namentlich zu nennen.10 Nur ein einziger Gelehrter sprach sich für den Erhalt der jüdischen Bücher aus, und das war Johannes Reuchlin. Der 1455 in Pforzheim geborene Reuchlin hatte in Freiburg, Paris, Orleans und Poitiers Jura studiert und als Richter und Diplomat für den württembergischen Herzog Eberhard im Barte gearbeitet. Neben seinen lateinischen und griechischen Studien war er zu der Zeit, als die Kontroverse um die jüdischen Bücher anbrach, durch seine wegweisenden Studien des Hebräischen bekannt geworden. Als erster nicht-jüdischer Gelehrter hatte er eine hebräische Grammatik, De rudimentis hebraicis (1506), veröffentlicht. Reuchlins Gutachten oder „Ratschlag“, wie er es selbst nannte, ist zu Recht immer wieder gepriesen worden. Leopold von Ranke nannte es „ein schönes Denkmal reiner Gesinnung und überlegener Einsicht“,11 und Ludwig Geiger lobte dessen „reine und tolerante Grundsätze, milde und schöne Auffassung“.12 Tatsächlich hob sich Reuchlins Schrift von dem damals weit verbreiteten Antijudaismus positiv ab. Trotz einiger Bedenken moderner Historiker, die auch in Reuchlin antijüdische Vorurteile zu entdecken glauben, bleibt Reuchlins relativ tolerante Haltung bewundernswert. Den größten Umfang des Ratschlages nahmen Reuchlins Überlegungen zum Talmud ein, jenem monumentalen, aus 63 Büchern bestehenden Kompendium, das gelehrte Debatten, Dialoge, Kommentare und Kommentare zu Kommen9 10 11 12

Ebd., S. 195. Ebd., S. 200. Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, I, S. 155. GEIGER, Johann Reuchlin, S. 233 f.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

taren enthält. Dieses Werk sollte dann auch in den Auseinandersetzungen der nächsten Jahre eine wichtige Rolle spielen. Reuchlin kam zu dem Schluss: So vil sei gesagt, das er [der Talmud] nit zu undertrucken noch zu verbrennen sy.13 Was für den Talmud gelte, gelte in gleicher Weise für die Kabbala, die mystische Geheimwissenschaft, mit der sich Reuchlin seit seiner Bekanntschaft mit dem Italiener Pico della Mirandola beschäftigt hatte. Zum Schluss argumentierte er genuin humanistisch, dass zum Studium der Bibel neben der Kenntnis des Lateinischen und Griechischen auch eine Kenntnis der hebräischen Sprache notwendig sei. Schon aus diesem Grunde müsse die jüdische Literatur unbedingt bewahrt werden, denn die juden sind unserer capsarij,14 librarij und bibliothecarij, die sollich bücher behalten, darauß wir unßers glaubens zeugnis mögen stellen.15 Statt die Bücher vernichten zu lassen, solle der Kaiser verfügen, dass jede deutsche Universität auf zehn Jahre je zwei Hebräisch-Dozenten anstelle. Ziel bleibe zwar die Missionierung der Juden, aber dies solle mit Sanftmut und Vernunft geschehen. Kenntnis des Hebräischen sei dabei unabdingbar.16 Die jüdischen Bücher wurden zurückgegeben, und damit hätte die ganze Angelegenheit beendet sein können. In Mainz aber hatte Johannes Pfefferkorn Einsicht in das handschriftliche, vertrauliche Exemplar des reuchlinschen „Ratschlages“ bekommen. Er erkannte sofort, dass Reuchlins Gutachten, falls es publik würde, seinem Plan einer reichsweiten Konfiskation jüdischer Bücher äußerst gefährlich werden konnte. „Er sah seine Felle davonschwimmen.“17 Bevor also die reuchlinsche Expertise an die Öffentlichkeit gelangen konnte, setzte er deshalb zu einem Präventivschlag an. Zur Frankfurter Frühjahrsmesse 1511, also etwa ein halbes Jahr, nachdem Reuchlin sein Gutachten an den Mainzer Erzbischof gesandt hatte, veröffentlichte er den Handt Spiegel.18 Er widmete diese Schrift dem Dekan der

13 14 15 16

VON DESSAUER, Gutachten, S. 74. Die capsarii waren Sklaven, die im alten Rom ihren Herren die Büchertasche trugen. DESSAUER, Gutachten, S. 83. DESSAUER, Gutachten, S. 105: „In kurzen jarn werden unßere studenten in sollicher hebraischer sprach so gelert, daz sie mit vernünftigen und freuntlichen worten die juden künden und mögen senftmütiglich zu uns bringen.“ 17 TRUSEN, Johannes Reuchlin und die Fakultäten, S. 126. Ob er als kaiserlicher Sollicitator und Adlatus Zugang hatte oder ob er sich dazu illegal Zugang verschafft hatte, wie Reuchlin später behauptete, ist irrelevant. Auf alle Fälle war er nicht berechtigt, daraus zu zitieren. Vgl. BROD, Johannes Reuchlin, S. 200; anders: GEIGER, Johann Reuchlin, S. 241. 18 Genaue bibliographische Beschreibung bei BÖCKING, Suppl. II, S. 75. Zum Handt Spiegel: KIRN, Das Bild der Juden im Deutschland des frühen sechzehnten Jahrhunderts, S. 124–131; MARTIN, Die deutschen Schriften des Johannes Pfefferkorn, S. 137 ff.

REUCHLINS AUGENSPIEGEL

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Kölner Theologischen Fakultät, Arnold von Tungern,19 ein Hinweis auf die engen Beziehungen zwischen Pfefferkorn und seinen Kölner Mentoren. Punkt für Punkt versuchte Pfefferkorn, Reuchlins oft in verzerrter Form dargestellte Argumente zu entkräften und erging sich wie in seinen früheren Schriften in heftigen antijüdischen Ausfällen. Reuchlin hätte die Schrift möglicherweise unbeantwortet gelassen, wenn sie nicht in verletzender Weise auch seine Person angegriffen hätte. So behauptete Pfefferkorn zum Beispiel, Reuchlin verstünde nichts von den jüdischen Schriften, er habe die hebräische Grammatik De rudimentis hebraicis, auf die der Hebraist mit Recht stolz war, gar nicht selbst geschrieben, sondern schreiben lassen; weiter unterstellte er Reuchlin, von den Juden bestochen worden und überhaupt ein „Judenbegünstiger“ zu sein. In einer Zeit tiefverwurzelten und von der Kirche nicht nur sanktionierten, sondern auch unterstützten Antijudaismus war das ein schwerer Vorwurf. Dermaßen in seiner wissenschaftlichen Kompetenz, seinem Charakter, seiner Rechtgläubigkeit und Ehre getroffen, antwortete Reuchlin ein halbes Jahr später mit seinem Augenspiegel. Die Publikationen des Pfefferkorn’schen Handt Spiegels und Reuchlins Augenspiegel markieren den eigentlichen Beginn der literarischen Fehde. Bis zu diesem Zeitpunkt fand die Auseinandersetzung im nicht-öffentlichen Raum, also in den kaiserlichen und bischöflichen Amts- und Gelehrtenstuben statt. Jetzt aber, im April des Jahres 1511, wurde die Kontroverse in die Öffentlichkeit getragen.

2.

Reuchlins Augenspiegel

REUCHLINS AUGENSPIEGEL

Geschmückt mit einen Titelblatt, das eine Riesenbrille, eben einen Augenspiegel, darstellte, erschien das Werk im September 1511 bei Thomas Anselm in Tübingen.20 Es war diese umfangreiche Schrift, die im Zentrum des sieben Jahre sich hinschleppenden Prozesses (1513–1520) stehen sollte. Der Augenspiegel wurde angeklagt, konfisziert, verbrannt, freigesprochen und schließlich verurteilt. Kein anderes Werk reflektiert den Prozessverlauf so genau wie diese Schrift. Der Augenspiegel besteht aus fünf Teilen. Einer knappen erzelung des handels schließen sich im Wortlaut die Urkunden des Kaisers und Mainzer Erzbischofs 19 Zu Arnold von Tungern: RULAND, Arnoldus de Tongris, in: ADB, 1, S. 583; HAASS, Arnold von Tungern, in: NDB, 1, 381; HALKIN, Arnold Luyd of Tongeren, in: CoE, III, S. 330. 20 Nicht zur Ostermesse wie Geiger fälschlich behauptete (GEIGER, Johannes Reuchlin, S. 252). Genaue bibliographische Beschreibung bei BÖCKING, Suppl. II, S. 76. EHLERS ET AL. (Hg.), Schriften zum Bücherstreit. 1. Teil Reuchlins Schriften, S. 13–168.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

an, die Reuchlin zu seinem Gutachten aufgefordert hatten. Es folgt die Expertise selbst, die damit zum ersten Mal im vollen Wortlaut und nicht in der verzerrten Darstellung Pfefferkorns der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Während dieser Teil auf Deutsch abgefasst ist, sind die folgenden „Argumenta“ auf Lateinisch geschrieben. Im Stil einer mittelalterlichen Disputation bringt Reuchlin 52 Beweise zur Verdeutlichung seines Standpunktes vor. Diesen lateinischen Argumenten lässt er – nun wieder auf Deutsch und immer der juristische Systematiker – 34 „Unwahrheiten“, deren sich Pfefferkorn schuldig gemacht habe, folgen. Punkt für Punkt versucht er die im Handt Spiegel vorgebrachten Beschuldigungen, er habe sich von den Juden bestechen lassen oder habe seine Hebräischgrammatik gar nicht selbst verfasst, zu widerlegen. Pfefferkorn bezichtigte er der Lüge und nannte ihn einen leichtvertigen eerloßen böswicht.21 Obwohl Reuchlin manchen taktischen Rückzieher machte und sich gelegentlich auch antijüdischer Ressentiments bediente, blieb er doch im Großen und Ganzen bei der Verteidigung des Talmuds. In einem Brief an einen Kölner Freund hatte Reuchlin geschrieben: Leicht ist es einen Streit zu beginnen, schwer ihn zu beenden.22 Das sollte Reuchlin nach der Veröffentlichung des Augenspiegels am eigenen Leibe erfahren; denn sowohl Pfefferkorn als auch die Kölner Theologen reagierten nun ihrerseits mit provokativen Schriften. Beide Parteien lieferten sich in den nächsten acht Jahren einen heftigen polemischen Schlagabtausch. Die Eskalation des Streites führte schließlich dazu, dass Reuchlin im Herbst 1513 vor das Mainzer Ketzergericht geladen wurde. Von jetzt ab bis zum Jahre 1520 verlief die Kontroverse auf zwei miteinander verflochtenen Ebenen, der juristischen und der publizistischen. Mit Büchern, Pamphleten, auf Lateinisch und Deutsch, versuchten die jeweiligen Anhänger, sowohl den Ausgang des Prozesses als auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Der Prozessverlauf selbst, so kompliziert er auch war, lässt sich in drei Phasen gliedern. Im Mainzer Prozess errang Reuchlin insofern einen Etappensieg, als der Mainzer Erzbischof in letzter Minute das Verfahren niederschlug. Auch die zweite Phase, der vom Bischof von Speyer geleitete Prozess, verlief für Reuchlin günstig: Der Augenspiegel wurde freigesprochen, Jakob von Hoogstraten, der unerbittliche Gegner Reuchlins, der bis zu dem endgültigen Prozessende die treibende Kraft der Reuchlinfeinde blieb, wurde zur Zahlung der Prozesskosten verurteilt. Das war im März 1514. Hoogstraaten und die hinter ihm stehenden Kräfte weigerten sich jedoch, das Urteil zu akzeptieren und appellierten an den Papst als der höchsten richterlichen Instanz in Glaubensfragen, sodass der Prozess nach Rom überwiesen wurde, wo eine vom Papst eingesetzte Kommision Recht sprechen 21 EHLERS, Schriften zum Bücherstreit, S. 166. 22 „Facile rixa oritur, sed difficiles habet exitus.“ In: RBW, II, Nr. 198, S. 286.

REUCHLINS AUGENSPIEGEL

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sollte. Das Urteil wurde jedoch nicht verkündet, sondern Leo X. schob es durch ein „mandatum de supersedendo“ auf, obwohl die als Richter fungierenden Kommisionsmitglieder für Freispruch plädierten. Erst im Juli 1520 wurde der Augenspiegel als ein Skandal und eine Beleidigung und für die frommen Ohren christlicher Gläubiger verurteilt.23 Zu diesem Zeitpunkt hatte aber die causa Lutheri des Wittenberger Mönches bereits die causa Reuchlini in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Diese knappe Schilderung der ersten, der juristischen Ebene vermag aber kaum etwas von den Emotionen wiederzugeben, die damals die Intellektuellen Europas bewegten. Humanisten schrieben an Reuchlin, um ihm ihre Solidarität zu versichern. Reuchlin selbst veröffentlichte im März 1514 eine Sammlung von Briefen, die Clarorum virorum epistolae,24 um seine Wertschätzung durch die europäischen Gelehrten zu dokumentieren. Ein Jahr später, im Oktober 1515, erschienen dann die viel berühmteren Epistolae obscurorum virorum, jene geniale Satire, in der die Kölner Theologen und scholastisch orientierten Mönche sich selbst in ihrer angeblichen Dummheit und Verstocktheit entlarvten. Aber auch die Gegner Reuchlins blieben nicht untätig. Pfefferkorn veröffentlichte noch weitere vier Bücher, die Sturmglock (1514), die Beschyrmung und das Streydtpuechlyn (beide 1516) und Ein mitleidliche clag im Jahre 1521, also schon nach dem Ende des Reuchlin-Streites. Die Kontroverse polarisierte nicht nur die europäische Intelligenz, sondern auch in der Politik bildeten sich Fraktionen. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der württembergische Herzog Ulrich und selbst Kaiser Maximilian setzten sich z.B. für Reuchlin ein, während sein Enkel, der spätere Kaiser Karl V., und der französische König sich für Reuchlins Widersacher, die Kölner Dominikaner, verwendeten. In einem späten Stadium des Streits drohte der Reichsritter Franz von Sickingen den Kölnern sogar mit Gewalt.25 Der französische König Ludwig XII. wandte sich an den Papst mit dem stolzen Hinweis, dass seine Vorfahren schon den Talmud in einer groß angelegten Aktion hätten verbrennen lassen. Die Universität von Paris, damals als beste Europas geschätzt, sprach sich ebenfalls in einem Gutachten gegen Reuchlin aus, ein Urteil, das von den Kölnern sofort veröffentlicht wurde. Es ist die Zeit, also zwischen 1513 und 1520, in der sich die causa Reuchlini von einer rein deutschen zu einer europäischen Affäre entwickelte. Aber nicht nur in der großen Politik, sondern auch bei den deutschen Humanisten fand der Reuchlin-Streit 23 BÖCKING, Suppl. II, S. 152: „Speculum Oculare nuncupatum fuisse et esse scandalosum ac piarum aurium Christi fidelium offensivum.“ 24 Erschienen bei Thomas Anselm in Tübingen (VD 16, R 1241). 25 Dazu GEIGER, Johann Reuchlin, S. 205 ff.; BROD, Johann Reuchlin und sein Kampf, S. 265 ff.

IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

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ein großes Echo. Unter diesen spielte der Mutian-Kreis eine Schlüsselrolle sowohl in der Unterstützung Reuchlins als auch in den die Kontroverse begleitenden literarischen Auseinandersetzungen.

3.

Mutian und Reuchlin – gegenseitige Wertschätzung zweier Wissenschaftler26

MUTIAN UND REUCHLIN

Sieben Jahre, bevor der Streit um die jüdischen Bücher ausbrach, also im Jahre 1503, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien, hatte Mutian bekanntlich einen Brief an Reuchlin, den gelehrtesten Mann Deutschlands – Germanorum eruditissimus –,27 geschrieben, in dem er ihn als den größten Gelehrten feierte. An dieser Hochschätzung Mutians des Pforzheimer Gelehrten änderte sich auch während der ganzen Zeit der Kontroverse nichts, trotz einiger Einschränkungen, die den Ton und gewisse inhaltliche Vorbehalte gegenüber den reuchlinschen Schriften betreffen. In fast jedem der Briefe, in denen er sich über Reuchlin äußerte, bezeichnete Mutian diesen fast formelhaft als den größten Gelehrten Deutschlands.28 Immer wieder beschäftigte Mutian sich in seinen Briefen mit der Reuch26 Es gibt sechs zwischen Mutian und Reuchlin ausgetauschte Briefe, die die Humanistenfreundschaft belegen: Mutian an Reuchlin: GILLERT Nr. 2 (1. Oktober 1503), RBW, I, Nr. 127; GILLERT Nr. 516 (nach dem 30. Juni 1515), RBW, III, Nr. 268; GILLERT Nr. 565 (13. September 1516), RBW, III, Nr. 293. Reuchlin an Mutian: RBW, II, Nr. 151 (Fastenzeit 1509, nicht in GILLERT); GILLERT Nr. 303 (22. August 1513), RBW, II, Nr. 224; GILLERT Nr. 578 (22. Juni 1518), RBW, IV, Nr. 335. In der Korrespondenz Mutians existieren über 60 Briefe, die sich mit der Reuchlin-Affäre befassen. Die meisten von ihnen, 40, sind an Urban gerichtet: GILLERT Nr. 171; 218; 219; 226; 228; 229; 250; 251; 252; 269; 273; 274; 277; 280; 285; 286; 288; 310; 316; 320; 322; 326, 331; 349; 353; 361; 363; 374; 378; 387; 393; 410; 418 440; 447; 455; 465; 471; 503. Sie sind vertraulich und lassen deshalb wohl die ehrlichste Meinung Mutians erkennen. Daneben gibt es Briefe über den Bücherstreit an Petreius (GILLERT Nr. 225 und 294); Crotus Rubeanus (GILLERT Nr. 260 und 261); Gregor Agricola (GILLERT Nr. 259); Conrad Peutinger (GILLERT Nr. 298); den Abt vom Kloster Fulda, Hartmann von Kirchberg (GILLERT Nr. 459 und 469); Herebord von der Marthen (GILLERT Nr. 325 und 434); Eobanus Hessus (GILLERT Nr. 419, 499, 533); Georg Spalatin (GILLERT Nr. 57); Johann Lang (GILLERT Nr. 566, 575, 590, 594). Vgl. auch RÄDLE, Reuchlin und Mutianus Rufus. Über den weiteren Verlauf des Prozesses seit 1517 siehe RBW, IV, S. XV ff. 27 GILLERT Nr. 2 (1. Oktober 1503); RBW, I, Nr. 127. 28 „doctissimus vir“ (GILLERT Nr. 205); „doctissimus aetatis nostrae“ (GILLERT Nr. 226 und Nr. 277); „sanctissimus et doctissimus omnis aevi decus“, „ Omnium literarum princeps“ (GILLERT Nr. 252); „noster Reuchlin“ (GILLERT Nr. 277; Nr. 325, 359, 554); „vir eruditus egregie“ (GILLERT Nr. 288); „Germanorum eruditissmus“ (GILLERT Nr. 295); „vir summo ingenio, singulari doctrina, philosophis praeclarus, iuris et eloquentiae

MUTIAN UND REUCHLIN

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lin’schen Angelegenheit, verfolgte und kommentierte mit Entrüstung die Machenschaften der Kölner Theologen und reagierte, oft mit der unvermeidlichen zeitlichen Verzögerung, die sich aus der langsamen Nachrichtenübermittlung der Zeit ergab, auf die verschiedenen Ereignisse dieses Streites. Oft sind es nur kurze Bemerkungen in Briefen, die sich mit anderen Themen beschäftigen, gelegentlich bildet die causa Reuchlini aber auch das Hauptthema eines Schreibens. In der überwältigenden Mehrzahl der 60 Briefe, die sich mit der Reuchlin’schen Angelegenheit befassen, versicherte Mutian dem umkämpften Wissenschaftler seine uneingeschränkte Solidarität. Als Motto seines Engagements könnte ein Satz aus einem Brief aus dem Jahre 1512 an Petreius stehen: Eher gebiert eine Heuschrecke einen Elefanten, als dass ich ihm [Reuchlin] widerspreche.29 Zum ersten Mal erwähnte Mutian im Sommer 1510 die Auseinandersetzung um die jüdischen Bücher, also fast ein Jahr nach dem ersten Mandat des Kaisers, das Pfefferkorn eine reichsweite Bücherkonfiskation erlaubt, und unmittelbar nach dem zweiten kaiserlichen Mandat vom Juli 1510, das verschiedene Universitäten und drei Gelehrte beauftragt hatte, Gutachten zu erstellen.30 Die Nachricht davon findet sich aber nur als beiläufige Mitteilung in einem Brief, in dem Mutian hauptsächlich den fortwährenden Krieg in Oberitalien beklagte, weil dadurch der Bücherbezug aus Venedig empfindlich gestört sei. Erst zwei Jahre später, 1512, äußerte sich Mutian erneut über die Auseinandersetzung, als mit der unautorisierten Veröffentlichung von Reuchlins Ratschlag durch Pfefferkorn (April 1511) und der darauf reagierenden Veröffentlichung von Reuchlins Augenspiegel im August/September des gleichen Jahres die Auseinandersetzung zu einer literarischen Fehde eskaliert war. Pfefferkorns Brandspiegel und Reuchlins Ain clare verstendnis waren gefolgt. In diesem Brief von 1512 äußerte Mutian den Wunsch, die Articuli von Arnold von Tungerns zu sehen. Obwohl er diese offenbar noch nicht zu Gesicht bekommen hat, stand sein Urteil über die Kölner schon fest: Die Götter sollen die Eichelfresser zerstören und Petreieus sagt, man solle auf

consultus, de bonis literis optime meritus“ (GILLERT Nr. 298); „magnum Germaniae miraculum“(GILLERT Nr. 359); „propter hebraicas et graecas literas, in quibus mirabiliter excellit merito venerabilis et colendus“ (GILLERT Nr. 359); „vir eloquentissimus et undecumque ornatissimus“ (GILLERT Nr. 363); „Capnion noster“, „doctissimus Capnion“ (GILLERT Nr. 459); „homo trium linguarum peritissimus“ (GILLERT Nr. 465). 29 GILLERT Nr. 225 (Mutian an Petreius, 23. Oktober 1512, S. 303): „Et ego, prius pariet locusta Lucanum bovem quam ab eodem dissentiam.“ 30 GILLERT Nr. 171 (Mutian an Urban, erste Hälfte August 1510): „Caesar mandavit quattuor academiis, ut quid de volumine Talmuth sentiant, sitne perditissimis Iudeis reddendum, suis disputationibus explanent.“

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

deren Schriften scheißen.31 Die Kölner wollten Reuchlin mit einem Obelisk durchbohren, meinte er, wobei Obelisk sowohl Dolch als auch die Figur des Zensors bezeichnet, mit denen er anstößige Stellen markierte. Sobald er die Articuli erhalten habe, wolle er selbst an Reuchlin schreiben.32 Schon wenige Tage später bildete die reuchlinsche Angelegenheit das Hauptthema eines Briefes an Urban. Obwohl er immer noch nicht vollständig die Articuli Tungerns gelesen habe, glaube er, dass sie am Thema vorbeigingen. Sie seien im Grunde irrelevant. Die Frage, ob man den Juden ihre Bücher wegnehmen solle oder nicht, habe Reuchlin doch wissenschaftlich und mit guten Argumenten beantwortet, sodass er trotz gelegentlicher Irrtümer – er sei schließlich auch nur ein Mensch – Lob verdiene.33 Wütend reagierte Mutian auf das von den Kölnern erwirkte kaiserliche Verkaufsverbot des Augenspiegels, indem er sie als böse Dämonen und perfide Fanatiker verhöhnte.34 Wenn Jupiter mit seinen Blitzen nicht die Theologen unseres Zeitalters bestraft, werde ich aufhören, Jupiter zu verehren, drohte er; denn der äußerst fromme und gelehrte Johann Reuchlin, die ganze Zierde unseres Zeitalters, der Anführer aller Wissenschaften, sei verurteilt worden, ein völlig unverdientes Urteil.35 Am 12. September 1513 bat er Urban um die Namen des Rektors der Erfurter Universität und der zurzeit amtierenden vier Dekane, mit dem Gedanken, sich an sie zu wenden. Anlass war das Gerücht, dass die Universität ein Gutachten zu Reuchlins Augenspiegel vorbereite. Mit allen Mitteln wolle er versuchen (hortabor, monebo, rogabo, observabo), dass die Stellungnahme zugunsten Reuchlins ausfalle. Leider war aber die Expertise bereits vorher, am 3. September, fertiggestellt worden. Als er sie schließlich zu Gesicht bekam, konnte Mutian nur noch

31 GILLERT Nr. 218 (Mutian an Urban, 11. Oktober 1512): „Ioannem Reuchlin Agrippinenses censoria virgula notarunt. Dii perdant istos βαλανοφάγους. Petreius noster ait carthas esse cacatas.“ 32 GILLERT Nr. 219 (Mutian an Urban, kurz nach dem 11. Oktober 1512): „Habesne limam Agrippinensium, qua isti βαλανοφάγοι doctissimum Reuchlin velut obelisco confodiunt.“ 33 GILLERT Nr. 226 (Mutian an Urban, 26. Oktober 1512): „Theologi Iudeo parcentes dirigunt aciem in Ioannem Reuchlin, et caecis, ut dicitur, oculis dimicant … multum extra materiam nihil de hypothesi disputantes. Hanc quaestionem doctissimus aetatis nostrae adeo scienter et graviter expedivit Ioannes Reuchlin ut etiamsi interdum erraverit (est enim homo), tamen laude dignus sit.“ 34 GILLERT Nr. 250 (Mutian an Urban, Ende März 1513): „Sed, proh sancte Iupiter, impuri et bruti peperiphrones. … cacodaemonum sive perfidia phanaticorum.“ 35 GILLERT Nr. 252 (Mutian an Urban, April 1513): „… nisi Iupiter fulmine tangat theologos nostri temporis, non colam Iovis numen. Nam sanctissimus et doctissimus omnis aevi decus, omnium literarum princeps Ioannes Reuchlin indignam suis studiis sententiam sive Caesaris sive caesariani senatus instinctu theologorum tulit damnatusque est et proscriptus.“

MUTIAN UND REUCHLIN

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heftige Kritik üben.36 Die Erfurter Theologen würdigten zwar Reuchlin als ausgezeichneten, der drei heiligen Sprachen mächtigen Wissenschaftler, er sei auch ein guter, sich stets der Kirche unterwerfender Katholik, gleichzeitig verdammten sie dessen Augenspiegel als eine häretische Schrift, die verbrannt zu werden verdiene. Es war dieser Widerspruch, über den sich Mutian erregte: Reuchlin schonen, aber gleichzeitig seine Bücher verbrennen. Einen Autor könne man nicht von dessen Werk trennen. Wer ein Buch hasse, hasse auch dessen Autor.37 Sein ganzer Zorn richtete sich deshalb gegen die Erfurter Gutachter, die er als tollwütige Hunde (canes rabiosi), Affen (simii) beschimpfte. Besonders schamlos fand er, dass die Erfurter mehr oder weniger unbesehen das von Arnold von Tungern verfasste Kölner Gutachten übernommen hätten. Die Esel kratzen sich gegenseitig, höhnte er.38 Im September 1513 trat das Ketzergericht unter der Leitung des Ketzermeisters Jakob von Hoogstraten zusammen, der Prozess wurde aber am 12. Oktober von Erzbischof Uriel von Gemmingen niedergeschlagen. Darauf bezog sich Mutian in einem Brief vom 2. November: Über unseren Reuchlin sind günstige Gerüchte in Umlauf, hieß es dort.39 Reuchlin sei vorsichtiger geworden. Die Möwe lasse sich nicht durch Lockköder fangen, obwohl die Feinde Reuchlins dreifache Schlingen gelegt hätten. Aber vergeblich. Die tobenden Sophisten mögen nun mit ihrem Taratantara weitertoben. Reiner Wahnsinn ist es, die hebräische und griechische Literatur mit diesen dialektischen Beckmessereien zu verwerfen. Zuerst muss man sie doch verstehen, erst dann kann man sie loben oder kritisieren.40

Im Übrigen sollten sich die Theologen doch lieber um den windigen Angeber kümmern, der in Erfurt sein Unwesen treibe. Bei dem „windigen Angeber“ handelte es sich um keinen anderen als um einen gewissen Georg Faust, der in der europäischen Literatur noch große Bedeutung erlangen sollte, u.a. eben bei Thomas Mann, der in seinem Roman Doktor Faustus auch den mutianischen Kreis erwähnt. Dieser Chiromanticus sei nach Erfurt gekommen, er sei ein Narr, das Volk aber bewundere ihn. Er selbst, also Mutian, habe Faustus in 36 GILLERT Nr. 320 (Mutian an Urban, 3. Oktober 1513) GILLERT druckte auch den Text des Gutachtens auf den Seiten 413–415 als Beilage zu Brief 320 ab. 37 GILLERT Nr. 320: „Qui librum odit, scriptorem odit.“ 38 GILLERT Nr. 320, S. 412: „Mutuum muli scabunt.“ 39 GILLERT Nr. 326 (Mutian an Urban, 2. November 1513): „De Capnione nostro secunda fama circumfertur.“ 40 GILLERT Nr. 326:„Sed novit et suspectas habet insidias cautus. Non capitur larus esca. Praetendebant triplices laqueos Arnobardistae. Atqui frustra sumpti sunt labores contra peritissimum senem. Eant nunc bovinatores sophistae cum sua taratantara. Mera est insania hebraicas et graecas literas velle nugis dialecticis explodere. Primum est intelligere, deinde laudi aut culpae locus assignandus.“

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

einer Herberge schwatzen hören, habe aber seine Selbstdarstellungen nicht öffentlich getadelt. Was ginge ihm das exzentrische Treiben eines Fremden an?41 Bereits im November 1513 wurde der Prozess gegen Reuchlin den Bischöfen von Speyer und Worms übertragen, worauf Mutian allerdings erst vier Monate später reagierte. In einem ausführlichen Brief an Urban ging es um das Verhalten der Kölner gegenüber Reuchlin. Von guten Autoren sei überliefert, so mahnte Mutian, dass man Ruhe und geistige Gelassenheit gegenüber Streit und Kontroversen behalten solle und diese wie die Pest mit allen Mitteln vermeiden solle. Wem gebührt es aber mehr, sich friedlich zu verhalten als den Bettelmönchen, die sich zur Armut bekennen und verlangen, dass der Mensch vernünftig handelt. Aber es kommt anders. Diese Brüderchen fangen sogar an zu wüten, da sie den Gegner [i.e.Reuchlin] nicht mit christlichen Mitteln vernichten konnten, zögerten sie nicht, eine kriegerische Schlachtordnung anzunehmen und mit cleveren, widerlichen und typisch juristischen Argumenten den Fuß in die Kampfesarena zu setzen. Wäre es nicht besser, in den Zellen zu verweilen und sich mit sich selbst zu unterhalten, als die Gelehrten zu provozieren, einen Streit mit so einem gelehrten Mann vom Zaune zu brechen und sich nicht durch die kaiserliche und päpstliche Autorität schrecken zu lassen. Äußerst arrogant sind diese Knabenschänder, ich meine Prediger.42 Bar jeder Vernunft und verrückt ist jeder, der Reuchlin nicht wohlgesonnen ist. Ich halte ihn des Mitleids für würdig, weil er als Individuum von vielen mit allen möglichen Mitteln gequält wird.43

41 GILLERT Nr. 320 (Mutian an Urban, 3. Oktober 1513): „Venit octavo ab hinc die quidam chiromanticus Erphurdiam nomine Georgius Faustus Helmitheus Hedelbergensis, merus ostentator et fatuus. Eius et omnium divinaculorum vana est professio et talis physiognomonia levior typula. Rudes admirantur. In eum theologi insurgant, non conficiant philosophum Capnionem. Ego audivi garrientem in hospicio, non castigavi iactantiam. Quid aliena insania ad me?“ Bei dieser Briefstelle handelt es sich um einige der wenigen Stellen, in denen der historische Faust erwähnt wird. Vgl. MAHAL, Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens, bes. das Kapitel: Mutianus Rufus – der Mann am Nebentisch, S. 91 ff. 42 Das Wortspiel pedicatores – praedicatores lässt sich im Deutschen nicht wiedergeben. 43 GILLERT Nr. 353 (Mutian an Urban, Ende März 1514): „Agere autem leniter et mente tranquilla quos magis decet quam monachos, praesertim mendicantes, qui Christi paupertatem profitentur et frugi homines habere gestiunt? Sed aliter, proh nefas! usu venit. Usque adeo enim fraterculi quidam insanire coepere, ut quia Christianis armis adversarium perdere non poterant, bellatricem fori battologiam assumere et cum prudentissimis, gravissimis, dignissimis iure consultis pedem in harena quasi digladiatoria conferre non dubitent. Nonne foret aequius in cella latere ac secum loqui quam provocare doctos, lacessere disertos, contrahere litem cum viro clarissimo neque Caesaris neque pontificis authoritate deterreri. … Nimis sunt arrogantes isti pedicatores, hem predicatores. Iracunde nimis rabioseque agunt. … Rationis est expers et plane rudis, qui non bene velit Capnioni, quem dignum misericordia censeo, quod unus a multis et quidem temerariis modis omnibus vexatur.“

MUTIAN UND REUCHLIN

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Als am 10. Februar 1514 in Köln tatsächlich Reuchlins Augenspiegel verbrannt wurde, reagierte Mutian empört. Um sich ein eigenes Urteil zu bilden, habe er, Mutian, die von Hoogstraten monierten Stellen selbst gelesen. Bei dieser Lektüre sei ihm der Satz des Terenz in den Sinn gekommen: Warum sollst Du dich mit denen abgeben, die weder das Recht noch das Gute und Faire kennen?44 Statt Reuchlin zu schaden, sei das Gegenteil erreicht worden, argumentierte er in einem weiteren Brief an Urban: Wenn sie [die Dominikaner] weise wären, müssten sie zugeben, dass sie bei der Verbrennung des Augenspiegels Mühe und Öl verschwendet hätten. … Aber wenn sie glaubten, Reuchlin geschadet zu haben, haben sie sich getäuscht. Jenes von seinen Schmähern und Neidern entfachte Feuer hat die Autorität und das Ansehen Reuchlins vermehrt, sodass die ewige Flamme ihres Gewissens die Brandstifter verbrennt.45

In den folgenden zwei Jahren entfaltete Mutian eine für einen stillen Gelehrten, für den er sich immer hielt, geradezu fieberhafte Tätigkeit zugunsten Reuchlins: Mehrmals äußerte er sich positiv über das von Ulrich von Hutten verfasste Gedicht Triumphus Capnionis,46 teilte Herebord von der Marthen mit, dass er an Reuchlin geschrieben habe,47 schickte von ihm verfasste Verse auf Reuchlin an Urban,48 bat denselben um ein Exemplar des gedruckten Urteils der Pariser Fakultät zum Augenspiegel,49 schrieb an den Abt des Klosters Fulda, Hartmann von Kirchberg, über Reuchlin,50 bedauerte mehrmals gegenüber Urban, wie sehr Reuchlin bedrängt werde,51 kommunizierte häufig mit seinem Freund Johannes Lange über den gemeinsamen Freund52 und rang sich schließlich dazu durch, selbst an Reuchlin zu schreiben.53 Dass sich viel weniger Briefe aus den Jahren 1516–1520 finden, mag mehrere Gründe haben. Einmal war der Prozess seit 1516 gleichsam durch ein päpstliches Mandat suspendiert worden, zweitens war 44 GILLERT Nr. 361 (Mutian an Urban, kurz vor dem 28. April 1514): „Qua in re subit mihi Terentianum illud: Quid cum illis agas, qui neque ius neque bonum atque aequum sciunt?“ 45 GILLERT Nr. 363 (Mutian an Urban, 2. Mai 1514): „Si saperent palliata et concionaria mendicabula, certe profiterentur se et operam et oleum in comburendo Speculo perdidisse. … Tantum vero abest, ut ignis ille ab obtrectatoribus et malevolis conflatus aliquam dignitati et gloriae Capnionis notam inusserit, ut ciniflones et incendiarios perpetua conscientiae face, qua scelerati crutiantur, exurat.“ 46 GILLERT Nr. 387, 393, 410 und 419. 47 GILLERT Nr. 434 (kurz nach dem 17. September 1514). 48 GILLERT Nr. 440 (September 1514). 49 GILLERT Nr. 455 (11. November 1514). 50 GILLERT Nr. 459 (20. Dezember 1514). 51 GILLERT Nr. 465, 471 (kurz nach dem 9. Januar 1515 und 5. Februar 1515). 52 GILLERT Nr. 566, 575 und 594. 53 GILLERT Nr. 565 (13. September 1516); RBW, III, Nr. 293, S. 351–356.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

es durch die Veröffentlichung der Epistolae obscurorum virorum gefährlicher geworden, sich zu der Affäre zu äußern, und drittens ist der zweite, die folgenden Jahre umfassende Band der Urban’schen Sammlung der mutianischen Briefe verloren gegangen. Wenn einige Forscher Mutian eine gewisse Reserviertheit gegenüber Reuchlins Verhalten in dieser Kontroverse unterstellen,54 so liegt das an zwei vertraulichen Briefen an Urban, in denen Mutian tatsächlich Vorbehalte einerseits gegenüber dem Ton und andererseits gegenüber dem Inhalt der reuchlinschen Schriften geäußert hatte. Der erste Brief aus dem Jahre 1513 ist mit seinen etwa 1.200 Wörtern einer der umfangreichsten zu diesem Thema.55 Es ist ein durchaus kritisches, ambivalentes Schreiben. Einerseits rügte Mutian nämlich darin die lügnerischen und rechtsverdreherischen Articuli des Arnold von Tungern, andererseits missbilligte er Reuchlins Verhalten, weil er mit seiner stürmischen, um nicht zu sagen wütenden Apologie geantwortet habe.56 Mit der ihm eigenen Ironie fügte er hinzu: Er [Reuchlin] ist ein ausgezeichneter Kenner der fünf wichtigsten Sprachen: Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Schwäbisch und Schmählateinisch.57 Neben dem Unbehagen an Reuchlins „Schmählatein“ ist aber noch etwas anderes, was Mutian in dieser Situation an Reuchlin tadelte. Er räumte nämlich ein, dass vieles von weisen Männern erfunden worden sei, sodass die Menschen durch Religion getäuscht würden. Mutian sah die staats- und kirchenerhaltende Funktion der Religion durch die Ansichten Reuchlins bedroht; angeblich uralte Dogmen würden durch ihn in Frage gestellt und veröffentlicht (vgl. Kap. X).

54 OVERFIELD, Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, S. 281 ff.; PETERSE, Jacobus Hoogstraten gegen Johannes Reuchlin, S. 66; HOLBORN, Hutten: „Mutianus bedauerte, dass Reuchlin das humanistische Wissen bei den Massen in Verruf brachte.“ (S. 52). 55 GILLERT Nr. 251; KRAUSE Nr. 287. GILLERT datiert diesen Brief auf Ende März. KRAUSE auf den August. Ich stimme in diesem Falle mit Krause überein, denn Mutian äußerte sich darin auch über Reuchlins umfangreiche Defensio, die erst im April 1513 erschienen war. 56 GILLERT Nr. 251: „Huic calumnioso conviciatori turbulenta, ne dicam furiosa apologia respondet fortiusque genuinum figit … Ita atrociter respondet ita severe se asserit a virgula censoria, ut pene boni viri gratiam et dignitatem amiserit.“ GILLERT Nr. 349 (Mutian an Urban, 18. März 1513): „Alioqui dicerem peccare Capnionem nimis proscindentem adversarios.“ 57 GILLERT Nr. 349: „Magnus est in quinque maximis linguis hebraica graeca, latina, sueva, malelatina.“

MOBILISIERUNG DES MUTIANISCHEN KREISES

283

Trotz dieser Bedenken war Mutians Unterstützung Reuchlins eindeutig und uneingeschränkt.58 Genauso wenig wie je eine Heuschrecke einen Elefanten gebar, wich Mutian von seiner Unterstützung Reuchlins ab.

4.

„Liebe die Reuchlinisten“ – Mobilisierung des mutianischen Kreises

MOBILISIERUNG DES MUTIANISCHEN KREISES

Trotz seiner durch seine Korrespondenz belegten Unterstützung Reuchlins hielt sich Mutian mit öffentlichen Äußerungen zugunsten des Pforzheimer Gelehrten zurück. Grund dafür dürfte seine Publikationsscheu gewesen sein, denn ein Brief an Reuchlin war ein quasi-öffentliches Dokument. Nichts hatte das klarer gemacht als die Veröffentlichung von Privatbriefen durch Reuchlin im Jahre 1514, den Clarorum virorum epistolae, in denen der Hebraist unter zahlreichen anderen auch Briefe von Spalatin, Hessus, Petreius, Hutten, auch Mutians Brief an ihn aus dem Jahre 1503, veröffentlicht hatte, ein Brief, der selbstverständlich nichts mit der Reuchlin-Affäre zu tun hatte.59 Auch seine in einem Brief an Petreius geäußerte Bemerkung: Niemals habe ich mich unterstanden, die Untaten irgendeines Menschen zu bewerten, nun ist aber die Zeit gekommen, den Krähen die Augen auszuhacken,60 darf man nicht als Bekenntnis zu einem persönlichen Einsatz verstehen. Den feindlichen Krähen die Augen auszustechen – dies überließ er anderen. Mit der Ausrede, Mutian sei durch die Weinlese am Schreiben verhindert, musste Urban, dem die epistolarische Zurückhaltung seines älteren Freundes offenbar peinlich war, diesen sogar gegenüber Reuchlin entschuldigen.61 Tatsächlich sind nur zwei Briefe Mutians an Reuchlin erhalten, außer dem bereits erwähnten Schreiben aus dem Jahre 1503, das sieben Jahre vor der Kontroverse geschrieben worden war. Beide stammen aus der späteren Zeit, als die Angelegenheit bereits in Rom verhandelt wurde, einer aus dem Jahre 1515,62 der andere aus dem Jahre 1516.63 Darüber hinaus sind möglicherweise Briefe Mutians an Reuchlin verloren gegangen.64 58 Aus diesem Grunde muss ich OVERFIELD widersprechen, wenn er sagt: „But Mutian’s correspondence shows that he actually disapproved much that Reuchlin did in the controversy.“ (Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany, S. 280). 59 Erschienen bei Thomas Anselm in Tübingen. Spalatin an Reuchlin: RBW, II, Nr. 219; Hessus an Reuchlin: RBW, III, Nr. 274; Petreius an Reuchlin: RBW, III, Nr. 274; Hutten an Reuchlin: RBW, III, Nr. 306. 60 GILLERT Nr. 275 (Mutian an Petreius, 23. Oktober 1512): „Numquam studui malefacta ciuiusquam cognoscere nunc tempus admonet ut cornicum oculos configam.“ 61 RBW, II, Nr. 230 (Urban an Reuchlin, 15. Oktober 1513): „Mutianus noster, nisi laborasset in vindemia, dedisset … literas pro sua in te pietate.“ 62 RBW, III, Nr. 268; GILLERT Nr. 516.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Obwohl sich also Mutian in seinen öffentlichen Äußerungen zurückhielt, mobilisierte er umso eifriger seine Freunde, indem er sie aufforderte, sich für Reuchlin zu engagieren. Liebe die Reuchlinisten und verachte die Arnoldisten, schrieb er an Urban.65 Und diesen Aufforderungen sind seine Sodalen bereitwillig nachgekommen. So existieren Briefe an Reuchlin von Crotus Rubeanus,66 Eobanus Hessus,67 Georg Spalatin,68 Peter Eberbach,69 Euricius Cordus,70 Ulrich von Hutten71 und Urban, von letzterem sogar zwei.72 Dass Reuchlin diese Briefe auch beantwortete, zeigt, wie wichtig ihm die Verbindung zu dem mutianischen Kreis war.73 Der öffentlichkeits- und konfliktscheue Mutian als hinter der Front wirkende „Generalstäbler“74 – das ist genau die Rolle, die er sich selbst zugedacht hat: Ich auch, der geringste unter den Aposteln, habe eine genügend starke Mannschaft zusammengezogen, versicherte er Gregor Agricola, und kann in unserer Truppe Führer und bedeutende Männer, Äbte und großartige Schmausbrüder des Jupiter [d.h. Mönche] aus unserem literarischen Kreis gleichsam als Gepanzerte und Fahnenträger vorweisen. Diese werden wir gegen die Käse sammelnden Mönche und fanatischen Pädophilen, hm, ich meine Prediger, ausrücken lassen.75

63 RBW, III, Nr. 293; GILLERT Nr. 565. 64 Der erste vom Jahre 1514, vgl. GILLERT Nr. 434, II; S. 91, Anm. 9; der zweite aus dem Jahre 1518 vgl. GILLERT Nr. 578. Vgl. zu dem Briefwechsel: RÄDLE, Reuchlin und Mutianus Rufus, bes. 196–200. 65 GILLERT Nr. 277 (Mutian an Urban, nach dem 23. Juli 1513): „Ama Reuchliastros, contemptui habeas Arnoldistas.“ 66 RBW, III, Nr. 233 (26. Januar 1514); GEIGER BW, Nr. XIII, S. 28–30. 67 RBW, III, Nr. 257 (6. Januar 1515); GEIGER BW, Nr. CC, S. 233. 68 RBW, II, Nr. 219 (vor dem 13. August 1513). 69 RBW, III, Nr. 274 (25. August 1515), Geiger, BW Nr. CLXVI. 70 GEIGER BW, Nr. CCII. Darin die Aufforderung Mutians, an Reuchlin zu schreiben. 71 RBW, III, Nr. 306 (13. Januar 1517), BÖCKING, I, Nr. XXXXVI. 72 RBW, II, Nr. 223 (vor dem 22. August 1513); RBW, II, Nr. 230 (15. Oktober 1513) 73 Reuchlin an Urban: RBW, II Nr. 225 (22. August m1513); Reuchlin an Spalatin: RBW, II, Nr. 226 (31. August 1513); Reuchlin an Eobanus Hessus: RBW, III, Nr. 252 (26. Oktober 1514); Reuchlin an Eberbach: RBW, III, Nr. 278 (18. Oktober 1515). Lediglich von Justus Jonas gibt es keinen Brief an Reuchlin. 74 KRAPP, Der Erfurter Mutiankreis, S. 85. 75 GILLERT Nr. 359 (Mutian an Gregor Agricola, 5. April 1514): „Ego quoque … minimus apostolorum contraxi satis validam manum et possum in cohorte nostra ostentare duces et principes viros et de sacris abbas et magnos Iovis epulones, ex ordine literario quasi quosdam cataphractos et antesignanos, quos agmine facto educemus, si necessitas postulaverit contra fraterculos casearios et phanaticos pedicatores, hem praedicatores dicere volui.“ An dem Wortspiel „pedicatores – praedicatores“ hatte Mutian offenbar Gefallen

MOBILISIERUNG DES MUTIANISCHEN KREISES

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Im gleichen Sinne versicherte Crotus Rubeanus Reuchlin brieflich, dass es sich um eine konzertierte Aktion des mutianischen Kreises handelte: Auch Dir werden, wenn Du willst, Hilfstruppen nicht fehlen. Du hast den hochgelehrten Mutian; Du hast den ganzen Kreis des Mutian, in dem gibt es Philosophen, Dichter, Redner, Theologen, alle sind Dir ergeben, alle bereit, für Dich zu streiten … Befiehl, wann Du willst; wir werden bereit sein.76

Auch Reuchlin selbst war kein Gelehrter, der sich in den Elfenbeinturm der Wissenschaft verkroch und passiv die Angriffe seiner Gegner ertrug, sondern ein Mann, der sich aktiv um seine Angelegenheit bemühte, nicht nur, indem er publizistisch heftig zurückschlug wie im Falle seiner Defensio und seines Augenspiegels, sondern auch, indem er die humanistischen Netzwerke aktivierte. Er erkannte sofort, dass unter diesen der von Mutian angeführte Kreis der Erfurter Humanisten eine Schlüsselrolle spielte. So bedankte er sich in einem Brief vom 22. August 1513 bei Mutian für den Einsatz von dessen gesamter literarischen Vereinigung (totius vestrae sodalitatis literatoriae) und vereinnahmte sowohl Urban, Petreius und Spalatin für seine Zwecke.77 Der Letztere war nun nicht nur ein Protegé des Mutian, sondern genoss auch als Bibliothekar der Wittenberger Universitätsbibliothek und Tutor am Hofe Friedrichs des Weisen einen beträchtlichen Einfluss bei Friedrich dem Weisen, und dieser wiederum hatte das Ohr des Kaisers. Um sich auch wissenschaftlich noch einmal in Erinnerung zu bringen, schenkte Reuchlin dem Kurfürsten eine von ihm trotz aller Widrigkeiten verfasste Biographie Konstantins des Großen. Seinem stets an literarischen Neuigkeiten interessierten Freund Mutian ließ der sparsame Schwabe sie freilich nicht zukommen. Obwohl die Aktivitäten des Erfurter Netzwerkes durch die Verlagerung des Prozesses nach Rom im April 1514 stark eingeschränkt wurden, blieben für Mutian und seinen Kreis Nachrichten aus Rom von größtem Interesse.78 Über den Prozessverlauf und die für Reuchlin tätigen Personen erfuhr Mutian einerseits durch Briefe Michael Hummelbergers,79 andererseits durch Schreiben des Petreius, die allerdings größtenteils verlorengegangen sind. Erhalten ist lediglich

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gefunden, denn er hatte es ja bereits eine Woche vorher in dem Brief an Urban verwendet (GILLERT Nr. 353). RBW, III, Nr. 233 (Crotus an Reuchlin, 26. Januar 1514, S. 16): „Tu quoque si volueris, tibi non deerunt in respondendo auxiliatores. Habes doctissimum virum Mutianum. Habes totum Mutiani ordinem. Sunt in eo philosophi, poetae, oratores, theologi, omnes tibi dediti, omnes pro te certare parati. Manda et iube, quando voles; praesto erimus.“ RBW, II, Nr. 224 (Reuchlin an Mutian, 22. August 1513); GILLERT Nr. 303. Zu den Netzwerke der Feinde Reuchlins vgl. TEWES, Zwei Fälle – ein Kläger. Das Netzwerk der Feinde Reuchlins und Luthers. Zu Reuchlins Kommunikationsnetz BEHRINGER, Johannes Reuchlin im Kommunikationsnetz seiner Zeit und sein Bild der Zeit. GILLERT Nr. 424 (Michael Hummelberger an Mutian, 1. September 1514).

IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

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ein Schreiben über die reuchlinsche Angelegenheit nach seiner Rückkehr aus Italien. Er hoffe, dass es Mutian nicht unangenehm sei, wenn er die in seinem Briefe erwähnten Individuen identifiziere, sozusagen als Nomenclator, also wie ein altrömischer Namenzuflüsterer, fungiere.80

5.

Mutians Motive der Unterstützung Reuchlins

MUTIANS MOTIVE DER UNTERSTÜTZUNG REUCHLINS

Mutian war genauso wenig wie andere Humanisten einschließlich des Erasmus ein Freund der Juden. Ich hasse die Juden, obwohl die meisten von ihnen gut sind und sich um mich Verdienste erworben haben, gestand er einmal.81 Persönliche positive Erfahrungen mit Juden konnten offenbar sein kulturell tief verwurzeltes Vorurteil nicht auslöschen.82 Seine antijüdischen Ressentiments scheinen sich sogar im Alter noch verstärkt zu haben, denn im Jahre 1523 beklagte er die Verworfenheit der Nachkommen Abrahams83 und verstieg sich ein Jahr später sogar in wilde Verschwörungstheorien zwischen angeblichen lutherischen „Judenbegünstigern“ und den Juden selbst.84 „Der Humanismus war [also] keine Menschenrechts-

80 GILLERT Nr. 554 (Petreius an Mutian, 26. Januar 1516) und Nr. 555 (Anfang April 1516). Zu Nomenclator: Der Kleine Pauly, IV, S. 146. Reuchlin selbst hatte andere Informationsquellen wie den Bremer Kanoniker Martin Gröning. Dieser hatte den Augenspiegel aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt. Mit großer Anschaulichkeit schilderte er die einzelnen Persönlichkeiten, die an den Sitzungen teilnahmen, den erregten Verlauf der Sitzungen und die Meinungsäußerungen der Gegner (SCHLECHT, Briefe aus der Zeit von 1509 bis 1526, hier besonders S. 26–35 und S. 65–81). 81 GILLERT Nr. 229 (Mutian an Urban, 1. November 1512, S. 308): „Odi circumcisos, quamquam boni sunt plurimi et de me bene meriti.“ 82 Vgl. dazu auch Mutians Bemerkung über den Besuch eines gewissen Jacobus Sobius aus Köln. Über diesen sagte er, Sobius falle durch seine Manieren angenehm auf, obwohl er seinem Aussehen nach Jude sei (GILLERT Nr. 378, Mutian an Urban, 7. Juni 1514): „Nam et ipse pollebat elegantia quadam ingeniii, etsi facie esset Hebraeus.“ 83 GILLERT Nr. 619 (Mutian an Eobanus Hessus, nach dem 2. November 1523): „Nam pravitas seminis Abrahami notior est ubique, quam ut describi sugillarique debeat.“ 84 GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, gegen Ende Februar 1524). ALLEN, X, Nr. 1425: „Nocent Hebraei male Christiani per speciem pietatis simplicem credulitatem mira vafricie corrumpentes. Eorum scelera et iniurias tua divina oratione facile poteris ulcisci, si limam aliquam in vaticinia et Mosen conscripseris, ne facinorosa circumcisio praetextu sacrarum literarum venena pro remediis ingerat, laedatque publicam tranquillitatem. Errat meo iudicio civitas, quae ad foenus exercendum Iudeos recipit, errant qui Iudeum baptizatum publice eruditioni praeficiunt. Confluit ea gens ad Lutherum. Dat consilia et habetur in pretio.“

MUTIANS MOTIVE DER UNTERSTÜTZUNG REUCHLINS

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bewegung.“85 Pfefferkorn wurde stets von Mutian wenig schmeichelhaft ein jüdischer Überläufer86 oder schlicht verfluchter Jude genannt.87 Worum ging es aber dann in dem Streit, wenn nicht um die Verteidigung der jüdischen Bücher? Es ging um die Parteinahme für einen Wissenschaftler, der zudem einer der wenigen Deutschen war, die die drei heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch beherrschten. Dass dieser Gelehrte, das Wunder Deutschlands, miraculum Germaniae, auf das Bösartigste angegriffen worden war, war das unverzeihliche Vergehen der Kölner; denn in dem Pforzheimer Hebraisten sahen sich die Humanisten in ihrer Gesamtheit diskreditiert. Als absoluter Feind der humanistischen Studie, als Verkörperung des antihumanistischen Geistes, wurde der Kölner Inquisitor Jakob von Hoogstraten gezeichnet. Die Kölner verfolgten die bonae literae und die bene literatos also mit ungeheuerem Hass, hieß es in einem Brief.88 Der Inquisitor habe, so erfuhr Mutian, neulich einen äußerst gelehrten Doktor in Holland verbrennen und in seinem Kölner Kloster alle die studia humanitatis betreffenden Bücher absondern lassen, ja diese dann in einen dunklen Kerker geworfen, sodass wer die Musen liebe, sich seines Lebens nicht sicher sein könne.89 Nicht weil Hoogstraten und seine Kölner Unterstützer die Juden hassten, sondern weil sie durch ihre Attacken die aufblühenden humanistischen Studien gefährdeten, wurden sie zur Zielscheibe der Angriffe der mutianischen Sodalitas.90 In einem Brief an Urban aus dem Jahre 1512 nannte Mutian deshalb die

85 WAGENER, Feindbilder. Wie kollektiver Hass entsteht, S. 94. 86 GILLERT Nr. 226 (Mutian an Petreius, 3. Oktober 1512): „vilis homo transfuga“, „Iudaeus transfuga“. 87 So Mutian auf Deutsch in einem Brief an Urban vom 1. November 1514. GILLERT Nr. 455: „Vidi acta vnd die stormglock des verfluchten Juden Pfefferkorn.“ Dazu kommt, dass Mutian wenig mit den kabbalistischen Studien Reuchlins anfangen konnte. Das jedenfalls geht aus einem Brief aus dem Jahre 1517 an Johannes Lange hervor (GILLERT Nr. 575, 15. Mai 1517). Bei dem „äußerst gelehrten Doktor“ handelte es sich um Herman Rysswick, der am 14. Dezember 1512 als Ketzer verurteilt worden war. 88 GILLERT Nr. 320 (Mutian an Urban, 3. Oktober 1513): „Verum est, quod scribis, hunc esse morem theologistarum, ut et bonas literas et bene literatos odio insectentur vel decumano.“ 89 GILLERT Nr. 378 (Mutian an Urban, 7. Juni 1514): „… eundem virum esse crudelem, ut qui nuper in Hollandia doctissimum medicum combusserit et Coloniae in cenobio suo libros omnes humanitatis secluserit, imo in tetrum carcerem coniecerit facto decreto, ut qui deinceps Musas amaverit, vita saluteque careat.“ 90 Aus diesem Grunde kann ich die in Deutschland stark rezipierte These von OVERFIELD (Humanism and Scholasticism in Late Medieval Germany), dass es sich bei der ReuchlinAffäre nicht um einen Konflikt zwischen Humanismus und Scholastik, sondern dass es tatsächlich um die Judenbücher ging, nicht teilen: „Humanism was never a central issue“

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Kölner ungebildete Halbwisser,91 die weder Griechisch noch Lateinisch noch Hebräisch beherrschten. Dazu kam noch etwas anderes: Nach humanistischer Auffassung wurde Bildung, selbstverständlich Bildung im humanistischen Sinne, gleichgesetzt mit moralischer Gesinnung. Wer gebildet ist, ist auch gut.92 Im Umkehrschluss hieß das: Wer ungebildet ist, ist moralisch schlecht. Hier fallen also bereits die Stichworte, das Gegensatzpaar Barbarei und humanistische Studien, die auch das Feindbild der Epistolae obscurorum virorum prägen sollten. Aus der Sicht der Humanisten ging es auch nicht gegen die Theologen im Allgemeinen, sondern um die falschen Theologen, die Mutian und seine Freunde ebenso wie Reuchlin dann auch immer als theologistae verspotteten.93 Diese feinden uns an, weil wir die Quellen haben, während sie selbst nur in den trüben Gewässern der heiligen Schriften fischen.94 Die wahren Theologen seien dagegen Faber Stapulensis (Jacques Lefèvre d’Etaples, 1460–1536), Budaeus (Guillaume Budé, 1468–1540), Erasmus von Rotterdam und Reuchlin – alle keine professionellen Theologen, sondern bedeutende Humanisten.95 Als deshalb am 2. Juli 1516 die vom Papst eingesetzte Kommission zugunsten Reuchlins entschied und die gegen den Augenspiegel erhobenen Vorwürfe als unbegründet zurückwies,96 teilte Petreius seinem Mentor mit überschäumender Freude mit: Unser Reuchlin soll über seine Feinde triumphiert haben. Das ist nicht nur ein Gerücht; er hat tatsächlich triumphiert … Ich weiß nicht, ob jemals anderswo etwas geschehen ist, worüber sich unser Orden mit Recht so freut hat.97 Petreius interpretierte den angeblichen Freispruch des Augenspiegels nicht nur als einen persönlichen Erfolg Reuchlins, sondern als einen Triumph des gesamten humanistischen Projektes, als eine Rehabilitierung und Aufwertung der humanistischen Studien: Meistens werden wir, die wir uns an den Studien ergötzen, für bürgerliche Geschäfte ungeschickt und

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(S. 277). Zumindest für den Erfurter Kreis gilt das nicht. Vgl. BERNSTEIN, Liebe die Reuchlinisten, verachte die Arnoldisten, S. 298 ff. GILLERT Nr. 226 (Mutian an Mutian, 26. Oktober 1512): „Scioli inhumanissimi, tam graecae quam latinae, nedum hebraicae rudes.“ Dazu auch STROH, Latein ist tot, es lebe Latein, S. 200: „Schon in der Antike hatte sich das bis heute diskutierte Problem gestellt, warum Cicero und andere ‚Bildung‘ und ‚Mitmenschlichkeit‘ mit derselben Vokabel humanitas bezeichneten.“ „Rhetorik schult den Geist, und dies wirkt dann positiv auch auf den Charakter.“ GILLERT Nr. 286, Nr. 361, Nr. 374. GILLERT Nr. 465 (Mutian an Urban, kurz nach dem 9. Januar 1515): „Detrahunt nobis et contumeliam iniuriamque faciunt vesanis suis contradictionibus solum ob id, quod fontes habemus et ipsi tantum turbidos rivos sacrarum literarum.“ GILLERT Nr. 285 (Mutian an Urban, gegen Mitte des Jahres 1513). GEIGER, Johannes Reuchlin, S. 319. GILLERT Nr. 554 (Petreius an Mutian, 26. Januar 1516): „Dicitur noster Reuchlin de inimicis triumphasse et non dicitur tantum, sed etiam triumphavit. … Nescio, an unquam alias quicquam acciderit, quo de ordo noster tam merito gaudeat.“

ARNOBARDISTEN GEGEN REUCHLINISTEN

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unglücklich gehalten. Besonders von den Juristen würden sie verachtet. Diese doppelte Schmach hat nun Reuchlin mit seinem Triumph von uns gewischt.98 Ähnlich äußerte sich Mutian selbst gegenüber Reuchlin: Unter Deiner Führung ist die edle Kenntnis der Alten wiedererstanden.99 Das Interesse an den alten Sprachen habe gehörige Impulse bekommen, was man daran sehe, dass ihm tagtäglich Männer zuströmten, denen Reuchlin auf der Zunge und im Herzen liege. Der eine interessiere sich für Griechisch, der andere bewundere Hebräisch und sogar für die wahrhaft geheime Literatur. Auch auf das studentische Verhalten an der Universität Erfurt habe der Erfolg Reuchlins bereits eine große Wirkung. Die Studenten, so berichtete er, kehrten langweiligen Professoren den Rücken und wendeten sich Fächern zu, die von Humanisten vertreten würden.100

6.

Arnobardisten gegen Reuchlinisten – Strategien der Verleumdung

ARNOBARDISTEN GEGEN REUCHLINISTEN

Der vermeintliche Sieg Reuchlins im Jahre 1516 war sicherlich nur teilweise der publizistischen Schützenhilfe der Humanisten, besonders der Erfurter Humanisten zu verdanken. Auf alle Fälle trugen sie aber dazu bei, klare Fronten zu schaffen und die Konflikte in ihrem Sinne zu steuern. Das geschah einmal, indem sie den Sachverhalt vereinfachten, ihn auf einen polemischen Punkt brachten und dem Gegner griffige Namen verliehen. Für Ambivalenzen gab es keinen Raum. Bis zum Oktober 1513 nannte Mutian die Gegner, wenn er sie nicht gerade als Eichelfresser,101 tollwütige Hunde, Affen,102 Barbaren,103 oder ungebildete Halbwisser104 bezeichnete und Hoogstraten mit Nero, dem Symbol der Grausamkeit

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Gillert Nr. 554: „Habiti sumus plerumque, qui hiis studiis delectamur, ad civilia negotia obeunda inepti etiam infelices. Atqui duplicem hanc infamiam uno triumpho Capnion a nobis abstulit.“ (S. II, 216.) GILLERT Nr. 565 (Mutian an Reuchlin, 13. September 1516); RBW, III, Nr. 293: „Nobilis enim veterum doctrina te duce resurgit“. GILLERT Nr. 565; RBW, III, Nr. 293: „Ad me quotidie confluunt boni adolescentes, quibus Capnion est in ore et in pectore. Hic sese Graecum probat, ille Hebraicas et vere arcanas literas admiratur. Quantum a praeceptoribus insulsis ad nugas trahuntur vel emendas vel discendas, tantum utroque pede resistunt ad sequenda vestigia spectabilitatis tuae.“ GILLERT Nr. 218 (Mutian an Urban, 11. Oktober 1512): „βαλανοφáγους“. GILLERT Nr. 320 (Mutian an Urban, 3. Oktober 1513): „canes rabiosi“ und „simii“. GILLERT Nr. 252 (Mutian an Urban, April 1512): „barbaria dominatur“. GILLERT Nr. 226 (Mutian an Urban, 26. Oktober 1512): „scioli inhumanissimi“.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

der Antike, verglich,105 zunächst „Arnoldisten“,106 also Anhänger des Arnold von Tungern. Ab Oktober 1513 verwendete Mutian dann zum ersten Mal das Wort „Arnobardist“,107 ein Schimpfwort bestehend außer dem Anklang an Arnold von Tungern aus dem griechischen Wort αρήν (Schaf) und dem lateinischen Wort bardus (einfältig, dumm).108 Aber auch die Anhänger der eigenen Gruppe bekamen Namen, denn den Arnobarden standen die Anhänger und Verteidiger Reuchlins, Capnions, die Capniophili,109 Capnobatae,110 Reuchliastri111 oder Reuchlinistae112 gegenüber. Das Wort Reuchlinist wurde zu einer Ehrenbezeichnung und Reuchlin selbst zu einer Integrationsfigur eines Teils der deutschen Humanisten. Dem Gegner entehrende Namen zu geben, ist Teil der Strategie, Feindbilder zu schaffen, Feindbilder, die für die Kohäsion einer Gruppe eine wichtige Rolle spielen. Eines der ältesten Feindbilder, zurückgehend auf die Griechen, ist „die Abscheu der zivilisierten Welt vor der Barbarei“.113 Und gerade dieses traditionellen Klischees – auf der einen Seite gebildete Humanisten, auf der anderen ungebildete Barbaren – bedienten sich die Sodalen des mutianischen Kreises, indem sie immer wieder die Gegner als Barbaren bezeichneten. Unversöhnlich stand die barbarische Herde (barbara grex) der Theobarden und Arnobardisten unserem Reuchlin gegenüber.114 Man schaffte also, soziologisch gesprochen, eine „ingroup“ und eine „out-group“, und indem man die „out-group“ verteufelte, schweißte man die „in-group“ zusammen.115 Genau das war aber von Mutian beabsichtigt, denn die Humanisten waren keineswegs die geschlossene, homo105 GILLERT Nr. 378 (Mutian an Urban, 7. Juni 1514): „Sic bardus Nero doctiores habet tum odio tum ludibrio.“ 106 Zum Beispiel in GILLERT Nr. 261 (Mutian an Crotus Rubianus, kurz nach dem 13. Juni 1513) und Nr. 277 (Mutian an Urban, nach dem 25. Juli 1513). 107 GILLERT Nr. 325 (Mutian an Herebord von der Marthen, 15. Oktober 1513). Ebenfalls Urban an Reuchlin: RBW, II, Nr. 230. 108 Verwendet auch in GILLERT Nr. 326, 359, 354. 109 GILLERT Nr. 554 (Petreius an Mutian, 26. Januar 1516): „Nos autem Capniophili …“. 110 RBW, II, Nr. 230. 111 RBW, III, Nr. 306 (Hutten an Reuchlin, 31. januar 1517). 112 GILLERT Nr. 277 (Mutian an Urban, nach dem 23. Juli 1513); auch der Nürnberger Humanist Willibald Pirckheimer benutzte dieses Wort in einem Brief an Ulrich von Hutten: „Salve Reuchlinista optime! Cur enim non optimus, cum Reuchlinista? In: Pirckheimer, Briefwechsel, III, Nr. 451, S. 121. Hutten an Reuchlin: RBW, III, Nr. 306, S. 408. 113 WAGENER, Feindbilder, S. 18. 114 GILLERT Nr. 359 (Mutian an Gregor Agricola, 5. April 1514): „Instat et urget quidam Iacobus [Hoochstraten]. Caput barbari gregis, cum suis Theobardis et Arnobardistis, quos universos uti singulos susque deque habet Capnion noster.“ 115 WAGENER, Feindbilder, S. 19.

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gene Gruppe, als die sie sich gelegentlich ausgaben. Mutian räumte das einmal ein, als er sagte: scinditur ordo literarius – der literarische Orden spaltet sich.116 Und gerade angesichts der zentrifugalen Kräfte innerhalb des deutschen Humanismus gehörte es zur Strategie des mutianischen Kreises, sich immer wieder als eine geschlossene Gruppe darzustellen. Das hatte sowohl Mutian selbst bereits in seinem Brief an Gregor Agricola getan117 als auch Crotus in seinem Schreiben an Reuchlin.118 Am deutlichsten geschah das aber in dem Brief Ulrich von Huttens vom 13. Januar 1517 an den umkämpften Hebraisten. Die Last sei von Reuchlin gefallen, hieß es da, und auf die Schultern der Gruppe verlagert worden. Schon längst fache er den Brand an, der hoffentlich bald lichterloh brenne. Ich fordere Dich auf, ruhig zu sein. Ich habe Freunde und Genossen versammelt, die sich auf Grund ihres Alters und Berufs dafür eignen.119 Zur Strategie des mutianischen Zirkels gehörte aber auch, die Zahl der Gegner zu übertreiben, um den eigenen möglichen Sieg in einem umso strahlenderen Licht erscheinen zu lassen. So behauptete Mutian: Unser Reuchlin führt einen bitteren Kampf gegen die Dominikaner … gegen den hochgelehrten Reuchlin haben sich 5.000 Dominikaner verschworen.120 Umgekehrt bauschte Mutian einmal, wohl scherzhaft, maßlos die eigene Zahl der Reuchlinisten auf: Als ob Johannes [Reuchlin] nicht zweitausend Anhänger seiner Ansichten hätte.121 116 117 118 119

GILLERT Nr. 325 (Mutian an Herebord von der Marthen vom 15. Oktober 1513). GILLERT Nr. 359 (5. April 1514). RBW, III, Nr. 233 (16. Januar 1514). RBW, III, Nr. 306; BÖCKING, I, S. 129–130, Nr. XXXXVI (Ulrich von Hutten, 13. Januar 1517, aus Bologna): „Multum oneris tui in nostros humeros translatum est. Iampridem incendium conflo, quod tempestive spero efflagrabit. Ipsum te quiescere iubeo: eos mihi adiungo militiae socios, quorum et aetas et conditio pugnae generi par est.“ Ob die Liste der 43 Namen der eifrigsten Verteidiger Reuchlins (Capnionis Defensores acerrimi, BÖCKING, I, Nr. XXXXVII, S. 130 f.) von Hutten stammt, ist nicht klar. Möglich ist es immerhin, wenn man Huttens Vorliebe für derartige Aufzählungen bedenkt. Die Liste wird ausgerechnet angeführt von dem Pazifisten Erasmus von Rotterdam, der von dieser zweifelhaften Ehre sicherlich nichts wusste. Mindestens fünf der aufgeführten Personen des Reuchlinistarum exercitus, des Heers der Reuchlinisten, gehörten dem mutianischen Kreis an: Hessus, Petreius, Rubeanus, Cordus und Mutian selbst. Unter anderem diente auch in diesem Heer jener fiktive Eleutherus Byzenus, der den Triumphus Capnionis geschrieben haben soll. Hier wird also der Spaß auf die Spitze getrieben. 120 GILLERT Nr. 459 (Mutian an Hartmann von Kirchberg, 20. Dezember 1514): „Capnion noster acre bellum gerit cum picis mendicantibus … adversus doctissimum Capnionem conspiraverunt circiter quinque milia fratrum Dominicalium.“ (pica-Elster, so wurden die Dominikaner wegen ihrer schwarz-weißen Tracht gelegentlich genannt). 121 GILLERT Nr. 298 (Mutian an Peutinger, 16.(?) August 1513): „Quasi vero Ioannes non habeat sententiae suae subscriptores bis mille.“

IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

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Es war aber wieder Ulrich von Hutten, der zwar etwas außerhalb des mutianischen Kreises stand, sich aber umso heftiger für Reuchlin einsetzte, der die Strategie des Übertreibens der humanistischen Übermacht perfektionierte. In dem (fiktiven) Carmen rithmicale der Epistolae obscurorum virorum, jener „Revue der deutschen Humanisten“,122 ließ er den antireuchlinistischen cursor in theologia Philipp Schlauraff zahlreiche humanistische Zentren Deutschlands besuchen. Überall erntete er nicht nur Spott und Hohn, sondern bezog auch gelegentlich ordentliche Prügel.123 Hier wurde eine Geschlossenheit einer humanistischen res publica literaria suggeriert, die in dieser Form nicht existierte.124

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Literarische Schützenhilfe für Reuchlin

LITERARISCHE SCHÜTZENHILFE FÜR REUCHLIN

Die Freunde Mutians begnügten sich aber nicht damit, sich in Briefen für Reuchlin einzusetzen und sich gegenseitig zur Unterstützung des umkämpften Gelehrten zu ermahnen. Einige von ihnen taten das, was sie als poetae, also als Humanisten,125 am besten konnten: Sie verfassten und publizierten literarische Werke. Damit wurde das in den Briefen entworfene Feindbild multipliziert und einer breiteren humanistischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es sind hauptsächlich drei Werke, die im engeren Umfeld des Gothaer Kreises entstanden: die Satire Processus Contra Sentimentum Parrhisiensium (Der Prozess gegen das Urteil der Pariser), das Gedicht Triumphus Capnionis (Der Triumph Reuchlins) und die Epistolae obscurorum virorum, die Dunkelmännerbriefe. Anlass für die knappe Satire Processus Contra Sentimentum Parrhisiense war das am 2. August 1514 ergangene Urteil der Pariser Theologischen Fakultät, in dem Reuchlins Augenspiegel für häretisch erklärt und dessen Verbrennung befohlen worden war. Gedruckt wurde das Urteil im Dezember 1514 bei Quentell in Köln. Die satirische Antwort darauf erschien unmittelbar danach, nämlich Ende 1514 oder Anfang 1515 auf einem eng bedruckten Folioblatt.126 Es handelte sich um ein fingiertes Protokoll einer Gerichtsverhandlung, in der ein gewisser 122 123 124 125

KÖNNEKER, Satire im 16. Jahrhundert, S. 116. BÖMER, Epistolae obscurorum virorum, II, 9. Vgl. dazu: BERNSTEIN, Creating Humanist Myths, bes. S. 257 ff. Das Wort „humanista“ als Bezeichnung für die öffentlichen und privaten Lehrer der studia humanitatis wurde in Analogie zu ähnlichen aus dem Universitätsbereich stammenden Bildungen wie „legista“ oder „jurista“ etwa ab 1490 in Italien verwendet. In den Epistolae obscurorum virorum wird es nur einmal gebraucht: I, 7: „Et etsi humanistae nunc vexant me cum suo novo Latino.“ BÖMER, Epistolae obscurorum virorum, I, 7). 126 Abgedruckt in BÖCKING, VII (Suppl. I), S. 318–322. Dazu GEIGER, Johann Reuchlin, S. 370 ff.

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Cutius Gloricianus als Anwalt Reuchlins auftritt, während sein Widersacher, der cursor in theologia Hackinetus Petitus, dessen Argumente zu entkräften sucht. Während Gloricianus mit zum größten Teil ernsten, von Reuchlin bereits bei anderen Gelegenheiten vorgebrachten Argumenten das Pariser Urteil zu zerpflücken sucht, vermag der Verteidiger der Pariser lediglich läppische Argumente vorzubringen, z.B. das Urteil sei auf Anraten des Beichtvaters und auf Empfehlung der Kölner Dominikaner geschehen. Hätte man Reuchlin selbst gehört, wäre das Urteil sicherlich anders ausgefallen. Nach beider Plädoyer erfolgt die Urteilsverkündung: Das Urteil der Pariser Fakultät wird verworfen und verbrannt. Das Werk war natürlich eine Satire, in der die Ankläger in ihrer Liebedienerei, Heuchelei, Verfolgungssucht, ihrer Dummheit und ihrem Hass gegen die Humanisten sich selbst entlarven. Es ist diese Selbstentlarvungstechnik, die wenig später in den Epistolae obscurorum virorum zu einem konstitutiven Charakteristikum werden sollte. Mutian sandte das Werk Processus contra Sentimentum Parrhisiense am 10. Januar 1515 an seinen Bekannten Hartmann von Kirchberg, den Abt vom Kloster Fulda: Ich schicke Dir ein witziges und scherzhaftes Werk, das aber auch wahr und notwendig ist, und in dem mit fingierten Personen die Enthymemata philosophisch unvollständige Schlüsse der Pariser Philosophen verspottet werden. Die Lektüre ist angenehm.127 Das Werk erschien anonym. Der Verfasser war und ist noch unbekannt. Aller Wahrscheinlichkeit kommt aber Crotus Rubeanus als Autor in Frage.128 Bekannt ist dagegen der Autor des Triumphus Capnionis, eines aus 1.063 Hexametern bestehenden Gedichtes.129 Ein beigefügter Holzschnitt verdeutlicht den Inhalt des Werkes,130 das man mit Recht „ein[en] publizistische[n] Gipfel der diversen reuchlin-freundlichen Stellungnahmen“ genannt hat131 (vgl. auch Kap. VII.10). Auf der rechten Bildseite thront auf einem vierrädrigen Triumphwagen der lorbeergekrönte Reuchlin, in der rechten Hand den Augenspiegel haltend, in der linken einen Olivenzweig. Vor ihm schreitet eine ganze Schar Rechtsgelehrter und Poeten. Auf der linken Bildhälfte begrüßen jubelnde 127 GILLERT Nr. 470: „Praeterea mitto ridiculum opus et facetum, sed verum et necessarium, quo sub fictis personis enthymemata theologorum Parrhisiensium eluduntur. Iucunda sane lectio.“ 128 Nachdem schon BÖCKING über die Verfasserschaft des Crotus spekuliert hat (Hutteni Opera, VIII, S. 600) konnte BRECHT (Die Verfasser der Epistolae obscurorum virorum, S. 151–158) anhand genauer stilistischer Untersuchungen die Autorschaft des Crotus wahrscheinlich machen. 129 Abgedruckt in BÖCKING, Hutteni Opera, III, S. 413–447. Jetzt dazu: KÜHLMANN, Ulrich von Huttens Triumphus Capnionis. 130 Abbildung in: LAUB (Hg.): Ulrich von Hutten: Ritter, Humanist, Publizist, S. 204 f. 131 KÜHLMANN, Ulrich von Huttens Triumphus Capnionis, S. 93.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Pforzheimer den Gelehrten. Aus einem Gebäude wird ein Mönch aus dem Fenster gestürzt, um das Ende der Pfaffenherrschaft anzudeuten. In der Mitte marschieren gefesselt die besiegten Feinde Jakob von Hoogstraten, Ortwin Gratius und Arnold von Tungern. Die in der Korrespondenz des mutianischen Bundes beobachteten Feindbilder werden hier auf groteske Weise gesteigert. So wird Pfefferkorn aufs Übelste misshandelt: Die Ohren werden ihm abgerissen, die Zähne eingeschlagen, die Hände verstümmelt. Das Gedicht, sich stets auf die Abbildung beziehend, rekapituliert den Verlauf des Prozesses und betont, dass der Sieg über Aberglauben, Barbarei, Neid und Unwissenheit mit geistigen Waffen erfolgt sei. Das Werk zirkulierte ab 1514 in handschriftlicher Form in dem mutianischen Kreis.132 Gedruckt wurde es aber erst vier Jahre später, 1518, von Thomas Anselm in Tübingen. Diese Zurückhaltung geht vermutlich auf den vorsichtigen Erasmus zurück, der bei einem Treffen mit Hutten und Reuchlin im Jahre 1515 in Mainz vor einer Veröffentlichung abgeraten hatte, um nicht in das schwebende Verfahren gegen Reuchlin einzugreifen.133 Da als Verfasser ein gewisser Accius Neobios, offensichtlich ein Pseudonym, genannt wurde, schrieb Mutian das Werk Hermann von dem Busche zu, denn dieser hatte sich von einem Reuchlin-Feind zu einem Reuchlin-Anhänger gewandelt, also gewissermaßen ein neues Leben – νεοβίος – begonnen.134 Als das Werk schließlich 1518 gedruckt wurde, firmierte als Verfasser ein gewisser Eleutherus Byzeneos, ebenfalls ein Pseudonym. Heute herrscht ein Konsens, dass kein anderer als Ulrich von Hutten als Autor des Werkes in Frage kommt.135 Huttens Triumphus Capnionis und die Satire Contra Sentimentum Parrhisiense waren aber nur literarische Vorgeplänkel zu dem Werk, das heute noch als eines der Meisterwerke der deutschen Renaissancedichtung gilt: die Epistolae obscurorum virorum, die Dunkelmännerbriefe, ein Werk zudem mit „bis an die Schwelle der Gegenwart heranreichenden Nachwirkungen“.136 Im Jahre 1514, also auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um den Augenspiegel, hatte Reuchlin in eigener Regie, wie wir sahen, eine Sammlung von Briefen unter dem Titel Clarorum virorum epistolae veröffentlicht, also Briefe berühmter Männer, um seine inter132 Mutian erwähnt es in drei Briefen: GILLERT Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21. Juni 1514): „Dabo Triumphum Capnionis ab Accio Neobio concinnatum in Colonienses theologistas“; Nr. 393 (Mutian an Urban, 30. Juni 1514): „Triumphum Neobii et epistolam ad Agricolam restitue“; Nr. 410 (Mutian an Urban und Eobanus Hessus, 8. August 1514): „Ostendit tibi solertissimus pater Urbanus, … Triumphum Neobii.“ 133 STRAUSS, Ulrich von Hutten, S. 155. 134 GILLERT Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21. Juni 1514), Anm. 4, S. 48. 135 BÖMER, Epistolae obscurorum virorum, S. 18; KÜHLMANN, Ulrich von Huttens Triumphus Capnionis. 136 ROGGE, Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire, S. 13.

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nationale wissenschaftliche Reputation unter Beweis zu stellen.137 Unerheblich für Reuchlin war, dass die meisten der über 100 Briefe nicht das Geringste mit der tobenden Kontroverse zu tun hatten, sondern in den letzten drei Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts geschrieben worden waren, teilweise auch von Männern, die, als ihre Schreiben veröffentlicht wurden, schon tot waren. Die Sammlung lieferte die Folie für die Epistolae obscurorm virorum, eine Briefsammlung, die ohne Verfasser und Herausgeberangabe und mit offenbar fingierter Orts- und Druckangabe im Jahre 1515 erschien. Eine um einen Appendix erweiterte Ausgabe wurde 1516 publiziert, eine zweite um 62 Briefe erweiterte Sammlung 1517.138 Die Fiktion ist, dass die Briefe von scholastischen Theologen und Mönchen verfasst sind. Aus allen Teilen Deutschlands, im zweiten Teil auch aus Italien, wenden sich diese Männer – teilweise bekannte zeitgenössische, teilweise aber auch erfundene Gestalten mit so sprechenden Namen wie Mammotrectus (Busengrapscher), Buntemantellus, Mistladerius, Dollenkopfius und Lignipercussor (Holzhacker) – an den Kölner Humanisten und Theologen Ortwin Gratius mit Bitten, Fragen und Nachrichten. Die Satire beruht auf dem einfachen, aber genialen Einfall, dass sich die „Dunkelmänner“ in ihrer Dummheit, hanebüchenen Ignoranz, bequemen Selbstgefälligkeit, Sexbesessenheit und moralischen Verderbtheit noch dazu in grotesk überzeichnetem „Küchenlatein“ selbst entlarven. Im Gegensatz zu den berühmten (clari) Männern sind diese Gelehrten zwar unbekannt (obscuri), aber dafür umso leidenschaftlichere Parteigänger der Kölner Dominikaner, des Inquisitors Jakob Hochstraten und Johannes Pefferkorns. Da die Schrift anonym erschien, war man lange auf Spekulation hinsichtlich des Verfassers oder der Verfasser angewiesen. Erst gut 15 Jahre später identifizierte Justus Menius seinen alten Freund Crotus Rubeanus als den Hauptverfasser der Epistolae obscurorum virorum. Dieser hatte sich, wir erinnern uns (vgl. Kap. VII.6), nach seiner Rückkehr aus Königsberg dem alten Glauben wieder zugewandt und zur Verteidigung seines neuen Herrn, des Kardinals und Erzbischofs von Magdeburg und Mainz, eine Apologia139 geschrieben. Auf die dringende Bitte Luthers hatte Justus Menius eine Schrift gegen den Apostaten verfasst, in der er seinen alten Freund mit seiner antipäpstlichen, kirchenkritischen 137 Erschienen ist das Werk bei Thomas Anselm in Tübingen (VD 16, R 1241). 138 Aus den zalreichen Studien seien außer Könneker, Rogge, und Brecht nur einige wichtige andere erwähnt: BECKER, A War of Fools. The Letters of Obscure Men; FREY, Die Epistolae obscurorum virorum – ein antijüdisches Pamphlet?; HAHN, Huttens Anteil an den Epistolae obscurorum virorum. 139 Apologia qua respondetur temeritati calumniatorum non verentium confictis criminibus in populare odium protrahere Rev. In Christo Patrem et Dom Albertum … Archiep. Mog. Et Magd. et a Ioanne Croto Rubeano privatim ad quendam amicum. Leipzig: Mich. Blum, 1531 (VD 16, J 156). Abdruck in: BÖCKING, II, S. 456–65.

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Vergangenheit konfrontierte und ihn – und das war die Sensation des Briefes – zum ersten Mal eindeutig als Autor des ersten Teils der Dunkelmännerbriefe identifizierte. Die Satire war im Oktober 1515 anonym erschienen mit dem (falschen) Druckervermerk in Impressoria Aldi Minutij – eine parodistische Anspielung auf Aldus Manutius.140 Am 9. August 1516 schrieb Hutten, der sich zu diesem Zeitpunkt in Italien aufhielt, an seinen Leipziger Freund, den englischen Griechischdozenten Richard Crocus, einen Brief, in dem er um Zusendung eines Exemplars dieses Werkes bat,141 da er erfahren habe, dass in ganz Deutschland die Epistolae obscurorum virorum verbreitet würden. Die Barbaren würden darin auf barbarische Weise verspottet: Barbare ridentur barbari. Im Frühjahr erschien dann ein um 62 Briefe erweiterter Teil der Satire. Wer aber waren dessen Verfasser? Während die Briefe des ersten Teils von fiktiven Mönchen und Scholaren aus Deutschland geschrieben zu sein vorgeben, stammt ein Großteil der Briefe des zweiten Teils aus der Feder von sich in Italien aufhaltenden „Dunkelmännern“. Diese Briefe verraten so präzise Lokalkenntnisse, dass sie nur jemand verfasst haben kann, der mit den römischen Verhältnissen aufs Engste vertraut gewesen sein muss. Das traf aber auf Hutten zu. Dass sich Hutten selbst an mehreren Stellen des Buches ironisch darstellte, verstärkt den Eindruck von dessen Autorschaft des zweiten Teils der Dunkelmännerbriefe.142 140 EPISTOLAE OBSCVRORVM VIRORVM AD VENERABILEM VIRUM MAGISTRUM Ortuinum Gratium Dauentriensem Coloniae Agrippinae bonas litteras docentem [Hagenau: Heinrich Gran, vor dem 19. Oktober 1515] Vgl. BENZING, Hutten und seine Drucker, Nr. 239. HAHN, Huttens Anteil an den Epistolae obscurorum virorum. Hahn wendet sich gegen die vielfach geäußerte Meinung, dass die literarische Qualität des zweiten von Hutten verfassten Teils weniger gut sei als die des ersten. 141 BÖCKING, I, S. 123 f. (Urich von Hutten an Richard Crocus, 9. August 1516). 142 Alle Zitate nach BÖMER, Epistolae obscurorum virorum: 1. I, 5 (S. 14): Ioannes Straussfederius Ortvino Gratio: „Sed cum licentia audite unum magnum miraculum, quod fecit hic unus nobilista, diabolus confundat eum in aeternum.“ 2. II, 55 (S. 181): Magister Silvester Cricius Ortvino Gratio: „Unus Ulrichus de Hutten, qui est valde bestialis, qui semel dixit, si fratres Praedicatores facerent sibi illam iuriam, quam faciunt Ioanni Reuchlin, ipse vellet fieri inimicus eorum et ubique reperiret unum monachum de hoc ordine, tunc vellet ei amputare nasum et aures.“ 3. II, 9 (S. 100): Magister Philippus Schlauraff magistro Ortvino Gratio: „Tunc ivi ad Franconiam,/ Ubi est fluvius Moenus; ibi Ulrichus Huttenus/ Iuravit levatis digitis, quod vellet me percutere virgis,/Si vellem ibi stare.“ 4. II, 20 (S. 127): Magister Marquardus Fotzenhut magistro Ortvino Gratio: „Quando ego fui in Herbipoli, tunc fuit unus poeta, qui vocatur Ulricus Hutenus, qui semper ridet et vexat theologos et magistros artium.“ 5. II, 51 (S. 175 f.): Ioannes Helferich latine Juppiter magistro Ortvino: „… et surgunt multi haeretici et Pseudochristiani: ioannes Reuchlin, Erasmus Roterodamus, Bilibaldus

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Dass aber die Epistolae obscurorum virorum anonym, bzw. mit fingierten Verfassernamen erschienen, lag an der Furcht vor kirchlichen Repressalien wie Bann, Zensur und Inquisition. Anlass dazu gab es genug: So erging zum Beispiel am 15. März 1517 die päpstliche Verdammungsbulle, „die unter der Strafe der Exkommunikation allen Christgläubigen verbot, das Buch zu lesen, ihnen vielmehr zur Pflicht machte, es innerhalb drei Tagen nach dem Bekanntwerden der Verordnung zu verbrennen und überdies dem Ortspfarrer Anzeige über Urheber, Drucker und Besitzer zu erstatten“.143 Anders aber als wenige Jahre später, als sich die Anhänger Luthers unter dem Schutzmantel eines ihnen freundlich gesinnten Landesherrn über solche Verdammungsbullen hinwegzusetzen wagten,144 genossen Crotus und Hutten zum damaligen Zeitpunkt keine derartige Protektion. Es besteht also kein Zweifel, dass die Satire aus dem Umkreis der Erfurter Humanisten stammte. Dazu passt auch, dass in den Epistolae obscurorum virorum selbst gelegentlich Mutian erwähnt wird. In II, 59 berichtet zum Beispiel ein gewisser Ioannes Coclearligneus dem Ortwin Gratius: Ein Erfurter Student, den ich kenne, hat gesagt, Konrad Mutianus sei der Schlechteste unter all denen, die es mit Reuchlin halten, und ein solcher Feind der Theologen, dass er es gar nicht hören könne, wenn man die Kölner Theologen nennt. Auch sagte dieser Student, er habe wohl zwanzig Briefe von ihm gesehen, worin er gewisse Freunde bitte, Reuchlinisten zu werden.145

nexcio quis et Ulrichus Huttenus, Hermannus Buschius, Iacobus Wimphelingus et Sebastianus Brant.“ 6. II, 59 (S. 186 f.): Ein gewisser Löffelholz (Ioannes Coclearligneus) führt all die Personen auf, die sich an der Verschwörung für Reuchlin und gegen die Kölner Theologen beteiligen. Es ist eine beeindruckende Liste – genau das ist natürlich der Eindruck, den Hutten erwecken wollte: Hermann von dem Busche, Vadian, Melanchthon, Wimpfeling, Beatus Rhenanus, Nikolaus Gerbellius, Cuspinian, Conrad Peutinger und die Erfurter Eobanus Hessus, Peter Eberbach, Crocus, Ulrich von Hutten und als Schlimmsten – Mutian („Conradus Mutianus est pessimus omnium illorum, qui sunt pro Reuchlin, et est ita inimicus theologis, quod non potest audire quod aliquis nominat theologos Colonienses.“) 143 BÖMER, Die Epistolae obscurorum virorum, I, S. 103. Die Macht der Kirche sollte z.B. Willibald Pirckheimer zu spüren bekommen. Der Nürnberger Humanist war wegen seiner angeblichen Verfasserschaft der Satire Eccius Dedolatus in die von Johannes Eck verfasste Bannbulle Exsurge Domine einbezogen worden. Nur unter demütigenden Umständen konnte er sich davon befreien. 144 Luther verbrannte bekanntlich im Dezember 1520 öffentlich die Verdammungsbulle Exsurge Domini in Wittenberg. 145 BÖMER, Epistolae obscurorum virorum, II, 59: „Et quidam studens Erfordiensis, qui est mihi notus, dixit, quod Conradus Mutianus et pessimus omnium illorum, qui sunt

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IX. DIE REUCHLIN-AFFÄRE

Der sonst so einfältige Johannes Löffelholtz, denn so muss man Coclearligneus übersetzen, war richtig informiert.146 Nirgendwo anders wurde so eifrig mit literarischen Waffen für Johannes Reuchlin gekämpft wie in dem Kreis um Mutian.

pro Reuchlin, et est ita inimicus theologis, quod non potest audire, quod aliquis nominat Colonienses theologos. Et talis studens dixit, quod vidit bene viginti epistolas illius, in quibus ipse rogat quosdam socios, quod volunt esse Reuchlinistae.“ 146 Vgl. BÖMER, Die Epistolae obsurorum virorum, I, S. 64.

X.

„GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“ – MUTIAN ÜBER KIRCHE, KLERUS UND GOTT1

Martin Luther beschuldigte ihn, Atheist zu sein; moderne Kritiker bezeichneten ihn abwechselnd als „Theisten“, als „Pantheisten“ oder als „ironischen Entmythologisierer“.2 Der englische Mathematiker und Historiker Karl Pearson (1857–1936) schließlich pries seine „radikalen und rationalistischen Gedanken“.3 Einige moderne Wissenschaftler bezweifeln deshalb, ob man Mutians „skeptisch-liberale Weltauffassung noch christlich“ nennen könne,4 und ob sich nicht „dieser aufgeklärte Denker … weithin dem überlieferten Christentum entfremdet“ habe.5 Unterstellt man Mutian nicht durch derartige Charakterisierungen ein modernes Menschenbild und Gottesverständnis? Sind das nicht überhaupt anachronistische Begriffe für einen Mann, der zeitlebens Kanoniker war und in einer Zeit lebte, in der diese Auffassungen, wenn sie öffentlich geäußert worden wären, den Kritiker auf das Schafott gebracht hätten? Wenn sie wahr wären, wäre Mutian tatsächlich ein revolutionärer Charakter, der seiner Zeit weit voraus war.6 Eine Darstellung der religiösen Anschauungen Mutians ist schwierig, da Mutian nie eine Abhandlung darüber verfasst hat. Luthers Behauptung aus dem Jahre 1532, Mutian habe ein Buch über seine Religionsauffassung hinterlassen, das er aber während seines Lebens nicht zu veröffentlichen gewagt habe, erweist sich als ebenso falsch wie die Beteuerung des Reformators, der Gothaer

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Den Begriff „Gefährliche Konterbande“ borge ich von ANZ, Humanismus und Reformation in Gotha, S. 169. WA TR, 2, S. 627: „Doctor Mutianus nullum credidit Deum esse.“ „Theist“: KRAUSE, Der Briefwechsel, S. XXI; „Pantheist“: SPITZ, The Religious Renaissance of the German Humanists, S. 145, 154; „Ironischer Entmythologisierer“: RÄDLE, Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus, S. 128. PEARSON, The Ethic of Freethought, S. 176 f.: „There [in Gotha] this little band gathered round the older Canon, were fired by his eloquent talk and adopted his radical and rationalistic notions.“ KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, II, S. 180. Lexikon für Theologie und Kirche, S. 706. Ähnlich könnte man SPITZ’ Kommentar interpretieren: „… he advanced far in the direction of religious enlightenment.“ (The Religious Renaissance, S. 130). Mit Mutians religiösen Auffassungen haben sich auseinandergesetzt: HAGEN, HALLBAUER, KAMPSCHULTE, SPITZ, BAUMANN, RÄDLE.

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

300

Kanoniker habe sich wegen seiner Armut das Leben genommen.7 Mutians Überlegungen zu diesem Thema finden sich also verstreut in seinen Briefen, und diese Briefe sind immer in konkreten Situationen entstanden und an bestimmte Adressaten geschrieben. Diesen Kontext sowie die Empfänger gilt es stets bei einer Einordnung zu berücksichtigen. Trotzdem erweist sich das Fehlen einer systematischen Darlegung seiner religiösen Gedanken und das SichVerlassen auf die Briefe letztlich als Glücksfall, denn in einem gedruckten Werk hätte er viel vorsichtiger sein müssen als in seinen Briefen, in denen Mutian sich im Vertrauen auf die Diskretion seiner Adressaten freimütig zu äußern wagte. Trotzdem sind auch diese Briefe als Quellen nicht unproblematisch, denn oft dekonstruierte Mutian im gleichen Brief seine eigene Meinung. Aus diesem Grunde fällt es schwer, aus diesen Briefen eine konsistente Weltanschauung herauszufiltern, da mehrere verschiedene Einflüsse, wie die Devotio moderna, die neuplatonischen Ideen des Florentiner Ficino-Kreises, mit dessen Büchern er vertraut war, sowohl antike Ideen in diese oft essayistischen, vorläufigen Überlegungen hineingeflossen sind.

1.

Kritik an kirchlichen Gebräuchen

KRITIK AN KIRCHLICHEN GEBRÄUCHEN

Als Kanoniker am Marienstift zu Gotha war Mutian Teil der Kirche. Er kannte die kirchlichen Praktiken aus eigener Anschauung, hatte Mönche und hohe kirchliche Würdenträger zu Freunden (und Feinden) und war auch mit der Politik und Praxis der römischen Kurie, die er nicht nur während seines Romaufenthaltes, sondern auch durch seine engen Beziehungen zum Mainzer Erzbischof persönlich kennen gelernt hatte, vertraut. Seine Einschätzung beruhte deshalb auf Insiderwissen. Am häufigsten findet sich Kritik an dem kirchlichen F a s t e n g e b o t, über das er sich aus gegebenem Anlass wiederholt zur Fastenzeit äußert. Obwohl es innerhalb der Kirche erhebliche Interpretationsunterschiede bezüglich des Fastens gab, war all diesen Vorstellungen der Aspekt der Sühne und Buße gemein: „Fasten ist ein Ausdruck des Grams angesichts von Unheil und Gefahr oder der Zerknirschung über vergangene Sünde, die Gottes Missfallen erregt haben.“8 Bemerkenswert für Mutians Einstellung zum Fasten ist nun aber, dass der Sühne- und Bußeaspekt bei ihm nicht die geringste Rolle spielte, sondern dass er die periodische, partielle oder totale Nahrungsabstinenz ausschließlich vom gesundheitlichen Standpunkt betrachtete. Das ursprüngliche Fastengebot sei entweder 7 8

WA TR, 2, S. 627: „Tandem ob paupertatem desperans veneno se ipsum interfecit. Is post se reliquit librum de sua religione, quem vivens non audet prodere.“ HALL/CREHAN, Fasten: Biblisch und kirchenhistorisch, S. 54.

KRITIK AN KIRCHLICHEN GEBRÄUCHEN

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von Papst Calixtus oder Urban eingeführt worden, schrieb er an seinen Freund Urban.9 Ob das gut oder schlecht gewesen sei, darüber sei er sich noch nicht im Klaren. Wenn es Urban I. war, so meinte Mutian im Hinblick auf seinen gleichnamigen Freund, sei es wohl eine kluge Entscheidung gewesen, da es uns gesundheitlich besser gehe, wenn wir uns der Speise und des Trinkens enthielten, um dadurch einen klareren Kopf zum Studieren und Ratgeben bekämen. Das habe er am eigenen Leibe erfahren.10 Im Laufe der Jahre änderte Mutian aber seine Meinung nur insofern, als er bezüglich der gesundheitlichen Folgen des Fastens zu der gegenteiligen Überzeugung kam, und es jetzt abträglich für Körper und Geist hielt. So ermahnte er bereits im Februar 1507 Urban, seinem Körper in der bevorstehenden Fastenzeit nicht allzu viel zuzumuten, damit die körperliche Erschlaffung nicht auch den Intellekt in Mitleidenschaft ziehe. Es stimme zwar, dass man wilde Tiere durch Hunger zähme. Belegt werde diese Behauptung durch die Geschichte einer Riesenschlange, die durch List und Gewalt endlich gefangen genommen und zu König Ptolomäus in Alexandria gebracht worden sei. Als Wundertier sei sie dort bestaunt worden, zumal man sie durch Speiseentzug inzwischen gebändigt habe. Auf diese Weise würden auch die Verbrecher zahm gemacht. Was aber für die Schlange gelte, gelte nicht für Urbanus, einen der sanftesten Männer. Er brauche alle Kraft für sein Studium und seine Arbeit.11 Mutians auf gesundheitlichen Gründen basierende ablehnende Haltung gegenüber dem Fasten änderte sich auch viele Jahre später nicht. Missmutig klagte er im März 1514, also wieder zur Fastenzeit:

9

Der Papst Urban ist von GILLERT (Nr. 36, Mutian an Urban, kurz nach dem 13. Dezember 1505, S. 47. Anm. 2) falsch als Urban I. (223–230) identifiziert worden. Es handelt sich tatsächlich um Urban II. (Papst 1088–1099), der auf der Synode von Benevent (1091) das Fasten allen Kirchen empfahl: „Haec olim Iudaica fuere, nunc auctore Urbano facta sunt Christiana, nam sub Urbano pontifice Romano orta coaluerunt etsi alii velint Calistum esse auctorem.“ 10 GILLERT Nr. 36: „Sive urbanus, sive rusticus instituit, sapienter consuluit humanae vitae. Pertinet enim haec sobrietas ad morum regulam et ad salutis rationem, quia melius valemus abstinentes a potu et cibo et acutiores sumus tum in consiliis dandis tum in lucubrationibus honestarum artium. Hoc experimento didici.“ 11 GILLERT Nr. 49 (Mutian an Urban, Februar 1507), S. 63; KRAUSE (Nr. 58) datiert den Brief auf den März 1506.): „Legimus fuisse serpentem triginta cubitorum, qui venatores vivos deglutivit, alios cauda afflixit. Is vi et arte tandem captus ad Ptolomeum in Alexandriam defertur. Spectatus est pro miraculo, praesertim quod feritas tantae beluae per tenuitatem cibi remissior sit facta. Sic domandi sunt facinorosi et minaces. Tu vero nihil serpentini viri habens cavebis, ne corpus ieiunio saucies. Sint vires, quae studiis et laboribus tuis sufficiant.“

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

Ich bin faul und träge. Schuld daran ist die Speise der Narren, um nicht noch einen schlimmeren Ausdruck zu gebrauchen. Narren, ganz bestimmt Narren, die sich nur vegetarisch oder mit Fisch ernähren und auf anständige Fleischgerichte verzichten.12

Nicht nur schwäche Fasten den Körper, sondern es führe auch gelegentlich zum Tode. Das behauptete Mutian, jedenfalls scherzhaft, in einem Brief an Peter Eberbach, dessen fromme Mutter ihn wegen seiner Laxheit in religiösen Dingen gescholten habe. So habe er z.B. während der Fastenzeit Eier gegessen, und diese fielen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts als „flüssiges Fleisch“ unter das Fastengebot:13 Ich entschuldige dieses ungeheuere und gottlose Verbrechen mit folgenden Worten, merkte er mit ätzender Ironie an: Die Kirchen werden zusammenstürzen, Theater stürzen ein, die ständig geläuteten Glocken lassen die Türme erzittern; Vieles kündigt den Zusammenbruch an. Deshalb lehnt er das Fasten ab, weil er weiß (und er kann das nicht vergessen), dass sein Vater deshalb gestorben ist: er fastete und starb. Wenn er wie gewohnt gegessen hätte, wäre er nicht gestorben.14

Gegenüber Eobanus Hessus, einem Mann, der bekanntlich gern aß (und noch lieber trank), stöhnte er, ebenfalls zur Fastenzeit: Obwohl mich Christus mit seinem Joch in den alten Wald führt, ruft er mich heute zu den roten Rüben und Malven, enthält mir die Butter vor, bringt Fischsoße und Öl. So werden wir zu Rübenfressern, damit Du mit den Worten Oktavians diesen Aberglauben erkennst.15

Für einen Aberglauben hielt er also letztlich das kirchliche Fastengebot, einen Aberglauben aber mit möglichen Todesfolgen. Der Analytiker Mutian ließ es aber nicht bei der bloßen Ablehnung des bewussten Nahrungsverzichtes aus Gesundheitsgründen bewenden, sondern entlarvte das Fasten als ein von den kirchlichen Autoritäten eingesetztes berech12 GILLERT Nr. 351 (Mutian Urban, um den 23. März 1514): „Sum enim piger et tardus. In causa est cibus stultorum, ne quid gravius dicam. Stulti, certe stulti, qui praeteritis lautis edundis obsoniis rhaphanum et stockfisch devorant.“ 13 Erst Papst Julius III (1550–1555) erteilte allen Christen Dispens für Butter, Öl, Eier, Käse und Milch. 14 GILLERT Nr. 163 (Mutian an Petreius, 1509, S. 233): „Purgavi scelus tam inauditum, tam nefarium his verbis: … Templa collabuntur, spectacula ruunt, aera crebro mota turres quatiunt, multa casum minantur. … Ideo ieiunium aversatur, quod sciat, (neque enim oblivisci potest) quid patri [Der Vater von Eberbach war 1507 gestorben] acciderit: cibo abstinuit et mortem obiit. Si comedisset, ut antea solebat, non decessisset.“ 15 GILLERT Nr. 478 (Mutian an Eobanus Hessus, 15. März 1515), S. 139: „Quanquam Christus suo me iugo ducat in antiquam sylvam, hodie me vocat ad betas et malvas, extorquet butyrum, infert garum et oleum. Ita betizamus, ut Caesaris Octaviani verbo superstitionem hanc intelligas.“ Vgl SUETONIUS, Augustus, Kap. 87.

KRITIK AN KIRCHLICHEN GEBRÄUCHEN

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nendes Gebot, als zynische Maßnahme, die die Bauern z.B. zwingt, auf ihre Hühner und ihr Getreide während der Fastenzeit zu verzichten, sodass die Priester davon profitieren; denn Getreide, Wein, Hühner, Gänse würden uns die Bauern verweigern und den ungeschorenen Soldaten Christi [den Mönchen] nichts geben, wenn sie nicht durch das religiöse Verbot gequält würden.16 Mutian enttarnte also das Fastengebot nicht nur als ökonomische Maßnahme, sondern als psychologisches Druckmittel. Anders nämlich als der störrische Esel in Homers Ilias,17 der sich weder durch Worte noch Schläge von der saftigen Wiese vertreiben ließ, lassen sich die Menschen durch schrecklich laute Drohungen einschüchtern. Schuld darin sind die Theologen oder besser die Pfaffen (theologistae): Auf diese Weise machen auch sie den Menschen gefügiger, der in der Furcht des Herrn gefangen ist, indem sie nicht nur Buße, sondern auch körperliche Schmerzen und Fasten einfordern. Das ist ein harter Weg, aber besonders hart für diejenigen, die Pflüge, Hacken und Scharbäume benutzen.18

Besonders empörte Mutian die Heuchelei, dass man den Laien nur Salz und Wasser wie den Ziegen und Schafen gebe, während die Priester sich gut ernährten. Deshalb heißt ja die Gemeinde auch Herde. Eine Herde ist aber eine Ansammlung von Ziegen und Schafen.19 Bedenkt man Mutians skeptische Haltung gegenüber dem Fasten, so darf es nicht überraschen, dass er auch anderen riet, sich souverän darüber hinwegzusetzen. Gegenüber Valentin von Sunthausen, einem Rat des Erzbischofs Albrecht von Mainz, den Mutian wahrscheinlich aus seiner Erfurter Studienzeit kannte,20 wiederholte Mutian nicht nur die Behauptung, dass das Fasten aus der Anmaßung der Theologen entstanden sei, sondern schlug auch vor, es auf die Priester zu beschränken.21 Sunthausen brauche sich also als Nichtpriester nicht betroffen zu fühlen. Im Übrigen: Wer sollte denn glauben, dass das Fasten der Einfältigen Gott gefalle, es sei denn, man verzichte nicht nur auf das Essen, sondern auch auf 16 GILLERT Nr. 36 (Mutian an Urban, kurz nach dem 13. Dezember 1505), S. 47: „Nam frumenta, vinum, gallinaceos, anseres pagani absumerent nihilque praestarent irrasis Christi militibus, nisi religioso macerarentur interdicto.“ 17 Ilias 11, V. 558–562. 18 GILLERT Nr. 349 (Mutian an Urban, Ende Februar oder Anfang März 1514), S. 8: „Homines absterrentur verbis perterricrepis. … Sic theologistae faciunt humiles animos formidine divum non solum paenitentiam, sed etiam dolorem et ieiunia instituentes. Durum iter, sed durissimum illis, qui tractant vomeres, marras, sarcula, dentalia.“ 19 GILLERT Nr. 163 (Mutian an Petreius, 1509): „Porro sacrificulis tantum dantur stipes, prophanis sal datur et aqua veluti capris. Ex hoc fonte derivatum est, ut gregem dicamus plebem. Grex autem et caprarum et ovium examen.“ 20 GILLERT, II, S. 117, Anm. 8. 21 GILLERT Nr. 473 (Mutian an Valentin Sunthausen, 1. März 1515): „Docet Ausonius mystas, id est, sacerdotes celebrasse ieiunia.“

304

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

Laster.22 Letzteres habe Augustinus in seinen Dekreten als das wahre Fasten bezeichnet. Deshalb solle Sunthausen der vegetarischen Kost den „Stinkefinger zeigen“ und nach eigener Lust leben.23 Gesund ist der, so zitierte er Cornelius Celsus, der gut lebt. Wir sollen essen, wenn wir Hunger haben.24 Auffallend an diesem Plädoyer, religiöse Gebote zu missachten, ist nicht nur, dass Mutian die kirchlichen Autoritäten verwarf und sich auf die heidnischen berief, sondern dass er das Fasten auch hier ausschließlich unter den gesundheitlichen Gesichtspunkt sieht. Fasten als Abstinenz im Sinne der Buße und die Bereitschaft zur Neuausrichtung auf Gott, der spirituell-asketische Aspekt, interessierte ihn nicht. Ebenso wie Mutian das kirchlich verordnete Fasten ablehnte und als Erfindung des Klerus zur Ausbeutung des Volkes entlarvte, so missbilligte er auch die O h r e n b e i c h t e, immerhin ein Sakrament der katholischen Kirche. Auriculariam confessionem improbo – die Ohrenbeichte lehne ich ab, hieß es klipp und klar in einem Brief an Herebord von der Marthen.25 Eng mit der Beichte verbunden und der von einem Priester erteilten Absolution für begangene Sünden, war der weit verbreitete A b l a s s h a n d e l, der damit begründet wurde, dass durch Zahlung einer bestimmten Summe begangene Sünden getilgt werden und damit die Zeit im Fegefeuer verkürzt oder gar erlassen werden konnte. „Er [der Ablass] war eine Vorstufe des Versicherungswesens mit Policen nicht einer Lebensversicherung, aber viel wichtiger, einer Versicherung für das Jenseits.“26 Durch den Verkauf von Ablassbriefen wurden zwar auch karitative Einrichtungen finanziert, das meiste Geld floss aber, abzüglich großzügiger Provisionen für die Ablasskrämer und Organisatoren der Ablasskampagnen wie die Augsburger Fugger, an die römische Kurie. Kirchenhistoriker aller Konfessionen sind sich einig, dass die Ablasspraxis der am meisten kritisierte Aspekt des damaligen päpstlichen Finanzsystems war.27 Selbst die kirchlichen Behörden in Deutschland sprachen sich nicht selten gegen die Ablassverkündigungen aus, aber nicht etwa aus grundsätzlichen dogmatischen Bedenken, sondern weil das Geld nach Rom und nicht in ihre eigenen Taschen floss.

22 GILLERT Nr. 473, S. 131: „Quis enim credat placere Deo inediam bardorum, nisi mens a viciis ieiunet?“ 23 GILLERT Nr. 473: „Hoc in decretis canonicis vere magnum ieiunium Augustinus appellat. Itaque medium unguem ostendite leguminibus.“ 24 GILLERT Nr. 473: „Sanus enim homo, qui bene valet, … tunc comesse debemus, quando esurimus.“ 25 GILLERT Nr. 117 (Mutian an Herebord von der Marthen, 1505–1508). 26 FRIEDENTHAL, Martin Luther, S. 171. 27 Vgl. dazu auch: STÖRMANN, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgang des Mittelalters und der Reformationszeit, S. 11 ff.

KRITIK AN KIRCHLICHEN GEBRÄUCHEN

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Einen konkreten Anlass, die Ablasspraxis zu verspotten, bot Mutian das Auftauchen eines Fuldaer Ablassverkäufers im Jahre 1509 in Gotha. Ich glaubte, er [der Ablasskrämer] ist toll oder will uns zum Besten halten ... Sobald klar wurde, was er wollte, und ich darüber informiert war, dachte ich bei mir, dass die Religion selbst für viele nur eine Gelegenheit zum Geld verdienen sei, und dass diese Art eine verderbliche Habsucht sei, die sich unter dem Mantel der Frömmigkeit verbreite.28

Besonders empörend fand Mutian, dass der Ablasskrämer die Namen der Toten sammelte, allen das Pergament zeigte, dass durch diesen Erlass nach Zahlung von Geld den Verstorbenen ein 7-jähriger Ablass gewährt würde.29 Mutian blieb aber bei der ganzen Angelegenheit bloßer Zuschauer (penitus huius rei spectator). Statt sich öffentlich als angesehener Gothaer Kanoniker zu äußern und Stellung zu beziehen, schrieb er ein lateinisches Gedicht einschließlich deutscher Fassung über den klassischen Fährmann Charon, der die Toten gegen Geld über den Fluss Styx in die Unterwelt transportierte, und dieses sandte er an seine zwei Freunde, Urban und Herebord von Marthen.30 Dem Historiker fällt es schwer, nicht an einen Vergleich mit Martin Luther zu denken, dessen Thesen zum Ablasshandel zum Katalysator der Reformation wurden. Der Wittenberger Mönch handelte, Mutian begnügte sich mit einigen spöttischen Versen. Geldsucht ist auch nach Mutian der wahre Grund für das Zelebrieren von Totenmessen, weshalb er sich offenbar auch weigerte, solche zu lesen, was eigentlich zu seinen Aufgaben als Kanoniker gehört hätte. Ich will lieber Unkraut jäten als für Geld für die Toten beten, beschied er Urban.31 Es genüge, dass die Lebenden Gott um Verzeihung bäten, argumentierte er. Über die Augustiner spottete er, weil sie sich brüsteten, aufgrund ihrer Fürbitte lebten noch zahlreiche Menschen, aber die vielen Toten, die trotz ihrer Fürbitte gestorben seien, erwähnten sie wohlweislich nicht. Ebenso kritisierte Mutian die weit verbreitete R e l i q u i e n v e r e h r u n g. Da man glaubte, der Anblick oder die Berührung einer Reliquie wirke Wunder,32 28 GILLERT Nr. 151 (Mutian an Urban und Herebord von der Marthen, 1509): „Mirabar putans aut insanire cursorem aut haberi nos ludibrio. … Ibi revelata scena, quid sibi vellet, edoctus reputavi mecum religionem ipsam multis auctorem fuisse colligendae pecuniae atque id genus capitaliorem avaritiam, quae per speciem pietatis grassaretur.“ 29 GILLERT Nr. 151: „Argumento esse nuntium praesentem, qui inania mortuorum nomina collecturus obtulisset palam omnibus membranum pergamenam ea scilicet lege, ut repensa sibi stipe vita functos septennio describeremus.“ 30 GILLERT Nr. 151, S. 222 f. 31 GILLERT Nr. 259 (Mutian an Urban, 28. Mai 1513): „Ego arare mallem quam pecuniae gratia pro defunctis orare.“ Meine Übersetzung versucht das Wortspiel arare – orare nachzumachen, obwohl dadurch natürlich der Sinn etwas verändert wird. 32 Vgl auch: OHST, Reliquienkult und Ablaßwesen, S. 243–250.

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

gab der Besitz eines Körperteils eines Heiligen oder gar Christi Anlass für Prozessionen und Wallfahrten. Friedrich der Weise von Sachsen, der spätere Schutzherr Martin Luthers und ein Fürst, mit dem bekanntlich auch Mutian in freundschaftlichem Verhältnis stand, besaß in seiner Wittenberger Schlosskirche eine der größten Reliquiensammlungen Deutschlands. Auch das Marienstift in Gotha konnte sich einiger Reliquien rühmen.33 Wie häufig entzündete sich Mutians Kritik an konkreten Fällen. Als Peter Eberbach im Jahre 1513 über Fulda und Trier nach Rom reisen wollte, meldete Mutian Urban dies mit folgenden Worten: [Petreius] wird Orte sehen, die göttlich, möglicherweise aber auch menschlich sind: die vergoldeten Gebeine in Fulda und den Rock Christi in Trier.34 Das könnte man noch als eine relativ neutral gehaltene Wertung interpretieren. Was Mutian aber wirklich davon hielt, teilte er am Ende des Briefes mit: Es ist auch ein Zeichen der Frömmigkeit, für einen Kuss auf die geldgierigen Gebeine zu zahlen, es sei denn, es ist angenehmer, ein warmes Stück Fleisch zu kosten als den kalten Schädel des Bonifaz.35 Voller Hohn sprach er auch in einem anderen Brief von einem Vorfall, der sich während der Erfurter Unruhen im Jahre 1509 in Gotha ereignete. Zwei seiner Mitkanoniker seien panikartig in die Kirche gelaufen, um dort ihr Gold den Statuen gleichsam als Anleger zu übergeben. Dumme Menschen glauben, dass Statuen und Heiligenbilder sie selbst oder ihren Besitz beschützen. Sie irren sich.36 Nur Spott hatte er schließlich auch für eine Geschichte (fabula) übrig, die ihm sein Friseur beim Haareschneiden erzählt habe:37 Vor einigen Tagen fing ein Junge bei Mühlberg eine Kapelle an zu bauen mit einem Bildchen der Jungfrau Maria und einem kleinen Kreuz. Menschen versammeln sich, man spendet Geld, Wunder werden erzählt. Mutians Kommentar: Auf diese Weise macht ein einziger Junge viele alte Leuten wieder zu Kindern.38 Aus diesem Grunde lehnte Mutian auch eine Einladung Urbans zum Fest der Heiligen Adelar und Eoban39 im Kloster Georgenthal nicht nur mit der Begründung, er wolle sich nicht mit den Toten aufhalten, es sei denn, sie hätten sich durch ihr 33 BECK, Geschichte Gothas, S. 300. 34 GILLERT Nr. 258 (Mutian an Urban, 22. Mai 1513): „… visurus spectacula rerum, nescio divinarum an humanarum: Vulde ossa inaurata, apud Treverenses togam Christi.“ Den Heiligen Rock hatte der Trierer Erzbischof Richard von Greifenklau 1512 wieder ausstellen lassen. 35 GILLERT Nr. 258: „Etiam ossis quaestuarii basiolum emisse pietatis est, nisi forte caldam ofam gustare suavius quam frigidam Bonifatii calvariam.“ 36 GILLERT Nr. 144 (Mutian an Urban, kurz nach dem 14. Juli 1509): „Stulti homines credunt statuas et signa tueri possunt aut sese aut aliena. Falluntur.“ 37 GILLERT Nr. 281 (Mutian an Petreius, um die Mitte des Jahres 1513): „Hoc mihi dixit tonsor hodie, dum caput meum destringeret.“ 38 GILLERT Nr. 281: „Superioribuss diebus puer quidam propter Molburgk sacellum in agro coepit aedificare virginis almae icuncula et crucis signaculo introlatis. Fit concursus, offeruntur stipes, narrantur miracula. … Sic unus puer multos senes pueros facit.“ 39 Der heilige Adelar (Adalhard) lebte von 752 bis 826; Der heilige Eoban starb 754/55.

KRITIK AN DER GEISTLICHKEIT

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Studium und ihr Talent unsterblichen Ruhm erworben, sondern auch, weil das Fest eher etwas für Kinder, Frauen und Diener [sei]. Die Dienstboten wünschen sich nichts sehnlicher als das, wozu Du sie einlädst. Ich aber denke schon lange anders.40 Sein ehemaliger Diener Janus Urbicus habe ihm [Mutian] von dem Bart Christi erzählt. Oh je, welcher Bart! Christus missbilligt die Lüge, und dennoch lügt niemand unverfrorener als die Priester Christi. Ich verehre weder dessen Rock, noch den Bart noch die Vorhaut. Ich verehre den lebendigen Gott, der weder einen Rock, noch einen Bart trug, noch eine Vorhaut auf dieser Erde zurückließ.41

Die wahren Reliquien für Mutian sind aber nicht Körperteile von Heiligen, sondern die Schriften der Gelehrten.42

2.

Kritik an der Geistlichkeit

KRITIK AN DER GEISTLICHKEIT

Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben. Der Satz aus Bachs Weihnachtsoratorium (VI, 1) könnte das Motto einer Skizze seines Verhältnisses zu seinen geistlichen Ordensbrüdern, den Augustinerchorherren, setzen; denn als er 1504 seine Pfründe an dem Gothaer Marienstift erlangte, geriet er in einen Kreis von Männern, mit denen ihn bald eine herzliche Feindschaft verband (vgl. Kap. V). Er, der durch sieben Jahre Italienstudium hochgebildete Aficionado der Antike, der mit seiner enormen Bildung auch ein Stück des Lebensgefühls der italienischen Renaissance zurückgebracht hatte, stand einer Gruppe von Männern gegenüber, die, obwohl die meisten die Universität Erfurt besucht hatten, im Grunde provinziell, der Scholastik verhaftet waren. „Überall ein einseitiges, starres Festhalten am überlieferten Kirchentum mit allen seinen Auswüchsen, überall eine große Unduldsamkeit gegen die geringste Abweichung davon. Die gottesdienstlichen Handlungen verrichteten sie in der handwerksmäßigen Weise, obwohl im Übrigen sehr gewissenhaft, wie sie sich denn überhaupt einer äußeren kirchli-

40 GILLERT Nr. 374 (Mutian an Urban, kurz vor dem 5. Juni 1514): „ Illud vero verius puerorum est et feminarum et mancipiorum spectaculum, nostros etiam domesticos nihil magis cupere quam videre id, ad quod tu eos vocas. Verum enimvero mihi longe alia mens est.“ 41 GILLERT Nr. 374: „Ohe, qualis barba! Detestatur Christus mendacium et tamen nemo mentitur magis impudenter quam Christi sacerdos. Ego tunicam et barbam et praeputium non colo, Deum colo viventem, qui neque tunicatus neque barbatus neque ullum terris praeputium reliquit.“ 42 GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Sic mihi libuit doctissimorum reliquias (sunt enim scripta verissimae certissimaeque reliquiae) tibi ostentare et osculanda servandaque contradere.“

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

chen Frömmigkeit befleißigten.“43 Ihr „Küchenlatein“ ähnelte wohl dem, das die „Dunkelmänner“ in Crotus’ Satire Epistolae obscurorum virorum sprachen. Man beäugte sich misstrauisch. Für sie blieb Mutian immer ein Außenseiter. Aber es war nicht nur der tiefe weltanschauliche Graben, der Mutian von seinen Gothaer Kollegen trennte, sondern auch persönliche Feindschaften. Obwohl er den Kontakt mit ihnen aus Furcht, von ihnen angesteckt zu werden,44 auf das Nötigste beschränkte, scheint er besonders mit seinen Mitkanonikern Ludwig Köteling (Lotius) und Georg Morsch (Morus) häufig in Streit geraten zu sein. Diese Auseinandersetzungen, die ihm sogar den Schlaf raubten,45spitzten sich im Jahr 1512 zu, als Mutian manchmal in täglichem Rhythmus brieflich gegenüber Urban seinem Ärger Luft machte.46 Die beiden Mitkanoniker wurden zu einer Obsession. Lotius beschrieb er häufig als verbrecherisch (scelestus),47 bezeichnete ihn als den übelsten oder alternativ den habsüchtigsten unter allen Zweibeinern und einen wahren Cacodaemon.48 Er empörte sich über dessen Machenschaften (insidiae) und Betrügereien (fraus).49 Oft wurden die beiden als Paar auftretenden Chorherren als pestbringende Menschen,50 als übelste Parasiten, nur der Geldsucht und dem Wein ergeben bezeichnet.51 Noch 1514 nannte Mutian die beiden Barbaren52 und unsere Teufel in dieser Zeit.53 Wütend wetterte er gegen die zwei: Die Götter mögen dieses aussätzige Vieh in den Tartarus stürzen.54 Wie Reuchlin beherrschte Mutian das Schmählatein (malelatinum) perfekt, nur dass Reuchlin es in seinen Veröffentlichungen öffentlich praktizierte und Mutian lediglich in vertraulichen Briefen an Freunde. Da diese tollwütigen Hunde in ihren Intrigen geschickter vorgingen als der immer etwas weltfremde Mutian, gewannen sie den 43 GILLERT, Einleitung, S. XXVIII. 44 GILLERT Nr. 103 (Mutian an Urban, zwischen 1506 und 1508): „Siqua unquam fuit in me aut ingenii aut doctrinae laus, eam stultorum contagio delet et inficit.“ 45 GILLERT Nr. 212 (Mutian an Urban, 24. September 1512): „Lotianum facinus et iniuria somno excitasset.“ 46 Insgesamt sind fast 60 zwischen 1507 und 1515 geschriebene Briefe erhalten, die sich mit Lotius beschäftigen. Die wichtigsten: GILLERT Nr. 187, 193, 194, 196, 197, 198, 200, 201, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 212, 214, 233, 234, 338, 421, 429, 461. Vgl. auch Namensregister bei GILLERT. 47 GILLERT Nr. 187 (Mutian an Urban, Juli1512) und GILLERT Nr. 196 (Mutian an Urban, kurz nach dem 10. August 1512): „Decepit enim insigniter, proh scelus.“ 48 GILLERT Nr. 198 (Mutian an Urban, kurz nach dem 10. August 1512): „omnium bipedum postremissimus et verus cacodaemon … avarissimus omnium bipedum.“ 49 GILLERT Nr. 197 (Mutian an Urban, kurz nach dem 10. August 1512). 50 GILLERT Nr. 213 (Mutian an Urban, um den 24. September 1512): „pestiferi homines“. 51 GILLERT Nr. 213, I, S. 289: „… vilissimi parasiti … lucro et vinolentiae dediti.“ 52 GILLERT Nr. 93 (Mutian an Urban, 1505–1508, S. 134). 53 GILLERT Nr. 421: „… nostris in hoc saeculo diabolis.“ 54 GILLERT Nr. 213: „Dii pecus scabiosum in tartara detrudant.“

KRITIK AN DER GEISTLICHKEIT

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Abt des Klosters Georgenthal für sich, hatten in kirchlichen Kreisen erheblichen Einfluss und hetzten auch ihre übrigen Mitkanoniker im Gothaer Marienstift gegen Mutian: Überall zeigt sich das Gift Kötelings. Es hat Georgenthal, Erfurt, ganz zu schweigen von unserer Burg infiziert.55 Seinen Gothaer Amtsbrüdern andererseits konnten Mutians unorthodoxe Anschauungen nicht ganz verborgen bleiben. Neulich hätten sie doch gesagt, meldete er Urban, Spalatin, Urban und Mutian seien Dichter, sprächen Griechisch und äußerten sich ketzerisch über göttliche Dinge. Mutian wies die letztere Beschuldigung als falsch und erlogen ab und fuhr fort: Denn wer ist religiöser als Urban, heiliger als Spalatin und aufrichtiger als Mutian? Wenn wir Dichter wären, bedaure ich, dass wir nicht große Dichter sind wie Baptista Mantuanus oder ähnliche.56 Auch den dritten Vorwurf, dass sie Griechisch sprächen, wies er entrüstet zurück, alles was sie nicht verstünden, käme ihnen eben griechisch vor.57 Wie argwöhnisch ihn seine Mitkanoniker beäugten, zeigt eine Episode, über die Mutian brühwarm an Urban schrieb. Bei der morgendlichen Zusammenkunft im Lager des Teufels (castra diaboli), so nannte er die Besprechung des Kapitels, habe sich einer der Mitkanoniker gegen ihn, d.h. Mutian, ausgekotzt (evomerit): Man liest aus dem Leben des heiligen Gregor vor. Man lobt ihn, dass er die Ketzerei derjenigen zum Schweigen gebracht habe, die die Auferstehung des Fleisches leugneten. Dann zeigte ein zahnloser Greis mit dem Zeigefinger auf mich, als ob jene Gottlosigkeit auch bei mir in reichem Maße vorhanden sei.58

Und wie reagierte Mutian? Was sollte ich tun? Ich saß auf meinem Chorgestühl, hielt die heiligen Gesänge des David, Idith, Asaph und seiner Söhne, die sie im Volke Psalter nennen, in der Hand, nicht zum Streiten, sondern zum Beten aufgelegt.59

Und dabei hatte der „zahnlose Greis“ mit seinem stummen Vorwurf nicht ganz Unrecht, wie später zu zeigen sein wird, genausowenig wie bei einer anderen, 55 GILLERT Nr. 421 (Mutian an Urban, 22. oder 23. August 1514): „Late patet Lotianum venenum. Infecit Valles et Erphurdiam, nedum hoc castellum.“ 56 GILLERT Nr. 93 (Mutian an Urban, 1505–1508): „Urbanus, Spalatinus, Mutianus poetae sunt, graece loquuntur, de rebus divinis impie sentiunt. Quis enim Urbano religiosior, Spalatino sanctior, Mutiano sincerior? Si vero poetae sumus, doleo non esse magnos poetas, quales sunt Baptista Mantuanus et consimiles.“ 57 GILLERT Nr. 93: „Illud perquam ridiculum est loqui nos graece, ita aiunt, nam graecum esse putant id omne, quod nesciunt.“ 58 GILLERT Nr. 93: „Legitur Gregorii vita. Laudatur, quod confutaverit eorum heresim, qui negabant carnis resurrectionem. Tum quidam edentulus senetio me digito monstrabat, tamquam ista impietas in me quoque redundaret.“ 59 GILLERT Nr. 93: Sedebam in εξέδρα et Davidis, Idithum, Asaph et filiorum Chore sacros hymnos (vulgo psalterium vocant) in manu habebam non liti, sed precibus intentus.“

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

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späteren Gelegenheit, im Jahre 1512, seine Mitkanoniker Unrecht hatten, als sie ihn beschuldigten, Mutianus helt keyn messe.60 Erst zwei Jahre später, im Jahre 1514, also mehr als zehn Jahre nach seiner Ankunft in Gotha, sollte er seine erste Messe zelebrieren.61

3.

Spitzname: „Duronius“ – der Abt von Georgenthal

DER ABT VON GEORGENTHAL

Erfahrungen aus erster Hand hatte Mutian aber nicht nur mit seinen Kollegen am Marienstift in Gotha, sondern auch mit dem Abt vom Kloster Georgenthal, der seit 1503 als Johannes III. das Kloster leitete. Mutian nannte ihn meistens Duronius,62 obwohl sein richtiger Name Heinrich Spitznase war.63 Mit ihm verband ihn eine Art Hassliebe; denn einerseits schätzte er, zumindest anfänglich, den Abt, andererseits hatte er später nur Verachtung für ihn übrig.64 Mutians anfängliche Wertschätzung des Duronius mag damit zu tun haben, dass der Abt ein einflussreicher, mächtiger Mann war, der einem der bedeutendsten Klöster Thüringens vorstand.65 An ihm führte bei wichtigen Entscheidungen kein Weg vorbei. Als Mutian z.B. Spalatin einen Lehrerposten für Novizen des Klosters sichern wollte, musste er, wie wir sahen, sich in mehreren Briefen an den Abt wenden,66 und als Urban im Jahre 1508 wegen der angeblichen Schwängerung einer Nonne das Kloster verlassen musste, verhandelte Mutian mit Duronius über das weitere Schicksal seines Freundes.67 Später, im Jahre 1513, als Urban nach seinen Studien in Leipzig Verwalter des Georgenthaler Hofes in Erfurt geworden war und ständig befürchten musste, dieses interessante und ein60 GILLERT Nr. 213 (Mutian an Urban, um den 24. September 1512). Zitat auf Deutsch. 61 GILLERT Nr. 356 (Mutian an Urban, einige Zeit vor dem 4. April 1514). 62 Der Grund für diese Namensgebung ist nicht ganz klar. Nannte er ihn „Duronius“, weil der Abt mit bürgerlichem Namen Spitznase hieß, oder weil Mutian ihn für ungebildet hielt, wobei durus ja auch diese Bedeutung hat? Im Übrigen spielte Mutian gern mit dessen Namen: Er nannte ihn einmal „durus Duronius“ (GILLERT Nr. 272); ein andermal sprach er von der „duritudo Duronii“ (GILLERT Nr. 331). Gelegentlich bezeichnete Mutian ihn auch wegen der ausgedehnten Wälder, die das Kloster besaß, als „Silvanus“ (GILLERT Nr. 114, Nr. 116 und Nr. 539). 63 Vgl. KRAUSE, Beiträge zum Texte, S. 67. 64 In nicht weniger als sechzig Briefen Mutians, geschrieben zwischen 1505 und 1518, erwähnte er den Abt (siehe GILLERT, Namensregister). Dazu kommen natürlich noch nicht erhaltene Briefe, die die zwei Männer austauschten. 65 Mutian nannte ihn einmal, vielleicht mit leichter Ironie „omnipotens“ (GILLERT Nr. 156). 66 GILLERT Nr. 6 (Mutian an Urban, Sommer 1505) und Nr. 11 (Mutian an Spalatin, Mitte Juli 1515). Vgl. Kap. VII.2. 67 GILLERT Nr. 74 (Mutian an Urban, kurz nach dem 11. Juli 1508).

DER ABT VON GEORGENTHAL

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trägliche Amt zu verlieren, versprach Mutian seinem Freund in mehreren Briefen, sich für ihn bei Duronius zu verwenden.68 Angesichts der Bedeutung des Klosters darf es also nicht überraschen, dass Mutian zunächst auch dessen Abt mit viel Respekt begegnete: In Briefen an Urban nannte er ihn zunächst abbas sacratissimus,69 abbas reverendus,70 clarus et reverendus pater71 und pater sanctus tuus72 und forderte Urban auf, seinen Abt zu ehren.73 Im Laufe der Jahre aber änderte sich diese positive Einstellung und schlug in heftige Kritik um. Nicht nur missbilligte er dessen exzessiven Alkoholkonsum, sondern beklagte auch dessen allzu enge Verbindung zu Mutians Gothaer Feinden. Obwohl Mutian selbst keineswegs dem Alkohol abgeneigt war und gelegentlich auch recht amüsante Briefe im angetrunkenen Zustand zu verfassen im Stande war,74 verurteilte er des Abtes alkoholische Exzesse. Einen bibas – Trinker und merobibus nannte er ihn einmal,75 also jemanden, der unvermischten Wein trinkt, und wer das bei den Römern tat, galt als Trunkenbold. Dessen Zechgelage müssen schon legendär gewesen sein, sodass der Kurfürst nicht zuletzt mit Blick auf Georgenthal eine Verfügung zur Verbesserung des klösterlichen Lebens zu erlassen sich verpflichtet sah: Derhalben haben unser g(nedige) H(erren) gots lesterung und das unfledig zutrincken mit ernste und straff verpoten, berichtete Mutian, und fuhr dann auf Lateinisch fort: Ich glaube, das dieser Erlass dem Duronius bekannt ist. Mir gefällt die kurfürstliche Zensur, denn, und wieder auf Deutsch: Wan das sauffen krengkt ere, vernufft, lieb und gut und ist schendlich.76 Ob sich durch das kurfürstliche Gebot an den Trinkgewohnheiten des Georgenthaler Abtes und seiner congerrones – Zechbrüder – etwas geändert hat, ist unwahrscheinlich, denn auch nach 1513 berichtete Mutian immer wieder von klösterlichen Zechgelagen.

68 69 70 71 72 73 74

GILLERT Nr. 265, 282, 441 und 524. GILLERT Nr. 21 (Mutian an Urban, Herbst 1505). GILLERT Nr. 40 (Mutian an Spalatin, im Januar 1506). GILLERT Nr. 103 (Mutian an Urban, 1506–1508). GILLERT Nr. 135 (Mutian an Herebord von der Marthen, 16. Juni 1506). GILLERT Nr. 42 (Mutian an Urban, 21. März 1506): „Honoremus abbam nostrum.“ Zum Beispiel GILLERT Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21. Juli 1515): „Haec scripsi bene ebrius. … Potavi enim egregrie.“ Bei den Zusammenkünften in der BEATA TRANQUILLITAS wurde selbstverständlich auch Wein gereicht, wie Euricius Cordus in seinem Itinerarium berichtete: „Primus apud Rufum prono me vesper Olympo/ Prendit, ad instructas cum sedet ille dapes./ Mox omnes patuere fores iussique ministri/ Optima de plenis vina tulere cadis.“ GILLERT Nr. 477 (Mutian an Cordus, 15. März 1515, Beilage). 75 GILLERT Nr. 76 (Mutian an Urban, Juli (?) 1508). 76 GILLERT Nr. 266 (Mutian an Urban, 23.(?) Juni 1513): „Credo et Duronio traditum esse praeceptum. Mihi placet principalis censura.“ Der Text ist abgedruckt in GILLERT, II, S. 351, als Fußnote zu Brief Nr. 266.

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

Ein zweiter Kritikpunkt bezog sich auf die unheilige Allianz zwischen den beiden Gothaer Kanonikern Köteling/Lotius und Morsch/Morus auf der einen Seite und Duronius auf der anderen; denn zu den Schwächen des Abtes gehörte, dass er Schmeichlern gegenüber empfänglich war.77 Lotius und Morus nutzten diese Schwäche aus, was dadurch erleichtert wurde, dass beide Parteien, die Duroniastri in Georgenthal78 und Lotius und Morus aus Gotha, die Vorliebe für Wein, Weib und Gelage teilten. Mutian sah mit zunehmender Verzweiflung, wie durch die Intrigen der beiden sein Einfluss bei Duronius schwand: Duronius ist so wie die Lotianer ihn machen,79 klagte er im Jahre 1513, und ein Jahr später: Duronius gehorcht und steht ganz in deren Dienst.80 Das Band, das seine Feinde umschlinge, sei schwerer zu lösen als der gordische Knoten.81 Wenn Morus so sehr Duronius gefällt als großartiger Mann, ja sich des höchsten Lobes als würdig erweist, wie steht es dann mit uns? Da kann man nichts machen. Urban hat keine Ahnung, Mutian weiß nichts. Wir sind Nullen. Jener ist beredt, hervorragend und einzigartig. O tempora, o Valles, Morus gefällt dem Duronius, die arroganteste Bestie dem dümmsten Hierophanten! Wenn die Mönche mehr den Ungelehrten glauben als uns.82

Der dritte und aus humanistischer Sicht schwerwiegendste Vorwurf bezog sich auf Duronius’ angebliche Bildungsdefizite: Der Mensch ist ungebildet, einfältig, von selbstgerechtem Hochmut.83 Duronius hatte zwar auf Betreiben Mutians, wie wir sahen, die humanistisch geprägten Mutian-Freunde Spalatin und Herebord von der Marthen als Novizenlehrer in seinem Kloster eingestellt und somit die Türe zu den studia humanitatis einen winzigen Spalt geöffnet, als der Abt allerdings Urban daran hinderte, auf der Leipziger Messe Bücher für Mutian zu erstehen (und damit aus humanistischer Sicht seine Unbildung verriet), konnte Mutian seine Entrüstung über diese Barbarei nicht verbergen. In schon ziemlich ange77 GILLERT Nr. 169 (Mutian an Urban und Herebord von der Marthen, kurz nach dem 28. Juli 1510): „assentatorum adulationibus praestans“. 78 GILLERT Nr. 397 (Mutian an Urban, kurz nach dem 30. Juni 1514). 79 GILLERT Nr. 282 (Mutian an Urban, um die Mitte des Jahres 1513: „Talis est Duronius qualem Lotiani faciunt.“ 80 GILLERT Nr. 385 (Mutian an Urban, 17. Juni 1514): „Paret Duronius, imo servit.“ 81 GILLERT Nr. 292 (Mutian an Urban, 7. August 1513). 82 GILLERT Nr. 338 (Mutian an Urban, 1513): „Si Morus adeo placet Duronio ut summus vir, imo summa quaque laude dignissimus, quid de nobus? Actum est. Iam nihil scit Urbanus, nihil didicit Mutianus. Nihil iam sumus. Iste facundus, iste sapiens, iste praestantissimus et singularis. O tempora, o valles, o insolens iudicium. Morus Duronio probatur, bestia scilicet arrogantissima stultissimo hierophantae. … Si credunt cenobitae magis indoctis quam nobis.“ 83 GILLERT Nr. 169 (Mutian an Herebord von der Marthen, kurz nach dem 28. Juni 1510): „Homo est indoctus, imperitus, supercilioso fastu.“

SCHILDERUNG DES MÖNCHSLEBENS

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trunkenem Zustand (potavi enim egregie) ließ er sich zu einer Fundamentalkritik des Mönchtums hinreißen: Die Heiligkeit der Mönche bedeutet nichts und wenn sie etwas bedeutet, dann ist es nichts anderes als Rücksichtslosigkeit, Scheinheiligkeit, Heuchelei und Falschheit. Dabei lasse ich unerwähnt: die Tücke, Lasterhaftigkeit und zahlreiche Täuschungsmanöver.84

Diese vermeintliche Einfältigkeit ist wohl auch der Grund, dass Duronius sich von einem Wahrsager, der im Jahre1515 in Schönau sein Unwesen trieb, täuschen ließ. Dieser falsche Prophet wurde vom Abt begünstigt und soll ihn zu der Bemerkung veranlasst haben: Ich wolle, dass ich vor dem closter auch hette ein weisen man.85 Als dann der Schwindler, sehr zum Kummer des Klostervorstehers, als Betrüger entlarvt und des Landes verwiesen worden war, konnte Mutian seine Schadenfreude kaum verhehlen.86

4.

Schilderung des Mönchslebens

SCHILDERUNG DES MÖNCHSLEBENS

Mutian äußerte sich öfters über den unmoralischen Lebenswandel einiger Mönche. Nirgends geschah das aber ausführlicher und mit größerer Leidenschaft als in einem Brief, den man auf das Jahr 1509 datieren muss, und der mit seinen etwa 1.700 Wörtern eine der längsten erhaltenen Episteln ist, die wir überhaupt von ihm haben.87 Der Brief ist im Gegensatz zu vielen anderen schnell hingeworfenen Mitteilungen sorgfältig komponiert, nicht als scholastische, streng logische Abhandlung, sondern essayistisch, assoziativ, mit antiquarischen Exkursen, weshalb auch Mutian, der sonst eher dazu neigte, den literarischen Wert seiner Briefe bescheiden herunterzuspielen, am Ende nicht ohne Stolz schrieb, er habe ihm, Urban, einen nicht ganz geistlosen Brief geschickt.88 Es handelt sich um eine Generalabrechnung mit der Geistlichkeit. Dem Brief sieht man das Bemühen an, durch zahlreiche klassische und nachklassische intertextuelle Anspielungen und einen besonders erlesenen Wortschatz Glanz zu verleihen, und 84 GILLERT. Nr. 387 (Mutian an Urban, nach dem 21. Juni 1515): „Nihil esse sanctimoniam cenobialem vel si aliquid est, nihil aliud esse quam importunitatem et hypocrisim et simulationem et fucum. Mitto vecordiam et impuritatem et ostentationes multiplices.“ 85 GILLERT Nr. 520 (Mutian an Urban, vor dem 16. Juli 1515). Mutian hatte davon schon in einem vorherigen Brief darüber berichtet (GILLERT Nr. 229, 1. November 1512): „Dixi de perditissimo chaldeo. ‚Vellem‘, inquit [Duronius] adhuc enim haberem ante Valles.“ 86 GILLERT Nr. 523 (Mutian an Urban, 16. Juli 1515): „Iste thesaurarius nebulo, qui simplicitati tuorum rusticorum, imo Gothanis et infinitis hominibus fucum fecit et imprudenti credulitati illusit, tenetur in custodia cenobiali.“ 87 GILLERT Nr. 147 (Mutian an Urban, um Michaelis 1509(?)). 88 GILLERT Nr. 147, S. 216: „Habes, Urbane, non illepidam epistolam.“

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

selbst der Mönch Urban, der keineswegs ein schlechter Lateiner war, wie gelegentlich behauptet wird, dürfte einige Mühe gehabt haben, den vor seltenen lateinischen Wörtern strotzenden Brief vollständig zu entschlüsseln, denn Begriffe wie latisio (Fohlen eines Waldesels), intertrigo (ein durch Reiten, Gehen und leidenschaftlichen Sex wundgeriebe Stelle, ein „Wolf“), cordolium (Herzeleid) und adipale (fettig) dürften nicht zum lateinischen Grundwortschatz eines Mönches gehört haben. Thema sind Klagen über die moralische Verkommenheit der Geistlichkeit, exemplifiziert am Beispiel eines Gelages, das Duronius anlässlich des Kirchweihfestes im Herbst 1509 in Schönau seinen Kollegen gegeben hatte. Da der Abt die Taktlosigkeit begangen hatte, Mutian zusammen mit dessen Intimfeind, den Mitkanoniker Ludwig Köteling (Lotius) einzuladen, und Mutian sich offenbar gezwungen sah, in diesem Fall die Einladung anzunehmen, wurde er unfreiwilliger Augenzeuge einer wüsten Orgie. Der Brief beginnt aber nicht, wie man erwarten sollte, mit einer ruhigen chronologischen Erzählung der Einladung, des Zögerns, diese anzunehmen und des Besuches selbst, sondern sozusagen mit einem Paukenschlag, als ob Mutian es nicht erwarten konnte, seiner Entrüstung Luft zu verschaffen: Was für eine Sittenlosigkeit, was für eine lasterhafte und schmutzige Wollust! Wie groß ist das Verbrechen und die Gottlosigkeit!89 Wütend fährt er fort: Ungebildete Priester, die kaum über die primitivste wissenschaftliche Bildung verfügen, so barbarisch, so verworren und so korrupt sprechen sie heiligen Worte aus, sodass sie diesen unauslöschlichen Makel mit christlichen Zeremonien wegzuwischen versuchen.90

Ihre linguistischen Schnitzer wären noch zu ertragen, wenn sie nicht mit allen möglichen Schandtaten befleckt wären und geistig nicht weniger als sprachlich verdorben wären. Ihnen fehlt jegliche Gottesfurcht, nichts Religiöses haben sie an sich außer ihrem priesterlichen Gewand. Nicht dem Heiland, nicht der Tugend, nicht einem wohlgeordneten, sittsamen und ruhigen Leben folgen sie, sondern dem Magen und was darunter ist. Sie streiten ständig, sind immer betrunken. Wenn man aber betrunken ist, herrscht auch Jähzorn und die Libido.91

89 GILLERT Nr. 147 (Mutian an Urban, um Michaelis 1508). S. 210 f.: „Quanta sit intemperantia, quam probrosa spurcaque libido, quantum scelus ac nefas …!“ 90 GILLERT Nr. 147, S. 213: „Illiterati sacerdotes, qui vix primoribus labris gustaverunt literas elementarias, tam barbare, tam confuse corrupteque sancta verba pronuntiant, ut ineluibilem maculam Christianis ceremoniis aspergant.“ 91 GILLERT Nr. 147, S. 213: „Sed essent ferendi, si tantum lingua peccarent et non essent omnibus probris contaminati et animo non minus quam ore depravati, quibus nullus Dei metus est, nihil penitus religiosum praeter habitum sacerdotalem. Non enim Salvatorem, non virtutem, non vitam dispositam, pudicam, tranquillam, sed subantes in Venerem

SCHILDERUNG DES MÖNCHSLEBENS

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Und dann steigerte sich Mutian92 in eine recht graphische Beschreibung des „Morgens danach“: So lassen sie sich unbekümmert gehen und rücken, nach dem Saufgelage noch wankend, den Frauen zu Leibe und springen nackt und mit spritzendem Penis herum, was andere nicht nur sexuell erregt, sondern auch einen schlimmen Präzedenzfall darstellt. Das Volk sagt sich dann doch: Wenn unsere Hirten auf so schändliche Weise sündigen, dürfen wir auch davon träumen und es sogar selbst tun.93

Da Mutian bei klassischen Autoren und bei den Kirchenvätern einen engen Zusammenhang zwischen übermäßigem Essen und sexueller Begierde fand, und da es zudem nach Hieronymus schon wegen der räumlichen Nähe von Bauch und Genitalien einen Konnex zwischen beiden gibt, wäre Verzicht auf Alkohol und Essen tatsächlich das Beste, denn ohne Bacchus und Ceres kühlt sich auch Venus ab.94 Kritik an dem ausschweifenden Leben der Geistlichkeit, ihrer Fresssucht, ihrem übermäßigen Alkoholkonsum, ihren sexuellen Ausschweifungen – das sind die Hauptthemen dieses wütenden Briefes. Was der Brief aber nur am Rande erwähnt, was aber trotzdem für Mutian ein Haupthandlungsmotiv für die Geistlichen ist, ist deren Habgier; denn die Geldsucht der Geistlichen stecke hinter dem Fastengebot, der Ablasspraxis, dem Lesen von Totenmessen, dem ausufernden Reliquienkult und dem üppigen Mönchsleben. Avaritia maculat theologiam – die Habsucht besudelt die Theologie.95 Wer sollte die Geldgier des Klerus nicht verdammen?, fragte Mutian einmal entrüstet in einem Brief über Köteling.96 Denn gerade bei diesem Geistlichen sei die Geldsucht nicht nur schändlich, sondern auch gottlos.97 Außer den üppigen Gelagen sind es die Konkubinen, die enorme Kosten verursachen: Heutzutage verschlingen schmutzige Huren und schändliche Prostituierte den besseren Teil des kirchlichen Vermögens.98 So habe Köteling zum Beispiel

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ventrem colunt et quae sub ventre sunt, semper rixiosi, semper ebrii. Ubi autem ebrietas, ibi furor et libido.“ GILLERT Nr. 147, S. 214: „continere stilum non possum.“ GILLERT Nr. 147, S. 214: „Ita secure indulgent genio, ita impudenter post ingurgationem lapsabundi implicantur mulierum amplexibus et nudis membris et spumante mutino saltant, quod aliis non solum est suscitabulum proluvii venerii, sed etiam peiora audendi exemplum. Sic enim vulgus: Si pastores nostri tam turpiter lacsciviunt, licebit et nobis hallucinari et incurrere.“ GILLERT Nr. 147, S. 215: „… sine Baccho et Cerere friget Venus.“ GILLERT Nr. 94 (Mutian an Urban, 1505–1508). GILLERT Nr. 100 (Mutian an Urban, 1505–1508): „Quis non damnaret avaritiam cleri? “ GILLERT Nr. 100: „Avaritia sit in canonico non solum turpis, sed etiam scelerata. Et nefaria.“ GILLERT Nr. 100: „At aevo nostro squalida scorta et foedae pelliculae meliorem partem ecclesiastici patrimonii devorant.“ „Pellicula“ bedeutet eigentlich Vorhaut. Vorklassisch kann es aber aber auch „scortum“, also Dirne bedeuten.

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

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jahrelang seine inzwischen runzlige und verwelkte Konkubine Delia freigehalten.99 Besonders infam fand es Mutian, dass die Geistlichen unter dem Vorwand, Menschen helfen zu wollen, viel Geld kassierten. Wie in so vielen anderen Dingen kontrastierte er die zeitgenössische Geldgier des Klerus mit dem im Evangelium ausgedrückten Armutsforderungen: Das Gebot des Evangeliums schreibt vor, kein Geld im Gürtel zu haben.100 Und auch der Kirchenvater Hieronymus habe gemahnt: Es ist eine Schande für alle Priester, sich um eigenen Reichtum zu bemühen.101

5.

„Was ist in Rom nicht alles käuflich?“ – Romkritik

ROMKRITIK

Als Zentrum dieser Geldgier und Käuflichkeit bezeichnete Mutian, wie viele seiner Zeitgenossen, Rom, eine Stadt, die er selbst besucht hatte und außerdem aus den Schilderungen seiner nach Rom reisenden Freunde kannte. So wunderte er sich auch nicht, dass ein Bekannter dort krank geworden und dreimal ausgeraubt worden sei: Was hatte er aber auch in Rom zu suchen, der Höhle aller Sünden. Alle Verbrechen und Laster kommen da zusammen, sodass Du über die Römer sagen kannst, was der Prophet Joel schrieb: „Sie haben einen Knaben für eine Hure hingegeben und Mädchen für Wein verkauft und vertrunken.“102

Ähnlich äußerte er sich, wenn auch mit dem für ihn üblichen ironischen Unterton, über den Neffen Urbans, als dieser sich anschickte, nach Rom zu reisen: Schicke ihn nach Rom, damit er die Hauptstadt des Verbrechens und all der Dinge, die zu einer angenehmen Lebensführung notwendig sind, sehen kann.103 Als der erst 24-jährige Albrecht von Brandenburg sich gegen den von Kaiser Maximilian favorisierten, erst 14-jährigen Herzog Ernst von Bayern in seiner Bewerbung als Erzbischof von Mainz durchgesetzt hatte, fehlte nur noch die päpstliche Bestätigung. Sarkastisch merkte Mutian an, dass diese nicht lange auf sich warten lassen werde, 99 GILLERT Nr. 100: „Omnia dat rugosae, flaccidae Deliae.“ 100 GILLERT Nr. 100: „Lex evangelica praecipit, ne aes: pecuniam, in zonis habeamus.“ Luthers Übersetzung: „Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben.“ (Matthäus 10, 9). 101 GILLERT Nr. 100: „Ignominia omnium sacerdotum est propriis studere divitiis.“ 102 GILLERT Nr. 152 (Mutian an Urban, 1509): „Quid homini Romae negotii fuit, ubi est velut άνθλον omnis peccati. Eo enim nullum scelus et flagitium non confluit, ut de Romanensibus dicere possis, quod scripsit Iohel propheta: „Et posuerunt puerum in prostibulo et puellam vendiderunt pro vino, ut biberent.“ Das Zitat kommt aus Joel 4,3. (Luthers Übersetzung). 103 GILLERT Nr. 510 (Mutian an Urban, 24. Juni 1515): „Nepotianum … omnino Romam mittas, ut capita scelerum et multa ad vitam commode agendam ducencia videat.“

EXKURS: POSITIVE BEURTEILUNG DER ZISTERZIENSER

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denn Was ist in Rom nicht alles käuflich?104 Im August 1514 kam die Bestätigung aus Rom. Albrecht wurde wegen „seiner edlen Herkunft und wegen der großartigen Tugendgaben“ als Erzbischof bestätigt. Über die enorme Summe von 30.000 Dukaten, das Ergebnis einer großangelegten Ablasskampagne, die nach Rom geflossen waren, wurde vornehm geschwiegen.105

Exkurs: Positive Beurteilung der Zisterzienser EXKURS: POSITIVE BEURTEILUNG DER ZISTERZIENSER

Mönche, die sich bei üppigen Gelagen an Fleisch und Wein laben, geldgierig sind und auch Frauen nicht verschmähen – das ist die eine Seite des Bildes, das Mutian von den Klosterbrüdern in Georgenthal zeichnet. Dieses negative Bild kontrastierte Mutian aber mit einem zweiten, möglicherweise idealisierten Bild der Zisterzienser. Dass es ausgerechnet die Zisterzienser waren, darf nicht überraschen angesichts der engen Verbindung zu Georgenthal, einer sehr frühen Gründung der 1098 im burgundischen Citeaux (lateinisch: Cisterum) von Robert de Molesme etablierten mönchischen Gemeinschaft, die sich unter der charismatischen Führung des Bernhard von Clairvaux sehr schnell ausbreitete, sodass bei seinem Tode bereits 165 Zisterzienserkloster existierten.106 Die Gründe für Mutians Bewunderung der Zisterzienser waren vielfältig. Wie immer bei ihm mischten sich dabei Ironie und Ernsthaftigkeit auf die ihm eigene mutianische Weise. So pries Mutian mitten im eisigen Winter des Jahres 1506 in einem Brief an Spalatin die Zisterzienser: O Gott, … bewahre mir die gütigen Zisterziensermönche. Sie geben Holz und Baumaterial, versorgen uns mit Schweinefleisch und Fischen, kümmern sich um Bücher und helfen mir mit den Venetianern [gemeint ist Aldus Manutius]. Wegen dieser Verdienste werde ich immer den heiligen Benediktus, den Urvater dieses Ordens lieben.107

Aber Mutian rühmte die Zisterzienser nicht nur als nützliche Holz- und Bücherlieferanten, sondern bewunderte auch deren religiöse Einstellung und deren

104 GILLERT Nr. 446 (Mutian an Urban, vor dem 10. Oktober 1514): „Quid Romae non venale?“ 105 ROLAND (Hg.): Albrecht von Brandenburg, S. 27. 106 DINZELBACHER, Bernhard von Clairvaux, S. 39. 107 GILLERT Nr. 40 (Mutian an Spalatin, im Januar 1506): „In tantis Iani frigoribus propemodum obrigui … Oh Deus, … serva mihi benignissimos patres ordinis Cistercii. Dant ligna et materiam, dant sues et pisces, accommodant libros et me vel Venetiis adiuvant. Pro quibus meritis semper amabo divum Benedictum, auctorem illius sectae primarium.“

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

strenge Einhaltung der Regel des Benedikt von Nursia, des Mönchsvaters.108 Aus diesem Grunde nannte er die beiden Männer, Benedikt und Bernhard, obwohl der letztere mehr als ein halbes Jahrtausend später lebte, immer in einem Atemzug. Wohl auch deshalb endete der oben zitierte Brief damit, dass Spalatin Urban überreden solle, endlich etwas über die beiden zu schreiben. Er, Urban, sei der geeignete Mann für solch eine Aufgabe, da alles, was er schreibe, sauber, gefeilt, sorgfältig gearbeitet ist.109 Außerdem sei es Zeit, nein seine Pflicht, den mönchskritischen Schriften des Giovanni Pontanus etwas entgegenzusetzen. Dieser Dichter (1426–1503), das Haupt der neapolitanischen Dichter und Philosophen, hatte in seinen Dialogen immer wieder die Mönche angegriffen.110 Was schätzte aber Mutian so sehr an Bernhard von Clairvaux, dass er Urban wiederholt drängte, dessen Leben zu beschreiben? Es sind drei Gründe. Einmal bewunderte der Humanist Mutian Bernhards rhetorisches Talent. Der Autodidakt habe es durch eifrige Lektüre und seinen eigenen Verstand so weit gebracht, dass er als mellifluus, also honigsüß redend, bezeichnet wurde.111 Besonders seine Klarheit, perspicuitas, rühmte Mutian an ihm, eine Beurteilung, die auch moderne Kritiker Bernhards teilen.112 Diese Betonung des Rhetorischen sei auch bei Bernhards Nachfolgern zu finden, was eine Anekdote, die er neulich gehört habe, verdeutliche: Als das Konzil zu Pisa/Mailand [September 1511–April 1512] angefangen hatte, redete der Abt von Clairvaux gegen Julius den Zweiten und die verdorbenen Sitten der Römischen Kirche und geißelte diese mit scharfen Worten. Bei dieser Gelegenheit glänzte ein Pater Deines Ordens und Nachfolger Bernhards durch seine Beredsamkeit, sodass Du mit Recht jenes Lob wiederholen kannst.113 108 Die strenge Einhaltung der Regula erregte schon bei den Zeitgenossen Bernhards Bewunderung. So schrieb Wilhelm von Malmesbury (starb um 1142), dass sie [die Zisterzienser] so regeltreu sind, dass sie kein Iota dieser Regel unbeachtet zu lassen meinten. Zitiert bei DINZELBACHER, Bernhard von Cklairvaux, S. 21: „ita regulae incubantes, ut nec iota nec apicem praetereundum putent.“ 109 GILLERT Nr. 53 (Mutian an Urban, 15. Mai 1507): „Cur non scribis vitam divi Bernardi? Scimus omnia tua esse tersa, limata et ad regulam composita.“ 110 Dazu: BENTLEY, Pontano, Giovanni, in: Encyclopedia of the Renaissance 5, S. 118– 120. 111 GILLERT Nr. 64 (Mutian an Urban, 13. April, 1506–1508), S. 85: „Sic Bernhardus noster, … tantum assidue legendo et ingenii acumine didicit, ut a suis mellifluus dicatur.“ 112 So schätzt DINZELBACHER dessen „geniale Sprachkunst“ und nennt ihn den „wohl faszinierendsten Prosaiker des 12. Jahrhunderts“ (Bernhard von Clairvaux, S. 369). 113 GILLERT Nr. 230 (Mutian an Urban, 11. November 1512): „Cum concilium Pisanum Mediolani fuisset inceptum, abbas Clarevallis concionatus est in Iulium secundum et ecclesiae Romanae mores perditissimos acerrima dictione laceravit. Ecce tui ordinis pater et Bernardi successor facundia enituit, ut elogium illud iure repetas.“ Und dann folgt ein Wortspiel, das nur schwer im Deutschen wiedergegeben werden kann, da es mit der

EXKURS: POSITIVE BEURTEILUNG DER ZISTERZIENSER

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Neben seiner Beredsamkeit war für Mutian ein zweiter Aspekt wichtig: Er sah nämlich Bernhard geistig im Gefolge der Pythagoreer und anderer Gemeinschaften der Antike. Der Benediktustag, also der 21. März des Jahres 1506, gab ihm Gelegenheit zu derartigen Reflexionen. Er nannte Bernhard einen cucullatus Pythagoras – einen Pythagoras mit Kapuze, und zitierte dann Hieronymus: Viele Philosophen verließen das Gedränge der Städte und die Gärten der Vorstädte, die bewässerten Felder, die laubigen Bäume und das Zwitschern der Vögel, die reflektierenden Brunnen, den murmelnden Fluss und viele andere Augen und Ohren ergötzende Verlockungen, um nicht durch Auscheifungen und materiellen Überfluss ihre starke Psyche zu schwächen und ihre Keuschheit zu kompromittieren.114

Auch die Pythagoreer hätten solche Menschenansammlungen abgelehnt und sich an die Einsamkeit gewöhnt, um in verlassenen Gegenden zu wohnen. Das habe auch für die Platoniker und die Stoiker gegolten. Sie hielten sich in Tempeln und Säulenhallen auf, um über nichts anderes als die Tugend nachzudenken. Deshalb sei Benedikt ein wahrer Pythagoreer, fürwahr ein Stoiker.115 Er habe sich auf den Monte Cassino begeben, wo er am eisigen Aniene seine pythagoreische Gemeinschaft begründete. Dort fügte er der Kirche eine Säulenhalle hinzu, in der die Klösterbrüder, allen Geschäften und Sorgen der Welt enthoben, die Natur der Dinge und den Lauf der Gestirne betrachten konnten, auf Fleischspeisen und Wein verzichteten, Priester der Venus nicht anzogen, sondern sich keusch dem Gottesdienst widmeten. Vorbild dafür waren die Propheten, die ägyptischen Priester, die Magier, die Druiden und die Esserer.116 Mutian relativierte also die Neuartigkeit und Einzigartigkeit der mönchischen Gründungen

lateinischen Form von Clairvaux (Clarae valles) spielt: „Clarae sunt valles, sed claris vallibus abbas clarior his clarum nomen in orbe dedit.“ 114 GILLERT Nr. 42 (Mutian an Urban, 21. März 1506): „Multi philosophorum reliquerunt frequentias urbium et hortulos suburbanos, ubi ager irriguus et arborum comae et susurrus avium, fontis speculum, rivus murmurans et multae oculorum auriumque illecebrae sunt, ne per luxum et abundantiam copiarum animae fortitudo mollesceret et eius pudicitia construpraretur.“ 115 GILLERT Nr. 42: „Benedictus certe verus Pythagoricus, vere Stoicus.“ 116 GILLERT Nr. 42: „In Cassinatem se contulit, ubi ad frigidum Anienis amnem Pythagoricam contubernalitatem instituit. Quod cenobium porticum templo applicatam habuit, in qua contubernales omnibus mundi prophanis negotiis curisque postpositis rerum naturas causasque ac rationes siderum mente perspicerent, carnibus et vino se continenter et perhenniter abstinerent, Veneris sacerdotes non attrectarent, sed casti divino cultui deservirent exemplo prophetarum et Egyptiorum sacerdotum, imo Magorum, Druydum, Esseiorum.“ „Die Esserer waren eine palästinische Gemeinschaft, die seit der Zeitenwende zum Bildungsgut der Antike und christlichen Welt gehörte.“ Der Kleine Pauly, 2, S. 375.

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

und ordnete sie in einen großen kulturhistorischen Zusammenhang ein, indem er eine eine große Linie von den Pythagoreern zu Bernhard zog. Nach diesem religionsgeschichtlichen Rückblick kam Mutian schließlich noch auf einen dritten Aspekt zu sprechen, der ihn in die Georgenthaler Wirklichkeit und in die kleinlichen innerklösterlichen Streitereien zurückführte. Bernhard habe auch gelehrt, dass man Unrecht ertragen müsse. Eines Tages sei ein Mann zu ihm gekommen, der sich den Zisterziensern anschließen wollte. Von Bernhard darauf hingewiesen, dass er sich auch anderswo nützlich machen könne, habe er, verärgert über diese Zurückweisung, den Abt tätlich angegriffen. Die Anwesenden hätten sofort eine solche unfromme Tat gerächt, wenn Bernhard ihnen nicht kraft seiner Autorität verboten hätte, Gewalt mit Gewalt zu vergelten. Es sei nötig, so habe Bernhard seine Entscheidung begründet, dass er anderen vergebe, er, dem Christus so oft vergeben habe.117 Das überschwängliche Lob der Ur-Zisterzienser und deren berühmten Prediger Bernhard mag angesichts der vorher skizzierten Kritik an dem Verhalten des Duronius und seiner Mönche im Zisterzienserkloster Georgenthal merkwürdig erscheinen. In Wirklichkeit ist aber die Aufforderung an Urban, eine Biographie Bernhards zu schreiben, nicht als literarische Stilübung gedacht gewesen, sondern als Appell, sich auf die alten zisterziensischen Tugenden zu besinnen, denn wie weit die Georgenthaler Mönche unter der Führung ihres Abtes sich davon entfernt hatten, wird Mutian nicht müde in seinen Briefen an Urban zu betonen. Urban hat sich übrigens nicht zu einer Biographie Bernhards durchgerungen. Als vielbeschäftigter Ökonom hatte er wohl auch dazu nicht die nötige Muße.118 117 GILLERT Nr. 64 (Mutian an Urban, 13. April 1506): „Venit ad eum nescio quis subiturus iugum Cisterciense. Monitus statim ab eo posse aliubi quoque proficere, si vellet, confestim impatiens repulsae pugo abbatem pulsavit. Fuissent statim, qui aderant, ulti tam impium facinus, nisi Bernardi auctoritas vim vi repellere vetuisset. ‚Oportet‘, inquit sanctisssimus pater, ‚me aliis ignoscere, cui a cristo Servatore, qui verus est … toties ignoscitur‘.“ Bezeichnend ist, dass Mutian bei seinen Kommentaren zu Bernhard höchst selektiv verfuhr, indem er dessen intensive Spiritualität, Konfrontation mit Abelard und dessen leidenschaftliche Predigten für einen Kreuzzug ignorierte. 118 Die zunächst von KRAUSE geäußerte Behauptung, dass er als „ Schriftsteller … nur mit einem unbedeutenden Werk religiösen Inhaltes, Marulus betitelt, 1514 [hervortrat]“ (Briefwechsel des Mutianus Rufus, S. 308, Anm. 5), die in jüngster Zeit von Franz POSSET wiederholt wurde (A Cistercian Monk as Editor of the Carmen), kann nicht überzeugen und ist bereits von GILLERT, zu dem POSSET allerdings nach eigener Angabe keinen Zugang hatte, widerlegt worden (GILLERT, Briefwechsel, I, S. 243, Anm. 1). POSSETS Hauptargument ist eine Stelle in einem Brief Mutians an Urban (GILLERT Nr. 259 vom 28. Mai 1513): „Nunc ad hilaria veniamus, ut dulce amarumque una misceatur. Vidi Marulum tuum, carptim legi. Totus est Christianus piis fabulis et quidem multiiugis scatet, utilis est tibi concionaturo. Fac bona toga vestiatur et tandem mihi perlegendum

MUTIANS AMTSFÜHRUNG

6.

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„Ich murmle mit den Murmelnden“ – Mutians Amtsführung

MUTIANS AMTSFÜHRUNG

Ich murmle mit den Murmelnden, damit sie mich nicht der mangelnden Frömmigkeit beschuldigen können.119 Mit diesen Worten charakterisierte Mutian selbst seine etwas nachlässige Amtsführung am Gothaer Marienstift im Jahre 1509, fünf Jahre, nachdem er in der thüringischen Kleinstadt seinen Dienst angetreten hatte. Immer wieder liest man in seinen Briefen Klagen über das Gefangensein in der täglichen und zeitraubenden Routine: Der Chor und die Gebete der Müßiggänger nehmen mich in Beschlag. Jeden Tag beansprucht mich der Aberglaube für sich.120 Ich werde wie ein Tier, das geopfert werden soll, zum Altar geschleppt.121 Einen Brief an Urban endete er mit den Worten: Durch das Geklingel dieser Glocke werde ich zu dem frommen Gemurmel gerufen wie ein kappadozischer Pyrtheus.122 Zwei Gründe nannte Mutian immer wieder für diese Klagen. Erstens die Ansicht, dass man die Zeit des täglichen, mehrmaligen Chorgebets besser zu wissenschaftlichen Studien gebrauchen könne. Aus diesem Grunde mischte sich in sein Lamento über sein Sklavendasein ein wenig Neid auf seine Kollegen, die derartigen Zwängen nicht unterworfen zu sein schienen: Petreius ist frei, Urbanus ist frei, nur ich bin ein Sklave.123 Wichtiger noch mag der zweite Grund gewesen sein, nämlich die mangelnde Überzeugung, dass seine Tätigkeit sinnvoll ist.

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accomoda.“ Das „tuum Marulum“ bezieht sich nur auf den Besitz, nicht auf etwaige Verfasserschaft bzw. Herausgeberschaft. Mutian erinnert ihn daran, dass er das Werk „einkleidet“, d.h. es einbinden lässt. Da Bücher in dieser Zeit oft uneingebunden verkauft wurden, überließ man den Einband dem Käufer. Diese Aufforderung wiederholte Mutian einige Tage später (GILLERT Nr. 264): „Paucis ante diebus admonui, ut opus novum exemplorum investires. Erit id mihi voluptati etsi nugis abundet. Erit et tibi usui in docendo verbo divino, quando fratres vel blandis exhortationibus demulces vel severioribus minis territas, ut fieri solet. Nam quid plus in contionibus energiae habeat, non intellego.“ Diese durchaus distanzierte Beurteilung dieses Werkes, dass es zwar sich gut eigne, alten Frauen und jungen Mädchen beim Predigen Furcht einzujagen, aber sonst wenig Kraft besäße (vgl. auch GILLERT Nr. 259), ist doch ein weiterer Beweis, dass es sich nicht um eine von Urban herausgegebene Schrift handeln kann. Dessen Werk hätte er sicherlich nicht auf so abschätzige Weise beurteilt. GILLERT Nr. 135 (Mutian an Herebord von der Marthen, 16. Juni 1509): „Musso cum mussantibus, ne me arguant impietatis.“ GILLERT Nr. 350 (Mutian an Urban, 23. März 1514): „Detinet me chorus et otiosorum preces. Totos dies superstitio sibi vindicat.“ GILLERT Nr. 350: „Trahor ad aras veluti victima immolanda.“ GILLERT Nr. 8 (Mutian an Urban, Sommer 1505): „Ego vocor aeris tinnitu ad pia murmura tamquam Pyrtheus Cappadocum.“ Als Πυραίθοι wurden bei den Kappadokiern die Magier genannt, welches das ewige Feuer zu hüten und dabei stündliche Gebete zu verrichten hatten. Vgl. GILLERT, S. 12, Anm. 4. GILLERT Nr. 472 (Mutian an Gregor Agricola, 23. Februar 1515): „Liber Petreius, liber Urbanus, ego servio.“

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

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Diese Interpretation legen seine Äußerungen über die kirchlichen Praktiken einschließlich der priesterlichen Tätigkeit nah. Wie soll man sonst erklären, dass neun Jahre vergingen, bis er zum ersten Mal die Messe selbst zelebrierte?124 Mit dem Satz: Ich kann nicht länger, ohne die Frömmigkeit zu verletzen, den Altären und Opfern fernbleiben; bisher war ich eher Zuschauer als Tischgenosse, begründete er diesen Schritt. Bislang habe ich die Hostie nur besucht, ich habe sie nicht wie ein Opferpriester behandelt. Nun werde ich, wenn Gott will, Teile der göttlichen Speise kosten und für die Lebenden und Toten dankbar beten.125

Wie wenig das ihm aber bedeutete, zeigte die Reaktion auf ein Ehrengeschenk (honorarium), das ihm Urban anlässlich dieses Ereignisses geschickt hatte. Er schickte es mit der Begründung zurück, dass er Urban nicht eingeladen habe und deshalb auch kein Präsent verdient habe.126 Wäre diese erste aktive Teilnahme an der Eucharistie ein Einschnitt, eine Bekehrung gewesen, hätte er dann nicht seinen engsten Freund dazu eingeladen? Gegen die Hypothese einer Zäsur spricht auch, dass seine Klagen über sein angebliches Sklavendasein auch nach diesem Datum nicht verstummen. Wie lustlos Mutian seinen Dienst weiterhin versah, erhellt ein Brief an Gregor Agricola vom Februar des Jahres 1515, also fast ein Jahr nach seinem ersten Messopfer: Die Gebete zur Jungfrau Maria ziehen mich in die Sklaverei. Von einem Sklaven empfange diesen unterwürfigen Brief.127

7.

Mutians Gottesverständnis und Christologie

MUTIANS GOTTESVERSTÄNDNIS UND CHRISTOLOGIE

Kritik an den Gebräuchen der Kirche und deren Amtsrägern bis zum Papst war Anfang des16. Jahrhunderts aber nichts Ungewöhnliches, ungewöhnlich, ja radikal waren Mutians Gedanken über Gott und Christus. Ein sehr früher Brief an Urban aus dem Jahre 1505 ist eines der bemerkenswertesten Zeugnisse von Mutians Gottesverständnis. Der Kontext ist ein Preis der gesunden und schönen Lage des Ortes Schönau, Belpratum, wo Urbanus bekanntlich ein zum Kloster gehörendes Haus zur Verfügung hatte. Während man seinen Satz: Mögen Dir 124 GILLERT Nr. 213 (Mutian an Urban, um den 24. September 1512); dort auf deutsch zitiert. 125 GILLERT Nr. 356: „Nunc Deo meo propitio gustabo partes Dominicae cenae et pro vivis et defunctis memoriter, ut fit, orabo.“ 126 GILLERT Nr. 360 (Mutian an Urban, 5. April 1514): „Honorarium vero pietatis in me tuae remitto, non veluti contemptor, sed ne putares ideo scripsisse me tibi, ut donares … Non te vocavi. Si vocassem, locum haberet fortasse largitio.“ 127 GILLERT Nr. 472 (Mutian an Gregor Agricola, 23. Februar 1515): „Preces Iovis famulae me in servitutem trahunt … A servo servilem epistolam accipe.“

MUTIANS GOTTESVERSTÄNDNIS UND CHRISTOLOGIE

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gewogen sein die ländlichen Gottheiten Flora, Nais, Oreas, Nape, Dryas, Pan, die Faunen, die Satyrisci, die Silenen, Pales und ihre zwei großen Eltern Vater Jupiter und Mutter Erde, Ceres, Venus und Priapus, Robigo, Lympha und der ‚Gute Ausgang‘ 128 als humanistischpoetische Einkleidungen abtun könnte, die ihm Gelegenheit geben, spielerisch sein mythologisches Wissen auszubreiten, so gewährt doch der nächste, entscheidende Satz Einblicke in seinen Gottesbegriff: Es gibt nur einen Gott und eine Göttin (unus deus et una dea), aber es gibt so viele Gottheiten (numina) wie Namen (nomina): zum Beispiel: Jupiter, die Sonne (Sol), Apollo, Moses, Christus, der Mond (Luna), Ceres, Proserpina, die Erde, Maria.129

Die scheinbar willkürliche Aufzählung von heidnisch-antiken, jüdischen und christlichen Naturgöttern und -göttinen weisen auf einen universalen Gottesbegriff hin, auf eine Konkordanz der Religionen. Wenn aber der christliche Gott nur einer unter vielen ist, wird die Sonderstellung der christlichen Religion relativiert. Als ob er aber mit dieser Gottesanschauung zu weit gegangen sei und eingedenk der Tatsache, dass Urban ein Mönch war, fügte er hinzu: Während Jupiter, d.h. der höchste Gott, Dir gewogen ist, verachte schweigend die kleineren Götter. Wenn ich aber Jupiter sage, meine ich Christus, den wahren Gott.130 Das oben angeführte Zitat könnte aber genauso gut als eine pantheistische Verehrung der Natur interpretiert werden. Und in der Tat gibt es eine große Zahl von Zeugnissen, die eine derartige Interpretation nahe legen. Die Natur ist diva,131 sanctissima,132 die Mutter von allem, die heilige Mutter Erde.133 Wie immer man Mutians interpretieren will, es ist kein persönlicher Gott, an den Mutian glaubt, sondern ein Wesen, das sich durch sein Wirken in der Natur,

128 GILLERT Nr. 15 (Mutian an Urban, nach dem 21. August 1505): „Faveant tibi rustica numina Flora, Nais, Oreas, Napee, Dryas, Pan, Fauni, Satyrisci, Sileni, Pales et duo magni parentes Jupiter pater et Tellus mater, Ceres et Venus et Priapus, Robigo, Lympha et bonus Eventus.“ (Flora: Göttin der Blumen und Blüten, die Frühlingsgöttin; Nais: Wasser und Flussnymphe; Oreas: Bergnymphe; Napea: Bergnymphe; Dryas: Baumnymphe; Pan: Hirtengott; Fauni: Feldgötter; Satyrisci: die kleinen Satyrn (Gefährten des Bacchus); Sileni: die Erzieher und Begleiter des Bacchus: Pales: eine altitalische Feldgöttin; Robigo: Gottheit, die man um Abwendung des Mehls anrief; Lympha: Quellnymphe; Bonus Eventus: eine Gottheit des römischen Landmannes.) 129 GILLERT Nr. 15: „Est unus deus et una dea, sed sunt multa uti numina ita et nomina, exempli gratia: Jupiter, Sol, Apollo, Moses, Christus, Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria.“ 130 GILLERT Nr. 15: „Tu Iove, hoc est, optimo maximo deo, propitio contemne tacitus deos minutos. Quum Iovem nomino, Christum intelligo et verum Deum.“ 131 GILLERT Nr. 66 (Mutian an Urban, im Frühjahr 1508). 132 GILLERT Nr. 504 (Mutian an Urban, Ende Mai 1515). 133 GILLERT Nr. 66: „Omniparens mater nostra diva tellus.“

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

im Kosmos und im Mikrokosmos jedes einzelnen Menschen offenbart.134 Niemand kann Gott sehen. Er existiert nicht physisch, sondern nur im Geiste der Menschen, so Mutian. Das Gleiche gilt auch für Christus, dessen Bedeutung für Mutian in dessen geistigen Qualitäten liegt. Mit der Behauptung, dass der historische Christus gar nicht gekreuzigt worden sei, ging er aber noch einen Schritt weiter; denn der wahre Christus sei Seele und Geist, der weder erfasst noch mit den Händen angefasst und gesehen werden kann.135 Mit einiger Sympathie zitierte er die Mohammedaner und Türken, die scherzend sagen, dass der wahre Christus nicht gekreuzigt worden sei, sondern irgendein anderer Christus ähnelnder Mensch.136 Diese scheinbar absurd scheinenden Ansichten wichen nicht so sehr von der Meinung der Gelehrten ab, meinte Mutian. So habe Ambrosius geschrieben, Pilatus habe Christus nie gesehen. Um sein Argument zu untermauern, zitierte er die Anekdote von Apollonius von Tyana, der, als er vom Kaiser Domitian angeklagt worden war, im Gericht plötzlich verschwunden und nirgends mehr gesehen worden sei.137 Die Erklärung sei einfach. Nach Platon, Aristoteles, den Manichäern und Ambrosius mache der sich in der Sprache manifestierende Geist das wahre Wesen des Menschen aus; wenn wir schweigen, existieren wir nicht, und da Apollonius geschwiegen habe, habe er logischerweise gar nicht existiert. Urban gegenüber erklärt er, dass Sokrates zu einem Jüngling gesagt habe: ‚Rede, damit ich dich sehe.‘ Nun verstehst du, mein Urban, fährt Mutian fort, dass wir durch die Rede allein den Geist und den Gott dieses Mikrokosmos sehen: dieser wohnt im Himmel unserer Brust oder unseres Kopfes.138 Wenn also Mutian hier die leibliche Existenz Christi leugnete, wenn auch mit der ihm eigenen Ironie, so näherte er sich bedenklich dem Doketis-

134 GILLERT Nr. 64 (Mutian an Urban, 13. April 1506–1508). 135 GILLERT Nr. 64: „Verus Christus animus est et spiritus, qui neque comprehendi neque manibus tractari neque videri potest.“ 136 GILLERT Nr. 64: „Minus desipiunt Maumethenses et Turcae, qui cavillantur non verum Christum cruci affixum, sed alium quempiam, qui Christo fuerit perquam similis.“ 137 GILLERT Nr. 64, S. 86 f.: „Satis constat Apollonium Tyaneum teste Philostrato, quum apud Domitianum accusaretur, in ipso iuditio subito evanuisse et nusquam fuisse conspectum.“ Die Geschichte des Apollonius von Tyana scheint Mutian besonders gefallen zu haben. 1508 entschuldigte er sein Fernbleiben von dem durch Spalatin dargebrachten Messopfer mit der Begründung, dass er doch anwesend, aber unsichtbar gewesen sei: Der wahre Geist sei durch den Geist und nicht durch die physische Präsenz anwesend. GILLERT Nr. 107 (Mutian an Urban, um Michaelis 1508): „Mehercle, non defui, sed eram invisibilis velut Apollonius in iuditio Domitiani.“ 138 GILLERT Nr. 64, S. 87: „Socrates adulescenti ‚loquere‘, inquit, ‚ut te videam‘. Nunc intelligis, Urbane, solo nos sermone patefacere animum Deumque huis minoris cosmi, qui in coelo sive pectoris sive verticis habitat.“

PRIMAT DER ETHIK

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mus, jener frühchristlichen, später als häretisch erklärten Lehre, nach der Jesus Christus nur scheinbar eine körperliche Existenz besaß.139

8.

„Nam gud und god idem sunt“ – Primat der Ethik

PRIMAT DER ETHIK

Worin bestand für Mutian dann das Wesen des Christentums? Es gibt keine heiligere Hostie als die gegenseitige Liebe.140 Unser Heiland ist das Lamm und der Hirte. Wer ist also unser Erlöser? Gerechtigkeit, Friede, Freude. Dies ist Christus, der vom Himmel stieg.141 In dieser Auffassung sah er sich durch den Apostel Paulus bestätigt. Dieser hatte im Römerbrief angeblich geschrieben: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Treue, Redlichkeit, sichere Ruhe und Demut.142 „Angeblich“, denn Mutian zitierte den Apostel höchst selektiv, als er den „Heiligen Geist“ wegließ und die für ihn wichtigen Qualitäten wie „tranquillitas“ und „humilitas“ hinzufügte. Mutian verwarf also hier die strikte Befolgung der Gesetze, wie sich in den Jahrhunderten seit dem frühen Christentum entwickelt hatten, den Legalismus, sondern forderte stattdessen als Basis für die christliche Ethik die Liebe zu Gott und den Mitmenschen.143 Dieses einfache Gebot ist aber nach Mutian kein Monopol des Christentums, sondern ein Naturgesetz (lex naturalis), ein Gesetz zudem, was nicht auf den Steintafeln des Moses, auf den ehernen Tafeln der Römer, nicht auf Papyrus und nicht auf gedrucktem Pergament steht, sondern uns Menschen von dem Großen Gelehrten [Gott] geschenkt worden ist.144 Dieses Gesetz befolgen die Völker instinktiv, argumentierte Mutian in einem anderen Brief, Moses, Plato und Christus haben es gelehrt. Es ist unseren Herzen eingeschrieben, denn wer weiß nicht, dass Harmonie und gegenseitige Liebe göttlich, heilig und gottgefällig ist, da Gott alles durch seine sichere Ordnung beherrscht.145 139 JÜLICHER, Δοκηταί, in: Pauly Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, V, I, Sp. 1268. Vgl. auch SPITZ, The Religious Renaissance, S. 142. 140 GILLERT Nr. 64, S. 86: „Nec ulla potest esse sanctior hostia quam mutua caritas.“ 141 GILLERT Nr. 29 (Mutian an Urban, Anfang Dezember 1505): „Quis est salvator noster? Iusticia, pax et gaudium. Hic est Christus, qui de coelo descendit.“ 142 GILLERT Nr. 29: „Regnum Dei non est cibus et potus, sed iustitia secundum fidem et secura tranquillitas cum humilitate.“ In Luthers Übersetzung: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist.“ (Römerbrief 14,17) 143 GILLERT Nr. 64: „… ut Deum ames et homines sicut te ipsum.“ 144 GILLERT Nr. 64: „Haec est lex naturalis, non scripta in saxeis tabulis ut Mosaica, non in aes incisa ut Romana, non carthis aut membranis impressa, sed a doctore summo cordibus nostris infusa.“ 145 GILLERT Nr. 103 (Mutian an Urban, zwischen Frühjahr 1506 und Herbst 1508): „Hanc legem gentes instinctu naturae colunt, hanc Moses, Plato, Christus docuerunt, haec in

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

Seine Entsprechung findet dieses einfache Naturgesetz der ewigen gegenseitigen Liebe in dem Makrokosmos der Natur: Schau Dir den Himmel an. Dort bewegen sich die Sterne in ewiger Harmonie: die Sonne wird durch den Lauf des Mondes nicht verdunkelt, der Abend kündigt später den Schatten an, und der Morgenstern bringt den nahrungsspendenden Tag; Friede beherrscht die Elemente und in dem Universum bewegen sich die Kreise oder Planetenbahnen so, sodass Pythagoras die Himmelsharmonie und die himmlischen Gesänge beschrieben hat.146

Die Übereinstimmung mit diesen allgemein verbindlichen Gesetzen machte also für Mutian das Wesen der wahren Religion aus. Das ist eine Auffassung, die unweigerlich zu einer Relativierung des christlichen Monopolanspruchs führt und die oft diskutierte Frage, was die Menschen vor Christi Geburt getan hätten, beantwortet: Die christliche Religion begann nicht mit der Fleischwerdung Christi, sondern Jahrhunderte davor; denn was ist der wahre Christus, der wahre Sohn Gottes, wie Paulus sagte, als die Weisheit Gottes, die nicht nur die Juden im engen Syrien, sondern auch die Griechen, Italiker und Germanen, obwohl sie mit anderen Gebräuchen ihre Religion befolgten, schätzten.147

Im Koran heiße es zum Beispiel: Wer immer als Gottgläubiger achtbar gelebt hat, sei es Jude, Christ oder Moslem, wird von Gott Erbarmen und Heil erlangen. Also wird Gott durch ehrenvolles Leben, nicht durch neue Kleider besänftigt. … Derjenige ist religiös, der rechtschaffen, fromm und uneigennützig ist. Der Rest ist nur Aufputz.148

cordibus nostris est perscripta. Quis enim nesciat concordiam et mutuam caritatem esse divinam et sanctam et Deo carissimam, quom Deus omnia moderetur ordine certo.“ 146 GILLERT Nr. 103, S. 144): „Suspice coelum. Illic aeterno foedere sidera servant concordiam, sol lunae cursibus non obluctatur, vesper seras nuntiat umbras revehitque diem lucifer almum, pax elementa regit et universo mundo planetarum orbes sic versantur, ut coeli harmoniam divinosque concentus Pythagoras commentus sit.“ 147 GILLERT Nr. 95 (Mutian an Urban und Spalatin, zwischen Ende 1505 und Herbst 1508): „Non incepit Christi religio cum illius incarnatione, sed fuit ante omnia saecula ut prima Christi nativitas. Quid enim aliud est verus Christus, verus Dei filius quam, ut Paulus inquit, sapientia Dei, quae non solum affuit Iudeis in angusta Syriae regione, sed Graecis et Italis et Germanis, quamquam vario ritu religiones observarentur.“ 148 GILLERT Nr. 335 (Mutian an Urban, 1513): „Legitur in Alcorano: Quicumque Deum unum adorans honeste vixerit, sive Iudeus sive Christianus sive Saracenus sit, misericordiam et salutem a Deo consecuturum. Ergo honeste vivendo, non habitum novum induendo Deus placatur. … Is religiosus, qui probus, is pius, qui innocens. Cetera fucum habent.“ Mutian bezog sich möglicherweise u.a. auf die Sure 2, 62, wo es heißt: „Diejenigen, die glauben, und diejenigen, die Juden sind, und die Christen und die Säbier, all die, die an Gott und den Jüngsten Tag glauben und Gutes tun, erhalten ihren

PRIMAT DER ETHIK

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Ein wahrer Gläubiger ist also jemand, der nicht neidisch auf fremdes Gut ist, der den Reichtum anderer nicht bewundert, die Frau eines anderen züchtig ansieht, überhaupt nichts begehrt, niemanden schmäht, bescheiden ist, barmherzig, wohltätig, friedlich, menschlich. Jener Mensch ist gerecht, vollkommen und gehorcht göttlichen Gesetzen, er ist in Wahrheit ein Gottgläubiger (vere dei cultor). Wenn seelische Milde, ein unschuldiges Leben und gute Werke die Hauptmerkmale eines guten Menschen sind, werden Riten zu unnötigen Äußerlichkeiten: Denn Gott wünscht kein Weizenbrot, keinen Opferkuchen, keinen Nachtisch, keine Opfertiere, keine Kerzen, keinen Käse, keine Eier, kein Geld oder viele Worte, die besonders eitel sind. Auf dem Altar Gottes soll man aber das legen, was im Herzen der Menschen ist: Gerechtigkeit, Treue, Geduld, Unschuld, Keuschheit, Bedürfnislosigkeit und die übrigen Tugenden. Es gibt keine wahrere Religion, kein heiligeres Gesetz, als das, was einen lehrt, gerecht und gesetzestreu zu leben. Das ist der wahre Ritus, das ist der herrliche, göttliche und immergültige Glaubenssatz Christi; es verlangt das Richtige und Ehrenhafte zu tun, es verbietet das Schlechte und Böse. Die Quellen dieses äußerst heiligen und wahren Gesetzes findet man im Evangelium, das sich wiederum aus der hebräischen Philosophie und den Epikureern und Stoikern speist. Nichts anderes fordert aber diese einzigartige Würde, Größe vom Menschen als allein Unbescholtenheit; wenn man diese hat, hast Du fromm geopfert. … Die wahre Religion besteht aus Tugend und Gerechtigkeit.149

Überspitzt gesagt, Gott und das Gute sind identisch: Nam gud und god idem sunt et o pro u subinde ponitur: Ist es nicht genug für den Menschen gut zu leben und auf diese Weise zu beten, wenn Du auch kein Opfer schlachtest.150 Bündiger kann man es nicht sagen. Erst jetzt erschließt sich der tiefere Sinn der Kritik Mutians an den ÄußerlichLohn bei ihrem Herrn, sie haben nichts zu berfürchten, und die werden nicht traurig sein.“ Der Koran, übersetzt von Theordor KHOURY, Gütersloh 1992, S. 7. 149 KRAUSE Nr. 391: Beilage: Tractatio resipiscentiae i.e. μετανοίας: „Deus enim non desiderat panem triticeum, non popanum, bellaria, victimas, non candelas, caseos, ova, pecuniam, multa verba, quae sunt utique vanissima. Imponatur in aram dei, quae in corde hominis collocata est, iustitia, fides, patientia, innocentia, castitas, abstinentia et ceterae virtutes. Nulla verior religio, nulla lex sanctior, quam quae docet juste et legitime vivere; hic est verissimus ritus, hoc est, Christi dogma praeclarum et divinum sempiternumque, recta et honesta jubens, prava vetans et turpia, cujus sanctissimae ac certissimae legis capita habentur in Evangelio, quod est formatum ex schola hebraica et de sectis Epicuri et Stoicorum. Nihil autem illa singularis majestas aliud ab homine desiderat, quam solam innocentiam, quam si obtuleris, satis pie religioseque litasti … Nulla igitur alia religio est vera, nisi quae virtute ac justitia constat.“ Der Brief bei GILLERT (Nr. 162, Mutian an Urban, Juli–August 1514) druckt den Traktat nicht ab. KRAUSE spekuliert: „Vielleicht ist der Abschnitt nur durch ein Versehen des Abschreibers an diese Stelle geraten und bildete ursprünglich ein besonders Blatt (KRAUSE, S. 459, Anm. 2). 150 GILLERT Nr. 259 (Mutian an Urban, 28. Mai 1513): „Nonne satis est viventi bene vivere et sic demum orasse, etiamsi hostiam non mactes.“

X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

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keiten der Kirche; denn wenn keine Religion ein Monopol auf die Wahrheit hat, so spielen auch die speziellen Riten und Gebräuche eine untergeordnete Rolle. Für Mutian ist das Ethische nicht nur eine wichtige Komponente des Christentums, sondern macht dessen Wesen aus. Der christliche Glaube an ein Leben nach dem Tode spielt in Mutians Philosophie keine Rolle.

9.

„Hüte dich, das laut auszusprechen!“ – die doppelte Wahrheit

DIE DOPPELTE WAHRHEIT

Ein solche Auffassung, die das Wesen der christlichen Religion in der Ethik sah, die den Menschen frei in seiner Entscheidung und nicht als sündiges, der Erlösung bedürftiges Individuum interpretierte, diese radikal innerweltliche Auffassung, die die kirchlichen Riten als unwichtige Nebensächlichkeiten abtat, ein Religionsverständnis zudem, das das Christentum auf eine Stufe mit dem Islam und dem Judentum stellte, das Gott als unpersönliche, in der Natur wirkende Kraft sah, eine Auslegung, die sich dem Pantheismus näherte – das waren für die Zeit unerhörte Gedanken. Auf keinen Fall durften sie laut geäußert werden. Von daher lassen sich Mutians wiederholte Bitten an seine Korrespondenten verstehen, die Briefe nach der Lektüre zu vernichten und die mitgeteilten Ansichten geheim zu halten. An den spottlustigen Herebord von der Marthen schrieb er: Was Du durch Spott lächerlich machst, glaube ich, dass es durch Schweigen verheimlicht werden muss.151 Diese Bitten um Geheimhaltung bezogen sich auch auf seine Bibelinterpretation. Mutian sagte häufig, man müsse die göttliche Wahrheit in Fabeln und Rätsel einkleiden. Über eine Literal-Lesart könne man nur den Kopf schütteln oder spotten. Als Beispiel diente ihm die alttestamentarische Geschichte von Jona, der auf einer Schiffreise während eines Sturmes von seinen Mitreisenden in die tosende See gestürzt wurde, weil sie in ihm den Verursacher des göttlichen Zorns vermuteten. Er wurde von einem großen Fisch verschlungen und nach einem dreitägigen Aufenthalt in dessen Magen von diesem wieder unversehrt und geläutert ausgespuckt. Die Geschichte fasste Mutian auf seine ironische Weise zusammen: Jona versteckte sich in dem Fisch wie ein Dummkopf. Er saß in einem Bade des Meeresungeheuers und hatte auf dem Kopf ein Strohkäppchen, wie

151 GILLERT Nr. 135 (Mutian an Herebord von der Marthen, 16. Juni 1509): „Itaque que tu risu exploderes utpote ridicula. Ego silentio dissimulanda duco.“ Ebenso in GILLERT Nr. 15 (Mutian an Urban, nach dem 21. August 1505): „Sed haec cave enuncies … sunt enim occultanda silentio tanquam Eleusinarum dearum mysteria. Utendum est fabulis atque enigmatum integumentis in re sacra.“ GILLERT Nr. 3 (Mutian an Urban, 29. Juni 1505): „ Scimus enim mysteria non esse vulganda, sed esse supprimenda silentio vel per quaedam fabularum atque enigmatum involucra tradenda, ne suibus demus maragritas.“

DIE DOPPELTE WAHRHEIT

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es Badende tragen.152 Sein Urteil: Das ist doch lächerlich, aber ich habe noch mehr Lächerliches auf Lager; diese Sachen nennt man auf Latein Sakramente, auf Griechisch Mysterien. Darüber will ich aber nicht reden.153 Im Übrigen hätten ja auch die Evangelisten sich an Metaphern und dichterischen Verkleidungen erfreut.154 Mutian, der „ironische Entmythologisierer“?155 Die Notwendigkeit, Einsichten geheim zu halten, entsprang aber nicht nur einer berechtigten Furcht vor kirchlichen Repressalien – obwohl diese bestimmt auch eine Rolle gespielt haben dürfte –, sondern der Überzeugung, dass es eine doppelte Wahrheit gibt, eine für den Mann auf der Straße und eine andere für die Gelehrten;156 denn Mutians Kritik an den kirchlichen Gebräuchen und Riten, sein Missmut über die mangelnde Bildung des Klerus, die Pfründenjägerei, die Trunksucht und die sexuellen Ausschweifungen seiner Amtsbrüder und schließlich seine unorthodoxen, wenn nicht gar ketzerischen Ansichten über das Wesen der christlichen Religion bewogen ihn nicht, die Kirche als Institution in Frage zu stellen. In der Affäre Reuchlin, den Mutian, wie wir sahen, unterstützte, betonte er in einem Brief an Urban aus dem Jahre 1513 die staats- und kirchenerhaltende Funktion der Religion: Die Autorität der Kirche zu widerlegen, obwohl man ein Mitglied in dieser Institution ist, ist schändlich und gottlos, wenn Du auch deren Irrtümer kritisierst. Wir wissen zwar, dass vieles von sehr weisen Männern erfunden worden ist und wissen auch, dass es förderlich für das Leben ist, dass Menschen durch die Religion getäuscht werden. Ein einfacher Leser versteht es auf seine Art, ein gebildeter anders. Der erstere ist mit einer einfachen Geschichte zufrieden, der zweite aber, eingeweiht in die Mysterien, erforscht den anagogischen, allegorischen und tropologischen Sinn. Keineswegs dürfen wir die Mysterien aussprechen oder die einfachen Menschen in ihrem Glauben schwächen. Ohne diese würden weder das Reich des Kaisers noch die Kirche des Papstes lange bestehen noch würden wir lange unsere Privilegien behalten. Alles würde in das alte Chaos versinken. Nicht Gesetze und Moral, sondern Gewalt und Willkür würden herrschen.157

152 GILLERT Nr. 57 (Mutian an Urban und Spalatin, 1505–1507): „Ionas in pisce deletuit habens supra verticem cucurbitam. Sedebat in balneis, quibus cete nomen erat et cucubita erat pileolum stramenticeum, quo lavantes utuntur.“ 153 GILLERT Nr. 57: „Ridiculum hoc est, sed habeo magis ridicula, que tamen latine dicuntur sacramenta, graece mysteria. De quibus non dicam.“ 154 GILLERT Nr. 574 (Mutian an Johannes Lange, 21. April 1517): „Evangelistae metaphoris et poetarum floribus gaudeant.“ 155 So nannte ihn Fidel RÄDLE in seinem Aufsatz „Mutians Briefwechsel und der Erfurter Humanismus, S. 128. Der Begriff selbst stammt von dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann. 156 Vgl. dazu auch RÄDLE, Lebensentwurf gegen die Realität, S. 6. 157 GILLERT Nr. 251 (Mutian an Urban, Ende März 1513): „Autoritatem ecclesiae refellere, cum sis corporis membrum, et contumeliosum est et plenum impietatis, etiamsi errores deprehenderis. Scimus multa est ficta a viris sapientissimis et non ignoramus expedire

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X. „GEFÄHRLICHE KONTERBANDE“

Obwohl er in diesem Brief seine Gedanken radikalisiert, indem er der Kirche eine bewusste Täuschungsabsicht unterstellte (ut homines religione fallantur), hält er sie für die legitime Wächterin über das Naturgesetz. Da die vorhergehende Darstellung den Gothaer Humanistenkreis vorübergehend aus dem Blickfeld hat entschwinden lassen, ist es nützlich, daran zu erinnern, dass wir über Mutians religiöse Reflexionen ausschließlich durch die Briefe an seine engsten Freunde unterrichtet sind. Nur ihnen gegenüber konnte er es wagen, seine religionskritischen und teilweise häretischen Äußerungen, die zeitweilig von verblüffender Modernität waren, seinen Briefen als „gefährliche Konterbande“ anzuvertrauen. Wenn Luther, dem Mutians Gedanken trotz aller Geheimhaltungsbemühungen zu Ohren gekommen sein müssen, ihn also einen Atheisten nannte, so hatte der Reformator aus seiner Sicht Recht, denn an einen persönlichen Gott, dessen Zorn man fürchten und auf dessen Gnade man hoffen musste, glaubte Mutian nicht.

vitae, ut homines religione fallantur. Aliter simplex lector, aliter eruditus intelligit. Ille contentus est rudi historia, hic autem mysteriis imbutus rimatur anagogen, allegoriam et tropologias. Nullo tamen modo debemus enuntiare mysteria aut infirmare opinionem multitudinis, sine qua neque Caesar imperium neque pontifex ecclesiam neque diu nostra retineremus. Omnia revolverentur in chaos antiquum. Non leges et boni mores, sed vis et libido dominaretur.“

XI. MUTIAN IM SPANNUNGSFELD VON HUMANISMUS UND REFORMATION

Ich liebe die Philosophen, ich liebe die Dichter, ich liebe die Juristen und die wortgewandten Theologen, aber ich liebe sie als Menschen. Erasmus aber erhebt sich über die geistigen Fähigkeiten eines Menschen, er ist göttlich und muss auf religiöse Art verehrt werden, ehrfürchtig wie eine Gottheit.1

Mit diesen schwärmerischen Worten bekannte sich der sonst so kühl urteilende Mutian 1515 zu Erasmus von Rotterdam. Fünf Jahre später bezeichnte er Martin Luther, der inzwischen in ganz Deutschland durch seine 95 Thesen zum Ablasshandel und durch sein Auftreten bei Disputationen in Heidelberg (1518) und Leipzig (1519) für Aufsehen gesorgt hatte, als ein Licht der Augustiner.2 Abgestoßen von der Radikalität der reformatorischen Bewegung, verurteilte er aber bereits ein Jahr später des Reformators Anhänger als wütende Lutheraner und 1524 als fanatische Steinwerfer.3 Die drei Aussagen, bedingungslose Verehrung des Erasmus, verhaltenes Lob Luthers und scharfe Ablehnung von dessen Parteigängern, verdeutlichen eine Entwicklung, die weit über die Biographie eines Einzelnen von Interesse ist, da sie auf das komplizierte Verhältnis von Humanismus und Reformation hinweist. Vor über 50 Jahren (1959) brachte der Kirchenhistoriker Bernd Moeller das Problem auf die bündige Formel „Ohne Humanismus keine Reformation“.4 Das mag im Prinzip richtig sein, bedarf aber der Differenzierung. Vor allem lassen sich nicht alle Humanisten über einen Kamm scheren. Einige Vertreter der neuen Bildungsbewegung schlossen sich begeistert der kirchlichen Reformbewegung an, andere zögerten und blieben der katholischen Kirche treu. Die Entscheidung war stets eine individuelle, die von einer Reihe von Faktoren, u.a. vom Alter, der sozialen Stellung, der Nähe oder Ferne zu Luther, von Freundschaften und nicht zuletzt von den bisherigen philosophischen und theologischen Prägungen abhing.

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GILLERT Nr. 520 (Mutian an Urban, vor dem 16. Juli 1515): „Amo philosophos, amo poetas, amo iurisconsultos et theologos eloquentissimos, sed sic amo ut homines. Erasmus surgit surpra hominis vires, divinus est et venerandus religiose, pie tamquam numen.“ GILLERT Nr. 594 (Mutian an Lange, 1. Juli 1520, S. 268): „lumen Augustiniae fractionis“. GILLERT Nr. 606 (Mutian an Lange, nach dem 13. Juni 1521): „saevientes Luterani“. GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, gegen Ende Februar 1524): „Ego phanaticos lapidatores non amo.“ MOELLER, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, S. 59.

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XI. MUTIAN IM SPANNUNGSFELD VON HUMANISMUS UND REFORMATION

Mutians Reaktion auf Luther lässt sich aber nur vor dem Hintergrund seiner selbst die Wirren der Reformation überdauernden Bewunderung und Verehrung für Erasmus verstehen.

1.

Mutian und Erasmus von Rotterdam

MUTIAN UND ERASMUS VON ROTTERDAM

Erasmus war eine der strahlendsten Gestalten des europäischen RenaissanceHumanismus. Umworben von Königen, Fürsten und Universitäten, bestimmte er besonders in den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts weitgehend die öffentliche Meinung der humanistischen Elite seiner Zeit. Etwas älter als Mutian – er wurde 1466 oder 1469 geboren –, besuchte er wie Mutian die Schule in Deventer,5 trat 1487 in das Augustinerkloster Steyn in den Niederlanden ein, wurde 1492 zum Priester geweiht, studierte von 1495 bis 1499 in Paris, hielt sich 1499/1500 in England auf, wo er Verbindungen zu dem englischen Gelehrten und Staatsmann Thomas More (1478–1535) und anderen dortigen Wissenschaftlern knüpfte. 1503 brachte er sein Enchiridion militis christiani (Handbuch eines christlichen Streiters) heraus, was allerdings erst in der Neuausgabe von 1518 eine durchschlagende Wirkung hatte. In den folgenden Jahrzehnten hielt er sich in Italien, England, Löwen, Basel und Freiburg auf. Europaweit bekannt wurde er durch seine Sprichwortsammlung der Adagia. Zuerst erschienen im Jahre 1500, wurde sie ständig von Erasmus erweitert. Seine ironische Spottschrift Lob der Torheit (Encomium moriae oder laus stultitiae), zuerst erschienen 1511 in Paris, wurde ein Bestseller in ganz Europa. Als Philologe verkörperte er wie kein anderer das humanistische, textkritische Prinzip „ad fontes“, das er nicht nur auf die heidnischen Klassiker, sondern auf die Kirchenväter Cyprian, Hilarius von Poitiers, Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Laktanz und Basilius anwandte. Weitreichende Wirkung hatte seine Ausgabe des Neuen Testaments (Novum Instrumentum, zuerst 1516). Sie enthielt den griechischen Text und seine eigene lateinische Übersetzung und wurde Grundlage für Luthers Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Jahre 1522.6

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GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen 1. und 18. März 1513), S. 323. Darin spricht Mutian von Erasmus als „condiscipulus meus“. Es ist kein Zufall, dass das europäische Studienprogramm, das Studierenden die Möglichkeit gibt, in anderen europäischen Ländern zu studieren, den Namen des berühmten Holländers trägt. Dem etwas umständlichen Begriff „European Region Action Scheme for the Mobility of University Students“ ist leicht anzusehen, dass es unbedingt das Akronym ERASMUS bilden sollte. Die Literatur zu Erasmus ist unübersehbar. Genannt seien hier nur AUGUSTIJN, BANTA, HUIZINGA, MCCONICA, SOWARDS, PHILIPPS und RUMMEL.

MUTIAN UND ERASMUS VON ROTTERDAM

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Mutian nahm nicht nur lebhaften Anteil an der literarischen Produktion des Erasmus – über dessen Adagia-Ausgabe7 äußerte er sich ebenso begeistert wie über das sehr schöne Lob der Torheit,8 dessen Progymnasmata9 und Parabolae10 –, sondern auch an dessen äußeren Lebensumständen. Als ihn im Dezember 1513 das Gerücht vom angeblichen Tod des Erasmus erreichte, pries er in einem knappen brieflichen Nachruf den berühmtesten Doktor und Interpreten der Sprichwörter, der durch seine ausgezeichnete Bildung und einzigartige Rednergabe ausgezeichnet sei.11 Die Nachricht erwies sich als falsch. Erleichtert meldete er ein halbes Jahr später: Erasmus lebt und schreibt viel.12 In den Augen Mutians musste Erasmus den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Gelehrten nicht scheuen. Den französischen Humanisten Faber Stapulensis pries er zwar als Herausgeber, hielt ihn aber, was die humanistischen Studien betreffe, dem Erasmus gegenüber für unterlegen.13 Als jemand ihn selbst, Mutian, mit Reuchlin und Erasmus zu einem geistigen Dreigestirn zusammenstellen wollte, wies er dies entrüstet zurück: Ich bin der geringste unter den Aposteln. Wer die Idee dieses Triumvirat in die Welt gesetzt hat, verspottet mich oder, was wahrscheinlicher ist, urteilt falsch über diese eminenten zwei Männer, die so herausragen, wie Zypressen über die langsam wachsenden kleinen Mehlbeerbäume.14

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GILLERT Nr. 115 (Mutian an Herebord von der Marthen, gegen Ende November 1508): „Principium publicae lectionis semper et cottidie habeat proverbium aliquid vel brevem narratiunculum velut illicium. Qua re percurras proverbia Erasmi.“ GILLERT Nr. 245 (Mutian an Petreius, zwischen dem 1. und 18. März 1513): „Caecus amor sui, qui φιλαυτία, multos vexat et Erasmo, condiscipulo meo, peperit pulcherrimum encomium.“ GILLERT Nr. 326 (Mutian an Urban, 2. November 1513): „Progymnasmata nunc tamen quasi nova et illecta suscipere atque amirari non desinam.“ GILLERT Nr. 492 (Mutian an Urban, 16. Mai 1515): „Recipe, quaeso, plura exemplaria Parabolarum.“ Die Parabolae sive similia waren gewissermaßen ein Nebenprodukt seiner Arbeit an den Adagia. Bei den Parabolae handelte es sich nicht um Sprichwörter im eigentlichen Sinne, sondern um Aphorismen berühmter antiker Autoren. GILLERT Nr. 331 (Mutian an Urban, 6. Dezember 1513): „Vel clarissimus doctor et interpres proverbiorum Erasmus elegantiori doctrina et singulari facundia decoratus fuit.“ GILLERT Nr. 378 (Mutian an Urban, 7. Juni 1514): „… Erasmum vivere et plurima componere.“ GILLERT Nr. 377 (Mutian an Urban, kurz nach dem 7. Juni 1514): „… longe in hac laude Erasmo inferior.“ GILLERT Nr. 447 (Mutian an Urban, vor dem 10. Oktober 1514): „Ego minimus apostolorum. Qui triumviratum illum creant vel me derident vel, quod vero similius est, male iudicant de summis illis viris, qui ita excellunt quantum lenta solent inter viburna cupressi.“

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XI. MUTIAN IM SPANNUNGSFELD VON HUMANISMUS UND REFORMATION

Mutian würdigte Erasmus jedoch nicht nur als einen brillanten Stilisten, als christlichen Cicero, dessen tägliche Lektüre ihm ästhetisches Vergnügen bereite15 und pries den Glanz seiner Bildung, die Brillanz und die Kraft seines Stiles, der genug Kraft, Schwung und Freiheit, um nicht zu sagen, Strenge und Witz habe.16 Nach dem Erscheinen seiner Ausgabe des Neuen Testaments und seiner Hieronymus-Edition pries Mutian ihn auch als Wiederhersteller der Theologie, als instaurator theologiae.17 Gerade über dessen Hieronymus-Edition konnte er nicht genug lobende Worte finden. Den Kirchenvater liebe er als gelehrten Zensor, Erasmus aber ebenso als wortgewandten Kritiker.18 Aus diesem Grunde wolle er eine kleine Lobeshymne auf Erasmus anstimmen, die sicherlich länger ausgefallen wäre, wenn ihr nicht der Umfang des Briefes Grenzen gesetzt hätte. Dem Erneuerer der Werke des Hieronymus, dem großen Burgunder Erasmus, berühmt durch die Beherrschung beider Sprachen, der sich verdient gemacht hat um die Schriften der Evangelisten und Apostel, ganz zu schweigen von den profanen humanistischen Studien, der alle Theologen mit seinem einzigartigen Fleiß und seiner römischen Eloquenz übertrifft, den die Studenten und Gelehrten um die Wette ehren, dem die Gebildeten und hervorragenden Rechtsgläubigen seine Aufwartung machen, jedes Zeitalter, jedes Geschlecht, jeder Orden Dank sagen, endlich der ganze christliche Erdkreis auf alle mögliche Weise gewogen sein und sich für ihn erklären muss.19

15 GILLERT Nr. 586 (Mutian an Beatus Rhenanus, 11. August 1519): „Nullus dies praeterfluit sine iucundissima lectione. … Nihil potest esse dulcius Christino Cicerone.“ 16 GILLERT Nr. 569 (Mutian an Johannes Lange, Dezember 1516): „Habitus orationis Erasmianae nitidus est et compositus, satis nervorum habet, satis item libertatis, ne dicam austeritatis et aceti.“ 17 GILLERT Nr. 563 (Mutian an Lange, 13. Juni 1516): „Vide annotationes Erasmi, instauratoris theologiae.“ GILLERT Nr. 566 (Mutian an Lange, September/Oktober 1516): „Que magis sunt propria nostris optatis, scito Erasmum Basileae Hieronymi opera praeclaris annotationibus illustrasse, auxisse Proverbia, dilatasse Moriam.“ 18 GILLERT Nr. 569: „Amo Hieronymum ut doctissimum censorem, amo Erasmum ut criticum eloquentissimum.“ 19 GILLERT Nr. 569: „Instauratori Hieronymianae bibliothecae magno Erasmo Burgondioni utriusque linguae gloria illustri de evangelicis et apostolicis literis, nedum de prophanis et vere bonis studiis optime merito, qui theologos omnes ut industria singulari ita Romana superavit eloquentia, studiosi et dociles certatim honorem habere, eruditi et excellentes orthodoxi officium suum praestare, omnis aetas, sexus, ordo, gratias agere, denique Christianus orbis favere modis omnibus atque suffragari debet.“

ERFURTER ERASMUS-BEGEISTERUNG

2.

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Erfurter Erasmus-Begeisterung

ERFURTER ERASMUS-BEGEISTERUNG

In seiner Verehrung des Erasmus war Mutian in Deutschland nicht allein. Nicht nur glich seine Reise von Mainz über Straßburg und Schlettstadt nach Basel im Jahre 1514 einem Triumphzug, sondern auch in Erfurt bewunderte man den „Fürsten der Humanisten“.20 In Briefen an seine Schüler und Freunde sorgte Mutian für die Verbreitung der erasmischen Schriften, und als schließlich im Jahre 1516 dessen Neues Testament bei Johann Froben in Basel erschien, bat er Urban, zwei vielversprechenden Nachwuchswissenschaftlern Geld zum Erwerb des Werkes zukommen zu lassen. Das gebiete schon die Freundesliebe.21 Erhellende Anekdoten über Erasmus wurden ausgetauscht. So schrieb Crotus Rubeanus an Mutian im Jahre 1515, ein Bekannter habe ihm über den Mainzer Besuch des Erasmus geschrieben und nicht nur dessen erstaunliche Freundlichkeit, sondern auch die Fähigkeit, aus dem Steigreif zu reden (mira humanitas et eloquentia extemporalis) gelobt. Dieses Urteil sei durch andere Teilnehmer bestätigt worden. Er habe viele von Erasmus schwärmen hören. Sie stammelten [vor Ehrfurcht], wenn sie über seinen kultivierten Charakter, seine Menschlichkeit, Leutseligkeit, Geselligkeit und nestorische Redegabe sprächen. Ein anderer Gast, Ulrich von Hutten, habe berichtet, dass bei einem Erasmus-Besuch im vorangehenden Jahre Reuchlin und Buschius verstummt seien, wenn der große Gelehrte auch nur sprach.22 Briefe wurden mit seinen Zitaten gewürzt, Magister und Bakkalaureaten hielten Vorlesungen über Erasmus’ Werke, wie Hessus über dessen Enchiridion.23 Erasmus wurde in Erfurt zu einer Kultfigur. Die Erasmus-Begeisterung der Erfurter Humanisten erreichte einen Höhepunkt, als Eobanus Hessus, der im zweiten Jahrzehnt ja den Mittelpunkt des Erfurter Humanistenkreises bildete, in Begleitung des Adeligen Johann von Werther im Herbst 1518 nach Löwen, dem damaligen Aufenthaltsort des Erasmus, pilgerte.24 Sie machten zunächst am 28. September in dem „musischen Heiligtum“ des Mutian in Gotha Halt, wanderten dann nach Frankfurt am Main, wo sie am 6. Oktober ankamen, bestiegen in Mainz ein Schiff und fuhren bis Bonn, wo sie das Schiff verließen und über Jülich, Aachen und Maastricht 20 Zur Erasmus-Verehrung in Erfurt: SCRIBNER, The Erasmians and the Beginning of the Reformation in Erfurt. 21 GILLERT Nr. 572 (Mutian an Urban, 1516): „Suebo et totidem Menio pro paranda Erasmi bibliothecula. Dictat hoc pietas.“ 22 GILLERT Nr. 507 (Crotus Rubeanus an Mutian, 11. Juni 1515, S. 171): „Multos de Erasmo praedicantes audivi, haesitant in interpretando mores illius civiles, humanitatem, affabilitatem, comitatem et facundiam Nestoream. Reuchlinus et Buschius obmutuerunt illo loquente anno praecedente Moguntiae teste Hutheno meo.“ 23 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 231. 24 Genaueres darüber bei KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 289–298.

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XI. MUTIAN IM SPANNUNGSFELD VON HUMANISMUS UND REFORMATION

am 17. Oktober Löwen erreichten. Der Empfang bei Erasmus fiel zwar etwas frostig aus, wozu Arbeitsbelastung, angegriffene Gesundheit, Ärger über die dauernde Unterbrechung seiner Studien durch lästige Besucher beigetragen haben mögen. Die Pilger nahmen das aber dem verehrten Meister nicht übel. In ihrem Gepäck hatten sie Huldigungsschreiben des Mutian, Urban, Justus Jonas, Jodocus Textoris von Windsheim, Johannes Drach (Draco) und Johannes Lange. Jeder dieser erwartete natürlich einen Antwortbrief aus der Feder des großen Gelehrten. Mutians Epistel beantwortete dieser kurz, aber höflich.25 Eobanus sei leider zur Unzeit gekommen, schrieb Erasmus an Mutian, seinen etwas kühlen Empfang entschuldigend. Er [Eoban Hessus] traf mich krank und äußerst beschäftigt an … Erfreut hat mich auch die Offenheit Deines Briefes, die gleichzeitig Deinen lauteren Charakter zeigt. … Eine Liste meiner wissenschaftlichen Kleinigkeiten füge ich bei, obwohl ich mich selbst kaum an mein eigenes Geschwätz erinnere.26

Der Pilgerfahrt des Hessus sollten noch zwei weitere von Erfurter Humanisten folgen. Am Ende des Wintersemesters 1518/19, im April 1519, brach Justus Jonas mit dem Magister Caspar Schalbe zu einer erneuten Huldigungsfahrt nach Löwen auf,27 und 1520 machte sich auch Johannes Draco auf. Und als wieder einmal das Gerücht vom Tode des Erasmus umging – Erasmus scherzte einmal, dass die Menschen ihn mindestens zwei Mal im Jahr sterben ließen28 –, schrieb Eoban: Warum trauern wir über den Verlust des Vaterlandes, über den Tod der Eltern? Letztere haben uns nur nach dem Körper, Erasmus aber hat uns nach dem Geiste erzeugt. Keiner ist wie er der Lehrer unserer Kindheit gewesen.29 Klarer konnte man die Prägung durch Erasmus kaum ausdrücken. Bei dieser Reise des Justus Jonas handelte es sich nicht nur um eine private Angelegenheit, sondern um einen Versuch des sächsischen Kurfürsten Friedrich, die beiden so unterschiedlichen Reformer, Erasmus und Luther, näher zubringen; denn bei sich hatte Jonas auch Briefe Friedrichs des Weisen. Der erste Brief des Kurfürsten ist offenbar verloren gegangen, dafür hat sich ein weiterer

25 GILLERT Nr. 579 (Erasmus an Mutian, 17. Oktober 1518; ALLEN, III, Nr. 870, S. 405 f. 26 GILLERT Nr. 579: „Illud incommode, offendit me Eobanus et aegrotum et occupatissimum. … Delectavit me tuae quoque epistolae candor animi tui candorem referens. … Nugarum mearum indicem subtexui, etiamsi ipse vix memini ineptiarum mearum.“ Eobanus Hessus beschrieb diese Reise in seinem Hodoeporicon, in dem auch dieser Brief nebst anderen als Anhang abgedruckt wurde (vgl. Kap. VII.3 über Hessus). 27 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 238. 28 ALLEN, IV, Nr. 1008 (Erasmus an Christopher Hack, 13. August 1519): „Sed quid imprecemur rabulis istis qui me quotannis fere bis efferunt, idque, quo crudelius sit, vivum coguntque toties me mihi superstitem esse.“ 29 Zitiert bei KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 299.

ERASMUS’ KONTROVERSE MIT DEM ENGLÄNDER EDWARD LEE

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Brief an Erasmus vom 14. Mai 1519 erhalten.30 Darin versicherte ihm Friedrich, dass es ihn freue, dass gerade Gelehrte die lutherische Angelegenheit nicht verurteilten und dass die lutherischen Schriften eifrig gelesen würden.31 Begeistert berichtete Jonas einem Freund nach der Rückkehr von dieser Reise: Ich war bei meinem Vater in Christ, Erasmus von Rotterdam, wie oft Du willst, dass es Dir gesagt wird: Ich war, ich war bei Erasmus! 32

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Erasmus’ Kontroverse mit dem Engländer Edward Lee

ERASMUS’ KONTROVERSE MIT DEM ENGLÄNDER EDWARD LEE

Nichts schweißt eine Gruppe enger zusammen als ein griffiges Feindbild. Das hatte die Reuchlin-Affäre in aller Deutlichkeit gezeigt. Diesmal war es ein bisher unbekannter Engländer, Edward Lee, der mit seinen Anfeindungen gegenüber Erasmus eine Solidarisierungswelle für den holländischen Gelehrten auslöste. Der Streit entzündete sich an Erasmus’ bisher bedeutendstem Werk, seiner Ausgabe des Neuen Testaments. Edward Lee war zu dieser Zeit Dozent an der Universität Löwen.33 Als er erfuhr, dass Erasmus eine Neubearbeitung seines Novum Instrumentum plane, brachte er eine Anzahl kritischer Einwände vor, die jedoch Erasmus nicht benutzte, mit der Begründung, er habe diese nicht rechtzeitig vor der Drucklegung in die Hand bekommen.34 Der junge Lee ließ sich mit dieser Erklärung nicht abspeisen, sondern entwickelte seine Einwände in einer ausführlichen Schrift, in der er dem großen Gelehrten über 300 Fehler nachzuweisen versuchte.35 Die Kontroverse weitete sich aus und entwickelte eine Eigendynamik. Von jetzt an wurden nicht nur Argumente, sondern auch Beleidigungen und Verdächtigungen ausgetauscht, in dem sich Erasmus keineswegs immer als humanissimus zeigte, wie der große niederländische Erasmusforscher Huizinga bedauerte: „Er [Erasmus] verrät in diesem ganzen Streit einen Mangel an Selbstbeherrschung und Würde, der seine schwächste Stelle zeigt. Er, der gewöhnlich so ängstlich auf das Decorum achtet, verfällt nun auf Schimpfworte wie: die britische Viper, 30 ALLEN, III, Nr. 963. 31 ALLEN, III, Nr. 963: „Non damnari ab eruditis causam Lutheranam et Doctoris Martini lucubrationes ab optimis quibusque istic cupidissime legi laetamur; eoque magis quod plerique bonorum et eruditorum in nostris quoque regionibus et principatibus nedum externis hominis tam vitam et mores quam eruditionem miro consensu laudant.“ 32 KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 25 (Jonas an Melchior von Aachen, 24. Juni 1519): „Fui cum meo in Christo patre Erasmo Roterodamo, quoties dictum tibi vis, fui, fui cum Erasmo!“ 33 Zu Edward Lee: BOYLE, Lee, Edward, in: CoE, II, S. 311–314. 34 ALLEN, III, Nr. 765 (Erasmus an Edward Lee, Januar 1518). 35 LEE, Annotationes in novum testamentum Erasmi Roterodami libri, II (1519).

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der Satan, selbst der alte Schimpf, der den Engländern einen Schwanz andichtete, muss ihm mehr als einmal seine Dienste tun. Die Streitfragen, um die es ging, verschwinden ganz hinter den bitteren gegenseitigen Vorwürfen. In seiner maßlosen Erbostheit greift Erasmus zu den bedenklichsten Waffen.“36 Außerdem forderte Erasmus einerseits seine deutschen Freunde auf, gegen Lee zu schreiben, und versicherte dann andererseits seinen englischen Anhängern allen Ernstes, dass ganz Deutschland vor Wut gegen Lee rase und dass er die größte Mühe habe, die deutschen Kollegen in ihrem Zorn zu zähmen. Tatsächlich entfachten auf seine Bitte hin besonders die Erfurter Humanisten eine stürmische Kampagne, die an die Zeiten der Reuchlin-Affäre und Dunkelmännerbriefe erinnerte. Unter Führung Peter Eberbachs sammelten und veröffentlichten Eobanus Hessus, Euricius Cordus und Adam Krafft im Jahre 1520 ihre Epigramme.37 Auch Mutian stimmte in einem Brief vom 24. Mai 1520, dem man den gleichen Vorwurf der „maßlosen Erbostheit“ machen muss, in diesen Chor ein. Das an Johannes Lange gerichtete Schreiben ist ein polemischer Brief, dessen Heftigkeit Mutian am Ende damit begründete, dass er in diesem Falle nicht anders gekonnt hätte, als Erasmus beizustehen.38 Wer Erasmus verletzt, verletzt auch mich.39 Das Schreiben setzt mit einer gegen Lee gerichteten Schimpfkanonade ein. Als hätte er ein Synonymlexikon neben sich, überhäufte er den Engländer mit negativen Adjektiven: gehässig, gottlos, kindisch, dumm, einfältig, eine wahre Missgeburt sei er.40 In den Augen Mutians war es Lees Verbrechen, den großen Erasmus zu kritisieren und ihn von dem Podest zu stoßen, auf das er gehöre. Motiviert durch kleinliche Rachsucht (amor vindictae), Ruhm- und Prahlsucht (cupiditas gloriae, studium iactantiae) habe Lee gehandelt. Es stimme, so Mutian, dass die Italiener sich um die Wiederentdeckung der weltlichen antiken Literatur verdient gemacht hätten; Erasmus aber habe um die Wiederherstellung der patristischen Literatur große Verdienste erworben. Einigen Leuten gefalle dies eben nicht. Deshalb glaubte Mutian, dass die wahren Hintermänner des Lee’schen Angriffs auf Erasmus die konservativen Theologen aus Löwen seien, und dass sie nicht nur Erasmus, sondern auch Luther und Reuchlin treffen wollten.41 36 HUIZINGA, Erasmus and the Age of Reformation, S. 154. Vgl. hierzu außerdem ALLEN, IV, Nr. 1088, 1089, 1139. 37 In Eduardum Leum QVORUNDAM E SODALITATE LITERARIA ERPHURDIEN, ERASMICI NOMINIS STUDIOSORUM EPIGRAMMATA AD LECTOREM, Erfurt: Johannes Knapp, 1520 (VD 16, E 79). 38 GILLERT Nr. 590 (Mutian an Johannes Lange, 24. Mai), S. 262: „Hec … paulo ardentius, sed venia dignus, quod Erasmi nostri laudibus nullo pacto deesse possum.“ 39 GILLERT Nr. 590, S. 262: „Qui Erasmum laedit, me laedit.“ 40 GILLERT Nr. 590, S. 259: „Iniquus, impius, infans, stupidus, excordis, merum portentum.“ 41 GILLERT Nr. 590, S. 262: „Subornatus est procul dubio garrulus et stultus iste ab Lovaniensibus Martino infestis, Capnioni, summo viro, crudeliter inimicis.“

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Gleichzeitig interpretierte Mutian aber Lees Polemik als einen Angriff auf die bonae literae und beschwor das Gemeinschaftsgefühl des humanistischen Ordens. Es gäbe ja niemanden, der nicht Lees Heftigkeit und Unverschämtheit beklage und dessen Ignoranz verspotte. Zwei Verteidigungsschriften habe Erasmus schon geschrieben. Warte erst, so redete Mutian Lee in dem Brief an Lange direkt an, bis die dritte erscheint. Dann wird dich Erasmus wie einen röchelnden Bären erlegen.42 Er selbst, der als Wächter der Ruhe bekannt sei, werde diese Verleumdungen nicht dulden, drohte er ihn: Ich werde dich als Schwanzaffen geißeln, sodass die ganze Christenheit erfährt, dass Du nichts als ein schlüpfriger Dummkopf bist.43 Der Christenheit ist diese Polemik erspart geblieben. Eine öffentliche Stellungnahme gegen den englischen Schwanzaffen und schlüpfrigen Dummkopf hat Mutian nie abgegeben.

4.

Justus Jonas und Crotus als Rektoren der Erfurter Universität

JUSTUS JONAS UND CROTUS ALS REKTOREN

Die fast einmütige öffentliche, im Falle Mutians private, Parteinahme für Erasmus in der Kontroverse mit Edward Lee war nur ein weiteres Symptom für die schwärmerische Begeisterung der Erfurter für den holländischen Gelehrten zu dieser Zeit. Sie äußerte sich aber noch auf andere Weise. Während seiner Pilgerreise nach Löwen war Justus Jonas im Herbst 1519 in absentia zum Rektor der Erfurter Universität gewählt worden. Mit großem Engagement versuchte er nun, dank seiner Position die Erfurter Hochschule im Sinne der humanistischen Studien zu reformieren. Kern der von einem „Achtmänner-Ausschuss“ vorbereiteten, von ihm aber durchgesetzten Studienreform war eine Aufwertung der lateinischen und griechischen Sprachstudien (vgl. Kap. VII.7). Die Artistenfakultät, traditionell die unterste der Fakultäten und damit ein Stiefkind der Verwaltung, sollte von nun an das A und O, den Bug und das Heck (prora et puppis) der Ausbildung bilden, wie es in Jonas’ Rektoratbericht hieß.44 Stolz schrieb er an einen Freund: Unsser vniversitet ist in hundert jaren ader dyweil sy gestanden also nytt

42 GILLERT Nr. 590, S. 261: „Veh tibi, cum te tertia prostratum … misere velut ursum murmurantem conficiet.“ 43 GILLERT Nr. 590, S. 262: „Castigabo te caudatam simiam, ut cognoscat orbis Christianus te nihil aliud esse quam levem bardum.“ 44 WEISSENBORN, Acten der Erfurter Universität, II, S. 308. Vorausgegangen waren Maßnahmen im Jahre 1518, die zeigten, dass sich Änderungen im Sinne des Humanismus abzeichneten. So war 1518 eine besoldete Stelle für Poetik eingerichtet worden.

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reformirt gewest.45 „Mit diesem Ereignis feierte der Humanismus an der Erfurter Schule seinen Triumph.“46 Seinem Bericht fügte Jonas zwei Bilder hinzu. Auf dem einen stellte er sich selbst als den biblischen Jonas dar, der soeben dem Rachen des Walfisches entsprungen war. Auf dem zweiten – und der interessiert uns hier – ließ er Erasmus auftreten. Gekleidet in einem violetten, mit weißem Pelz verbrämten Talar, steht der Gelehrte vor dem 1519 gewählten Kaiser Karl V. Hinter ihm verweist ein Jüngling, in dem der Kleidung nach unschwer Jonas selbst zu erkennen ist, die hinter ihm eintretenden Studenten auf Erasmus. Aus seiner Hand geht ein Schriftband hervor, auf dem steht: Hic est ille Erasmus.47 Deutlicher konnte man den enormen Einfluss des Erasmus zu diesem Zeitpunkt in Erfurt nicht darstellen. Nach einem Zwischenspiel durch zwei weitere humanistisch gesinnte Akademiker,48 beide ebenfalls Bewunderer des Erasmus, wurde im Herbst 1520 ein anderer von Erasmus geprägter Erfurter Humanist zum Rektor für das Wintersemester 1520/21 gewählt: Crotus Rubeanus. Er war erst Mitte Oktober 1520 nach einem dreijährigen Italienaufenthalt nach Erfurt zurückgekehrt. Zum Abschluss seiner Amtszeit – Rektoren wurden traditionell nur für ein Semester gewählt – trug Crotus am 2. Mai 1521 in das Immatrikulationsbuch einen kurzen Bericht und die Namen der im Wintersemester immatrikulierten Studenten ein.49 Diesem Bericht fügte er jene bereits erwähnte (Kap. VII) farbige, künstlerisch gestaltete Tafel bei, auf der sein eigenes Wappen sowie die Familienwappen von sechzehn anderen Humanisten dargestellt sind. Die vier etwas größeren Schilde in den Ecken repräsentieren die vier seiner Meinung nach führenden humanistischen Intellektuellen seiner Zeit. Zwischen diesen befinden sich die etwas kleineren Wappen seiner engeren humanistischen Freunde sowie Bibelsprüche auf Latein, Griechisch und Hebräisch.50 Die Illumination ist mehr als ein kleines Kunstwerk, das dem Repräsentationsbedürfnis des Rektors diente, es 45 KAWERAU, Justus Jonas Briefwechsel, I, Nr. 25 (Brief an Melchior von Aachen). 46 KRAUSE, Eobanus Hessus, S. 302. Etwas vorsichtiger urteilte KLEINEIDAM: Er nennt die Reform „eine sehr vorsichtige Umstellung auf einen neuen Lehrplan, unter starker Berücksichtigung der bisherigen Pflichtvorlesungen, … ein Versuch, die alte Sachphilosophie und die neuen humanistischen Sprachwissenschaften harmonisch zu verbinden.“ (Universitas Studii Erffordensis, S. 241). 47 Beschreibung des Bildes bei WEISSENBORN, Acten der Erfurter Universität, II, S. 307. Es ist dort aber nicht abgebildet. 48 Jacob Ceratinus: Wintersemester 1519/20; Ludwig Platz: Sommersemester 1520. 49 Im Folgenden beziehe ich mich auf meinen Artikel „Der Erfurter Humanistenkreis am Schnittpunkt von Humanismus und Reformation. Das Rektoratsblatt des Crotus Rubianus“, S. 137–165. 50 Literatur dazu bei BERNSTEIN, Der Erfurter Humanistenkreis, S. 140, Anm. 2.

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enthält vielmehr ein sorgfältig konzipiertes Programm, das wesentliche Elemente humanistischer Selbstauffassung und Selbstdarstellung zu vermitteln sucht. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Uns interessieren die vier durch ihre Eckstellung und Größe hervorgehobenen Wappen.51 Dass sich in der rechten unteren Ecke das Wappen des Mutianus befindet, darf nicht überraschen. Obwohl sich der lockere Gothaer ordo literarius im Jahre 1521 längst aufgelöst hatte und sich zu dieser Zeit die Humanisten bereits um Eobanus Hessus in Erfurt geschart hatten, genoss Mutian zur Zeit des Rektorats noch erhebliches Ansehen in Erfurt. Auch Johann Reuchlins heraldische Präsenz (in der linken unteren Ecke) verwundert keineswegs. Überraschen darf auch nicht nach allem, was vorher gesagt worden ist, dass Erasmus von Rotterdam in einer der vier Ehrenecken (rechts oben) mit seinem Wappen dargestellt wird. Wer ist aber die vierte Person, die in einer der vier Ecken als führende intellektuelle Macht dargestellt wird? Es ist kein anderer als Martin Luther, gezeigt hier mit einer weißen Rose im Wappen. In dieser erlauchten Gesellschaft erscheint das Wappen Luthers als einer der Säulen des geistigen Lebens in Deutschland zunächst etwas befremdlich. Mit seinen 38 Jahren war er nicht nur wesentlich jünger als der zu diesem Zeitpunkt 51-jährige Mutian, der 55-jährige Erasmus und der 66-jährige Reuchlin, er hatte sich auch nicht durch größere wissenschaftliche Werke humanistischen Gelehrtenruhm erworben. Was erklärt seine Prominenz? Wie kommt es, dass Erasmus, der vorher noch, wie wir im Rektoratsblatt des Jonas sahen, die unangefochtene Position als führende geistige Kraft bei den Erfurtern inne hatte, der, wie Eobanus Hessus gesagt hatte, sie alle geprägt hatte,52 nun diesen Platz mit einem Theologen aus der Provinzuniversität Wittenberg teilen musste? Martin Luther war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht nur ein Professor an einer jungen Universität. Durch die Veröffentlichungen seiner Thesen zur Ablassfrage, die sich wie im Fluge auch dank der relativ neuen Medientechnologie des Druckes und mit Hilfe des humanistischen Netzwerkes in Deutschland verbreitet hatten, hatte er im 1517 für Unruhe gesorgt; schon im Jahre 1518 war er deshalb durch Kardinal Cajetan auf dem Augsburger Reichstag verhört worden, hatte dann während der Leipziger Disputation (27. Juni bis 15. Juli 1519) seine Position gegenüber dem angesehenen Dr. Johannes Eck verteidigt und 1520 51 Die kleineren Wappen der anderen Humanisten sind: oben, von links nach rechts: Ulrich von Hutten, Eobanus Hessus, Justus Jonas; rechte Seite, von oben nach unten: Philipp Melanchthon, Johannes Lang, Peter Eberbach; unten, von links nach rechts: Johannes Drach, Urbanus, Georg Petz (Forchemius); links, von oben nach unten: Joocus Menius, Joachim Camerarius, Adam Krafft. Über diese siehe BERNSTEIN, Der Erfurter Humanistenkreis. 52 Zitiert bei KRAUSE, Helius Eobanus Hessus, S. 229: „Keiner ist wie er der Lehrer unserer Kindheit gewesen.“

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durch drei, das reformatorische Selbstverständnis konstituierenden Schriften, von denen zwei auf Deutsch und eine auf Lateinisch verfasst waren,53 lebhafte Diskussionen ausgelöst. Schließlich hatte er sich im April 1521, also kurz bevor Crotus dieses Bild anfertigen ließ, auf dem Reichstag zu Worms vor Kaiser, Fürsten und päpstlichen Gesandten standhaft geweigert, seine Thesen zu widerrufen.

5.

Umschwung: von Erasmus zu Luther

UMSCHWUNG: VON ERASMUS ZU LUTHER

Die „Verschiebung der geistigen Schwergewichte“54 von Erasmus zu Luther, der Wechsel vom Erasmus- zum Lutherkult, wird durch die zwei Rektoratstafeln des Jonas und Crotus nur unzureichend symbolisiert, denn zu diesem Zeitpunkt genossen zwar noch Erasmus, Reuchlin und Mutian als geistige Wegbereiter ein hohes Ansehen, in den Mittelpunkt der Verehrung war aber bereits Luther gerückt. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt Erasmus selbst. In einem Brief an Johannes Lange aus dem Jahre 1518 hatte er sich vorsichtig positiv über Luther geäußert, den er nach Humanistenart „Eleutherius“ (Freiheitskämpfer) nannte, eine Bezeichnung, die Luther selbst im vertrauten Kreise zu benutzen pflegte,55 und in ungewöhnlich scharfer Form das Papsttum und dessen eifrigsten deutschen Vertreter Dr. Eck angegriffen. Diese negative Beurteilung übernahmen die Erfurter. Mit verantwortlich für den Umschwung war aber auch Eck selbst, der bei der Leipziger Disputation so unklug gewesen war, sich abschätzig über den allseits verehrten Erasmus zu äußern. Als er in Erfurt auftauchte, um die dortige Theologische Fakultät, die um einen Richterspruch zur Leipziger Disputation gebeten worden war, zu beeinflussen, ergriff Lange die Initiative und ließ im Dezember 1519 die Protokolle des Leipziger Kolloquiums drucken, um seinerseits auf die Öffentlichkeit in seinem Sinne einzuwirken. Im Juni 1520 gelang es Eck, gegen Luther eine Bannandrohungsbulle zu erwirken, und die Universität wurde aufgefordert, diese zu veröffentlichen. Als die Studenten erfuhren, dass die Bulle in Erfurt gedruckt werden sollte, stürmten sie die verantwortliche Druckerei, zerrissen die bereits gedruckten Exemplare und warfen die Papierfetzen mit den Worten Bulla est, natet! (Es ist eine Blase/Bulle, sie möge schwimmen) in 53 Von der Freiheit eines Christenmenschen, An den christlichen Adel deutscher Nation, De babylonica captivitate ecclesiae (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche). 54 So KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 244. 55 ALLEN, III, Nr. 872 (Erasmus an Johann Lang, 17. Oktober 1518): „Eleutherium audio probari ab optimis quibusque. … Demiror quid Eccio in mentem venerit vt adversus Eleutherium pugnam capesserit.“

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die Gera.56 Ein zweites Ansinnen Ecks, die Bulle zu veröffentlichen, lehnten die Erfurter mit der etwas fadenscheinigen Begründung ab, die Publizierung löse möglicherweise Studentenunruhen aus. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass die beißende Satire auf den Luthergegner Johann Eck, der Eccius dedolatus, (der enteckte Eck), in Erfurt erschien, obwohl sie wahrscheinlich der Nürnberger Willibald Pirckheimer verfasste.57 Eck wird darin nicht nur als der Feind Luthers, sondern auch als anti-humanistischer, scholastischer Theologe verunglimpft, die theologischen Auseinandersetzungen zwischen Luther und Eck werden als Fortsetzung des Reuchlin’schen Streites interpretiert. Luther war bei den Humanisten zu einem Helden geworden. Kein Ereignis zeigte dies mehr als der begeisterte Empfang, den man dem Wittenberger Mönch und Professor vom 6. bis 8. April 1521 in Erfurt bereitete, als dieser sich auf dem Weg zum Wormser Reichstag befand. Plastisch schilderte Eobanus Hessus den Auftritt Luthers in vier Elegien.58 Danach ziehen Tausende, voran der Rektor der Universität, Crotus, ihm entgegen. Er ergreift das Wort: Unice perfidiae censor, quae plurimo nostro Perdidit oppressam tempore pene fidem. Hos coram vidisse, tuosque agnoscere vultus, Hoc est laetitiae non habuisse modicum. Et nobis nihil huic venit iucundius unquam Vix aliquis superum gratior esse queat. O du einz’ger Rächer der großen Lüge der Zeiten, Die uns den Glauben geraubt, ja ihn beinahe vertilgt: Dass uns vergönnt, dich zu sehn, vergönnt, dein Antlitz zu schauen, Ach das bedeutet für uns Glückes unendliches Maß. Noch ist Lieberes nicht bislang hieher uns gekommen, Kaum selbst der Götter vermag einer uns teurer zu sein.59 56 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 253. Das Wortspiel von „bulla“ mit der doppelten Bedeutung von „päpstliche Bulle“ und „Blase“ lässt sich im Deutschen nicht nachbilden. 57 Der Eccius dedolatus erschien wahrscheinlich bei Mathes Maler in Erfurt. Aus guten Gründen wird freilich der Druckort und der Drucker durch das witzige Kolophon verschleiert: „Gedruckt durch Agrippus Panoplius, den Buchhändler des Perserkönigs … und der Lichterstadt am Zusammenfluss von Rhein und Ister.“ Moderne Ausgabe von HOLZBERG, Willibald Pirckheimer: Eccius dedolatus. Holzberg macht in seinem Nachwort (S. 115 ff.) die Autorschaft Pirckheimers wahrscheinlich. 58 IN EVANGELICI DOCTORIS Martini Lutheri Laudem Defensionemque, Erfurt, Mathes Maler, 1521. Ich folge hier im Wesentlichen KRAUSE, S. 323. Ich habe die Ausgabe von 1564 benutzt: Operum Helii Eobani Hessi Farragines duo, Frankfurt 1564, S. 847–871 (UB Freiburg). Die erste Ausgabe war im Herbst 1521 erschienen. 59 In der Übersetzung KRAUSES, Helius Eobanus Hessus, S. 323 f.

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Hessus selbst ist angesichts der Präsenz Luthers sprachlos (elinguis) und kann nur stammelnd eine kurze Rede halten. In der Stadt selbst sind die Straßen gesäumt von neugierigen Zuschauern; vom Magistrat und der Universität wird Luther mit Auszeichnungen überhäuft; am folgenden Tag hält er eine bewegende Predigt in der überfüllten Kirche des Augustinerklosters (Inhalt der dritten Elegie). Als ein Holzpfeiler unter der Last der Menschen zusammenzubrechen droht, kann der glänzende Redner Luther mit beschwichtigenden Worten eine Panik verhindern. Am 8. April verließ Luther Erfurt, begleitet unter anderen von Justus Jonas, um sich nach Worms zu begeben (Inhalt der vierten Elegie). Die Apriltage 1521 bildeten den Wendepunkt des sich langsam anbahnenden Umschwungs vom Erasmuskult zum Lutherkult unter den Erfurter Humanisten. Wie kam es dazu, dass innerhalb weniger Jahre Erasmus, dessen Ruhm in den Jahren 1518–19 einen Höhepunkt erreicht hatte, dessen Wort mehr galt als das von Fürsten und Bischöfen, von Luther verdrängt wurde? Um das zu verstehen, muss man sich zunächst einmal von der Idee des 19. Jahrhundert freimachen, nach der ein tiefer Graben herrschte zwischen den freidenkenden, progressiven Humanisten einerseits und den theologisch orientierten Reformern andererseits. In Wirklichkeit waren zahlreiche deutsche Humanisten in hohem Maße an einer religiösen Erneuerung interessiert.60 Gerade die Erfurter Vertreter der neuen Bewegung hatten in Erasmus eben nicht nur den „Humanisten“, sondern auch den um eine Reform der Kirche bemühten Reformer gesehen. Durch ihn, ihren vergötterten Helden, waren sie auf theologische Fragen gestoßen worden. Eobanus Hessus, Adam Krafft und Georg Forchheim hatten über seine Werke Vorlesungen gehalten. Justus Jonas hatte sich, von Erasmus ermutigt, von der Jurisprudenz zur Theologie gewandt.61 Auch Crotus war in Bologna zum Dr. der Theologie promoviert worden. Zu diesem Zeitpunkt interpretierten die Erfurter Luther also durch die Brille des Erasmus,62 d.h. sie sahen in Luther zunächst einen Fortsetzer der erasmischen Bestrebungen. Darauf hatte Hessus in seiner Rede zu Jonas’ Rektoratantritt ausdrücklich aufmerksam gemacht.63 Und das mit gutem Grund. Hatte Erasmus sich den Humanisten nicht nur durch sein geschliffenes Latein, sondern auch durch seine Kritik an kirchlichen Missständen empfohlen? Hatte er nicht in seiner Satire Julius exclusus (Der ausgeschlossene Julius), die zwar anonym erschienen war, deren Autorschaft aber schon 60 In dieser Richtung hatte schon SPITZ (The Religious Renaissance of the German Humanists) vor mehr als 50 Jahren argumentiert. 61 Brief des Erasmus in: KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 24. 62 KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 240. 63 KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, II, Nr. 34, S. 36–38

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seine Zeitgenossen Erasmus zuschrieben, sich über den gerade verstorbenen Papst Julius II. gespottet,64 in dem er den Heiligen Vater vergeblich um Einlass in den Himmel bittend dargestellt hatte? Hatte er auch nicht immer wieder, wenn auch auf seine ironisch-distanzierte Weise, z.B. im Lob der Torheit Mönche, Prälaten und Priester verspottet? Hatte er schließlich nicht auch in dem Vorwort der Neuauflage seines Erfolgsbuches Enchiridion Christiani militis die Amtskirche scharf kritisiert und eine Philosophia Christi, eine auf christlicher Grundlage beruhende Lebensführung empfohlen? Hatte er nicht, wie wir sahen, Eobanus Hessus bei dessen Besuch in Löwen einen Brief an Johannes Lange mitgegeben, in dem er ein, wenn auch etwas laues Bekenntnis zu Luther abgelegt und das Papsttum als eine „Plage des Christentums“ (pestis christianismi) verurteilt hatte,65 womit er weitergegangen war, als Luther zu diesem Zeitpunkt zu gehen bereit war. Der Brief an Lange war natürlich als Privatbrief gedacht, und Erasmus hat ihn auch nie in eine seiner von ihm selbst herausgegebenen Briefsammlungen aufgenommen. Trotzdem kann man sicher sein, dass der Brief, mit dem er in den Augen der Erfurter Humanisten Luthers Vorgehen ausdrücklich gutzuheißen schien, in Windeseile die Runde unter ihnen machte. Im Sommer 1519 äußerte er zudem in einem Brief an den Erzbischof Albrecht von Mainz Sympathien für Luther, enthielt sich aber einer Beurteilung der lutherischen Theologie.66 Und als 1520 in Löwen Luthers Bücher verbrannt wurden, schrieb er betroffen: Wenn man seine Bücher verbrennt, verbannt man Luther aus den Bibliotheken, ob man ihn aus den Herzen verbannen kann, bezweifle ich.67 Als deshalb 1517 Luther seine 95 Thesen gegen den florierenden Ablasshandel veröffentlichte, musste der Eindruck entstehen, dass er nur die Arbeit fortsetzte, die Erasmus begonnen hatte. In einer der erfolgreichsten Flugschriften der Zeit, dem Reimgedicht Die göttliche Mühle aus dem Jahre 1521,68 sieht man auf dem beigegebenen Holzschnitt, wie Erasmus das Mehl des göttlichen Wortes einfüllt, während Luther den Brotteig daraus knetet.69 Wie sehr die Humanisten Luther durch die humanistische Brille sahen, zeigt auch ein Holzschnitt 64 Vor seiner Wahl zum Papst im Jahre 1503 hieß er Guiliano della Rovere, geb. 1443, gest. 1513. 65 ALLEN, III, Nr. 872 (Erasmus an Johannes Lange), S. 408 f. „Eleuterium audio probari ab optimis quibusque. Puto illae conclusiones omnibus placuerunt.“ 66 ALLEN, IV, Nr. 1033 (Erasmus an Albrecht von Brandenburg, 19. Oktober 1519, S. 96– 107). 67 ALLEN, IV, Nr. 1153 (Erasmus an Godschalk Rosemondt, 18. Oktober 1520, S. 366): „Libris exurendis Lutherus fortassis eximetur e bibliothecis, an ex animis revelli possit nescio.“ 68 Vermutlich von dem unbekannten Martin Seger aus Marienfeld verfasst. 69 Druck bei Christoph Froschauer, Zürich 1521. Text bei Oskar SCHADE, Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit, Hannover 1863 (Reprint 1966).

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Hans Holbeins aus dem Jahre 1523. Darin erschlägt Luther, dargestellt als keulenschwingender Herkules, nicht nur die Klassiker der Scholastik, sondern auch den Großinquisitor von Hoogstraten, der sich im Reuchlin-Streit als Hauptgegner der Humanisten erwiesen hatte.70 Wie sehr die Zeitgenossen Luther und Erasmus zunächst als Vertreter einer gemeinsamen Richtung sahen, wird auch klar aus Albrecht Dürers Reisebucheintrag vom Mai 1521. Als der Nürnberger Künstler von Luthers Gefangennahme und vermeintlichem Tod erfuhr, schrieb er: O Gott, ist Luther tot, wer wird uns hinführ das heilig Evangelium so klar fürtragen? … O Erasme Roderadame, wo willst Du bleiben? … Hör, Du Ritter Christi, reit hervor neben den Herrn Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Martärer Krone.71

Aber Erasmus hatte nicht die geringste Neigung, „hervorzureiten“ und sich die Martärer Krone zu erwerben. Es war dann auch seine abwägende, vorsichtige, sich nicht festlegen wollende Art, die ihn viele Sympathien bei den Erfurtern kostete. Was die Erfurter dagegen an Luther bewunderten, war dessen Mut, Freimütigkeit und Konsequenz. Beide, so schrieb Eobanus 1521, haben der Welt den Weg zur reineren Frömmigkeit gezeigt; Luther aber hat diesen Weg nicht bloß gezeigt, sondern auch betreten, er hat die Hacke in die Hand genommen, um den Weinberg Christi zu roden; darum ist er größer als Erasmus.72 Man versprach sich also mehr von dem provokant-freimütigen Luther als von dem diplomatisch lavierenden Erasmus.

70 Abgebildet u.a. in VAN GÜLPEN, Der deutsche Humanismus und die frühe Reformationspropaganda, S. 499. 71 Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß, auf Grund der Originalhandschriften und theilweise neu entdeckter alter Abschriften, hg. von LANGE, S. 164 f. 72 Operum Helii Eobani Hessi, S. 847: Ille quidem primus vidit vir, inutile, nostro Tempore, per Christi surgere semen agrum. Vidit, ausus duros adhibere ligones, Noxiaque artifici vellere quae manu. Ante quidam vidit mundoque ostendit Erasmus Secula quo cernunt doctius ista nihil Quam fecisse igitur velut est minus ostendere Lutheri meriti grandius instar habet.

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Mutian und Luther

MUTIAN UND LUTHER

Wie verhielt sich Mutian, der große Bewunderer des Erasmus, in dieser Zeit der wachsenden Luther-Begeisterung? Der Mann, der Mutian vorsichtig an Luther heranzuführen suchte, war Johannes Lange. Im Jahre 1515 hatte sich Mutian bei ihm nach dem Prediger erkundigt, der am Vortage so heftig gegen die Moral der Mönche vom Leder gezogen habe. Dieser antwortete ihm, es handele sich um Doktor Martin, mit dem er, Lange, einst in Erfurt vertraut zusammengelebt habe.73 Ermuntert durch Lange, wandte sich nun auch Luther, allerdings erst ein Jahr später, an den damals in Erfurt hoch geschätzten Mutian. Darin informierte Luther den Gothaer Kanoniker, dass Lange zum Prior des Augustinerklosters ernannt worden sei. Sich selbst charakterisierte er als ungehobelten Bauern, als Barbaren, der unter den Gänsen zu quaken pflege.74 Es blieb der einzige Brief, denn in den nächsten Jahren sollten die fundamentalen Unterschiede zwischen Luther und Mutian, ihren unterschiedlichen Temperamenten und Reformwillen immer deutlicher zu Tage treten. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die unterschiedliche Beurteilung des Erasmus von Rotterdam. Wie sehr sich bereits vor Oktober 1517, dem Datum von Luthers Thesenanschlag, Luther von Erasmus zu distanzieren begann, zeigt ein Brief Luthers an seinen Mit-Augustiner Lange vom März 1517. Darin heißt es: Ich lese unseren Erasmus und täglich nimmt meine Achtung ihm gegenüber ab: zwar gefällt es mir, dass er die Mönche und Priester dauernd und auf gelehrte Weise anklagt und sie wegen ihrer eingewurzelten und schläfrigen Unkenntnis verurteilt. Ich fürchte aber, dass er nicht genügend Christus und die Gnade Gottes offenbart … Das Menschliche gilt bei ihm mehr als das Göttliche. Obwohl ich nicht um meine Meinung gefragt worden bin, erlaube ich mir doch meine Meinung, um Dich zu warnen, dass Du nicht alles liest und kritiklos akzeptierst.

Die Zeiten seien heutzutage gefährlich. Die Beherrschung des Griechischen und Hebräischen sei keine Garantie, dass jemand ein guter Christ sei. Ein Hieronymus mit seinen fünf Sprachen sei nicht unbedingt dem einsprachigen Augustinus überlegen, wenn das Erasmus auch anders sehe. Aber jemand, der sich auf das Urteil der Menschen verlässt, urteilt anders als jemand, der nichts als die Gnade kennt.75 Seit 73 Der Brief Mutians ist nicht erhalten, dafür aber die Antwort Langes: GILLERT Nr. 490 (Johannes Lange an Mutian, 2. Mai 1515): „De acri illo oratore rogas, qui hesterno die in fratrum sanctulorum mores invectus est. Is doctor Martinus est, quocum Erfurti perquam familiariter vixi, nec parum auxilii bonis in litteris olim mihi attulit.“ 74 GILLERT Nr. 560 (Luther an Mutian, 29. Mai 1516): „Rusticus Corydon, barbarus et semper inter anseres strepere solitus.“ 75 WA Br, 1, Nr. 35, S. 89 f.: „Erasmum nostrum lego, et in dies decrescit mihi animus erga eum; placet quidem, quod tam religiosos quam sacerdotes non minus constanter quam erudite arguit et damnat inveteratae huius et veternosae inscitiae; sed timeo, ne Christum

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1517 war also mindestens bei Luther und Lange die allgemeine ErasmusBegeisterung der Erfurter einer gewissen Skepsis gewichen. Sie stellten sich gewissermaßen gegen den Strom, und Lange, der viel enger als Luther mit den Erfurter Humanisten befreundet war, „bewegte sich in dieser Schar [der Erasmus-Enthusiasten] wie ein Nüchterner unter Trunkenen“.76 In der Folgezeit distanzierte sich Lange immer mehr von Erasmus, und zwar viel früher als Justus Jonas, Eobanus Hessus und Crotus Rubeanus. Gleichzeitig näherte er sich Luther an, wobei er aber immer die Hoffnung hatte, den großen holländischen Gelehrten für Luther zu gewinnen. Aus diesem Grunde schickte er ihm 1517 auch Luthers 95 Thesen zur Ablassfrage zu. Dieser antwortete, dass das Papsttum zwar eine Pest für das ganze Christentum sei; dennoch halte er es nicht für zweckmäßig, das Geschwür offen anzugreifen.77 Das Geschwür offen anzugreifen, genau das aber tat Luther – und Lange folgte ihm. Als Lange seinen Ordensbruder im April 1518 zu dem Konvent der Augustiner in Heidelberg begleitete, berichtete der Dominikanermönch Martin Bucer, der nachmalige Reformator des Elsass, seinem Freund Beatus Rhenanus: In allem stimmt Luther mit Erasmus überein, ja, er scheint sogar in diesem einen Punkte ihn [Erasmus] zu übertreffen, dass er das, was jener nur andeutet, offen und frei ausspricht.78 Im Sommer 1519 nahm Lange sowohl an den Vorbereitungen zur Leipziger Disputation zwischen Karlstadt, Luther und Dr. Eck als auch als Zuhörer an diesem akademischen Großereignis teil. Ein Jahr später, 1520, wurde Luther bekanntlich auf Betreiben seines Gegners Johannes Eck der kirchliche Bann angedroht, falls er nicht innerhalb sechzig Tagen seine umstrittenen Thesen widerrufe. Gleichzeitig erreichte die publizistische Offensive der Luther-Anhänger ihren ersten Höhepunkt. Allein in diesem Jahr verfasste Luther 27 Flugschriften, bestehend aus 900 Druckseiten, die 270 Auflagen erlebten und in einer halben

et gratiam Dei non satis promoveat, … humana praevalent in eo plus quam divina. Quanquam invitus eum iudico, facio tamen, ut te praemoneam, ne omnia legas, imo accipias sine iudicio.Tempora enim sunt periculosa hodie, et video, quod non ideo quispiam sit christianus vere sapiens, quia Graecus sit et Hebraeus, quando et Beatus Hieronymus quinque linguis monoglosson Augustinum non adaequerit, licet Erasmo aliter sit longe visum. Sed aliud est iudicium eius, qui arbitrio hominis nonnihil tribuit, aliud eius, qui praeter gratiam nihil novit.“ 76 BURGDORF, Johann Lange – Der Reformator Erfurts, S. 25. 77 ALLEN, III, Nr. 872, S. 408–410 (Erasmus an Lange, 17. Oktober 1518): „Video τήν τοϋ Ρομάνου Αρχιερέως (vt nunc est ea sedes) μοναρχίαν pestem esse Christianismi. … Sed tamen haud scio an expediat hoc vlcus aperte tangere.“ 78 WA, 9, S. 162, Zeile 8–10: „Cum Erasmo illi conveniunt omnia, quin uno hoc praestare videtur, quod, quae ille duntaxat insinuat, hic aperte docet et libere.“

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Million Exemplaren den Büchermarkt überschwemmten.79 Mit für die damaligen Verhältnisse riesigen Startauflagen erschienen unter anderem die drei bereits erwähnten lutherischen Schriften Von der Freiheit eines Christenmenschen, An den christlichen Adel deutscher Nation und De captivitate Babylonica (Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche).80 Das alles sollte man sich vor Augen halten, um die Reaktion oder besser gesagt, das Fehlen der Reaktion Mutians auf diese, wenigstens im Rückblick, welthistorischen Ereignisse einzuordnen. Es ist kaum vorstellbar, dass Mutian, der stets verlässlich von seinem Freund Urban über die Zeitereignisse informiert wurde, davon nichts gewusst haben soll. Reaktionen auf diese Vorgänge finden sich aber nicht in seinen Briefen an Lange, sodass der Eindruck entsteht, dass er das Thema „Luther“ bewusst ausblendete. Es wirkt doch fast gespenstisch, wenn er etwa im Juli 1520, also auf einem Höhepunkt der medialen Kampagne der Lutheraner, an Lange die umfangreiche Rezension des bereits erwähnten Geschichtswerkes des Franciscus Irenicus sandte.81 Auch über die dramatischen Ereignisse des Frühjahrs 1521 findet sich kein Wort in seinem Brief, den Mutian am 13. Juni 1521 an Lange schrieb, lediglich die Klage, dass er fortwährend von den Wittenbergern heftig befehdet werde, und zwar hauptsächlich, weil er einst in einem Briefe gewagt habe, Erasmus und Melanchthon über Luther zu stellen.82 In seiner Verteidigung beschwor Mutian die Gemeinsamkeiten, indem er an seine vorherige Unterstützung Luthers und an seinen Einsatz für eine griechische Professur in Wittenberg erinnerte, und rief als Zeugen die beiden Freunde Spalatin und Justus Jonas an. Hier hast Du meine Klage mit Entschuldigung (purgatio).83 Um eine purgatio handelte es sich aber nicht, denn Mutian bekannte sich keineswegs zu Luther, sondern berief sich auf seine Unabhängigkeit. Außerdem begnügte er sich offenbar keineswegs damit, Erasmus über Luther zu stellen, sondern stichelte nach dem Zeugnis seines ihm durchaus positiv eingestellten Freundes Hessus in all seinen Briefen heftig gegen Luther.84

79 Angaben nach BURCKHARDT, Das Refomationsjahrhundert, S. 44. EDWARDS, JR., Printing, Propaganda, and Martin Luther, S. 18 f., enthält Statistiken über Erstausgaben und Auflagen. 80 BURCKHARDT, Das Reformationsjahrhundert, S. 44. 81 GILLERT Nr. 594 (Mutian an Lange, 1. Juli 1520). 82 GILLERT Nr. 605 (Mutian an Lange, 13. Juni 1521): „Obicitur mihi, quod in epistola quadam Erasmum et Philippum Luthero protulerim.“ 83 GILLERT Nr. 605: „Habes querelam meam cum purgatione.“ 84 GILLERT Nr. 605a (Hessus an Spalatin, 1. Juni 1521): „Mutiano pene sum iratus, quod Martinum impugnat in omnibus, quas ad amicos scribit, epistolis.“ Urbanus drückte es vorsichtiger aus: „Mutianus noster deinceps erit.“ In: GILLERT Nr. 605b (Urbanus an Spalatin, 30. Juli 1521.)

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Lange seinerseits verfolgte eine sanfte Strategie, um Mutian in das sich damals bildende lutherische Lager zu ziehen. Er sandte ihm einen Brief eines ausgewiesenen und von Mutian geschätzten Humanisten, des Freiburger Juristen Ulrich Zasius. Dieser habe unseren Luther in den Himmel gehoben.85 Zasius selbst hatte sich bereits sechs Monate vorher bei Mutian nach dessen Meinung über Luther erkundigt und über dessen große Wirkung berichtet: Ich möchte wissen, was Du über Luther, einem sehr lauteren Mann, denkst (aber schlecht zu denken über gute Menschen vermagst Du ja nicht). Bei den Deutschen in unserer Gegend ist man über diesen Menschen (eigentlich möchte ich ihn einen Helden nennen) merkwürdigerweise unterschiedlicher Meinung. Wer die reine Lehre in unserem Gebiet vertritt, folgt Luther blind. Andererseits will die Partei der Mönche und der Theologen, die man Scholastiker nennt – abgesehen von zahlreichen rechtschaffenen Männern –, ihn verdammt wissen. … Die ganze Schweiz, Konstanz, Augsburg und ein Großteil Italiens ist Luther ergeben.86

Noch begeisterter hatte er sich über den künftigen Reformator gegenüber seinem Freund, dem Schweizer Drucker Bonifaz Amerbach, geäußert: Was ich von Luther halte, nehme ich so auf, als ob es von einem Engel käme.87 Auch auf den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer als Kronzeugen für die wachsende Luther-Begeisterung wies Lange seinen Gothaer Freund hin, denn der Nürnberger Humanist hatte geschrieben: Daran muss man sich erinnern, dass die Wittenberger Weisen nach so vielen Jahrhunderten die Augen öffneten; Wahres vom Falschen trennten und die verzerrte Art zu Philosophieren von den christlichen Philosophen zu trennen anfingen. Wer aber ragt unter den Weisen so heraus, wie der tapfere Herold Martin?88

85 GILLERT Nr. 589 (Mutian an Lange, 15. Mai 1520): „Is [Zasius] in coelum fert Lutherum nostrum.“ 86 GILLERT Nr. 587 (Ulrich Zasius an Mutian, 1. Dezember 1519, S. 256): „Super Luthero, viro omnium candidissimo, quid iudices (iudicare autem male de viris bonis non potes) scire cupio. Apud nostrates Germanos super hoc homine (heroen merito nominaverim) mirifice variatur. Quicquid purioris est doctrinae in terris nostris, Lutherum sequitur sine delectu. At monachorum factio eiusque ordinis theologi, quos scolasticos nominant, exceptis tamen multis probis viris, eum damnatum cupiunt. … Helvecia tota, Constancia, Augusta, bona pars Italiae a Luthero pendet.“ 87 Zitiert in NEFF, Ulrich Zasius. Ein Lebensbild, S. 17. 88 GILLERT Nr. 589 (Mutian an Lange, 15. Mai 1520): „‚Hoc nullo non memorandum aevo primos fuisse Vitenbergenses sapientes, qui post tot saecula oculos aperire, verum a falso dignoscere et depravatam philosophandi rationem a Christiana philosophia secernere coeperint.‘ Quis autem ita excellenter eminet inter sapientes illos, ut fortis Christi praeco Martinus?“ Ich interpretiere den letzten Satz so, als ob er noch zu dem Zitat Pirckheimers gehört.

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Außer Lange, Zasius und Pirckheimer war es ein weiterer enger Freund Mutians, der Mutian von der Position Luthers zu überzeugen suchte: Georg Spalatin, Mutians ehemaliger Protegé und treuer Schüler, der, wie Lange bereits 1515 schrieb, Luther wie einen Apollo verehre.89 Auf seine sanfte und diplomatische Art versuchte nun Spalatin Mutian in den Entscheidungsjahren der Reformation wiederholt auf Luther aufmerksam zu machten: Ich habe Dir über unseren Doktor Martin Luther, dem Augustiner, geschrieben, von dem ich weiß, dass Du ihm sehr gewogen bist … er will lieber leiden, als Christus und dessen Wahrheit und Lehre verleugnen.90

Spalatin wusste aber auch, dass Mutian ein leidenschaftlicher Verfechter der humanistischen Studien und ein Bücherliebhaber war. Geschickt versuchte er deshalb, ihm die Theologie Luthers näher zu bringen, indem er darauf hinwies, dass mit der lutherischen Theologie ein Wiederaufleben der humanistischen Studien verbunden sei.91 Aus diesem Grunde schätzten gerade die Besten und Gebildetsten Luther, dessen Werke, in eleganten Typen von Adam Petri in Basel gedruckt, in Frankfurt, wo er sich gerade aufhielt, reißenden Absatz fänden: Nichts wird häufiger gekauft, nichts eifriger gelesen, nichts aufmerksamer besprochen, meldete er ihm.92 Die Urteile des Zasius und Pirckheimers waren kein Einzelfall. Tatsächlich waren die meisten ersten Reaktionen der Humanisten auf Luthers Schriften und Auftreten positiv. Neben Zasius und Pirckheimer hatten Reuchlin, Beatus Rhenanus und, wie wir sahen, auch Erasmus von Rotterdam – alle führenden Köpfe des deutschen Humanismus –, zunächst ein freundliches Wort über den mutigen Wittenberger Mönch zu sagen.Und selbst Männer, die sich später von Luther distanzierten oder sogar zu seinen Feinden wurden, äußerten sich anfänglich wohlwollend über Luther, obwohl nicht alle so euphorisch wie Beatus Rhenanus, der schrieb: Ich sehe die Welt wieder zu sich kommen.93 89 GILLERT Nr. 490 (Lange an Mutian, 2. Mai 1515): „Eum ipsum [Luther] ut Apollinem Spalatinus noster veneratur et consulit.“ 90 GILLERT Nr. 584 (Spalatin an Mutian, (7. Mai 1519): „ Scripsi autem tibi de doctore nostro Martino Luthero Augustiniano, cuius te scio studiosiorem … omnia malit pati quam Christum et eius tum veritatem tum doctrinam negare.“ 91 GILLERT Nr. 584: „Deo sit laus, optima quaeque studia cum vera et sacrosancta illa theologia ita reviviscunt, ut speremus brevi futurum, ut puras, putas omnes habeamus bonas artes.“ 92 GILLERT Nr. 595 (Spalatin an Mutian, 21. September 1520): „Mirum, quanti ubique optimus quisque et eruditissimus doctorem Martinum Lutherum faciat. Eius opera latina formis elegantissimis Adamus Petrus typographus Basiliensis forma, ut vocant arcus impressa hic vendit.“ 93 „Video mundum resipiscere.“ HOROWITZ/HARTFELDER, Briefwechsel des Beatus Rhenanus, S. 125. Vgl. auch BURMEISTER, Ulrich Zasius 1461–1535, S. 105–123.

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Noch wichtiger war aber, dass die Humanisten dafür sorgten, dass Luthers Thesen u.a. gegen den Verkauf von Ablassbriefen durch Johann Tetzel, die zunächst als Einladung zu einer universitätsinternen Disputation gedacht waren, schnell in Deutschland verbreitet wurden. Von ihnen und anderen lutherischen Frühschriften fertigten die Humanisten Abschriften und Übersetzungen an und ließen sie im Druck erscheinen. Wenn Luther später sagte, seine Thesen wider des Detzels Artickel seien schier in vierzehen tagen durch gantz Deudschland gelaufen,94 so hat er dies einmal dem Buchdruck,95 zum anderen aber der Existenz des humanistischen Netzwerkes zu verdanken. Wie erklärte sich diese anfängliche, fast einstimmige Hochschätzung Luthers seitens der Humanisten? Offenbar lagen ihr verschiedene Motive zugrunde, wobei man den Eindruck hat, dass jeder den Wittenberger Mönch unterschiedlich verstand. Vor allem begriffen die Humanisten ihn im Rahmen ihrer eigenen Denkstrukturen: Einige fanden in Luthers frühen Schriften ihre Kritik am scholastischen Wissenschaftsbetrieb bestätigt. So urteilte z.B. der bekannte Leipziger Humanist Petrus Mosellanus (1493/94–1524): Jener [Luther] hat die aristotelische Philosophie aus dem Theater der Theologen geworfen.96 Ähnliches hatte auch Zasius angedeutet, als er schrieb, dass die Partei der Mönche und Theologen, die man Scholastiker nennt, Luther verdammt wissen will.97 Andere betrachteten Luthers Kampf gegen die kirchlichen Autoritäten als Fortsetzung des Reuchlin’schen Streites, eine Konfrontation der progressiven Kräfte gegen ein veraltetes System.98 Eine dritte Gruppe, angeführt von dem militanten Ulrich von Hutten, sah in Luther den Verfechter der deutschen politischen Freiheit und bot Luther seine Hilfe an: An mir hast Du einen Anhänger für jeden möglichen Fall, schrieb der Ritter Hutten, daher wage es, mir in Zukunft alle Deine Pläne anzuvertrauen. Verfechten wir die gemeinsame Freiheit! Befreien wir das schon lange unterdrückte Vaterland.99 Eine letzte Gruppe suchte eine Erneuerung des Christentums durch eine Rückwendung zur Heiligen Schrift und den Kirchenvätern. Mit anderen Worten: Jeder

94 WA 51, S. 540. 95 Über die wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle des Buchdrucks für den Erfolg der Reformation siehe: BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert. 96 Zitiert in MOELLER, Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation, S. 52: „Ille Philosophiam Aristotelicam ex theologorum theatro explodit.“ 97 GILLERT Nr. 587 (Zasius an Mutian, 1. Dezember 1519): „At monachorum factio eiusque ordinis theologi, quos scolasticos nominant, … eum damnatum cupiunt.“ 98 RUMMEL, The Case against Johann Reuchlin, S. 39 f. 99 BÖCKING, I, Nr. CLXXI, S. 356 (Hutten an Luther, 4. Juni 1520): „Me habes adstipulatorem, in omnes etiam eventus. Itaque consilia omnia tua audebis posthac credere mihi. Vindicemus communem libertatem, liberemus oppressam diu iam patriam.“

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projizierte seine eigenen Hoffnungen und Erwartungen auf den Wittenberger Mönch.100 Und Mutian? Obwohl er von Freunden und Bekannten bedrängt wurde, sich öffentlich für Luther zu erklären, wusste sich souverän diesem Konformitätsdruck zu widersetzen. Kühl befand er: Non conceptas omnium opiniones sequor – Ich folge nicht den Meinungen der Mehrheit.101

7.

Mutians Ablehnung der lutherischen Position

MUTIANS ABLEHNUNG DER LUTHERISCHEN POSITION

Zwar lobte Mutian Luthers Unerschrockenheit und Mut, auch lehnte er, Luther beipflichtend, die päpstlichen Dekrete ab, da sie nur ein Vorwand für Habsucht und Streit seien,102 gleichzeitig äußerte er, der publikumsscheue Ireniker, sein Unbehagen an Luthers öffentlichem Kampf: Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn dieser Mönch nicht die Klostermauern verlassen hätte.103 Im Gegensatz zu zahlreichen Humanisten, die sich in der Reformation engagierten, blieb Mutian bis zu seinem Ende also der Reformation gegenüber äußerst skeptisch, zuletzt sogar feindlich. Es existiert kein einziger Brief Mutians an Luther. Verantwortlich für diese Skepsis waren drei Faktoren: erstens seine persönlichen Erfahrungen mit den Luther-Anhängern in Erfurt und drei Jahre später in Gotha, zweitens die tiefgehenden Unterschiede zu Luther in theologischen Fragen und drittens seine nicht wankende Bewunderung für Erasmus, der inzwischen durch seine lavierende Haltung bei den Wittenbergern in Ungnade gefallen war. Den Kontext für Mutians negative Erfahrungen mit den Lutheranern bildeten die Ereignisse in Erfurt im Jahre 1521. Die begeisterte prolutherische Demonstration im April dieses Jahres löste eine ebenso heftige Reaktion der traditionellen Kräfte aus. Bereits am 8. April gingen die Dechanten der beiden Erfurter Stiftskirchen gegen diejenigen Kanoniker vor, die sich an Luthers Empfang beteiligt hatten. Johann Draco wurde vorübergehend aus dem Chor ausgeschlossen. Doch damit war der Streit keineswegs zu Ende. Einige Zeit später schlugen einige Studenten den verantwortlichen Dechanten die Türen und 100 Wie unterschiedlich die einzelnen sozialen Gruppen auf die Reformation reagierten, hat Miriam CHRISMAN in ihrem Buch „Conflicting Visions of Reform“ auf eindrucksvolle Weise dargelegt. 101 GILLERT Nr. 605 (Mutian an Johannes Lange, 13. Juni 1521). 102 GILLERT Nr. 594 (Mutian an Johannes Lange, 1. Juli 1520): „Ego philosophorum decreta pluris aestimo quam sacerdotum. Antiquiora sunt illa, non patrocinantur avaritiae, tollunt ambitionem, morbos animi sanant. Haec vero sub religionis praetextu praedae cupidorum porrigunt ansam, factiosis arma, instrumenta contentionis.“ 103 GILLERT Nr. 594: „Arbitratur fortasse quieti populorum et concordiae plus allaturum commodi, si se pater ille contineret intra septa mansueti et taciturni coenobitae relicta.“

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Fenster ein. Individuelle Gewaltakte trafen andere Geistliche, die als Römlinge verdächtigt wurden. Es folgten Angriffe auf Lange, der als „Feind der Studien und des Friedens“104 aus der Theologischen Fakultät ausgeschlossen wurde. Das alles war aber nur ein Vorspiel für die Spannungen, die sich in den berühmten „Pfaffenstürmen“ vom 11./12. Juni 1521 in Erfurt entluden. Sie richteten sich nicht gegen die Geistlichen im Allgemeinen, sondern spezifisch gegen die des Stiftes, die keine Steuern bezahlten und durch eigene gewerbliche Unternehmungen den Bürgern Konkurrenz machten. „Es ging namentlich, als die Nacht hereingebrochen war, furchtbar her. Die Häuser der beiden Stiftdekane und einiger anderer Geistlicher wurden völlig zerstört. Am anderen Tage, einem Mittwoch, gesellten sich zu ihnen Bürger und Handwerksknechte, ja auch, vielleicht, weil Markttag war – etliche vom Adel auf dem Lande und viele Bauern aus den Dörfern. Und dann erfolgte, insbesondere in der kommenden Nacht, eine Verwüstung, die aller Beschreibung spottete. Volle 12 Stunden wurde ‚gestürmt‘, 44 von Geistlichen beider Stifter bewohnte Häuser wurden erbrochen und im Innern zertrümmert.“105 Auch das Haus des damaligen Rektor Martin von der Marthen wurde geplündert, er selbst aus dem Fenster geworfen. Bezeichnenderweise griff der Rat erst ein, als sich die Kanoniker zu einem Schutzgeld von 10.000 Gulden und zur Zahlung von Steuern bereiterklärt hatten.106 Der Imageschaden für die Lutheraner war erheblich, denn obwohl der Tumult nicht ursächlich mit der lutherischen Bewegung zu tun hatte, sondern soziale Ursachen hatte und von Luther, der sich damals auf der Wartburg versteckt hielt, ausdrücklich missbilligt wurde,107 wurde er diesen angelastet. Auch von Mutian. Entsetzt schrieb er unmittelbar nach den „Pfaffenstürmen“ an Lange: Türen werden mit Steinen zertrümmert, Fenster eingeschlagen. Wir leben mitten in der Barbarei. Eine gehörige Distanz zu den Lutheranern zu wahren, sei schon in seinem eigenen Interesse:

104 BURGDORF, Johann Lange – der Reformator Erfurts, S. 31. 105 BEYER/BIEREYE, Geschichte der Stadt Erfurt, S. 365. Eobanus schreibt von 50 zerstörten Häusern, Martin von der Marthen sogar von 60 (KLEINEIDAM, Universitas Studii Erffordensis, S. 263). 106 KLEINEIDAM, Universitas Studii Effordensis, S. 262. 107 Luther war über die Untätigkeit des Magistrats entsetzt. Von der Wartburg schrieb er: „Audio Erfurdiae in sacerdotum domus vim fieri quod miror permitti et dissimulari a senatu tum tacere a Lango nostro. … Nam etsi bonum est incessabiles illos impios coerceri, modus tamen iste evangelio nostro parit et infamiam et iustam repulsam.“ (WA Br, 2, Nr. 406, Luther an Melanchthon?, ca. 8. Mai 1521).

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Ich wäre dumm, wenn ich bekennen würde, dass ich hier die gleiche Einstellung wie die rasenden Lutheraner hätte. Die heiligen Väter [d.h. seine Kollegen], durch das nächtliche Unrecht betroffen, würden mich auf der Stelle umbringen.108

Noch war es aber in Gotha, in dessen Mauern keine Studenten wohnten, ruhig. Als aber Pfingsten 1524 der Aufruhr auch das stille Gotha erreichte, wurde das Stiftsviertel gestürmt, Mutians Mitkanoniker verjagt und deren Konkubinen weggeschleppt (vgl. Kap. X). Obwohl er offenbar unbehelligt blieb, schrieb Mutian empört: Ich hasse die fanatischen Steinwerfer. Sie zerren die Nonnen heraus und gebärden sich wie verrückt.109 Zu der Abscheu gegenüber den anarchistischen Ausschreitungen, für die Mutian die lutherische Bewegung verantwortlich machte, kamen fundamentale theologische Unterschiede. Zwar teilte er nicht nur des Wittenberger Mönches Ablehnung kirchlicher Praktiken wie Ohrenbeichte, Fasten und Reliquienkult, sondern stimmte auch mit ihm in seiner Kritik an dem Papsttum überein, ohne freilich Luthers radikalen Bruch zu verstehen. Blickt man schließlich auf die theologischen Unterschiede, so muss man schnell zu dem Schluss kommen, dass Welten beide Männer trennten. Während Mutian nicht an einen persönlichen Gott glaubte, sondern an ein Wesen, das sich durch seine Werke im Makrokosmos der Natur und im Mikrokosmos jedes einzelnen Menschen offenbarte,110 glaubte Luther an einen sehr persönlichen Gott. Ebenso widersprach Luthers Gnadentheologie, nach der durch die Erbsünde belastete Mensch nur durch die Gnade Gottes „gerechtfertigt“ würde, ohne dass er das Geringste dazu tun könne, in fundamentaler Weise Mutians Überzeugung von der menschlichen Selbstbestimmung. Schließlich war für Luther die Bibel Gottes Wort, alleinige Autorität des Glaubens (sola scriptura). Mutian verspottete die wörtliche Interpretation der Bibel und antizipierte damit eine Position, die in der modernen Theologie als Entmythologisierung bezeichnet wird.111 Ein dritter Grund für Mutians skeptische Haltung gegenüber Luther war schließlich seine fortdauernde Hochschätzung des Erasmus. Anders als die meisten seiner humanistischen Schüler und Freunde in Erfurt hatte Mutian, wie wir sahen, den Wechsel von der schwärmerischen Erasmus-Verehrung zum Lutherkult nicht mitgemacht, sondern schätzte den holländischen Gelehrten bis zu seinem Tod. Noch im Februar 1524 schrieb er: Inzwischen [mitten in diesen Unruhen] bereitet uns in der Ruhe die Lektüre erasmischer Schriften Vergnügen und 108 GILLERT Nr. 606 (Mutian an Lange, nach dem 13. Juni 1521): „Stultus sim, si profitear hic me sentire cum saevientibus Lutheranis. Interimerent illico sancti patres iniuria affecti nocturna.“ 109 GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, Ende Februar 1524): „Ego phanaticos lapidatores non amo. Evocant Vestales, ferociunt tanquam insani.“ 110 GILLERT Nr. 64 (Mutian an Urban, 13. April 1506–1508). 111 GILLERT Nr. 57 (Mutian an Urban und Spalatin, Spätherbst 1505–1507).

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Nutzen.112 Der Fürst der Humanisten hatte sich aber nach anfänglichem Beifall immer skeptischer gegenüber Luther geäußert. Er hatte zwar das „Ei gelegt, das Luther dann ausgebrütet hatte“. Entschlüpft war aber ein ganz anderes Küken, wie Erasmus selbst trocken bemerkte.113 Dazu kam, dass in dem Maße, in dem sich Luther von Rom und der Kirche abwandte, er immer heftiger von den Altgläubigen, unter anderem von Papst Hadrian VI. und Georg von Sachsen, dem unerbittlichen Gegner Luthers, zu einer eindeutigen Distanzierung von dem seit 1521 gebannten und unter der Reichsacht stehenden „Ketzer“ gedrängt wurde. Seit 1521 hörte man deshalb immer öfter lutherkritische Töne von ihm. Als der Druck von altgläubiger Seite auf Erasmus, etwas gegen Luther zu schreiben, um damit seine Orthodoxie zu beweisen, nämlich immer stärker wurde, wählte er ein „anthropologisches Kernthema“,114 nämlich die Frage, wieviel der Mensch zu seinem Heil beitragen könne. Im September 1525 erschien seine Schrift De libero arbitrio διατριβη sive collatio (Über den freien Willen oder Vergleichung).115 Erasmus, der an die Bildungsfähigkeit und Erziehbarkeit des Menschen glaubte, argumentierte, dass der Mensch seinen Beitrag zu seinem Heil leisten könne und nicht allein auf die Gnade Gottes angewiesen sei.116 In seiner Argumentation stützte er sich nicht wie Luther ausschließlich auf die Bibel, sondern auf die breite Tradition kirchlicher Lehrmeinungen. Luther, der zwar die Leistung des Erasmus für die Erschließung der biblischen Sprachen anerkannte117 und ihm auch stets Überlegenheit in rhetorischen Dingen konzediert hatte, hatte ihm aber schon seit 1517 in privaten Briefen mangelnden theologischen Tiefgang vorgeworfen.118 Vielleicht ähnele er Moses, bemerkte er, der zwar das Gelobte Land gesehen hatte, aber vor Erreichung desselben gestorben sei (Moses 5, 34, 5).119 Mit einer Antwort auf die Erasmus-Schrift ließ er sich Zeit. Seine Hochzeit mit der ehemaligen Nonne Katharina von Bora, die Auseinandersetzungen 112 GILLERT Nr. 620: „Interim Erasmiana lectio tranquillis nobis et fructum affert et voluptatem.“ 113 ALLEN, V, Nr. 1528 (Erasmus an Johann Caesarius, S. 609): „Ego posui ovum gallinaceum. Lutherus exclusit pullum longe dissimillimum.“ 114 KAUFMANN, Luther und Erasmus, S. 147. 115 Die Diatribe findet sich lateinisch und deutsch in: Erasmus von Rotterdam. Ausgewählte Schriften, 4, Darmstadt, 1969. 116 Vgl. KAUFMANN, Luther und Erasmus, S. 149. 117 Noch 1537 verglich er Melanchthon, Erasmus, sich selbst und Karlstadt: „Res et verba Philippus, verba sine re Erasmus, res sine verbis Lutherus, nec res nec verba Carolstadius.“ WA TR, 3, Nr. 3619, S. 460, Zeile 38; S. 461, Zeile 3. 118 In dem bereits erwähnten Brief an Johannes Lange: WA Br, 1, Nr. 35. 119 In einem Brief an den Basler Reformator Oekolampadius. In: WA Br, 3, S. 96, Nr. 626: „Forte et ipse cum Mose in campestribus Moab morietur, nam ad meliora studia (quod ad pietatem pertinet) non provehit. Satis fecit, quod malum ostendit; bonum ostendere (ut video) et in terram promissionis ducere non potest.“

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während der Bauernkriege und andere Angelegenheiten des viel beschäftigten Mannes mögen ihn abgehalten haben. Im Übrigen hatte er genug Feinde, einen weiteren sich einzuhandeln, hatte er nicht das geringste Interesse. Aber seine Wittenberger Anhänger drängten ihn, sodass er im November 1525, also mehr als ein Jahr später, die Schrift De servo arbitrio (Über den versklavten Willen) publizierte.120 Darin konzedierte Luther zwar, dass der Mensch in den Dingen des Alltags über den freien Willen verfüge, leugnete aber dezidiert, dass der Mensch auch nur das Geringste zu seinem Heil beitragen könne. Alles hänge von der Gnade Gottes ab. Diese Anschauung, „ein Konzentrat der Theologie Luthers“,121 ging natürlich zum Kern der lutherischen Gnadentheologie. Damit war der sich schon längst anbahnende endgültige Bruch vollzogen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt galt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Erasmianer zu sein, galt als Verrat.122 Das sollte auch Mutian zu spüren bekommen.

120 Eine Ausgabe des De servo arbitrio in Martin Luther Studienausgabe, Bd. 3, Berlin 1983, S. 170–356. Eine deutsche Übersetzung bietet: Martin Luther: Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, Bd. 1, München 1954. 121 BRECHT, Martin Luther, II, S. 231. 122 Nur wenigen gelang es, Lutheraner zu sein und gleichzeitig mit Erasmus einen zivilen Umgang zu pflegen, so z.B. Philipp Melanchthon. Wie schwierig der Umgang der lutherischen Kirche mit Erasmus auch in der Moderne war, zeigt etwa die Würdigung des Theologen und späteren Ratsvorsitzenden der evangelischen Kirche in Deutschland Hanns LILJE. Im Jahre 1936, im 400. Todesjahr des Erasmus, schrieb er: „Er [Erasmus] blieb der Mann des Beinahe. Er hat an die Schwelle, aber nicht über die Schwelle einer neuen Zeit führen können. So bleibt sein Leben zuletzt ein erschütterndes Dokument für die Unfruchtbarkeit aller bloß intellektualistischen Reform, ein Symbol jener großen Geister, über die der Schritt der Geschichte hinwegging, weil sie nur Gedanken, aber nicht Taten hatten.“ In: Die Furche 22 (1936), S. 369.

MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

XII.

MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

In einer Zeit allgemeiner Luther-Begeisterung unter den Erfurter Humanisten musste Mutians kühle, abwägende, sich der erasmischen Position nähernde Haltung für erhebliche Irritationen sorgen. In einem Brief, der in die Hände der Wittenberger Lutheraner gelangt war, hatte Mutian ja den unverzeihlichen Fehler begangen, Erasmus und Melanchthon dem Reformator vorgezogen zu haben.1 Er leugnete diesen Vorwurf keineswegs, sondern verteidigte sich mit den Worten: Was soll ich machen? Durfte ich nicht meine Gedanken frei äußern? Wenn meine Unfähigkeit zu schmeicheln jemanden beleidigt hat, werde ich wohl meine Kritiker ertragen müssen. Und dann berief er sich auf die bereits zitierte Freiheit, sich seine eigene Meinung bilden zu dürfen.2 Tatsächlich machte Mutian die Wende vom Erasmuskult zur Luther-Begeisterung nicht mit, sondern blieb dem holländischen Gelehrten und seinem Modell der christlichen Philosophie bis zu seinem Ende treu. Als er 1525 erfuhr, dass einige Lutheraner auch das Verdienst des Erasmus an der Herausgabe des Neuen Testaments herunterzuspielen versuchten, indem sie behaupteten, dass dieser kein wahrer Theologe gewesen sei, weil er sich zu sehr von wissenschaftlich-philologischen Interessen habe leiten lassen, gleichsam, als ob er zu wenig das Theologische in seiner Ausgabe des Neuen Testaments berücksichtigt habe,3 verteidigte ihn Mutian: Entweder ich täusche mich oder die ruhmsüchtigen Männer beneiden Erasmus, den gelehrtesten aller Gelehrten, dem nur böse Menschen nicht gewogen sein können.4 Was Mutian von Erasmus’ Schrift De libero arbitrio hielt, erfährt man aber nur indirekt von Urban: Mutian sagt, dass Erasmus ganz gelehrt für den freien Willen geschrieben habe. Er selbst, Urbanus, könne diese tiefgründigen Dinge nicht beurteilen, da sie seinen geistigen Horizont überschritten.5 Schließlich kann man 1 2

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GILLERT Nr. 605 (Mutian an Johannes Lange, 13. Juni 1521): „Obicitur mihi, quod in epistola quadam Erasmum et Philippum Luthero praetulerim.“ GILLERT Nr. 605: „Quid nunc agam? Non ego debui, quae sentirem, libere scribere? … Si quem offendit, quod adulari nesciam, obtrectatores meos feram. Non conceptas omnium opiniones sequor. … Is omnino caecus est et me ignorat et frustra lapidem verberat.“ So muss man den knappen lateinischen Satz „Erasmo literas tantum tribuit“ interpretieren: GILLERT Nr. 628 (Mutian an Eobanus Hessus, 12. September 1525): „Quasi verum parum laborarit in re theologica Novo Testamento recognito ad graecam veritatem.“ GILLERT Nr. 628 (Mutian an Eobanus Hessus, 12. September 1525): „Aut ego fallor, aut invident gloriosuli disertissimo Erasmo, cui nemo nisi improbus non favet.“ GILLERT Nr. 620c (Urban an Spalatin, 20. November 1524), S. 300: „Mutianus noster dicit Erasmum eruditissime scripsisse pro libero arbitrio. Ego de tantis rebus, quoniam captum meum excedunt, iudicare non possum.“

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den Brief, den Mutian im Februar 1524 an Erasmus schrieb und in dem er einerseits seine Abscheu gegenüber den fanatischen [lutherischen] Steinewerfern ausdrückte, andererseits dem Holländer versicherte, wie die Lektüre von dessen Schriften ihm täglich Genuss und Vergnügen bereite,6 als offenes Bekenntnis zu Erasmus interpretieren, offen insofern, weil ein Brief an ihn immer ein quasi öffentliches Dokument war oder schnell werden konnte.7 Mutians Weigerung, sich für die lutherische Bewegung zu erklären, führte zu seiner zunehmenden Isolierung. Ebenso wie Spalatin, Hessus und Urbanus wandten sich zahlreiche andere Schüler und Freunde aus dem unmittelbaren Freundeskreis Mutians der lutherischen Bewegung zu, was von Mutian als Verrat interpretiert wurde. Hatte er noch 1521 gegenüber dem Luther-Anhänger Lange behauptet: Ich komme gut mit den Lutheranern zurecht. Nenn’ mir zwei Namen, die mir vor den [weggegangenen] Jonas und Crotus am Herzen liegen. Draco und Petreius sind schon lange in meinem Kalender. Ich nenne andere. Adam Krafft hat sich zwar zurückgezogen, Joachim Camerarius schätzt uns sehr. Georg Peltz ebenfalls,8

so klagte er drei Jahre später in dem Brief an Erasmus: Jonas, Schalbus, Draco und Crotus sind aus unserer Gemeinschaft zu den Lutheranern übergelaufen. Eobanus ist durch unsere Ermunterung zu Verstand gekommen.9 Aber auch dieser, der bereits 1521 Luther mit seinen Elegien als den Erneuerer des wahren Christentums gefeiert hatte, war längst zu den Lutheranern „übergelaufen.“ Man könnte andere Namen hinzufügen, in erster Linie natürlich Johannes Lange, der der eigentliche Reformator Erfurts werden sollte, aber auch Justus Menius, Mutians Neffen, ebenfalls 6

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GILLERT Nr. 620 (Mutian an Erasmus, Ende Februar 1524; ALLEN, V, Nr. 1425): „Ego phanaticos lapidatores non amo. … Interim Erasmiana lectio tranquillis nobis et fructum affert et voluptatem.“ Im Übrigen ist es ein Brief voller antijüdischer Ressentiments („Nocent Hebrei male Christiani per speciem pietatis simplicem credulitatem mira vafricie corrumpentes. Eorum scelera et iniurias tua divina oratione facile poteris ulcisci, si limam aliquam in vaticinia et Mosen conscripseris, ne facinorosa circumcisio pretextu sacrarum literarum venena pro remediis ingerat, laedatque publicam tranquillitatem.“ Dass Mutian Luther und seinen Anhängern vorwirft, die Juden zu begünstigen („Confluit ea gens ad Lutherum. Dat consilia et habetur in pretio“) muss angesichts Luthers späterer antijüdischer Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) geradezu grotesk erscheinen. GILLERT Nr. 606 (Mutian an Johannes Lange, nach dem 13. Juni 1521): „Mihi belle convenit cum Lutheranis. Nomina tu mihi duos, quos habeam cordi pro Iona, Croto absentibus. Draco, Petreius iam diu sunt in meo calendario. Quaere alios. Adamus [Adam Krafft] recessit, Ioachimus [Joachim Camerarius] unice favet, Forchopolites [Georg Petz aus Forchheim] est noster.“ GILLERT Nr. 620: „Ionas, Schalbus, Draco, Crotus a nostra sodalitate defecerunt ad Lutheranos. Eobanus resipuit meo hortatu …“.

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in späteren Jahren ein bedeutender Reformator in Mühlberg, Erfurt, Gotha und Eisenach. Es wurde einsam um den großen Lehrer. Selbst seine drei treuesten Freunde, Urban, Spalatin und Hessus, registrierten mit Befremden die Haltung ihres ehemals so verehrten Meisters, wie zahlreiche Briefe, die in dieser Zeit sozusagen hinter seinem Rücken ausgetauscht wurden, belegen. So beklagte Eobanus Hessus sich gegenüber Spalatin im Juni 1521: Ich bin dem Mutian fast böse, dass er in allen Briefen, die er an seine Freunde schreibt, Luther kritisiert.10 Leicht herablassend fügte er hinzu: Wir verzeihen aber dem guten Vater, der auf seiner Insel mehr an seine Ruhe als an die jetzigen Stürme gewöhnt ist.11 Im Übrigen hätten auch Crotus und Urbanus in dieser Angelegenheit bereits an Spalatin geschrieben.12 So unangenehm war den beiden treuen Freunden Mutians Weigerung, sich der allgemeinen Luther-Begeisterung anzuschließen, dass sie Spalatin, den Vertrauten Luthers und des Kurfürsten, um Verständnis bitten mussten. Und selbst Urban, der treueste der engen Freunde, äußerte sich kritisch über seinen väterlichen Freund: Mutian wird in Zukunft vorsichtiger sein.13 In den folgenden Jahren sollte sich deshalb Urban, wenn er Rat suchte, nicht wie früher an seinen Lehrer Mutian, sondern in zunehmendem Maße an Spalatin wenden,14 wobei häufig auch sein eigenes Verhältnis zu der lutherischen Bewegung zur Sprache kam, als er zum Beispiel Spalatin fragte, ob er [Urban] noch weiter unter den trunksüchtigen, ausschweifenden und ungeordnet herumlaufenden Mönchen weilen solle.15 Vom 10 GILLERT Nr. 605a (Eobanus Hessus an Spalatin, 1. Juni 1521, S. 283): „Mutiano pene sum iratus, quod Martinum impugnat in omnibus, quas ad amicos scribit, epistolis.“ 11 GILLERT Nr. 605a: „Sed ignoscimus bono patri in sua insula tranquillitati magis quam istis turbis assueto.“ Anders klingt es allerdings, als Hessus an Mutian selbst schreibt: GILLERT Nr. 608 (Eobanus Hessus an Mutian): „Tranquillitatem istam tuam beatam gratulor tibi hoc tempore, quo nihil est tumultuosius nihilque periculosius, si illam exieris insulam, in quo felicissime vivis et regnas.“ 12 GILLERT Nr. 605a: „Quam ob rem arbitror Urbanum et Crotum nostros iam antea quoque ad te perscripsisse.“ Anders klingt es, als Hessus selbst an Mutian schreibt: „Ich gratuliere Dir zu Deiner glücklichen Ruhe in dieser Zeit, in der es nichts Aufregenderes und Gefährlicheres gibt, wenn Du jene Insel verlässt, auf der Du so glücklich lebst und regierst.“ GILLERT Nr. 608 (Eobanus Hessus an Mutian, 8. August 1521): „Tranquillitatem istam tuam beatam gratulor tibi hoc tempore, quo nihil est tumultuosius nihilque periculosius, si illam exieris insulam, in quo felicissime vivis et regnas.“ 13 GILLERT Nr. 605b (Urban an Spalatin, 30. Juli 1521): „Mutianus noster deinceps cautior erit.“ 14 In drei erhaltenen Briefen aus dem Jahre 1524: GILLERT Nr. 620a, 620b, 620c, 620d vom 14. Februar, 7. März, 20. November 1524. 15 GILLERT Nr. 620b (Urban an Spalatin, 7. März 1524): „Imprimis consulere te volebam, num semper manendum mihi censeas inter tam bibaces, dissolutos et tam inordinate ambulantes fratres.“

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Privaten ins Zeitgeschichtliche übergehend, bemerkte er, dass er hoffe, dass die Fürsten in Nürnberg [es ging diesmal um den Reichstag in dieser Stadt] beschlossen hätten, dass es jedem Mönch erlaubt sei, das Kloster ohne Schande zu verlassen. Aber ich höre, dass bisher die Fürsten nichts Positives beschlossen, sondern sich nur mit privaten Angelegenheiten beschäftigt haben, sodass der erlauchte Kurfürst Friedrich [der Weise] empört abgereist sei.16 Ob das wahr wäre, möchte Urban von Spalatin, der den Kurfürsten nach Nürnberg begleitet hatte, wissen, und ob es etwas gäbe, was man dem Mutian mitteilen dürfe.17 Die letzte Formulierung ist erhellend; nur in gefilterter Form wollte Urban mögliche schlechte Nachrichten an Mutian weitergeben. Anders als Spalatin hat Urban nie geheiratet. Zwei Jahre später – das Kloster Georgenthal war inzwischen im Bauernkrieg im April 1525 zerstört worden – bekannte er gegenüber Spalatin: Er habe sich zwar mit dem Gedanken an eine Heirat getragen, dies aber aus Alters- und Gesundheitsgründen verworfen. Grundsätzlich sei er aber im Gegensatz zu Mutian nicht für das Zölibat.18 Die gegensätzliche Auffassung zum priesterlichen Zölibat zwischen Mutian und Urban war aber nur ein oberflächliches Symptom von der Kluft, die sich zwischen den beiden Freunden aufgetan hatte. Bei aller Abscheu gegenüber den ständigen Debatten, Parteiungen und Unruhen hatte sich Urban doch bereits 1521 zum Luther-Anhänger entwickelt – ohne dabei die Brücke zu Mutian abzubrechen. Auch Spalatin scheint seinem verehrten Lehrer dessen ablehnende Haltung gegenüber der Reformation nicht verübelt zu haben. Bis zuletzt setzte er sich für ihn ein (vgl. Kap. XII.3). Am 26. Dezember 1521 verband er Glückwünsche zum Neuen Jahr mit dem Hinweis auf die letzten außerordentlichen Gnadenbeweise des Kurfürsten ihm, Mutian, gegenüber und sein Bedauern, dass Mutian dem Kurfürsten nicht schreibe.19

16 GILLERT Nr. 620b: „Sperabam iam fore decretum per principes Nornbergae, ut cuique liceret citra notam infamiae, egredi monasterium. Sed audio nihil adhuc principes boni statuisse, sed privatis rebus studuisse et discordes inter se esse et ob id illustrissimum principem electorem cum indignatione illinc discessise.“ 17 GILLERT Nr. 620c Urban an Spalatin, 20. November 1524): „Quod utrum verum sit, scire cupio et si quid aliud habes, quod communicare liceat cum Mutiano.“ 18 GILLERT Nr. 625b (Urban an Spalatin, 6. März 1526): „Ego profecto uxorem quoque ducerem, ni me valetudo imbecillis et aetas iam ingravescens prohiberet. Multa sunt in celibatu, praecipue monachorum, quae mihi vehementer displicent, quamvis Mutianus noster aliter sit animatus.“ 19 GILLERT Nr. 613 (Spalatin an Mutian, 4. April 1523).

DIE SITUATION IN GOTHA

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Die Situation in Gotha

DIE SITUATION IN GOTHA

Auch in Mutians unmittelbarem Umfeld, der Stadt Gotha, hatte der reformatorische Gedanke gezündet: Auf seiner triumphalen Reise von Wittenberg nach Worms im April 1521 hatte Luther auch in Gotha Station gemacht,20 wo er zwischen dem 6. und 10. April im dortigen Augustinerkloster wohnte, wie der ehemalige Franziskanermönch und spätere Reformator Friedrich Mykonius (1490– 1546) berichtete: Und als er zu Gotha im Augustinerkloster ein Predigt tät, da ein trefflich Volk bei war, da riß der Teufel nach der Predigt etliche Steine von der Kirchen Giebel, der gegen der Stadtmauer gehet; hatten über 200 Jahr allda fest gelegen und sind bis auf diesen Tag nicht wieder erbauet.21

Bald nach diesem Ereignis begannen Mönche und Nonnen ihre Klöster zu verlassen. Einen der Augustinermönche, Heinrich Thilo, findet man als evangelischen Prediger in Gotha, ein anderer, Johannes Langenhahn, rühmte sich, dass er bereits seit 1522 das reine Evangelium in der Kirche St. Margareten verkündet habe. Bis 1524 scheint sich aber der langsame Wandel zu einer reformatorisch geprägten Religiosität in friedlichen Bahnen vollzogen zu haben. In diesem Jahr aber ergriffen die Unruhen, die Erfurt bereits 1521/22 erschüttert hatten, die bereits erwähnten „Erfurter Pfaffenstürme“, auch auf das bisher friedliche Gotha über. Gründe für ein Aufbegehren der Bürger gegen die Geistlichkeit in Gotha, und insbesondere die Kanoniker gab es genügend. So hatten die Stiftsherren bei ihrem Umzug von Ohrdruf nach Gotha im Jahre 1344 mehrere Dörfer (Ballstädt, Molschleben, Siebleben, Schönstet und Mittelhausen) inkorporiert und von den Bauern den Zehnten zugesprochen bekommen. Außerdem ließen sie sich jede ihrer klerikalen Dienstleistungen (Begräbnisgeld, Fürbitten für Kranke, Trauungen, Wöcherinnengeld, letzte Ölung etc.) einzeln vergüten.22 Wie schamlos einige der Kanoniker ihre geistlichen Privilegien ausnutzten, zeigte der Fall des Martinus Plattfuß. Als er mit dem Gothaer Bürger Curt Vogel in einen

20 Luther berichtete darüber in einem Brief an Melanchthon: WA Br, 2, Nr. 395, S. 296. 21 MYKONIUS, Historia Reformationis. Neuausgabe von CLEMEN, Geschichte der Reformation, S. 34. Ich zitiere nach der Ausgabe von Clemen. Luthers Predigten scheinen des Öfteren von solchen merkwürdigen Begebenheiten begleitet worden sein. Vgl. die Ereignisse während seiner Predigt in Erfurt ein paar Tage vorher, als während seiner Predigt ein Balken zu bersten drohte. Eine Panik konnte nur durch Luthers rhetorisches Geschick vermieden werden. 22 Mykonius berichtete darüber in seiner Historia Reformationis, S. 85. Im Folgenden danach zitiert als MYKONIUS, Historia Reformationis.

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Rechtsstreit geriet, belegte er ihn kurzerhand mit dem Kirchenbann.23 Ein anderer Streit zwischen dem Rat und den Stiftsherren um wirtschaftliche Privilegien eskalierte 1523 dermaßen, dass Friedrich der Weise seinen Neffen Johann Friedrich bat, den Streit beizulegen.24 Am meisten aber brachte die braven Bürger das skandalöse Benehmen der Kanoniker mit ihren Konkubinen auf: So führeten Canonici, Pfaffen, auch die Mönche, … ein wüst Wesen mit Hurerei, saßen öffentlich in Uneh [Konkubinat]. In Summa: Es war Stall wie Vieh,25 ein Ärgernis, das natürlich nicht auf Gotha beschränkt war.26 Mutian, dessen Verachtung für seine Mitkanoniker sich durch seine gesamte Korrespondenz zieht, hatte sich wiederholt sowohl über das Konkubinenwesen wie das „Wuchernehmen“ seiner Kollegen empört: In unserer Zeit verschlingen schmutzige Dirnen und hässliche Huren den besseren Teil des Kirchenvermögens. Den Menschen aber und Unschuldigen wird kein Pfennig gegeben. Wer sollte nicht die Habsucht des Klerus verdammen? … Niemand kann aber von uns nur einen Kreuzer umsonst entleihen: Wucher treiben wir. Wir geben überhaupt nichts, sondern leihen nur gegen Zinsen.27

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Der Bufleber Bierkrieg und der Gothaer „Pfaffensturm“

DER BUFLEBER BIERKRIEG UND DER GOTHAER „PFAFFENSTURM“

Der lang angestaute Missmut der Gothaer Bürger gegenüber den Kanonikern und deren Konkubinen entlud sich schließlich in dem sogenannten „Pfaffensturm“ am Dienstag nach Pfingsten des Jahres 1524 (17. Mai). Es ist eine kuriose Episode, bestehend aus zwei Einzelereignissen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben schienen: dem sogenannten „Bufleber Bier23 MÖLLER, Klöster in Gotha, S. 58. Auch Mutian beschwerte sich des Öfteren über Plattfuss. Vgl. GILLERT Nr. 58 (Mutian an Urban, 1507): „Martinus [Plattfuß] lacessit et irritat omnes.“ 24 MÖLLER, Klöster in Gotha, S. 61 f. 25 MYKONIUS, Historia Refomationis, S. 94. 26 MYKONIUS, Historia Refomationis, S. 10: „Denn weil sie nicht Eheweiber haben durften und Weiber doch nicht entbehren konnten noch wollten, erfüllten sie die Welt mit unglaublicher, unsäglicher Hurerei, Ehebrecherei, Sodomiterei und anderen Sünden und Schanden und durft sie doch niemand darum strafen. Denn sie waren allein unter dem Papst, den hielt man als den wahren Gott und Menschen, der nicht irren kunnt und den niemand einreden durft.“ 27 GILLERT Nr. 100 (Mutian an Urban, 1505–1508): „At aevo nostro squalida scorta et foedae pelliculae meliorem partem ecclesiastici patrimonii devorant. Castis et innocentibus nullae stipes erogantur. Quis non damnaret avaritiam cleri? … Nemo a nobis unum quadrantem gratis mutuari potest, fenus exercemus, credimus sub usuris, nihil omnino dantes.“

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krieg“ und dem „Gothaer Pfaffensturm“. Nicht die Empörung über das Konkubinenwesen, das schamlose Wuchernehmen, die finanzielle Ausbeutung oder theologisch-dogmatische Unterschiede lösten den Sturm auf die Häuser der Kanoniker auf dem Marienberg aus, sondern etwas viel Wichtigeres trieb die Bürger auf die Barrikaden – Bier. Brauereien stellten von jeher einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor in Gotha dar. Aus diesem Grunde hatte der Landgraf zu Meißen und Thüringen Friedrich IV. (um 1384–1449) der Stadt bereits im Jahre 1421 ein Braumonopol gewährt, nach dem Dörfer im Umkreis einer Meile von Gotha selbst kein Bier brauen durften und ihr auszuschenkendes Bier ausschließlich aus dieser Stadt beziehen mussten. Nur während einer Dauer von acht Tagen während der jährlichen Kirmes war es den betroffenen Dörfern gestattet, eigenes oder „fremdes“, d.h. nicht in Gotha gebrautes Bier auszuschenken. Zudem durfte jeder Einwohner dieser Dörfer den Gerstensaft ausschließlich für den Eigenkonsum brauen. Zu den von dieser protektionistischen Maßnahme Gothas betroffenen Dörfern gehörte auch das nahe bei Gotha gelegene Dorf Bufleben. Als dessen Bewohner dieses Verbot 1524 verletzten, indem sie eigenes, also nicht gothaisches Bier ausschenkten, zogen am Pfingstdienstag 40 bis 50 Gothaer Bürger, geharnischt mit Büchsen, Hellebarden und anderen Waffen, gen Bufleben. Nachdem sie zunächst von den Dörflern zurückgeschlagen worden waren, kehrten sie mit Verstärkung zurück und richteten nun viel Unheil in der Schenke und den Bauernhäusern an, sodass vil schwanger Frowen hefftig erschracken.28 Mit zwei Fass des konfiszierten, illegal gebrauten Bufleber Bieres fanden sie sich wieder in Gotha ein, leerten diese und, beflügelt vom Alkoholkonsum, begannen sie, ihren lang angestauten Groll gegen ganz andere Gegner zu wenden, Gegner, die eigentlich nichts mit dem Bufleber „Bierkrawall“29 zu tun hatten, nämlich die Kanoniker auf dem Marienberg. Friedrich Mykonius berichtete darüber in seiner Historia Reformationis: Und als dieselben wieder herein kamen, und auf den Kauff-Haus getruncken, do zogen etliche hinan an Berge, und stürmeten die Thum=Herren Häuser, zerstiessen Thür, Ofen, Fenster; Zerschlugen, zerbrachen Bänck, Tisch, zerrissen Register, Brief, Siegel etc. Es verlohren auch etliche ihr Geld. Aber fürnehmlich nahmen sie die Pfaff-Huren, und führetens in den Kram unter das Rath-Haus.30

Einigen Ratsherren scheinen die Ausschreitungen gegen die verhassten Kanoniker nicht ungelegen gekommen zu sein; sie griffen nämlich erst ein, als der 28 Zitiert in BECK, Geschichte der gothaischen Landstädte, Marktflecken und Dörfer, S. 60 f. Für den Hinweis auf das Buch bin ich Frau Ute Schlicke, Archivarin im Gothaer Stadtarchiv, dankbar. 29 MÖLLER, Klöster in Gotha, S. 65. 30 MYKONIUS, Historia Reformationis, S. 118 f.

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Schaden bereits angerichtet war.31 Der kurfürstliche Hof erfuhr von den Unruhen; über hundert der Bierrevolutionäre wurden festgenommen, während die Kanoniker eine Entschädigung von 300 Gulden erhielten.32 Als weitere Besänftigungsmaßnahme der Bürger wurde ein evangelisch gesinnter Pfarrer bestellt, kein anderer als der bereits erwähnte Friedrich Mekum aus Lichtenfels, genannt Mykonius,33 dem wir die plastische Schilderung der Pfingstereignisse des Jahres 1524 verdanken, Ereignisse, die er, da er erst am 15. August sein Amt antrat, möglicherweise gar nicht als Augenzeuge erlebt haben dürfte. In der Folgezeit reformierte er das Kirchenwesen in Gotha, eröffnete die durch den „Pfaffensturm“ in Mitleidenschaft gezogene Stiftsschule der Marienkirche wieder und traf eine Maßnahme, die die Geistlichen aufs Härteste traf: die Pfaffen durfften nimmer Huren bey sich haben: Es mussten auch andere, die an der Unehe sassen, sulch öffentliche Laster abstellen.34 Noch im Herbst des gleichen Jahres traf sich Mekum/Mykonius mit dem berühmtesten Bürger Gothas, Mutian. Dieser, immer zu einem Kalauer aufgelegt, begrüßte den neuen Prediger, ihm die rechte Hand hinstreckend, mit den Worten: Magnificate Dominum mecum (Mekum), was heißen kann Rühmt den Herrn mit mir oder Rühmt den Herrn, Mekum. Nach einem Austausch frommer Floskeln verabschiedete sich Mykonius. Gegenüber dem Empfänger seines Briefes, dem kursächsischen Kanzler Gregor Brück, in dem er diese Begegnung schilderte, drückte Mykonius die Hoffnung aus, dass sich der berühmte Gelehrte doch noch der Reformation anschließe.35 Zu einer Freundschaft, geschweige denn zu einem Bekenntnis Mutians zur Reformation kam es aber nicht. 31 MYKONIUS, Historia Reformationis, S. 119: „Etlich des Raths, und sonderlich die Fürnehmsten, hatten Gefallen daran, wehreten nicht eh, denn da der Schad geschah: sahen durch die Finger.“ 32 MYKONIUS, Historia Reformationis, S. 119: „Denn als der Churfürst Hertzog Johannes diesen Frevel erfuhr, und die Pfaffen klagten, wurden über hundert gefangen und eingesetzt. Aber endlich wurd der Schad an ein Geld geschlagen, das erstlich eine grosse Summa war … dass eo anno die Sach dahin getheidigt war, dass man den Pfaffen dreyhundert Fl. für allen Schaden gab, und wart also bericht.“ 33 Literatur zu Mykonius: SCHERFFIG, Friedrich Mekum von Lichterfels; DELIUS, Der Briefwechsel des Friedrich Mykonius; ULBRICH, Friedrich Mykonius (1490–1546). 34 MYKONIUS, Historia Refomationis, S. 119. 35 DELIUS, Der Briefwechsel des Friedrich Mykonius, Nr. 4 (Mykonius an Gregor Brück), S. 11: „Data dextera ita inquiens: Magnificate dominum mecum (Mecum ut nostri [sic] meum cognomen est), cui cum responderem: faciam pro viribus, quas monstrabit is, cuius agimus causam, Christus. Rursus intulit et exaltemus nomen eius in id ipsum. Respondi hunc solum decet laus, honor et gloria, et exaltet illum omnis creatura, sicque cum pace discessimus. Haec ideo te latere nolui, vir ornatissime, quoniam scio, quam fervide optet Christianus tuus animus, ut Mutianus evangelio bene velit. Bene vult: det Dominus, ut quandoque ponatur lumen hoc super candelabrum, quod fiet, cum placuerit Domino.“

DER BAUERNKRIEG UND MUTIAN

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„Der Schrecken eines anderen Sturms“ – Der Bauernkrieg und Mutian

DER BAUERNKRIEG UND MUTIAN

Der Bufleber Bierkrieg und der anschließende „Pfaffensturm“, ein Drama, dem man wenigstens im Rückblick in seinem ersten Akt komisch-burleske Züge nicht absprechen kann, war aber nur ein Vorspiel zu einer viel größeren Bedrohung, diesmal nicht von lokaler, sondern nationaler Bedeutung. Bereits am 30. Juli 1524, also zweieinhalb Monate nach diesem Ereignis, klagte Mutian in einem Brief an Joachim Camerarius: Allerdings bricht der Schrecken eines anderen Sturms herein.36 Bei dem Schrecken eines anderen Sturms handelte es sich um den deutschen „Bauernkrieg“ der Jahre 1524/25.37 Es war der verzweifelte Aufstand der durch Frondienste und hohe Abgaben aller Art weitgehend verarmten und rechtlos gewordenen Bauern gegen Adelige und Feudalherren, zu denen auch die Kirche und Klöster gehörten. Dieser Erhebung der Bauern, Handwerker und teilweise auch Stadtbürger, in der sich soziale, radikalreformatorische und politische Anliegen verwoben, waren lokale Aufstandsversuche wie die Bewegung des Bundschuh und des Armen Konrad im Süden und Südwesten Deutschlands vorausgegangen. Zwischen 1524 und 1525 erfasste die Erhebung die meisten, wenn auch nicht alle Teile Deutschlands.38 In ihrer Wut zerstörten und verwüsteten die aufgebrachten Bauern zwischen 1524/25 mehr als 1.500 Burgen und Klöster. Betroffen von dem Aufstand wurde auch Thüringen, wo Thomas Müntzer, der ehemalige Prediger von Zwickau und charismatische Bauernführer, in dem gleichen Jahr, in dem Mykonius als Prediger zu Gotha angestellt wurde, also 1524, seine Wirkungsstätte von Allstedt in das nur 40 Kilometer von Gotha liegende Mühlhausen verlegt hatte.39 Die Gefahr, dass auch Gotha wie zahlreiche andere thüringische Städte von den aufrührerischen Bauern eingenommen würde, war also durchaus real. Dass es aber als eine der wenigen Städte Thüringens von den Übergriffen der aufrührerischen Bauern 36 GILLERT Nr. 622 (Mutian an Camerarius, 30. Juli 1524): „Sane horror quidem ingruit alterius tempestatis.“ 37 Ich setze den Begriff in Anführungsstriche, da an diesen Aufständen nicht nur Bauern, sondern auch Handwerker und sogar Stadtbürger teilnahmen. Aus diesem Grunde benutzt BLICKLE auch den Begriff „Die Revolution von 1525“. Zu dem Aufstand in Thüringen vgl. die Aufsatzsammlung von VOGLER (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringerwald, und knapper: BAUER, Der Bauernkrieg in Thüringen 1525 (Thüringen. Blätter zur Landeskunde, 1997); JONSCHER, Bauernkrieg in Thüringen; FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, 238 ff. 38 Vgl. SCHORN-SCHÜTTE, Die Reformation, S. 57: „Unberührt blieben der Norden und Nordwesten, aber auch solche Kernlandschaften wie das Herzogtum Bayern und das Königreich Böhmen.“ 39 JONSCHER, Der Bauernkrieg in Thüringen, S. 16.

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verschont blieb, war das Verdienst des Mykonius. Als nämlich über 4.000 aufständische Bauern sich im nahe bei Gotha gelegenen Ichtershausen versammelt und dort ihre Forderungen in zehn Punkten formuliert hatten, eilte er in dieses Dorf und hielt eine flammende Rede, wodurch ein Übergreifen der wütenden Bauern auf die Stadt Gotha verhindert wurde. Über seine Rolle in dieser Angelegenheit berichtete der beredte Pfarrer mit evangelischer Bescheidenheit in seiner Historia Reformationis: Und wiewohl ich der allergeringsten einer gewesen, so muß ich doch die Werk Gottes durch mich, wie Paulus, auch rühmen. In der Bäuerschen Aufruhr hat Gott durch sein Wort diese Stadt Gotha und die Pfleg, dass sie nit aufrührisch wurden, erhalten. Den Haufen Bauern zu Ichtershausen beredet und zertrennet ich mit einer Oration, dass sie abzogen und niemand Schaden täten.40

Zwar hatte Mykonius Verständnis für die Forderung der Bauern, wollte aber wie Luther ihre Lage „von oben“ reformieren.41 Offene Gewalt lehnte er ab. Dennoch konnten weder feurige orationes lutherischer Geistlicher noch Luthers Pamphlet Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern vom April 1525 den Aufruhr beenden. Niedergeschlagen wurde er in Thüringen schließlich im Mai 1525 von einer Koalition von Territorialherren, die von Philipp von Hessen und Georg von Sachsen angeführt wurden, in der Schlacht bei Frankenhausen. 5.000 Aufständische fanden dabei den Tod. Thomas Müntzer wurde zusammen mit mehr als 50 Anführern in Mühlhausen hingerichtet. Sein Kopf wurde aufgespießt und öffentlich zur Schau gestellt. Insgesamt sollen in Deutschland mehr als 70.000 Rebellen gefallen oder ermordet worden sein. Den Überlebenden bürdeten die Sieger überzogene Schadenersatzgelder oder Strafgelder auf, die tatsächlich oft die Summe der angerichteten Schäden überstiegen.

40 MYKONIUS, Historia Reformationis, S. 45 f. 41 Das hatte er schon bei seiner durchaus von Verständnis geprägten Beschreibung des Gothaer „Pfaffensturms“ durchblicken lassen: „Als die Pfaffen so ein wüst Wesen mit Hurerei und allerlei Schande hie führeten, das Evangelion neulich ein wenig hie angegangen war, mochten etliche Prediger, die der Sache noch nicht gründlich berichtet, auch vom Volk noch nicht gründlich verstanden, gesagt haben in öffentlicher Predigt: Man soll einmal oben am Berg, das das Stift lag und die Dompfaffen wohneten, anheben und heraber alle Huren zur Stadt auskehren etc. Und der arme gemeine Mann verstand nicht, dass solches den Regenten und durch ordentliche Wege gebührte und gesagt wäre, und meineten, es gehöre ihnen zu.“ MYKONIUS, Historia Reformationis, S. 94. Genau so reagierte Luther in Bezug auf die politischen Forderungen der Bauern/Bürger in Erfurt: „Wo man einem Rat nicht vertraut, warum setzt man einen und lässt nicht vielmehr keinen sein. Das ist ja der Rat nicht Rat, sondern der Pöbel alles regiere und der Wagen die Pferde führe und die Pferde den Fuhrmann zäumen und traben.“ Zitiert in FRANZ, Der deutsche Bauernkrieg, S. 248.

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Mykonius’ beherztes Auftreten bei Ichtershausen blockierte zwar einen Angriff auf die Stadt Gotha, hinderte die Bauern in der Umgebung der Stadt aber nicht daran, die wohlhabenden Klöster Reinhardsbrunn und Georgenthal zu zerstören. Die heimatlos gewordenen Mönche Georgenthals zusammen mit den Mönchen aus Reinhardsbrunn fanden nach der Zerstörung ihrer Kloster, so berichtete Urban, auf Geheiß des großzügigen Johannes Grefendorf in Gotha in dem dortigen Augustinerkloster Zuflucht.42 Die Bauern stellten ihre Naturalienleistungen an das Gothaer Marienstift Stift, zu denen sie seit 1344 verpflichtet waren, ein. Von dieser Weigerung wurde auch Mutian als Angehöriger des Stifts betroffen. Möglicherweise war bei dem vorausgehenden Gothaer „Pfaffensturm“ Mutians Haus verschont geblieben, da er in der Stadt im Gegensatz zu seinen Mitkanonikern ein hohes Ansehen genoss.43 In dieser Lage, inmitten der Schrecken des Bauernkrieges und der persönlichen Verluste schrieb Mutian einen Brief an den Kurfürsten Friedrich den Weisen, in dem er mit drastischen Worten seine gegenwärtige Situation schilderte. Meine Seele ist betrübt bis an den Tod – so gewaltsam, wild und grausam verheert und verwüstet das rohe Landvolk ohne Sitte, Gesetz und Religion die heiligsten Tempel unseres Gottes … Die umherirrenden Nonnen und flüchtigen Priester, die nicht freiwillig, sondern aus Furcht vor den Steinwürfen der Kirchenschänder ihre geweihten Wohnungen verlassen haben, bieten ein jämmerliches Schauspiel.44

Diesen allgemeinen Beobachtungen folgte eine plastische Beschreibung seiner jetzigen Lage: 42 GILLERT Nr. 625 b (Urban an Georg Spalatin, 6. März 1526): „Ceteri monastae Georgiani die purificationis Marianae iussu generosi Ioannis Grefendorfii Gotham commigrarunt illic in cenobio Augustinensium una cum Reinhartzbornensibus et Aurelianis vitae reliquum acturi.“ Von dort sind sie schließlich nach Erfurt in den Georgenthaler Hof, den Urban verwaltete, übergesiedelt. 43 Dagegen: SCHERFFIG, Friedrich Mekum von Lichtenfels, S. 54: „Auch Mutian verlor dabei seine Habe.“ Anders: ANZ, Humanismus und Reformation in Gotha, S. 174: „Das Stiftsviertel wurde gestürmt. Mutians verhasste Gegner wurden verjagt, ihre Dirnen wurden herausgeschleppt. Mutian selbst blieb unbehelligt. Er hatte dem Volke nichts zuleide getan, sich nicht vergangen, sich die Achtung Gothas erworben. Man ließ ihm sein stilles Heim.“ Hinweise, dass Mutians Haus zerstört wurde, gibt es in seinen Briefen tatsächlich nicht. 44 GILLERT Nr. 625 (Mutian an Kurfürst Friedrich von Sachsen, 27. April 1525): „Tristis est anima mea usque ad mortem: ita violenter, ita atrociter, ita crudeliter barbarus et agrestis populus sine more, sine lege, sine religione sanctissima Dei nostri templa depopulatur et devastat. … Miserrimum praebent sui spectaculum errantes sanctimoniales, vagi sacerdotes non sponte, sed terrore lapidantium et sacrilegorum sua sacra domicilia relinquentes.“ Der Brief ist ins Deutsche übersetzt von Winfried TRILLITZSCH, Der deutsche Renaissance-Humanismus, S. 323–325. Ich benutze dessen Übersetzung.

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XII. MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

Ich Beklagenswerter und Unglücklicher bin in meinem Alter und mit weißem Haar gezwungen, betteln zu gehen, und muss unter den großmütigsten und ruhmvollsten Fürsten bei äußerstem Mangel an allem Notwendigsten vor Kummer und Sorge sterben.45

Die Option, einfach wegzulaufen, zu fliehen, habe er als alter und gesundheitlich angeschlagener Mann nicht. In dem Gotha, in dem er jetzt schon seit 22 Jahren unbescholten gelebt habe, wolle er alt werden, aber jetzt fehle ihm das Nötigste zum Leben. Die Abgaben an die Kleriker sind aufgehoben. Wovon soll ich Armer leben? Erlauchtester Fürst, ich werde mit wenigem zufrieden sein, doch soll mein Haus ehrenvollen und gelehrten Gästen offen stehen. Brot soll es geben und ein wenig Geld für Lebensmittel. Ich gebe zu: Ich bin in nicht geringe Schulden geraten; denn volle vier Jahre hat Gerstungen nichts abgegeben, ist mir kein Brotgetreide geliefert worden. Ich muss das Brot beim Bäcker, den Wein von der Stadt kaufen.46

Und dann verfällt der einst so stolze Mutian, der mehrmals ehrenvolle Angebote des Kurfürsten, an seinen Hof zu kommen, abgelehnt hatte, dem er trotz wiederholter Bitten Spalatins selten geschrieben hatte, in einen unterwürfigen Ton und schreibt Sätze wie: Ich verehre demütig bittend Deine Fußspuren und falle Deiner Gnade zu Füßen. Mein Heil ruht in Deiner Hand, Herr; ich werde Dir ein Unterpfand meines dankbaren Herzens hinterlassen. Ich will vor der Nachwelt bezeugen, dass ich durch die Wohltaten des erhabenen Schwertträgers, des frommen Friedrich und seines hilfreichen Bruders unterstützt worden bin.47

Die Auflösung der Stifte in Eisenach und Gotha scheint Mutian als irreversibel zu akzeptieren, möchte aber wenigsten für sich gewissermaßen eine Sonderregelung.48 Ihn, der doch so einfach und alt sei, möge man doch in seinem Haus, der BEATA TRANQUILLITAS, das er schließlich selbst gekauft und mit Büchern geschmückt habe, der sicherste Schutz seines Greisenalters, bis zu seinem Tode 45 GILLERT Nr. 625: „Ego miserabilis et calamitosus iam senescens et cano capite cogor mendicare, cogor sub liberalissimis et laudatissimis principibus in summo rerum omnium defectu prae anxietate mori.“ 46 GILLERT Nr. 625: „Census clericorum sublatus est. Unde miser vivam? Excellentissime princeps, paucis ero contentus, tamen honestis et eruditis hospitibus domus mea pateat. Sit panis, sit parum pecuniolae pro obsoniis. Incidi, fateor, in debita non parva, nam toto quadriennio nihil pensitavit Gerstunga, nihil frumenti datum est. Emo panes pistoris, vinum civitatis.“ 47 GILLERT Nr. 625: „Adoro supplex vestigia pedum tuorum, accido ad genua clementiae tuae. Mea salus in manu tua, domine, relinquam grati animi mei pignus. Testabor apud posteros adiutum me beneficiis augusti ensiferi pii Friderici et fratris humanissimi.“ 48 GILLERT Nr. 625, S. 307: „Quod si canonicorum collegia tam Eisennachi quam Gothae nunquam sint resurrectura, liceat tum mihi simplicissimo et valde infirmo in hac tranquillitate, quam emi, quam libris ornavi, quam senectutis meae tutissimum receptaculum putavi, in finem usque vitae manere.“

DER BAUERNKRIEG UND MUTIAN

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wohnen lassen. Unter dem Schutz der Flügel des Kurfürsten wolle er den Rest seines Lebens sicher und ohne Furcht verbringen.49 Er werde durch Sanftmut, Geduld, christliche Nächstenliebe, sein Vorbild und seinen frommen Charakter evangelische Grundsätze und christliche Lebensregeln nicht aufhören den Gläubigen zu lehren.50 Außerdem habe er vor, die Erinnerung an Friedrichs Tugend öffentlich zu rühmen.51 Mutians Zusicherung, den Kurfürsten durch ein Werk zu verewigen, dürfte ein leeres Versprechen gewesen sein. Ein derartiges Unternehmen wäre ihm, der sich zeit seines Lebens geweigert hatte, etwas zu veröffentlichen, auch völlig fremd gewesen. Die praktischen Einzelheiten einer jährlichen Pension (provisio annua) aus der Hand Friedrichs wolle er im übrigen Spalatin überlassen.52 Es ist unwahrscheinlich, dass Friedrich den Brief überhaupt noch gelesen hat. Am 27. April 1525 hatte Mutian das Schreiben verfasst, am 5. Mai starb der Kurfürst. Zwei Monate später, am 28. Juni 1525, wandte sich Mutian mit einem weiteren Schreiben an den kursächsischen Kanzler Gregor Brück. Darin schilderte er detailliert die ihm zugefügten Einkommensverluste und bat den Adressaten, die Besitztümer und Pfründe zu schützen, die er verliehen bekommen habe. Die Klage über die falschen (lutherischen) Propheten verband er mit der Versicherung, dass er kein „Papist“ sei, wohl wissend, dass dieses Wort in Wittenberg längst eine pejorative Bedeutung angenommen hatte: Ich bin niemals vom Evangelium abgewichen, habe mich niemals den wütenden Theologen angeschlossen. Ich bin kein Papist. In Ferrara habe ich nur den Doktorgrad in päpstlichen (kirchlichen) Recht erworben und in Erfurt den Magistergrad als jemand, der von Natur aus ein einfacher Mensch ist, fern jedes eitlen Ruhmes. Der Papst gab mir nichts.53

Antipäpstlich bedeutete freilich noch lange nicht prolutherisch, und das war auch den Wittenbergern klar. Der Brief an den Kurfürsten Friedrich war ein Bittbrief. Gleichzeitig enthielt er aber auch eine Analyse, die ein bezeichnendes Licht auf Mutians politisches 49 GILLERT Nr. 625: „… ut sub umbra alarum reliquum aetatis sine timore securus agam.“ 50 GILLERT Nr. 625: „… ego mansuetudine, patientia, charitate et bonis exemplis, sanctis moribus, evangelicis institutis et Christiana regula docere fideleis, quoad vixero, non desinam.“ 51 GILLERT Nr. 625: „Celebrandam venerandamque memoriam virtutis vestrae in animo habeo.“ 52 GILLERT Nr. 625: „De qua re plenius ad Spalatinum nostrum scripsi. Ordinabit, spero, mihi tua pia sapientia provisionem annuam, ut sub umbra alarum tuarum reliquum aetatis sine timore securus agam.“ 53 GILLERT Nr. 626 (Mutian an Gregor Buck, 28. Juni 1525): „Ego numquam recessi ab evangelio, nunquam accessi furiosis theologis. Non sum papalis. Tantum Ferrariae accepi iuris pontificii titulum et Erfordiae magisterium homo natura simplicissimus et ab omni vana gloriae remotus. Nihil papa dedit.“

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XII. MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

Denken in dieser Zeit wirft; denn in den Bauernkriegen sah er nicht einen Aufstand der unterdrückten und entrechteten Landbevölkerung, sondern eine von Reichstädten und Juden angestachelte Verschwörung gegen den Adel und die kirchliche Hierarchie, deren Ziel es ist, eine Demokratie, wie sie im alten Griechenland und in Venedig praktiziert worden war, zu errichten.54 Nach Mutian trifft nun das ein, wovor er schon im Rahmen der Reuchlin-Affäre gewarnt hatte,55 als er gesagt hatte, dass alles in Chaos versinken würde, wenn man die kirchlichen Geheimnisse lüfte. Mutian sieht also in den Bauernunruhen mehr als soziale Unruhen, er sieht in ihnen einen Angriff auf die herrschende politische Ordnung. Mutian sollte seinen Landesfürsten um ein knappes Jahr überleben. War er in dieser Zeit tatsächlich „ein abgehärmter, müder Mann, der lange Zeit dem bittersten Mangel preisgegeben, ohne dass sich eine rettende Hand nach ihm ausgestreckt und ihm geholfen hätte“, wie ihn ein Historiker des 19. Jahrhunderts schilderte?56 Diese dramatische Beschreibung der letzten Monate Mutians entspricht nicht ganz den Tatsachen; denn die missliche wirtschaftliche Lage Mutians blieb seinen Freunden keineswegs verborgen, und „rettende Hände streckten sich“ durchaus nach ihm aus. Gerade diejenigen, die sich anders als Mutian dem lutherischen Glauben zugewandt hatten, seine alten Freunde, machten sich Sorgen um ihn. So schrieb sein Neffe Justus Menius, seit 1525 nach Posten in Wittenberg und Mühlberg als lutherischer Prediger in Erfurt tätig,57 im Juni 1525 einen Brief an seinen Gothaer Amtskollegen Friedrich Mykonius. Sich für die Schroffheit (importunitas) und Härte (duritia) seines Onkels

54 GILLERT Nr. 625 (Mutian an Friedrich den Weisen), S. 307: „Nam mea ingenua simplicitas studiis tranquillissimis dedita non potuit aliquid mali suspicari, etsi ex literis et sermone prudentissimorum cognoscerem imperii civitates occultis insidiis et dolis per speciem evangelii instigare rusticam multitudinem et miris artibus adiuvantibus Iudeis conari extinguere principaleis et illustres familias et una cum episcopis opprimere velle non solum episcopatus, sed etiam principatus omnes, ut scilicet exemplo Venetorum et antiquorum Graecorum popularis status et democratia praevaleret.“ 55 GILLERT Nr. 251 (Mutian an Urban, Ende März 1513): „Nullo tamen modo debemus enunciare mysteria aut infirmare opinionem multitudinis, sine qua neque caesar imperium neque pontifex ecclesiam neque nos diu nostra retineremus. Omnia revolverentur in chaos antiquum. Non leges et boni mores, sed vis et libido dominaretur.“ 56 STIEHLER, Kloster und Ort Georgenthal, I, S. 79. 57 Justus Menius (1499–1558) immatrikulierte sich 1514 an der Universität Erfurt (BA 1515; MA 1516), wo er in dem Kreis um Eobanus Hessus zu finden ist. Nachdem er 1519 nach Wittenberg gezogen war, schloss er sich unter dem Einfluss Melanchthons und Luthers der reformatorischen Bewegung an. Vgl. SCHMIDT, Justus Menius, der Reformator Thüringens; WAGENMANN, Menius, Justus, in: ADB, 21, S. 354–356; KAWERAU, Menius, Justus, in: RE, 12, S. 577–581.

DER BAUERNKRIEG UND MUTIAN

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entschuldigend,58 bat er den Gothaer Geistlichen, sich dafür zu verwenden, dass die Bauern in voller Höhe ihr Getreide an Mutian ablieferten.59 Auch Eobanus Hessus wandte sich am 29. April 1525 an Spalatin mit der Bitte, seine einflussreiche Stellung am kurfürstlichen Hofe dazu zu benutzen, unserem Rufus beizustehen.60 Hessus ist sich durchaus bewusst, dass Spalatin sehr behutsam handeln muss, da Mutians wenig lutherfreundliche Position am kurfürstlichen Hofe bekannt sei. Wage, Spalatin, Mutian zu schützen, denn Du kannst das, und da Du es kannst, musst Du es auch tun,61 ermahnte er ihn. Spalatin, der bis zuletzt seinem verehrten Lehrer die Treue hielt, spielte in der gesamten Hilfsaktion sicherlich ein Schlüsselrolle, denn aufgrund seiner Fürsprache erhielt Mutian von dem Nachfolger Friedrichs des Weisen, von dessen Bruder Johann, die nicht ganz unbeträchtliche Summe von 50 Gulden.62 Dass Mutian diesen Betrag tatsächlich erhielt, geht einmal aus einer Empfangsbestätigung hervor, die Mutian eigenhändig am 1. März 1526 an den kurfürstlichen Kammermeister schrieb,63 zum anderen aus einem Brief Urbans an Spalatin vom 6. März.64 Ob dabei an eine einmalige Zahlung oder an eine jährliche Pension gedacht war, war nicht klar. Urban jedenfalls drückte seine Hoffnung aus, dass es sich um letzteres handelte: Oh dass es doch um eine ständige Gunst gegenüber Mutian, einem zwar armen aber äußerst unbescholtenen Mensche, gehe.65 Letztlich war es auch irrelevant, denn drei Wochen nach Erhalt dieser Pension starb Mutian.

58 GILLERT 625c (Iustus Menius an Friedrich Mykonius, 24. Juni 1525): „Homo est, humano more et sentit et loquitur et agit.“ 59 GILLERT 625c: „Tu itaque per me, per nostram amicitiam exoratus age apud rusticos messem avunculo integram impetres.“ 60 GILLERT Nr. 625a (Eobanus Hessus an Georg Spalatin): „Peterem, nostro Rufo … non deesses.“ 61 GILLERT Nr. 625a: (Eobanus Hessus an Spalatin, 29. April 1525): „Aude, Spalatine, Mutianum servare, namque potes, et quia potes, debes.“ 62 Spalatin schrieb an den Kurfürsten Johann: „Betreffen Doctor Muethen wollen wir ewrs schreiben eingedenck sein vnd, so vil sich leiden will, gerne gnediges einsehen haben.“ Zitiert bei GILLERT, II, S. 306, Anm. 3. 63 Den Hinweis auf dieses Autograph, das sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet (Gotha, Chart. A 1918 B, fol. 48/rv), verdanke ich Herrn Professor Christoph Fasbender, Chemnitz. 64 GILLERT Nr. 625b: „Donavit princeps elector Mutiano nostro … quinquaginta aureos, quae res supra modum me recreavit.“ 65 GILLERT Nr. 625 b (Urban an Spalatin, 6. März 1526): „Utinam diuturnus sit iste favor in Mutianum, hominem pauperem, sed integrissimum.“

XII. MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

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4.

Mutians Tod – vier Versionen

MUTIANS TOD – VIER VERSIONEN

Am 11. April 1526 meldete Philipp Melanchthon nüchtern in einem Brief an Joachim Camerarius, Mutian sei am Tage vor Ostern morgens tot im Bett aufgefunden wurden. Das habe ihm Draco geschrieben.66 Johannes Draconites, eigentlich Drach oder Trach (um 1494–1566) war damals Pastor in Waltershausen bei Gotha,67 außerdem gut befreundet mit dem Gothaer Pastor Friedrich Mykonius, der, wie wir sahen, Mutian persönlich kennengelernt hatte, und deshalb vermutlich über dessen Befinden gut unterrichtet war. Melanchthons Nachricht vom einsamen Ende Mutians ist aber nur eine der vier unterschiedlichen und sich widersprechenden Versionen über dessen Lebensende. Verwunderlich ist nämlich, dass der gleiche Mykonius im April 1526 an Gregor Brück einen Brief über die näheren Umstände von Mutians Tod schrieb, einen Brief, der in wesentlichen Punkten von der Version Melanchthons abwich. Dieser Brief ist allerdings nur als Zitat in Spalatins Diarium erhalten. Darin heißt es: Schon in meinen vorigen Briefen habe ich Dir den Tod des hochgebildeten Mutian angedeutet. O, dass doch dieses Licht noch weiterhin geleuchtet hätte, wenn auch nicht allen, so doch vielen, und zwar den Gebildetsten und durch diese anderen. Aber wir sollten akzeptieren, was Christus Wille war, dessen Wunsch sich dieser Mann, der die Ruhe und den Frieden liebte, ganz unterwarf.

Zum Beweis dient, dass er am Tage vor seinem Tode, wie von plötzlichem Drang beseelt, die Feder nahm und schrieb: Vieles weiß der Bauer, was der Philosoph nicht weiß. Christus aber ist für uns gestorben. Er ist unser Leben. Das glaube ich gewiss. Vor seinem Tode widmete er sich mit ganzem Herzen der Lektüre der Mysterien des Neuen Testaments. Gott sei also Lob und Gnade, dass so ein Mann vor dem Tode begriff, dass allein der Glaube an Christus die Gläubigen rechtfertigt und in dessen Namen rettet.68

66 Melanchthon an Joachim Camerarius. In: Corpus Reformatorum, I, Sp. 494: „Mutianus pridie Paschatos in lecto mane repertus est mortuus. Id huc Draco scripsit.“ 67 FROMM, Draconites, Johannes, in: ADB, 5, S. 371; KÄHLER, Draconites, Johannes, in: NDB, 4, S. 95; SCHEIBLE, Johannes Draconites. Ein Gelehrter der Reformationszeit, S. 41. 68 SCHELHORN, Amoenititates literariae, IV, S. 429 f.: „Mutiani doctissimi viri mortem jam prioribus literis meis significavi candori tuo. Utinam haec lux, adhuc luceret, si non omnibus, multis tamen, atque iis doctissimis, & per hos aliis! Sed placeat nobis, quod placuit Christo, cujus se voluntati vir ille, tranquillitatis ac pacis amator, totum subjecerat. Argumento est, quod priori die sedens certaminis arrepto calamo ita scripsit: ‚Multa scit rusticus, quae philosophus ignorat: Christus vero nobis mortuus est, qui vita nostra: quod certissime credo.‘ Et ante mortem toto pectore se dedit ad pellegendum mysteria Novi

MUTIANS TOD – VIER VERSIONEN

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Abgesehen davon, dass Mutian, der stets für die Gebildeten in religiösen Fragen einen Sonderstatus beanspruchte, plötzlich dem Bauern eine höhere Weisheit zugestanden haben soll, gibt es noch aus ganz anderen Gründen Zweifel an der Authentizität des Berichts. Mutians lutherisch klingendes Bekenntnis auf dem Sterbebett, dass der Mensch allein durch den Glauben „gerechtfertigt werde“, legt nahe, dass Mykonius, der sich, wie wir sahen, vorher bemüht hatte, den Kanoniker ins lutherische Lager zu ziehen,69 diesen Satz erfunden hat. Jedenfalls reichte Spalatin Mykonius’ Brief, den er von Brück erhalten hatte, an Luther weiter, und dieser schrieb am 2. Mai befriedigt an Spalatin: Dass Mutian so gestorben ist, wie Du schreibst, höre ich gern,70 wobei sich das „so“ (ita) nur auf das christlich sanfte, von Mykonius geschilderte Sterben Mutians beziehen kann. Luther sollte sich später in einem ganz anderen Ton über Mutians Tod äußern (siehe unten). Abweichend von Melanchthon nannte Spalatin den Karfreitag 1526, also nicht den Karsamstag wie Melanchthon als Mutians Todestag.71 Dieser fiel in diesem Jahr auf den 30. März. Noch verwirrender wird die Lage schließlich durch eine dritte, noch ausführlichere Variante über Mutians letzte Stunden. Aus dem fernen Preußen, wo er seit 1524 im Dienste des Herzogs Albrecht von Brandenburg-Ansbach stand, meldete Crotus Rubeanus am 13. Juni 1527, also mehr als ein Jahr nach Mutians Tod, seinem Freund Joachim Camerarius: Sein [Mutians] sterbliches Leben hat er in Unsterblichkeit beendet; denn zweifelsohne ist er in die ewige Seligkeit aufgenommen worden. In der Hoffnung darauf führte er einen frommen Lebenswandel. Und dann schilderte Crotus, als ob er selbst Augenzeuge gewesen sei, die näheren Umstände von Mutians Tod: Bei zunehmender Schwäche sagte er Tag, ja fast Stunde seines Todes voraus, und als er den Tod nahen fühlte, ließ er sich einige Trostpsalmen und Abschnitte aus den paulinischen Briefen über Christi Gnadenerweis und die Auferstehung vorlesen, betete dazwischen um Standhaftigkeit und Verachtung des Todes. Als er damit aufhörte, hörte man keine Angstrufe, er warf sich nicht unruhig hin und her. Mit göttlicher Hilfe überwand er die Bitterkeit des Todes. Er soll gesagt haben: „Erbarmer Christus, blicke auf Deinen

Testamenti. Deo igitur sit laus & gratia, tantum virum ante mortem assecutum cognitionem Christi, quae sola ut justificat, ita etiam salvat credentes in nomine ejus.“ 69 Vgl. den Brief vom Mykonius an Gregor Bruck vom 10. Oktober 1524, in: GILLERT, II, S. 302, Anm. 2, und DELIUS, Der Briefwechsel des Friedrich Mykonius, Nr. 4, S. 10 f. 70 WA Br, 4, Nr. 1007, S. 69: „Mutianum ita defunctum, libentiss[ime] audio, vti scribis.“ 71 SCHELHORN, Johann Georg: Amoenitates literariae, IV, S. 429: „In mense Aprile die XXX, quae fuit hoc anno dies passionis dominicae, obiit D. Chuonradus Mutianus Rufus.“

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XII. MUTIANS LETZTE JAHRE UND TOD

Knecht“, und nachher‚ „Dein Wille geschehe“. Das war das letzte Wort. Dann entschlief er und lag ruhig wie ein Schlafender, nicht wie ein Toter.72

Musste man schon Mykonius’ Bericht mit großer Skepsis betrachten, so sind erst recht Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Darstellung, für die Crotus keinerlei Quelle angibt, erlaubt. Was aber sollte das Motiv des Crotus für seine ausschmückende Darstellung gewesen sein? In der abendländischen Kultur gibt es eine lange Tradition, dass man den letzten Worten der Sterbenden besonderes Gewicht beilegt. Man erwartet ein Resümee, eine Bilanzaufnahme, die den wahren Kern eines Menschen erhellt. Die „letzten Worte“ haben eine besondere Bedeutung, wie Karl Guthke in einer lesenswerten und unterhaltsamen kulturgeschichtlichen Studie beobachtet: „Die vielen Anthologien christlicher Sterbefälle, von berühmten und unbekannten, belegen es immer wieder in trister Eintönigkeit: diese Gläubigen, ob nun lebenslange Heilige oder beim Klang des Sterbeglöckchens zu Kreuze kriechende Sünder, waren sich nie im unklaren darüber, was im letzten Moment zu sagen war. Originalität wurde nicht erwartet auf dem Sterbebett. Mehr oder weniger verbindlich war es vielmehr, Christi Worte am Kreuz zu wiederholen: ‚In Deine Hände befehle ich meinen Geist.‘ 73 „Mit dem Befehlen des Geistes in die Hände des Herrn im letzten Wort besiegelte der Sterbende seine Versöhnung mit dem Schöpfer. Da der Mensch definitionsgemäß sündig war, war eine solche Versöhnung ausnahmslos nötig.“74 Mit einer ganz ähnlichen Formulierung ‚Dein Wille geschehe‘ aus dem Vaterunser wandte sich nun nach Crotus’ Bericht Mutian, der sich dem traditionellen Christentum weitgehend entfremdet hatte, an Gott. Auch hier liegt also der Verdacht nahe, dass Crotus (oder wer auch immer ihm diese Schilderung übermittelt hat) die Szene erfunden oder zumindest stark ausgeschmückt hat. Das Leben eines so bedeutenden Mannes durfte nicht auf so einfache und nüchterne Art, wie sie Melanchthon überliefert hatte, verklingen. Beispiele aus der Literatur für ein derartiges post72 Hessus, Helius Eobanus, Tertius libellus epistolarum. Leipzig 1561, S. F4b f.: (Digital. Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek (VD 16, C 410), S. F5: „Terminavit ille vitam mortalem immortalitate, procul dubio exceptus in aeternam felicitatem, pro cuius spe uitam suam pijs moribus instituit.“ S. F4b f.: „Ingrauescente infirmitate ne dum diem, sed ferme mortis horam praedixit, quo appetente iußit recitari Psalmos aliquot consolatorios, nunc aliquid ex Epistolis Pauli de Christi beneficio, nunc de resurrectione mortuorum. Precabatur quandoque constantiam, mortis contemtum, cessante lectore, nulla audiebatur anxietas, nulla fiebat corporis hinc inde iactatio. Diuino auxilio domuit acerbitatem moriendi. Fertur dixisse, Christe miserator respice ad seruum tuum, & paulo post fiat voluntas tua, atque haec ultima uox fuit. Dein obdormiuit habitu corporis composito in modum sopiti non mortui.“ 73 GUTHKE, Letzte Worte, S. 65. 74 Ebd., S. 169.

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humes Kolportieren gibt es genug.75 Könnte nicht ein weiteres Motiv für ein derartiges Vorgehen in beiden Fällen gewesen sein, Mutians Reputation bei den Lutheranern zu verbessern? Während man ihn schon zu seinen Lebzeiten nicht zu einem Lutheraner machen konnte, so versuchte man es nach seinem Tode. Falls das aber tatsächlich die Absicht gewesen sein sollte, so dürfte sie nur vorübergehend den erhofften Erfolg gehabt haben, wie Luthers spontane Reaktion auf das fromme Ende des Gothaer Spötters gezeigt hatte. Sechs Jahre nach Mutians Tod verbreitete der Reformator nämlich eine ganz andere Version: Variante vier. In einem seiner Tischreden behauptete er, Mutian habe sich aus Verzweiflung über seine Armut selbst mit Gift getötet.76 Die von Mykonius berichtete und von ihm mit Wohlwollen aufgenommene Meldung über das fromme Ende des Kanonikers hatte er wohl vergessen. Die Nachricht vom Selbstmord Mutians dürfte hingegen ebenso falsch sein wie seine im gleichen Gespräch geäußerte Meldung, Mutian habe eine Schrift über seine irrigen religiösen Anschauungen hinterlassen, die er zu seinen Lebzeiten nicht zu veröffentlichen gewagt habe.77 Die ernüchternde Bilanz unserer Überlegungen: Wie Mutian starb, wissen wir nicht. Der einzige Augenzeuge, Mutians damaliger Famulus Johannes Marcellus,78 der tatsächlich beim Tode des Gothaer Kanonikers anwesend gewesen sein soll,79 schwieg. Je weniger man über Mutians letzte Tage und Stunden wusste, desto fantasievoller konnte man sie mit erfundenen „letzten Worten“ ausgestalten. 75 Vgl. ebd., bes. das Kapitel „Fleischpastete oder Vaterland: Authentisch oder ben trovato?“, S. 75 ff. 76 WA TR, 2, S. 627: „Tandem ob paupertatem desperans veneno se ipsum interfecit.“ (Nr. 2741a) und „Nam Doctor Muth, paupertate desperans, se ipsum veneno necavit.“ (Nr. 2741b). 77 WA TR, 2, S. 627: „Is post reliquit librum de sua religione, quem vivens non audebat prodere.“ (Nr. 2741a). Etwas abweichend: „… reliquens post se librum vanae suae religionis, quem vivens proferre non audebat.“ (Nr. 2741b). 78 Da er aus Königsberg in Franken stammte, wird er auch gelegentlich Regiomontanus genannt. Er sollte aber nicht mit dem weit berühmteren Astronom und Mathematiker Johannes Müller (1436–1476) verwechselt werden, der wegen seiner Herkunft aus dem gleichen fränkischen Ort ebenfalls Regiomontanus heißt. Nach dem Studium an der Universität Erfurt, wo er unter anderem bei Hessus hörte, immatrikulierte er sich am 16. November 1528 an der Universität Wittenberg. Hier erwarb er sich am 28. August 1534 den akademischen Grad eines Magisters und erhielt 1537 die Professur der lateinischen Grammatik und 1541 die Professur der Poetik. 79 Wie u.a. Camerarius in seiner Biographie des Hessus bezeugt: „… der vortreffliche Johannes Marcellus aus Königsberg …, der bei seinem Tod anwesend war und über seinen ganzen Besitz verfügte.“ BURKARD/KÜHLMANN, Narratio de Eobano Hesso, S. 72 f.: „Affirmante etiam hoc optimo & doctissimo viro Io Marcello Regiomontanus, qui adfuit quum moreretur, & in sua omnia illius potestate habuit.“ (Übersetzung von Burkard). Auch Spalatin behauptete das: „… qui lateri morientis accubuit Marcellus Regius.“ In: SCHELHORN, Amoenitates literariae, quibus variae observationes scriptae, IV, S. 430.

XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE NACHRUFE

1.

Reaktionen auf Mutians Tod

Ob die Nachricht von Mutians Tod „in dem ganzen gelehrten Deutschland einen tiefen Eindruck machte“, wie ein bekannter Historiker aus dem 19. Jahrhundert behauptete,1 darf man bezweifeln. Weder von Erasmus noch von Pirckheimer noch von einem anderen prominenten zu dieser Zeit lebenden deutschen Humanisten sind Reaktionen erhalten.2 Schon die widersprüchlichen Berichte über seine letzten Tage und Stunden legen die Vermutung nahe, dass Mutian relativ unbeachtet aus dem Leben geschieden ist. Anteilnahme an Mutians Tod zeigten lediglich einige seiner engsten Freunde. Crotus schrieb aus Preußen an Joachim Camerarius: Der Tod Mutians, über den Du nun auch schreibst, hat mich so schmerzlich ergriffen wie der meiner Eltern. Keines Menschen Freundschaft war mir je lieber, mit keinem verstand ich mich besser als mit ihm. Ich beklage nicht nur dessen Schicksal, sondern auch meines, dass ich so eines Freundes beraubt worden bin.3

In ähnlichem Sinne äußerte sich gegenüber seinem Mentor Hessus ein anderer, wenn auch weniger bekannter Schüler Mutians, Petrus Nigidius (1501–1583), Erfurter Student seit 1517 und noch 1525 Mutians Gast: Durch diese Nachricht, mein Eoban, … bin ich nicht anders erschüttert worden, als wenn ich erfahren hätte, dass meine Eltern und alle meine Brüder und Schwestern zur gleichen Zeit umgekommen seien. Traurigeres kann ich nicht sagen. Mutian hat mich noch im vergangenen Jahre so freimütig, so großzügig sowohl in seinem persönlichen Verkehr wie durch seine schriftlichen Äußerungen behandelt, dass ich heftig weinen musste, während ich bei einer Tischgesellschaft die Nachricht seines Todes erhielt.

Mutian sei des jetzigen Jahrhunderts Varro gewesen, so stilsicher, so lateinisch, so gelehrt habe er nach dem Zeugnis aller Gelehrten gesprochen – ein Kompli-

1 2 3

KAMPSCHULTE, Die Universität Erfurt, S. 237. So auch KRAUSE, Der Briefwechsel des Mutianus Rufus, S. LXV: „Mutians Tod ging ziemlich unbemerkt vorüber.“ Crotus an Camerarius in: HESSUS, Tertius libellus epistolarum Eobani et aliorum quorundum virorum, S. F4b: „Mutiani mors, de qua nunc etiam scribis, post parentum fuit mihi acerbissima. Nullius hominis unquam mihi extitit carior amicitia, aut morum similitudo convenientior. Doleo non illius sortem, sed meam ipsius, tanto amico privati.“

XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE ZEUGNISSE

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ment, denn in der Antike (und bei den Humanisten) galt Terentius Varro (116– 27 v. Chr.) als der bedeutendste Universalgelehrte.4 Andernorts, namentlich in Wittenberg wurde die Nachricht vom Ableben Mutians kühl aufgenommen, worauf schon die eher nüchterne Mitteilung Melanchthons über Mutians Tod hingedeutet hatte. Bereits Crotus hatte in seinem Brief an Camerarius angedeutet, dass einige nicht unbedeutende Männer auf die Nachricht von Mutians mit Spott reagiert hätten. Über die Gründe könne man nur spekulieren.5

2.

Literarische Zeugnisse

LITERARISCHE ZEUGNISSE

Seine engeren Freunde dagegen gedachten seiner mit den traditionellen humanistischen Formen der Gedächtniskultur: mit Gedichten in Form von Epicedien, Epitaphien und, mindestens in einem Fall, mit einem Hodoeporicon, einem Reisegedicht.

2.1 Epicedion des Helius Eobanus Hessus (1531) Nicht zu den Wittenbergern, die die Nachricht von Mutians Tod „mit Spott aufgenommen hatten“, gehörte Justus Jonas, Freund Mutians und lutherischer Theologieprofessor in dieser Stadt, wohin er nicht zuletzt 1521 aufgrund von dessen Empfehlung berufen worden war. Seinen Freund Hessus forderte er wiederholt auf, etwas über die Gelehrsamkeit und die Verdienste Mutians zu schreiben.6 Ebenso hatte Nigidius seinen Brief an Hessus mit der dringenden

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HESSUS, Epistolae familiares libri XII, S. 279 (nicht S. 276 wie im Original): „Quo nuncio, Eobane mi, non aliter commotus sum, quam si parentes, fratres, sorores omnes (nil possum dicere tristius) … simul extincti nuntiarentur. Porro tam candide liberaliterque et uerbis et scriptis anno superiore Nigidium tractavit, ut non potuerim non ubertim flere, dum etiam in convivio quopiam audirem e vivis Mutianum excessisse. Re vera Mutianus erat huius seculi Varro, tam proprie, tam latine, tam diserte loquebatur, testibus etiam doctis omnibus.“ HESSUS, Tertius libellus epistolarum, S. F4b: „Quamquam ad nuntium mortis eius [Mutiani] quidem gravissimi scilicet homines suspenso naso subriserunt. Qua de causa ipsi viderint, mihi suspicandi dicere non libet.“ KAWERAU, Der Briefwechsel des Justus Jonas, Nr. 121, S. 117 (1527 oder 1528): „… imo multo etiam magis notus posteritati, atque nobis fuit Mutianus noster, per te redderetur. Quare de denuo et obsecro et obtestor per Musas et Gratias, doctissimi atque optimi herois minibus quod debes ut praestes. Neque porro opus arbitror esse ad id negocii mul-

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Bitte geschlossen, er, Hessus, dessen Leichtigkeit in der Verfertigung von Versen bekannt war, solle dem Verstorbenen ein dauerndes Monument in Form einer Elegie errichten: Mach, ich bitte Dich, dass die Nachwelt erkennt, was für einen Mann wir als Zeitgenossen hatten. Durch diese Elegie rette den erinnerungswürdigen Menschen vor dem Unrecht des Vergessenwerdens. Kürze sei nicht angebracht, er könne ruhig etwas weitschweifiger sein, fügte er hinzu.7 Hessus ließ sich Zeit mit dem Verfassen eines Grabgedichtes; denn erst 1531, also fünf Jahre nach Mutians Tod, erschien das Werk in Nürnberg mit dem Titel In funere doctissimi viri Mutiani Rufi epicedion.8 Von den insgesamt dreizehn erhaltenen Epicedien, die Hessus im Laufe seiner dichterischen Karriere verfasste,9 ist dieses Trauergedicht mit seinen 224 Versen das umfangreichste.10 Zurückgreifend auf das Grablied des sizilianischen Dichters Moschus (2. vorchristliches Jahrhundert) auf einen gewissen Bion, beginnt Hessus mit einer Schilderung der Trauer der gesamten Natur um den Verstorbenen: Wälder, Haine, Sümpfe, Blumen, Nachtigallen und Schwäne klagen um den „hessischen Orpheus“ (Hessicus Orpheus, V. 57); die verschiedenen Flüsse der hessischen Heimat Mutians, die Eder, die Fulda, die Werra, die Weser, die Lahn und die Ohm schließen sich der Klage an. Außer der Natur sind es aber besonders die humanistischen Freunde, die Mutians Tod beweinen. Angeführt von Ulrich von Hutten, der zwar drei Jahre vorher gestorben war, aber nach Hessus poetischer Fiktion schon damals den künftigen Tod Mutians beklagt hatte, folgen die ehemaligen Sodalen und Freunde: Euricius Cordus, der damals als Arzt in Braunschweig lebte, Jakob Micyllus (1503–1558), ein Schüler und Freund des Hessus und ein Mann, der Mutian erst in dessen letzten Lebensjahren kennengelernt hatte,11 der bekannte Philologe Joachim Camerarius, die Dichter Erasmus tis te argumentis stimulisque incitare, quod si mortalium cuiquam, certe tibi notissima et eruditio et virtus eius viri est.“ 7 HESSUS, Epistolae Familiares, S. 279 (Nigidius an Hessus): „Fac, precor, intelligant posteri qualem virum olim conterraneum habuerimus. Te poscit hic labor, ut cui vita, mores, ingenium sint hominis perspecta. Elegia quadam ab oblivionis iniuria hominem memoria dignum quaeso vindica. Non patitur angustiatem, potis esse prolixiori.“ 8 HESSUS, Illustrium ac clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia. Moderne Ausgabe VREDEVELD, Helius Eobanus Hessus. Dichtungen, III, S. 132–143. Abgedruckt vorher bei GILLERT Nr. 637. 9 GRÄßER, Die Epicediendichtung des Helius Eobanus Hessus, S. 40 ff. Auf: Wilhelm Nesen, Friedrich den Weisen, Mutian Rufus, Ulrich von Hutten, Johannes Reuchlin, Albrecht Dürer, Willibald Pirckheimer, Kaspar Nützel, Erasmus Ebner, Großkanzler Mercurino di Gattinara, Erasmus von Rotterdam und Cosmas Eberbach. 10 Zu dem Folgenden: GRÄßER, Die Epicediendichtung des Helius Eobanus Hessus, bes. S. 56–63. 11 KRAUSE, Eobanus Hessus, S. 230 ff. Micyllus (1503–1558) – eigentlich Moltzer – studierte zwischen 1518 und 1522 in Erfurt. KILLY, 8, S. 158–159.

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Ebner (1511–1577),12 Christopher Hacke (Hacus), der damals einen großen Ruf als lyrischer Dichter genoss,13 Georg Sabinus (1508–1560), ein junger Mann, der zur Zeit der Abfassung des Gedichtes noch in Wittenberg studierte,14 Philipp Melanchthon, Ursinus Velius aus Schweidnitz in Schlesien (1493–1539),15 Heinrich Glareanus (Heinrich Loerete aus Glarus, daher Glareanus, 1488–1563),16 Johannes Brassicanus und dessen Sohn Johannes Alexander (Kohlberger, 1500– 1539), Justus Jonas und schließlich Georg Spalatin, dessen besondere Verbundenheit mit seinem Mentor dadurch hervorgehoben wird, dass ihm Hessus als einzigen vier statt zwei Zeilen widmet.17 Auffallend ist, dass unter den Trauernden außer Hessus selbst sich nur drei Freunde aus dem mutianischen Kreis befinden: Cordus, Jonas und Spalatin. Es fehlen Urbanus, von der Marthen, Rubeanus und Petreius. Grund für die Abwesenheit Urbans, immerhin des besten Freundes Mutians, mag folgender sein: Sein Ruhm beruht bekanntlich darauf, dass er die vertraulichen Briefe Mutians an ihn und andere gesammelt und damit der Nachwelt eine unersetzliche Quellensammlung hinterlassen hat. Aus diesem Grunde sind wir geneigt, die Rolle dieses bescheidenen Zisterziensermönches in dem Kreis zu überschätzen, zumal er wie Mutian selbst nichts publizierte. Das Fehlen des Crotus Rubeanus in der Trauergemeinde hatte andere Gründe. Er hatte sich bekanntlich nach anfänglicher Begeisterung für Luther Ende der zwanziger Jahre wieder dem alten Glauben zugewandt und durch seine antilutherische Schrift Apologia (1531) endgültig die Freundschaft der beiden Lutheraner Eobanus Hessus und Justus Jonas verloren. Erstaunlich allerdings ist, dass Petreius nicht in der Liste der Trauernden Platz gefunden hat. Er war nicht nur ein enger Freund des Mutian, mit dem er noch 1523 Kontakt hatte,18 sondern galt auch als „Säule und Herzog“ in Hessus’ Erfurter „Königreich der Dichter“. Weniger überraschend hingegen ist, dass Herebord von der Marthen, einer der Protegés Mutians in den Jahren 1506–1516, keine Erwähnung findet; denn seit 1516 spielte er in diesem Kreis keine Rolle mehr. Seine Karriere als katholischer 12 ADB, 5, S. 591 f.; NDB, 4, S. 263. 13 KRAUSE, Eobanus Hessus, I, S. 146; II, S. 286. 14 ELLINGER, Sabinus, Georg, in: ADB, 30, S. 107–111; SCHEIBLE, Sabinus, Georg, in: NDB, 22, S. 320 ff. 15 BACH, Ursinus, Kaspar Velius, in: ADB, 39, S. 367–369. 16 GEIGER, Glareanus, in: ADB, 9, S. 210–213; GRIMM, Glareanus, in: NDB, 6, S. 425 f. 17 Zitiert nach GILLERT Nr. 636, S. 327: „Quos tibi dilectus quondam Spalatinus honores Exhibeat moesto carmine, nemo rogat. Ille suas de te noctesque diesque querelas Ingeminat nunquam non memor ille tui.“ 18 Vgl. GILLERT, Nr. 617 (Mutian an Urban, 15. Juli 1523): „Poeta [Hessus] multo maximus hortatu Petreii iurisconsultus esse coepit.“

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Jurist am Hofe des Erzbischofs von Mainz und später Karls V. und sein Tod im Jahre 1529 schlossen ihn aus. Erstaunlichweise fehlt aber auch Nigidius selbst, der das Epicedion erst angeregt hatte. Stattdessen beklagen den Tod Mutians vierzehn Männer, die Mutian schon wegen ihres Alters entweder erst in seinen letzten Lebensjahren kennengelernt hatte oder denen er überhaupt nie begegnet war. So war etwa der Dichter Erasmus Ebner erst fünfzehn, Georg Sabinus achtzehn Jahre alt, als Mutian in Gotha starb. Über Glareanus und Brassicanus sind weder Äußerungen von Mutian noch irgendwelche Begegnungen, dafür relativ enge Beziehungen zu Hessus bekannt. Es ging Hessus also nicht darum, den Mutian-Kreis von 1506–1516 zu beschwören, sondern zu belegen, dass auch die jüngere Generation der Humanisten um Mutian trauerte, Männer also, die den Gothaer Kanoniker – wenigstens teilweise – nur aus Hessus’ idealisierender Erzählung kannten. Erst nachdem dieser Kreis vorgestellt worden ist, zeichnet Hessus ein Bild des Verstorbenen (V. 165–172), wobei er dessen Würde, Gabe für Freundschaften, Freigebigkeit, Gastfreundschaft und Einfluss auf jüngere Humanisten lobte. Besonders ihn, Hessus, habe Mutian seit seiner Jugend nachhaltig geprägt.19 Wehmütige Erinnerungen an die jetzt verwaiste Wirkungsstätte, die BEATA TRANQUILLITAS, des verehrten Lehrers folgen. Kein Neid, keine Missgunst sei in sein Herz gedrungen. Alle Gelehrten habe er ebenbürtig verehrt, alles habe er mit seinen Freunden geteilt. Indem Hessus die Zeit von Mutians Wirken zu einem goldenen Zeitalter verklärt, mischen sich persönliche Reminiszenzen mit traditionellen Topoi.20 So heißt es, dass jetzt, wo Mutian nicht mehr die ruhige Burg bewohne, auch die Landschaft in Eis erstarre, womit er wieder zu dem anfänglichen Topos der trauernden mitfühlenden Natur zurückkehrt. Von Schmerz ergriffen, beendet Hessus abrupt die Klage: Aber, Muse, lassen wir die traurigen Klagen; den Unglücklichen nützt es nichts, Trauerworte zu äußern. 21

19 GILLERT Nr. 637: „Me quem nascentem primum vagus Aedera vidit,/ Nullius ingenii movit imago magis“ (V. 171–172). 20 Zwei einprägsame, mehrmals wiederholte Refrains ziehen sich als Leitmotive durch das Poem. In ihrer Interpretation des Epicedion weist GRÄßER (Die Epicediendichtung des Helius Eobanus Hessus, S. 57) auf die Verwendung dieser Refrains hin. Es handelt sich dabei um zwei Refrains: einmal um das variierende Satzpaar, das in der Zeile „Rufus ab Hessiacis notus ad astra iugis“ („Denn es entsank in den Tod, in dem unerbittlichen, Rufus, von hessischer Flur bis zu den Sternen bekannt“) endet (V. 11–12, 73–74, 101– 102) und dem zweiten, die Aufforderung an die Musen, die Trauerlyra zu ergreifen): „Ponite lugentes ridentia carmina, Musae,/ Sumite luctificae tristia plectra lyrae.“ (V. 10– 11, 45–46, 75–76). 21 GILLERT Nr. 637: „Verum age lugubres sistamus, Musa querelas/ Nil prodest miseris tristia verba loqui.“ (V. 217–218.)

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2.2 Hodoeporicon des Jakob Micyllus Unter den Trauernden, die Eobanus Hessus in seinem Epicedion anführte, befand sich auch Jakob Micyllus (1503–1558), ein Straßburger, der von 1518 bis 1522 in Erfurt studiert und sich dort dem „Königreich“ des Eobanus Hessus angeschlossen hatte, ein Mann, der Hessus zeit seines Lebens in Freundschaft verbunden blieb. Angezogen vom Ruhme Melanchthons wechselte er 1522 nach Wittenberg und wurde 1524, erst 21-jährig, an das Gymnasium in Frankfurt am Main berufen, wo er zunächst als Lehrer und dann ab 1526 als Rektor wirkte.22 Die Fußwanderung, die er vom 4. bis 27. Oktober 1524 von Wittenberg nach Frankfurt unternahm, um dort seine neue Stelle anzutreten, verarbeitete er zu einem Reisegedicht.23 In 504 Versen berichtet das Gedicht lebendig und nachvollziehbar über diese Wanderung, die ihn und seine Begleiter – bis Erfurt schlossen sich ihm Joachim Camerarius und ein anderer Freund an – von Wittenberg über Leipzig, Erfurt, Gotha, Eisenach, Hersfeld, Alsfeld und Friedberg nach Frankfurt führte. Nachdem die Freunde vier Tage in Erfurt verweilt hatten, um mit alten Bekannten ein Wiedersehen zu feiern (V. 320 ff.), gelangte er am 16. Oktober nach Gotha, einem Ort, den Micyllus ausschließlich aufgesucht zu haben scheint, um den berühmten Mutian persönlich seine Reverenz zu erweisen.24 Denn anders als bei anderen Stadtbeschreibungen verzichtete der Dichter hier auf eine Schilderung der geographischen Lage oder architektonischer Schönheiten der Stadt, um sich in den 22 folgenden Versen ganz auf Gothas – aus humanistischer Sicht – berühmtesten Bewohner zu konzentrieren: Hic tandem fortuna dedit mihi cernere Rufum, Rufum, quo non vir dignior alter erat: Unus qui studio per longos contulit annos, Quidquid habet Latium, Graecia quidquid habet. Non erat huic lingua quisquam nec voce secundus Dictaque ceu magnis imbribus acta dabat. Praecipue quoties Musas laudemque sororum Et reparatarum dona canebat opum.

22 Literatur zu Micyllus in KÜHLMANN/SEIDEL/WIEGAND, Humanistische Lyrik, S. 1160– 1162. Sein weiterer Lebensweg: Seit 1533 lehrte er als Professor des Griechischen in Heidelberg, verließ diese Stadt aber vier Jahre später, um wieder in Frankfurt zu lehren. 1547 kehrte er aber wiederum als Professor nach Heidelberg zurück. Maßgebend noch immer: CLASSEN, Jakob Micyllus als Schulmann, Dichter und Gelehrter. 23 Abgedruckt in CLASSEN, Jakob Micyllus, S. 276–313; außerdem auszugsweise in GILLERT, II, S. 326, als Fußnote 2. Ich zitiere Classen und benutze auch dessen Übersetzung. 24 Die Formulierung „Hic tandem fortuna dedit mihi cernere Rufum“ (V. 480) könnte man so interpretieren, dass Micyllus während seines vierjährigen Erfurter Studienaufenthaltes Mutian nicht persönlich kennengelernt hat.

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Augusto quondam spirabant numine vultus, Ipsaque consuerant ora referre Deum. Hier war endlich der Wunsch mir erfüllt, Mutianus zu schauen, Ihm dem in unserer Zeit keiner an Geist sich vergleicht, Welcher, was Hellas und Rom von edelsten Werken geschaffen, Jahr für Jahr durchforscht, sammelnd mit emsigem Fleiß. Niemand konnte mit ihm an Feuer der Rede sich messen, Wenn sie dem Regenstrom gleich von den Lippen ihm floss: Dann vor Allem, sobald er die Schätze des Wissens uns rühmt, Welche ein gütig Geschick kürzlich uns wieder geschenkt, Leuchtete ihm der Blick wie erhellt von höherem Glanze, Und von göttlichem Strahl schien ihm die Miene verklärt.25

Nachdem Micyllus in knappster Weise Mutians umfassende Bildung, seine Beredsamkeit und Begeisterung für die wiederaufgefundenen Schätze der Antike, seine Freundlichkeit und Würde geschildert hat, unterbricht er sich mit dem schmerzlichen Ausruf: Jetzt ist auch er uns entrissen (Nunc levis umbra volat, V. 496) wobei das „nunc“ auf den zeitlichen Abstand zwischen der Reise selbst im Herbst 1524 und der Niederschrift bzw.Veröffentlichung des Reisegedichtes in den Jahren 1526/27 verweist, also nach Mutians Tod Ende März 1526.26 Die folgenden Verse weiten sich deshalb zu einer kurzen Klage über den Tod des Mannes aus, woraus sich Micyllus auf zwei Trosttopoi beschränkt: Der frühe Tod habe dem Toten erspart, die Bruderkämpfe mit ansehen zu müssen,27 und außerdem bleibe ihm sein die Wechselfälle der Zeiten überdauernder Ruhm.28

25 CLASSEN, Jakob Micyllus:V. 480 ff., S. 303. 26 Dazu WIEGAND, Hodoeporicon. S. 63–71 u. S. 337–360. Der Erstdruck erschien 1527 in Wittenberg bei dem Verleger Josef Klug: Iacobi Micylli Hodoeporicon/ Epicedion Mosellani/ Epicedion Neseni/ et pleraque alia dignissima (VD 16, M 6111). 27 CLASSEN, Jakob Micyllus, S. 303, V. 501 ff. „Heu, noster, sic te superi voluere peremptum, Et tutum a nostri temporis ire malis Nec tua felicis quae sunt post fata secuta Cernere fraterna proelia serta manu.“ „Doch es erwies das Geschick Dir im Tode noch gnädige Wohltat, Dass es den Leiden der Zeit frühe genug dich enthob; Dass Du den traurigen Hader des eigenen Volkes nicht schautest, Welches im Bruderkampf wütend sich selber zerfurcht.“ Es kann sich nicht um den Bauernkrieg handeln, denn diesen hatte ja Mutian noch miterlebt. Micyllus scheint hier seine Furcht vor künftigen interkonfessionellen Konflikten ausdrücken zu wollen. 28 CLASSEN, Jakob Micyllus, V. 505: „Illa tamen restant, multos quaesita per annos/ Gloria et e studiis fama parata bonis.“

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XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE ZEUGNISSE

Nicht die konventionellen, über Allgemeinplätze kaum hinausgehende Zeilen in dem Hodoeporicon sind das eigentlich Interessante, sondern dass Micyllus 1524 einen Abstecher nach Gotha machte und dem einst berühmten Humanisten huldigte, zu einer Zeit also, als Mutian von den Wittenberger Lutheranern wegen seiner Weigerung, sich zu ihnen zu bekennen, und wegen seiner fortdauernden Verehrung des Erasmus, angefeindet wurde. So sehr kann also Mutians Ruhm zu diesem Zeitpunkt noch nicht verblasst gewesen sein.

2.3 Epicedion des Johann Stigel Nicht der Wunsch, die Bekanntschaft eines immer noch berühmten Gelehrten zu machen, sondern Lokalpatriotismus mögen den gebürtigen Gothaer Johann Stigel (1515–1562) bewogen haben, ein Trauergedicht in Form eines Epitaphs auf Mutian zu verfassen.29 Schon als Junge habe er auf einzigartige Weise den berühmten Namen des Mutian bewundert, schrieb er 1542 an Camerarius.30 Wegen der unruhigen Zeiten habe er zwar vieles vergessen, zum Beispiel die exakte Chronologie, sodass er sich nur noch an einige Ereignisse erinnern könne. So entsinne er sich etwa, dass er als Knabe – er war bei Mutians Tod erst elf Jahre alt – spontan das beigefügte Epitaph verfasst habe, das er jetzt, also 16 Jahre später, an Camerarius schicke.31 Mutian selbst habe bereits in seiner Jugend die freien Musen verehrt, so lässt er Mutian selbst in der Tradition des Epitaphs sprechen, sich ihnen Tag und Nacht hingegeben und nach dem Ursprung der Dinge geforscht und Verse verfasst, die selbst ein Vergil gutgeheißen hätte.32 Das Leben eines Juristen habe er bald zugunsten eines Lebens der Muse 29 DÜCHTING, Stigel, Johannes, in: KILLY, 11, S. 205–206. 30 19. September 1542. Der Brief ist auszugsweise bei GILLERT, II, S. 329, Anm. 1 abgedruckt. Das Gedicht selbst ist Nr. 638 bei GILLERT. 31 „Mutiani nomen celebre iam puer sum admiratus, de quo quidem audivi permulta cognitu atque imitatione digna, quae successu temporis publica perturbatio mihi exemit e memoria aut ita pervertit, ut res quidem aliquas commemorare possim, ordinem tamen et modum amiserim. Memini me puerum epitaphio complexum fuisse eius laudem. Id subscripsi, ut legeres etc.“ Zitiert bei GILLERT, II, S. 329 f. 32 GILLERT Nr. 638, S. 329 f.: „Hac tumulatus humo Rufus post fata quiesco, Ardua qui clarum nomen ad astra tuli. Prima mihi tenerae dedit incunabula vitae Hessia fertilibus terra recincta iugis. Cum mihi adhuc viridi vernaret flore iuventus, Nec tegeret flavas hispida barba genas, Ingenuas colui Musis ducentibus artes Deditus et studiis nocte dieque fui.

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und des Studiums unter gleichgesinnten Freunden aufgegeben. Besonders die fürstlichen Höfe habe er gemieden, stattdessen im lieblichen Gotha seine Zeit in ruhigem Frieden verbracht. Die Zeilen Stigels, der später nicht nur zu einem der vertrautesten Freunde Melanchthons, sondern auch „eine der produktivsten poetischen Stimmen des Protestantismus im 16. Jahrhundert“ wurde,33 mögen vom Stolz auf seine Geburtsstadt inspiriert worden sein, als Momentaufnahme der Verehrung durch einen jungen Mitgothaer sind sie nicht ohne Interesse. Zumindest von einigen Lutheranern wurde Mutian also weiterhin als großer Humanist und Gelehrter gesehen – das zeigen die zwei poetischen Würdigungen der beiden Protestanten Micyllus und Stigel.

2.4 Epitaphium und Narratio de Helio Eobano Hesso des Joachim Camerarius Mit seinen mehr als 150 Druckschriften war Joachim Camerarius34 einer der produktivsten deutschen Philologen des 16. Jahrhunderts. Nach dem Studium in Leipzig, wo er mit 14 Jahren bereits den Baccalaureus artium erwarb, und unter Peter Mosellanus und dem bekannten englischen Gräzisten Richard Croke (Richardus Crocus) Griechisch studierte, kam Camerarius 1518 nach Erfurt, möglicherweise auf Einladung des Eobanus Hessus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte. Dort schloss er sich dem poetischen Humanistenkreis um Eobanus Hessus an und kam damit auch in Kontakt mit dem im nahen Gotha wohnenden Mutian. Nachdem er den Magistergrad erworben hatte, ging Camerarius 1522 nach Wittenberg, wo er eine lebenslange Freundschaft mit Melanchthon schloss. Das relativ kurze, lediglich 22 Zeilen umfassende Epitaphium auf Mutian ist vermutlich bereits 1526 geschrieben, aber erst 1531 veröffentlicht worden. Wie es die Tradition dieser literarischen Gattung erfordert, spricht der Tote selbst:

Hinc didici rerum varias cognoscere causas, Quasque parit miras terra fretumque vices. Interdum versus et blanda poemata finxi, Qualia Virgilium nemo probasse neget.“ Wie wenig Mutian tatsächlich von seinen eigenen Versen hielt, betonte er immer wieder. 33 DÜCHTING, Stigel, Johannes, in: KILLY, 11, S. 205. Unter anderem schrieb er eine Reihe von Epitaphien, u.a. auf Ulrich von Hutten, Erasmus, Eobanus Hessus, Justus Jonas und Philip Melanchthon und eben Mutian. 34 BOKELOH, Camerarius, Joachim, in: KILLY, 2, S. 349–350.

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XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE ZEUGNISSE Me genitum Hessorum terra cognomine Rufum Thuringae tenuit vallis amoena Gothae. Illic parta quies tranquillae otia mentis, Visa mihi uere vita beata fuit. Consuetudo foret quorum mihi grata, docebat Sub foribus titulus: CUNCTA BONIS pateant. Iamque mihi rutilos mutarant tempora canis Crinibus, et senii membra gravabat onus Et mens recta tamen studiumque manebat honesti Creverat fractis viribus ingenium. Dixisses nostrae aspiciens vitae rationem Velle iuvare bonos, laedere nolle malos. Nunc gremio acceptus magnae requiesco parentis, Ante quies tempus nec venit illa suum. Quod nisi seruiles turbassent ocia motus De nece, de vita nulla querela foret. Mich, der ich in Hessen geboren wurde, mit Namen Rufus, erfreute das liebliche Tal des thüringischen Gotha. Dort schien mir die erworbene Ruhe und die Muße eines ruhigen Geistes das wahre glückliche Leben. Ich liebte den geselligen Umgang mit Freunden, für die über der Tür stand: ‚Den Guten steht alles offen‘. Schon hatten die Zeiten mir die rötlichen Haare grau verfärbt, und die Last des Alters beschwerte die Glieder. Dennoch blieb mir ein aufrechter Sinn und das Streben nach Ehre, es wuchsen auch die geistigen Kräfte, obwohl die körperlichen abnahmen. Du hättest gesagt, dass, beim Anblick unseres Lebensmottos, dass Du den Guten helfen wolltest, den schlechten aber nicht schaden. Nun ruhe ich im Schoße der großen Mutter, und wenn nicht die Bauernkriege die Muße gestört hätten, gäbe es keine Klagen weder über den Tod, noch über das Leben.35

Das kurze Epitaphium war aber nur eine Abschlagsleistung auf ein viel späteres Werk, das Camerarius über 20 Jahre später, im Jahre 1553, unter dem Titel Narratio de Helio Eobano Hesso veröffentlichte.36 Zwar steht Camerarius’ enger Freund, Eobanus Hessus, im Mittelpunkt dieser sehr persönlich gefärbten Biographie, in weiten Teilen ist sie aber einerseits ein nostalgischer Rückblick auf eine vermeintlich bessere Zeit, nämlich auf die ersten zwei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts, andererseits eine Klage über die Gegenwart, geschrieben, als die 35 Illustrium ac clarorum aliquot virorum memoriae scripta epicedia per Helium Eobanum Hessum. Nürnberg 1531 (VD 16, E 1509), fol. E3r-E4v. In GILLERT Nr. 645. 36 CAMERARIUS, Narratio de Helio Eobano Hesso Das Werk ist in jüngster Zeit zweimal herausgegeben worden: 1. BURKARD/KÜHLMANN; 2. VREDEVELD. Ich zitiere nach der Ausgabe und Übersetzung von Burkard/Kühlmann.

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lutherische Bewegung, zu der sich Camerarius bekannte, in einer tiefen Krise steckte.37 Grund genug, die Gegenwart zu beklagen, hatte Camerarius in der Tat. Erstens war der lang schwelende Konflikt zwischen den beiden Konfessionen in einen offenen Bürgerkrieg ausgebrochen, den Schmalkaldischen Krieg. Im Jahre 1546 mussten die Protestanten gleich zwei Schläge hinnehmen: eine militärische Niederlage und den Tod Martin Luthers. Im Juli dieses Jahres hatte der der katholische Kaiser Karl V. die Kampfhandlungen eröffnet in einem Krieg, der in seiner Verquickung von machtpolitischen, religiösen oder konfessionellen Motiven ein Vorspiel des Dreißigjährigen Krieges sein sollte. Nach wechselndem Kriegsglück besiegte Karl am 24. April 1547 in der Schlacht bei Mühlberg an der Elbe die protestantischen Truppen. Deren Anführer, der ernestinische Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, geriet in Gefangenschaft und verlor in der „Wittenberger Kapitulation“ seine Kurfürstenwürde an seinen Vetter Moritz von Sachsen,38 den Herzog des albertinischen Sachsens. Karl nützte die Schwäche der Protestanten aus, um auf dem „geharnischten Reichstag“ zu Augsburg (1548) ein Programm zur Rücknahme reformatorischer Neuerungen durchzusetzen. Während das sogenannte Interim den Protestanten lediglich die Gewährung des Laienkelches und die Gültigkeit der Ehen evangelischer Pfarrer gestattete, verpflichtete es sie gleichzeitig zur Wiedereinführung einer Reihe katholischer Feiertage und zur Einhaltung des Fastens und der Ohrenbeichte. Zweitens kamen zu den interkonfessionellen Konflikten, die erst auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 dadurch gelöst wurden, dass nach dem Prinzip „cuius regio, eius religio“ die Territorialfürsten sich für eine der beiden Konfessionen entscheiden durften, nach Luthers Tod im Jahre 1546 heftige Auseinandersetzungen innerhalb des lutherischen Lagers hinzu: Die sogenannten Gnesiolutheraner warfen den „Philippisten“, d.h. den Anhängern Philipp Melanchthons, vor, allzu weitgehende Zugeständnisse an die katholische Partei gemacht zu haben. Zu diesen zwei Ursachen seiner Bitternis über die politischmilitärische Situation der Protestanten und die Brüderkämpfe innerhalb des lutherischen Lagers kam noch drittens Camerarius’ Enttäuschung über den gegenwärtigen Stand der humanistischen Studien hinzu: Wer betreibe denn diese 37 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio, S. 24/25: „tristissimis rebus & durissimis his temporibus“. 38 Moritz von Sachsen (1521–1553) wurde im Kindesalter zunächst im katholischen Glauben erzogen, konvertierte aber später zum Protestantismus. Obwohl sein Vetter Johann Friedrich I. von Sachsen der gleichen Konfession angehörte, hinderte dies Moritz nicht, aus machtpolitischem Kalkül gegen seinen Verwandten militärisch vorzugehen. Zu Moritz von Sachsen: WARTENBERG, Moritz, Herzog von Sachsen, Kurfürst, in: NDB, 18, S. 141–143; MAURENBRECHER, Moritz, Herzog und Kurfürst von Sachsen, in: ADB, 22, S. 293–305.

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humanistischen Studien überhaupt noch?, fragte er seine Leser. Für unnützes Zeug hält man sie, im gewöhnlichen Leben Spielereien wie die der Kinder.39 Diesen historischen Hintergrund muss man im Blick behalten, will man den elegischen Grundton, der die camerarische Lebensbeschreibung des Hessus kennzeichnet, verstehen, denn wie ein roter Faden zieht sich durch das Werk der Kontrast zwischen der goldenen Vergangenheit und der jetzigen traurigen Lage: Wenn ich die jetzige Zeit mit der früheren, die wir gemeinsam erlebten, vergleiche, bin ich betrübt, dass ein so hohes Streben so rasch unterdrückt und das Feuer unserer Begeisterung ausgelöscht wurde.40 Mit Schmerz konstatiert er den Verfall der Vernunft, des Maßes, des Gesetzes, der Sitte, Pflicht, der Gerichtsbarkeit, der Rücksicht auf die Mitbürger und erinnert daran, dass die humanistischen Studien den Weg zu einem kultivierten, edlen Leben eröffnet, indem sie das Dornengestrüpp der Irrtümer ausrotteten und den Umgang der Menschen miteinander durch die artes liberales verfeinerten. In diese lieblichen Gärten brachen plötzlich die Unbesonnenheit und die Frechheit verwüstend ein.41

Es ist in diesem Kontext der Klage über die Gegenwart, dass er auch Mutians gedenkt, dessen Bekanntschaft er 1518 zum ersten Mal gemacht habe. Was folgt, ist ein kompaktes Porträt des Gothaer Kanonikers und seines Kreises: Seine innere Würde war außerordentlich, seine Bedeutsamkeit aber so, dass sie seiner Zeit und dem Platz, den er innehatte, Glanz verlieh und diese [Würde] war durchmischt mit einer unglaublichen Freundlichkeit. Im höchsten Maße aber freute es ihn, zu hören, dass die Jugend sich ernsthaft mit der Literatur abgab, und er pflegte die, die auf dieser Bahn gingen, mit den ihm möglichen Mitteln anzuspornen.42

Weiter erinnert Camerarius an Mutians pädagogische Tätigkeit, seine Bemühungen, jungen, an antiker Literatur interessierten Studenten konkret zu helfen, 39 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio, S. 26: „Quis enim illa [studia] vel colit, vel admiratur, vel iam omnino respicit atque curat?“ Ebenso S. 26: „Nugae hae esse ducuntur, & in vita communi άθύρματα tanquam lusuum puerilium.“ 40 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio: S. 24 f.: „Non modo quum hanc aetatem & superiorem nostram confero, & aegre fero tantam contentionem tam celeriter repressam, & ardorem istum extinctum esse.“ Weitere Belege für Camerarius Klagen über die Gegenwart und sein Rückblick auf eine bessere Vergangenheit (S. 26/27): „… quoties vel in praesentis miseriae quasi tempestatem intuetur, vel futurae calamitatis naufragia prospicit.“ 41 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio, S. 26 f.: „Aperuerunt autem studia nostra iter eruditae & liberalis vitae, errorum quasi vepribus excisis, & bonis artibus atque literis consuetudine humana perculta. In hos, tanquam amoenissimos hortos, temeritas & petulantia vastatrix subito irruit.“ 42 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio, S. 68 f.: „Dignitas in hoc erat summa, grauitas autem ea, quae aetatem &locum, quem tenebat, deceret, commista illa quidem cum comitate icredibili. Mirafice autem laetabatur, quum audiret sedulo operam dare literis iuuentutem, & quibus rebus poterat in hoc spacio solebat incitare currentes.“

LITERARISCHE ZEUGNISSE

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indem er ihnen beispielsweise Themen zu Bearbeitung aufgab und die Resultate dann auf höchst taktvolle Weise kritisierte. Er ruft sein stets heiteres Gemüt ins Gedächtnis und seinen eleganten, sich am italienischen Humanismus orientierenden Briefstil. Auch Verse habe er verfasst, sie seien aber so wenig wie andere seiner Werke veröffentlicht worden, weil sie nie seinen eigenen hohen Ansprüchen genügt hätten und er sich lieber an der Torheit anderer ergötzt habe.43 Abschließend urteilt Camerarius: Er war ein bedeutender Mann, herausragend durch seine Redlichkeit, Uneigennützigkeit, Weisheit und Freundlichkeit, ein Schmuck für die, mit denen er lebte, für seine Heimat, vielmehr ganz Deutschland und sein ganzes Zeitalter.44

Nach Camerarius hatte Mutian aber nicht nur einen prägenden Einfluss auf Hessus, sondern auf einen ganzen Kreis junger Männer, die Camerarius namentlich vorstellt, einen Kreis, den dann später Hessus übernommen, erweitert und nach seiner Art geführt habe, dazu unter anderen gehörten: Justus Jonas, Henricus Urbanus, Johannes Lange, Petrus Mosellanus, Crotus Rubeanus, Justus Menius, Peter Eberbach, Caspar Schalbus und Georg Spalatin. Im Jahre 1526/27 hatte Jakob Micyllus in seinem Reisegedicht über Mutian geschrieben: Aber es bleibt Dein Ruhm, durch hohe Verdienste begründet,/ Unvergänglich bestehen auch in dem Wechsel der Zeiten.45 Der Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Trotz der Bemühungen eines Micyllus, Stigel, Hessus und Camerarius verblasste der Ruhm des Gothaer Kanonikers schnell. Verantwortlich dafür war nicht nur Luther, der durch seine kategorische Verurteilung Mutians als Atheisten und Epikureer46 jede ernsthafte Diskussion um ihn zu unterbinden wusste, sondern in erster Linie Mutian selbst, der sich zeit seines Lebens geweigert hatte, seine Briefe und Gedichte zu veröffentlichen und sich dadurch selbst jeder Chance, literarischen Ruhm zu erwerben, beraubt hatte. Sieht man von der verunglückten Teilausgabe des herzoglich-sächsischen Polyhistors Wilhelm Ernst Tentzel aus dem Jahre 1701 ab, so erschienen erst am Ende des 19. Jahrhunderts die

43 BURKARD/KÜHLMANN, Narratio, S. 72: „Ac mihi percontanti aliquando caussam, quamobrem tam pertinaciter premeret sua scripta, quum omnes arbitrarentur, & ego quoque putarem, eum scriptionibus operam dare; ita fieri respondit, quia sua sibi nunquam satis placerent, ideoque malle se frui aliorum stultitia.“ 44 BURKARD/KÜHLEMANN, Narratio, S. 72 f.: „… vir magnus, & probitate, integritate, virtute, sapientia, humanitate excellens, decus & ornamentum eorum, quibuscum vixit, & patriae, immo Germaniae, & saeculi sui.“ 45 CLASSEN, Jakob Micyllus, V. 505: „Illa tamen restant, multos quaesita per annos/ Gloria et e studiis fama parata bonis.“ 46 WA TR, 2, Nr. 2741a, S. 627: „Doctor Mutianus nullum credidit Deum esse.“; WA TR, 3, Nr. 3795, S. 620: „Nos autem in Germania habemus perfectum sodalitium Epicureorum: Crotum, Mutianum, Iustum Menium.“

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XIII. REAKTIONEN UND LITERARISCHE ZEUGNISSE

beiden Ausgaben von Krause und Gillert, die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Mutian ermöglichten. In Gotha selbst ist nichts mehr von Mutian erhalten. Das gesamte Stiftsviertel wurde samt der Marienkirche fünf Jahre nach Mutians Tod im Zuge des Baus der Festung Grimmenstein abgerissen, der Friedhof unten am Augustinerkirchhof wurde 20 Jahre später der Benutzung entzogen. Ein Bildnis Mutians existiert nicht. Nicht Bücher zu schreiben, sah Mutian als seine Aufgabe, sondern Menschen zu bilden. Bewusst verzichtete er deshalb auf Veröffentlichungen, weil er glaubte, dass seine Gedanken besser durch seine Schüler weitergetragen würden. Marsilio Ficino, dessen Gedankenwelt Mutian auf profunde Weise geprägt hatte, drückte es dialektisch folgendermaßen aus: Nicht durch Bücher, sondern durch ihre Schüler gelangten Pythagoras und Sokrates, zwei gottbegnadete Lehrer, zu Ruhm. Gewiss waren diese Schüler auch Bücher, aber gleichzeitig lebendige Wesen: ein Buch ist aber ein Schüler ohne Seele, ein Schüler dagegen ist ein lebendiges Buch.47

Das beeindruckende dichterische Werk eines Eobanus Hessus, Euricius Cordus, die Satiren eines Crotus Rubeanus und das bemerkenswerte Lebenswerk eines Georg Spalatin, eines Justus Jonas und Johannes Lange sind ohne Mutians Einfluss nicht denkbar.

47 FICINO, Lettere I. Epistolarum familiarum liber I, Nr. 109, S. 191: „Pythagoram Socratemque, praeceptores divinos, non libri, sed discipuli illustrarunt, immo vero libri, sed vivi: liber est discipulus carens anima, discipulus est liber vivens.“ Der Hinweis auf diese Stelle in RÄDLE, Ein Lebensentwurf, S. 6., Anm. 9.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS Anm. Bd. Bearb. bes. bzw. d.Ä. d.h. d.J. dems. ders. dies. Diss. ebd. etc. f./ff. fol. Hg. hg. Kap. lat. Maschin. N.F./NF N.R. Nr. o.J. o.O. Ps. R. S./Sp. u. u.a. u.s.w. UB V. Vgl. Z. z.B. z.T.

Anmerkung Band Bearbeiter besonders beziehungsweise der Ältere das heißt der Jüngere demselben derselbe dieselbe Dissertation ebenda et cetera folgende Folio Herausgeber herausgegeben Kapitel lateinisch Maschinenschriftlich Neue Folge Neue Reihe Nummer ohne Jahr ohne Ort Psalm Reihe Seite/Spalte und unter anderem und so weiter Universitätsbibliothek Vers Vergleich Zeile zum Beispiel zum Teil

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PERSONENREGISTER

Acciaoli → Zenobius Adelar von Corbie (Adalhard) 306 Aesticampianus, Johannes Rhagius 45, 47 Agricola, Rudolf 25 f. Agricola, Gregor (Lengesfeldt) 284, 291, 322 Albertus Magnus 32 Albrecht von Brandenburg-Ansbach 375 Albrecht von Brandenburg, Kurfürst 200, 255, 303, 316 f., 345 Alexander VI., Papst 52 Alexander de Villa Dei 29, 84, 212 Alexander der Große, König 250 Ambrogini, Angelo 51, 57, 145 Amerbach, Bonifaz 350 Amplonius Rating de Berka 83 Anna von Hessen 59, 108, 217, 264 Ambrosius von Mailand, Kirchenvater 98– 100, 235, 324, 332 Ammersfort, Heinrich von 26 Ammianus Marcellinus 121 Anselm,Thomas 234, 273, 275, 294 Antonius Finariensis, Petrus 42, 105 Apollo, Heinrich 92 Apollonius von Tyana 324 Apuleius von Madauros 46, 48, 98, 170, 196 Aquilius, Paulus 66 f. Aquilonipolensis, Henricus 84 f. Aratos 97 Aristoteles 36, 164, 231, 324 Arminius 250 Arnold von Usingen 156, 226 Arnold von Tungern 273, 277–279, 282, 290, 294 Augustinus, Kirchenvater 98, 235, 304, 332 Augustus, röm. Kaiser 196 Ausonius, Decimius Magnus 86, 98, 212 Baptista Mantuanus 49, 55, 86, 101, 159, 166, 309 Basellius, Nikolaus 89 Basilius, Kirchenvater 332 Beatus Rhenanus 95, 97, 253, 256 f., 297, 348, 351 Bebel, Heinrich 159

Beichlingen, Friedrich von 28 Bembus, Petrus 57 Benedictus Rufinus 57, 66 f. Benedikt von Nursia 55, 317–319 Bernhard von Clairvaux 118, 136, 317–320 Beroaldo, Filippo d. Ä. 46–49, 51, 57, 265 Bessarion, Basilius 57 Bevilaqua, Lorenzo → Laurentius Abstemius Biermost, Johannes 128, 140, 156 Blondus, Flavius 57 Boccaccio, Giovanni 159 Bodenstein, Andreas Rudolf → Karlstadt Bonifatius, Missionar 306 Bora, Katharina von 356 Brassicanus, Johannes Alexander 382 f. Braunschweig, Ernst von 144 Braunschweig, Heinrich von 144 Braunschweig, Otto von 144 Brück, Gregor 43, 366, 371, 374 f. Bruni, Leonardo 256 Bucer, Martin 348 Budé, Guillaume (Budaeus) 97, 288 Bueb, Adam 66, 69 f., 117 Bugenhagen, Johannes 221 Burckhardt, Stephan (Bruder Spalatins) 147–149 Burckard, Johannes 52 Busche, Hermann von dem (Buschius) 27, 253, 294, 297 Butzbach, Johannes 25–27, 37 Cajetan, Thomas 152, 341 Calixtus, Papst 301 Camerarius, Joachim 18 f., 70, 93, 128, 164, 172, 185, 200, 250, 255, 360, 367, 374 f., 379–381, 384, 386–391 Capito, Wolfgang 95 Cato, Marcus Porcius d. Ä. 98, 103, 126 Celsus, Cornelius 98, 143, 304 Celtis, Conrad 34, 74, 90, 95, 107, 155–157, 257, 269 Ceratinus, Jacob 340 Cicero, Marcus Tullius 78, 86, 94, 98, 115, 118, 256, 264 f., 334 Chrysostomos, ital. Diplomat 56 f., 66 Cochlaeus, Johannes 45, 221

PERSONENREGISTER Codrus, Antonius Urceus 49–51, 57 Colet, John 230 Conradi, Tilman 92, 102–104, 205–216 Cordus, Euricius 64, 92–94, 108, 173, 194, 203–214, 216–221, 269, 284, 338, 381 f., 392 Cornelius Nepos 98 Cranach, Lucas d. Ä. 144 Crocus, Richard 296 f., 387 Crotus Rubeanus 11, 17, 45, 75, 87, 92–94, 129, 140, 156, 160, 166, 168, 171, 180, 185, 190–202, 218, 220, 223, 231, 238– 242, 244, 246, 251–253, 262, 269, 284 f., 291, 293, 295, 297, 308, 335, 339 f., 342–344, 348, 360 f., 375 f., 379 f., 382, 391 f. Curtius, Rufus Quintus 98 Cuspinianus, Johannes 95, 253, 297 Cyprian, Kirchenvater 98, 332 Dante Alighieri 159 Diogenes von Sinope 180 Domitian, röm. Kaiser 196, 324 Dorfeld, Nicolaus 81 Draconites, Johannes (Drach, Draco) 92 f., 173, 192, 249, 336, 341, 353, 360, 374 Drusillus, Vulcanus 66, 68, 70 Duns Scotus, Johannes 32, 235 Dunwat, Kunigunde 204 Durand, Guillaume 32 Dürer, Albrecht 346, 381 Duronius 108, 114, 116, 123–125, 128, 131–134, 310–314, 320 Eberbach, Christine (Schwester Peters) 185 Eberbach, Cosmas 381 Eberbach, Peter 11, 41, 48, 63, 85, 87, 92– 94, 97, 129 f., 147, 159–161, 173 f., 184– 193, 204, 209, 211, 223, 225, 230 f., 233, 238, 247 f., 253, 269, 277, 283–285, 288, 297, 302, 306, 321, 338, 360, 382, 391 Eberbach, Georg (Vater Peters) 185 Eberbach, Heinrich (Bruder Peters) 92 f., 185, 188, 204, 238 Ebner, Erasmus 381–383 Eberhard im Barte 271 Eck, Johannes 199, 229, 297, 341–343, 348 Eitelwolf von Stein 45, 47, 91, 99, 242 Ennius, Quintus 98 Eoban, kath. Heiliger 306

425 Erasmus von Rotterdam 11, 13 f., 18, 24– 27, 33, 47, 51, 75, 97, 145, 200 f., 220 f., 228–230, 233, 235, 237, 244, 248 f., 256 f., 286, 288, 294, 331–339, 341 f., 344–349, 355 f., 359 f., 381, 386 Ernst von Bayern, Herzog 316 Eyb, Albrecht von 45, 105 Fastnacht, Heinrich → Urbanus, Henricus Fastnacht, Johannes → Urbicus, Janus Faustus, Georg 279 Femel, Johannes 207, 212 Ficino, Marsilio 55, 57 f., 79, 145, 330, 392 Flavius Josephus, Titus 98 Forchheim, Georg 204, 344 Franz I., franz. König 225 Friedrich der Weise, Kurfürst 59, 76, 97, 129, 136, 139 f., 143–145, 149–151, 166, 227, 255, 264, 275, 285, 306, 336 f., 362, 364, 369–371, 373, 381 Friedrich IV., Landgraf 365 Froben, Johann 234, 335 Froschauer, Christoph 345 Fuchs, Jakob 59 Galba 80 Gattinara, Mercurio Arborio di, Großkanzler 381 Gebesen, Wilhelm von 81 Gellius, Aulus 98 Georg der Bärtige, Herzog 356, 368 Gerbellius, Nikolaus 297 Gerhard, Johann 81 Glareanus, Heinrich 382 f. Goede, Henning 150, 156, 227 Goethe, Johann Wolfgang von 267 Goritz, Johannes (Gorycius) 191 Gratius, Ortwin 27, 294 f., 297 Gresemund, Theoderich Dietrich d. J. 39, 45 Gröning, Martin 286 Groote, Geert 27 Grüninger, Heinrich 130 Gualtherus de Castellione, Philippus 101 Gutenberg, Johann 79 Hacke, Christopher (Hacus) 382 Hackenitus, Petitus 293 Hachenborg, Paul von 85 Hadrian VI., Papst 356

426 Hannibal Barkas 250 Hartmann von Kirchberg 75, 108, 168 f., 198, 281, 293 Hegius, Alexander 24–27 Heinrich II., dt. Kaiser 165 Helena, Mutter des röm. Kaisers Konstantin 165 Heraklit 103, 206 Hermann der Cherusker → Arminius Herodot 97 Hesiod 97, 206 Hessus, Helius Eobanus 11, 18, 64, 70, 75 f., 92–95, 100, 107–109, 128 f., 152– 155, 157, 164, 166–175, 177, 179, 185, 187, 189–194, 197, 204, 207, 213, 217 f., 220–226, 230 f., 233, 235, 238, 242, 244–247, 249–251, 253, 260, 267, 269, 284, 297, 302, 306, 335 f., 338, 341, 343–346, 348 f., 360–362, 373, 379 f., 381–384, 387 f., 390–392 Hilarius von Poitiers 98, 332 Hieronymus, Kirchenvater 98, 180, 234 f., 315 f., 319, 332, 334, 347 Hiob von Dobeneck 163 Hirtius, Aulus 98 Hohenstein, Graf von 28 Holbein, Hans 346 Homer 49, 97, 165, 169, 210 f., 303 Hoogstraten, Jakob von 171, 271, 274, 279, 281, 287, 289, 294, 346 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 98, 102, 143, 161 Horlaeus, Jakob 153 Hummelberger, Michael 166, 191, 285 Hünerjäger, Friedrich 120 Hutten, Ulrich von 17, 41, 44 f., 59, 74, 78, 92–94, 156, 166, 186 f., 194, 220, 236–239, 241–254, 269, 281, 283 f., 291 f., 294, 296 f., 335, 352, 381 Ingham, Marsilius von 32 Innozenz VIII., Papst 52 Irenicus, Franciscus 233, 349 Isserstedt, Ernst von 141 Jäger, Johann → Crotus Rubeanus Jakob von Baden 74 Jessen, Sebastian von 145 Johann der Beständige, Kurfürst 139 f., 373 Johann Friedrich der Großmütige, Kurfürst 139, 143, 220, 364, 389

PERSONENREGISTER Jonas, Justus 17, 92–94, 150 f., 159–161, 173, 204, 220–228, 230, 269, 336 f., 339–342, 344, 348, 360, 380, 382, 391 f. Julius II., Papst 54, 318, 345 Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 98, 206 Karben, Victor von 271 Karl V., dt. Kaiser 184, 275, 340, 389 Karlstadt 87, 221, 227, 348, 356 Karoch → Lichtenberg, Samuel Karoch von Katharina von Bora 356 Katharina von Alexandrien 165 Knappe, Johann d. Ä. 159, 161 Koch, Jodocus 81 Kopernikus, Nikolaus 44 f. Konstantin der Große, röm. Kaiser 165, 285 Köteling, Ludwig 81, 308 f., 312, 314 f. Krafft, Adam 338, 344, 360 Kreutzburg, Anna von 23 Kunigunde von Luxemburg, dt. Kaiserin 165 Laasphe, Johann Bonemilch von 138, 155 Laktanz (Lactantius), Kirchenvater 86, 98, 332 Lange, Johannes 17, 32, 34, 87, 93 f., 151, 185, 192, 204, 220, 226, 230–236, 269, 281, 336, 338 f., 342, 345, 347–349, 351, 351, 360, 363, 391 f. Langenhahn, Johannes 363 Laurentius → Valla, Lorenzo Laurentius Abstemius 140 Lee, Edward 14 f., 33, 220, 337–339 Lefèvre d’Étaples, Jacques 97, 288, 333 Leo I., Papst 136 Leo X., Papst 225, 275 Lichtenberg, Samuel Karoch von 31, 105 Lindener, Heinrich 81 Livius 98, 121 Locher, Jakob 45, 47 Londergut, Ludwig 92 f. Lotius → Köteling, Ludwig Lötze, Henning 239–241, 246, 251 Lötze, Wedig 239–241, 246, 251 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus) 98 Luder, Peter 31, 103, 105 Ludwig V., Pfalzgraf 249 Ludwig XII., franz. König 54, 275 Ludwig, Thomas 81

PERSONENREGISTER Lukian von Samosata 97 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 98, 121 Luther, Martin 53, 129, 140, 149–152, 194, 199–202, 204, 220 f., 227–232, 235 f., 238, 267, 295, 299, 305 f., 330–332, 336, 338, 341–357, 360, 363, 368, 375, 382, 389, 391 Macrobius Ambrosius Theodosius 98 Mair, Johannes 186 Manilius, Marcus 98 Manutius, Aldus 50, 54, 57, 84, 86, 112, 119, 137, 145, 256, 296, 317 Marcellus, Johannes 66, 70, 377 Marschalk, Gerhard 61, 81 Marschalk, Nikolaus 36 f., 83–88, 129 f., 132, 185, 194, 231 Marthen, Herebord von der 11, 43 f., 48, 76 f., 92–94, 98 f., 101, 104, 107, 114, 129, 156, 158–162, 167 f., 170, 174 f., 177–181, 183–185, 190, 215, 223, 225, 231, 233, 253, 260–262, 264, 267, 281, 304 f., 312, 328, 354, 382 Marthen, Gerlach von der (Vater Herebords) 131 Marthen, Gerlach von der (Bruder Herebords) 76, 185 Martial, Marcus Valerius 98 f. Martianus Capella Minneus 94 Maximilian I., dt. Kaiser 54, 56, 74, 157, 184, 186, 225, 241, 243, 270, 275, 316 Mekum → Mykonius, Friedrich Melanchthon, Philipp 81, 215, 221, 249, 297, 341, 356 f., 359, 372, 374–376, 380, 382, 384, 387, 389 Micyllus, Jakob 381, 384–387, 391 Menius, Justus 92, 173, 195, 201, 295, 360, 372, 391 Montaigne, Michel de 78 More, Thomas 332 Moritz von Sachsen, Herzog und Kurfürst 389 Morsch, Georg (Morus) 308, 312 Moschus Syracusanus 381 Mosellanus, Petrus 352, 387, 391 Mudt, Johann (Vater Mutians) 23 Müntzer, Thomas 221, 367 f. Murmellius, Johannes 27 Mykonius, Friedrich 363, 365–369, 372, 374–377 Myssner, Paulus 81

427 Nachtigall, Othmar 233 Nesen, Wilhelm 381 Neuenahr, Hermann von 45 Nigidius, Petrus 379 f., 383 Niklas von Wyle 105 Nützel, Kaspar 381 Ockham, Wilhelm von 32 f. Oekolampadius, Johannes 95, 356 Origenes 98 Ovid (Ovidius Naso) 31, 86, 98, 102, 121, 143, 165 f., 169, 245 Paulus, Apostel 33, 325 f., 368 Peltz, Georg 360 Petrarca, Francesco 78, 101, 157, 159, 256 Petreius → Eberbach, Peter Peutinger, Conrad 18, 45, 47, 74, 253, 256, 297 Petri, Adam 351 Pfefferkorn, Johann 269–275, 277, 287, 294 Philipp von Hessen, Landgraf 11, 24, 59, 89, 108, 264, 368 Philippus Gualtherus de Castellione 101 Piccolomini, Enea Silvio 42, 145, 256 Piccolomini, Francesco Todeschini 53 Pico della Mirandola, Giovanni 42, 55, 57 f., 145, 272 Pirckheimer, Johannes (Vater Willibalds) 45 Pirckheimer, Willibald 11, 74, 78, 138, 237, 243, 253, 256, 290, 297, 350 f., 379, 381 Pistoris, Maternus 84 f., 156, 194, 223 Pittakos 189 Plattfuß, Martin 81, 363 Plato 14, 36, 80, 97, 143, 324 f. Platz, Ludwig 340 Plautus, Titus Maccius 49, 98, 115, 189 Plinius d. J. 98, 121, 143, 256, 259, 264 f. Plutarch (Lucius Mestrius Plurachus) 97, 140 Poggio Bracciolini, Gin Francesco 42, 57, 256 Poliziano → Ambrogini, Angelo Pomponius Mela 98 Pomponius Laetus, Julius 57, 251 Pontanus, Giovanni 318 Pontius Pilatus, röm. Statthalter 324 Porphyrios 97

428 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 98, 121 Psellus, Konstantinos 84 Ptolomäus, König 301 Publicius, Jacobus 31 Publius, Adamus → Bueb, Adam Puteanus, Erycius 259 Pyrrhus → Roth, Johann Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 98, 143 Rabanus Maurus 89 Reuchlin, Johannes 11, 18, 74 f., 89, 97, 119, 145, 151, 166, 173, 191, 200, 208, 220, 233, 256 f., 266, 269–295, 297 f., 308, 329, 333, 335, 337 f., 341 f., 351, 381 Richard von Greiffenklau 241 Robert von Molesme 317 Roth, Johann 77, 92, 107 Rueß, Georg 63, 81 Rufinus → Benedictus Rufinus Rysswick, Hermann 287 Sabellicus, Marcus Antonius Coccius 51 Sabinus, Georg 382 f. Salutati, Colluccio 256 Sallust (Gaius Sallustius Crispus) 98 Salzmann, Melchior 81 San Giorgio, Giovanni Antonio 53 Schalbe, Caspar 173, 336 Schenck, Wolfgang 84 f. Scheurl, Christoph 45, 144 Schil, Martin 62 Schindekopf, Johann 81 Scipio Africanus, Publius Cornelius 133, 250 Seger, Martin 345 Seneca, Lucius Annaeus 98, 121, 148, 164 Sickingen, Franz von 241, 249, 275 Siegfried, Daniel 81 Silius Italicus 98 Sobius, Jacobus 286 Sokrates 80, 324, 392 Sömmering, Johannes 33 f. Sonfeld, Christopher 128 Spalatin, Georg 11, 25, 37, 48, 51, 63, 77, 86 f., 92–95, 105, 114, 116, 122, 126 f., 129–137, 139–152, 155, 158–160, 166, 174 f., 177, 184 f., 217, 227, 230–233, 238, 253, 261, 283–285, 309 f., 312,

PERSONENREGISTER 317 f., 349, 351, 360–362, 370–375, 382, 391 f. Spater, Katarina 170 Stapulensis, Jacob Faber → Lefèvre d’Étaples, Jacques Statius, Publius Papinius 98 Staupitz, Johann von 228 Steinhöwel, Heinrich 105 Stigel, Johann 386 f., 391 Strabo 97 Strub, Arbogast 186 Stürmer, Wolfgang 153 Sturz, Georg 173, 204 Sueton (Gaius Suetonius Tranquillus) 98, 121, 263 Sunthausen, Valentin von 45, 48, 89, 303 f. Tacitus, Publius Cornelius 98, 250 Terenz (Publius Terentius Afer) 31, 33, 98, 281 Tetzel, Johann 352 Textoris von Windsheim, Jodocus 336 Theokrit (Theokritos) 97, 159 Thilo, Heinrich 363 Thomas von Aquin 32, 235 Tibull (Albius Tibullus) 98, 121 Tilonin → Conradi, Tilman Trebelius, Hermann 87, 93, 107, 157, 160 Trithemius, Johannes 40 f., 89, 190, 255 Trutfetter, Jodocus 156 Ulpianus 98 Ulrich von Württemberg, Herzog 275 Urceo, Antonio → Codrus Uriel von Gemmingen 266, 271, 279 Urban II., Papst 301 Urbanus, Henricus 11, 15, 19 f., 26, 33, 36 f., 50, 55, 61, 63, 67–70, 76, 92–95, 97, 111–129, 131–137, 139, 141–143, 146 f., 155, 160, 165 f., 170, 173–175, 177–188, 192, 204 f., 208–210, 215 f., 219, 225, 230, 233, 236, 242, 253, 255, 258–263, 265 f., 278, 280–285, 287, 301, 305 f., 308–314, 316, 318, 320–324, 329, 335 f., 349, 359–362, 369, 373, 382, 391 Urbicus, Janus 66–68 Vadianus 186, 255, 297 Valerius Maximus 98 Valla, Lorenzo 50 f., 57, 84, 145 Varro, Terentius 379 f.

PERSONENREGISTER

429

Velius, Caspar Ursinus 382 Vegetius, Publius Flavius 98, 121 Venatorius, Johannes → Crotus Rubeanus Vergil (Vergilius Maro) 23, 31, 98, 101, 159, 166, 169, 196, 223, 386 Vitrier, Jean 230

Werther, Johann von 335 Wilhelm II. von Hessen, Landgraf 11, 24, 59, 89 Wimpfeling, Jakob 52, 91, 121, 132, 174, 257, 297 Wolf, Thomas 45, 48, 130, 174

Wagener, Matthias 81 Watt, Joachim von → Vadianus Weller von Molsdorf, Anna 145

Zasius, Ulrich 256, 350–352 Zenobius 97 Zwingli, Huldreich 221, 241

JOACHIM EMIG VOLKER LEPPIN UWE SCHIRMER (HG.)

VOR- UND FRÜHREFORMATION IN THÜRINGISCHEN STÄDTEN (1470–1525/30) (QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZU THÜRINGEN IM ZEITALTER DER REFORMATION, BAND 1)

Der mitteldeutsche Raum gilt als das Geburtsland der Reformation. Sie etablierte sich zunächst in den Städten dieser Region. Dennoch sind die spannungsreichen Entwicklungen am Vorabend der Reformation und während ihrer frühen Einführung und Verbreitung für die Städte Thüringens bisher kaum erforscht worden. Die Beiträge über die sozialen, mentalen, gesellschaftspolitischen und verfassungsrechtlichen Veränderungen und Konflikte in thüringischen Städten an der Wende zum 16. Jahrhundert stellen neue Erkenntnisse vor und laden zu ihrer Diskussion ein. 2013. XII, 482 S. 16 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20921-6

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