Muße und Mußeforschung: Ein Kompendium 9783161621871, 9783161625695, 3161621875

Der vorliegende Band gibt einen kompakten, interdisziplinär angelegten Überblick über die Konzeptgeschichte und die gese

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Muße und Mußeforschung: Ein Kompendium
 9783161621871, 9783161625695, 3161621875

Table of contents :
Cover
Titel
Danksagung
Inhalt
Muße erforschen: Der Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 und seine Perspektive auf Muße — (Gregor Dobler/Tilman Kasten)
Achtsamkeit — (Vanessa M. Aeschbach/Johannes C. Fendel/Anja S. Göritz/ Stefan Schmidt)
Aisthesis — (Hans W. Hubert)
Arbeit — (Gregor Dobler)
Askese — (Thomas Böhm)
Erfahrung — (Gregor Dobler)
Erzählen — (Monika Fludernik/Thomas Klinkert/Lisa Müller)
Figuren — (Elisabeth Cheauré/Konstantin Rapp)
Flanerie — (Peter Philipp Riedl/René Waßmer)
Freiheit — (Jochen Gimmel)
Freizeit — (Markus Tauschek)
Geschlecht — (Marion Mangelsdorf)
Gesellschaft — (Gregor Dobler)
Immersion — (Anne Holzmüller)
Kontemplation — (Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch)
Krankheit — (Jürgen Bengel/Lisa Müller)
Kreativität — (Tilman Kasten)
Kulturtransfer — (Thomas Böhm)
Leiblichkeit — (Marion Mangelsdorf)
Museum — (Regine Nohejl)
Muße-Semantiken — (Henrike Manuwald)
Natur — (Johannes Litschel)
(Post-)Kolonialismus — (Monika Fludernik)
Raumzeitlichkeit — (Hans W. Hubert)
Reisen — (René Waßmer/Tim Freytag)
Religiöse Praktiken — (Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch)
Rückzug — (Judith Frömmer)
(Un-)Produktivität — (Gregor Dobler)
Urbanität — (Tim Freytag/Peter Philipp Riedl)
Verzicht — (Monika Fludernik/Timo Heimerdinger)
Wissenschaft — (Jochen Gimmel)
Zeit — (Inga Wilke)
Literaturverzeichnis

Citation preview

Otium Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße Herausgegeben von Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler, Monika Fludernik, Hans W. Hubert und Peter Philipp Riedl Beirat Barbara Beßlich, Christine Engel, Udo Friedrich, Ina Habermann, Richard Hunter, Irmela von der Lühe, Ulrich Pfisterer, Gérard Raulet, Gerd Spittler, Sabine Volk-Birke

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Muße und Mußeforschung Ein Kompendium Herausgegeben von

Gregor Dobler und Tilman Kasten

Mohr Siebeck

Gregor Dobler ist Professor für Ethnologie an der Universität Freiburg und war bis 2022 Sprecher des SFB 1015 Muße. Tilman Kasten ist Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE), Freiburg, und war von 2017 bis 2021 Projektmanager des SFB 1015 Muße.

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 197396619 SFB 1015

ISBN 978-3-16-162187-1 / eISBN 978-3-16-162569-5 DOI 10.1628/978-3-16-162569-5 ISSN 2367-2072 / eISSN 2568-7298 (Otium) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­onal­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über­ setzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Bodelshausen aus der Minion gesetzt, von Beltz Grafische Betriebe in Bad Langensalza auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden. Den Umschlag entwarf Uli Gleis in Tübingen. Umschlagabbildung: Silvia Bächli, Ohne Titel, 2016. Gouache auf Papier. 200 × 150 cm. Privatsammlung Genève. Copyright: Silvia Bächli. Printed in Germany.

Danksagung Dieser Band verdankt sein Entstehen der Zusammenarbeit in einem Forschungsverbund, an dem über mehr als zehn Jahre weit über hundert Personen beteiligt waren. Es ist unmöglich, allen namentlich zu danken, die mit ihren Ideen, ihrem Einsatz und ihrer Begeisterung für das Thema und das gemeinsame Forschen zu diesem Verbund und damit auch zu diesem Band beigetragen haben – den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Geschäftsstelle, den studentischen Hilfskräften; den Gutachterinnen und Gutachtern; denen, die uns in Leitung und Verwaltung der Universität Freiburg begleitet und sich für den Sonderforschungsbereich eingesetzt haben; den Gästen bei Tagungen und Vortragsreihen; all jenen Menschen, die uns durch ihr Interesse am Thema und ihr neugieriges Fragen immer wieder angespornt haben, nach besseren Antworten zu suchen. Wir hoffen, dass die Lektüre ihnen allen das Gefühl gibt, dass ihr Einsatz und ihre solidarische wie kritische Begleitung sich gelohnt haben. Das Thema Muße zeigte uns immer wieder, wie wichtig es ist, sich konzentriert und mit langem Atem gemeinsam in Forschungsfragen vertiefen zu können. Das war uns so nur dank der großzügigen und langfristigen Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) möglich. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DFG haben uns dabei immer wieder durch ihre Professionalität, ihr Interesse an der Forschung und ihren Einsatz für neue Möglichkeiten der Verbundforschung beeindruckt. Drei Personen müssen und wollen wir namentlich danken. Silvia Bächli hat uns in sehr großzügiger Weise eines ihrer Werke als Umschlagabbildung zur Verfügung gestellt. René Waßmer hat die Drucklegung des Manuskripts durch seinen unermüdlichen Einsatz entscheidend vorangebracht und ist dabei den beiden Herausgebern nicht nur in so mühsamen Aufgaben wie der Vereinheitlichung der Bibliographie, sondern vor allem auch durch überaus kompetente inhaltliche Kritik zur Seite gestanden. Zuerst und zuletzt gebührt unser Dank Burkhard Hasebrink, ohne den es den Sonderforschungsbereich nicht gegeben hätte und der durch seine Arbeit die inhaltlichen Grundlagen unserer Auseinandersetzung mit der Muße gelegt hat. Ihm sei auch dieser Band gewidmet – in der Hoffnung, dass er sowohl seine Gedanken darin erkennt als auch an ihrer Weiterentwicklung Freude findet. Gregor Dobler und Tilman Kasten

Inhalt Muße erforschen: Der Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 und seine Perspektive auf Muße (Gregor Dobler/Tilman Kasten) . . . . . . IX Achtsamkeit (Vanessa M. Aeschbach/Johannes C. Fendel/Anja S. Göritz/ Stefan Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Aisthesis (Hans W. Hubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Arbeit (Gregor Dobler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Askese (Thomas Böhm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Erfahrung (Gregor Dobler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Erzählen (Monika Fludernik/Thomas Klinkert/Lisa Müller) . . . . . . . . . . . . . 39 Figuren (Elisabeth Cheauré/Konstantin Rapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Flanerie (Peter Philipp Riedl/René Waßmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Freiheit (Jochen Gimmel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Freizeit (Markus Tauschek) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Geschlecht (Marion Mangelsdorf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Gesellschaft (Gregor Dobler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Immersion (Anne Holzmüller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kontemplation (Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Krankheit (Jürgen Bengel/Lisa Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Kreativität (Tilman Kasten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Kulturtransfer (Thomas Böhm) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Leiblichkeit (Marion Mangelsdorf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Museum (Regine Nohejl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Muße-Semantiken (Henrike Manuwald) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Natur (Johannes Litschel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (Post-)Kolonialismus (Monika Fludernik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Raumzeitlichkeit (Hans W. Hubert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Reisen (René Waßmer/Tim Freytag) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

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Inhalt

Religiöse Praktiken (Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch) . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Rückzug (Judith Frömmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (Un-)Produktivität (Gregor Dobler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Urbanität (Tim Freytag/Peter Philipp Riedl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Verzicht (Monika Fludernik/Timo Heimerdinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Wissenschaft (Jochen Gimmel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Zeit (Inga Wilke) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Muße erforschen Der Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 und seine Perspektive auf Muße Gregor Dobler/Tilman Kasten Muße ist ein schillernder und mit vielfältigen Inhalten verknüpfter, meist mit normativen Vorstellungen vom guten Leben verbundener Begriff. Seit Platon und Aristoteles zieht sich die Idee, Zeiten des Nicht-Tuns gehörten zum erfüllten Menschsein und stünden sogar in seinem Zentrum, durch die abendländische Geistesgeschichte. Eine ebenso lange Tradition haben Diskussionen und oft auch Kämpfe darum, welche Rolle solche Zeiten für unterschiedliche Gruppen von Menschen spielen sollen und dürfen. Auch heute gewinnen Konzepte von Muße als Gegenbild zu einer als in steter Beschleunigung begriffenen Gesellschaft und als Modus der Kritik an gegenwärtiger Arbeits- und Gesellschaftsorganisation neue Prominenz. Vor diesem Hintergrund hat der Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 mehr als zehn Jahre lang Mußevorstellungen und -praktiken konzeptuell, ideengeschichtlich und empirisch untersucht. Dieser Band fasst die wichtigsten Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs in komprimierter Form zusammen. Er ist als ein Kompendium organisiert, das gleichzeitig ein Lesebuch der Mußeforschung sein und den Einstieg in eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema ermöglichen will. 31 Artikel behandeln jeweils ein Stichwort, das zu einem Kristallisationspunkt unserer gemeinsamen Forschung zu Muße geworden ist. Jeder Artikel beleuchtet Facetten von Muße und zeigt Wege zu ihrer Erforschung auf. Wir stellen also den gemeinsamen Ertrag und die verbindenden Themen in den Mittelpunkt. Damit soll der Band einerseits die wichtigsten Ergebnisse unserer Forschungen deutlich machen, andererseits zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema Muße anregen. Ziel dieser Einleitung ist es, eine Gesamtperspektive auf das Thema zu bieten und damit den Fragen der Einzelartikel ihren Kontext zu geben: Was verstehen wir unter Muße? Warum sollte man sie erforschen, und wie haben wir interdisziplinär zu Muße geforscht? Zunächst soll dieses „Wir“ genauer erläutert werden: Was war der SFB 1015 und inwieweit hat sich aus ihm eine gemeinsame Perspektive ergeben? In einem zweiten Schritt werden wir (nun verstanden als die beiden Autoren der Einleitung) diese gemeinsame Perspektive in Grundzügen erläutern: Was ist

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Muße, und warum halten wir es für sinnvoll, ganz unterschiedliche Erfahrungen und ihre Diskursivierungen unter diesem Stichwort zusammenzufassen? Darauf aufbauend wollen wir drittens deutlich machen, warum wir auch nach mehr als zehn Jahren Mußeforschung überzeugt sind, dass Muße ein wissenschaftlich fruchtbares und gesellschaftlich äußerst aktuelles Thema bleibt. Die Beschäftigung mit diesem Thema hat die Art unseres gemeinsamen Forschens verändert. Deshalb möchten wir in einem vierten Schritt die Hintergründe, den Verlauf und auch die Schwierigkeiten interdisziplinärer Forschung zur Muße genauer darstellen. Am Ende steht dann die Einladung zur Lektüre – zur Lektüre dieses Bandes und seiner Stichworte, aber auch der vielfältigen disziplinär, zeitlich und räumlich klar bestimmten Einzeluntersuchungen, die ihm vorausgegangen sind und ihn erst möglich gemacht haben. In dieser Einleitung haben wir auf Literaturhinweise verzichtet und nur direkte Zitate nachgewiesen. Die folgenden Artikel des Bandes, auf die wir stattdessen verweisen, erschließen die Forschungsliteratur.

Der Freiburger Sonderforschungsbereich 1015 „Muße“ Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sind in der deutschen Forschungsförderlandschaft ein herausgehobenes Format. Sie ermöglichen langfristige, auf bis zu zwölf Jahre angelegte Verbundforschung zu Themen, die sich nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit adäquat erforschen lassen. Einzelne Teilprojekte, die in sich meist der Logik einer Disziplin verpflichtet sind, werden durch die enge Zusammenarbeit in einem Verbund mit neuen, übergreifenden Fragestellungen konfrontiert; die Arbeit des Gesamtverbundes an diesen Fragestellungen speist sich aus der fachbezogenen Forschung in den Teilprojekten. Auf diese Art sollen wichtige Forschungsthemen in übergreifenden, quer zu den Einzelfächern liegenden Perspektiven bearbeitet werden. Die daraus entstehenden neuen Erkenntnisse können in die Fächer zurückwirken und ihre Fragen und Antworten verändern. Die Planung für den Freiburger SFB „Muße“ begann im Jahr 2009. Der Finanzierungsantrag wurde 2012 eingereicht; nach erfolgreicher Begutachtung nahm der SFB im Januar 2013 seine Arbeit auf. Der Schwerpunkt der ersten Förderphase lag fachlich in den Geisteswissenschaften, inhaltlich in der konzeptuellen Klärung und historischen Schärfung des Mußebegriffs. In der zweiten Förderphase von 2017 bis 2021 verschob sich dann das disziplinäre Gewicht stärker in Richtung Sozialwissenschaften, die inhaltliche Ausrichtung hin zur gesellschaftlichen Bedeutung von Muße. Der Antrag für eine dritte Förderphase wurde von den Gutachterinnen und Gutachtern zur Förderung empfohlen, aber der Bewilligungsausschuss entschied sich aufgrund fehlender Mittel gegen eine Fortführung des SFB. Eine einjährige, im Kontext der Corona-Pandemie



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nochmals um sechs Monate verlängerte Abschlussphase diente der Beendigung der Teilprojekte und der Synthese, die ihren Niederschlag unter anderem im vorliegenden Band findet. Insgesamt waren am Sonderforschungsbereich über hundert Wissenschaftler*innen beteiligt. In beiden Phasen wurden je vierzehn Teilprojekte gefördert. In der ersten Phase waren Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte, Latinistik/ Gräzistik, Germanistik, Anglistik, Romanistik, Slavistik, Psychologie/Medizin, Soziologie und Ethnologie beteiligt. In der zweiten Phase blieben Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte, Germanistik, Anglistik, Slavistik, Romanistik, Psychologie, Medizin und Ethnologie dabei; hinzu kamen Teilprojekte aus der Geographie, den Forstwissenschaften, den Empirischen Kulturwissenschaften und der Musikwissenschaft. Ein Modul Graduiertenkolleg bot ein Forum der Integration und Förderung für Doktorand*innen und Postdocs, ein Serviceprojekt, verantwortet von Universitätsbibliothek und Rechenzentrum, stellte die nötige Informationsinfrastruktur zur Verfügung und entwickelte Konzepte des Forschungsdatenmanagements. Das Transferprojekt der zweiten Förderphase war der Anwendung der Forschungsergebnisse im musealen Kontext gewidmet. Diese formellen Angaben sind wichtig, um die Aufsätze dieses Bandes einordnen zu können, aber sie verdecken mehr, als sie sichtbar machen. Die gemeinsame Arbeit am Thema hat uns über die letzten dreizehn Jahre hinweg verändert. Sie hat Freundschaften hervorgebracht und Konflikte, hat wissenschaftliche Neugierde gefördert und persönliche und gesellschaftliche Lernprozesse angestoßen. Diese Veränderungen werden im vierten Abschnitt kurz Thema sein. Davor möchten wir aber unser gemeinsames Thema in den Fokus nehmen: Was ist Muße und wie kann man sie erforschen?

Was ist Muße? Die Frage danach, was eigentlich der Untersuchungsgegenstand eines SFB „Muße“ sei, führte immer wieder zu hitzigen Debatten unter uns. Dabei ging es oft nicht so sehr um die Inhalte als um den Status des Konzepts Muße. Während Muße den einen als inhaltlich bestimmte anthropologische Kategorie erschien, sahen andere sie als kontingente gesellschaftliche Zuschreibung. Oft entzündeten sich diese Diskussionen an der Frage, ob es Muße in Gesellschaften gebe, die keinen Begriff dafür haben. Muße, scholé, otium, leisure, oisiveté, ozio, dosug  – all diese Worte haben ihr eigenes veränderliches semantisches Feld. Sie schließen bestimmte Dinge ein und andere aus und setzen Konzepten wie Praktiken jeweils andere Grenzen. Haben sie einen gemeinsamen Kern? Falls nicht, was ist unser Gegenstand? Eine Antwort auf diese Fragen ist nur möglich, wenn man heuristisch unser analytisches Konzept von Muße – den Zielpunkt unserer gemeinsamen

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Neugierde also – von den Konzeptionalisierungen und Semantisierungen unterscheidet, die konkrete Gesellschaften im für das analytische Konzept relevanten Feld vornehmen (↗ Muße-Semantiken). Erst diese Unterscheidung ermöglicht eine Untersuchung sowohl des konzeptuellen Kerns als auch der für den jeweiligen Kontext relevanten Semantisierungen. Erst sie öffnet einen Raum dafür, sozialwissenschaftlich nach Praktiken der Muße zu fragen und geisteswissenschaftlich Muße onomasiologisch und semasiologisch zu untersuchen – also zu fragen, wie einzelne Sprachen und Gesellschaften zu einer bestimmten Zeit über das sprechen, was wir mit Muße bezeichnen, und welche Bedeutungen jeweils von den Worten abgedeckt werden, die sie in diesem Feld verwenden. Der Ausgangspunkt für beide Frageweisen muss in dem liegen, was wir vorab und heuristisch als analytischen Kern von Muße verstehen. Die Forschung selbst besteht dann in einem ständigen Wechsel der Aufmerksamkeit zwischen der Klärung und Weiterentwicklung des konzeptuellen Kerns und der Erforschung der konkreten sozialen und kulturellen Gestaltungen, die uns in empirischen Untersuchungen entgegentreten. Muße ist für uns immer auch im Erleben und der ↗ Erfahrung einzelner Menschen verankert. Sie bezeichnet Zeitabschnitte, die zumindest im Nachhinein als abgegrenzt erkennbar werden und in denen sich der Bezug der Akteur*innen zu ihrer Lebenswelt und deren Handlungslogik verändert. In Muße treten die Zweckbestimmtheit des Handelns und die Notwendigkeit von Produktivität (↗ [Un-]Produktivität) für eine gewisse Zeit zurück. Das bedeutet nicht, dass äußere Produktivitätsansprüche einfach aufhören, sondern es heißt, dass sich die innere Aufmerksamkeit nicht mehr auf sie richtet. In Muße fühlen sich Menschen nicht mehr von den vielfältigen Anforderungen bestimmt, die an sie gestellt werden. Stattdessen treten Möglichkeiten, ↗ Freiheit und das ziellose Sich-Einlassen auf die Situation in den Vordergrund. Muße schafft also ein Gefühl temporärer Freiheit von äußeren (und inneren) Ansprüchen (↗ Rückzug). Solche Freiheit alleine genügt aber noch nicht zur analytischen Bestimmung von Muße. Das Fehlen von Produktivitätsansprüchen charakterisiert auch ↗ Freizeit, Erholung, ↗ Reisen, Schlaf, selbst ↗ Krankheit oder Zeiten des Burnouts. Was Muße von diesen Phänomenen unterscheidet, ist, dass in ihr aus der Freiheit von Produktivitätsansprüchen ein Freiraum für etwas Neues entstehen kann. Muße wird neu und auf oft unvorhersagbare Weise ‚produktiv‘. Auf eine der Kurzformeln des SFB gebracht ist Muße produktive Unproduktivität. Das bedeutet nicht, dass jeder Moment der Muße produktiv werden müsste, um als solcher erlebt zu werden; noch viel weniger bedeutet es, dass ein Produkt von Muße sich voraussehen und einplanen ließe. Der Muße ist Potentialität eingeschrieben, nicht zielgerichtete Produktivität. Diese Potentialität ist im Erleben mit einer Veränderung des Verhältnisses zur Welt und oft mit einer Veränderung leiblicher Erfahrung (↗ Leiblichkeit) verbunden. Am klarsten wandelt sich dabei das Verhältnis zum Verstreichen der



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↗ Zeit und zur räumlichen Gebundenheit (↗ Raumzeitlichkeit, ↗ Immersion, ↗ Aisthesis). An die Stelle von konsekutiver, auf die Erfüllung von Aufgaben verwendbarer Zeit tritt im Erleben eine Dauer; wo man überhaupt die Zeit fokussiert, steht nicht das Verstreichen, sondern ihr Verweilen im Zentrum der Wahrnehmung. Auch Raum wird in Muße stärker als Möglichkeit der freien Aneignung denn als Einengung empfunden. Mit beidem ist noch nichts darüber gesagt, auf welche Weise Zeit in Muße gefüllt und Raum angeeignet wird. Flanieren in der Stadt (↗ Urbanität, ↗ Flanerie) oder Wanderungen in der ↗ Natur sind ebenso oft als typische Mußesituationen beschrieben worden wie das Briefeschreiben am Schreibtisch, Meditation in einer Zelle (↗ Religiöse Praktiken) oder faules Liegen in einer Sommerwiese. Jede dieser Tätigkeiten mag für manche Menschen thematisch mit Muße verbunden sein. Das bedeutet noch nicht, dass sie in jedem Fall als mußevoll erlebt würden. Ebenso wenig schließen solche diskursiven Aufladungen bestimmter Situationen es aus, dass Muße sich in anderen, diskursiv nicht mit Muße verbundenen Situationen einstellt. Wo sich Muße jedoch ereignet, da entsteht in der Wahrnehmung eine Differenz zum gewöhnlichen Alltag. Es gibt ein Vorher und ein Nachher der Muße. Das bedeutet nicht nur, dass sie stets ein sporadisches, auf im Nachhinein erkennbare Zeiten beschränktes Phänomen ist; es bedeutet auch, dass Mußezeiten im Vergleich zum Alltag eine besondere Qualität annehmen. Diese Qualität kann, muss aber nicht, Ansatzpunkt der Reflexion von Muße und ihrer konzeptuellen und semantischen Abgrenzung von anderen Zeiten werden. Wo Muße innergesellschaftlich als besondere Zeit markiert und semantisch unterschieden wird, da wird sie typischerweise auch mit Wertungen und Rollenerwartungen verbunden. Nicht jeder Mensch kann und soll zu jeder Zeit Muße haben, und nicht jede Art, Muße zu erleben oder zu praktizieren, erscheint gleichermaßen als würdevoll. So schränkt etwa schon Ciceros berühmte Formel otium cum dignitate Muße auf ganz bestimmte, eben würdevolle Beschäftigungen ein und spricht sie nur denjenigen zu, die fähig und willens sind, sie auf diese Weise zu füllen. Auch Muße ist also in jeder ↗ Gesellschaft der Einschränkung durch Produktivitätsansprüche unterworfen. Solche diskursiven Einschränkungen setzen zunächst an der prinzipiellen Offenheit der Muße an  – an der Beobachtung also, dass nicht vorhersagbar ist, auf welche Weise Muße produktiv wird. Erst diese Offenheit schafft die gesellschaftliche Notwendigkeit, die Produktivität der Muße in feste Bahnen zu lenken und die Sprengkraft der Muße in gesellschaftlich als nützlich anerkannte Richtungen zu domestizieren. Ob es nun die Erkenntnis des Philosophen ist (↗ Kontemplation), das Werk des Künstlers (↗ Kreativität) oder die Gottesschau der Mystikerin (↗ Askese): das Recht, sich auf Zeit von Produktivitätsanforderungen zu verabschieden, wird mit der Pflicht verbunden, diese Zeit auf wertvolle Weise zu nutzen.

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Solche Diskursivierungen haben eine doppelte Konsequenz: Sie immunisieren die Muße derjenigen, die sich auf sie berufen können, gegen Kritik; und sie lassen alle anderen Varianten von Muße als ungerechtfertigtes Nichtstun erscheinen. Sie verbinden also Muße mit bestimmten Inhalten und gleichzeitig mit gesellschaftlichen Rollen – mit Bildern von ↗ Geschlecht, Klassenzuschreibungen, ethnischen und religiösen Identitäten und Vergleichbarem (↗ Postkolonialismus). Würden solche Zuschreibungen Muße und ↗ Figuren der Muße vollständig determinieren, so ginge Muße in der Affirmation auf. Doch wenn das Freiheitsmoment der Muße mit Einschränkungen und Bestimmungen versehen oder von diesen gar vollständig aufgehoben wird, dann verliert Muße gerade jenes Potential zur Produktivität, das sie überhaupt zu einer gesellschaftlichen Ressource macht. Wo das Freiheitsmoment aber bestehen bleibt, dort öffnet Muße trotz aller äußeren Zuschreibungen einen sozialen Raum, in dem Menschen aus der Rolle fallen und anderes tun können, als sie dem Begriff nach sollten. Nur solange Muße Offenheit ermöglicht, kann sie auch ihre eigenen diskursiven Bedingungen unterlaufen. Diese Möglichkeit der Transgressivität ist für ihre gesellschaftliche Sprengkraft entscheidend. Damit ist sehr kurz unser Begriff von Muße umrissen. Schon in diesen wenigen Sätzen wird deutlich, dass der von uns zugrunde gelegte Begriff von Muße in einem klaren Spannungsverhältnis zu jenen Konzepten, Semantisierungen und Praktiken der Muße stehen kann, die wir in den jeweiligen Untersuchungsfeldern vorfinden und die in stetem historischem Wandel begriffen sind (↗ Kulturtransfer). Genau dieses Spannungsverhältnis ermöglicht es einerseits, unseren Mußebegriff analytisch für die vergleichende Untersuchung konkreter Phänomene fruchtbar zu machen, andererseits, ihn aus dieser Forschungsarbeit heraus konzeptuell weiterzuentwickeln. Die Frage, ob es vor diesem Hintergrund überhaupt sinnvoll ist, von unserem ‚Begriff ‘ von Muße zu sprechen, hat im SFB immer wieder Kontroversen hervorgerufen (hierzu siehe grundlegend Gimmel 2021b). Wir sehen den Begriff ‚Muße‘ auf einer ähnlichen Ebene der Abstraktion wie etwa die Begriffe ‚Herrschaft‘ oder ‚Ritual‘: Er bezeichnet einen sozialen Zusammenhang, dessen Kern sich angeben lässt und von dem wir vermuten (und heuristisch davon ausgehen), dass er anthropologische Relevanz hat. Das bedeutet noch nicht, dass es in allen Gesellschaften, zu allen Zeiten und für alle Menschen Muße gäbe; es bedeutet aber – so zumindest war die Arbeitshypothese hinter der Idee des Sonderforschungsbereichs –, dass die Frage nach Muße sich als Ausgangpunkt neugierigen Fragens für alle Gesellschaften, alle Zeiten und alle Menschen eignet; eines Fragens, von dem wir interessante und relevante Antworten erwarten. Zweifel an dieser Hypothese blieben in der Arbeit des SFB natürlich nicht aus, aber insgesamt haben mehr als zehn Jahre Forschung unsere Überzeugung, dass Muße eine ebenso relevante wie wichtige anthropologische Untersuchungskategorie ist, eher bestätigt als erschüttert.



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Warum Muße erforschen? Mit den Inhalten, die sich für uns mit Muße verbinden, ist bereits aufgerufen, warum es sich lohnt, Muße zum Thema zu machen. Muße schenkt die Möglichkeit, sich auf Zeit von gesellschaftlichen Ansprüchen freizumachen – aber sie schenkt diese Möglichkeit nicht unterschiedslos. In der Auseinandersetzung darüber, wer Muße haben darf, verhandeln Gesellschaften auch, welche Art von Freiheit wem zukommen soll und welche Produktivitätsansprüche stets gültig bleiben. Deshalb bietet Muße ganz allgemein einen Ansatzpunkt zur Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuen und den gesellschaftlichen Ansprüchen, denen sie genügen sollen. Wie wird über dieses Verhältnis in konkreten historischen Situationen gedacht, geschrieben, wie wird es praktisch gelebt und verändert? Welche Ansprüche werden in Mußediskursen und -praktiken zum Zielpunkt von Kritik, welche werden affirmativ untermauert? Wie kann man sich, und sei es auch nur auf Zeit, die Gesellschaft vom Leibe halten? Zu solchen Fragen bietet Muße einen umso fruchtbareren Zugangspunkt, als sie gleichzeitig einen innergesellschaftlichen Gegenstandpunkt abweichender Erfahrung zur Verfügung stellt. Die oben bereits geschilderte Erfahrungsstruktur von Muße macht sie zu einem Freiraum, in dem Menschen sich anders wahrnehmen können, als sie es gewohnt sind. Damit kann Muße zu einem erfahrungsbasierten Gegenpol zum gewöhnlichen Alltag werden. In dieser Differenz, ohne die Muße ihre Besonderheit verlöre, ist die Möglichkeit einer Kritik des Alltags bereits eingeschlossen. Wenn unser Verhältnis zur Welt sich ändern und wir in Muße andere Erfahrungen machen können, von denen wir das Gefühl haben, dass sie uns besser entsprechen  – warum bleibt dann nicht öfter Raum für solche Erfahrungen? Was verhindert sie? Diese Frage ist der Kontrasterfahrung der Muße eingeschrieben, auch wenn sie in der Auseinandersetzung mit Mußeerfahrungen nicht immer explizit wird. Muße kann zu einem Vergleichspunkt werden, von dem aus Zweckbestimmung und Produktivitätserwartungen der gewöhnlichen Lebenswelt erfahrbar und damit kritisierbar werden (↗ Achtsamkeit). Die oben angesprochene spezielle Produktivität der Muße kann also auch in einer Kritik des Alltags münden. Das wird in Gesellschaften umso deutlicher, deren vorherrschende Selbstbeschreibungen von der Abwesenheit von Muße geprägt sind und in denen Produktivität, Beschleunigung, Wachstum und immer neue Möglichkeiten, Zeit möglichst effizient zu füllen, vorherrschen. In einer Situation wie der heutigen, in der in den reichen Ländern der Welt Menschen das Gefühl haben, immer neuen Ansprüchen der Arbeit wie der Freizeit ausgesetzt zu sein, wird Muße oft zu einer utopischen Figur, die mit Möglichkeiten anderen Lebens aufgeladen erscheint und die zu finden Glück verheißt. Im globalen Süden äußert sich die Überforderung durch Produktivität auf andere Weise  – in der strukturellen

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Langeweile der Arbeitslosigkeit ebenso wie im alltäglichen Kampf um die Aufrechterhaltung der eigenen Lebenschancen  –, aber auch hier kann die Untersuchung von Muße Zugang zu Gegenstandpunkten und Utopien eines anderen Lebens bieten (Dobler 2017). All diese Themen sind in der Untersuchung von Muße verbunden mit der konkreten Veränderung oder Durchbrechung von Alltagspraktiken einerseits, vielfältigen Diskursivierungen und Normierungen andererseits. Die Untersuchung von Muße gibt also Ansatzpunkte zu erforschen, wie Menschen Produktivität und Effizienz sehen; wie sie ihnen auf Zeit entkommen können; welche Veränderungen im Verhältnis zu Raum, Zeit und Umwelt sie dann empfinden und was das über die Konstitution von Alltag außerhalb der Muße sagt; wie diese Veränderungen wieder diskursiv gefasst, diskutiert, auf bestimmte Rollen verengt und mit ihnen verbunden werden; und wo dennoch Möglichkeiten der Veränderung liegen. Auf welche konkreten Pfade uns diese Ansatzpunkte geführt haben, darüber gibt dieser Band in einer Reihe einzelner Stichworte Auskunft.

Wie über Muße forschen? Schon in diesen kurzen konzeptuellen Überlegungen sind manche Schwierigkeiten der Mußeforschung angeklungen. Zwei Hauptspannungen zogen sich durch unsere Forschungen und sorgten immer neu für Diskussionen. Die erste Spannung ist die zwischen Phänomen und Diskursivierung. Es lässt sich leicht sagen, was in konkreten Texten oder von einzelnen Akteur*innen als Muße bezeichnet wird. Doch darin erschöpft sich das Untersuchungsfeld nicht. Sich in begriffsgeschichtlichem Interesse auf explizite Mußediskurse und -praktiken zu beschränken, wäre mit dem Verzicht auf eine kontextübergreifende inhaltliche Bestimmung verbunden, die auch jene Handlungsfelder analysierbar macht, in denen Muße eben nicht explizit thematisiert wird. Eine klare inhaltliche Vorab-Bestimmung vorzunehmen, birgt hingegen die Gefahr, Muße letztlich überall zu finden, die Formen ihrer subjektiven Erfahrung und die jeweiligen diskursiven Konkretionen in ihrer Wirkmächtigkeit nicht ernst genug zu nehmen. In dieser Spannung hatten viele im SFB immer wieder das Gefühl, dass uns unser Gegenstand abhandenkomme. Dieser Eindruck wurde auch von der zweiten der Mußeforschung inhärenten Spannung gefördert. Selbst dort, wo man – etwa mit kultur-, sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Methoden – relativ direkten Zugang zu Akteur*innen und ihren Vorstellungen und Praktiken von Muße hat, lässt sich Muße nie unvermittelt als solche erkennen. Die Erfahrung von Muße ist bereits auf Interpretation und Diskursivierung angewiesen; ein bestimmter Bewusstseinszustand wird nur zu Muße indem man sich ihm inter-



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pretierend zuwendet. Auch hier bleibt deswegen das der Interpretation zugrundliegende Phänomen stets flüchtig. Mußeforschung ist also häufig der Versuch, akteursseitige Interpretationen wissenschaftlich zu interpretieren. War eine Erfahrung ‚wirklich‘ Muße? Was würde das bedeuten? Auch wenn diese Frage nicht beantwortbar ist, kann man nicht auf sie verzichten, wenn man heuristisch von einer Gemeinsamkeit unterschiedlicher Mußeerfahrungen ausgeht. In dieser doppelten Spannung zwischen heuristischen anthropologischen Grundannahmen einerseits und der Variationsbreite der in der Forschung vorgefundenen Konkretionen des Forschungsgegenstandes andererseits liegt die Schwierigkeit der Mußeforschung begründet, aber auch ein guter Teil ihrer Faszinationskraft. Die am SFB Beteiligten haben versucht, diese Spannung auszuhalten und sie fruchtbar zu machen, ohne sie im Ganzen in die eine oder andere Richtung aufzulösen. Muße wurde für uns zum Suchbegriff: zu einem Scheinwerfer, in dessen Licht sich die von den einzelnen Teilprojekten beschriebenen Phänomene neu und anders erkennen ließen. Für dieses Unterfangen war die historische, kulturelle und disziplinäre Breite der Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs sehr wichtig. Der SFB brachte Forschungen der Mediävistik zu Tristan und Isolde oder Meister Eckhart in Dialog mit ethnologischen Studien zu bäuerlicher ↗ Arbeit in Namibia und Frankreich heute; er bot einen Rahmen für die Zusammenarbeit von Psychologie und Kunstgeschichte, um Raum- und Zeiterfahrung in architektonisch gestalteten Räumen zu verstehen (und im Muße-Literaturmuseum BadenBaden selbst ein ↗ Museum zu gestalten); er ließ Schnittfelder zwischen Kulturanthropologie und Forstwissenschaft erkennen. Die Forschungen der einzelnen Teilprojekte blieben dabei meistens disziplinär und bezogen die Maßstäbe ihrer Fragestellungen und Methodik aus den Fächern selbst. In der interdisziplinären Zusammenarbeit wurden die gemeinsamen Fragen geschärft, die sich durch alle Teilprojekte zogen. Damit machte die Zusammenarbeit es auch möglich, die Begrenzungen des jeweiligen Faches zu erkennen und die Reichweite seiner Antworten realistischer einzuschätzen. Vor allem lenkte die Heterogenität der Methoden und Einzelfragen den Blick auf das Gemeinsame, auf die großen analytischen und anthropologischen Themen, die mit dem Forschungsfeld Muße verbunden sind. Gerade dadurch schuf die Zusammenarbeit so heterogener Fächer einen erstaunlichen Mehrwert und ließ in den Einzeluntersuchungen die gemeinsamen Fragen stets präsent bleiben. Damit wirkte der SFB auch in die Fächer zurück und veränderte ihren Fragenkanon und ihre Kommunikationsformen. Konkret haben wir die Zusammenarbeit im SFB anhand von Fragesträngen organisiert, die sich mit gewissen Verschiebungen durch die gesamte Laufzeit zogen. Projektbereiche und Arbeitsgruppen widmeten sich erstens den Konzepten der Muße, ihrer Abgrenzung von und Schnittmengen mit Nachbarkonzepten wie Langeweile oder Faulheit und den Semantisierungen, die unterschiedliche

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Sprachkulturen in diesem weiten Feld vornehmen; zweitens lebensweltlichen oder erzählten (↗ Erzählen) Praktiken und ↗ Erfahrungen von Muße; drittens den Veränderungen von Raum- und Zeiterfahrungen in der Muße (↗ Raumzeitlichkeit; ↗ Zeit). Diese Fragestellungen sind naturgemäß auch im vorliegenden Band prominent vertreten. Je länger wir uns mit Muße beschäftigten, desto stärker rückten für uns dabei die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen in den Mittelpunkt, die mit ihr verbunden sind. Während diese Fragen bereits in der Entscheidung für das Thema Muße präsent waren, blieben sie zu Beginn der gemeinsamen Arbeit etwas im Hintergrund, da es zunächst galt, unser Thema unvoreingenommen und jenseits von zeitgebundenen Beschleunigungsdiskursen aufzuschließen. Im Laufe der zweiten Phase standen sie dann aber auf neuer Basis wieder im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Arbeit. Welche Normen von Produktivität sollen welche Menschen erfüllen? Wie organisieren wir gesellschaftlich notwendige Arbeit, und welche Arbeit ist überhaupt gesellschaftlich notwendig? Welche Freiräume lassen die Zwänge des Zusammenlebens den Einzelnen, und wo finden sie Spielräume, sich zumindest auf Zeit von solchen Zwängen frei zu fühlen? Mit welchen diskursiven Schranken bleiben solche Spielräume umgeben, auf welche Rollen werden sie gesellschaftlich eingeschränkt? Wo und wie können einzelne Menschen solche Schranken überwinden? Wo entstehen im Alltag Reflexionsräume und Möglichkeiten der Kritik? Worauf muss man ↗ Verzicht leisten, wenn man Spielräume der ↗ Freiheit erhöhen will? Die Untersuchung der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Muße führte uns nicht zuletzt auch immer wieder zur Reflexion der Bedingungen unseres eigenen Tuns. Was sind die Bedingungen wissenschaftlicher Produktivität, und wie können wir uns in einer hierarchisch organisierten Universität gemeinsame Neugierde und Freiräume des Fragens bewahren? Solche Fragen ließen sich nicht aus der wissenschaftlichen Grundlagenforschung heraus entscheiden, aber wir konnten sie aus der Auseinandersetzung mit konkreten Einzelthemen heraus präziser stellen, konnten Bedingungen ihrer Beantwortung ausloten – und vor allem deutlich machen, welche komplexen gesellschaftlichen Entscheidungen hinter der einfach scheinenden Forderung nach mehr Muße verborgen sein können. Sich über einen so langen Zeitraum akademisch mit dem Thema Muße auseinanderzusetzen, konnte auch die eigene Art, gemeinsam ↗ Wissenschaft zu betreiben, nicht unberührt lassen. Sonderforschungsbereiche sind institutionalisierte Aufforderungen zur Produktivität, zur Planung und Erfolgskontrolle und zur ständigen Erhöhung der eigenen Ansprüche. Für die Leitungspersonen der Teilprojekte (die zumindest über die Laufzeit hinweg eine aus der universitären Grundausstattung finanzierte Stelle haben müssen, meist eine Professur) kommt die Arbeit im SFB zu den zahlreichen anderen Arbeitsanforderungen dazu; für



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die Mitarbeitenden, die über den SFB finanziert werden, ist sie die Hauptaufgabe und der Hauptinhalt der Arbeit. Sie sind indes abhängig von jenen, die weniger Zeit als sie selbst auf die Erforschung von Muße verwenden, aber das Projekt leiten und den Ertrag ihrer Arbeit einmal bewerten werden. Die Teilprojektleiterinnen und -leiter möchten, dass der SFB verlängert wird, und müssen dazu die Mitarbeitenden zur Arbeit und zur zeitgerechten Erfüllung der vorab definierten Ziele antreiben; die Mitarbeitenden sind in hohem Maße intrinsisch motiviert, ihre Aufgaben zu erfüllen, verfolgen eigene Qualifikationsziele wie die Promotion, aber haben keinerlei persönlichen Vorteil von der Verlängerung eines Sonderforschungsbereichs, an dessen nächster Phase sie größtenteils nicht mehr mitwirken werden. Sie würden sich lieber an ihrem eigenen Zeitplan als an den Anforderungen der Erfolgskontrolle orientieren. All das schafft Hierarchien, Spannungen und Druck. Lässt sich unter diesen Bedingungen in Muße forschen? Lassen sich Erkenntnisse über die produktive Wirkung von Produktivitätsentlastung in die eigene Arbeit umsetzen? Wir haben es versucht und sind dabei, in unserer Einschätzung, nicht völlig gescheitert. Die Beschäftigung mit dem Thema Muße zwang uns auch immer wieder zur Selbstreflexion und zum Gespräch darüber, wie wir uns Wissenschaft vorstellen. Dabei wurden zwei Punkte zentral. Erstens sollte es uns um Inhalte und die Organisation und Förderung gemeinsamer Neugierde gehen. Sinn eines SFB ist nicht die Generierung von Drittmitteln (die universitäre Wettbewerbslogik), nicht die Hebung des eigenen Egos (die professorale Logik), noch nicht einmal die Schaffung von (befristeten) Forschungsstellen (die Logik der Mitarbeitenden). Sinn eines SFB ist vielmehr, einen Raum für die Auseinandersetzung mit Inhalten zu öffnen, die gemeinsame Neugierde zu fördern und von ihr aus für die Wissenschaft und die Gesellschaft wichtige Fragen zu bearbeiten. Dazu braucht es aufgrund der prozentual geringer werdenden Grundausstattung Drittmittel. Allen am SFB Beteiligten ist immer wieder deutlich geworden, wie oft diese grundlegende Logik heute umgekehrt wird, so dass der Eindruck entsteht, man benötige Themen zur Generierung von Drittmitteln – um im wissenschaftlichen Wettbewerb zu bestehen, um ein Graduiertenkolleg oder einen SFB einzuwerben, um den Exzellenzstatus zu erreichen. Zweitens braucht Wissenschaft sowohl Freiräume der eigenständigen Arbeit als auch den konstruktiven Austausch auf Augenhöhe. In hierarchischen Organisationen ist die Entstehung beider untrennbar miteinander verbunden. Hierarchien sind sehr effizient darin, Freiräume für die weniger Mächtigen in kleinteiliger Kontrolle zu schließen. Das verhindert das Entstehen neuer Ideen und untergräbt damit die Voraussetzungen für offenen inhaltlichen Austausch. Nur wer allen an der Institution Beteiligten vertraut, wird ihnen auch Eigenständigkeit zutrauen und sich auf neue und noch ungewisse Formen des gemeinsamen Arbeitens einlassen.

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Die Entstehung solchen Vertrauens lässt sich durch die Organisation des gemeinsamen Arbeitens gleichermaßen fördern wie verhindern. Hier haben wir in zehn Jahren gemeinsamen Forschens viel über unsere eigenen Routinen gelernt und sie an manchen Stellen überwunden. Mit der Zeit haben nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Leitung des SFB größere Sensibilität dafür entwickelt, welche Sitzungsformen und Formate inspirieren und durch ihre Ergebnisoffenheit einen intensiven Gedankenaustausch ermöglichen, welche anderen dagegen nur eingespielte Routinen reproduzieren und dadurch allzu oft schlicht langweilig werden. Mit der Zeit konnten wir neue Formen des gemeinsamens Arbeitens entwickeln, in denen tatsächlich gemeinsame Inhalte und offener Austausch im Mittelpunkt blieben. Dass der Sonderforschungsbereich als Institution auf solche Lernprozesse zurückblicken darf, bedeutet noch nicht, dass wir stets in Muße geforscht hätten. Wir fühlten uns nicht selten in dem performativen Selbstwiderspruch verfangen, dass die Erforschung von Muße uns selbst Möglichkeiten der Muße nahm – vor allem natürlich in Zeiten des Antrags- und Berichtschreibens. Aber aus dem auf unsere eigene Arbeit bezogenen Reflexionsprozess, der von unserem Thema angestoßen wurde, entstand in guten Momenten zumindest ein gemeinsames Arbeiten, das nicht im Widerspruch zu unserem Thema stand. Genau das war letztlich die Bedingung dafür, dass wir (nun wieder als Autoren dieser Einleitung) den Sonderforschungsbereich als sehr erfolgreich empfunden haben. Aus unserer gemeinsamen Arbeit sind Dutzende Bücher und Hunderte von Artikeln entstanden, die das Thema facettenreich mit Genauigkeit, Gründlichkeit und analytischer Schärfe untersucht haben und an denen die zukünftige Mußeforschung nicht vorbeikommen wird. Gleichzeitig ist dieser Ertrag aus einem gemeinsamen Arbeitsprozess entstanden, in dem Inhalte, Analysekraft und Kreativität im Mittelpunkt standen, nicht Hierarchien oder Output. Gerade darin hat, so finden wir, der SFB 1015 Modellcharakter angenommen.

Der Band Von den Ergebnissen solch gemeinsamen Forschens soll der vorliegende Band in kondensierter Weise Zeugnis ablegen. Wir haben uns für ein Kompendium entschieden, in dem 31 Artikel die Forschungen des SFB jeweils anhand eines Stichworts zusammenfassen und sie inhaltlich wie bibliographisch erschließen. Jedes der Stichworte spielte in unserem internen Austausch eine wichtige Rolle, indem es zum Ansatzpunkt interdisziplinärer Diskussionen wurde; jedes ist auch mit konkreten Einzelprojekten verbunden, die es in klar definierten Forschungskontexten in den Blick genommen haben. Alle Autorinnen und Autoren waren am Sonderforschungsbereich beteiligt und schreiben aus dieser Erfahrung heraus.



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Der Schwerpunkt der einzelnen Artikel liegt jeweils auf der Darstellung der Ergebnisse des SFB selbst, nicht so sehr auf der Verortung in der Forschungsliteratur. Diese findet sich vertieft in den zahlreichen aus dem SFB hervorgegangenen Veröffentlichungen, auf die die Artikel hinweisen. Die einzelnen Artikel sind alphabetisch geordnet, weil sie nicht aufeinander aufbauen, sondern einander ergänzen. Der Einstieg ist an jeder Stelle möglich, und von jedem einzelnen Stichwort aus kann man sich durch Verweise zu weiteren Stichworten leiten lassen und so den eigenen Weg durch den Band suchen. Am Ende jedes Artikels weisen Lektüreempfehlungen auf thematisch besonders einschlägige Arbeiten des SFB hin. Die Auswahlbibliographie am Schluss des Bandes bietet schon genügend Material zur Vertiefung der einzelnen Themen; zu ihrer Ergänzung sei auf die Bibliographie des SFB zur Mußeforschung verwiesen, die sich dauerhaft auf seiner Homepage findet (https://www.sfb1015.uni-freiburg.de/de).

Achtsamkeit Vanessa M. Aeschbach/Johannes C. Fendel/Anja S. Göritz/Stefan Schmidt Achtsamkeit kann als Bewusstseinszustand verstanden werden, bei dem die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment gerichtet und gleichzeitig eine nicht wertende und offene Haltung eingenommen wird. Achtsamkeit und Muße stimmen in wichtigen Bestimmungsmerkmalen überein, wie der Nichtintentionalität, Selbstzweckhaftigkeit, Gelassenheit und einem nicht funktionalen Zustand. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass sich Muße nicht willentlich herbeiführen lässt und vom Kontext abhängig ist, während Achtsamkeit als Praxis erlernbar ist und willentlich ausgeführt werden kann. Die Praxis der Achtsamkeit kann gewissermaßen als Wegbereiterin der Muße gelten, d. h. durch die Ausübung von Achtsamkeitspraktiken lässt sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich Muße einstellt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Achtsamkeitspraxis zur Selbstoptimierung und Leistungssteigerung instrumentalisiert wird und somit eine Mußeerfahrung konterkariert. Eine Orientierung der Achtsamkeitspraxis an der Muße eröffnet die Möglichkeit, dass die Achtsamkeit trotz der beschriebenen Gefahr sich die Zweckfreiheit bewahrt. In zwei großen empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass ein um Muße erweitertes Achtsamkeitsprogramm sich in stressassoziierte Kontexte (Schule, Krankenhaus) integrieren lässt und dort salutogenetisches Potenzial bei den Protagonist*innen (Lehrer*innen, Schüler*innen, Assistenzärzt*innen) entfaltet (Aeschbach/Fendel/Göritz/Schulze-Marmeling/Schmidt 2022; Fendel/ Aeschbach/Schmidt/Göritz 2021; Luong/Gouda u. a. 2019). Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, auf welchen Ebenen Muße und Achtsamkeit in eine Beziehung gesetzt werden können.

Das Konzept der Achtsamkeit Der Begriff und die Praxis der Achtsamkeit erfreuen sich einer großen Popularität. Firmen und Schulen bieten achtsamkeitsbasierte Kurse zur Stressbewältigung an, im klinischen Bereich wird Achtsamkeit therapeutisch eingesetzt und auch in den Medien und in der Wissenschaft ist Achtsamkeit ein beliebtes Thema. Mit dieser Beliebtheit und der inflationären Verwendung des Begriffs der Achtsamkeit verwässert jedoch zunehmend die Bedeutung dieses Begriffs (Schmidt 2014;

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Van Dam/Van Vugt/Vago u. a. 2018). Hinzu kommt, dass Achtsamkeit und ihre Praxis je nach Kontext unterschiedlich konzeptualisiert werden (Schmidt 2014). Daher ist es wichtig, zunächst auf unterschiedliche Konzeptualisierungen der Achtsamkeit einzugehen, darunter ihre historischen Wurzeln in der östlichen Philosophie sowie westlich säkularisierte Formen. Der Ursprung des Begriffs der Achtsamkeit ist im Buddhismus zu finden. Achtsamkeit wird dabei als „das Herz“ des Buddhismus beschrieben und ist ein zentraler Aspekt der buddhistischen Lehren und Praktiken (Kabat-Zinn 2006). Die ersten schriftlichen Überlieferungen, die auf den Begriff der Achtsamkeit hinweisen, stammen aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und sind im Begriff sati des Pali-Kanons (Verschriftlichung der Lehrreden des Buddhas) zu finden. Wörtlich lässt sich sati mit „Erinnerung“ oder „Bewusstheit“ übersetzen (Shulman 2010). Eine Interpretation dieser unterschiedlichen Übersetzungen ist, dass durch die Bewusstheit über den Augenblick die Erinnerung intensiviert wird (Anālayo 2018). Die Lehrreden des Buddhas verzichten jedoch auf eine Definition und Konzeptualisierung des Begriffs und beschreiben sati stattdessen als eine Meditationspraxis (Grossman/Van Dam 2011; Schmidt 2014). Eine Annäherung an den Begriff sati, die sich aus den Beschreibungen der Achtsamkeit als Meditationspraxis ableiten lässt, wäre ein „Gewahrsein des Augenblicks“ oder ein „reines Beobachten“ (Nyanaponika 2000), wobei mit „rein“ gemeint ist, dass die mentale Interaktion mit dem Beobachtungsobjekt minimiert wird (Schmidt 2011). Dabei ist jedoch anzumerken, dass sati oder Achtsamkeit grundsätzlich eine Erfahrung beschreibt, die nicht vollständig sprachlich ausgedrückt werden kann. Es bedarf der eigenen Praxis und Erfahrung, um ein umfassenderes Verständnis von Achtsamkeit ausbilden zu können (Schmidt 2014). Die Achtsamkeitspraxis ist mit der ↗ Kontemplation verwandt, einer geistigen Praxis des Sich-Sammelns und Nach-innen-Kehrens. Innerhalb der buddhistischen Traditionen ist die Achtsamkeitspraxis in einen größeren philosophischen und spirituellen Kontext eingebettet (Kuan 2007). Das Ziel der Achtsamkeitspraxis innerhalb der buddhistischen Traditionen ist, Bewusstheit über die Natur des menschlichen Geistes, über Emotionen, Gedanken und über Verhaltensweisen zu erlangen. Die dadurch gewonnenen Einsichten können dabei helfen, psychisches Leiden zu transformieren und innere Befreiung zu erlangen (Kabat-Zinn 2006). In diesem Sinne wird Achtsamkeitsmeditation auch oft als „Vipassana“ oder „Einsichtsmeditation“ bezeichnet (Kabat-Zinn 2006). Das Konzept einer solchen erfahrungsbasierten Erkenntnis ist zentraler Bestandteil der buddhistischen Erkenntnistheorie. Seit den 1960er Jahren haben sich buddhistische Traditionen vermehrt im Westen verbreitet und dabei oft stark verändert (Keng/Smoski/Robins 2011). Zur zunehmenden Popularität der Achtsamkeit trugen beispielsweise die zehntägigen Vipassana-Meditationsretreats von S. N. Goenka und seinen Schüler*innen oder auch die Gründung der Insight Meditation Society in den



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USA bei (Schmidt 2014). Die klinische Anwendung der Achtsamkeitsmeditation ist auf das manualisierte Gruppenprogramm Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR (deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), zurückzuführen, welches von Jon Kabat-Zinn 1979 entwickelt wurde (Kabat-Zinn 1990). MBSR basiert auf Techniken der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation, welche in einer säkularisierten Form Anwendung finden (Kabat-Zinn 2011). MBSR wird heute sowohl im klinischen als auch im nicht-klinischen Bereich angewendet. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte hat sich die Achtsamkeitsmeditation als spirituelle und säkulare Praxis in unterschiedlichen westlichen Kontexten verbreitet und dabei verändert, so dass eine Vielzahl an Praktiken und Konzeptualisierungen von Achtsamkeit entstanden ist. Die Motive hinter säkularen Formen der Achtsamkeitspraktiken unterscheiden sich dabei von jenen des buddhistisch-spirituellen Kontexts (Schmidt 2011). Während im Buddhismus die Ziele der Transformation und Befreiung verfolgt werden, richten sich die Ziele der säkular-westlichen Achtsamkeitspraxis u. a. auf Entspannung, Stressreduktion, Umgang mit psychischen oder körperlichen Beschwerden und Selbsterfahrung (Schmidt 2014). Aus diesem Grund stellt der Begriff der Achtsamkeit heute einen unspezifischen Sammelterminus dar, welcher sich einer einheitlichen Definition entzieht und vor dem Hintergrund des jeweiligen Kontexts verstanden werden muss (Schmidt 2014; Van Dam/Van Vugt/Vago u. a. 2018). Eine der innerhalb der Psychologie am häufigsten zitierten Definitionen stammt von Jon Kabat-Zinn und beschreibt Achtsamkeit als „eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu werten“ (Kabat-Zinn 1990).

Achtsamkeitspraktiken Die Achtsamkeitspraxis lässt sich in formale und informale Praktiken unterteilen. Bei formalen Praktiken handelt es sich um Achtsamkeitsmeditationen, welche räumlich und zeitlich getrennt vom Alltag ausgeübt werden. Dabei wird die Aufmerksamkeit ganz auf den Augenblick gerichtet (z. B. auf den Atem oder den Körper), während gleichzeitig eine beobachtende, nicht wertende und akzeptierende Haltung angestrebt wird. Bei der informalen Achtsamkeit hingegen geht es darum, eine achtsame Grundhaltung während alltäglicher Routinehandlungen einzunehmen. Beispielsweise kann man sich beim Händewaschen ganz auf die Empfindungen im Augenblick fokussieren und dabei eine akzeptierende, beobachtende Haltung einnehmen, statt in Gedanken abzuschweifen oder sich intentional gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen.

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Achtsamkeit und Muße Die Konzepte der Achtsamkeit und der Muße teilen wichtige Bestimmungsmerkmale, auf welche im Folgenden eingegangen werden soll. Ein erstes gemeinsames Merkmal ist die Nichtintentionalität. Muße ist nicht willensbestimmt; das Wollen tritt in Muße in den Hintergrund, man kann die Dinge sein lassen, wie sie sind, und begegnet ihnen mit einer wachen Aufgeschlossenheit (Figal 2015a). Entsprechend zeichnet sich die innere Haltung der Achtsamkeit durch Gegenwartsorientierung, Offenheit und Akzeptanz aus. Auch hier tritt das Wollen in den Hintergrund, und man lässt die Dinge stehen, wie sie sind, indem eine beobachtende und nicht wertende Haltung eingenommen wird. Ein zweites gemeinsames Bestimmungsstück von Achtsamkeit und Muße ist die aus dieser Nichtintentionalität entstehende Gelassenheit (↗ Freiheit). Wer Muße hat, kann die Dinge sein lassen, wie sie sind, und steht nicht unter dem gesellschaftlichen oder selbst erzeugten Druck, ein Ziel erreichen zu müssen (Figal 2015a). In der Achtsamkeitspraxis liegt der Fokus auf dem direkten Erleben, wodurch zukunftsorientierte Ziele an Gewicht verlieren, was ebenfalls zu Gelassenheit führen kann. Zudem ermöglicht die beobachtende und akzeptierende Haltung der Achtsamkeit einen anderen Zugang zu den eigenen Gedanken und kann beispielsweise zu der Einsicht führen, dass Gedanken und Emotionen passagere Ereignisse sind und keine akkurate Repräsentation der Realität darstellen (Baer 2003). Durch diese veränderte Einstellung kann Gedanken und Emotionen mit mehr Distanz und Gelassenheit begegnet werden. Ein dritter Schnittpunkt besteht in der Selbstzweckhaftigkeit von Muße und Achtsamkeit. Muße ist mit keinem ihr äußerlichen Zweck verbunden, sondern findet ihre Bestimmung in sich selbst (Gimmel/Keiling 2016: 12). Ein diesem Charakteristikum entsprechendes Bestimmungsstück der Achtsamkeitspraxis ist die Hinwendung zum gegenwärtigen Augenblick, d. h. das Bestreben sich ganz auf das Erleben im Jetzt einzulassen. Die Hinwendung zum gegenwärtigen Augenblick verfolgt dabei keinen anderen Zweck als sich selbst. Ein vierter gemeinsamer Aspekt ist das subjektive Zeiterleben. Muße zeichnet sich durch eine Freiheit von Zeitdruck aus, in der die zeitliche Taktung des Alltags und das Vergehen der ↗ Zeit subjektiv an Bedeutung verlieren. Ein ähnliches Erleben findet sich bei erfahrenen Praktizierenden der Achtsamkeitsmeditation, die von einer Verlangsamung des Zeitempfindens, einer Reduktion des Zeitdrucks sowie einer Ausdehnung des Zeitempfindens berichten (Wittmann/Otten/Schötz u. a. 2015). Weiter wird im Zusammenhang mit Achtsamkeitsmeditation auch von einem Erleben berichtet, sich außerhalb der Zeit zu befinden, so als ob die Zeit nicht mehr existieren würde (Droit‐Volet/Dambrun 2019). Achtsamkeit und Muße unterscheiden sich jedoch auch in einigen Aspekten. Von ihrer Semantik her ist die Muße häufig, wenn auch nicht immer, mit einem positiven Erleben assoziiert (↗ Muße-Semantiken). Im Gegensatz dazu schließt



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Achtsamkeit Akzeptanz von jeglichem Erleben ein, unabhängig davon ob dieses positiv oder negativ ist (Gimmel/Keiling 2016: 40 f.). Weiter handelt es sich bei der Achtsamkeitspraxis um eine funktionale Technik, mit der Menschen ein bestimmtes Ziel verfolgen. Sie ist also stets verknüpft mit der Sphäre des Intentionalen, auch wenn – wie oben dargelegt – ihr Ziel im Erreichen eines nicht intentionalen Zustandes jenseits funktionaler Zwänge bestehen kann. Insofern Achtsamkeit intentional praktiziert wird, lässt sie sich nicht ohne Weiteres mit den für Muße charakteristischen Merkmalen der Entfunktionalisierung und Selbstzweckhaftigkeit beschreiben. Achtsamkeit ist vielmehr eine funktionale Praxis, deren Ziel im Erreichen einer entfunktionalisierten Haltung besteht (Gimmel/Keiling 2016: 40). Dieses scheinbare Paradox lässt sich in einer gelebten Praxis auflösen. Sich hinzusetzen und zu meditieren ist eine funktionale Handlung. Doch innerhalb der Meditation wird der Fokus auf das Erleben im Jetzt gerichtet, wodurch in der Zukunft liegende Ziele an Gewicht verlieren und eine damit verbundene Funktionalisierung des momentanen Tuns verringert wird (Gimmel/Keiling 2016: 40). Ein weiterer mit dem Aspekt der Funktionalisierung zusammenhängender Unterschied zwischen Achtsamkeit und Muße ist, dass Muße als Zustand nicht willentlich herbeigeführt werden kann, sondern von situativen Gegebenheiten abhängig ist. Bestimmte Bedingungen wie die ↗ Freiheit von inneren Zwängen (Perfektionismus, Ehrgeiz, Angst etc.) und äußeren Zwängen (Zeitdruck, Leistungsdruck, zwischenmenschlichen Problemen etc.) sind notwendig, aber nicht hinreichend; sie können damit das Auftreten von Muße lediglich begünstigen, letztlich bleibt sie aber unverfügbar. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Achtsamkeitspraxis um eine Technik, die erlernbar ist und willentlich ausgeführt werden kann. Achtsamkeit kann als Wegbereiterin der Muße fungieren, d. h. durch die Ausübung von Achtsamkeitspraktiken lässt sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sich Muße einstellt. Achtsamkeit kann die Voraussetzungen für Muße schaffen, denn durch sie lässt sich ein innerer Zustand erreichen, der frei ist von Zielorientierung, Stress und Zeitdruck. Dies gilt insbesondere für Situationen und Orte, welche Muße per se nicht begünstigen und beispielsweise von Stress und Leistungsdruck geprägt sind. Anders ausgedrückt kann die Achtsamkeit als Praktik der Transgression von Funktionalisierung zur Entfunktionalisierung verstanden werden, welche Zustände der Muße wahrscheinlicher machen kann. Wichtig ist hierbei, dass es sich bei Achtsamkeit nicht um eine Technik handelt, die nur im ↗ Rückzug vom Alltag und in Phasen der Ruhe praktiziert werden kann. Sie ist eine innere Grundhaltung, die während jeglicher Tätigkeit angewendet werden kann (informale Achtsamkeit). Durch den Fokus auf die Gegenwart rückt das Erleben im Augenblick in den Vordergrund, und der funktionale Charakter einer Handlung tritt in den Hintergrund (wie etwa beim

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Händewaschen). In dieser funktionalen Entfunktionalisierung kann das Erleben von Muße begünstigt werden. In der östlichen Philosophie wird Meditation als Einübung von Gewohnheiten beschrieben (Berzin Archives 2001). Wer sich häufig in einer achtsamen Haltung übt, wird automatisch auch im Alltag achtsamer sein. Dementsprechend kann das Praktizieren von Achtsamkeit wesentlich dazu beitragen, dass man auch in einem stressreichen Kontext innerlich ruhig und gelassen bleibt. Entsprechend konnte innerhalb einer empirischen Studie gezeigt werden, dass Proband*innen mit regelmäßiger Meditationspraxis berichteten, häufiger Muße zu erleben als Proband*innen ohne Meditationserfahrung (Heger 2014). Auch das gegenteilige Phänomen ist zu beobachten, etwa wenn das Empfinden von Stress von einem Kontext auf den nächsten Kontext übertragen wird. Der Soziologe Hartmut Rosa (2012) beschreibt in dem Zusammenhang das Paradox, dass Beeilen keine freie Zeit schafft: Wer den ganzen Tag gestresst ist, kann mögliche Freizeit nicht nutzen, da er bzw. sie innerlich nicht zur Ruhe kommt und den Stress auch in seiner/ihrer Freizeit fortsetzt. Achtsamkeit kann helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Muße als Orientierungspunkt für Achtsamkeit Achtsamkeit erfreut sich in der heutigen westlichen Gesellschaft zunehmender Beliebtheit. Eine mögliche Erklärung für ihre Popularität ist darin zu finden, dass sie ein Bedürfnis nach Entlastung vom Druck und von der Beschleunigung des (spät-)modernen Lebens anspricht. Entsprechend zeigen zahlreiche Studien, dass Achtsamkeit nachweislich wirksam zur Stressbewältigung eingesetzt werden kann (Khoury/Sharma/Rush u. a. 2015). Mit Achtsamkeit sind Werte verknüpft, die in Kontrast zu gesellschaftlichen Tendenzen wie Leistungsorientierung und Stress stehen (Schmidt 2015a). Als solche kann Achtsamkeit auch eine Distanz zur ↗ Gesellschaft schaffen und eine kritische Reflexion fördern. Gleichzeitig läuft die Achtsamkeit innerhalb eines solchen Kontexts jedoch Gefahr, im Sinne von Selbstoptimierung funktionalisiert zu werden. Während das Paradox der funktionalen Entfunktionalisierung in der eigenen Achtsamkeitspraxis aufgelöst werden kann, bleibt dieses Spannungsverhältnis in einem gesellschaftlichen Kontext bestehen. Die Achtsamkeit befindet sich somit in einem Spannungsfeld: Einerseits kann sie das Individuum in die Lage versetzen, das eigene Leben und dessen soziale, ökonomische oder kulturelle Bedingungen zu reflektieren; andererseits kann sie auch z. B. im Sinne wirtschaftlicher Produktivität (↗ [Un-]Produktivität) funktionalisiert werden und so zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse beitragen (Gimmel/Keiling 2016: 38). Ein vielversprechender Ansatz, um einer solchen Funktionalisierung der Achtsamkeit entgegenzuwirken, ist eine Orientierung



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der Achtsamkeit an der Muße. Eine Achtsamkeitspraxis, die primär das Ziel der Stressreduktion verfolgt, bleibt funktional verhaftet. Hingegen entzieht sich eine Achtsamkeitspraxis, die Unintentionalität, Offenheit und „Erfüllung in sich“ in den Vordergrund stellt, einer gesellschaftlichen und individuellen Funktionalisierung. Aus diesem Grund kann die Muße ein bedeutender Orientierungspunkt für die Achtsamkeitspraxis sein. Muße ermöglicht ein temporäres Heraustreten aus gesellschaftlichen und alltäglichen Normen und ermöglicht eine Freiheit von Handlungszwängen und Leistungsanforderungen (↗ Freiheit; ↗ Gesellschaft). Die Orientierung der Achtsamkeit an Muße soll die Praktizierenden daran erinnern, dass man mit der Achtsamkeitspraxis nichts erreichen muss. Während in manchen Fällen Achtsamkeit praktiziert wird, um etwas außerhalb ihrer zu erreichen (wie z. B. Stressreduktion), steht bei einer mit Muße verknüpften Achtsamkeit das Moment des Selbstzweckhaften im Vordergrund. Achtsamkeit kann in diesem Fall um ihrer selbst willen praktiziert werden. Im Folgenden sollen diese mehrheitlich theoretischen und allgemeinen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Muße und Achtsamkeit anhand eines Praxisbeispiels veranschaulicht und konkretisiert werden.

Muße und Achtsamkeit im Klinikalltag – ein Praxisbeispiel Innerhalb eines psychologischen Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs wurde ein an Muße orientiertes Achtsamkeitsprogramm für Assistenzärzt*innen entwickelt, umgesetzt und innerhalb einer randomisiert kontrollierten Studie evaluiert. Der Kontext des Krankenhauses ist charakterisiert durch soziale Beschleunigung, Zeitverdichtung, Leistungsdenken und Ökonomisierungsstreben (Albrecht/Giernalczyk 2016; Angerer/Petru/Nowak u. a. 2008; Zwack/ Bodenstein/Mundle u. a. 2012). Das Arbeitsfeld der Assistenzärzt*innen stellt somit einen jener Kontexte dar, die mit Muße unvereinbar zu sein scheinen. Zugleich besteht auf Seiten der Assistenzärzt*innen ein Bedürfnis nach einer Verbesserung der Arbeitszufriedenheit, einer Reduktion der Stressbelastung sowie einer Steigerung des mentalen Wohlbefindens. Die Erfahrungsqualitäten von Muße und Achtsamkeit erscheinen dafür besonders geeignet. Die Praxis der Achtsamkeit ist hier ein vielversprechender Ansatz, da mit ihrer Hilfe auch bei auf den ersten Blick widrigen Bedingungen ein mußeähnlicher Zustand angestrebt werden kann. Mittels informaler Achtsamkeitsübungen kann es gelingen, Achtsamkeit in den hektischen Klinikalltag zu integrieren – beispielsweise durch ein achtsames Händedesinfizieren oder achtsames Gehen über den Klinikflur. Neben dem Erwerb einer hilfreichen Grundhaltung im Umgang mit Leistungsdruck und Zeitverdichtung stehen aber auch interpersonale Qualitäten im Vordergrund. So mindert Stress etwa die Empathie, was sich negativ auf das Verhältnis zwischen Ärzt*innen, Patient*innen und Angehörigen aus-

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wirken kann. Daher war ein weiteres Ziel des Programms, den Ärzt*innen zu vermitteln, wie sie auch unter zeitlichem Druck und Anspannung den inneren Freiraum für einen empathischen Kontakt zu Patient*innen und Angehörigen finden können. Im Kontext der Klinik besteht jedoch die Gefahr, dass Achtsamkeit verzweckt und zur reinen Leistungssteigerung missbraucht wird. Hier war die Orientierung der Achtsamkeitspraxis an der Muße zielführend (für eine ausführlichere Beschreibung des adaptierten Achtsamkeitsprogrammes siehe Fendel/Aeschbach/Göritz/Schmidt 2020). Bei den Assistenzärzt*innen ver­besserten sich u. a. das Stresserleben, Burnout, die selbstberichtete Acht­samkeit sowie das Selbstmitgefühl im Vergleich zur Kontrollgruppe zu bestimm­ ten Messzeitpunkten (Aeschbach/Fendel/Göritz/Schulze-Marmeling/Schmidt 2022; Fendel/Aeschbach/Schmidt/Göritz 2021). Gleichzeitig gab es Messgrößen, bei denen keine Gruppenunterschiede festgestellt werden konnten, wie u. a. in der Arbeitszufriedenheit, der psychischen Belastung oder dem Cortisollevel (Aeschbach/Fendel/Göritz/Schulze-Marmeling/Schmidt 2022; Fendel/Aeschbach/Schmidt/Göritz 2021). Innerhalb qualitativer Auswertungen konnte gezeigt werden, dass ein um Muße erweitertes Achtsamkeitsprogramm für Assistenzärzt*innen die Selbstfürsorge und das Wohlbefinden intensivieren kann. Zudem berichteten zahlreiche Assistenzärzt*innen von einer gesteigerten Präsenz im gegenwärtigen Moment, einer Zunahme an Gelassenheit sowie einem reduzierten Empfinden von Zeitdruck im Patient*innenkontakt. Ferner hatten die Teilnehmer*innen den Eindruck, dass die Patient*innen zufriedener waren (Aeschbach/Fendel/Schmidt/Göritz 2021). Diese qualitativen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Achtsamkeitspraxis nicht ausschließlich als Technik zur Leistungssteigerung und Selbstoptimierung funktionalisiert wurde. Die starke Gewichtung der Selbstzweckhaftigkeit und der Entfunktionalisierung im Rahmen der Achtsamkeitspraxis mag ein Grund für diese Wirkungen sein. Weiterführende Forschung sollte untersuchen, inwiefern sich ein an Muße orientiertes Achtsamkeitsprogramm von einem generischen Achtsamkeitsprogramm unterscheidet, um genauer bestimmen zu können, wie sich eine Orientierung an der Muße auf die Achtsamkeitspraxis und deren Effekte auswirkt. Während unsere Ergebnisse darauf hindeuten, dass die Achtsamkeitspraxis von den Ärzt*innen als Praxis der Selbstfürsorge verstanden wurde, besteht die Spannung zwischen Nichtfunktionalisierung und Funktionalisierung der Achtsamkeit auf einer systemischen Ebene dennoch weiter. Ohne Maßnahmen auf struktureller Ebene, die an den Belastungen der Assistenzärzt*innen ansetzen, läuft Achtsamkeit Gefahr, funktionalisiert zu werden, da ein strukturell bedingtes Problem auf der individuellen Ebene gelöst werden soll. Andererseits ist denkbar, dass die an der Muße orientierte Achtsamkeitspraxis zu einer Reflexion und kritischen Distanz der Ärzt*innen zum System Klinik beitragen kann, während gleichzeitig die Bereitschaft der Ärzt*innen, die eigenen Grenzen zu verletzen, gesenkt wird. Effekte von Muße und Achtsamkeit im Spannungsfeld zwischen



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dem Individuum und dem System Klinik stellen einen interessanten Ansatz für weiterführende Forschung dar.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Aeschbach, Vanessa M./Fendel, Johannes C./Göritz, Anja S./Schulze-Marmeling, Charlotte/Schmidt, Stefan (2022), „The Effects of a Tailored Mindfulness-Based Program on the Positive Mental Health of Resident Physicians  – A Randomized Controlled Trial“, in: Mindfulness 13,5, 1292–1306, DOI: 10.1007/s12671–022–01876-w. Aeschbach, Vanessa/Fendel, Johannes/Schmidt, Stefan/Göritz, Anja (2021), „A Tailored Mindfulness-Based Program for Resident Physicians. A Qualitative Study“, in: Complementary Therapies in Clinical Practice 43,101333, DOI: 10.1016/j.ctcp.2021.101333. Fendel, Johannes/Aeschbach, Vanessa/Schmidt, Stefan/Göritz, Anja (2021), „The Impact of a Tailored Mindfulness-Based Program for Resident Physicians on Distress and the Quality of Care. A Randomised Controlled Trial“, in: Journal of Internal Medicine 290,6, 1233–1248, DOI: 10.1111/joim.13374s

Aisthesis Hans W. Hubert Der Begriff Aisthesis (von altgriechisch αἴσθησις) kann für das Konzept der Muße fruchtbar gemacht werden, wenn er in seinem ursprünglichen begriffsgeschichtlichen Sinne als ‚sinnlich vermittelte Wahrnehmung, als Gewahrwerden und inneres Empfinden‘, verstanden wird. Dies ist insofern der Fall, als man in Muße  – ähnlich wie in ↗ Achtsamkeit  – eine intensivierte Wahrnehmung der äußeren Umgebung einerseits sowie der inneren Befindlichkeiten und Stimmungen andererseits erleben kann. Dieses Erleben kann zudem auch in eine Reflexion über dieses Wahrnehmen und Gewahrwerden, d. h. in eine ‚Einsicht‘, übergehen (Bernhard 2008; Welsch 2018; 1990; 1987). Der psychophysische Prozess der Wahrnehmung und die geistige Reflexion darüber sind folglich eng miteinander verbunden. Man kann zurecht vom ‚Wahrnehmen wahrnehmen‘ sprechen (Foerster 1998). Neuere Überlegungen zur Aisthesis verstehen diese weniger als eine vorgefundene Fähigkeit zur passiven Rezeption äußerer Eindrücke, sondern mehr als eine interaktiv erschlossene Kompetenz (Bernhard 2008). Nach Helmuth Plessner (1981) lässt sich die Ästhesiologie als eine Kritik der Sinne verstehen (analog zu Kants Kritik der Vernunft), die es erlaubt, ein gewisses Gleichgewicht zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis zu erlangen. Zugrunde liegt hier das von Maurice Merleau-Ponty entwickelte Konzept eines wahrnehmenden Leibes, der die Dichotomie von Körper und Geist überwindet (Merleau-Ponty 1974; 1976). Aisthesis, so wie sie hier verstanden wird, ist abzugrenzen von dem Konzept der ästhetischen Erfahrung, wie es Hans Robert Jauß (1977) und Rüdiger Bubner (1987) etabliert haben, bzw. sie geht darüber hinaus. Diese Neukonzeption von Sinneswahrnehmung (Zenck/Jüngling 2011) erlaubt es auch zu verstehen, wie sich Wahrnehmung gerade in Muße verändert. So kann die übliche Hierarchie der Wahrnehmungssinne, etwa in der ‚klassischen‘ Abfolge von Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken, aufgehoben werden und sich eine andere Ordnung etablieren, oder sie kann in eine ungeordnete ‚Synästhesie‘ der Sinne übergehen. Auch kinästhetische Elemente (Tanz, Spaziergang, Gehen etc.) können eine dominante Rolle einnehmen und sich mit der Aisthesis in besonderer Weise verbinden (intensivierte Geruchswahrnehmung beim Waldspaziergang, Zusammenspiel von Musik und



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Bewegung als mußevolle Flowerfahrung, Abschütteln belastender Gedanken beim Gehen). Die Sinneswahrnehmung kann auf der veränderten Erfahrung von Zeit und Raum in Muße beruhen, sie kann eine solche und damit Muße allerdings auch herbeiführen. Eine spezifische Sinneswahrnehmung kann demnach Voraussetzung oder Folge von Muße und des ihr inhärenten transgressiven Potentials (oder auf paradoxe Weise beides zugleich) sein. Der komplexe Wirkungszusammenhang zwischen Muße und Aisthesis ist von Fall zu Fall und von Phänomen zu Phänomen jedoch unterschiedlich und hängt stark von situativen Voraussetzungen wie persönlichen Stimmungen (dazu unten mehr) ab. Zur Aisthesis in Muße gehören äußere wie innere Bedingungen. Zu den äußeren Bedingungen der Wahrnehmung zählt insbesondere das mit dem Begriff Atmosphäre (Böhme 2006; 1995) umschriebene Zusammenspiel von meteorologischem Klima, das auch akustische und olfaktorische Aspekte umfasst, und sozialem Klima, das durch die Präsenz von Lebewesen, vor allem von Menschen und Tieren, erzeugt wird. Aber wichtig sind auch Pflanzen und insbesondere alle Dinge, die eine wahrnehmbare Anmutung besitzen, seien sie zufällig angeordnet (Bäume im Wald) oder in überlegtem Arrangement (konstruierte Natur im englischen Landschaftsgarten) eigens hergestellt. Aber nicht nur Naturalia oder Mineralia, sondern insbesondere auch Artificialia (vom Menschen hergestellte Dinge) besitzen eine Anmutungsqualität, welche ein gefühlsmäßiges (positives, neutrales oder negatives) Eindruckserlebnis hervorrufen kann. Unter der Anmutung eines Dinges wird die (oftmals eher vage beschreibbare) Wirkung dieser Dingerscheinungen auf einen Wahrnehmenden verstanden. Sie ist aus phänomenologischer Perspektive abhängig von den Eigenschaften der Dinge selbst, aber vor allem auch von ihrer kultursoziologischen Bewertung durch die Gesellschaft. Zudem spielen die Situation, in der die Dinge auftreten, ihre Einbettung in eine Umgebung sowie die kulturelle Bildung und Sozialisation und die persönlichen Vorlieben des Erlebenden, der die Dinge in seiner Umwelt über einen oder mehrere Wahrnehmungssinne (räumlichvisuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch) wahrnimmt und beurteilt, eine Rolle. Die Anmutung ein und desselben Dinges und seine Bewertung können daher bei Erlebenden aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Ethnien oder sozialen Schichten erheblich variieren: So werden religiös konnotierte Gegenstände von einigen verehrt, von anderen abgelehnt und von Dritten indifferent angesehen oder gar nicht als solche erkannt. Manche Personen schätzen kostbare, andere jedoch einfache Dinge, und sie fühlen sich jeweils in einer durch solche Dinge gekennzeichneten Umgebung wohl. Die Wahrnehmung und Bewertung sind zudem vom subjektiven Faktor der Stimmung abhängig, und sie änderen sich tendenziell mit der Zeit und mit den Moden. So haben modern gestaltete Gebrauchsgegenstände oft nach mehreren Jahren eine Anmutung von gebraucht, unmodern oder abgenutzt, können aber nach weiterer Zeit in einer ‚Retro-Welle‘ wieder als chic gelten. Auch die Wahrnehmung ein und derselben Atmosphäre,

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beispielsweise eines spezifischen Ortes, muss nicht konstant sein: einmal positiv inspirierend wahrgenommen, kann sie mit der Zeit als langweilig und öde empfunden werden. Es ist aber gerade die Freiheit der Muße, welche erlaubt, solche Sinneswahrnehmungen und ihre Bewertungen zu überdenken und die Dinge und Anmutungen auf freie Weise neu wahrzunehmen. Muße entfaltet hierbei ihr transgressives Potential, indem sie eine sich immer wieder positiv erneuernde Welterfahrung stimuliert. Dem das Äußere bezeichnenden Begriff der Atmosphäre entspricht der innere Befindlichkeiten umschreibende Begriff der Stimmung. Diese beiden Wahrnehmungsphänomene stehen in einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis, das jeweils oder gemeinsam mußeförderlich bzw. ‑hinderlich sein kann. So gilt der klassische locus amoenus als Topos einer mußeaffinen Atmosphäre, während beispielsweise eine laute, schmutzige Verkehrskreuzung gemeinhin als Muße störend gilt. Allerdings sind gerade die inneren Bedingungen der Wahrnehmung, wie angedeutet, jeweils von zahllosen, schwer bestimmbaren Faktoren wie Stimmung, sozio-kultureller Prägung persönlicher Vorlieben, situativen Elementen etc. beeinflusst. Zwar kann man versuchen, spezifische Atmosphären (abweisende, aggressive, anheimelnde, authentische, freundliche etc.), die eine besondere Aisthesis ermöglichen, gezielt zu erzeugen, allerdings sind ihre tatsächliche Wahrnehmung und Wirkung auf Erlebende im Grunde nur durch deren Selbstaussagen überprüfbar. Alle diese äußeren wie inneren Wahrnehmungsbedingungen stehen in Beziehung zu raumzeitlichen Erfahrungen in Muße (↗ Raumzeitlichkeit). Das Bewusstsein für eine gesteigerte Sinneswahrnehmung in Muße ist seit der Antike bekannt und hat insbesondere in den sogenannten ‚klassischen‘ Mußeorten, den Villen, seinen Niederschlag gefunden (Ackerman 1990). Die oben beschriebenen Aspekte sollen im Folgenden am Beispiel eines solchen ‚klassischen‘ Mußeortes veranschaulicht werden, der Villa des Kardinals Ippolito II. d’Este in Tivoli (Barisi 2003; Bruciati 2022; Coffin 1960; Dal Maso 1978; Fagiolo 1979; Lamb 1966; Patzak 1906; Rossi 1935). Die riesige, im Wesentlichen von Pirro Ligorio entworfene, ab 1550 errichtete Anlage erstreckt sich über ein ca. 3,5 Hektar großes, nach Norden hin stark abschüssiges Gelände (50 Meter Niveaudifferenz), unterteilt in einen Hanggarten und einen unteren ebenen Teil. Sie sind in einer Abfolge von Rampen, Treppen und Terrassen sowie Pergolen, Rabbatten und Bassins raumzeitlich erschließbar. Aufgrund der späteren Überformungen (Barock sowie 19. und 20. Jahrhundert) bewegt man sich durch ein stilistisch heterogenes Gartenensemble (geometrisch angelegter Giardino all’italiana, barockes Zypressenrondell, englischer Landschaftsgarten), dessen Hauptcharakteristika aber seit Anbeginn der enorme Wasserreichtum (250 Wasserdüsen, 60 Wasserquellen, 255 Kaskaden, 100 Becken, 50 Fontänen) und die Unmenge verschiedener Zierpflanzen (ca. 30.000 im jahreszeitlichen Verlauf blühende und 15.000 dauerhafte Schmuckpflanzen, 50 jahrhundertealte



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hochstämmige Bäume) sind. Ihre Düfte und Gerüche offerieren zusammen mit der künstlerischen Ausgestaltung dem Besucher eine Fülle von aisthetischen Wahrnehmungsangeboten. Diese entwickeln sich zwischen den Polen: Kunst/ Architektur und Natur, Palast und Garten, Innen und Außen sowie weiteren, unter anderem thermischen Aspekten. So stehen der Hitze des Sommers die zahllosen Kühle spendenden Brunnenanlagen gegenüber. Auch das visuelle Erleben wird magistral inszeniert. Mit zum Teil architektonisch gerahmten Fernblicken auf Rom (35 Kilometer), auf die Villen von Frascati (25 Kilometer) sowie auf die Villa Hadriana (4,5 Kilometer) und umliegende Ortschaften kontrastieren die Nahblicke innerhalb der Villa d’Este, die entlang von Sichtachsen geführt werden. Indem die Umfassungsmauern mit Malereien und Mosaiken (Tiere, Phantasiewesen und Pflanzen) und mit künstlichen Grotten geschmückt wurden, wird der Gegensatz von Kunst und Natur thematisiert. Die geographisch-landschaftlichen Blickbezüge werden durch Brunnenanlagen auch symbolisch aufgerufen: So versinnbildlicht der an der höchsten Stelle gelegene Pegasus-Brunnen, an dem das aufgestaute Wasser des Aniene-Flusses in die Anlage eintritt, die durch seinen Hufschlag auf dem Olymp entsprungene Dichterquelle, aus der alle Poeten Weisheit trinken. Kardinal Ippolito II. wird somit allegorisch zum Förderer der Musen, insbesondere der Dichtkunst, stilisiert. Neben den Sinnen werden hier in besonderer Weise Bildung und Intellekt angesprochen, denn ikonologisch versteht der Gebildete die komplexe Herrschaftsallegorie auf den ambitionierten, als Governatore von Tivoli eingesetzten und sich mehrfach um die Papstwürde bemühenden Kardinal, die auch in den zahlreichen heraldischen Emblemen (Lilien, Adler, Drachen, Herkules etc.) sinnfällig wird. Direkt darunter befindet sich das spektakuläre Wassertheater der Fontana di Tivoli (Fontana dell’Ovato), die als größter locus amoenus innerhalb der Villa mit ihren Skulpturen (Tiburtinische Sibylle, Flussgötter Erculaneo und Aniene) auf den konkreten Ort Tivoli verweist. Sie erlaubt das Eintauchen in eine dunkle, wassergekühlte Arkadenportikus, in deren Nähe im Sommer Ruhebetten aufgestellt waren, ebenso wie das immersive Erleben einer Wasserkaskade, hinter der man entlangwandeln kann und deren Wasserschleier die Welt auf andere Weise sichtbar macht. Gegenüber erinnert die Fontana Rometta als spektakuläre kleinformatige Nachbildung der wichtigsten Bauten an die Stadt Rom, Zentrum der von Griechenland nach Italien übertragenen Kultur. Dorthin fließt entlang des Viale dei cento fontane (der Allee der hundert Brunnen) das Wasser vom TivoliBrunnen, so wie der Aniene-Fluss tatsächlich bei Rom in den Tiber mündet. Das große Rauschen der Fontana dell’Ovato wird hier durch ein leises Plätschern der dünnen Strahlen abgelöst. An jedem Ort macht das Wasser seine eigenen Geräusche: kaum hörbar an den ‚schwitzenden Steinen‘, leise herabrieselnd in den Wassertreppen, mit Luft rauschend aufgeschäumt bei dem scheinbar kochenden Wasser der Bollori und laut prasselnd bei den hohen Strahlen der

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Fontänen. Diese akustische Inszenierung gipfelt in den drei ‚tönenden‘ Brunnen, die mit Wasser ganz unterschiedliche Klangkulissen erzeug(t)en: Vogelgesang bei der Fontana Civetta, Orgelmusik bei der Fontana d’Organo sowie militärisch klingende Knall- und Explosionsgeräusche bei der Fontana dei Draghi. Die Villa d’Este bot den Besuchern in ganzer Breite außergewöhnliche aisthetische Wahrnehmungsmöglichkeiten, die visuelle, akustische, olfaktorische, thermische und haptische und durch gereichte Speisen und Getränke auch gustatorische Sinne ansprachen. Aber auch der Intellekt wurde nicht vernachlässigt: Nicht nur im Palast entfaltete sich ein umfangreiches, auf den Auftraggeber, die Bewohner und die Besucher hin ausgerichtetes Freskenprogramm, ergänzt durch eine Gemäldesammlung, sondern auch der gesamte Garten war mit zahlreichen antiken Statuen geschmückt (Venus, Ariadne, Nymphen, Bacchus u. v.a. mehr), die antike Mythen versinnbildlichten. Von den komplexen Brunnenanlagen als Veranschaulichung der geographisch-landschaftlichen Verhältnisse (Tivoli/Rom) war schon die Rede. Christliche Bildmotive blieben dagegen allein auf die Palastkapelle beschränkt. Die Villa ist eines von zahllosen Beispielen der Renaissancekultur, in denen in der entspannten Atmosphäre der Sommerfrische den staunenden Besuchern außeralltäglich aisthetische Angebote offeriert werden. Diese waren ursprünglich einem elitären Publikum vorbehalten, erst im 19. Jahrhundert wurde die Villa zur Besichtigung freigegeben und zum Reiseziel für Bildungstouristen. Seither war sie Anregung und Thema zahlloser künstlerischer Arbeiten (Gemälde, Gedichte, Musikkompositionen etc.). Nach dem Ersten Weltkrieg in Besitz des italienischen Staates überführt, steht sie nach der Musealisierung und fortwährender Restaurierung und Instandhaltung heute dem weltweiten Massentourismus offen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Figal, Günter/Hubert, Hans W./Klinkert, Thomas (Hg.) (2016a), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 2), Tübingen. Hubert, Hans W./Grebe, Anja/Russo, Antonio (Hg.) (2020), Das Bad als Mußeraum. Räume, Träger und Praktiken der Badekultur von der Antike bis zur Gegenwart (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 13), Tübingen.

Arbeit Gregor Dobler Würde man Menschen in Deutschland nach einer Liste der Dinge fragen, die ihre Spielräume für Muße am stärksten einengen, dürfte „Arbeit“ auf einem der obersten Plätze landen. Muße – Zeiten der selbstbestimmten, von Handlungsdruck entlasteten und als frei empfundenen Produktivitätsmöglichkeit  – steht in von Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaften konzeptionell der Arbeitswelt typischerweise entgegen, da diese als fremdbestimmt, als durch extern definierte Produktivitätsziele charakterisiert und als stark kontrolliert empfunden wird. Woher kommt diese Opposition? Manche am SFB Beteiligte haben mit guten Gründen argumentiert, dass sie grundsätzlicher Natur sei und im fremdbestimmten Charakter der Arbeit begründet liege (etwa, aus philosophischer Sicht, Gimmel 2020b; 2017b; 2017c; generell Dobler 2021). Ich halte sie dagegen nicht für ein Merkmal von Arbeit allgemein, sondern für einen Wesenszug bestimmter Organisationsformen von Arbeit (Dobler 2017a; 2014). Beide Seiten stimmen darin überein, dass die oft radikalen Veränderungen der Arbeitswelt im globalen Kapitalismus Spielräume der Muße schließen und den Gegensatz zwischen Muße und Arbeit verstärken. In diesem Aufsatz möchte ich unter Rückgriff auf die Forschungen des SFB 1015 zunächst zeigen, warum ich Muße und Arbeit nicht für ein natürliches Gegensatzpaar halte. Ich bin mir dabei der guten Argumente gegen diese Position bewusst und hebe entsprechend auch jene Grundzüge von Arbeit hervor, die es plausibel machen, beide als grundsätzliche Gegensätze anzusehen. Dennoch werde ich an der Ansicht festhalten, dass wir den Bereich der Arbeit nicht als potentiell selbstbestimmten und mußeförmigen sozialen Raum aufgeben sollten. Anschließend gehe ich auf Veränderungen der Arbeitswelt ein, die die Opposition zwischen Muße und Arbeit verstärken, und zeige auf, dass die Frage nach Möglichkeiten von Muße heute in vielen Bereichen Indikatoren zur Beurteilung der Fremdbestimmung in der Arbeitswelt schafft.

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Arbeit als zweckbestimmte Tätigkeit und autonome Handlung ‚Arbeit‘ ist eines jener Konzepte, die sich zwar im Alltag problemlos verwenden lassen, die genau zu definieren aber erstaunlich schwierig ist. Für die Zwecke dieses Überblicks möge es genügen, unter Arbeit eine zweckbestimmte Tätigkeit (Spittler 2016: 17) zu verstehen, die individuellen oder gesellschaftlichen Nutzen schaffen soll und über die ein innergesellschaftlicher Konsens besteht, dass sie im konkreten Fall als Arbeit anzusehen sei. Dieser Konsens macht sich stärker am Kontext und der institutionellen Einbindung einer Tätigkeit fest als an ihrem Ablauf; die von außen gesehen gleiche Tätigkeit kann entsprechend in einem Fall Arbeit sein, im anderen Hobby, Liebhaberei oder Beziehungspflege. Die Zweckbestimmung von Arbeit impliziert, dass sie nicht alleine um ihrer selbst willen getan wird, sondern zumindest auch, um damit ein Ziel zu erreichen. Arbeit gehört, aristotelisch gesprochen, ins Reich der Notwendigkeit, nicht nur ins Reich der Freiheit. Aus dieser Bestimmung erklärt sich auch der Eindruck eines Gegensatzes zwischen zweckbestimmter Arbeit und zweckentlasteter Muße. Doch dass Arbeit an sich durch Zwecke geleitet wird, sagt noch nichts darüber aus, wie Menschen sie konkret erfahren. Arbeit ist auch eine menschliche Handlung, die eine Eigenlogik entfaltet und deren Zweckbestimmtheit im Handeln in den Hintergrund geraten kann (Dobler 2016). Wer jeden Tag arbeitet, empfindet die Arbeit nicht jeden Tag als gleichermaßen fremdbestimmt. Die Erfahrung von Arbeit unterscheidet sich auch dann, wenn ihr Zweck derselbe bleibt. Während Muße und Arbeit sich in ihrem gesellschaftlichen Sinn und ihrer institutionellen Einbettung stark unterscheiden, können sie deshalb auf der Ebene der Erfahrung manchmal in eins fallen. Was genau heißt das und welche Konsequenzen hat es? Die ↗ Erfahrung von Muße ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des Verhältnisses zu Raum und Zeit; durch ein Zurücktreten der Zweckorientierung und der Aufmerksamkeit für die eigene Produktivität; und dadurch, dass die so erzeugte Differenz zum gewöhnlichen Alltag im Nachhinein positiv gewertet wird. Genau diese Charakteristika finden sich auch in manchen positiven Arbeitserfahrungen. Es passiert den meisten arbeitenden Menschen zeitweise, dass sie in der Arbeit aufgehen, ihren eigenen Rhythmus finden, nicht auf das Verstreichen der Zeit achten und ihre Tätigkeit als frei und selbstbestimmt wahrnehmen. Manchmal wird die Arbeit – gerade mechanische, repetitive Arbeit – auch zum unhinterfragten Hintergrund, vor dem man Gedanken schweifen lassen und auf neue Ideen kommen kann. Muße entsteht also nicht allein aus Tatenlosigkeit. So wie Menschen Muße empfinden können, wenn sie durch eine Stadt flanieren, eine vorab festgelegte Strecke abwandern oder in ihrer Freizeit in ihrem Garten arbeiten, so können sie auch Muße empfinden, während sie Tätigkeiten nachgehen, die ihre Umge-



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bung als Arbeit klassifiziert. Dass diese Möglichkeit nicht rein theoretisch bleibt, dafür haben die Forschungen des SFB zahlreiche empirische Belege gesammelt (siehe etwa Büdel 2021; Dobler 2016; 2014; Wilke/Dobler/Tauschek/Vollstädt 2021).

Fremdbestimmung und Arbeitserfahrung Wenn also Muße in Arbeit grundsätzlich möglich ist, warum wird Arbeit dennoch so häufig als das Gegenteil von Muße empfunden? Die Antwort auf diese Frage hat einiges mit grundsätzlichen Charakteristika von Arbeit zu tun – mehr noch aber mit jener konkreten gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, die durch diese Charakteristika möglich gemacht wird. Mit jeder Veränderung der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit verändern sich auch Formen von und Chancen auf Muße (etwa am Beispiel der russischen Sowjetzeit Cheauré/Gimmel/Rapp 2021). In der heutigen kapitalgesteuerten Arbeitsteilung werden Mußeerfahrungen immer stärker aus der Arbeitswelt verbannt und alleine in die ↗ Freizeit verwiesen. Zum grundsätzlichen Charakter von Arbeit gehört, dass sie ein Ergebnis haben, ein ‚Produkt‘ herstellen soll – sei es ein konkret materielles Gut, sei es eine Dienstleistung oder eine Idee. Nur in wenigen Fällen verschwindet dieses Produkt mit dem Ende der Arbeitshandlung. Arbeit ist also nicht allein ein gegenwärtiges Handeln, das sich am besten durch seinen Erfahrungscharakter beschreiben ließe, sondern sie stellt etwas her, das eine dauerhaftere Realität annimmt und sich von der konkreten Arbeitshandlung trennen lässt. Andere Menschen können es sich aneignen und es nutzen – es kontrollieren, weiterverarbeiten oder verkaufen. Weil sich das Produkt von Arbeit auf diese Weise vom Arbeitsprozess lösen lässt, haben Menschen etwas davon, die Arbeit anderer zu organisieren. Arbeitsteilung, die Koordination unterschiedlicher Arbeitsaufgaben und die Kumulierung des Ertrags vieler Arbeitenden können den Ertrag der einzelnen Arbeit vergrößern und gleichzeitig neue Möglichkeiten für die Aneignung des Arbeitsprodukts schaffen. An sich gehört das zu den grundlegenden Eigenschaften jeder Arbeit, deren Ertrag sich in einem Produkt speichern lässt. Auf welche Weise diese Möglichkeiten gesellschaftlich genutzt und in soziale Realität umgesetzt werden, unterscheidet sich jedoch historisch und geographisch stark (grundlegend etwa Woodburn 1982). Die Entstehung des Kapitalismus hat die Folgen dieser Eigenschaft von Arbeit radikalisiert. Sie gibt Kapitaleigner*innen die Möglichkeit, den gesamten Arbeitsprozess im Dienst der Kapitalvermehrung neu zu organisieren. Die weltweite Ausdehnung dieses Systems hat dann Menschen überall auf der Welt in ein globales System der Arbeitsteilung integriert (zusammenfassend

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etwa Kössler 2013). Beides hat starke Auswirkungen auf die Chancen Einzelner, in Muße zu arbeiten, auf die ich gleich noch zu sprechen kommen werde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Arbeit Muße nicht grundsätzlich ausschließt. Trotz der grundsätzlichen Zweckbestimmtheit von Arbeit können konkrete Arbeitserfahrungen als zweckentlastet und frei erscheinen und Raum für Muße geben. Doch anders als andere Tätigkeiten produziert Arbeit einen Ertrag, der sich von anderen aneignen lässt, und trägt damit auch den Keim der Fremdbestimmung und Kontrollierbarkeit in sich. Diese Fremdbestimmung kann Arbeitsprozesse so umformen, dass sie immer weniger Chancen zur Muße bieten. Kurz: die Zweckbestimmtheit der Arbeit schließt an sich Muße noch nicht aus, aber sie bietet den Ansatzpunkt für Machtausübung über den Arbeitsprozess, die Chancen von Muße schwinden lässt. Es ist hier nicht der Ort, Theorien und Erfahrungen der Entfremdung der Arbeit Revue passieren zu lassen (siehe dazu etwa Erikson 1990; Jaeggi 2016; Spittler 2008). Der Begriff bezeichnet in unterschiedlichen Akzentuierungen einen realhistorischen Prozess und seine Konsequenzen für Erfahrung und Subjektivität. In diesem Prozess verlieren Arbeitende die Verfügungsgewalt über ihre Arbeit und die Beziehung zum Produkt ihrer Arbeit – und allgemeiner ihr Bewusstsein, ihre Welt im Handeln aktiv und erfolgreich gestalten zu können. Gleich wie man Entfremdung im Einzelnen definiert (oder mit welchem anderen Wort man die oft mit Entfremdung benannten Sachverhalte bezeichnet): Mußelosigkeit und Entfremdung in der Arbeit werden oft von den gleichen Bedingungen erzeugt. Da sind zunächst die externe Organisation und Kontrolle von Arbeitsabläufen. Sie entziehen das Arbeitshandeln zumindest partiell der Gestaltung und Planbarkeit durch die Arbeitenden. Damit verändert sich das Verhältnis der Arbeitenden zum Zeitablauf doppelt: In dem Maße, in dem sie die Möglichkeit freier Aufgabeneinteilung in der Zeit verlieren, wird auch die externe Bestimmung der zeitlichen Abläufe stärker präsent und Zeitautonomie geht verloren. An die Stelle eines eigenen Handlungsrhythmus und eigener Planung tritt ein Korsett vorgegebener Abläufe (Dobler 2016). Das stärkt das Gefühl, dass Arbeit dem Arbeitenden äußerlich bleibt und nur aufgrund des äußeren Ziels sinnvoll ist, und nimmt Chancen auf die freie Verfügung über die eigene Zeit, die für Muße unabdingbar ist. Es wird unwahrscheinlicher, in der Arbeit das Gefühl zu bekommen, „in der Zeit nicht der Herrschaft der Zeit“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3) unterworfen zu sein. Zweitens verändern weitgehende Arbeitsteilung und ihre gesellschaftliche Organisation das Verhältnis zum Produkt der Arbeit. Nicht nur in der Fabrikarbeit wird die Herstellung eines Produkts in so viele Einzelschritte zerlegt, dass die Arbeit Einzelner nichts mehr im eigentlichen Sinn herstellt, sondern lediglich an der Herstellung mitwirkt. Das kann Ansatzpunkt für Entfremdung sein; in jedem Fall verändert es jenen Ablauf von Anstrengung und Abschluss,



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der für den Eindruck des Gelingens von Arbeit, für Kompetenzerlebnisse und auch für viele Mußeerlebnisse in der Arbeit entscheidend ist. Drittens können zunehmende Fremdbestimmung und Kontrolle Arbeit immer expliziter aus dem Reich der Freiheit in das Reich der Notwendigkeit verweisen – nicht alleine im Lebensverlauf, sondern im Ablauf jeder einzelnen Stunde und Minute. Je kleiner die Räume von Autonomie in Arbeit sind, desto geringer wird die Chance, sich wenigstens eine Zeit lang als frei von Produktivitätszwängen zu erleben. Auch hier gehen Entfremdung und schwindende Mußemöglichkeiten Hand in Hand.

Tendenzen globaler Arbeitsregime heute: Rekonfigurierung von Mußechancen Entfremdung und Mußefeindlichkeit sind als Möglichkeiten in der Zweckbestimmtheit von Arbeit generell angelegt, aber sie müssen durchaus nicht in jedem konkreten Arbeitsregime verwirklicht werden. Das bedeutet auch, dass es ein Kriterium zur vergleichenden Beurteilung unterschiedlicher Arbeitswelten ist, wie viel Freiheit zur Muße sie den Arbeitenden belassen. Die Organisation der globalen Arbeitsteilung heute schneidet in dieser Beziehung im Durchschnitt so schlecht ab, dass es kein Wunder ist, wenn Arbeit und Muße allgemein als Gegensatzpaar angesehen werden. In der globalen Neuformierung der Arbeitsgesellschaft werden Spielräume selbstbestimmter Zeitverwendung und selbstbestimmten freien Tuns immer ungleicher verteilt. Die Verschiebung immer größerer Gewinnanteile von Arbeiter*innen zu Kapitaleigner*innen führt zu einer globalen Konkurrenz um die billigste Arbeit, die eine immer weiter gehende Prekarisierung von als austauschbar angesehenen Arbeitenden mit sich gebracht hat (Götz 2013; Kalleberg 2011; Lewchuk 2017; Vidal 2013). Deren Arbeit ist – sei es durch direkte Kontrolle, sei es durch ‚unternehmerische‘ Selbstausbeutung (Bröckling 2007)  – immer stärker dauernder Effizienzkontrolle unterworfen und lässt wenig Spielräume für Muße. Die Prekarität ihrer Arbeit wird unterstrichen und gestützt von der großen Reservearmee jener, die auch von prekären formellen Arbeitsverhältnissen ausgeschlossen bleiben und für die Muße nicht durch die Kontrolle der Arbeit, sondern durch die Sinnlosigkeit der Langeweile verhindert wird (Dobler 2017). Auf der anderen Seite des Spektrums stehen jene gut ausgebildeten, im weitesten Sinne kreativ Arbeitenden, die sich in globaler persönlicher Mobilität die besten Arbeitsplätze aussuchen können. Ihre Arbeit greift stark auf die Freizeit über, lässt oft aber große Spielräume freier Gestaltung (etwa Boltanski/Chiapello 2003; Reckwitz 2019). Solche Spielräume werden oft direkt in die Arbeitswelt integriert – sei es durch die Gestaltung „neuer Arbeitswelten“ in Großraumbüros,

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sei es durch die Anlage von Freizeiteinrichtungen in Firmen –, was nicht nur das Ziel hat, die Verschränkung von Arbeit und Freizeit zu verstärken, sondern auch die Aufmerksamkeit der Arbeitenden von der Zweck- und Fremdbestimmtheit ihres Handelns ablenken soll. Das bedeutet noch nicht, dass die entstehenden Spielräume auch als sinnstiftende Freiheitsräume empfunden werden; neben die stark kontrollierten ‚Shit Jobs‘ können auch ‚Bullshit Jobs‘ (Graeber 2015) treten, die als zu sinnlos empfunden werden, um positive Arbeitserlebnisse zu bieten. Viele Arbeiten werden unterdessen weiterhin nicht kapitalistisch organisiert, ohne deshalb außerhalb kapitalistischer Dynamiken zu bleiben. Das deutlichste Beispiel ist hier die Pflege- oder Sorgearbeit, die einerseits als oft durch Frauen erledigte häusliche Reproduktionsarbeit Voraussetzung kapitalistischer Arbeit ist (etwa Delphy 2016; Folbre 2020; Mies 1986; ↗ Geschlecht), andererseits selbst immer stärker arbeitstechnischer Kontrolle unterworfen wird (etwa Winant 2021). Quer durch diese Entwicklungen zeigt sich eine klare Tendenz zur Umverteilung von Spielräumen der Muße. Nicht alle Sektoren sind von ihr gleichermaßen erfasst, und nicht überall geht die Gehaltsklasse parallel zu Mußechancen, aber es gibt kaum einen Beruf, der in den letzten zwanzig Jahren nicht von einer Veränderung der Spielräume zur Muße betroffen gewesen ist. Diese Tendenz wird verstärkt und teilweise autonom geschaffen durch eine Digitalisierung, die Arbeit zeitlich und räumlich mobiler macht und damit auch den globalen Konkurrenzkampf verschärft (etwa Wajcman 2015; 2018). Die Forschenden des SFB waren dabei von Anfang an skeptisch gegenüber Versuchen, diese Veränderungen als unentrinnbare Beschleunigung des Lebens zu beschreiben (wie etwa bei Rosa 2014). Sie sahen eher eine Neuformierung des Verhältnisses zwischen Beschleunigung und Entschleunigung und eine veränderte gesellschaftliche Organisation beider am Werk (Hasebrink/Riedl 2014a). Auch in Zusammenhängen, die durch immer rigidere Taktung, ständig präsent gehaltene Zeiteinteilung und Kommerzialisierung gekennzeichnet sind, kann plötzlich Leerlauf oder Langeweile entstehen. Menschen suchen in bewusster Abkehr von fremdbestimmter Beschleunigung nach neuen zeitlichen Spielräumen, und die individuelle Erfahrung der Zeit kann sich auch in objektiv beschleunigten gesellschaftlichen Feldern von diesen äußeren Zuschreibungen auf Zeit emanzipieren. Solche Differenzierungen können jedoch nicht vom grundlegenden Befund ablenken: gesellschaftliche Geschwindigkeit, gemeinsame Zeitpolitik und Mußechancen verändern sich heute in globaler Abhängigkeit von wirtschaftlichen Dynamiken. Das lässt das Verhältnis von Muße und Arbeit nicht unberührt. Dabei steht immer stärker auch die Normalität einer durch Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft selbst in Frage. Ideen einer PostWork-Gesellschaft, in der Arbeit (mit oder ohne Grundeinkommen) einen geringeren Stellenwert sowohl mit Blick auf die soziale Reproduktion als auch die gesellschaftliche Umverteilung hat als bisher, werden ebenso leidenschaftlich



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diskutiert wie Ideen der Neuverteilung der Arbeitsleistung über den Lebenslauf (Beck 2007; Bertram 2017; Dinerstein/Pitts 2018; Ferguson 2015). Mußeforschung ist mit all diesen Fragen verbunden und bietet einen heuristischen Zugang zu ihnen (etwa Dobler/Riedl 2017b; Wilke/Dobler/Tauschek/ Vollstädt 2021). Dabei hat sich (auch in der Außenwahrnehmung des Sonderforschungsbereichs durch die Medien) immer wieder gezeigt, wie stark Muße heute in westlichen Gesellschaften die Funktion eines individuellen Korrektivs gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zugeschrieben wird. Mußekurse (Wilke 2020), Achtsamkeitstrainings (Aeschbach/Fendel/Schmidt/Göritz 2021), New-Work-Büros oder im Kalender eingeplante Erholungsstunden (Wajcman 2018) sollen individuelle Resilienz stärken und es Subjekten ermöglichen, mit den Zumutungen der Arbeitswelt gelassener umzugehen. Gegen diese Individualisierung von Muße hat der SFB darauf beharrt, dass sich mehr Muße dauerhaft nur durch eine Veränderung von Arbeitsregimen erreichen lässt, die auch mit gesellschaftlichem ↗ Verzicht verbunden ist – und nicht dadurch, dass Einzelnen neben der Last der Arbeit auch noch die Verantwortung aufgebürdet wird, sie in Muße zu ertragen.

Muße und Arbeit Muße ist für mich, so ist deutlich geworden, nicht das Gegenteil von Arbeit. Sie ist jedoch ein praktischer und konzeptioneller Gegenpol zu den Konsequenzen jener Organisation von Arbeit, die heute global wirksam geworden ist. In den Diskussionen um gute und schlechte Arbeit verschwindet Muße nicht einfach als ein Relikt der Vergangenheit aus dem Bewusstsein. Das zunehmende Verschwinden von Mußechancen und ihre immer ungleicher werdende Verteilung entfachen heute neu wichtige Debatten. Je stärker Muße aus der Arbeit real verdrängt wird, desto stärker scheint sie als utopisches Gegenbild zur Arbeitsgesellschaft wirksam werden zu können. Im Schatten dieser Diskussionen bestehen aber auch Praktiken der Muße in Arbeit weiter. Keine Organisationform von Arbeit hat bisher Spielräume der Muße vollständig schließen können. Wo sie überraschend auftauchen oder von Menschen eigensinnig oder widerständig erkämpft werden, ermöglichen sie auch eine andere Erfahrung des Arbeitens und halten die utopische Erinnerung daran wach, dass Arbeit und Muße keine Gegensätze sein müssten.

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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Büdel, Martin (2021), Ohne die Stunden zu zählen. Alltag, Arbeit und der Umgang mit Zeit im ländlichen Cantal (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 22), Tübingen. Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Wilke, Inga/Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Vollstädt, Michael (Hg.) (2021), Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen.

Askese Thomas Böhm Askese ist in vorsäkularer Zeit (besonders seit dem vierten Jahrhundert), die in europäischen, nordafrikanischen und vorderasiatischen Kontexten christlich geprägt war, wesentlich mit monastischen Kontexten verbunden. Sie weist mit den sogenannten evangelischen Räten (Armut, Keuschheit und Gehorsam) eine Nähe zur Thematik des ↗ Verzichts auf, besitzt aber ein größeres Bedeutungsspektrum und soll deshalb hier von der Verzichtsthematik getrennt behandelt werden. Askese ist nämlich zunächst in der griechischen Literatur ein Begriff mit einer großen semantischen Breite in der Bedeutung „exercise, practice, training“ (Liddell/Scott/Jones 1968: 257), wird dann aber zusätzlich mit speziellen Lebensformen (z. B. der Kyniker) assoziiert und im spätantiken Christentum zusehends religiös konnotiert und mit Muße verbunden, etwa im Mönchtum (Lampe 1995: 244). Hier beinhaltet die Askese Verzicht, umfasst jedoch auch aktive Praktiken, die von Meditation und platonisch inspirierter Angleichung bzw. Anähnlichung (homoíosis) an Gott bis hin zur Negation des Selbst reichen, mitunter mit der Konsequenz der Hinwendung zum bedürftigen Nächsten. Vor allem die Negation des Körperlichen, die als eine Orientierung hin zur einzig realen Idealwelt des Geistigen begriffen werden muss, führt bisweilen zu Praktiken des Quälens des Körpers, um so eine Kontrolle über die Begierden des Leibes erreichen zu können. Solche Praktiken lassen sich schwer allein unter dem Begriff des Verzichts diskutieren, sondern nähern sich eher dem Foucault’schen Schema der Disziplinierung an (Michaels 2004). Hingegen ist Verzicht semantisch auf eine freiwillige Nicht-Inanspruchnahme beschränkt. Das monastische Leben inkludiert freiwilligen Verzicht auf Luxus an Lebensstandard (Armut), Verzicht auf Sexualität und Verzicht auf die eigene Meinung (Gebot des Gehorsams). Diese Negationen ergeben sich jedoch vor allem daraus, dass die Orientierung auf das Denken im Sinne eines selbstreflexiven Aufstiegs zum Göttlichen  – spätantik gedacht  – die Möglichkeit eröffnet, zur eigenen Ruhe zu gelangen.

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Christliche Askese in der Spätantike Im vorliegenden Text geht es wesentlich um historische Kontextualisierungen von Askese, hier um die mönchischen Traditionen des Christentums in der Spätantike, die zugleich maßgeblich für die weiteren Entwicklungen im Mittelalter sind. Das Ziel des Beitrags besteht einerseits darin, zu zeigen, dass die monastischen Lebensformen antike philosophische Konzepte, näherhin die platonischen und neuplatonischen Entwürfe, aufgreifen und christlich transformieren. Andererseits ist es zentral, solche Lebensformen vor dem Hintergrund sozialer Veränderungen im Imperium Romanum deutlich werden zu lassen. Das Thema Askese wird in Form eines historischen Abrisses aus der Perspektive der Alten Kirchengeschichte in den Blick genommen, die mit einem eigenen Teilprojekt im Sonderforschungsbereich vertreten war. Eine Hinwendung zum Göttlichen durch Selbstreflexivität geht notwendig einher mit einem Verzicht auf das materiell Irdische, damit in dieser Lebensform Muße als Form der Theoria (Schau) ausgeübt werden kann. Bedeutsam ist hier, dass in den monastisch geprägten Orten einerseits mußeaffine Bedingungen geschaffen werden, die dann dazu führen können, dass in der Kontemplation bzw. Theoria Muße erfahren werden kann, allerdings nicht zwingend als dauerhafter Zustand, sondern zeitlich begrenzt mit der impliziten Möglichkeit einer (mystischen) Einung mit dem göttlichen Prinzip oder einer Annäherung an das Göttliche. Dabei ist zu beachten, dass dieser Aufstieg in der Schau als plötzliches ‚Verweilen‘ beim Göttlichen zwar die sukzessive Abfolge der Zeit durchbricht und damit als Moment einer Entzeitlichung und, damit einhergehend, als ‚Verortung‘ begriffen, ja sogar als raptus mentis (eine ‚Entführung‘ des Geistes) beschrieben werden kann. Dennoch ist dies als ein momentaner oder plötzlicher ‚Akt‘ zu verstehen, der wiederum eine Rückkehr in die menschliche Verfasstheit bedingt. Unterstützt werden kann diese Zeitenthebung durch rhythmische und zyklische Zeitstrukturierungen, etwa durch das Stundengebet oder Meditationsformen. Die Form christlicher Theoriebildung mit einem dezidiert vorgetragenen Heils-Exklusivismus, der im Monotheismus gründete und sich gegen den Polytheismus abgrenzte, beförderte das Bewusstsein einer Differenz gegenüber anderen gesellschaftlichen und politischen Entwürfen. Darüber hinaus führte sie aus der Außenperspektive auch zur Wahrnehmung einer Fremdheit christlicher Gemeinden. Es bildeten sich alternative Lebens- und Bildungsformen heraus, die man als Kontrastgesellschaften zum spätantiken römischen Reich charakterisieren kann. Diese Lebensformen sind in den unterschiedlichen monastischen Traditionen zu suchen. Zu unterscheiden sind zwei Formen der Monastik, die koinobitische, also das Leben in Gemeinschaft in Klöstern, und die anachoretische, die einzelne Eremiten betrifft. Ungeklärt ist, wie das Verhältnis der Koinobiten zu den Anachoreten zu bestimmen ist. Zentral ist jedoch, dass die koinobitisch-mo-



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nastische Tradition von Bildungseliten getragen wird, dass aber dennoch ein Kontrast zu den römischen Gesellschaftsstrukturen festzustellen ist und dies wiederum Auswirkungen auf die Muße hat. Besitz gehört nicht den Magistraten (also den politischen Entscheidungsträgern), sondern dem sozialen Gefüge des Koinobions; soziale Ungleichheit der römischen Gesellschaft wird nivelliert in der Gleichheit der Mitglieder des Monasteriums; eheliche Gemeinschaften und Sexualität werden überführt in Asexualität und Geschlechtertrennung in Form von Monasterien für Frauen und Monasterien für Männer etc. Besonders relevant ist hier aber die Tatsache, dass die Muße einen neuen Ort findet in den monastisch-koinobitischen Lebensformen, allerdings in der Weise, dass nicht etwa das Koinobion als solches Muße vermittelt, sondern – ganz anachoretisch – der einzelne Mönch (Monachos) die Anähnlichung an Gott im Gefüge der sozialen Kontrastgesellschaft vollzieht (Böhm 2014; Vollstädt 2018: 111–148). Zumindest seit dem Aufkommen gnostischer Theologien wird Muße nicht etwa an einem anderen Ort gesucht, sondern christliche Lebensformen haben eine besondere Ausprägung erfahren, die man als individualethische Entwürfe bezeichnen kann (Böhm 2010; 2009: 111–115; Markschies 2001). Vor allem im Kontext platonisierender Vorstellungen besteht das Ziel christlicher Lebensform darin, in einem selbstreflexiven intelligiblen Akt das Selbst des Menschen zu erreichen. Dies kann näherhin, vor allem seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert, als eine Selbstvergewisserung in der Erkenntnis im Rahmen einer Prinzipientheorie gefasst werden. Diese wird erst im Gefolge von Aristoteles und dessen Darstellung der sogenannten Ungeschriebenen Lehre Platons entwickelt, und zwar in der Form einer denkenden ‚Anähnlichung‘ (homoíosis) an das Göttliche, das Eine als Prinzip und Ursprung von allem. Dieser vor allem im Neuplatonismus (etwa bei Plotin, Porphyrios u. a.; dazu Krämer 2020) entwickelte Gedanke führt zu einer Lebensform, die darin besteht, sich auf das Selbst des Menschen, d. h. die intelligible Seele, zu konzentrieren und so dem einen Gott ähnlich zu werden (Böhm 2002; Jürgasch 2013: 20–44, 228–269; Kirchner 2018a: 61–152). Indem das Denken sich selbst in sich selbst auf sich selbst richtet und damit selbstreflexiv sich als es selbst vollzieht, erreicht der Mensch in seiner Intelligibilität die für ihn höchstmögliche Form der Einheit und realisiert im Denken das göttliche eine Prinzip in sich selbst. Selbsterkenntnis wird so zu einer Einsicht in die Notwendigkeit der Voraussetzung des einen Prinzips (Beierwaltes 1985: 123–147); eine mußevolle Lebensform ist dann die denkerische Anähnlichung an das Göttliche, die vorrangig in christlichen Texten mit der Konzeption der Theoria gefasst wird (Böhm 2014; 1996: 69–95), wiewohl Gebet und Schriftlesung dieses Ziel unterstützen können. Sowohl die anachoretischen als auch die koinobitischen Ausprägungen des Mönchtums bilden eine Lebensform, die in der Anähnlichung an Gott Muße befördert. Da beide monastischen Formen jedoch als Kontrastgesellschaft verstanden werden können, insofern das anachoretische Leben eines Eremiten in

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der Wüste in gleicher Weise wie das Koinobitentum mit gesellschaftlich sanktionierten Normen bricht, lassen sich diese mit Niklas Luhmann als Normabweichungen verstehen (Luhmann 1984: 476–481; 1964: 386–389). Sie ermöglichen aber – wiederum mit Luhmann gesprochen – zugleich Anpassungsleistungen, da sowohl die anachoretischen Kellia als auch die koinobitischen Monasterien zu Zentren von Pilger- und Wallfahrten werden. Vor allem im östlichen Mönchtum sind philosophische Konzeptionen vorausgesetzt und christlich transformiert: Der Eremit in der Wüste ebenso wie der Monachos im Koinobion repräsentieren den Philosophen aus Platons Höhlengleichnis, der die Einsicht und Erkenntnis erlangt hat, diese aber an andere vermitteln muss  – er muss nach der Schau der Idee des Guten wieder hinabsteigen (zur Verbindung von Platons Höhlengleichnis mit christlichen Konzeptionen vgl. Böhm 1996: 226–227). Mit diesem platonischen Philosophen verbindet sich in monastischen Texten der stoische und neuplatonische Gedanke der imitatio (Jürgasch 2014), wonach der Monachos zum Vorbild für ein mußevolles, an der Theoria orientiertes Leben wird. In den monastischen Viten (z. B. der Vita Antonii) werden in habitualisierten Formen komplementäre Autoritäten (Heroen, Heilige) stilisiert, um zu einer neuen Lebensform über die Monasterien hinaus anzuleiten: dem engelgleichen und asketischen Leben. Dies bedeutet, dass zwar durch Normabweichungen Kontrastgesellschaften inszeniert werden. Diese sind aber durch die Anpassungsleistungen rückbezogen auf die Gesellschaft  – der Ausstieg findet in der Gesellschaft statt und wirkt zugleich als Korrektiv. Obwohl die monastischen Diskurse in Kleinasien (etwa bei Basilius von Caesarea in seinen Regeln), in Ägypten bei Pachomius oder bei Augustinus in Hippo jeweils von den sozialen Eliten und dementsprechend von den Bildungsträgern geführt werden, ist der Zugang zu den Monasterien grundsätzlich sozial nicht determiniert  – soziale Ungleichheiten werden in den Klöstern geradezu nivelliert. Während im griechischen Osten besonders die koinobitische Tradition auch mit ihren platonisierenden Momenten fortgeführt wurde, zum Teil auch mit Forderungen, dass das monastische Leben bzw. der Verzicht für alle Christen umgesetzt werden müsse (Eustathius von Sebaste), entstand vor allem im syrischen Bereich unabhängig von ägyptischen Einflüssen ein Eremitentum mit extremen asketischen Formen des Verzichts, besonders bei den Styliten (Säulenstehern).

Christliche Askese im Mittelalter Nachweisbar ist, dass das gemeinschaftliche Leben von Mönchen und Nonnen in je eigenen Klöstern aus dem Bereich Kleinasiens nachhaltigen Einfluss auf die abendländische monastische Tradition ausübte. Zu betonen ist jedoch, dass die zuvor entwickelten platonisierenden Momente eines inneren Aufstiegs zu Gott im Sinne einer Selbstreflexivität nicht die zentrale Rolle im westlichen



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Mönchtum spielten. Während die Koinobiten des Ostens eher als eine Kontrastgesellschaft interpretiert werden können, standen die westlichen Klöster trotz der Übernahme zahlreicher Verzichtmomente eher unter dem Einfluss der aristokratischen Gesellschaftsschichten sowie der Episkopen (Bischöfe), so dass hier Askese und Verzicht enger an die kirchlichen Institutionen rückgebunden wurden als im griechischen Osten. Diese Anpassungsleistungen hatten zur Folge, dass der überzeitliche Charakter östlichen Mönchtums mit dessen Betonung des Aufstiegs zu Gott in die konkreten Situationen der westlichen Gemeinden vor Ort einmündete. Die traditionelle vita rusticana wurde zu einer vita monastica unter aristokratischen Vorzeichen transformiert. Mit der monastischen Regel Benedikts von Nursia (ca. 480/490 bis ca. 547) sollte das Ziel gesteckt werden, dass der Mönch wahrhaft Gott suche in Gebet und Arbeit, die beide in Verbindung zur Muße gesetzt wurden. Die Überlieferungsgeschichte der Benediktsregeln ist schwer greifbar. Feststellbar ist jedoch, dass seit dem siebten Jahrhundert auf Synoden darauf gedrängt wurde, dass diese Regel alleine befolgt werden sollte (bis hin zur Umsetzung durch Benedikt von Aniane in den Jahren 816 bis 819). Damit einher ging zusehends eine Klerikalisierung des Mönchtums, so dass nun Enthaltsamkeit bzw. Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam und gemeinschaftliches Leben von der ursprünglich für Laienmönche geschriebenen Regel Benedikts von Nursia zu genuinen Bestandteilen für monastisch lebende Kleriker wurden (Chrodegang von Metz; gest. 766). Seit der Reformbewegung von Cluny (seit dem 10. Jahrhundert) wurde dieses Konzept dann auf liturgische Fragen zugespitzt, und zwar, statt der ursprünglichen Konzentration auf den politischen Einsatz, auf wissenschaftliche Studien und Handarbeit, die im Sinne des ora et labora (beten und arbeiten) mit mußevollem Leben konnotiert waren. Zwar sind die unterschiedlichen koinobitischen Formen benediktinischen Zuschnitts im Westen dominant, das eremitische Element gewann als Höchstform monastischen Lebens aber besonders durch die Iroschotten als monachi peregrini (Wandermönche) neue Bedeutung (vor allem seit dem 11. Jahrhundert). Dabei wurde der Gedanke der Freiheit von weltlicher Herrschaft mit der Freiheit von dieser Welt verbunden, prominent ausgearbeitet von Petrus Damiani (1007–1072) mit einer Rückwirkung auf das Koinobitentum, nämlich mit der Forderung nach Einsamkeit und Armut in Gemeinschaft (Johannes Gualbertus; 990–1073) sowie einer scharfen Kritik an Kirche und Klerus, wie dies auch bei den Kartäusern und Zisterziensern angestrebt wurde (zu den mittelalterlichen Entwicklungen vgl. Frank 1996). Dies zeigt, dass die spätantiken östlichen monastischen Traditionen (Anachoreten und Koinobiten) unter neuen geschichtlichen Bedingungen zunächst die Ratschläge des Evangeliums (Armut, Keuschheit, Gehorsam) im gemeinschaftlichen Leben weiterführten und dabei Muße mit Verzicht und Askese

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verbunden wurden, um schließlich unter den eremitischen Idealen Reformen an dem stark aristokratisch geprägten Mönchtum der Koinobiten zu etablieren.

Ausblick Der historische Überblick hat gezeigt, dass für christliche Askeseformen ein Rückzug von der Gesellschaft zentral ist. Darüber hinaus ist in diesem Kontext Verzicht insofern von Bedeutung, als Verzicht zur Konstituierung einer alteritären Lebensform beiträgt. Die Lebens- und Arbeitswelt der Mönchsgemeinschaft unterscheidet sich aber vom Verzicht im Sinne einer Aufgabe von Konsum und Handlungsoptionen, wie dies im vorliegenden Band in einem eigenen Beitrag zum Thema ↗ Verzicht ausführlich behandelt wird, dadurch, dass der Verzicht hier hingeordnet ist auf ein Streben nach dem Göttlichen. Indem der Mönch seinen Aktionsradius reduziert und sich auf ein einfaches Leben konzentriert, findet in dieser Konzeption eine Befreiung des Individuums für ein Leben statt, das sich an einer Transzendenz orientiert. In dieser Konstellation wird Muße gerade nicht alleine durch den Verzicht generiert, sondern sie wird aktiv in der Meditation und in der geistigen Verinnerlichung erfahren. Auf den ersten Blick scheint es zumindest im koinobitischen, d. h. in dem in Gemeinschaft lebenden Mönchtum so zu sein, dass der Einzelne seine Individualität in der Gemeinschaft der Kommunität aufgehen lassen möchte und das persönliche Glück dem der Klostergemeinschaft unterordnet; bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass zwar die koinobitische Ausprägung des Mönchtums eine gemeinschaftliche Lebensform darstellt, dass aber die Muße, die Theoria bzw. Kontemplation vor allem in den Aufstieg des Einzelnen zum Göttlichen verlagert wird, wie dies auch beim anachoretischen Mönchtum, also den Eremiten und in Zellen (Kellia) alleine lebenden Einsiedlern, feststellbar ist (Ruf 2020; Vollstädt 2018; zur Theoria speziell Böhm 1996: 69–149). Die durch die geschaffenen Freiräume entstehende Muße im Kontext des Mönchtums muss als Bedingung der Möglichkeit gesehen werden, ↗ Kontemplation unter Einbezug theologischen Schrifttums und praktischer Caritas zu leben (zu den philosophischen Voraussetzungen von Muße und Kontemplation und deren christlicher Umsetzung Böhm 2014; 1996; Kirchner 2018a). Im Mönchtum ist der Verzicht zwar als Grundanlage für das koinobitische Leben konstitutiv, die so gewonnene Heterotopie ist jedoch klar durch eine Zeitrhythmisierung konturiert, etwa durch die sich wiederholenden Gebetszeiten, welche wiederum einmünden in transitorische Rhythmen des mußevollen, selbstreflexiven Aufstiegs zu Gott selbst während der Arbeit, um hier das benediktinische Ideal des ora et labora aufzugreifen. Dennoch ist zu konstatieren, dass der Verzicht als solcher nicht mit Muße gleichgesetzt werden kann; er ermöglicht ein Leben, das Muße fördert und Mußeerfahrungen generiert.



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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Kirchner, Andreas (2018), Dem Göttlichen ganz nah. „Muße“ und Theoria in der spätantiken Philosophie und Theologie (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 8), Tübingen. Vollstädt, Michael (2018), Muße und Kontemplation im östlichen Mönchtum. Eine Studie zu Basilius von Caesarea und Gregor von Nyssa (Freiburger Theologische Studien 184), Freiburg/Basel/Wien.

Erfahrung Gregor Dobler Lässt sich eigentlich sagen, was Muße ist – oder können wir immer nur darüber sprechen, was Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten als Muße bezeichnen? Diese grundlegende Frage hat im Sonderforschungsbereich immer wieder neu zu Diskussionen geführt, aus denen sich bis zuletzt kein eindeutiger Konsens ergeben hat. Für die einen blieb Muße eher ein Suchbegriff, der eine klarere Analyse der Vorstellungen von ↗ Freiheit, Produktivität (↗ [Un-]Produktivität) und Privilegien ermöglichte, die in den Quellen auftauchen; für die anderen stellten diese historisch veränderbaren Vorstellungen eher Variationen eines gemeinsamen Kerns dar, der sich anthropologisch beschreiben lässt. Als pragmatischer Konsens zwischen beiden Positionen (die, wie es bei solchen fundamentalen Fragen üblich ist, durchaus auch im Wechsel von denselben Personen vertreten wurden) kristallisierte sich im Laufe der Zeit ein doppeltes „Ja – Aber“ heraus. Von der einen Seite her: Ja, die Begriffe von Muße, die in den Quellen auftauchen oder von Menschen vertreten werden, unterscheiden sich zwar deutlich und lassen sich inhaltlich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen, aber in ihrer Analyse zeigen sie dennoch eine Verwandtschaft, die sie für uns als Variationen eines Themas erkennbar machen. Von der anderen Seite her: Ja, es mag einen analytischen Kern dieses Themas geben, auf den wir uns auch beziehen müssen, um uns zu verständigen; aber dieser Kern ist so stark durch diskursiv gebundene Seins-, Denk- und Sprechweisen gebrochen, dass er allenfalls in der vergleichenden Analyse zu Tage tritt, aber nicht für die Interpretation vorausgesetzt werden darf. Beide Seiten dieses doppelten „Ja  – Aber“ lassen sich über den Begriff der Erfahrung von Muße genauer bestimmen. Wenn es so etwas gibt wie einen anthropologischen Kern der Muße, so muss er sich in der Erfahrung einzelner Menschen zeigen – einer Erfahrung, die immer schon diskursiv gebunden und vermittelt ist, aber den Individuen dennoch als unmittelbar und persönlich erscheint. Das machte aus dem schwierigen Begriff der Erfahrung im Laufe der Zeit einen der Mittelpunkte des gemeinsamen Nachdenkens über Muße. Während der Begriff der Semantik und Semantisierung (↗ Muße-Semantiken) eher für die Veränderbarkeit und Kontextgebundenheit der Muße stand, zentrierte sich um den Begriff der Erfahrung eher das Bemühen um den möglichen gemeinsamen Kern der unterschiedlichsten Semantisierungen.



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Erleben, Erlebnis und Erfahrung Was genau meint aber Erfahrung von Muße? Ganz allgemein verweist der Erfahrungsbegriff auf die innere Beteiligung und die Innensicht derer, die Muße haben (sollen). Er privilegiert den Standpunkt der Akteur*innen der Muße und versucht zu beschreiben, was Muße für sie bedeutet. Rein von außen betrachtet ist ja kaum zu entscheiden, wer tatsächlich Muße hat. Ein mußevoller Mensch kann sehr ähnlich aussehen wie jemand, der sich langweilt, angestrengt nachdenkt oder gar sich traumatisiert von der Welt abkoppelt. Zwischen diesen Zuständen lässt sich nur unterscheiden, wenn man mit einbezieht, was ein*e Akteur*in empfindet. Für dieses Unterfangen (auf dessen methodische Probleme ich weiter unten noch zu sprechen komme) sind die Kategorien Erleben, Erlebnis und Erfahrung wichtige Hilfsmittel. Sie dienen dazu, „von innen“ zu beschreiben, wie die Welt in einem bestimmten Moment für einen Menschen aussieht und wie sich das auf sein Bewusstsein und seine Person auswirkt. Alle drei Worte haben eine lange und verworrene Begriffsgeschichte, auf die ich hier nicht näher eingehe. Für die Diskussionen des SFB hat sich das phänomenologische Konzept als am tragfähigsten erwiesen, das Alfred Schütz im Anschluss an Dilthey und Husserl formuliert hat (Schütz/Luckmann 2003: 447–451). Demnach ist das Erleben – oder, bei Husserl und Schütz, der Erlebnisstrom oder Erlebnisablauf – der ununterbrochene Fluss unseres Weltbezugs. Es umfasst alles, was wir wahrnehmen, und bezeichnet die unmittelbaren, noch nicht in der Reflexion verarbeiteten, aber zeitlich fortlaufenden und durch frühere Erfahrungen geprägten Eindrücke als Grundlagen unserer Erkenntnis. Wenn wir diese Grundlagen im Bewusstsein interpretieren und ordnen, isolieren wir unwillkürlich einzelne Zeitabschnitte und Sinneseindrücke, die für uns eine Einheit bilden und sich von einem Vorher und einem Nachher abheben. Das sind Erlebnisse: abgegrenzte, identifizierte und mit Sinn versehene Deutungen der Eindrücke des Erlebnisstroms. Wenn wir Erlebnisse identifizieren, verbinden wir die Gegenwart mit der Vergangenheit, indem wir Ursachen und Wirkungen identifizieren; wir vergleichen, ordnen, bewerten und versehen mit Zwecken. Über Ziele und Zwecke verbinden wir die Gegenwart auch mit der Zukunft. Aus dem Strom des Erlebens wird so eine sinnvolle historische Abfolge von Erlebnissen. Ein Erlebnis ist also schon ein verarbeitetes Erleben. Es ist nicht Sinnesdatum, sondern Sinneinheit in einem Auslegungszusammenhang, und an seiner Entstehung ist nicht nur das Erleben beteiligt, sondern auch das Denken und Fühlen. Erfahrungen sind nun für Alfred Schütz „solche Erlebnisse, in denen sich das Ich sozusagen fest engagiert […]. Erlebnisse heben sich im Erlebnisstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse“ (Schütz/ Luckmann 2003: 449). Zur Erfahrung gehört also die emotionale Erregung

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des Ich genauso wie das Ereignis oder der Eindruck, der sich im Erleben zeigt. Eine Erfahrung nimmt ihren Ausgang in einem Erlebnis, aber die Bedeutung der Erfahrung konstituiert sich erst in der Reflexion auf das Erlebnis. Solange ich im Erlebnis befangen bin, beschäftigen mich die Gegenstände, auf die die Erlebnisse hinzielen; wenn ich mich dem Erlebnis zuwende, beschäftigen mich nicht mehr die Gegenstände, sondern das Erlebnis selbst. Genau dadurch kann es zu Erfahrung werden. Dieser Schritt vom Erlebnis zur Erfahrung ist immer schon interpretierend. Ich ordne den Erlebnisstrom und verleihe Erlebnissen unter Rückgriff auf frühere Erfahrungen und gesellschaftliche Wissensbestände Bedeutung. Mit dieser Differenzierung lässt sich die Begriffstrias ‚Erleben  – Erlebnis  – Erfahrung‘ heuristisch in eine für die Mußeforschung handhabbare Form bringen, die eine gewisse Präzision in der Sprache ermöglichte, auch wenn die Inhalte der drei typisierenden Begriffe nicht immer eindeutig zu trennen sind: Erleben oder Erlebnisstrom ist alles, was wir an Sinneseindrücken empfangen, noch ungeordnet und als ununterbrochene Abfolge. Ein Erlebnis ist das, was wir darin als sinnvolle Einheit ansprechen und vom Vorher und Nachher abtrennen. Zur Erfahrung wird das Erlebnis, wenn wir es als besonders und in irgendeiner Hinsicht bedeutungsvoll identifizieren und mit Sinn versehen. Auf Muße angewandt heißt das: Muße im emphatischen Sinne entsteht erst in der Erfahrung. Erst hier wird ein Element des Erlebens nicht nur zum Erlebnis (also zu einer abgeschlossenen Einheit), sondern zur mit Bedeutung verbundenen und mit meinem Wissensvorrat verknüpften Erfahrung von Muße.

Muße zwischen Erfahrung und Diskurs Diese Differenzierung erlaubt es nun, unterschiedliche Ebenen in der Analyse von Muße zu trennen und die Diskussionen über den Stellenwert von gesellschaftlichen Diskursen und individuellem Erleben für die Entstehung von Muße klarer zu fassen. Klar ist, dass der Begriff der Muße dort sinnvoll zu verwenden ist, wo Akteur*innen bestimmte Zeiten ihres Lebens selbst als Momente der Muße erfahren und beschreiben. Jean-Jacques Rousseaus Beschreibung seiner Spaziergänge auf der Petersinsel wären hier ein bekanntes Beispiel (Klinkert 2016b; Rousseau 1959; Sennefelder 2018). Rousseau schildert nicht einfach einen Ablauf von Erlebnissen, sondern er nutzt die Schilderung seiner Erlebnisse dazu, sie zu Mußeerfahrungen zu stilisieren – als Momente der Freiheit und schöpferischen Kraft, die ihn zu sich selbst bringen und letztlich zu den glücklichsten seines Lebens werden. Es ist offensichtlich, dass diese Stilisierung im Nachhinein erfolgte (auch wenn die Empfindung von Glück und Freiheit im Keim schon Teil des Erlebnisstroms der Spaziergänge gewesen sein sollte). Dabei möchte



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ich hier die zweifellos vorhandene Differenz zwischen der Erfahrung und ihrer literarischen Verarbeitung einmal beiseitelassen; es geht mir nur darum, dass die Erlebnisse auf der Petersinsel frühestens dann explizit Mußeerfahrungen wurden, als Rousseau sich ihnen zuwandte, sich „fest“ darin „engagierte“ und sie als symbolhaft interpretierte. Es wäre genauso denkbar gewesen, dass sie für ihn zu Markern der Langweile, des Ausgestoßenseins oder der Nutzlosigkeit geworden wären  – wie etwa eine äußerlich ganz ähnliche Inselerfahrung 170 Jahre später von Denis de Rougemont in seinem Journal d’un Intellectuel au Chômage (Rougemont 1937) beschrieben wurde. Muße im emphatischen Sinn entsteht hier, oder entsteht nicht, in der Interpretation, die aus dem Erlebnis eine Erfahrung macht. Damit ist Muße in diesem Fall von vornherein ein Konglomerat aus innerem Erleben der ‚Muße‘-Zeit und einer Interpretation im Lichte früherer und späterer Erfahrungen und gesellschaftlicher Wissensbestände. Wir können in der Analyse fragen, wie groß die jeweiligen Anteile sein mögen – aber das Unterfangen, diese Anteile im Nachhinein fein säuberlich aufzuspalten, ist wohl zum Scheitern verurteilt. Doch ist Muße nur dort zu finden, wo Akteur*innen sie explizit als solche bezeichnen? Auch eine zweite Variante von Mußeerfahrung, die ohne explizite Benennung durch die Akteur*innen auskommt, lässt sich wohl relativ unumstritten in den Bereich sinnvoller Mußeforschung einbeziehen: Erfahrungen, von denen Akteur*innen oder Texte berichten, ohne dabei von Muße zu sprechen – in denen sich aber Elemente identifizieren lassen, die für Rezipient*innen analytisch dem Bereich der Muße zuzuordnen sind. Ohne auf diese Weise nach der Onomasiologie von Muße zu fragen – also zu fragen, wie Akteur*innen oder literarische Texte über das sprechen, was wir Muße nennen  –, wäre ja schon die Untersuchung von Muße in Fremdsprachen oft zum Scheitern verurteilt. In diesen Beispielen muss aber prinzipiell offen und fraglich bleiben, ob und in welchen Anteilen die beschriebene Erfahrung tatsächlich zum Bereich der Muße gehört. Ihre Analyse verweist stets auf die Vorverständnisse, die die Analysierenden von Muße haben, ermöglicht aber auch deren Revision und Fortschreibung. Noch schwieriger wird es, analytisch von Muße zu sprechen, wo Menschen ihr Erleben nicht explizit deuten  – sei es, weil sie ihr Erleben gar nicht als Erlebnis im Bewusstseinsstrom abgrenzen, weil sie es zwar als Erlebnis identifizieren, aber nicht mit der nötigen Relevanz versehen, um es als Erfahrung herauszuheben, sei es, weil sie es zwar als Erfahrung identifizieren, aber nicht prädikativ benennen und sprachlich interpretieren. Ich will das nur mit einem Beispiel illustrieren: Während ich diese Sätze schreibe, scheint mir die Spätsommersonne ins Gesicht. Ich fühle mich wohl in der Wärme und vermute, dass mein Wohlfühlen Auswirkungen auf mein Schreiben hat. Jetzt, da ich mich meinem Erleben zugewandt, es mir bewusst gemacht und implizit mit anderen Situationen verglichen habe, in denen ich mich weniger wohl fühlte, kann ich das Erleben interpretieren  – etwa als

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Moment schöpferischer Muße oder auch nur als etwas angenehmere Art der ↗ Arbeit. Doch die Sonne schien schon, bevor ich mich ihren Auswirkungen auf mich bewusst zugewandt habe und sie beschreiben konnte. Die Interpretation hat meine Erfahrung konstituiert und mein Erleben verändert; aber sie war dennoch auf das Erleben angewiesen, und jenes bleibt in ihr präsent.

Mußeerfahrungen erforschen? Wie gehen wir wissenschaftlich mit Erleben um, das Grundlage von Mußeerfahrungen, aber noch nicht zu ihnen geronnen ist oder nie zu ihnen gerinnen wird? Es ganz aus der Analyse auszuschließen würde die Interpretation von ihrer Grundlage im Erleben abkoppeln und letztlich nur Diskurse als Interpretationsmaterial übriglassen. Es mit einzubeziehen, schafft aber schwer lösbare methodische Probleme. Hier sind unterschiedliche am Sonderforschungsbereich beteiligte Fächer sehr unterschiedlich vorgegangen. Am einfachsten war die Frage wohl für die Literaturwissenschaften zu lösen. Sie gehen von Texten aus und damit von Zeugnissen verarbeiteter, gestalteter und bewusst formulierter Erfahrung. Sie müssen deshalb nicht nach dem Erleben hinter dieser Erfahrung fragen – und sehen eine solche Frage aus guten Gründen oft als methodisch problematisch an, zumal stets unklar bleibt, um wessen Erleben es sich denn hier handeln solle. Ihnen wird es also auch dann stärker um Semantisierungen, Ausgrenzungen und Typiken von Muße gehen, wie sie im Text erscheinen, wenn sie sich prinzipiell für die Realität der beschriebenen Erfahrungen vor ihrem Zeithintergrund interessieren (Becker 2019; Cheauré 2017c; Eickhoff 2021c; Feitscher 2018; Keiling 2019; Riedl 2021a; Waßmer 2022). Natürlich bleibt ein großer Teil der auf Muße bezogenen Bedeutung literarischer Texte implizit und muss durch Interpretation erschlossen werden, womit Erleben zumindest der Interpretierenden wieder präsent bleibt, aber das Ziel kann nicht die Erschließung eines vorprädikativen Sinns sein. Auch Teile der sozialwissenschaftlichen Arbeiten des SFB haben sich vor allem auf verbalisierte Selbstaussagen und Erzählungen gestützt und in ihnen den wichtigsten Zugang zu Mußeerfahrungen gesehen. Auch hierbei wurde Muße teilweise explizit als Leitkategorie für Gespräche benutzt (etwa im kulturanthropologischen Teilprojekt zu Mußekursen, siehe Wilke 2021), teilweise mit anderen Leitfragen entstandene Selbstaussagen im Nachhinein in Bezug auf Muße interpretiert (etwa im Teilprojekt zu Krankheitserfahrungen, siehe L. Müller 2021). Anders als in den meisten literaturwissenschaftlichen Projekten ging es dabei explizit um die Rekonstruktion individueller Mußeerfahrungen konkreter Akteure, aber ebenso explizit adressierten die Projekte deren Selbstdeutungen, nicht das zugrundeliegende Erleben.



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Einen anderen Weg gingen die ethnologischen Teilprojekte, die über die eigene Teilnahme am Alltagsleben versucht haben, auch das Erleben sozialer Akteur*innen in den Blick zu bekommen (etwa Büdel 2021; Dobler 2017). Empathie, Feingefühl und eigene Beteiligung konnten hier eine breitere Basis für explizite Interpretationen durch die Forschenden schaffen, aber sie brachten natürlich keinen privilegierten Zugang zu fremdem Erleben. Der Austausch mit den Forschungspartner*innen über das Erlebte bildet immer ein notwendiges Korrektiv; damit richtet sich auch hier die Forschung zu einem großen Teil auf – mindestens im Nachhinein – explizit formulierbare Erfahrungen (hierzu etwa Kesselring 2015). Keine dieser Varianten konnte Erleben unmittelbar erfassen und als Grundlage von Mußeerfahrung beschreiben. Viele Teilprojekte setzten voraus, dass Mußeerfahrungen eine Basis im Erleben haben (also nicht allein austauschbare Diskurselemente sind), aber jede Interpretation dieses Erlebens durch die Akteure selbst ist untrennbar mit Diskursivierungen und kulturellen und gesellschaftlichen Wissensbeständen verbunden. Auch dort, wo das Erleben selbst interessierte (was keineswegs in allen Teilprojekten der Fall war), konnte es nur mit Hilfe der notwendigerweise interpretierten und vermittelten Erfahrung erschlossen werden.

Gibt es einen gemeinsamen Kern in Mußeerfahrungen? Was kann man nun über Mußeerfahrungen sagen? Gibt es über die Fachgebiete und die untersuchten Zeiten und Räume hinweg Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Erfahrungen von Muße? Auch in der Beantwortung dieser Frage ist natürlich Vorsicht geboten. So schwer in der Erfassung einer Erfahrung die Erlebensanteile von nachträglichen Interpretationen zu trennen sind, so schwer ist es, bei der vergleichenden Einordnung unterschiedlicher Erfahrungen nicht schlicht die eigenen Untersuchungskategorien zu reproduzieren. Mindestens dort, wo Menschen (oder Texte) nicht explizit von Muße reden oder sich in ihrem Reden nicht auf einen klaren Begriff von Muße beziehen, müssen wir in ihren Erfahrungen ja nach Elementen suchen, die mit unserem Mußebegriff verwandt sind. Die Gefahr, überall Muße zu finden, wo wir sie suchen, wurde durch die Breite der disziplinären Zugriffe und der Untersuchungsgegenstände im SFB geringer, die uns immer wieder Grenzen unserer jeweiligen Vorverständnisse vor Augen geführt haben. Zumindest die folgenden Charakteristika von Mußeerfahrungen haben sich für uns bis jetzt als allgemein tragfähig dargestellt: in Muße verändert sich unser Verhältnis zu Zeit und Raum und wir fühlen uns von Ansprüchen entlastet, denen wir im sonstigen Alltag genügen müssen. Dadurch entsteht eine Empfindung von Freiheit, die Mußeerlebnisse von anderen Zeiten abgrenzt

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und aus der ein von uns positiv empfundenes Gefühl neuer Möglichkeiten entsteht. Natürlich verlieren gewohnte Strukturen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit in Muße nicht einfach ihre Bedeutung, aber unser Bezug auf sie verändert sich (Figal/Hubert/Klinkert 2016a). Tourist*innen, die sich inmitten des Besuchsprogramms in einer überfüllten Innenstadt auf eine Bank setzen, verschnaufen und sich damit aus dem Getriebe herausnehmen, verändern die physische Raumstruktur nicht, aber sie setzen sich auf Zeit in ein neues Verhältnis zu ihr (Kramer 2020). Beim Verweilen im Wald, im Besuch eines Bades oder beim Flanieren durch eine Stadt wird der Raum als offen, möglichkeitsschaffend und frei für Formen der individuellen Aneignung erlebt. Unser Bezug zu ihm ist nicht in erster Linie praktisch-transformativ; wir wollen nicht möglichst schnell von einem Ort zum anderen gelangen, sondern erfahren den Raum als ein offenes Angebot, das anzunehmen uns freisteht (Figal 2014b). Eine solche neue Verortung kann durch architektonische oder soziale Institutionen gestützt werden (etwa beim Betreten eines sakralen Raums [Wahle 2016], eines Museums oder eines Bades [Hubert/Grebe/Russo 2020]), aber sie ist nicht von ihnen abhängig. Der veränderte Bezug zur Räumlichkeit ist stets verschränkt mit einem veränderten Bezug zum Ablauf der Zeit. Nur die Suspendierung zeitlicher Beschränkungen ermöglicht auch eine veränderte Raumerfahrung. Muße braucht das Gefühl, Zeit zu haben. Das bedeutet nicht, dass plötzlich alle Aufgaben erledigt seien, sondern dass sich unsere Aufmerksamkeit verschiebt und temporale Zwänge und die zeitlich gefasste Produktivität unserer Handlungen in den Hintergrund treten; der Ablauf der Zeit wird im subjektiven Empfinden stillgestellt. Zeitliches Nacheinander kann dabei ebenso durch einen Verzicht auf Handlungsziele außer Kraft gesetzt werden wie durch eine Rhythmisierung des eigenen Handelns (Dobler 2016). In Muße verändert sich also auf Zeit der Bezug der handelnden Person auf räumliche Strukturen und auf zeitliches Nacheinander. Beides kann von außen wie von innen angestoßen werden. Von außen können räumliche und zeitliche Signale sich ändern (etwa durch das Betreten besonders gestalteter und diskursiv mit Muße verbundener Räume oder durch das Wegfallen von Zeitmarkern und der mit ihnen verbundenen Handlungsaufforderungen); von innen können die Gültigkeit und der Aufforderungscharakter dieser Signale außer Kraft gesetzt werden, etwa durch die innere Distanzierung des Flaneurs vom geschäftigen Treiben (Riedl 2021a; Waßmer 2022). In jedem Fall schafft diese Veränderung des Raum- und Zeitbezugs im Erleben eine Situation, in der Menschen sich temporär als entlasteter und freier wahrnehmen als im sonstigen Alltag, und in der Möglichkeiten stärker im Mittelpunkt stehen als Zwänge (Gimmel/Keiling 2016). Hier steht es dem Menschen „frey“, „sein Gemüth mit jedem Gegenstande zu beschäftigen, welcher ihm vorzüglich gefällt“ (Garve 1796: 265). Aus einer solchen freien Zuwendung heraus können



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Gedanken, Ideen, Träume oder Wünsche entstehen, die unter Bedingungen der Konzentration auf vordefinierte Aufgaben schon im Keim erstickt würden, und Muße kann Räume für Kreativität eröffnen (Klinkert 2016b). Wenn das geschieht, markiert es auch im Erleben eine Differenz zwischen den Zeiten außerhalb der Muße und mußevollen Zeiten, die ihrerseits eine Reflexion auf den Alltag anstoßen kann (Müller 2020). Die Veränderung des Verhältnisses zur raumzeitlichen Struktur in Muße bleibt dabei nicht intellektuell-theoretisch und ist nicht auf die nachträgliche Konstitution der Erfahrung beschränkt, sondern sie betrifft bereits das leibliche Erleben: In Muße verändert der Mensch seine leibliche wie kognitive Bezugnahme auf die Welt. Indem diese „Differenzerfahrung“ (Dobler/Riedl 2017a: 7) Alltagsstrukturen temporär suspendiert, macht sie Fremdbestimmungen im Alltag neu erfahrbar und kann so Kritik an ihnen ermöglichen.

Zusammenfassung Erleben und Erfahrung von Muße zu verstehen und wissenschaftlich zu beschreiben, ist für uns der erkenntnistheoretisch, methodisch und forschungspraktisch schwierigste Teil der Mußeforschung gewesen. Immer wieder zeigte sich, wie stark Erfahrung diskursgebunden, gesellschaftlich und an Rollen geknüpft ist, und wie sehr unsere eigenen Vorverständnisse deshalb für die Identifikation von Muße gleichermaßen notwendig wie hinderlich waren. Dennoch bleibt das Unterfangen, Muße als Erfahrungskategorie zu beschreiben, für die Mußeforschung unverzichtbar. „Muße“ ist nicht allein eine kontingente gesellschaftliche Wertung und nicht allein eine Diskurskategorie, die Freiheitschancen zuschreibt. Sie ist verbunden mit individuellem Erleben, das für die Individuen eine Kritik auch solcher Zuschreibungen möglich macht. Zwischen Erleben und Erfahrung und zwischen Erfahrung und den gesellschaftlich möglichen Arten, sie auszudrücken, kann eine Differenz bleiben. In dieser Differenz ist die transgressive Kraft von Muße begründet. Erfahrung von Muße zu untersuchen, ist so nicht allein notwendig, um unseren Mußebegriff empirisch stützen und Muße von Nachbarphänomenen wie Langeweile, Erholung oder Konzentration abgrenzen zu können. Sie ist auch nötig, um zu verstehen, wie Muße wirkt. Nur aus der subjektiven Differenzerfahrung zwischen Muße und unmüßigem Alltag heraus ist jenes Erleben von Entlastung und Freiheit zu verstehen, das Muße kennzeichnet  – und nur aus diesem Erleben heraus lassen sich ihre individuellen wie gesellschaftlichen Wirkungen verstehen. Die Sprengkraft, die Muße entfaltet, liegt entscheidend in ihrem Erfahrungscharakter begründet.

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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Büdel, Martin (2021), Ohne die Stunden zu zählen. Alltag, Arbeit und der Umgang mit Zeit im ländlichen Cantal (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 22), Tübingen. Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Hubert, Hans/Grebe, Anja/Russo, Antonio (Hg.) (2020), Das Bad als Mußeraum. Räume, Träger und Praktiken der Badekultur von der Antike bis zur Gegenwart (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 13), Tübingen.

Erzählen Monika Fludernik/Thomas Klinkert/Lisa Müller Wie wird Muße erzählt bzw. welche Bezüge gibt es zwischen Muße und Erzählen? Dieser Artikel behandelt die Frage aus literaturwissenschaftlicher und psychologischer Sicht unter folgenden sechs Gesichtspunkten: (1) mündliches Erzählen als mußevolles Setting; (2) das Erzählen sowie Schreiben eines Textes als kreativer flow und daher als mußeaffin; (3) das Lesen oder die aurale Rezeption von Erzählungen als mußevoll; (4) Beschreibung von Mußeräumen, mit Muße assoziierten Objekten und mußebezogenen Praktiken in der narrativen Literatur oder in mündlichen Erzählungen; (5) die Generierung einer Rezeptionshaltung in der Erzählung, die Mußeerfahrung beim Lesen unterstützt; (6) empirische Befunde zum Verhältnis von Muße und Erzählen anhand einer psychologischen Studie. Der Beitrag behandelt mündliches und schriftliches Erzählen sowie literarisch-fiktionales und lebensweltliches Erzählen. Da es viele Definitionen von Erzählen gibt (Fludernik 2013; Ryan 2006), soll hier für literarische Texte pragmatisch Erzählung als Gattung aufgefasst werden, welche Vers- und Prosatexte von einiger Länge inkludiert, die nicht zur theatralischen Aufführung bestimmt und häufig handlungsbezogen sind. Die Beispiele mündlichen lebensweltlichen Erzählens stammen aus Alltagsgesprächen, aus institutionalisierten Formen mündlichen Erzählens und aus autobiographischen Erzählungen von Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen, chronischen Erkrankungen, die im Rahmen des Projekts G5 (Muße in Krankheitszeiten) untersucht wurden. Es lässt sich beobachten, dass die in der Literatur gängigen Mußeaspekte des Erzählens sich auch im mündlichen Erzählen wiederfinden, wenn sie auch in literarischen Texten breiter ausgeführt sind und reflexiv kommentiert werden.

Das Erzählen als mußevolles Setting Das Erzählen von Geschichten, wahren wie fiktiven, ist eine allgemeinmenschliche Praxis, die z. B. im Epos, in mittelalterlichen chansons de geste und noch heute in Erzählfestivals institutionalisiert und gesellschaftlich-sozial verankert war bzw. ist. Performative Erzählsettings werden häufig mit bestimmten Zeiten (z. B. nach dem Abendessen, an Feiertagen, bei Festen) assoziiert, die als Mußemomente jenseits des geschäftigen Alltags beschrieben werden können, also eine

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Rahmung im Sinne der Definition von Muße im SFB 1015 aufweisen (Hasebrink/Riedl 2014a; ↗ Einleitung). Der Erzählvortrag oder das Erzählen wird als Unterhaltung oder Erbauung empfunden; Erzählungen können liturgische oder andere soziale Funktionen haben. Beispiele aus der Gegenwart schließen die Gute-Nacht-Geschichte ebenso ein wie Erzählrunden nach dem Abendessen oder Unterhaltungen mit Mitreisenden im Zug. Es handelt sich also um besondere, eingegrenzte Zeitfenster der Muße, in denen Erzählende und Zuhörende sich aus dem Alltag ausklinken („stepped out of the flow, […] stepped back from, paused, gone on holiday“ – Freeman 2006: 133). In der europäischen Literatur werden zahlreiche mündliche Erzählszenarien beschrieben, in denen deutlich wird, wie das Erzählen als gesellige Praxis aus einer Situation der kollektiven Muße heraus entsteht. In Boccaccios Decameron flieht eine Gruppe von zehn vornehmen jungen Menschen aus der von der Pest heimgesuchten Stadt Florenz und zieht sich an einen ländlichen locus amoenus zurück (↗ Natur), um sich dort mußevollen Aktivitäten wie Spielen, Tanzen und Geschichtenerzählen hinzugeben. Das Erzählen der Novellen wird in der Rahmenhandlung als Versuch modelliert, dem durch die Pest verursachten Chaos des Realen eine Ordnung des Symbolischen entgegenzustellen (Klinkert 2016b). In Chaucers Canterbury Tales werden Geschichten von Pilgern erzählt, die unterwegs nach Canterbury sind, um in der dortigen Kathedrale das Grabmal von Thomas Becket aufzusuchen. In Iacopo Sannazaros Arcadia begegnet der unglücklich verliebte und aus Neapel nach Arkadien entflohene Ich-Erzähler mehreren Hirten; in ihren Mußestunden erzählen sie einander von ihren traurigen Liebeserfahrungen (Klinkert 2016a). In Diderots Jacques le Fataliste et son maître, einem aufklärerischen Metatext über das Erzählen, der aus einem Universum von lauter Geschichten besteht, wird die längste Binnenerzählung von einer Wirtin bestritten. Sie handelt von Madame de la Pommeraye; Friedrich Schiller hat sie unter dem Titel Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache ins Deutsche übersetzt. Die Geschichte wird in einem Gasthaus erzählt, welches Jacques und sein Herr aufgrund eines Unwetters länger nicht verlassen können, so dass sie also Muße haben, um der Geschichte zu lauschen. Der Nexus von Muße und Erzählen besitzt in diesen wie in zahlreichen anderen Fällen eine metapoetische Dimension, d. h. es wird eine Perspektive eröffnet, von der aus man das Erzählen als solches betrachten kann, so dass seine Funktionen sichtbar werden.

Erzählen und Schreiben als mußevolle Tätigkeit Bestimmte literarische Texte zeigen, wie die Tätigkeit des Schreibens, also die Produktion von Literatur, aus einer Situation der Muße heraus entsteht. Ein berühmtes Beispiel ist Michel de Montaigne, der seinen Beamtenberuf aufgab,



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sich auf seinen Landsitz begab (↗ Rückzug) und sich in seiner Bibliothek jahrelang mit Büchern beschäftigte, um aus dieser mußevollen Tätigkeit heraus seine Essais zu schaffen (Corbineau-Hoffmann 2016; Krause 2003). Diese ‚Versuche‘ loten in ihrer freien, schweifenden, improvisierenden Form den durch die Muße gegebenen Möglichkeitsraum in verschiedene Richtungen aus. Der Ich-Erzähler von Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus wird am Ende einer langen Serie von Abenteuern auf eine einsame Insel verschlagen, wo er die Ruhe findet, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Jean-Jacques Rousseau beschreibt in seinen Rêveries du promeneur solitaire seinen Aufenthalt auf der Petersinsel im Bielersee als eine Phase glücklicher Muße, in der ihm wie nie zuvor die Kontemplation möglich war und die ihm zur Voraussetzung des Schreibens wurde (Klinkert 2016b). Auch das Briefeschreiben wird nicht nur in der Antike als mußevolle Beschäftigung betrachtet (so bei Cicero und Sallust, vgl. Eickhoff 2021c). In diesen Texten, die beispielhaft für viele andere stehen, wird die Ermöglichung schriftstellerischer Tätigkeit durch Rückzug, Kontemplation und Muße dargestellt.

Das Lesen als mußevolle Beschäftigung Auch die Rezeption von Geschichten kann mit Muße assoziiert sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn diese Geschichten in Mußeszenarien erzählt werden, wo durch die Rahmung des Erzählprozesses bereits eine mußevolle Rezeption suggeriert wird. Nun werden literarische Texte seit der frühen Neuzeit meist gelesen, d. h. sie werden in Abgeschiedenheit rezipiert. Der einsame Leser ist jedoch gleichermaßen in ein Mußeszenarium eingebunden, da die Freiheit von äußeren Zwängen zu einer Freiheit führt, die es ermöglicht, sich den Figuren der Erzählung und ihrem Schicksal in der fiktiven Welt zu widmen. Ebenfalls deutlich wird der Mußebezug, wenn man an das Lesen in Zügen, Straßenbahnen, Arztpraxen und anderen Umgebungen denkt, in denen die Lektüre und die damit einhergehende Vertiefung in die fiktive Welt das Reisen oder Warten verkürzen und versüßen und einen in eine fremde Welt eintauchen lassen, über der man seine Umgebung vergessen kann. Das Sich-Versetzen in eine fremde Welt ist deshalb mußeaffin, weil dabei ein geistiger oder mentaler Freiraum entsteht, der die Umgebung zwischenzeitlich ausklammert und die Langeweile des Wartens durch aktive imaginäre Partizipation an der erzählten Welt ersetzt. Da das Sich-Hineinversetzen in fiktive Szenarien auch mit dem Füllen von Leerstellen des Textes korreliert (Ingarden 1931; Iser 1994), kann man eine Affinität zu den Definitionsparametern der Mußeerfahrung im Modell des SFB konstatieren (↗ Einleitung): die „tätige Untätigkeit“ besteht darin, dass sich der Leser oder die Leserin aktiv in die erzählte Welt einbringt, sowohl intellektuell wie emotional; dasselbe mag für die „produktive

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Unproduktivität“ gelten, da das Lesen ja keine unmittelbaren Ergebnisse schafft, aber sehr wohl in imaginärer Hinsicht äußerst produktiv ist; und schließlich ist die „bestimmte Unbestimmtheit“ der Muße daran festzumachen, dass bei der Lektüre ganz spezifische fiktive Figuren und Orte imaginiert werden, diese jedoch letztlich unbestimmt bleiben und in der Imagination sowohl über den Text hinausgehend konkretisiert werden oder auch unkonkretisiert bleiben können.

Mußeszenarien in der Literatur In der Literatur sind Mußeszenarien zu finden, die auch teilweise Topoi und sogar Gattungen konstituieren. Zu unterscheiden wären grundsätzlich Mußeräume (↗ Raumzeitlichkeit), Mußepraktiken und mit der Muße assoziierte Objekte. Diese drei Unteraspekte sind in Rahmen oder Scripts miteinander verwoben, die auch in literarischen Texten, z. T. semantisch angereichert, aufgegriffen werden können. So ist die ↗ Natur ein wichtiger Mußeraum; dieser wird durch Mußepraktiken wie das Spazieren, Wandern, Reiten etc. ‚erschlossen‘, und Rucksäcke, Wanderstiefel oder Pferde können diese Rahmen aufrufen. Zum Beispiel findet man in Prousts À la recherche du temps perdu Momente des Verweilens vor Bäumen oder Weißdornhecken, von denen der Erzähler immer wieder berichtet und die wie auch das Hören von Musikstücken oder die Lektüre im Garten unter einem Baum für seine Entwicklung zum Künstler im Zeichen der Muße eine zentrale Rolle spielen. Neben der Natur allgemein sind es insbesondere Wälder, Gewässer (Seen, das Meer), die Berge und auch Gärten und Parks, die als Mußeräume fungieren und die Romanfiguren, aber auch Leserinnen und Leser, zum (imaginären) Spazierengehen und Verweilen einladen. Die Türhüterin des Gartens im mittelalterlichen Rosenroman heißt Oiseuse, die Mußefrau (Klinkert 2016b; Krause 2003). Der locus amoenus ist Teil der Gattung der literarischen Idylle oder Schäferdichtung, in der Schäfer und Schäferinnen unter schattigen Bäumen Liebesgedichte verfassen und singen und dabei ihre Schafe hüten. Für die romantische Dichtung spielt das mußevolle Naturerleben eine zentrale Rolle (Adelman 2011; ↗ Natur). Auch außerhalb der Natur gibt es Mußeräume. So können Stätten der Erbauung und des intellektuellen und ästhetischen Genusses als Mußeräume dargestellt werden. Hierzu gehören u. a. Theater, Opernhäuser, Konzerthallen, Museen, Galerien oder Bibliotheken – typische Settings, die in vielen Romanen des 19. Jahrhunderts vorkommen. Darüber hinaus sind Rückzugsräume wie Klöster, Hütten, Villen oder Inseln typische Mußestätten, die, wie das bei der Robinsonade der Fall ist, auch gattungskonstitutive Funktion haben können (↗ Rückzug). Schließlich ist in moderneren Zeiten das ↗ Flanieren entlang Boulevards oder Einkaufsstraßen ein beliebtes Mußemotiv, so wie auch die



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Kutschenfahrt und das Verweilen in Cafés städtische Mußekontexte aufrufen (Riedl 2021a zu Goethe in Rom; ↗ Urbanität). Bei den Mußepraktiken sind neben dem Wandern, Spazieren, Flanieren oder dem Liegen in der Hängematte besonders künstlerische Tätigkeiten mit der Muße assoziiert: das Singen, Musizieren, das Lesen, auch das Komponieren und Schreiben, das Erzählen selbst (siehe oben) sowie überhaupt die Konversation. Manche Mußepraktiken werden gemeinsam ausgeübt; anderen wird eher allein gefrönt. Das Meditieren oder das Vollführen von Yoga-Übungen dient der inneren persönlichen Bereicherung (↗ Achtsamkeit); sozialere Formen von Mußepraktiken involvieren ein gemeinsames Erleben einer Auszeit vom Alltag beim gesellschaftlichen Spiel und Tanzen, beim Reden oder beim Speisen. Auch das traditionelle Singen und Erzählen während der vorindustriellen Arbeit konstituiert ein Mußemoment, so wie ein flow im Schreiben oder Forschen die Zwänge der ↗ Arbeit vergessen lässt. Schließlich soll noch auf einige typische Mußeobjekte hingewiesen werden, die man nicht als Räume im eigentlichen Sinn bezeichnen kann. Zu diesen gehören das Bett als Ruhemöbel und ebenso die Couch, die Chaiselongue, der Fauteuil, der Ohrensessel sowie der Liegestuhl, die Hängematte, die Schaukel, der Schaukelstuhl usw., aber auch andere Gegenstände: Louis-Sébastien Mercier betitelt seine Anthologie von mitternächtlichen Meditationstexten Mon bonnet de nuit (1798), also ‚Meine Nachtmütze‘ (Saint-Amand 2011).

Die Muße im Leseprozess und ihre sprachliche Inszenierung Muße wird in literarischen Texten nicht nur dargestellt, bzw. ist Lesen an sich eine Mußetätigkeit; typische Mußeromane bedienen sich darüber hinaus narrativer und sprachlicher Strategien, die Muße für die Leserin oder den Leser dank der sprachlichen Gestaltung des Erzähltextes nachvollziehbar werden lassen und so eine Mußeerfahrung im Leseprozess generieren helfen (Fludernik 2021b). Aus narratologischer Sicht ist eine Fokussierung der Ereignisse durch die Perspektive einer Figur geeignet, Mußeerfahrungen (↗ Erfahrung) besser darzustellen als aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, der die Muße der Charaktere ja nur von außen benennen oder evaluieren könnte. Auch iteratives Erzählen (die Schilderung von wiederkehrenden Ereignissen), das Gérard Genette anhand von Prousts À la recherche du temps perdu illustriert, eignet sich als Strategie, um habituelle und routinebezogene Erfahrungen zu vermitteln, von denen manche auch Mußeerfahrungen sind. Eine weitere Möglichkeit, Muße in der Lektüre zu betonen, liegt in der Verlangsamung des Leseprozesses. Der Leser oder die Leserin hastet nicht mental der Handlung hinterher (‚Was passiert als nächstes?‘, ‚Wird er sie retten oder nicht?‘), sondern wird durch die sperrige Textoberfläche ‚ausgebremst‘. So sind

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Erzählungen, in denen die Gedankenwelt der Figuren extensiv dargestellt wird, schwerer zu verarbeiten und verlangsamen die Lesegeschwindigkeit. Ähnliche Effekte können in Kombination damit oder separat davon erzielt werden, wenn der Erzählerbericht komplexe syntaktische Strukturen, die aufmerksame Lektüre verlangen, einsetzt, anspruchsvolle Metaphorik verwendet und durch Wortwiederholungen, Assonanzen und Lautmalerei die Aufmerksamkeit der Leserin oder des Lesers an sich zieht, so dass die ästhetische Qualität der Sprache in den Vordergrund rückt. Diese Strategien können auch unabhängig von einer Mußethematik oder einem Mußeszenarium zu einer Mußeerfahrung im Lektüreprozess führen. Prinzipiell ist dies auch für Lyrik zu veranschlagen; der Effekt der Entschleunigung ist jedoch in Erzähltexten offensichtlicher, da diese in aller Regel dazu tendieren, durch Spannung zu zielgerichtetem Lesen zu verführen; genau diese Zielgerichtetheit will ein auf Lesemuße orientiertes Schreiben aushebeln.

Bezüge zwischen Muße und Erzählen im Kontext einer empirischen Studie Einige der angeführten Verbindungslinien zwischen Muße und Erzählen ließen sich auch im Kontext einer empirischen, psychologischen Studie des SFB (Teilprojekt G5) nachzeichnen  – sowohl auf Ebene der Fragestellungen und Gegenstände als auch teilweise hinsichtlich des methodischen Vorgehens. Hier konnte auf bereits vorliegende, mündliche autobiographische Erzählungen zurückgegriffen werden, die von Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen stammen und im Rahmen des Projektes DIPExGermany erhoben worden waren (Lucius-Hoene/Adami/Koschak 2015). Die Arbeit im Projekt DIPExGermany verfolgt das Ziel, Erfahrungen von Patientinnen und Patienten mit sozialwissenschaftlichen Methoden zu erheben, auszuwerten und auf der Website www.krankheitserfahrungen.de zu veröffentlichen. Auf diese Weise sollen die Erfahrungen von Patientinnen und Patienten anderen Betroffenen, ihren Angehörigen sowie Personal im medizinischen Bereich niedrigschwellig zugänglich gemacht werden. Im Rahmen von DIPEx wurden die Erzählungen durch offene, sogenannte narrative Interviews elizitiert (Lucius-Hoene/Adami/Koschak: 101 ff.). Der Rahmen dieser spezifischen Form des Interviews lässt sich als mußevolles Setting begreifen: Die Interviewten bestimmen Zeit und Ort des Interviews selbst, meistens die eigene Wohnung bzw. das eigene Haus, und die Forschenden bemühen sich vor Interviewbeginn um einen informellen Austausch und das Schaffen einer gemütlichen Atmosphäre. Das Interview selbst wird durch eine Einstiegsfrage eröffnet, welche Erzählerinnen und Erzähler einlädt, biographische Erfahrung erzählerisch darzustellen. Im Kontext von DIPEx wurde der thematische



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Fokus auf das Leben insbesondere seit Einsetzen der Erkrankung gelegt. In Hinblick auf Muße ist besonders bedeutsam, dass das narrative Interview Erzählerinnen und Erzählern eine freie erzählerische Entfaltung ermöglicht: Sie haben während des gesamten Interviews monologisches Rederecht, während die forschende, zuhörende Person ihre Ausführungen lediglich (non- und para-) verbal unterstützend, akzeptierend und nicht-wertend begleitet. Weiterhin lässt sich das autobiographische Erzählen selbst als mußevolle Praktik interpretieren (Freeman [2006: 133] spricht von „leisure-filled“). Die erzählerische Darstellung biographischer Erfahrung bedeutet eine freie, reflexive Zuwendung zur eigenen Person, wobei die entstehende Erzählgestalt zugleich auf die zuhörende Person als soziale Ratifizierungsinstanz ‚ausgerichtet‘ wird. Hierdurch entfaltet das autobiographische Erzählen nicht selten  – und ganz nebenbei – selbstvergewissernde Wirkungen: During the interviews, [patients] often start to reflect upon their illness experiences in a concentrated and up-front way, developing new understandings, finding inspiration in biographical connections and musing about causes and conditions, which, as they remark sometimes, come quite as a surprise to them. (Lucius-Hoene/Adami/Koschak 2015: 100)

Es wurde gezeigt, inwiefern sich der Rahmen des narrativen Interviews als mußevolles Setting und das autobiographische mündliche Erzählen als Mußepraktik beleuchten lassen. Darüber hinaus wurden in der empirischen Studie Darstellungen von Mußeszenarien in den Erzählungen fokussiert. Die Patientinnen und Patienten stellen Muße als Zeit für sich im Sinn einer persönlichen Auszeit dar, in der alltägliche Funktionszusammenhänge vorübergehend suspendiert sind. Mußeerfahrungen, die sich in solchen Zeiten einstellen, lassen sich als selbstzweckhafte und ergebnisoffene Tätigkeiten beschreiben, die an bestimmte leibliche Positionen geknüpft sind (↗ Leiblichkeit) und sich in bestimmten physischen Räumen manifestieren (↗ Raumzeitlichkeit). Muße wird sprachlich etwa als entspanntes Sitzen in einer Kapelle gefasst. Dieses ermöglicht ein reflexives Tätigsein – etwa im Sinne des Betens und offenen Schweifen-Lassens der Gedanken  –, welches nur der jeweiligen Person selbst dient. Tätigsein in Muße wird aber auch als Perzeption, als Wahrnehmungsprozess, beschrieben, etwa während des langsamen Gehens in der ↗ Natur, durch welches diese visuell und haptisch intensiv und auf außeralltägliche Weise erfahrbar wird (L. Müller 2021). Damit wird in den Erzählungen der Patientinnen und Patienten teilweise auf ähnliche mußebezogene Topoi Bezug genommen, wie sie auch im Kontext literaturwissenschaftlicher Untersuchungen aufscheinen. Weitere Bedeutungspotentiale erschließen sich, wenn die Art und Weise der sprachlich-kommunikativen Vermittlung von Muße an Zuhörende in den Blick genommen wird. Passagen, welche sich thematisch auf Mußeerfahrungen beziehen (↗ Erfahrung), werden mitunter re-inszenierend erzählt: Patientinnen und Patienten versetzen sich erzählerisch in die frühere raumzeitliche Position und

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re-aktualisieren ihre damalige Wissens- und Erwartungsperspektive. Hierdurch wird Vergangenes vermittelt, als vollzöge es sich unmittelbar in der Gegenwart vor den Augen der am Gespräch Teilnehmenden (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 228 ff.). Der Eindruck eines ‚unmittelbaren Geschehens‘ verstärkt sich, wenn zusätzlich im szenischen Präsens erzählt, also Vergangenes in der Gegenwartsform dargeboten wird. Zudem wird Handeln in Muße meist isochron, d. h. kleinschrittig und ‚wie in Echtzeit‘ erzählt, wodurch sich Zuhörende ein klares, deutliches Bild der geschilderten Szene erschließen können. Schließlich deutet betont-rhythmisches Sprechen auf eine starke emotionale Beteiligung am Erzählprozess hin, was wiederum Hörenden ein symbolisch vermitteltes Miterleben ermöglicht. Analog zu Untersuchungen im literaturwissenschaftlichen Kontext lassen sich damit narrative und sprachliche Strategien benennen, mittels derer Mußeerfahrungen, hier an konkrete Zuhörende, vermittelt werden (Fludernik 2021b). Zudem zeichnen sich im Kontext der empirischen Studie die Konturen einer ‚erlebnisorientierten Muße‘ auf Seiten der Zuhörenden in Form einer aktiven, imaginären Partizipation an der erzählten Welt ab. Denn wie bereits angedeutet, entfaltet re-inszenierendes Erzählen über Muße weitreichende, interaktive Wirkungen: „Der Erzähler zieht die Hörerin in einen Vorstellungsraum hinein, in dem er selbst Mittelpunkt ist, er lässt sie gewissermaßen über seine Schulter blicken und die Szene überschauen“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 116). Wiederum parallel zu den Ergebnissen literaturwissenschaftlicher Studien lässt sich damit über eine mußevolle, aurale Rezeption – hier von konkreten, lebensweltlichen Erzählungen – nachdenken.

Zusammenfassung Zwischen Erzählen und Muße bestehen zahlreiche Verbindungen, die sich auf verschiedenen Ebenen der Produktion und Rezeption und in mehrerlei Hinsicht (u. a. Figuren, Erzähler, Objekte, Räume, Situationen) dokumentieren lassen. Dieser Zusammenhang ist nicht auf literarisches Erzählen beschränkt, sondern lässt sich auch im Rahmen von mündlichem Erzählen beobachten. In der empirischen Studie zu Muße in Krankheitszeiten haben sich ähnliche Zusammenhänge gezeigt, wie sie aus literarischen Werken bekannt sind, insofern die interviewten Personen in einem mußevollen Setting über ihre Mußeerfahrungen erzählen und Zuhörende dies ggf. selbst als mußevoll erleben können. Ein wichtiger Teilaspekt der Beziehung zwischen Muße und Erzählen kommt in der Reflexivität der Muße zum Tragen: dank dieser kann Erzählen von einer Metaebene aus als Mußepraxis betrachtet werden.



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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth (Hg.) (2017c), Muße-Diskurse. Russland im 18. und 19. Jahrhundert (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 4), Tübingen. Noor, Farha (2021), „The Sensory Semantics of Otium in South Asia. Asymmetries, Entanglements and the Affective“, in: Monika Fludernik/Thomas Jürgasch (Hg.), Semantiken der Muße aus interdisziplinären Perspektiven (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 20), Tübingen, 291–314. Sennefelder, Anna Karina (2018), Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 7), Tübingen.

Figuren Elisabeth Cheauré/Konstantin Rapp Wenn wir über Muße sprechen, tun wir das oft intuitiv anhand von ‚Figuren‘. Doch was meinen wir damit genau und warum erweist sich diese Analysekategorie als besonders geeignet, um sich Phänomenen der Muße zu nähern? Figuren der Muße in unserem Sinne sind Individuen oder Rollen, die in besonderer Weise durch ihre Verbindung mit Muße charakterisiert sind. Das können literarisch gestaltete Figuren ebenso sein wie lebensweltlich existierende. Zu den Figuren der Muße würde also Oblomov (Titelfigur des Romans von Ivan Gončarov [1812–1891]; 1859) genauso gehören wie ‚der müßige Hirte‘ als Figurentypus oder ‚der Flaneur‘ als soziales Rollenmuster. Die komplexe Verquickung verschiedener Ebenen, die eine Herausforderung darstellen, aber auch den Reiz und die Relevanz von Muße für gesellschaftliches Leben ausmachen, sei mit einem Beispiel, dem berühmten Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), Goethe in der römischen Campagna (1786/87), veranschaulicht. Das Gemälde zeigt uns Goethe in Rom während seiner Reise in Italien, mit der bereits ein prominentes Mußemotiv aufgegriffen wird (Riedl 2021a). Der nachdenkliche Blick des Dichters lässt auf eine besondere sinnlich-emotionale Lage der Figur schließen, die sowohl Kontemplation als auch aktive geistige bzw. schöpferische Arbeit bedeuten kann. Auf Letzteres deutet die stilisierte Landschaft mit Ruinen und Relief hin, die auf Goethes literarisches Schaffen verweisen und die Szene in einem bestimmten Raum und kulturhistorischen Kontext situieren. Tischbeins Portrait von Goethe führt uns bereits zu der Erkenntnis, dass es reale Personen nicht ‚einfach nur so‘ gibt, sondern dass es meistens um unsere Wahrnehmung realer Personen geht, wobei Selbst- und Fremdbilder, Deutungsmuster und soziale Rollen eine wichtige Rolle spielen. „Reale Personen“ sind also immer mit gesellschaftlicher/kultureller Vermitteltheit verknüpft. Die künstlerische Gestaltung von Figuren ermöglicht dabei nicht nur die Kommunikation individueller sinnlich-emotionaler Erlebnisse, so dass diese zu allgemeinmenschlichen ↗ Erfahrungen werden. Die ästhetische Vermittlung ist auch grundlegend dafür, was wir eigentlich unter Muße verstehen. So wird auf dem Gemälde die für Muße charakteristische Veränderung bzw. intensivere Wahrnehmung von Raum und Zeit an bestimmte Räume (↗ Raumzeitlichkeit)



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Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), Goethe in der römischen Campagna (1787), Städel Museum, Frankfurt am Main, https://sammlung.staedelmuseum.de/de/ werk/goethe-in-der-roemischen-campagna, Public Domain Mark 1.0.

wie ↗ Natur oder Wald geknüpft, die uns die Erfahrungen der Unbestimmtheit und der temporären Freiheit von sozialen Zwängen und Leistungserwartungen ermöglichen können. Räume der Muße entstehen aber v. a. durch Praktiken der Figuren wie z. B. das Reisen oder künstlerisches Schaffen. Das Verhalten der Figuren in Muße prägt die Wahrnehmung der real vorhandenen oder auch imaginären Räume, die dadurch mit bestimmten Bedeutungen belegt werden und so erst zu Mußeräumen avancieren können. Es zeigt sich, dass Mußepraktiken der Figuren oft auch an bestimmte soziale Rollen gebunden sind (z. B. Adliger oder Schriftsteller/Dichter). Gerade das Beispiel Goethe führt uns in den Mittelpunkt der Spannungsfelder, in denen das Individuum in der ↗ Gesellschaft steht: z. B. zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, aktivem Leben bzw. ↗ Arbeit und ↗ Kontemplation, sozial bzw. politisch engagiertem und selbstzweckhaftem künstlerischem Schaffen. Diese Konstellationen offenbaren uns gesellschaftliche Hierarchien und Wertungen, die an Muße im jeweiligen kulturhistorischen Kontext geknüpft werden. Anhand von Figuren der Muße und ihren Praktiken können diese Zuschreibungen in diachroner Ent-

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wicklung betrachtet und aus der Perspektive der Gegenwart kritisch reflektiert werden. ‚Figuren‘ lassen noch einen weiteren Aspekt von Muße in eine doppelte Perspektive fassen. Denn das Gemälde von Tischbein inszeniert nicht nur einen Moment der Muße der Goethe-Figur, sondern eröffnet einen potenziellen Mußeraum auch für den Betrachter. Die Ambivalenz von Figuren als Subjekte und Objekte von Mußeerfahrungen, mit anderen Worten: die Unterscheidung zwischen der „Muße des Beobachters und der Muße der Beobachteten“ (Riedl 2021a: 81 ff.), erlaubt es insbesondere, auf die ästhetische Gestaltung und Vermittlung von Mußeerfahrungen zu fokussieren, diese aus poetologischer Sicht näher zu betrachten und deren Funktionen zu untersuchen.

Methodologische Zugänge Die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs ‚Figuren‘ führen auch zu unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen an Figuren der Muße. Im Sonderforschungsbereich hat der Figurenbegriff deshalb auch einen lebendigen Dialog zwischen den Fächern über die Zielsetzung der Analyse angestoßen. Als grundlegend für die Vermittlung von Mußeerfahrungen lässt sich deren Narration betrachten. Muße und ↗ Erzählen stehen in anthropologischem wie poetologischem Zusammenhang. Als temporäre ↗ Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen lässt sich Muße nicht nur als elementare Voraussetzung für Kulturtätigkeiten des Menschen begreifen. Wir können Muße auch am künstlerischen Umgang mit der Sprache festmachen. Dabei wird die sprachliche Botschaft von pragmatischen Zwecken befreit und regt den Rezipienten zu einem selbstzweckhaften ästhetischen Spiel an (Klinkert 2016b: 2–3, 10). Diese beiden Aspekte von Narrativen lassen sich insbesondere anhand der Figuren der Briefschreibenden (Eickhoff 2021c) oder der Verfasserinnen und Verfasser von Autobiographien (Feitscher 2018) in den Blick nehmen. Dabei wird deutlich, dass die Vorstellung von den ‚Figuren‘ der Muße auf komplexen Prozessen der Bedeutungszuschreibung basiert. Einen weiteren analytischen Zugang zu den ‚Figuren‘ und ihren Praktiken bieten ethnographische und sozialwissenschaftliche Methoden wie qualitative Interviews oder teilnehmende Beobachtung. Dabei erweist es sich als hilfreich, die ‚Figuren‘ in ihrer bereits erwähnten Ambivalenz als Subjekte und Beobachter von Mußeerfahrungen zu begreifen. Es lässt sich nämlich aus methodologischer Perspektive fragen, inwieweit die subjektiven Erfahrungen der Forschenden bei der Untersuchung von Mußephänomenen berücksichtigt werden können (und sollten). Gerade durch affirmatives Sich-Einlassen auf den Forschungsgegenstand ‚Muße‘ können die Erfahrungen des Beobachters und der Beobachteten in Bezug gesetzt werden, so dass die für Mußeerfahrungen typische



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Überschreitung von Grenzen und die Semantisierung körperlich-leiblicher Erlebnisse (↗ Leiblichkeit) genauer beleuchtet werden können. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs wurde dies u. a. bei teilnehmender Beobachtung von Gottesdiensten in Namibia reflektiert (van den Berg 2022). Außerdem lässt sich auch nach kollektiven Formen der Muße fragen. Eine Untersuchung bäuerlicher Arbeitsabläufe in Namibia zeigt nämlich, dass bei gemeinschaftlich verrichteter Arbeit infolge der Rhythmisierung Transgressionseffekte zu beobachten sind, die die Grenze zwischen ↗ Arbeit und Muße fluid werden lassen. Die Aufmerksamkeit der Arbeitenden kann so stark von der Produktivität ihrer Arbeit abgelenkt werden, dass wir von einer Arbeit in Muße sprechen können (Dobler 2016). Ein Blick auf die Figuren und ihre Praktiken erlaubt es also, die für Muße grundlegende besondere Qualität der Wahrnehmung von Raum und Zeit analytisch zu greifen (Figal/Hubert/Klinkert 2016a; ↗ Raumzeitlichkeit). Anhand empirischer Untersuchungen lässt sich z. B. klären, ob bestimmte Räume durch ihre besondere Architektur und Atmosphäre unsere Zeitwahrnehmung beeinflussen und so Mußeerfahrungen begünstigen können (Ehret/Trukenbrod/ Gralla/Thomaschke 2020). Gerade aus interdisziplinärer Perspektive kann der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Raumatmosphären und Musik beleuchtet werden (Ehret/Schroeder/Bernet/Holzmüller/Thomaschke 2019), wobei die ↗ Immersion eine wichtige Rolle spielen kann. Bekanntlich lässt sich Muße nicht willentlich erzwingen (↗ Einleitung); sie kann sich aber gerade dann einstellen, wenn wir das am wenigsten erwarten, z. B. bei harter körperlicher oder geistiger ↗ Arbeit. Alle unsere Praktiken können also potenziell zu den Tätigkeiten in Muße werden. Dieses Umschlagen, oder die Transgression, gehört zu den charakteristischen Merkmalen von Muße und lässt sich gerade anhand der Wahrnehmung von ‚Figuren‘ analytisch greifen. So kann z. B. ein erzwungenes, emotional negativ belegtes Warten in eine Phase der Reflexion oder kreativer geistiger Arbeit umschlagen (Ehret/Roth/Zimmermann/ Selter/Thomaschke 2020). Auch die Zeiten während chronischer ↗ Krankheit, die oft zur Unterbrechung des Arbeitsalltags führen, können trotz körperlicher und psychischer Belastungen einen Raum für Mußepraktiken wie Reflexion, künstlerische Betätigung oder selbstbestimmte Befassung mit neuen Dingen eröffnen (L. Müller 2021).

Gesellschaftliche Relevanz von ‚Figuren der Muße‘ Die mithilfe von ethnographischen und empirischen Methoden gewonnenen Erkenntnisse sowie die Darstellungen von Figuren der Muße und ihren Praktiken in Kunst und Literatur erlauben es, auf die soziale Praxis der Menschen und die gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu schließen, wobei gerade entlegene Epochen als Vergleichsfolie für aktuelle Fragen dienen können.

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So lässt sich die Tradierung von Mußekonzepten in der abendländischen Kultur, die unsere Vorstellungen von Muße bis heute prägen, anhand der Figuren antiker Philosophen und christlicher Denker genauer verfolgen (Jürgasch 2018; Kirchner 2018a). Diese Ideengeschichte speiste sich nicht zuletzt aus einem Ideentransfer zwischen den östlichen und westlichen Kulturen (Böhm 2014; ↗ Kulturtransfer). Diese gegenseitigen Einflüsse lassen sich z. B. anhand der Analyse der literarischen Verarbeitung von Muße, ↗ Kontemplation und ↗ Askese in den Versionen des Romans Barlaam und Josaphat belegen (Ruf 2020; 2022). Praktiken der Figuren können einen Einblick in die Aushandlung von sozialen Rollen gewähren, wie sie sich z. B. in der spätmittelalterlichen Gesellschaft zwischen den Sphären des geistigen und des weltlichen Lebens vollzog. Dabei trafen kontemplative Praktiken, die von Geistlichen ausgeübt wurden, als Teil der vita contemplativa auf die Anforderungen des aktiven gesellschaftlichen Lebens, der vita activa. Die beiden Pole können gerade mit einem Konzept der ‚Figuren der Muße‘ in ihrem Spannungsverhältnis betrachtet werden. Ein Blick auf die daraus entstandene hybride Lebensform, die sogenannte vita mixta, die von Klerikern praktiziert und später auch von Laien angeeignet wurde, zeigt, wie ein Ausgleich zwischen gesellschaftlichem Engagement und beschaulichem Rückzug gesucht wurde (Eder/Manuwald/Schmidt 2021a). Eine Paradoxie von Muße liegt darin, dass sie zum einen als Attribut elitärer Exklusivität fungiert und eine kulturelle Ordnung zu krönen scheint, zugleich aber auch als Moment größter Gefährdung dieser Ordnung gelten kann. Beispiele hierfür finden sich in der höfischen Literatur um 1200 und in mystischer Literatur des 14. Jahrhunderts, die auffallende Parallelen zeigen. Die hier inszenierten Figuren der Adligen streben nach Vollkommenheit (perfectio), wofür gerade Muße als besondere Form der ‚tätigen Untätigkeit‘ eine wichtige Rahmenbedingung bzw. Voraussetzung darstellt. Zugleich galt aber Muße in der höfischen Literatur als gefährliche Versuchung (Becker 2019; Keiling 2019). Solche Darstellungen zeigen, dass der Muße ein hoher symbolischer Wert in der Gesellschaft zukommt, und machen zugleich das transgressive Potenzial von Muße deutlich. Dieses ermöglicht, dass starre soziale Rollen hinterfragt und neu ausgehandelt werden können. Mußepraktiken unterschiedlicher Akteure bzw. sozialer Gruppen verdeutlichen also, dass Muße als Kriterium gesellschaftlicher Unterscheidung dienen kann (Dobler/Riedl 2017b). Damit lässt sich auch besser verstehen, wie sich soziale Hierarchien in historischer Perspektive herausbilden. Entscheidend dafür scheint die Frage zu sein, wer in der Gesellschaft über die ↗ Zeit verfügen darf, in der sich Muße potenziell einzustellen vermag. Ein Überschuss an freier Zeit, der etwa infolge von sich verändernden sozialen Strukturen bei den russischen Adligen im 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand, markierte einerseits den elitären Status dieser sozialen Schicht. Damit wurden



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Voraussetzungen für eine Adelskultur geschaffen, die Mußepraktiken erst ermöglichte. Gleichzeitig lässt sich diese Konstellation auch problematisieren, da der Überschuss an freier Zeit auch als problematisch wahrgenommen werden und in Langeweile umschlagen konnte (Cheauré 2017b). Anhand der Figur des Flaneurs, der durch seinen geradezu verschwenderischen Umgang mit Zeit eine konfrontative Stellung zur bürgerlichen Arbeitsethik einnimmt, lassen sich insbesondere die zeitliche Verdichtung und Beschleunigung des Lebens in den Metropolen Europas ab 1800 analytisch greifen. Die Darstellung der ↗ Flanerie als idealtypische Form urbaner Muße in deutscher Publizistik und Reiseliteratur erlaubt es außerdem, noch weitere Aspekte in den Blick nehmen, nämlich die durch rasche Urbanisierung verursachte Reizüberflutung und die ästhetische Vermittlung dieser Erfahrung (Waßmer 2022). Damit lassen sich Rahmenbedingungen für Muße im Kontext der Entwicklung europäischer Metropolen problematisieren (Riedl/Freytag/Hubert 2021b). Es handelt sich dabei um Fragen, die durchaus auch für die heutige Zeit, z. B. für den modernen Städtetourismus, relevant sind (Kramer/Freytag 2021; ↗ Reisen). Mit der Figur des Wissenschaftlers lassen sich sowohl die mittelalterlichen universitas als auch die modernen wissenschaftlichen communities in den Blick nehmen und eine Suche nach Freiräumen in der Gesellschaft thematisieren. Der akademische Habitus der Forschenden kann dabei im Spannungsfeld zwischen der autonomen, selbstzweckhaften Beschäftigung mit Wissenschaft im Sinne Wilhelm von Humboldts einerseits und der lauter werdenden Forderung nach ‚Produktion‘ des Wissens und dem wachsenden Leistungsdruck andererseits problematisiert werden (Gimmel 2020c; 2022; ↗ Wissenschaft). Der große symbolische Wert von Muße in der Gesellschaft lässt auch danach fragen, ob Mußeerfahrungen gezielt herbeigeführt und durch bestimmte Praktiken in den Alltag eingespeist werden können. Hier sind z. B. spezielle Kurse zur ‚Erlernung‘ von Muße zu nennen, die oftmals im Kontext von Selbstoptimierung und Leistungssteigerung stehen und deren Angebot sich v. a. an die Spitzenverdiener bzw. höhere soziale Schichten richtet (Wilke 2020). Im Sonderforschungsbereich wurden aber auch Kursangebote entwickelt, die diese Logik transzendieren sollten, etwa in Form von Achtsamkeitsübungen (↗ Achtsamkeit) für angehende Assistenzärztinnen und -ärzte, die in routinierte Arbeitsvorgänge, z. B. das Händewaschen, implementiert werden können. Dadurch lassen sich solche Phasen zum Stressabbau nutzen (Fendel/Aeschbach/Göritz/ Schmidt 2020; Fendel/Aeschbach/Schmidt/Göritz 2021). Ein weiteres Beispiel stellt die Implementierung solcher Techniken im schulischen Bereich dar, um seelische Gesundheit, Kreativität und geistige Offenheit von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern zu fördern (Gouda/Luong/Schmidt/ Bauer 2016).

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‚Figuren der Muße‘ im Kontext der Identitätsfindung Diese Beispiele machen deutlich, dass Muße zu einem Element der Reproduktion sozialer Strukturen avancieren kann, wobei das Handeln der ‚Figuren‘ in Muße sowohl rollenstabilisierend als auch rollendurchbrechend wirken kann. Diese Eigenschaften lassen sich insbesondere bei komplexen kulturübergreifenden Prozessen der Identitätsfindung beobachten – bei der Konstruktion des ‚Eigenen‘ in Abgrenzung zum ‚Fremden‘ im Kontext des ↗ (Post‑)Kolonialismus oder bei Diskussionen über neue Gesellschaftsformen, die allen Menschen Muße ermöglichen sollen, wie sie z. B. in der frühen Sowjetunion geführt wurden. Ein Blick auf das Großbritannien des 18. Jahrhunderts zeigt, dass es sich zunehmend als Nation von Tätigen definiert. Aus diesem Grund werden Untätigkeit und Muße negativ besetzt und mit Müßiggang (idleness) assoziiert (zum breiten philosophiegeschichtlichen Kontext siehe ↗ Freiheit). Bezeichnenderweise werden dabei positive, ästhetische Formen der Untätigkeit im Sinne von Muße den Frauen der gehobenen Gesellschaft oder auch dem kulturell Anderen, etwa dem indischen Fürsten – Nawaab – zugeschrieben. Als Parallelfigur dazu ist der Nabob, britischer Repräsentant der East India Company, zu sehen, der die Mußepraktiken der indischen einheimischen Herrscher nachahmt. Damit wird deutlich, dass sich Vorstellungen von Mußefiguren im Rückgriff auf Eigenund Fremdbilder sowie insbesondere auf Gender-Diskurse konstituieren (Masurczak 2016; ↗ Geschlecht). Prozesse der Identitätsfindung lassen sich auch über den europäischen Raum hinaus z. B. anhand von literarischen Figuren im indischen Gegenwartsroman nachverfolgen, in dem Identitäten im Spannungsfeld zwischen der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart ausgehandelt werden (Fludernik 2020; 2021b; Munz 2020; 2021a; 2021b). Die Figur des ‚Neuen Menschen‘ in der frühen Sowjetunion kann schließlich als Prototyp für eine neue Gesellschaft stehen, die sich einerseits durch ↗ Arbeit und Leistung definiert und andererseits danach strebt, die Arbeitszeit zu verkürzen, um – ganz im Sinne von Marx – mehr ↗ Zeit für Muße zu gewinnen. Tatsächlich kippte aber dieses (auch) auf gerechte Verteilung von Arbeit und Freizeit zielende Modell dadurch, dass man versuchte, die freie Zeit und ‚Muße‘ unter ideologische Kontrolle durch den Staat zu bringen (Cheauré/Gimmel/ Rapp 2021). Die Beispiele machen deutlich, dass sich ‚Figuren‘ der Muße im weitesten Sinne auch als Träger von ↗ Kulturtransfer begreifen lassen, sei es ein Ideentransfer zwischen Ost und West, zwischen den unterschiedlichen Lebenssphären und sozialen Schichten im Rahmen einer Gesellschaft oder beim Überschreiten von Grenzen und der ‚Aneignung‘ neuer kultureller Räume beim Reisen, im modernen Städtetourismus (↗ Reisen) sowie in Prozessen gegenseitiger Bezugnahme im Kolonialismus (↗ [Post-]Kolonialismus).



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Als besonderer Ort des Kulturtransfers seien abschließend ↗ Museen modernen Zuschnitts erwähnt, die besondere Mußepotenziale aufweisen. In einer vom Sonderforschungsbereich eigens konzipierten Dauerausstellung (Muße-Literaturmuseum Baden-Baden) wird z. B. Besucherinnen und Besuchern nicht nur Wissen über Muße vermittelt, sondern auch Mußeerfahrung ermöglicht. Dank eines innovativen Museumskonzepts, das auf eine emotionale Involvierung des Publikums in ‚erlebte Welten‘ abzielt, werden die Museumsgäste somit auch in Muße (verstanden als besonderer Modus der Wahrnehmung und Vermittlung) an die Inhalte herangeführt. Dabei wird auf strenge Lenkung von außen verzichtet, stattdessen werden Räume für das Verweilen und selbstbestimmte Erkundung der Exposition geschaffen (Cheauré/Nohejl/Gorfinkel 2018). Hier kommt dem Museum auch die Funktion zu, spezielles Wissen  – auch über Muße – an die außeruniversitären Kreise zu vermitteln, worin die sogenannte „Third Mission“ moderner Universitäten besteht (Cheauré 2021a).

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth/Gimmel, Jochen/Rapp, Konstantin (Hg.) (2021), Verordnete Arbeit – Gelenkte Freizeit. Muße in der Sowjetkultur? (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 23), Tübingen. Riedl, Peter Philipp/Freytag, Tim/Hubert, Hans W. (Hg.) (2021b), Urbane Muße. Materialien. Praktiken. Repräsentationen (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 19), Tübingen. Wilke, Inga/Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Vollstädt, Michael (Hg.) (2021), Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen.

Flanerie Peter Philipp Riedl/René Waßmer Flanerie ist eine idealtypische Ausprägung urbaner Muße (↗ Urbanität). Die Konvergenz von Muße und Flanerie wird bei einem Blick auf einschlägige Definitionen unmittelbar deutlich. Die jeweiligen Attribute von Flanieren, des Spazierengehens im städtischen Raum, und Muße sind nahezu identisch. Harald Neumeyer beschreibt Flanieren als „ein vom Zufall bestimmtes Gehen, ein Gehen, das, was das Erreichen eines bestimmten Ortes oder das Durchschreiten eines festgelegten Raumes angeht, als richtungs- und ziellos zu verstehen ist, ein Gehen, das dabei zugleich frei über die Zeit verfügt, Zeit mithin keiner Zweckrationalität unterwirft“ (Neumeyer 1999: 11). Macht des Zufalls, Ziellosigkeit, frei verfügbare Zeit, Unabhängigkeit von Zweckrationalität  – all diese Eigenschaften zählen auch zu den Kernelementen des im SFB 1015 entwickelten analytischen Konzepts von Muße. Der offene, nicht zweckrational geprägte Wahrnehmungsmodus, also die ↗ Freiheit von einer die eigene Zeit beschränkenden Tätigkeitsform, lässt sich als tätige Untätigkeit beschreiben, die sich literarisch etwa als kreative und damit produktive „Oszillation von Narration und Reflexion“ (Müller 2013: 215) niederschlagen kann. Insbesondere in Großstädten und Metropolen kontrastiert der Flaneur oder die Flaneuse (Elkin 2016) deren von Beschleunigung und Hektik geprägte Lebensform mit einer betonten Langsamkeit, Ziellosigkeit und Offenheit für kontingente oder zufällige Wahrnehmungen. Wer flaniert, lässt, idealtypisch betrachtet, Wahrnehmungen jenseits strenger Intentionalität mit einer Haltung der Gelassenheit zu. Gelassenheit ist dahingehend eine Disposition zur Muße, dass man sich frei von äußeren Zwängen auf etwas einlässt. Gelassenheit bedeutet „eine ästhetische und existentielle Offenheit für das, was einem begegnen kann“ (Strässle 2013: 13). Flanieren in diesem Sinne als eine spezifische Form der Wahrnehmung urbaner Räume im Modus von Gelassenheit lässt sich als Ausdruck von Muße charakterisieren. Sie impliziert einen ästhetischen Wahrnehmungsmodus des Verweilens, jenseits der von Beschleunigung und Utilitarismus geprägten Funktionszusammenhänge der Großstadt. Der Flaneur oder die Flaneuse eilt nicht zielgerichtet von einem Ausgangspunkt zu einem Endpunkt, sondern lässt sich vielmehr treiben, ohne Eile, ohne festes Ziel, ohne unmittelbaren Zweck, ohne direkt in funktionale Abläufe involviert zu sein, welche die Möglichkeiten, über die eigene Zeit frei verfügen zu können,



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entscheidend einschränken. Ebenso wie das Spazierengehen jenseits der Stadtmauern (König 1996; Montandon 2007) ist das Flanieren im urbanen Raum eine „ziellose Bewegung“, bei der der „Blick nicht auf den Weg, der zum Ziel führt“, fixiert ist; der oder die Flanierende hat vielmehr „keine Eile, die dem Blick ein Abschweifen und Verweilen verbietet, sondern gibt ihm Frei-Zeit, sich überall hin umzusehen“ (Neumeyer 1999: 12). Die postulierte Ziellosigkeit des Flanierens bedeutet freilich nicht Orientierungslosigkeit. Zweckfreiheit meint auch nicht Zwecklosigkeit. Auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung herrscht zwar ‚absichtsvolle Absichtslosigkeit‘ (Soeffner 2014) vor sowie die Bereitschaft, sich zufälligen Eindrücken hinzugeben. Auf der übergeordneten Ebene des Ordnungsrahmens, der die Kontingenz ästhetischer Erfahrungen organisiert, ist jedoch eine intentionale Struktur unverkennbar. Der Schriftsteller Franz Hessel, der mit seinem Prosawerk Spazieren in Berlin (1929) einen zentralen Beitrag zur modernen Flanerieliteratur geleistet hat (Riedl 2018), weist in seinem Essay Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen (1932) auf diese Zusammenhänge pointiert hin: „Wenn du spazierst, beabsichtige, irgendwohin zu gelangen. Vielleicht kommst du dann in angenehmer Weise vom Wege ab. Aber der Abweg setzt immer einen Weg voraus.“ (Hessel 1981: 60 f. [erstmals 1932]) Offenheit und Unbestimmtheit des Flanierens, das freie, gelassene und genussvolle Verweilen in Zeit und Raum (↗ Raumzeitlichkeit), erfolgen innerhalb eines Ordnungsrahmens, der Intentionalität und Ziellosigkeit des Gehens nicht in einem paradoxen Wechselspiel zusammenfügt, sondern gerade durch die deutliche Unterscheidung der verschiedenen Ebenen Freiräume der Muße zu generieren vermag. Der Ordnungsrahmen ermöglicht es, dass das flanierende Ich diese Freiräume ohne Orientierungsverlust oder gar Selbstverlust ausfüllen kann. Hier lässt sich auch eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen dem skizzierten Konzept des Flanierens, dem Humboldt’schen Bildungsideal (↗ Wissenschaft) und dem entworfenen analytischen Begriff von Muße konstatieren. Die vielbeschworene Zweckfreiheit gilt in allen Fällen für die Bereitschaft, etwas ohne unmittelbare intentionale oder funktionale Erwartung zuzulassen. Der Flaneur oder die Flaneuse öffnet im Schlendern die eigene Wahrnehmung für Phänomene, auf die er oder sie es im eigentlichen Sinne nicht abgesehen hat und die ihm oder ihr mehr oder weniger zufällig begegnen. Humboldts Bildungsverständnis setzt einen Freiraum für eine humanistisch geprägte Persönlichkeitsentfaltung voraus. Muße wiederum ist ein Zustand, in dem sich etwas einstellen kann, weil sich nichts einstellen muss. Auf übergeordneter Ebene liegt  – in Hessels Essay ebenso wie drei Jahre zuvor in seinem Prosawerk Spazieren in Berlin – der flanierenden Erschließung der Stadt ein durchdachtes topografisches Raster zugrunde. Wilhelm von Humboldt beschränkte wiederum Zweckfreiheit nur auf die Bildungsaneignung selbst. Im Ergebnis erwartete er von den humanistisch gebildeten Menschen, dass sie gute und insbesondere funktionstüchtige

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preußische Staatsbürger werden. Muße wiederum soll in letzter Konsequenz durchaus gezielte Erwartungen erfüllen, sei es theoretische Erkenntnis, sei es die Überwindung einer starren Polarität von vita activa und vita contemplativa, sei es eine von Selbstbestimmung und nicht-entfremdeter Arbeit geprägte, befreite Gesellschaft. In diesem Verhältnis der Ebenen, bei denen eine intendierte unmittelbare Absichtslosigkeit auf eine übergeordnete Intentionalität hin perspektiviert ist, liegt die grundsätzliche strukturelle Analogie zwischen Flanerie, dem Humboldt’schen Bildungsideal und Muße. Dieses Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen kann dasjenige freisetzen, was analytisch mit der paradoxalen Wendung einer produktiven Unproduktivität (↗ [Un-]Produktivität) von Muße auf den Punkt gebracht wird. Das Produktive der Unproduktivität des Flanierens wird oftmals mit der Metaphorik des Lesens zum Ausdruck gebracht. Ludwig Börne hat in seinen Schilderungen aus Paris (1822–1824) die Hauptstadt Frankreichs als ein „aufgeschlagenes Buch“ bezeichnet und weiter ausgeführt: Durch die Straßen von Paris „wandern heißt lesen“ und in einem „lehrreichen und ergötzlichen Werke […] täglich einige Stunden lang“ zu blättern (Börne 1964: 34 [erstmals 1822–1824]). In Spazieren in Berlin spricht Hessel von der „Lektüre der Straße“ (Hessel 2012: 156 [erstmals 1929]), und in seinem Essay Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen bemerkt er, der Spaziergänger „liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut“ (Hessel 1981: 57 [erstmals 1932]). Dieses lesende Gehen bzw. gehende Lesen impliziert einen Verzicht auf eine systematische Lektüre und damit, allgemein gesprochen, auf zielgerichtetes Handeln. Die Offenheit, etwas zuzulassen, was man nicht intentional herbeiführen will, ermöglicht es, dass sich ästhetische Erfahrungen einstellen, auf die man es nicht bewusst abgesehen hat. Der Kunsttheoretiker, Designer und Architekt August Endell charakterisiert in seiner Schrift Die Schönheit der großen Stadt (1908) das Flanieren als Akt eines „sehenden Genießens“, auf dessen „Fundament […] die Kraft umfassenden Gestaltens erwachsen wird“ (Endell 1908: 88). Ebenso wie ein – metaphorisch verstanden – kreatives Lesen aus einem unbestimmten Betrachten hervorgehen kann, verwandelt sich hier ein passives sehendes Genießen in ein aktives künstlerisches Gestalten. Muße und Flanerie teilen daher die Eigenschaft einer tätigen Untätigkeit, einer produktiven Unproduktivität (Riedl 2021b). Die produktiven Potentiale der Flanerie können dabei ganz verschieden ausgestaltet sein. So vereinigen sich etwa in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 politische Räsonnements, vergleichende Betrachtungen nationaler Lebensformen oder auch theatralisch in Szene gesetzte Beobachtungen im gemeinsamen Erzählmuster (↗ Erzählen) der Flanerie (Waßmer 2022). Flanerie ist darüber hinaus ein einschlägiges Beispiel für das transgressive Potential urbaner Muße. Das transgressive Verhältnis von Zerstreuung und Konzentration bei Spaziergängen im urbanen Raum reflektiert z. B. der Philosoph Christian Garve im zweiten Band seines Werks Ueber Gesellschaft und



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Einsamkeit (1800). Als Beispiel wählt er den Markusplatz in Venedig, der sich in der Darstellung Garves zu einem Marktplatz der Ideen verwandelt. Diese Ideen können gerade unter den Bedingungen von Trubel und Zerstreuung, beim ziellosen körperlichen und geistigen Spazierengehen, besonders gut gedeihen: Doch gewöhnt sich der Mensch nach und nach, auch unter Zerstreuungen zusammenhängend zu denken, und dieß ist selbst eine Uebung des Geistes. Ja es ist unläugbar, daß unter freyem Himmel, auf Spaziergängen, und selbst an Oertern, wo viele Zerstreuungen sind, uns unsere besten und originellsten Ideen einkommen.“ (Garve 1985: 92 [erstmals 1800])

Dieser Übergang von Zerstreuung zur Konzentration akzentuiert den transgressiven Charakter von Muße, die, in entsprechenden literarischen Umschriften, die Wahrnehmungsformen des Flanierens disponiert. Das subjektive Erlebnis heterogener Sinneseindrücke kann in der rückblickenden Betrachtung zu einer reflektierten und damit auch beschreibbaren ↗ Erfahrung von Muße werden. So betont etwa auch Goethe in seiner Italienischen Reise (1816/1817), dass er gerade inmitten einer Menschenmenge in Neapel, der nach London und Paris drittgrößten Stadt im Europa des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Ruhe gefunden habe (Riedl 2021a: 146). Genauso beschreiben Reisende, Korrespondentinnen und Korrespondenten aus London und Paris in ihren Berichten um 1800 immer wieder entsprechende transgressive Momente, die eng mit einer alteritären Großstadterfahrung korrelieren (Waßmer 2022). Sie besuchen Prachtstraßen, Versammlungsorte und belebte Plätze, die Erfahrungen von Muße vermeintlich erschweren, inszenieren aber gerade als externe Beobachterinnen und Beobachter eine genießerische Wahrnehmung urbaner Lebensformen. Garve analogisiert darüber hinaus den Markusplatz in Venedig mit einem Innenraum, und dies über hundert Jahre vor Walter Benjamin. Dieser hat im Abschnitt Der Flaneur seiner Studie Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, dem ersten Teil des Komplexes Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (1937–1939), die Transponierung von außen nach innen wirkmächtig als Erfahrung des Flaneurs postuliert: Die Passagen sind ein Mittelding zwischen Straße und Interieur. Will man von einem Kunstgriff der Physiologien reden, so ist es der bewährte des Feuilletons: nämlich den Boulevard zum Interieur zu machen. Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist. (Benjamin 1974: 539)

In der Forschungsliteratur zur Flanerie wird die bildliche Übertragung von außen nach innen in aller Regel erstmals dieser Äußerung Benjamins zugeschrieben. Allerdings hat bereits Garve im Jahr 1800 ausgeführt, der Markusplatz in Venedig vertrete „die Stelle eines großen und prächtigen Kaffeehauses“ (Garve 1985: 89 [erstmals 1800]). Abgesehen von diesen Übertragungsakten, die das Flanieren als ein vielschichtiges Zusammenspiel von Erleben und Reflexion

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ausweisen, ist das öffentliche Kaffeehaus ein in der Flanerieliteratur besonders einschlägiger und auch zentraler Ort, der den Typus eines flâneur immobile beherbergt (Arend 2021). Das reflektierende Beobachten im Kaffeehaus kann zudem das (passive) geistige Flanieren zum (aktiven) literarischen Tätigsein transformieren (J. Müller 2021). Das zentrale Kriterium einer produktiven Unproduktivität, einer tätigen Untätigkeit verbindet Muße und Flanerie aufs Engste. In der Forschung wird sehr häufig auch eine Verwandtschaft von Flanieren und Müßiggang erwogen, sei es zustimmend (Fuest 2008: 101; Krause 2017), sei es ablehnend (Müller 2013: 214). Neben dem Umstand, dass die Analyse konkreter literarischer Ausprägungen im Einzelfall eine differenzierte Begriffsbildung hervorbringt, hängen entsprechende terminologische Entscheidungen auch von dem definitorischen Grundverständnis von Muße und Müßiggang ab. Das hier zugrundeliegende analytische Konzept von Muße entspricht jedenfalls mehr oder weniger vollständig den gängigen systematischen Bestimmungen von Flanerie. Allerdings wird in der Forschung das Flanieren historisch und auch kulturgeographisch stark verengt und nahezu ausschließlich als moderne Bewegungs- und v. a. Wahrnehmungsform seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts klassifiziert. Entsprechend wurde der Flaneur auf einen spezifischen Pariser Künstlertypus des 19. Jahrhunderts (artiste-flâneur) festgelegt. Sein paradigmatischer Ort sind die Passagen in Paris, sein geradezu idealtypischer Protagonist ist Charles Baudelaire. Diesem Typus hat Walter Benjamin eine überaus wirkmächtige kulturelle Physiognomie verliehen, die auch die Forschung bis in die Gegenwart entscheidend prägt. Während in der Literaturwissenschaft Flanerie in erster Linie als eine ästhetische Wahrnehmungsform im urbanen Raum und ihre jeweilige literarische Übertragung verstanden wird, modellierte Benjamin einen soziokulturellen Typus des Flaneurs, genauer gesagt: Er entwarf Sozialtypen des Flaneurs  – und dies mit weitreichenden wirkungsgeschichtlichen Folgen. Der Typus des Flaneurs ist bei Benjamin ausgesprochen vielgestaltig und uneinheitlich. Seine jeweilige Ausprägung hängt vom Kontext der einzelnen Schriften ab, in denen entsprechende Profilentwürfe vorgenommen werden. Grundsätzlich erklärt Benjamin die Flanerie aus den Bedingungen des Warenmarktes und setzt dementsprechend den Flaneur in Analogie zur Ware (Benjamin 1974: 557 f.). Darüber hinaus variieren Benjamins eher assoziative und bruchstückhafte Vorstellungen zum Flaneur in seinen Texten erheblich. Eine Grundüberzeugung hat Benjamin indes, wenigstens weitgehend, bei allen Unterschieden in der Zuschreibung einzelner Attribute beibehalten: Die Stadt des Flaneurs ist Paris, und hier sind es wiederum die Passagen, die seinen eigentlichen Aktionsraum bilden. Daraus folgt, dass in der Logik dieser Argumentation mit den Passagen auch der Flaneur verschwunden ist. Gleichwohl ließ derselbe Walter Benjamin den Flaneur auf den Straßen und in den Warenhäusern Berlins der Roaring Twenties seine Wiedergeburt feiern. Die Wiederkehr



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des Flaneurs ist ein kurzer Text überschrieben, der am 4. Oktober 1929 in der Zeitschrift Die literarische Welt erscheint (Benjamin 1972: 194–199). Es handelt sich um eine Rezension von Franz Hessels Spazieren in Berlin. Hessels Stadtbild nötigt Benjamin dazu, seine eigene frühere Position zur Flanerie zu revidieren, wie er unumwunden eingesteht: Was die Stadt Berlin in Hessels Schilderungen „eröffnet, ist das unabsehbare Schauspiel der Flanerie, das wir endgültig abgesetzt glaubten“ (Benjamin 1972: 194). Damit geht freilich auch die Veränderung des Typus einher. Nicht in Paris, dafür in Berlin „versteht man, wie der Flaneur vom philosophischen Spaziergänger sich entfernen und die Züge des unstet in der sozialen Wildnis schweifenden Werwolfs bekommen konnte“ (Benjamin 1972: 198). Philosophischer Spaziergänger und Werwolf  – das Flirrende der typologischen Zuschreibungen, die Benjamin vornimmt, verdeutlicht die Unschärfe seiner Begriffsbildung. Während der philosophische Spaziergänger eher an Jean-Jacques Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire (1776–1778), ein für die Kultur- und Literaturgeschichte der Muße besonders einschlägiges Werk, denken lässt, jedenfalls deutlich stärker als an Charles Baudelaire, schimmert bei der Metapher des schweifenden Werwolfs Benjamins Lektüre von Edgar Allan Poes The Man of the Crowd (1840) durch. Diese Gleichzeitigkeit von Vagheit und Verengung bei der Begriffsbildung (Müller 2013: 215) hat gleichwohl nichts daran geändert, dass Benjamins Typologien in der Forschung und erst recht in populäreren Darstellungen nach wie vor als normatives Muster aufgerufen und nicht konsequent historisiert werden. Eine signifikante Ausnahme aus der bisherigen historischen Einhegung des Flanierens bildet ein Aufsatz von Isabel Vila Cabanes, die zwei Dokumente der Flaneur-Tradition aus dem frühen 19. Jahrhundert ediert und kommentiert hat (Vila Cabanes 2013). Auf breiter Quellengrundlage weist René Waßmer umfassend nach, dass Flanerie bereits für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert eine sachlich angemessene und daher relevante Kategorie literaturwissenschaftlicher Textanalyse darstellt (Waßmer 2022). Für Werke Goethes verdeutlicht diesen Sachverhalt Peter Philipp Riedl (Riedl 2021a). E. T. A. Hoffmann modelliert im frühen 19. Jahrhundert den romantischen Berliner Flaneur, der als eine Künstlerfigur Freiräume der Muße kreativ, mittels Introspektion, Imagination und Traum, zu füllen vermag (Schmidt 2021). Als wichtigste Form urbaner Muße gewinnt die Flanerie bereits um 1800 ein überaus markantes Profil. Die Ergebnisse der bisherigen Überlegungen eröffnen vor allem zwei Perspektiven, unter denen weiterführende Forschungen denkbar und wünschenswert wären. Zum einen bleibt eine umfassendere Historisierung von Formen des literarischen Flanierens ein Desiderat. Dies gilt insbesondere für die deutsche Großstadtliteratur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts (Waßmer 2022: 83–89), die bislang in der Literaturwissenschaft oftmals mit dem Pauschalurteil versehen wurde, Flanerie habe es zu dieser Zeit noch nicht gegeben. Dementsprechend fehlen Studien, in denen das literarische Flanieren als relevante Kategorie für

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Peter Philipp Riedl/René Waßmer

die Analyse einschlägiger Texte fruchtbar gemacht würde. Überhaupt wurde die Großstadtliteratur bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nur sehr selten mit Blick auf ihre literarische Ästhetisierung und Inszenierung untersucht. Zum anderen liefern die bisher gewonnenen Erkenntnisse wichtige Bausteine für eine noch zu schreibende ‚Poetik des Flanierens‘. Die Frage, auf welch unterschiedliche Weisen Flanieren literarisch dargestellt wird und wie sich diese ästhetischen Ausdrucksformen in einer systematischen Ordnung erfassen lassen, kann nur diachron beantwortet werden, d. h. konkret: Die systematische Erschließung muss einschlägige literarische Texte vom 17./18. Jahrhundert bis zur Gegenwart berücksichtigen. Mit dem hier entwickelten analytischen Konzept des Flanierens sowie der Muße können bisher kaum beachtete Quellen auf entsprechende Wahrnehmungsformen und ihre literarische Übersetzung hin untersucht werden. Darüber hinaus könnte das Verständnis von Flanerie als Form urbaner Muße ein Schlüssel sein, auch solche Texte, die von der Forschung bereits eingehend behandelt wurden, neu zu perspektivieren.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Riedl, Peter Philipp (2018), „Die Muße des Flaneurs. Raum und Zeit in Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929)“, in: Tobias Keiling/Robert Krause/Heidi Liedke (Hg.), Muße und Moderne (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 10), Tübingen, 99–119. Riedl, Peter Philipp (2021a), Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 17), Tübingen. Waßmer, René (2022), Muße in der Metropole. Flanerie in der deutschen Publizistik und Reiseliteratur um 1800 (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 25), Tübingen.

Freiheit Jochen Gimmel Beim Nachdenken darüber, was Freiheit eigentlich ist, stellt sich die gleiche Schwierigkeit ein, die sich für die augustinische Untersuchung der Zeit ergab: Eingebunden in einen konkreten Kontext weiß jede:r, was mit Freiheit gemeint wird, will man aber ihren Allgemeinbegriff fassen, verschwimmt ihre Bedeutung in einem dichten Nebel heilloser Abstraktionen. Die für den Sonderforschungsbereich leitende Bestimmung der Muße als „Freiheit von den Zwängen der Zeit“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3) fordert also Klärung in doppeltem Sinn: Wie sollte Freiheit von der Zeit und wie Zeit von Freiheit her verstanden werden (↗ Zeit)? Im Unterschied zu der sich bereits in der Antike als Rätsel aufdrängenden Zeit wird Freiheit begrifflich gewissermaßen erst als Schibboleth der Moderne ‚modern‘. Das aber kaum als ein präziser Begriff, denn sie wird als Losung für ganz unterschiedliche, ja widersprüchliche Sachverhalte gebraucht. In Bezug auf Muße werde ich im Weiteren drei solcher disparaten Themenblöcke ansprechen, in denen Freiheit jeweils in einem unterschiedlichen Verhältnis zur Muße thematisch wird: politische Freiheit, ästhetische oder Urteilsfreiheit und Freiheit als Gelassenheit. Mit der Aufwertung und gewissermaßen auch konzeptionellen Aufblähung des Freiheitsbegriffs in der Neuzeit geht auf den ersten Blick ein Bedeutungsverlust des Konzepts der Muße einher. Die ontologischen Kategorien der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit verwandeln sich durch die subjektlogische Wende zusehends in Fragen nach der Determiniertheit, Macht und Freiheit des weltkonstituierenden Subjekts. Das geht mit einer regelrechten ‚Metaphysik des Willens‘ einher, die die Weltwirklichkeit zum aufklärerischen Projekt menschlicher Freiheit erklärt. Freiheit meint nun nicht nur eine freie Wahl (liberum arbitrium), Freiheit von äußerem Zwang (negative Freiheit) oder Willenswillkür, sondern vielmehr eine Souveränität gegenüber dem eigenen Wollen (vgl. Interessenlosigkeit) in der Autonomie praktischer Vernunft, der freien Willensbestimmung. Das impliziert einerseits ein geschlossenes Selbstverhältnis, das mit Kierkegaard als „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard 2012: 31), verstanden werden kann (und dort auch seine Aporien offenbart). Andererseits soll sich Freiheit in der freien Tat wirklichkeitsstiftend und geschichtsmächtig entäußern. Und so stehen moderne Freiheitsbegriffe meist unter den Vorzeichen einer reflexiven Produktivität, die Selbstbestimmung

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und Tatkraft in Konzepten der Selbstverwirklichung synthetisieren (↗ [Un-]Produktivität). Der aufklärerische Freiheitsbegriff hat Wirklichkeitsproduktion als menschliche Selbstverwirklichung zum geschichtlichen Fortschrittsprogramm erhoben und trägt so maßgeblich zur Beschleunigung, zum Produktivitätsparadigma und der programmatischen Naturbeherrschung bei, die heute Muße zu ersticken drohen (Gimmel 2021a). Während Muße in ihrer vormodernen Bedeutung als ein theoretisch-kosmisches Konstituens gelingenden Lebens galt, tritt an dessen Stelle in der Moderne zusehends die Willensfreiheit als Ermöglichungsbedingung der vita activa. Im neuzeitlichen Subjektdenken erscheint Muße darum nur mehr als ein Erfahrungsmoment unter anderen; sie wird fortan weniger als Daseinsmöglichkeit denn als eine Erfahrungsqualität begriffen, also gewissermaßen psychologisiert und depotenziert (zu einem positiven und die Mußeforschung fundierenden Erfahrungsbegriff siehe ↗ Erfahrung). Zwar liegt in der Selbstbezüglichkeit des Freiheitsbegriffs eine Strukturparallele zum Selbstzweckcharakter der Muße, in der Fokussierung auf den Willen aber auch ein entscheidender Unterschied: Da der Wille ein „stetiges Genießen […] nicht zuwege bringen kann, […] weil der Geist ‚sich nicht genug ist‘ und ‚wegen seines Mangels sich ungebührlich auf seine eigene Tätigkeit konzentriert.‘ […] Aus diesem Grund ist der Wille nie befriedigt“ (Arendt 2008: 336). Man könnte sagen: Der freie Wille findet nie zur Muße, weil er sich nie zufriedengibt. Muße lässt sich zwar als Freiheit begreifen – und in Muße wird Freiheit vielleicht in ausgezeichneter Weise erfahren –, aber eine „Freiheit als Hochbetrieb“ (Adorno 2003c: 178) steht dem in Muße verkörperten Ideal eines erfüllten und zufriedenen Lebens schroff gegenüber. So kann das Konzept der Muße wiederum zum Statthalter einer Freiheit jenseits der Freiheitszwänge der Moderne werden und sich beispielsweise in Utopien zukünftiger Mußegesellschaften, in Konzepten der (ästhetischen) Subversion oder im Wiedererstarken der Gelassenheit als Korrektiv modernen Lebens äußern.

Politische Freiheit Negative Freiheit lässt sich zuerst in einem konkreten politischen Sinn verstehen, nämlich als materielle Unabhängigkeit, Weisungsungebundenheit oder als eine Freiheit von Zwang. Durch sie werden als positive politische Freiheit selbstbestimmtes Handeln und die Lebensformen freier Bürgerlichkeit ermöglicht. Als Signum freier Männer galt in der griechischen Antike dem Ideal nach die Muße (scholé) (Fechner/Scholz 2002), die auch grundsätzlich als ein Schwellenphänomen von negativer zu positiver Freiheit verstanden werden kann (Gimmel/Keiling 2016). Das Mußeideal einer aristokratischen Lebensweise offenbart bei Platon und Aristoteles (Muße wird dort bezeichnenderweise insbesondere in den Schriften zur Ethik und Politik einschlägig) auch einen



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gesellschaftskritischen Kern, insofern die innere Unabhängigkeit (Autarkie), die mit der Muße einhergehen soll, auf eine Befreiung von Vergnügungssucht, Gier und falschem Ehrgeiz zielt. Als Heilmittel gegen diese Heteronomien wird das Glück einer philosophischen Muße den Zeitgenossen anempfohlen, als Erziehungsideal skizziert und schließlich zum Kernelement einer guten Staatsform erklärt. Der bios theoretikos, die kontemplative Lebensweise, ist also nicht apolitisch, sondern seinem normativen Gehalt nach eigentlich protopolitisch, eine normative und strukturelle Ermöglichungsbedingung von gelingenden Gemeinwesen. In der Antike wird Muße weniger als eine subjektive Erfahrung denn als das lebenspraktische ‚Wie‘ konkreter Freiheiten (des Lebens der Aristokraten, der Dichter und Philosophen, der Götter oder des Festes) begriffen. Muße ist so verstanden Manifestation der spezifischen Freiheit einer Lebensform und darum, selbst wenn sie in Einsamkeit mündet, doch immer auch politisch (Varga 2017). An den aristokratischen Lebensmodus der Freiheit knüpft Aristoteles die Forderung, Muße mußegerecht zu gebrauchen (in Philosophie, Kunst und für die Polis) und nicht zu vertun (in bloßem Vergnügen, Trinkgelagen, für chrematistischen Gelderwerb etc.). Sie realisiere sich idealerweise in einer „Haltung feiernder Betrachtung“ (Pieper 2007: 89), die ein unabhängiges politisches Urteilsvermögen und philosophisch-religiöse Einsicht auszubilden erlaube. Muße wird hier als gesellschaftliches Distinktionsmerkmal (Fludernik 2017) mit einem korrektiven Anspruch an das Privileg enggeführt: Die gewährten Freiheiten sollen mit einer Haltung Hand in Hand gehen, die (wissenschaftliche) Einsicht und politische Verantwortungsfähigkeit gewährleisten kann. Auch wenn diese Konstellation von politischer Freiheit und Muße ungemein wirkmächtig wurde, lässt sie sich nicht für die ganze Antike verallgemeinern. Gerade in der jüdisch-christlichen Traditionslinie hat das Mußemotiv seine eigenständige Verwurzelung im Sabbat-Komplex, der hinsichtlich der politischen Implikationen in die gegenläufige Richtung tendiert, also nicht die Aristokratie normativ in Verantwortung zieht, sondern auf eine allgemeine Entschuldung und Enthierarchisierung der betreffenden Gemeinschaften abzielt. Interessanterweise ist hier nicht der Begriff der Freiheit als Unabhängigkeit leitend, sondern der des Friedens als einer Versöhnung (Gimmel 2017c; zum Verhältnis von Freiheit und Friede Gimmel 2017d). Die Verbindung von Muße und Freiheit bleibt dennoch in den folgenden Jahrhunderten ein Kennzeichen von privilegierten Eliten und prägt sich einerseits in einer Kultur höfischer Muße aus (Becker 2019; Hasebrink 2014) und andererseits in der monastischen vita contemplativa (Eder/Manuwald/Schmidt 2021a; Jürgasch 2021). Im Zuge der verfassungsrechtlichen Verbriefung von Bürgerrechten und der Reformation wird Freiheit dagegen zu einem den (männlichen, angestammten, wohlhabenden, erwachsenen und zurechnungsfähigen) Bürgern qua ihres Menschseins naturwüchsig zukommenden Recht, dessen sie

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sich durch Fleiß und Tatkraft würdig zu erweisen haben. So etwa bei John Stuart Mill: „Über seinen eigenen Körper und Geist ist der einzelne souverän“ (Mill 1869: 9) und (nur) durch die „Freiheit des anderen“ begrenzt. Mill, der Karriere bei der Ostindischen Handelsgesellschaft gemacht hatte, zählte zu „den anderen“ jedoch beispielsweise nicht die „Barbaren“, denn diese bedürften vielmehr des Despotismus, da in ihnen die „Gattung […] noch nicht mündig geworden“ (Mill 1869: 10) sei. In diesem Geist wenden sich die europäischen Nationen den ‚kindlichen‘ Völkern der Erde mit paternalistischer Rechtschaffenheit mordend und versklavend zu, um sie im Namen der Freiheit dem Fortschritt zuzuführen – sie zu ‚befreien‘ (↗ [Post-]Kolonialismus). Freiheit wird zum weltgeschichtlichen Programm des Fortschritts, das mit erzieherischer, kriegerischer, aber v. a. auch unternehmerischer Gewalt den Rückständigen aufoktroyiert wird. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und dem Entstehen des Proletariats, das sich durch die neu gewonnene bürgerliche Freiheit gezwungen sah, „seine eigne Haut zu Markt [zu] tragen und dabei nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei“ (Marx 2017: 191), wird Freiheit konzeptionell eng an Produktion (im konkret ökonomischen wie auch übertragenen Sinn) gebunden (Gimmel 2020b) und damit der Bezug zur Muße zunehmend gelöst: Als frei gelten nicht mehr diejenigen, die in Muße der Arbeit enthoben sind, sondern diejenigen, die sich in ihren Geschäften, dem negotium, tatkräftig verwirklichen (↗ Arbeit). Auch die Vorstellung einer politischen Freiheit als kollektive Willensbildung, die in einem volonté générale Freiheit aus den individuellen Antagonismen  – mittels der blutigen Mäeutik der Guillotine – gelöst hätte, weist zuerst nicht in Richtung allgemeiner Muße, sondern spricht vielmehr die Worte des „Katechismus der Industriellen“ (Saint Simon 1977). Muße spielt bei diesem Aufstieg des Freiheitsbegriffes, der am Geschäftsleben und den Kriegen um Freiheit Maß nimmt (zur Aporie von Freiheit und Zwang siehe Rüdiger 2018), konzeptionell kaum eine Rolle (Reinhard 2007). Im sozialistischen Gegenkonzept eines ‚Reichs der Freiheit‘ erfährt Muße dennoch ihre leise Reminiszenz (Soeffner 2014). Dieses Reich der Freiheit tritt gewissermaßen die Nachfolge des aristotelischen Mußebegriffs (Priddat 2019) unter Auflösung des Ständeprivilegs an: Es ist nach Marx durch einen solchen quantitativen Gewinn an freier Zeit gekennzeichnet, dass die bloße Frei- oder Erholungszeit qualitativ in eine Zeit der Selbstentfaltung und des Genusses freien Tätigseins umschlage (Gimmel 2021a). So wird eine nicht länger exklusive Mußegesellschaft, die das bürgerliche Recht in einer verwirklichten Freiheit überwunden hätte und sich gemäß dem Motto „[j]eder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx 1987, 21) als eine „allgemeine Muße“ (Gimmel 2021a) konkretisiert, zum geschichtlichen Ziel erklärt. Die Muße rückt hier wiederum an die Seite der Freiheit, von der sie im liberalen Freiheitsbegriff gelöst wurde. Unter den Bedingungen der Lohnarbeit und des Klassenantagonismus wird Muße aber zusehends auf ↗ Freizeit reduziert und kaum mehr unterschieden



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von Müßiggang oder Zerstreuung. Es ist gleichermaßen bezeichnend, dass der Begriff der Muße seinen eigentlichen Bedeutungsgehalt verliert und nichtssagend wird, wo er nur als Freizeit begriffen wird, wie auch, dass in modernen Leistungsgesellschaften Freiheit gerade nicht der Freizeit, sondern den unterschiedlichsten Formen der Betriebsamkeit zugeordnet wird: Freiheit entfalte sich dort, wo gearbeitet, gekämpft und geleistet wird, eher nicht, wo man sich liebt, isst und ruht. Vielen erschien und erscheint Muße auch darum als verstaubtes Konzept müßiggehender Eliten. Das heikle Verhältnis von Muße, Freiheit und Modernität (Keiling/Krause/Liedke 2018) wird unter anderem daran offenkundig, wann, wo und wer Mußepraktiken in habitualisierter Form zum Distinktionsgewinn einsetzt. So zitierte beispielsweise noch bis in jüngere Zeit eine in Talaren gehüllte Elite die Gelehrten-Muße eingemotteter Jahrhunderte (Lenger 2017). Auch im Sinne einer „erzwungenen Muße“, die das Patriarchat der aufkommenden Emanzipationsbewegung der Frauen entgegensetzte, zeigt sich die politische Relevanz der Muße – nämlich als Instrument der Unterdrückung (Cheauré 2017d). Jenseits solcher Habitualisierungen ist auch heute in der Kritik des bürgerlichen Liberalismus und des Fortschrittsoptimismus eine Wiederbelebung des Konzeptes der Muße am Werk. Hierin berühren sich aufklärungsskeptische (Nietzsche, Heidegger usw.) und progressive Kultur-, Kapitalismus- und Zeitkritiken (Pippin 2005: 191–213), die aktuell in den Diskussionen um Globalisierungskritik, Postwachstumsgesellschaften und eine ökologische Wende wieder und neu belebt werden. Ein positiver Bezug auf Muße ist vielen dieser sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Gesellschaftsund Zeitkritik im Sinne eines Korrektivs destruktiver Freiheitsideologie gemein.

Ästhetische bzw. Urteilsfreiheit Bisher war das Augenmerk vornehmlich auf eine Freiheit zur Tat gerichtet, also eine, die den Willen bestimmt und sich in der Praxis verwirklichen sollte. Sie avancierte unter dem Titel „Primat der Praxis“ zu einem Leitbegriff der Philosophie und des politischen Selbstverständnisses der Moderne. Parallel dazu und mit diesem Begriff verbunden wurde aber auch ein von der Bewegung her diametral entgegengesetzter Freiheitsbegriff tradiert. Es handelt sich dabei um eine Freiheit, die nicht in die verstrickte Welt von Dingen und Menschen eintritt und sich dort als Freiheitsakt behauptet, sondern die gerade aus der empirischen Welt einen Schritt zurücktritt, um die Freiheit einer Zuschauerposition (Arendt 2008: 97–103) zu gewinnen und aus der Distanz das Spektakel der Welt frei zu beurteilen: Freiheitsgewinn mittels Distanzierung (↗ Rückzug). Selbstverständlich schließt diese Freiheit per Distanz eine Freiheit zur Tat keineswegs aus, denn genau besehen setzt praktische Freiheit ja die Freiheit des distanzierten Urteils voraus. Aber beide bezeichnen zwei sehr unterschiedliche

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Aspekte, die sich in einer ständig reproduzierenden Spannung zueinander (Distanz und Zugang, Passivität und Aktivität, Rezeptivität und Souveränität) auftun. Das Distanzmoment der Freiheit hat viel mit Muße gemein, denn auch diese kommt ja nur in der Absonderung von den Geschäften und Pflichten auf, erst als Ausnahme vom Alltag. Und beide, die Urteilsfreiheit und die Muße, teilen denselben Bezug zur Erkenntnis. Das theorein, das Schauen der Wahrheit, hatte die Muße zu ihrer Voraussetzung erhoben, gerade weil sie den Distanzfreiraum meinte, in dem der Blick vom Projekt-Horizont in den Sternenhimmel ewiger Wahrheiten gehoben werden konnte (Blumenberg 2007). Kant, der im Bereich der Moral (und Politik) ein Pflichtprogramm der Freiheit entwarf, findet just im Urteilsvermögen zu einem anderen, nämlich spielerischen Freiheitsbegriff, zum ‚freien Spiel der Einbildung‘. Solches Spiel liegt der Muße naturgemäß näher als Pflichterfüllung und so lässt sich mit der im weitesten Sinne ‚ästhetischen Freiheit‘ ein weiterer Motivstrang bezeichnen, in dem das Konzept der Muße fortlebte und als Gegenprogramm zum Produktions-Pflicht-Komplex auch repolitisiert wurde. Dafür steht prominent Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen, die einen Mußetopos freiheitstheoretisch inszeniert (Matuschek 2017) und noch bei Herbert Marcuse zur Kennzeichnung einer befreiten – zur allgemeinen Muße gefundenen – Menschheit herangezogen wird. Die Freiheit, die zuerst einen Schritt zurücktritt, um die Dinge beurteilen zu können und dann die Phantasie frei spielen zu lassen, schlägt also wieder in die Praxis um, wenn aus ihr Neues entsteht (↗ Kreativität) und sie Neues begründet. In diesem Sinne ist Muße nicht bloß ein Programmpunkt utopischer Modelle, sondern Voraussetzung utopischen Denkens, da sie so weit von der Wirklichkeit dispensiert, dass sie auszumalen erlaubt, was in dieser bislang keinen Raum gefunden hat. Die Idee einer ästhetischen Wahrnehmung referiert auf ein Freiheitsverständnis, das man phänomenologisch nennen kann und Muße motivisch aufruft. Allein so werden die Wahrnehmung und das Denken frei; sie können sich einlassen auf das, was da ist. Damit hört das Tun nicht auf, sondern es bekommt einen anderen Sinn. Nun gehört es ins Dasein. Man kann diese andere Einstellung ‚Muße‘ nennen und damit genauer sagen, was Muße ist. (Figal 2014a: 30)

Wahrnehmung und Denken scheinen eine bemerkenswert luzide Weltoffenheit und ein feines Sensorium entfalten zu können, sobald sie aus den Bedingtheiten des Geschäftsalltags heraustreten und innehalten (epoché, Jacobs 2017). Das Innehalten – ein Zentralmoment der Muße – ist auch eine zentrale zeittheoretische Instanz von Freiheit, wo diese als Unterbrechung des Reiz-Reaktions-Mechanismus begriffen wird (Cassirer 2007: 52–71). Freiheit in diesem Sinne wird also durch innehaltende Unterbrechung und distanznehmende Unbetroffenheit möglich. Kant spricht im Distanzsinne von einer Interessenlosigkeit, einer Unbetroffenheit von den bedingenden Dingen im absichtslosen Bezug zu ihnen. Das Paradox der Urteilsfreiheit liegt in dieser Ermöglichung freier Zuwendung



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und Einlassung durch Distanzierung und Unterbrechung. Im Schutzraum der Interessenlosigkeit und Unbetroffenheit könnten sich demnach Einsicht, Schönheit und Erhabenheit erst einstellen. Aber mehr noch: Dieser geschützte Freiraum eines Weltzugangs in Distanz eröffnet erst einen Gemeinsinn (sensus communis), der auf eine realpolitische Verwirklichung aufgeklärter Menschheit hoffen lässt, da er im konkreten Erleben den Bann antagonistischer Interessen aufzuheben vermag. Er manifestiert sich in den drei Maximen des kritischen Denkens: 1. Selbstdenken, 2. an der Stelle jedes anderen denken und 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken (Gimmel 2017a). Mit diesem Kritikvermögen ist auch ein Krisenpotential verbunden (Gimmel/ Keiling 2016: 74–83; siehe auch Oevermann 1996), denn nur in einer Freiheit per Distanz ist man vor und in Entscheidungen gestellt, ohne durch unmittelbare Betroffenheit zur Entschiedenheit gedrängt zu sein; erst aus einer Form der Krise heraus, die alles in Frage zu stellen erlaubt, ohne dass sie konkret etwas gefährden würde, ergibt sich der Freiraum zu grundsätzlichem Zweifel und der Infragestellung des Selbstverständlichen, also die eigentliche Ausgangslage wissenschaftlichen Fragens (↗ Wissenschaft). Diese paradoxe Positionierung des freien Urteils ließe sich geradeweg als Muße ansprechen und somit Kritik, Krise und ästhetische Erfahrung von ihr her kennzeichnen. Doch nicht nur die ästhetische Rezeption (Museen, Naturidyll etc.; ↗ Aisthesis; ↗ Natur), sondern ebenso das literarische, künstlerische und wissenschaftliche Schaffen bleibt, wenigstens in dessen idealisiertem Selbstverständnis, auf eine Freiheit in Muße angewiesen (Riedl 2021a). Das befreiende Distanzmoment wird hier buchstäblich topologisiert (↗ Raumzeitlichkeit) in den Rückzugsräumen der Kreativen (Sennefelder 2018), den Studierstuben, Ateliers oder den hohen Bergen und fernen Inseln, wo die Schaffenskraft Atem schöpft und sich der Blick klärt (Klinkert 2016b; ↗ Rückzug). Zum Topos geworden sind auch die erzwungenen Mußesituationen der Verbannung, der Selbstabsonderung in biographischen Krisen oder der Flucht, die in so manchem Fall erst den schöpferischen Genius freisetzten, der sich im Abseits ans Werk für die Welt machte.

Freiheit als Gelassenheit Lebt die Urteilsfreiheit aus einer Distanz zur Welt, die den Menschen einen kritischen und ästhetischen Weltzugang eröffnet, so ruft auch das Konzept der Gelassenheit eine analoge, wenn auch in seiner Radikalität ums Ganze gewendete, paradoxe Freiheitskonstellation auf: In der Gelassenheit gewinne man, nach einem Wort Meister Eckharts, eine „Abgeschiedenheit“ (Hasebrink 2017a), in der man von sich, seinem eigenen Selbst, ablässt, um im Lassen eine Freiheit zu erwirken, die von rein gar nichts  – nicht einmal sich selbst  – abhängig wäre. Diese abgeschiedene Freiheit findet nicht bloß zu einem anderen

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Weltzugang, sondern im Ichverlust einen transzendenten Identitätsgewinn mit dem Seinsgrund der Realität. Das sprengt die Kategorien politischer Freiheit, der Willensfreiheit, aber auch der Urteilsfreiheit, da Gelassenheit in diesem emphatischen Sinn die Subjekt-Objekt-Trennung, die den Hintergrund zu Fragen der Freiheit abgibt, unterläuft – oder besser gesagt: transzendiert. Denn auch die Selbstzweckstruktur ist hier nicht als das Glück einer erfüllten Ichidentität aufgerufen oder gar als ein Souveränitätsgewinn im Selbstbezug, sondern als eine transzendierende Selbst- und Zweckaufgabe. „[D]enn wer seinen Willen und sich selbst lässt, der hat alle Dinge so wirklich gelassen, als wenn sie sein freies Eigentum gewesen wären.“ (Meister Eckehart 1963: 56) So gewinne der Mensch mehr als alle Dinge, er berühre durch das Lassen von der „Ichgebundenheit“ die Freiheit Gottes, die ihn von sich selbst ablassend „so in Freiheit [setzt], daß er nichts anderes will, als was Gott selber ist und was die Freiheit selbst ist“ (Meister Eckehart 1963: 291). Es hat Meister Eckhardt zu manchen Zeiten den Ruf eines Häretikers eingebracht, dass man den Eindruck bekommen könnte, als schreibe er dem Menschen zu, Gott – durch einen Gehorsam der Gelassenheit – dazu zwingen zu können, ihn an seiner Freiheit teilhaben zu lassen: „Wo der Mensch in Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt, ebenda muß Gott notgedrungen hinwiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muß Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst.“ (Meister Eckehart 1963: 53) Dieses fürwahr radikale, mystische Verständnis (Gabriel 2021; Hasebrink 2015) von Freiheit als Gelassenheit und Abgeschiedenheit rekurriert auf Mußemotive (Keiling 2019), die ihre Vorläufer in der theologischen Rezeption der griechischen Philosophie finden (Kirchner 2018a) und in den Leitbegriffen der ataraxia (Unerschütterlichkeit) und apatheia (Leidenschaftslosigkeit) der stoischen und epikureischen Philosophie (Erler 2016; Eickhoff 2016) angelegt waren. Als Willensverneinung (Gimmel 2015) wurde der Freiheitsbegriff auch in der Moderne, insbesondere bei Schopenhauer, zum Kontrapunkt des vorherrschenden Begriffs praktischer Freiheit als einer Paralyse des Willens zur Überwindung des Selbst, ja des principiums individuationis. Es verwundert nicht, dass in Absicht einer Kritik des Subjekt-Objekt-Denkens beispielsweise Heidegger auf den Begriff der Gelassenheit rekurrierte, um dem „rechnenden Denken“ und der damit einhergehenden Zwangsfreiheit zum unablässigen Ausagieren technischen Fortschritts ein „besinnliches Nachdenken“ – ein Denken im Modus der Muße – als einer Freiheit im Sinne der „Offenheit“ gegenüberzustellen (Heidegger 1999; siehe auch Guzzoni 2020). Im Verhältnis zur Muße wird die Opposition der Freiheitsbegriffe deutlich, die einerseits – als Selbstgesetzgebung – das Selbst der Menschen zum Zweck machen und darin einer Projekt- und Produktionslogik der Selbstverwirklichung gehorchen und andererseits eine Selbstüberwindung durch das gerade Gegenteil, nämlich die Verneinung des Willens und die Aufgabe des Selbst oder



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wenigstens des autonomen Subjektstatus, anstreben. Die Urteilsfreiheit nimmt hierzu gewissermaßen eine Mittelstellung ein. Die Verbindung des Freiheitsund Mußebegriffs im zweiten Sinn mit Traditionen des Hinduismus und Buddhismus sind unter anderem durch Schopenhauer verbürgt, zeigen sich aber gerade auch in aktuellen Adaptionen für den im weitesten Sinne therapeutischen Einsatz in Form von Meditations- und Achtsamkeitstechniken (Schmidt 2015b; ↗ Achtsamkeit), die den Freiraum der Muße quasi als ein Therapeutikum des Innehaltens gegenüber den stressverursachenden Handlungszwängen einer rastlosen Praxis performativ einzusetzen versuchen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Gimmel, Jochen/Keiling, Tobias (2016), Konzepte der Muße, Tübingen. Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Hasebrink, Burkhard/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2014b), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae 35), Berlin.

Freizeit Markus Tauschek Wie Muße kann auch Freizeit als ein relationales Konzept verstanden werden, das ein Gegenüber braucht, von dem es sich unterscheidet. Freizeit beschreibt eine kulturhistorisch sich verändernde und gesellschaftlich kodierte spezifische temporale Ordnung, die in unseren Lebenswelten mit konkreten Praktiken (etwa ↗ Reisen, Sport, Gartenarbeit, ↗ Flanerie, Chillen, Feiern etc.) und entsprechenden Erfahrungsdimensionen (etwa Erlebnis oder Unterhaltung; ↗ Erfahrung) verquickt ist. Die Spannbreite freizeitlicher Praktiken ist dabei enorm breit – sie reicht von einer starken Aktivierung mitunter in sozialen Kollektiven bis hin zu Praxisformen, die am Individuum ansetzen und etwa mit ↗ Kontemplation und Ruhe verbunden sind. Anders als die Muße ist die Freizeit sehr viel stärker gesellschaftlich (das heißt u. a. auf der Basis rechtlich kodierter Regelungen und politisch induzierter Entscheidungen) institutionalisiert – etwa durch gesetzlich vorgegebene Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen. Daraus resultiert, dass sich Freizeit auf der strukturellen Ebene zeitlicher Ordnungen (↗ Zeit) gleichsam automatisch ergibt, wenn eine nicht-freizeitliche Sphäre (an erster Stelle die Erwerbsarbeit) beendet ist. Aus einer akteurszentrierten Perspektive hingegen ist dies mitunter weniger klar; zu fragen wäre hier etwa, ob handelnde Akteur*innen Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit (beispielsweise ehrenamtliches Engagement) auch tatsächlich der Freizeit zuordnen. In wissenschaftlichen Analysen wie in alltäglichen Begriffsverständnissen wird Freizeit meist von jenen zeitlichen Phasen abgegrenzt, die sich durch Produktivität auszeichnen – also etwa der Erwerbs- oder Reproduktionsarbeit (↗ [Un-]Produktivität). Als klassisch kann die kategoriale Trennung von ↗ Arbeit und Freizeit gelten (Wilke 2020), wobei der Freizeit positive Effekte zugeschrieben werden; damit ist auch die andere Seite implizit bestimmt, der – so die damit verbundene Annahme – diese positiven Effekte fehlen: Freizeit wird allg. definiert als die Zeit, die bewusst mit Tätigkeiten verbracht wird, die eine positive Wirkung (Erholung, Spaß, Zufriedenheit) erwarten lassen. Es handelt sich dabei um den Zeitraum außerhalb der Arbeitszeit (Erwerbsarbeit, Hausarbeit) und außerhalb der Zeit, die für physische Notwendigkeiten (Schlaf, Hygiene) gebraucht wird. (Uhlig 2006: 80)

Eine solche definitorische Annäherung anthropologisiert Freizeit, indem sie diese als eine grundlegende menschliche Erfahrung und als spezifischen Modus



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der Ausgestaltung von Zeit, der mit Freiheitserfahrungen verbunden ist, auffasst (Cassar 2017: 539). Die Kritik liegt hier auf der Hand: Aus einer Akteursperspektive muss Freizeit nicht zwangsläufig positive Wirkungen entfalten. Begriffe wie Langeweile oder Erlebnisdruck deuten in diese Richtung. Und auch Hausarbeit und bestimmte Hygienepraktiken scheinen keineswegs so kategorisch aus der Sphäre der Freizeit ausgeschlossen werden zu können. Hinzu kommt, dass dieser Definition implizit auch die Idee zugrunde liegt, Freizeit sei weitestgehend selbstbestimmt. Aus einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Perspektive muss man dies sicherlich hinterfragen und jene sozialen Zwänge offenlegen, die stärker auf eine Fremdbestimmung hindeuten, auch wenn diese von Akteur*innen mitunter gar nicht erkannt wird. Würde man dieser Definition zudem uneingeschränkt folgen, dann wäre Muße als spezifische Qualifizierung zeitlicher Erfahrung, die Produktivität und Unproduktivität oder Tätigkeit und Untätigkeit in ein bestimmtes Verhältnis setzt und dabei Freiheitserfahrungen ermöglicht, ausschließlich in der Sphäre der Freizeit zu situieren. Bei genauerem kultur- und sozialwissenschaftlichem Blick hingegen stellt sich das Verhältnis von Muße und Freizeit als weitaus komplexer dar. Es gilt, die Entwicklung des Begriffs ‚Freizeit‘ und die damit verbundenen alltagsweltlichen Phänomene kulturhistorisch einzuordnen und darüber hinaus nach der gesellschaftlichen Kodierung von Freizeit zu fragen. In der zu Freizeit vorliegenden Literatur wird diese meist historisch mit Verweis auf das Konzept otium eingeführt und dabei in verkürzender Weise mit Muße synonym gesetzt. Dabei ist der Zusammenhang von Muße und Freizeit keineswegs so einfach zu bestimmen (Hasebrink/Riedl 2014b). Dies zeigen allein schon kursorische Beobachtungen aus unseren Lebenswelten und damit empirische Daten: Für viele Menschen kann auch die Arbeitswelt positive Wirkungen wie Spaß oder Zufriedenheit entfalten – für viele Menschen ist es ja geradezu ein Idealzustand, wenn die Arbeit wie die Freizeit auch der Selbstverwirklichung dient und eben nicht als mühsame und entfremdete Arbeit wahrgenommen wird. Umgekehrt kann sich Produktivitätsdrang auch in der Freizeit materialisieren, wenn der Wunsch nach individuellen Erlebnissen etwa im Urlaub zu einem Erlebnisdruck wird, der auch der Steigerung kulturellen oder sozialen Kapitals dienen kann. In der Freizeit werden dann mitunter Leistungsparadigmen aus der Sphäre der Erwerbsarbeit reproduziert. Darüber hinaus ist ja auch die Arbeitswelt keineswegs als homogener Erfahrungsraum zu konzeptionalisieren: Die Arbeitszeit kann sich auch auszeichnen durch Phasen der Erholung – mikroperspektivisch etwa in Form der Pause, in der eben auch Mußeerfahrungen möglich werden können –, die sich mit Phasen der erhöhten Produktivität abwechseln (Swiniartzki 2020). Und auch in letzteren können mitunter positive Erfahrungen gemacht werden, die als selbstzweckhaft gedeutet werden und mit Spaß und Zufriedenheit einhergehen. Der Begriff des ‚Flows‘ deutet in diese Richtung.

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Hinzu kommt, dass Freizeit als Idee sowie die damit verbundenen Praktiken und Erfahrungen nicht nur kulturhistorisch einzuordnen sind, sondern dass sie auch im Rahmen von biographischen Erfahrungen und Transformationen zu kontextualisieren sind, die die oben angenommene kategoriale Trennung von ↗ Arbeit und Freizeit in ihrer dichotomen Gegenüberstellung nicht erfassen kann: Wie unterscheiden sich etwa Freizeitgestaltung und Freizeiterfahrungen von Kindern (Wehr 2009), Jugendlichen und Rentner*innen (Reichel 2020)? Deuten Erwerbslose (Dobler 2017) oder chronisch Kranke (Bengel/Müller 2018; ↗ Krankheit), die keiner Erwerbsarbeit nachgehen, die ihnen zur Verfügung stehende Zeit als Freizeit oder gibt es andere Qualifizierungen der Zeit? Unterscheiden sich Freizeitgestaltung und Freizeiterfahrung, wenn die Arbeitswelt auf unterschiedlichen Produktivitätserwartungen beruht? Zugespitzt: Wie unterscheidet sich die Freizeit einer Bundeskanzlerin oder einer Investmentbankerin von der Freizeit einer Landwirtin, die in einer Kommune ökologisch wirtschaftet? Diese Fragen deuten darauf hin, dass eine anthropologisierende und damit zwangsläufig ahistorische Definition von Freizeit überaus problematisch ist, weil sie Freizeit als weitestgehend monolithischen Erfahrungsraum konzeptionalisiert und diesen von der Erwerbsarbeit abtrennt. Diese Annahme ist auch deshalb zu hinterfragen, weil sie Freiheitserfahrungen ausschließlich der Sphäre der Freizeit zuordnet und damit gleichzeitig davon ausgeht, dass die (in dieser Logik ebenso monolithisch konzeptionalisierte) Erwerbsarbeit grundsätzlich entfremdet ist. Auch für einen weiteren zentralen Aspekt sensibilisieren die oben genannten Fragen: Freizeit ist wie Muße – so ist kulturwissenschaftlich zu argumentieren – eben keineswegs losgelöst von den kulturellen und sozialen Räumen, in denen sie erfahren wird. Beide lebensweltlich wirksamen Konzepte sind von sozialen und weiteren Differenzkategorien abhängig. So hängt Freizeit wie Muße genuin mit dem Konzept der Klasse zusammen, sie lässt sich in ihrer jeweiligen Ausgestaltung auch mit spezifischen Milieus (Hitzler 1988; Schulze 1993) korrelieren und ist damit eben niemals eine universalisierbare Erfahrung, denn ihre Ermöglichung hängt u. a. eben auch von nationalstaatlichen Regulierungen (u. a. Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen) ab. Gleichzeitig zeigt sich hier auch ein zentraler Unterschied: Denn Freizeit ist meist institutionell und politisch geregelt. Wir können es uns in der Regel nicht aussuchen, wann und wie viel wir arbeiten und wie oft wir in den Urlaub fahren. Freizeit wird, so könnte man argumentieren, gleichsam von außen zugeteilt; für die meisten Menschen sind die Handlungsmöglichkeiten hier also von vorneherein sehr eingeschränkt  – erst recht, wenn man eine globale Perspektive einnimmt. Die Voraussetzungen für Freizeit sind dabei auch Gegenstand der (sozial-)politischen Aushandlung, wie etwa der Versuch in Schweden belegt, die Viertagewoche einzuführen und damit die Arbeitszeit zu reduzieren. Muße hingegen kann im Verständnis des



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Sonderforschungsbereichs nicht verordnet werden, gleichwohl können Voraussetzungen geschaffen werden, die Mußeerfahrungen wahrscheinlicher machen. Die Analyse von Freizeit und damit zwangsläufig auch von Muße, die etwa Horst Opaschowski (2008: 58) in seiner Einführung in die Freizeitwissenschaft im Begriffsumfeld von Freizeit situiert, muss beide Begriffe begriffsgeschichtlich einordnen, nach Verschiebungen der Verständnisse und der damit verbundenen sozialen und kulturellen Praktiken fragen und damit diskursanalytisch sowie empirisch vorgehen, um besser verstehen zu können, wie sich Begriff und Sache bzw. Phänomen konkret ausprägen. Nur eine solche Analyse kann falsche Anthropologisierungen vermeiden, indem sie etwa aufzeigt, wie Freizeit auch zu einer politisch-ideologischen Ressource werden kann, oder indem sie insbesondere auch eurozentrische Setzungen problematisiert. Denn es ist davon auszugehen, dass Freizeit nicht nur in differenten historischen, sondern auch in verschiedenen kulturellen, sozialen und politischen Räumen und selbstverständlich ebenfalls im Kontext ökonomischer Rahmenbedingungen unterschiedlich verstanden und praktiziert wurde und wird. Ordnet man Freizeit nun kulturhistorisch ein, finden sich in der Literatur im Wesentlichen zwei sich geradezu widersprechende Ansätze: Der erste definiert Freizeit wie oben skizziert als freie Zeit in Abgrenzung zur Arbeit und greift demnach historisch weit zurück, wie etwa Hans-Werner Prahl (2015: 5) in seinem Überblick zur Geschichte und Entwicklung der Freizeit, wenn er auf die Abhängigkeit der Arbeitsrhythmen in Stammesgesellschaften, wie er es formuliert, von den Abläufen der Natur hinweist. Ein solcher Ansatz argumentiert kategorial und tendenziell essentialisierend, wenn unterschiedliche zeitliche Ordnungen gleichsam als gegeben und nur bedingt kulturell kontingent angenommen werden. Dieser Ansatz anthropologisiert Freizeit zudem und begreift sie als universelle zeitliche Ordnung. Der zweite Ansatz hingegen argumentiert begriffs- und ideengeschichtlich und vor allen Dingen auch arbeitsgeschichtlich. Hier wird Freizeit dann im Zusammenhang mit Veränderungen der Lebensführung seit der Aufklärung, mit zunehmender Individualisierung und insbesondere mit den Transformationen durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert diskutiert. Erst hier entstünden ein spezifischer Freizeitbegriff und eine spezifische Idee von Freizeit, die dann auch Gegenstand wissenschaftlicher Kritik (Adorno 2003a [erstmals 1977]) wurden. Dieser Ansatz wiederum ist insofern eingeschränkt, als er mit einem Arbeitsbegriff zusammenhängt, den man als spezifisch für die Länder des Globalen Nordens charakterisieren könnte, da er auf das Engste mit einer protestantischen Arbeitsethik verbunden ist. Die sich daraus entwickelnde Kritik sieht Freizeit dann als regenerative Phase, die einzig und allein auf den Erhalt der Arbeitskraft ausgerichtet ist. Freizeit ist vor diesem Hintergrund eine politisch ideologisierbare Ressource, die die Subjekte entsprechend domestiziert und von selbstzweckhaftem Tun geradezu abhält.

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Das 19. Jahrhundert ist für den Freizeitbegriff ohne jeden Zweifel zentral, kommt es hier doch zu sozialstrukturellen Transformationen, die gravierende Auswirkungen auf Zeitregime – v. a. der Arbeiterklasse – hatten: Reduktion der konfessionell gebundenen Feiertage, Ausweitung der Arbeitszeit zum Teil auf mehr als 14 Stunden (auch an Sonntagen) und in der Folge dann die sogenannten Arbeitskämpfe, die zu einer Reduktion der Arbeitszeit führten (Rinderspacher 2020). Hinzu kommt eine qualitative Veränderung von Freizeit, die mit der Herausbildung einer spezifischen Populärkultur zusammenhängt: Die Qualität von Freizeit änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit wurde das Angebot an kommerziellen Vergnügungen und Amüsements stark ausgeweitet. Die Produktions-, Distributions- und Rezeptionssphäre der Massenmedien wurde modernisiert und auf Konsum umgestellt. (Prahl 2015: 17)

Freizeit, so könnte man noch einmal anders formulieren, ist demnach auf das Engste mit der Herausbildung der Kultur- und Konsumindustrie verbunden (Prahl 2015: 26). Zudem sind auch die jeweiligen nationalstaatlichen und politischen Rahmen(bedingungen), wie die Instrumentalisierung der Freizeit im Nationalsozialismus deutlich zeigt, von Bedeutung. Grundlegender kann hier argumentiert werden, dass Freizeit grundsätzlich ideologisierbar ist – etwa durch den Staat: The state is particularly invested in the kind of leisure activities its citizens have at their disposition as this will impact the country on a cultural, social and economic level. For all intents and purposes, leisure can be considered as yet another tool used by the state to further consolidate its control over citizens. In the history of leisure, there are plenty of examples which demonstrate how leisure was used to control the masses while keeping them in line with state policies. (Cassar 2017: 542)

Eine genauere Untersuchung der Freizeitindustrie und Freizeitkultur in der DDR, der Volksrepublik China oder auch der Sowjetunion (Cheauré/Gimmel/ Rapp 2021) bestätigt Cassars These einer staatlichen Kontrolle von Freizeit. Auf der anderen Seite allerdings muss hier auch auf das transgressive Potenzial, das der Freizeit ebenso innewohnt wie der Muße, hingewiesen werden. Zwar bestätigen und reproduzieren Freizeit und Freizeitaktivitäten bestehende soziale, politische oder ökonomische Ordnungen (dies gilt auch für Genderkonstruktionen, die in der Sphäre der Freizeit aufrechterhalten und perpetuiert werden), gleichzeitig aber wird Freizeit für diese Ordnungen in gewisser Weise auch gefährlich. Dies ist insofern der Fall, als sie – wie der Sonderforschungsbereich auch für die Muße herausgearbeitet hat – Menschen den Freiraum gibt, reflexiv und kritisch über die Strukturen, die damit verbundenen Zwänge und die diesen zugrundeliegenden politischen, ökonomischen und sozialen Ordnungen, in denen sie leben, nachzudenken (Cassar 2017: 553; ↗ Freiheit). Eindrucksvolles Beispiel dafür sind die in vielen Ländern derzeit zu beobachtenden sozialen Experimente, die Menschen ein bedingungsloses monatliches Grundeinkommen



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zur Verfügung stellen. Eine der zentralen Fragen ist dabei, wie die hier dann zur Verfügung stehende (Frei‑)Zeit genutzt wird. Die Verbindungslinien zwischen Muße und Freizeit sind naheliegend, und vielfach sind ähnliche Fragen an beide Konzepte und die damit bezeichneten Phänomene zu formulieren, doch lohnt  – wie dies der Sonderforschungsbereich vorgeschlagen hat  – eine (kultur-)historisch, empirische und vergleichende Analyse, die v. a. auch das komplexe Verhältnis von Freizeit und Muße genauer bestimmt. Insbesondere die historischen Einordnungsversuche von Freizeit nehmen häufig Mußediskurse der Antike in den Blick und leiten dann argumentativ kulturhistorisch zur Etablierung ‚moderner‘ Freizeitkulturen seit dem 19. Jahrhundert über. So einfach  – dies haben die historischen Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs herausgearbeitet und insbesondere auch jene, die sich mit Fragen der Semantiken (↗ Muße-Semantiken) befasst haben (Fludernik/Jürgasch 2021)  – ist es hingegen nicht, auch wenn sich an beide Konzepte dieselben Fragen richten lassen. So wie die Freizeitforschung hat auch die Untersuchung von Muße gezeigt, wie wichtig beispielsweise für beide Konzepte Fragen nach der jeweiligen Privilegienstruktur sind: Wer verfügt wann und wie über Freizeit oder Muße? Wer wird dabei jeweils ausgeschlossen – etwa und insbesondere auch in einer globalen Perspektive? Wann und wie können Freizeit oder Muße transgressiv werden und ein kritisches Nachdenken über die gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen, die Freizeit und Muße mitunter einhegen oder domestizieren (Tauschek/Wilke 2020)? Diskursanalytische Zugänge können hier zugrundeliegende Mechanismen offenlegen, die sich beispielsweise auch in literarischen Texten niederschlagen (u. a. Cheauré 2017c). Antworten auf diese Fragen tragen dazu bei, das Verhältnis von Muße und Freizeit  – als wissenschaftliche Konzepte, als lebensweltliche Begriffe und vor allem auch als alltagskulturelle Phänomene, die damit bezeichnet werden – besser zu bestimmen. Für die Gegenwart ergeben sich für Freizeit und Muße weitere Fragestellungen, die gegenwärtige Transformationsprozesse von Zeitregimen insgesamt aufgreifen müssen: Da wäre erstens auf die Auswirkungen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie hinzuweisen. Hier haben viele Menschen durch das Homeoffice Entgrenzungserfahrungen gemacht, die Arbeit und Freizeit neu ordneten. Interessanterweise fiel auch der Begriff Muße im Kontext der Pandemie häufiger verbunden mit der Frage, inwiefern die durch die Pandemie bedingten neuen zeitlichen Ordnungen auch als positiv bewertete Potenziale eröffnen. Der temporäre ↗ Verzicht auf bislang gewohnte Freizeitangebote und -aktivitäten wurde dabei teilweise auch als gewinnbringende Erfahrung thematisiert, etwa im Sinne einer Möglichkeit, freie Zeit ‚entschleunigt‘, gewissermaßen ‚mußevoller‘ zu gestalten. Die Einschränkungen von Freizeitaktivitäten (etwa auch im Tourismus) haben allerdings mitunter auch zu politischen Verwerfungen geführt, die sich in den sogenannten Öffnungsdebatten manifestierten. Und

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schließlich zeigt sich im Diskurs auch deutlicher als vorher die Bedeutung von Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche; Freizeit wird hier als wichtiger sozialer, kommunikativer, interaktiver und aktivierender Raum bewertet, der für die Sozialisation zentrale Funktionen erfüllt und sich insofern einer eindimensionalen Kulturkritik (etwa durch das Prisma eines bildungsbürgerlichen Mußeideals) entzieht. Ein weiteres Beispiel sind die Debatten im Kontext des Klimawandels. Hier sind in die Diskurse etwa um die Einschränkung von Flugreisen (↗ Reisen), die in vielen Gesellschaften zentraler Bestandteil von Urlaub und Freizeit sind, auch Argumente von Ökologie und Nachhaltigkeit, aber auch globaler Ungleichheit und der ungleichen Verteilung von Ressourcen eingewoben. Durch diese Debatten sind auch Auswirkungen auf die Konzeptionalisierung und insbesondere auch auf die Ausgestaltung von Freizeitaktivitäten zu erwarten, geht es dann doch auch um ethisch-moralische Bewertungen des Wunschs nach Erholung. Und schließlich wären neben weiteren Feldern noch die Transformationen der Arbeitswelt in den Blick zu nehmen: die fortschreitende Digitalisierung, Diskussionen um das Renteneintrittsalter, der wachsende Wunsch vieler Menschen nach einem ‚mußevolleren‘ Leben und einer ausgewogeneren Work-Life-Balance oder auch wachsende Altersarmut, die dazu führt, dass immer mehr Menschen auch nach dem Renteneintritt weiterhin ökonomisches Kapital erwirtschaften müssen. All dies hat auch Auswirkungen auf die Freizeit, sicherlich auch auf unsere Vorstellungen von Muße, die für viele Menschen (wieder?) zu einem erstrebenswerten Gut wird, und die Erwartungen, die wir an sie knüpfen. Wie Muße ist auch Freizeit hier ein immens politisches Thema, geht es doch nicht nur um Fragen des guten Lebens, um Fragen der Selbstverwirklichung und Freiheit, sondern immer auch um die Frage, wie Gesellschaften sich organisieren und wie sie ihre zeitlichen Ressourcen in einer globalisierten Welt verteilen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Tauschek, Markus/Wilke, Inga (2020), „Muße als Arbeit? Selbst- und Gesellschaftskonstruktionen im Kontext von Muße-Angeboten“, in: Inga Wilke/Gregor Dobler/Markus Tauschek/Michael Vollstädt (Hg.), Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen, 181–197. Wilke, Inga (2020), „Arbeit und Nichtarbeit in ‚Muße-Kursen‘. Ein ethnografischer Zugang zu gegenwärtigen Entgrenzungs- und Abgrenzungserfahrungen“, in: Stefan Groth/Sarah May/Johannes Müske (Hg.), Vernetzt, entgrenzt, prekär? Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Arbeit im Wandel, Frankfurt a. M./New York, 193–210.

Geschlecht Marion Mangelsdorf Potentiell kann sich Muße an den unterschiedlichsten Orten und in den unterschiedlichsten Situationen einstellen. Zugleich gibt es jedoch zeitliche, räumliche oder soziale Kontexte, die sich begünstigend auf Muße auswirken können. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die sozialen Rahmungen von Muße und darauf, dass die aus diesen resultierenden Chancen auf Muße ungleich verteilt sind. Zeitliche Ressourcen, die Muße ermöglichen können, stehen diesem Verständnis nach nicht jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung. Das bedeutet zugleich, dass in den Chancen auf selbstbestimmtes freies Tun gesellschaftliche Ungleichheiten prägnant hervortreten. Insofern vermag die Beschäftigung mit Muße generell gesellschaftliche Distinktionen freizulegen (Fludernik 2017; Gimmel/Keiling 2016: 86 ff.). Wenn dies in Bezug auf sozioökonomische, demographische oder etwa kulturelle Unterschiede zutrifft, so gilt dies schließlich auch in Bezug auf eine weitere Kategorie gesellschaftlichen Lebens und subjektiven Selbstverständnisses: die des Geschlechts. In welcher Weise ist Muße mit Geschlecht als einer der zentralen Kategorien verknüpft, wenn es darum geht, gesellschaftliche Unterschiede zu markieren? In ihrer alltäglichen Wahrnehmung gehen viele Menschen davon aus, dass Kleidung sowie Sprach- und Ausdrucksverhalten nicht nur über unseren Lebensstil Auskunft geben, sondern v. a. auch über das Geschlecht, dem wir uns zuordnen; werden die (nicht nur) mit dem äußeren Erscheinen assoziierten konventionellen Unterscheidungsmerkmale infrage gestellt, kann dies zu erheblichen Irritationen führen. Diese Unterscheidungsmerkmale sind nicht statisch, sondern unterliegen historischem Wandel und können von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausgeprägt sein. Auf die Frage, inwiefern auf Geschlecht bezogene Distinktionen eng verknüpft sind mit Zuschreibungen von Mußechancen, gehe ich im Folgenden näher ein. Leitend ist dabei ein Verständnis von Geschlecht als einer ‚interdependenten Kategorie‘, d. h. als einem Differenzkriterium, das nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern mit anderen Kategorien sozialer Ordnung wie Schichtzugehörigkeit, Ethnie, Status, Befähigung oder Alter verbunden ist (Becker-Schmid 2007). In diesem Kontext möchte ich mich im Folgenden v. a. mit stereotypen und geschlechtlich konnotierten Vorstellungen von Muße auseinandersetzen wie auch mit der Frage, ob Muße nicht ebenso als Bedingung der Möglichkeit betrachten

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werden kann, diese Stereotype hinter sich zu lassen. Beide Aspekte, d. h. sowohl die soziale Sanktionierung von Mußechancen als auch das Freiheitspotential der Muße (mit seinen emanzipatorischen Implikationen), führen schließlich zu der Frage, was es bedeuten kann, Muße nicht nur als Privileg einiger Weniger, sondern – wie es der Soziologe Hans-Georg Soeffner bezeichnet – als ein ‚Menschenrecht‘ zu begreifen (Soeffner 2014: 34–53).

Geschlechter- und Muße-Stereotypen Muße ist in unserem Arsenal stereotyper Vorstellungen unzweifelhaft geschlechtlich konnotiert: So mag sie z. B. Angelegenheit eines Gelehrten sein, der durch ehrwürdige Hallen wandelt, oder eines Genies, das inmitten einer Studierstube vor Bücherbergen sitzt, sinniert, liest und schreibt. Bereits die antike Theoria (↗ Kontemplation) galt als Privileg einer (männlichen) Gruppe, die einer bestimmten sozialen Schicht zugeordnet werden kann. Dagegen wurde Frauen (zumindest im Kontext der von Aristoteles geprägten Konzepte von Theoria) die Fähigkeit zum vollkommenen Denken abgesprochen. In den kollektiven Imaginationen (der bürgerlichen Welt) des 19. Jahrhunderts bildet das weibliche Pendant den Gegenentwurf zur Muße der Männer: Emsige Frauen und Mädchen, die nicht ruhen dürfen, putzen, waschen, kochen oder versorgen Kinder und Alte; und selbst wenn sich etwa bei ‚typisch‘ weiblichen Tätigkeiten wie Häkeln oder Stricken (erzwungene) Muße einstellen sollte, bleibt die Erfahrung von Freiheit spannungsreich bezogen auf Formen der sozialen Disziplinierung (Cheauré 2017d). Der Möglichkeit seitens der Männer, sich einer selbstzweckhaften ↗ (Un-)Produktivität hingeben zu können, steht eine unermüdliche Produktivität der Frauen gegenüber. Selbstverständlich wären diese Beispiele stereotyper Vorstellungen noch zu erweitern und zu differenzieren. Letztlich führen sie zu der Frage, inwiefern diese Bilder gesellschaftliche Realitäten oder individuelle Erfahrungen widerspiegeln. Wie im Sonderforschungsbereich diese und weitere Aspekte geschlechtlich konnotierter Kontrastierungen erforscht wurden, lässt sich u. a. anhand der historisch weiter ausgreifenden Arbeiten zu Muße in der russischen Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachvollziehen (Cheauré 2017c; Cheauré/Gimmel/Rapp 2021). Je wirkmächtiger die Zuschreibung weiblichen Produktivseins ausfällt, desto mehr gilt, dass nichts das Bild einer Frau so zu schädigen scheint wie der Verdacht, sie fröne dem Müßiggang. Eine Romanfigur wie Oblomow (im gleichnamigen Roman von Iwan Gontscharow), der sich als russischer Adeliger der Faulheit hingibt, lässt sich als Ikone der Dekadenz und als Dandy à la russe verstehen. Diese ‚Oblomowerei‘ changiere, so schreibt die Slawistin Elisabeth Cheauré, zwischen Faulheit und Müßiggang einerseits sowie zwischen Freiräumen für Kreativität und Selbstbestimmung andererseits (Cheauré 2017a); schwieriger



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vorstellbar erscheint jedoch, sich ein weibliches Pendant zur ‚Oblomowerei‘ auszumalen. Wenn sich Inszenierungen fauler Frauen finden lassen, dann aus der Perspektive eines ‚männlichen‘ Blicks, der die Frau zur Projektionsfläche, wenn nicht sogar zum Objekt degradiert: Nicht als selbstbestimmtes Individuum, sondern als Prostituierte, deren lasziver Blick auf die männlichen Bedürfnisse und Zuschreibungen bezogen bleibt, räkeln sie sich auf einer Chaiselongue wie etwa in Gemälden von Henri de Toulouse-Lautrec, oder als Muse auf einer Picknickdecke wie in dem berühmten Bild Das Frühstück im Grünen von Claude Monet. Eine zusätzliche Asymmetrie ist festzustellen, wenn sich jener ‚männliche‘ Blick im kolonialen Kontext auf die Idle Poor and Lazy Natives (Nandi 2016) richtet; wenn etwa Kolonisatoren in Hängematten liegende Frauen darstellen, als gäben diese sich einzig dem frevelhaften Nichtstun hin (vgl. etwa den Kupferstich America [1575] des Künstlers Jan van der Straet). Diese stereotypen Zuspitzungen gelten nicht nur in Bezug auf die individuelle Dimension der Muße, sondern auch hinsichtlich von Inszenierungen geselliger Mußezirkel, d. h. Männern steht der geistreiche Austausch ebenso wie die Freude an leiblichen Genüssen frei. Ex negativo oder expressis verbis bedeutet das, dass Frauen, die ähnlicher Geselligkeit frönen, sich verdächtig machen – sei es der Unzucht oder der Vernachlässigung ihre familiären Pflichten. Aber lassen sich diese Geschlechterdarstellungen individuell erfahrener Muße ebenso wie ihre geselligen Varianten wirklich in dieser dichotomen Weise zuspitzen? Werfen wir einen kurzen Blick auf ein antikes Beispiel: Platons berühmtes Gastmahl. Obwohl es sich hier um die Beschreibung einer primär männlichen Geselligkeit handelt, wirft die Rolle Diotimas in dieser Schrift, die im Wettstreit verschiedener ausschließlich männlicher Redner als Seherin exponiert dargestellt wird, eine wichtige Frage auf: Wie ist ihr Einfluss auf Sokrates sowie dessen Deutung des Eros-Begriffs im Sinne eines Strebens nach Erkenntnis zu verstehen? Bedient sich Platon eines Kunstgriffs und lässt seine eigene philosophische Auffassung durch die Rede einer Frau, der Seherin Diotima, vertreten? Warum durch sie? In welchem dialektischen Verhältnis stellt der griechische Philosoph und Dichter hier Logos und Eros, Männliches und Weibliches dar? Diese Fragen, die auf die Vielschichtigkeit von Geschlechterdichotomien hinweisen, lassen sich noch ergänzen durch solche, die sie ins Verhältnis zur sozialgeschichtlichen Realität setzen. Welche Divergenzen zwischen der Lebensrealität und normierten Rollenvorstellungen lassen sich allenthalben aufspüren? Norm und Abweichung bilden ebenfalls ein dialektisches Verhältnis. So lassen sich hinsichtlich der Mußethematik selbstverständlich auch Inszenierungen von Muße finden, mit der Frauen ihren Eigensinn, ihre Selbstständigkeit oder Widerständigkeit gegenüber Konventionen und Zuschreibungen demonstrierten. Insbesondere kann die Inszenierung geselliger Muße (oder gar geselligen Müßiggangs) als eine Form von Widerständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Zuschreibungen und Restriktionen verstanden werden; wenn etwa Frauen-

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zirkel sich eben nicht mit dem Austausch über die bestmögliche Fürsorge der ihnen Anvertrauten beschäftigen, sondern existierende Rollenbilder infrage stellen. Übertragen lässt sich der Begriff der Geselligkeit (insbesondere im Kontext sozialer Medien) auch auf medial vermittelte Formen des Austauschs unter ‚Gleichgesinnten‘; z. B. wenn sich junge Frauen des Missy-Magazins über die Widerständigkeit austauschen, die darin liegt, faul zu sein (Sennefelder/ Masurczak 2016). Widerständig verhalten sich darüber hinaus auch ‚Flâneuses‘, jene Frauen, die Metropolen wie Paris, New York, Tokyo, Venedig oder London flanierend durchstreifen (Elkin 2016; Fest 2017; ↗ Flanerie). Eine 2019 erschienene Publikation weitet hier den Blick ebenfalls auf queere Menschen und ‚People of Color‘, die den Stadtraum erkunden und darauf aufmerksam machen, dass dies weder gefahrlos noch selbstverständlich für jeden Menschen möglich ist (Dündar u. a. 2019). An diesen Formen der Widerständigkeit u. a. gegenüber Rollenzuschreibungen möchte ich weiter anknüpfen. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu ↗ Gesellschaft muss neben den die Mußechancen regulierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mindestens ebenso in Rechnung gestellt werden, dass die Erfahrung von Muße auch transgressiv gegenüber geschlechtlich geprägten Rollenerwartungen und Zuschreibungen zu wirken vermag. Die ↗ Freiheit der Muße betrifft in Bezug auf soziale und kulturelle Dimensionen von Geschlecht auch Fragen der Selbstbestimmtheit. Bei der Betrachtung des Verhältnisses von Muße und Geschlecht geht es also nicht nur um die Re- und Dekonstruktion von Stereotypen, sondern auch darum, dass die Chance auf Muße jedem Menschen gleichermaßen eingeräumt werden sollte; um eines Rechts auf Selbstbestimmtheit und Freiheit willen. Der Soziologe Hans-Georg Soeffner beschreibt in groben Zügen eine Sozialgeschichte der Muße, die er als eine Entwicklung vom ‚Privileg zum Menschenrecht‘ skizziert (Soeffner 2014: 35 ff.). Das beinhaltet u. a. das Bemühen, Muße „zu demokratisieren“ (vgl. Wulf/ Zirfas 2007, 9–11), d. h. von ihren geschlechtlichen, aber auch ethnischen und schichtspezifischen Diskriminierungsstrukturen zu befreien. Begeben wir uns also auf die Spurensuche: Spüren wir der Muße als einem vergeschlechtlichten Privileg nach ebenso wie einer Vision von Muße als Menschenrecht.

Muße – ein vergeschlechtlichtes Privileg In den aristotelischen ‚Urtexten‘ der Muße, der Nikomachischen Ethik und der Politik, wird Muße explizit als ein gleichermaßen männliches wie soziales Privileg beschrieben. Dieses Privileg gründet in aller Selbstverständlichkeit auf den reproduktiven, an Mühsal und Ausbeutung gebundenen Aufgaben von Frauen, Kindern und Sklaven. Die Sicherung der körperlichen Grundbedürfnisse fällt in ihre Verantwortung (Gimmel 2017b: 52). Dieses Mußeideal des Aristoteles



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wirkt bis heute in unterschiedlichen Auffassungen der Muße nach, zugleich kontrastiert es mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die zumindest in Teilen der ‚westlichen‘ Welt mit der Industrialisierung einsetzte: Fortan wirken nämlich Maschinen an der Subsistenzsicherung mit, was zu einer entscheidenden Veränderung hinsichtlich der sozialen Verortung von Muße führt: Anknüpfend an Aristoteles wird Muße klassisch als die Befreiung von harter, körperlicher Arbeit und damit als das Privileg einer herrschenden Klasse beschrieben. […] Im Zuge der Industrialisierung kommt es zu einer Wandlung des Muße-Monopols. Muße kommt nicht mehr allein der Oberschicht zugute, sondern wird als Freizeit allen Bürgern zur Verfügung gestellt. (Gimmel/Keiling 2016: 86)

Zeitlich parallel zur Industrialisierung (und ursächlich mit ihr verknüpft) vollzog sich eine weitere Entwicklung, die für das Thema des vorliegenden Textes zentral ist: Es handelt sich um die – so die Sozialhistorikerin Karin Hausen – ‚Polarisierung der Geschlechtercharaktere‘: Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muss erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte oder List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben an, dieses dem stillen häuslichen Cirkel. (Hausen 1976: 365)

Im ‚stillen häuslichen Cirkel‘ werden die Frauen ins Private verwiesen, stellen die – wie zuvor beschrieben – allzeit emsigen Versorgerinnen der ihnen Anvertrauten dar. Doch die Protagonistinnen weiblich konnotierter Familien- und Fürsorgearbeit (↗ Arbeit) erfahren einen Ausschluss vom Genuss freier Zeit, einer Zeit für sich selbst, von Erholung und Selbstbesinnung. Denn ↗ Freizeit dient der Regeneration der Arbeitskraft, d. h. Art, Umfang und Lohn von Tätigkeiten bestimmen ganz wesentlich, ob und wie Freizeit genutzt werden kann. Hingegen lässt sich von Haushalt und Fürsorge kein Urlaub nehmen. Deswegen gilt: Wer für Fürsorge-Tätigkeiten verantwortlich zeichnet, vermisst bis heute oftmals eine gerechte Entlohnung und sei es in Form einer angemessenen gesellschaftlichen Anerkennung oder in Form von Freiräumen der Regeneration. In seiner 2018 veröffentlichten Relektüre von Karin Hausens Klassiker der Geschlechtergeschichte betont der Historiker Philipp Sarasin, dass sich die ‚Polarisierung der Geschlechtercharaktere‘ und die damit einhergehenden Rollenverteilungen bis in heutige postindustrielle Zeiten weitestgehend erhalten hätten (Sarasin 2018). Darüber hinaus betrachtet der Soziologe Hans Bertram (2017: 21–46) im Kontext der Mußethematik das Verhältnis von Arbeitszeit, Familienarbeit und Freizeit im Wandel der gesellschaftlichen Zeitregime in Deutschland vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Dabei wird deutlich, dass seit der Industriegesellschaft die tägliche Arbeitszeit ebenso wie die tägliche Freizeit, die der Regeneration der Arbeitskraft vor allem weißer Männer diente, durch die Organisation der Produktionsprozesse geprägt war, während wiederum das Bild

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einer idealtypischen Familie durch den Arbeitsrhythmus geformt wurde. Dahinter stecke ein voraussetzungsvolles Familienmodell, betont Hans Bertram, denn es beruhe darauf, dass der Familienvater die ökonomische Existenzsicherung gewährleiste, auf der sowohl seine Freizeit als auch die Freistellung der Frau für die Fürsorge der Kinder beruhe. Nicht der soziale und ökonomische Aufstieg sei zu Zeiten der Industrialisierung ein vorrangiges Ziel gewesen, sondern die ökonomische Existenzsicherung der Familie, an der sich schließlich auch die Vorstellung eines gelungenen Lebens orientierte. In postindustriellen Zeiten würden sich nun „die ‚klassischen‘ biografischen Muster mit dem außerhäuslich erwerbstätigen Vater und der Hausfrau und Mutter“ (Bertram 2017: 28–29) auflösen. In ‚Bastelbiografien‘, wie sie Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem Buch Riskante Freiheiten (1994) bezeichneten, ließen sich Berufs- und Familienmodelle schwer aufeinander abstimmen. Zudem seien langfristige Anstellungsverhältnisse genauso prekär wie freie, selbstbestimmte Zeit und (familiäre) Fürsorge würde zur individuellen Privatsache erklärt (Bertram 2017: 28 ff.). Folgen wir dieser Zeitdiagnose, dann kann heutzutage nicht mehr in dem Maße von männlichen Muße-Privilegien gesprochen werden, wie es in Bezug auf frühere Zeiten der Fall war. Mit Soeffner ließe sich zudem fragen, ob sich das Streben nach Muße überhaupt als Folge von Arbeitskämpfen um höhere Löhne und mehr freie Zeit bewerkstelligen oder sich in Form von Krankenkassen- und Wellness-Center-Muße begreifen lässt, durch die eine therapeutisch instrumentalisierte Freizeit einzig der Bewältigung der Arbeit dient (Soeffner 2014: 39–40). Solche Auffassungen von Muße lassen sich jedoch in zeitgenössischen Gesellschaften häufig finden; d. h. in Gesellschaften, die durch Begriffe wie Beschleunigung (Rosa 2021), Unruhe (Konersmann 2015) und Selbstoptimierung (Bröckling 2007) charakterisiert werden. Was bedeutet es demgegenüber, ein ‚Recht auf Muße‘ für alle Menschen einzufordern, das keine solche kapitalistische Formatierung aufweist? Ein solches Recht, um nochmals auf Hans-Georg Soeffner zu verweisen, beruhe auf der Einsicht „in die anthropologische Verankerung einer spezifischen Möglichkeit des Menschen, eine außeralltägliche und dennoch innerweltlich fundierte Haltung gegenüber sich selbst, seiner Welt und seiner Mitwelt zu gewinnen“ (Soeffner 2014: 37). Der Soziologe begreift diese Haltung, die er in jedem Menschen angelegt sieht, mit dem unlösbaren Paradox verbunden, zur ‚Freiheit verdammt zu sein‘, wie es Jean-Paul Sartre formuliert habe (Soeffner 2014: 50). Wessen bedarf es, dass sich Menschen von konsekutiver Zeit und damit von Leistungsansprüchen entlastet sehen, dass sie sich Freiräume schaffen und generell von Rollenerwartungen enthoben empfinden können? Und lassen sich solche Rückzugsorte abseits des Alltäglichen jenseits von Privilegien denken?



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Muße als Menschenrecht – ein Recht auf Rückzugsorte und Freiräume? Hans-Georg Soeffner beschreibt, dass Muße eine räumlich und zeitlich gegenalltägliche Rahmung benötige. Ebenso betont er die Notwendigkeit, dass Muße – entgegen der Zerstreuung, die in unserer Freizeit- und Konsumindustrie vorherrsche – auf einen ‚geschlossenen Sinnbezirk‘ angewiesen sei, gerade um alle Sinne zu öffnen (Soeffner 2014: 45 ff.). Dem Soziologen schwebt vor, dass sich Menschen für die Erfahrung von Muße einer besonderen zeitlichen und räumlichen Rahmung aussetzten, die durch wenig Ablenkung, dafür durch Konzentration auf innerweltliche Vorgänge charakterisiert sei. Doch wem ist dieser sowohl räumliche als auch zeitliche Freiraum vergönnt? Wer vermag sich derart von alltäglichen Verpflichtungen zu befreien? Virginia Woolf wies bereits in einem 1929 erschienenen Essay Ein Zimmer für sich allein auf die Bedeutung eines Rückzugsortes von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen und alltäglichen Erwartungen für die emanzipatorische Selbstentfaltung  – insbesondere von Frauen  – hin. Es sei essentiell, dass sie sich ihr eigenes Zimmer leisten könnten, um dort zu lesen und zu schreiben. Selbstverständlich gilt dies nicht nur für Frauen (vgl. auch Sennefelder 2018 in Auseinandersetzung mit Rückzugorten der Muße für die autobiographische Literatur des 19. Jahrhunderts in Frankreich; ↗ Rückzug). Denken wir 90 Jahre nach Erscheinen von Woolfs Essay an die zuvor beschriebenen ‚Bastelbiografien‘ (Beck-Gernsheim 1994) und schwer aufeinander abzustimmenden Berufsund Familienmodelle, die in postindustriellen Zeiten den Alltag prägen, ist der Ruf nach Freiräumen der Muße längst ein relevantes Thema für jedwedes Geschlecht. Dennoch betreffen die aktuellen Bedingungen des Mehrfachgefordertseins immer noch vor allem Frauen, da sie nun häufig vielfach berufstätig sind und trotzdem die Hauptverantwortung für die Kinder und mitunter die pflegebedürftigen älteren Verwandten tragen. Selbst wenn sie einen Rückzugsort haben, bleibt die Herausforderung, wie sie sich ein entsprechendes Zeitfenster schaffen können, das potentiell Raum für Mußeerfahrungen gibt (Ingrisch/ Mangelsdorf 2019: 15). Zu Zeiten der Covid-19-Pandemie hat sich diese Tatsache noch einmal in aller Deutlichkeit gezeigt. Es sind überwiegend die Frauen, die sich um die Kinder im sogenannten Homeschooling kümmern, den Haushalt managen, für den Mann im Homeoffice kochen, während sie ‚nebenbei‘ auch ihren eigenen beruflichen Verpflichtungen nachkommen und via Telefon die sozialen Kontakte zu Familienangehörigen und Freund*innen pflegen, die man während des Lockdowns nicht treffen kann (Bertelsmann-Stiftung 2020; McKinsey Report 2020). Die Realisierung des Ideals einer Work-Life-Balance  – hier verstanden als Schaffung von Rückzugsorten und von Rahmenbedingungen für individuelle Selbstbestimmung  – erweist sich somit als entscheidendes, wenn auch bei

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weitem nicht einziges Nadelöhr, wenn es darum geht, wirklich jedem Mitglied der Gesellschaft Mußechancen zu ermöglichen. Die Soziologin Gabriele Winker strebt in ihrem 2015 veröffentlichten Buch Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft diesbezüglich einen Paradigmenwechsel an, um das bereits zuvor angesprochene Verhältnis von Erwerbsarbeit, freier selbstbestimmter Zeit und Fürsorge-Arbeit neu zu verhandeln. Das Leben müsse auf Gemeinschaftlichkeit, nicht auf Konkurrenz, sondern Solidarität ausgerichtet werden. Damit einher ginge, dass freie selbstbestimmte Zeit für sich selbst und andere eine Grundvoraussetzung gesellschaftlichen Lebens sein müsse. Wie jedoch können Schritte in eine solche solidarische (und mußeaffine) Gesellschaft unternommen werden? Welche Rolle dem technologischen Wandel oder alternativen Wirtschaftsmodellen wie etwa dem bedingungslosen Grundeinkommen in Bezug auf die Ausweitung von Mußechancen zukommt, wurde im Sonderforschungsbereich kontrovers und kritisch diskutiert. Lässt sich eine subsistenzsichernde Basis für alle Bürger*innen schaffen, um einem ‚Recht auf Muße‘ näherzukommen? Könnten wir von harter, ausbeuterischer Arbeit erlöst werden, wie es bereits Karl Marx zum Wohle der menschlichen Emanzipation vorschwebte? In der Einleitung des Bandes Muße und Gesellschaft verweisen Gregor Dobler und Peter Philipp Riedl darauf, dass etwa beim Stichwort ‚Industrie 4.0‘ die Prognosen und Prophezeiungen schwanken würden „zwischen den extremen Polen der Dystopie eines Endes der Arbeit, verbunden mit schwersten sozialen Verwerfungen, einerseits bis zur Utopie einer von mühseligen Lasten befreiten Welt, in der das Ideal einer Work-Life-Balance ihre Erfüllung finden könnte, andererseits“ (Dobler/Riedl 2017: 5). Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass – worauf Gregor Dobler und Peter Philipp Riedl ebenfalls hinweisen – eine Auseinandersetzung mit Muße auf eine Grundspannung zwischen den Ansprüchen, die eine Gesellschaft formuliert, und dem Freiraum, der sich Einzelnen bietet, hindeutet; zudem wird deutlich, dass Muße zwischen gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen und einer persönlichen Ungebundenheit verhandelt wird (Dobler/Riedl 2017: 5). Muße besitzt in diesem Sinne gesellschaftliche Sprengkraft. Bleibt sie ein Sehnsuchtsort für emanzipatorische Selbstentfaltung oder kann Muße eine Wertedebatte anstoßen, wie wir gemeinschaftlich Arbeit, Fürsorge-Tätigkeiten sowie freie selbstbestimmte Zeit in ein befriedigendes Verhältnis setzen können? Zusehends wichtiger wird dabei, Geschlecht nicht mehr als eine strikte binäre Ordnung, sondern vielmehr als ein Kontinuum zu begreifen und damit die Geschlechterdiversität in den Blick zu nehmen (Baltes-Löhr 2018: 1–32). Je nach Kontext, Alter oder Lebenssituation erfahren wir Geschlecht und die damit verbundenen Rollenvorstellungen als sich verändernde Kategorien. Geschlecht als Kontinuum anzuerkennen, verfolgt ein Verständnis, das die strikte binäre Ordnung zwischen männlich und weiblich infragestellt. Ebenso wie die durch Muße auf-



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geworfenen Wertedebatten weitere soziale Differenzierungen nach Schichtzugehörigkeit, Ethnie und Status kritisch zu betrachten helfen. Muße ist somit ein politisches Thema, in dem grundlegende Fragen von Gesellschaft immer wieder neu verhandelt werden. In dem Zusammenhang ist ein wichtiger Schritt, sich der Privilegienstruktur von Muße bewusst zu werden, ein weiterer, sich diesem Mußemonopol zu widersetzen und die Bedingungen, unter denen Muße zum Menschenrecht erklärt werden kann, kritisch zu reflektieren. In diesem Beitrag konnten hierfür nur Fragen entlang hierfür ausgewählter Mußediskurse entwickelt werden. Der Blick über den Tellerrand westlicher Gesellschaften darf dabei jedoch nicht ausbleiben. Die Vergeschlechtlichung von Muße kritisch zu befragen, verhilft auf jeden Fall dazu, den Blick über stereotype Beschreibungen hinweg zu weiten.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth/Gimmel, Jochen/Rapp, Konstantin (Hg.) (2021), Verordnete Arbeit – Gelenkte Freizeit. Muße in der Sowjetkultur (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 23), Tübingen. Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Nandi, Miriam (2016), „Idle Poor and Lazy Natives? – (Re-)Writing Stereotypes about the Global Poor“, in: Barbara Schmidt-Haberkamp/Verena Jain-Warden (Hg.), Representing Poverty in the Anglophone Postcolonial World, Göttingen/Bonn, 129–144.

Gesellschaft Gregor Dobler Muße ist auf doppelte Weise mit Gesellschaft verbunden – womit hier zunächst ganz allgemein die Tatsache bezeichnet sei, dass wir in einem regelhaften und uns habituell eingeschriebenen sozialen Zusammenhang mit anderen Menschen stehen. Erstens ist Muße, so wie jedes andere Element sozialen Handelns auch, gesellschaftlich bestimmt. Da Menschen nur in Gesellschaft existieren, ist auch ihr Erleben und Tun stets gesellschaftlich. Die konkreten Bedingungen einer Gesellschaft und ihre Sinngebungen prägen die individuelle ↗ Erfahrung von Muße ebenso wie ihre gesellschaftlichen Konsequenzen. Sie bestimmen darüber mit, wer in welchem Moment welche Muße haben darf und soll, mit welchen Inhalten sie gefüllt werden sollte und wie sie sich von anderen, oft weniger positiv beurteilten Praktiken abgrenzen lässt. Umgekehrt haben Mußepraktiken Konsequenzen für die Gesellschaft; sie wirken an der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen mit oder bergen den Keim ihrer Veränderung in sich. Muße ist jedoch zweitens noch auf spezifischere Weise mit Gesellschaft verbunden. Die Idee, bestimmte Erfahrungen als Muße zu klassifizieren, verdankt ihre Entstehung der Tatsache, dass das Leben in Gesellschaft Anforderungen an uns stellt, denen gerecht zu werden nicht immer einfach ist. Wir empfinden Muße deshalb als eine besondere Erfahrung, weil sie uns auf Zeit von der Geltung (oder zumindest von der Dringlichkeit) mancher Anforderungen der Gesellschaft befreit (↗ Freiheit). Da eine solche Befreiung konstitutiv zur Erfahrung von Muße gehört, ist auch das Verhältnis zwischen dem erlebenden Menschen und den gesellschaftlichen Bestimmungen, denen er unterworfen ist, in Muße thematisch präsent. Die Spannung zwischen individuellem Freiraum einerseits und den Anforderungen andererseits, die das Leben in einer arbeitsund aufgabenteiligen Gesellschaft mit sich bringt, ist der Muße eingeschrieben. Deshalb gehört es auch zum grundlegend gesellschaftlichen Charakter von Muße, dass einzelne Menschen sie meist gerade nicht als gesellschaftlich bedingt wahrnehmen, sondern als höchst individuellen Freiraum – als etwas, das eher die Behauptung ihrer Person gegen Anforderungen von außen ermöglicht, als selbst durch solche Anforderungen geformt zu sein. Damit gerät für einzelne Menschen leicht aus dem Blick, wie sehr ihre individuelle Muße gesellschaftlich geprägt ist.



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Muße ist mit gesellschaftlichen Rollen verbunden Diese gesellschaftliche Prägung beginnt schon bei der Konstitution der ↗ Erfahrung von Muße. Wir lernen in der Praxis gesellschaftlichen Handelns, was Muße ist, welche Rahmungen und Inhalte ihr angemessen sind und in welchen Situationen wir sie suchen sollen und dürfen. Dazu gehören die Körpertechniken, die mit ihr verknüpft sind (seien es Meditationsübungen, Spaziergänge oder einfach Ruhemomente auf einem Sofa) ebenso wie die Fähigkeit, solche Körpertechniken mit bestimmten Erfahrungen zu verbinden (↗ Leiblichkeit). So wie wir habituell wissen, was Arbeitsstress, Leistungssport oder Konzertbesuche sind und über das Repertoire verfügen, sie von anderen Aktivitäten zu unterscheiden, so wissen wir auch, was Muße ist, und haben gelernt, sie als besondere Art des Verhältnisses zur Welt zu erkennen. Deshalb folgt es gesellschaftlichen Regelmäßigkeiten, was wir als Muße empfinden, mit welchen Aktivitäten wir sie füllen und wie wir sie von anderen Erfahrungen abgrenzen. Für die Abgrenzung von anderen Aktivitäten werden dann auch explizite, diskursiv verfügbare gesellschaftliche Urteile wichtiger. Nicht jede Gesellschaft hat ein explizites Konzept von Muße. Überall aber, wo Konzepte der Muße existieren, umgeben sie die Freiheit der Muße mit zahlreichen Festlegungen und Einschränkungen. Der positiv bewertete Begriff der Muße wird durch die Zuschreibung bestimmter Inhalte von negativ bewerteten Nachbarphänomenen abgegrenzt, etwa von Trägheit, Langeweile oder Antriebslosigkeit (Fludernik/ Nandi 2014a; Hasebrink/Riedl 2014b; Nandi 2021; Masurczak 2017; ↗ MußeSemantiken). Er wird bestimmten Gruppen zu- und anderen abgesprochen (Freien und Sklaven, Männern und Frauen, Europäer*innen und Afrikaner*innen …) und auf bestimmte Handlungsfelder beschränkt. Auch diejenigen, die Muße haben dürfen, sollen sie meist nur in bestimmten Situationen und Lebensbereichen praktizieren. Überall ist die Zuschreibung von Muße also an gesellschaftliche Rollen und Rollenerwartungen geknüpft und hat für diese Konsequenzen. Deutlich erkennbar wird das in Diskussionen zwischen unterschiedlichen Menschen und Gruppen darüber, wer Muße haben dürfe und was gute Muße sei. Soll wahre Muße mit Kontemplation verbunden sein, mit geistiger Tätigkeit, mit Kreativität? Ist ein Museumsbesuch mußevoller oder eine Stunde mit einem Computerspiel? Dürfen Arbeitslose Muße haben? Muss im gemeinsamen Haushalt zuerst die Hausarbeit erledigt sein, bevor der Mitbewohnerin oder dem Mitbewohner Muße zugestanden wird? All das sind alltägliche Fragen, die zeigen, wie stark Muße in Vorstellungen von Rollen und den ihnen adäquaten Verhaltensweisen verstrickt ist. Solche Rollenerwartungen bleiben nicht rein äußerlich. Menschen integrieren sie in ihr Selbstbild, internalisieren sie zumindest in Teilen und beziehen sich in ihrem Handeln und Erleben auf sie. Nicht allein die mit Muße verknüpften

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Körpertechniken, sondern auch explizite Urteile über sie können deshalb zu einem Element habitualisierter gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen werden (Beispiele etwa bei Cheauré 2017c; Riedl 2011). Aus der Binnensicht ist dabei nicht leicht zu erkennen, wie stark Muße in ihren Formen, ihren Inhalten, ihrer Verteilung auf unterschiedliche Gruppen und ihren Konsequenzen gesellschaftlich geformt ist. Muße erscheint den Müßigen oft als individueller Ausdruck von Freiheit, also als ein Raum, der gerade nicht gesellschaftlich determiniert ist – aber wie jede Erfahrung von Freiheit ist auch die Erfahrung von Muße in ihren Grundzügen gesellschaftlich erlernt und geformt. Besonders gut greifbar sind gesellschaftliche Urteile über Muße dort, wo soziale Rollen sich geradezu durch ihr Verhältnis zur Muße charakterisieren lassen. Der (männliche) Dichter des europäischen späten 18. und 19. Jahrhunderts sollte gewiss fleißig schreiben, aber ihm wurde dafür Muße als notwendige Voraussetzung des schöpferischen Prozesses zugeordnet (Martin 2014; Riedl 2021a). Zu reisen, durch eine Stadt zu flanieren oder auf dem Land spazieren zu gehen, gehörten ebenso zu seiner Rolle wie müßig im Café zu sitzen (u. a. Feitscher 2018; Riedl 2021a; 2011; Sennefelder 2018; Waßmer 2022; ↗ Flanerie; ↗ Reisen). Andere Berufe oder gesellschaftliche Gruppen sind im Gegenteil durch die Abwesenheit von Muße charakterisiert – heute etwa Politiker*innen, Manager*innen oder prekär beschäftigte Paketbot*innen. Solche Zuordnungen sind immer gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterworfen; während Wissenschaftler*innen noch vor nicht allzu langer Zeit schöpferische Muße beanspruchen durften, gehört das Arbeiten „in Einsamkeit und Freiheit“ heute zwar typischerweise noch zu ihrem Selbstbild, nur mehr selten aber zu ihrer Alltagserfahrung (Kirchner/Gimmel/Mangelsdorf 2020; Lenger 2017; ↗ Wissenschaft).

Muße schafft Möglichkeiten, aus der Rolle zu fallen Die Erfahrung von Muße wird also in einer konkreten Gesellschaft erlernt, und die Verfügung über Muße, der Anspruch auf Muße und die Suche nach Muße sind Elemente gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen. Doch diese gesellschaftliche Rahmung von Mußeerfahrungen ist nur die eine Seite des Verhältnisses von Muße und Gesellschaft. Würde sich die Funktion von Muße darin erschöpfen, Rollen zu stützen und die ungleiche Verteilung von Freiheitschancen in der Gesellschaft zu bestätigen, wäre die Untersuchung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung schnell erledigt: Muße wäre eine Ressource wie jede andere und würde gesellschaftlichen Rollen gegenüber allein affirmativ wirken. Das Verhältnis von Muße und Gesellschaft wird dadurch sehr viel komplexer, dass Muße sich nicht in der Affirmation erschöpft. Sie entwickelt ein erstaunliches Potential, auch ihren gesellschaftlichen Rahmungen gegenüber transgressiv



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zu wirken. Das liegt im spezifischen Erfahrungscharakter der Muße begründet. In Muße erfahren sich Menschen als von konsekutiver Zeit und damit von Leistungsansprüchen entlastet, in räumliche Freiheit gestellt und generell abgesetzt von den Rollen und Erwartungen, die ihren übrigen Alltag bestimmen. Die ↗ Freiheit und Offenheit der ↗ Erfahrung von Muße schaffen auch die Möglichkeit, sie für andere Tätigkeiten, Erfahrungen und Gedanken zu nutzen, als jener Rolle angemessen wäre, aufgrund derer Muße gesellschaftlich gerechtfertigt erscheint. Diese Möglichkeit lässt sich auch durch die stärksten normativen Rahmungen nicht verhindern. In diesem Sinne ist Muße ein liminoides Phänomen im Sinne Victor Turners (1974): ein Moment, in dem die temporäre Außerkraftsetzung gesellschaftlicher Normen gesellschaftlich vorgesehen ist. In Muße können Menschen also auf Zeit aus der Rolle fallen. Das ist umso wichtiger, als es Konsequenzen auch für die Zeit nach der Muße haben kann. Menschen beziehen sich in Muße auf Zeit anders auf die Welt und auf sich selbst, als sie es aus ihrem sonstigen Alltag gewöhnt sind. Das führt eine erfahrungsbasierte Differenz zwischen dem freieren Sein in Muße und den gewohnten Bestimmungen durch die Rollen des Alltags ein und ermöglicht es Menschen, die Kontingenz solcher Rollenerwartungen zu erfahren. Durch Muße können Menschen einen neuen Standpunkt gewinnen, von dem aus sie ihren Alltag betrachten können: Muße ermöglicht Kritik.

Muße als Ressource der Veränderung Kritische Reflexion auf den Alltag muss dabei keinesfalls in der Muße selbst stattfinden. Oft ist es gerade die nach der Muße empfundene Differenz, die eine kritische Distanz schafft und Reflexion anstößt. Damit wirkt Muße über den Moment hinaus und kann Prozesse der Veränderung auslösen, die weit in den mußefernen Alltag hineinwirken. Solche Prozesse können dann auch die Geltung jener Rahmungen in Frage stellen, die für die Erfahrung von Muße konstitutive Voraussetzung waren. Die Erfahrung von Muße kann transgressiv gegenüber ihren Bestimmungen wirken. Die Möglichkeit solcher Transgressionen sorgt dafür, dass Muße, so sehr sie auch diskursiv gerahmt und mit vorgegebenen Rollen verbunden ist, nicht vollständig in der Affirmation aufgeht. Muße, so wenig sie sich auch einplanen, verwalten und zuteilen lässt, ist deshalb eine wichtige Ressource für die Reflexion, Erneuerung und Veränderung von Gesellschaft. Sie kann eine kritische Distanz zum Alltag ermöglichen und die Erinnerung daran wachhalten, dass im Alltag nicht alle Möglichkeiten schon verwirklicht sind, die Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes haben. In den Untersuchungen des Sonderforschungsbereichs zeigte sich das in sehr unterschiedlichen Feldern  – etwa in Geschlechterdiskursen des russischen 19. Jahrhunderts (Cheauré 2017c), in bäuerlichem Leben

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in Frankreich heute (Büdel 2021) oder im Klinikalltag von Assistenzärzt*innen (Aeschbach/Fendel/Schmidt/Göritz 2021). Die in Muße angelegte Möglichkeit der Kritik macht ihre gesellschaftliche Rahmung umso stärker und folgenreicher. Wenn Spielräume der Muße ungleich verteilt sind, werden damit auch Möglichkeiten der Kritik und der kreativen Veränderung ungleich verteilt. Die Verteilung von Muße entscheidet so auch darüber mit, wer eigenständige Kritik entwickeln und gesellschaftlich relevant formulieren kann. Weil Muße eine wichtige gesellschaftliche Ressource ist, wird auch die Verteilung von Chancen auf Muße zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema (Dobler/Riedl 2017a: 1–8).

Ungleiche Verteilung von Mußechancen Unsere Forschungen haben in den unterschiedlichsten Zeiten und Regionen immer wieder konstatiert, dass die größten Spielräume für Muße jenen zugesprochen werden, die sowieso schon im Zentrum der herrschenden gesellschaftlichen Konsensbildung stehen (etwa Dobler/Riedl 2017a; Eder/Manuwald/Schmidt 2021a; Eickhoff 2021c; Fest 2021; Hubert/Grebe/Russo 2020). Wie andere ungleich verteilte Ressourcen auch dient Muße deshalb trotz aller grundsätzlichen Transgressivität häufig eher der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse als ihrer Veränderung. Anders als andere Ressourcen jedoch enthält die Erfahrung von Muße stets die Möglichkeit in sich, ihre eigenen Bestimmungsgründe zu überschreiten. Heute ist die eigenständige Verfügung des Einzelnen über seine ↗ Zeit und damit die Möglichkeit von Muße als gesellschaftliches Thema so aktuell wie schon lange nicht mehr. Die Folgen, die die unterschiedlichsten Spielarten kapitalistisch organisierter Produktivitäts- und Effizienzsteigerung für das Glück und die Gesundheit der Einzelnen wie für die ökologische Überlebensfähigkeit der Menschheit haben, werden immer stärker auch unter Bezug auf Freiräume der Muße diskutiert. Vielen Menschen, die das Gefühl haben, im Alltag zu stark von Produktivitätsanforderungen bestimmt zu sein, erscheint die Freiheit der Muße als ein Gegenmittel gegen diese starke gesellschaftliche Determinierung. Daran knüpfen neue Praktiken des Mußesuchens und neue Debatten über Muße und Gesellschaft an (z. B. Priddat 2019; Rosa 2016; 2014; Schnabel 2010). Wissenschaftliche Grundlagenforschung kann solche Debatten naturgemäß nicht lösen. Doch zumindest ein klares Ergebnis, das zu ihnen beitragen kann, haben die Forschungen des Freiburger Sonderforschungsbereichs gebracht: Tragfähige Lösungen für ungleiche gesellschaftliche Verteilung lassen sich auch im Bereich der Muße nicht auf rein individueller Ebene finden. Die durch Produktivitätsstress verursachten Probleme schafft man nicht aus der Welt,



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indem man die Resilienz von Individuen stärkt und ihre individuellen Fähigkeiten schult, Freiräume der Muße zu finden. Sie lassen sich nur vermindern, wenn wir die gesellschaftlichen Spielräume für Muße und ↗ (Un-)Produktivität neu verteilen. Dazu braucht es eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Rolle, die Produktivität für die Gesellschaft spielen soll, und den Preis, den wir für sie zu zahlen bereit sind – und darüber, worauf wir verzichten müssten, um Freiheitsräume der Muße zu stärken (↗ Verzicht).

Umverteilung und Veränderung von Mußechancen Eine solche Diskussion wird in vielen Feldern bereits geführt. Zeitpolitisch wird die Verteilung von Arbeit über den Lebenslauf ebenso diskutiert wie die Dauer bzw. Organisation der wöchentlichen Arbeitszeit (↗ Zeit); arbeitsorganisatorisch spielen Fragen der Kontrolle, Überwachung und der Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Arbeit und der eigenen ↗ Freizeit eine große Rolle (Wilke/Dobler/ Tauschek/Vollstädt 2021). Keine dieser Fragen lässt sich ohne Bezug auf die Aufgabenteilung zwischen Erwerbs- und Reproduktionsarbeit, auf die Wertungen unterschiedlicher Aufgaben und auf Geschlechterverhältnisse diskutieren. Mit ihnen gelangt auch die grundsätzliche Frage in den Blick, ob Entlohnung und gesellschaftliche Teilhabe weiterhin an Arbeitseinkommen und Beschäftigungsverhältnisse geknüpft bleiben sollen. Ideen eines generellen Grundeinkommens oder anderer nicht mehr auf Erwerbsarbeit allein beruhender Transfersysteme werden hier prominenter. Solche neuen Formen gesellschaftlicher Umverteilung würden auch Spielräume für Muße verändern und die gesellschaftliche Kontrolle über sie lockern (etwa im Vergleich zum Sanktionsregime des deutschen Arbeitslosengelds II). Letztlich jedoch hat keine der in diesem Bereich diskutierten Ideen eine überzeugende Antwort darauf gefunden, wie sich Produktivitätsansprüche und Mußeräume global neu verteilen lassen. Hier ist auch der Sonderforschungsbereich Muße immer wieder an seine Grenzen gekommen. Wir sind überzeugt davon – und haben das in den relativ wenigen Teilprojekten zu nichteuropäischen Gesellschaften auch bestätigt gefunden –, dass mit Muße ein anthropologisches, global relevantes Thema angesprochen ist, das sich jenseits eurozentrischer Festlegungen auf bestimmte Formen und Inhalte diskutieren lässt. In der heutigen globalen Arbeitsteilung jedoch artikuliert sich dieses Thema für verschiedene Regionen und für unterschiedliche Gruppen radikal unterschiedlich. Während die einen über die Omnipräsenz von Arbeitsstress klagen, fehlt anderen jede Möglichkeit, durch bezahlte Arbeit gesellschaftliche Teilhabe zu finden; während in Technologiefirmen des Nordens Arbeitsräume zu Kreativlounges umgestaltet werden, verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen derjenigen, die die dafür nötige Hardware herstellen, zusehends.

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Angesichts solcher Folgen globaler Arbeitsteilung gerät jeder Versuch, die Verteilung von Muße im nationalen Rahmen zu diskutieren, in Gefahr, neue Abgrenzungen zu schaffen und Muße erneut zu einem exklusiven Gut zu machen. Auch darin zeigt sich, wie sehr Muße und Gesellschaft verknüpft sind. Der wissenschaftliche Fokus auf Muße ist ein hervorragendes Analyseinstrument für gesellschaftliche Ungleichheiten, und die Erfahrung von Muße ist ein unverzichtbarer Ansatzpunkt zu ihrer Kritik von innen heraus. Letztlich aber folgen die Spielräume für Muße lokal wie global der Struktur der Gesellschaft. Lösungen für jene Probleme, zu deren Symptomen das Fehlen von Muße gehört, lassen sich nicht durch die Veränderung von Muße finden, sondern alleine durch die Veränderung von Gesellschaft.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth (2017c), Muße-Diskurse. Russland im 18. und 19. Jahrhundert (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 4), Tübingen. Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Wilke, Inga/Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Vollstädt, Michael (Hg.) (2021), Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen.

Immersion Anne Holzmüller Unter Immersion wird eine spezifische Erlebnisqualität verstanden, sehr allgemein das Erlebnis des Eintauchens (lat. immergere: ein-, untertauchen, versenken) in eine Umgebung, ein Medium, einen ästhetischen Kontext oder ein Objekt. Aus der Perspektive von Muße wird Immersion insofern interessant, als einerseits soziale Muße- und Immersionskontexte eine gewisse Nähe aufzeigen, andererseits Muße und Immersion auch auf der Erfahrungsebene Überschneidungen aufweisen, so dass sich für die Arbeit im Sonderforschungsbereich die Frage nach der Spezifizierung dieser Ähnlichkeiten gestellt hat. Anders als der Begriff der Muße, der neben einem spezifischen phänomenologischen Gepräge als ↗ Erfahrung auch ein historisch gewachsenes Konzept beschreibt, das seit der Antike mit wandelnden Semantisierungen und gesellschaftlichen Funktionen belegt wurde (↗ Muße-Semantiken) und das mit starken Bewertungen einhergeht, ist Immersion ein vergleichsweise junger Begriff, der zunächst aus der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Virtual-Reality-Kontexten in den geistes- und kunstwissenschaftlichen Diskurs eingebracht wurde (Lanier/Biocca 1992; Murray 1997) und dort in erster Linie ein spezifisches Erleben im Kontext neuer Medientechniken und ‑technologien beschreibt. Das bedeutet weder, dass sich Immersion allein in Abhängigkeit von neuen Medientechnologien einstellt, noch dass sie sich als ‚reines Erleben‘ jenseits von gesellschaftlichen Bewertungszusammenhängen oder diskursiven Interpretationsmustern beschreiben ließe. Für Immersion gilt ebenso wie auch für Muße, dass sich Erleben nur bereits eingelassen in kulturelle und individuelle Bedeutungszusammenhänge sowie in diskursiv verfasste Kategorien überhaupt erfassen und analysieren lässt (siehe hierzu die Differenzierung von Erleben, Erlebnis und ↗ Erfahrung nach Alfred Schütz). Es folgt daraus aber, dass die Begriffe Muße und Immersion zumindest teilweise auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln sind. Die zentralen Berührungs- bzw. Überschneidungspunkte, anhand derer sich das Verhältnis von Immersion und Muße bestimmen lässt, liegen (I) zum einen in der situativen und sozialen Rahmung des Erlebens, (II) zum anderen auf der Ebene der Erlebnisstruktur selbst. Beide Ebenen lassen sich nicht völlig voneinander trennen und können sich wechselseitig bedingen. (I) Der soziale Rahmen für Immersionserlebnisse ist nicht zwingend, aber häufig vergleichbar mit Situationen, die gesellschaftlich auch als typische Muße-

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situationen kodiert werden und die als freie Zeit oder ↗ Freizeit und durch die ↗ Freiheit von Zwängen der Produktivität (↗ [Un-]Produktivität) gekennzeichnet sind: im heimischen Wohn- oder Jugendzimmer, auf ↗ Reisen oder in Kunstund Kulturstätten wie Konzertsaal, ↗ Museum oder Kino. Umgekehrt können Immersionszusammenhänge als Schwellenphänomen zur Muße in manchen Fällen den Einstieg in die Bedingungen für Muße erleichtern und fungieren so ihrerseits als eine Art Rahmen für eine Mußeerfahrung. Vordergründig mögen die gesellschaftlichen Wertigkeiten beider Erlebnisqualitäten zwar insofern konträr erscheinen, als Muße überwiegend als wertvoll verbrachte Zeit aufgefasst wird, die mit Ruhe, ernsthafter Anschauung, Einsicht und sogar Erkenntnis assoziiert wird, während der Begriff der Immersion heute häufig mit dem Makel oberflächlicher Unterhaltungskultur und Eskapismus behaftet ist; sobald man diese Zuschreibungsebene aber zugunsten einer phänomenologischen Betrachtung verlässt, fällt auf, dass immersive Angebote häufig in Situationen wirksam oder sogar gezielt implementiert werden, die als regelrechte Mußeorte, als Rückzugs- oder Alternativräume (↗ Rückzug) zur Alltagserfahrung fungieren sollen. Als immersiv lässt sich der Eintritt in die sinnlich umfassend andere Sphäre wie die des Waldes oder eines Sakralgebäudes verstehen, oder aber – buchstäblich – das Eintauchen ins Wasser in Thermalbädern. Solche als Mußeorte kodierte Räume scheinen also eine gewisse Tendenz zu immersiven Einstiegsangeboten aufzuweisen, um die Grenze zum Alltag zu markieren und unmittelbar erfahrbar werden zu lassen (↗ Raumzeitlichkeit; ↗ Natur). (II) Die Komponenten des Erlebens in Muße (↗ Erfahrung) berühren oder überschneiden sich zu gewissen Teilen mit der Erlebnisstruktur von Immersion, teilweise unterscheiden sie sich auch deutlich oder scheinen sich gar zu widersprechen. Hierfür soll zunächst ein kurzer Überblick über die phänomenologische Struktur von Immersion gegeben werden, wie sie der Arbeit im Sonderforschungsbereich als Grundlage gedient hat. Auch wenn jegliche Definitionsversuche des Immersionserlebnisses und eine Analyse von Erlebniskomponenten ebenso Vorsicht gebieten und, wie auch im Fall der ↗ Erfahrung von Muße, eine grundsätzliche Differenz zwischen Erlebnis und Diskursivierung stets miteingerechnet werden muss, so ist die heuristische Eingrenzung eines phänomenologischen Kerns von Immersion dennoch unerlässlich für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr. Begriffsprobleme in der Forschungsliteratur rühren häufig daher, dass Unklarheit darüber herrscht, ob und inwieweit sich Immersion von bestimmten Objekt- oder Medieneigenschaften ableiten lässt, oder ob sie vielmehr ein rein psychologisches Phänomen beschreibt. Aus der Tatsache, dass der Begriff häufig aus dem Phänomen des Eintauchens in virtuelle Medienkontexte hergeleitet wird, erwächst die Tendenz, Immersionserleben gleichzusetzen mit dem Grad an Realismus und Illusion, den das jeweilige Medium digital zu generieren vermag, und es werden entsprechend immersivere von weniger immersiven



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Medien unterschieden. In der Folge wird Immersionserleben auch jenseits digitaler Medientechnologien an bestimmte Medien- oder Objektqualitäten geknüpft, wie es beispielsweise bei Oliver Grau geschieht, der u. a. Panoramen des 18. und 19. Jahrhunderts als Vorgänger digitaler immersiver Medien identifiziert, insofern die Abdeckung der 360-Grad-Raumtotale, Lebensgröße und ihr abbildender Realismus zur Voraussetzung für immersiver Bildmedien gemacht werden (Grau 2001). In solchen Fällen kann man von einem ‚technikdeterministischen‘ (Hochscherf/Kjär/Kruse 2011: 14) oder ‚apparativen‘ (Curtis 2015: 90 ff.) Immersionskonzept sprechen. Vollkommene Immersion bedeutet nach diesem Modell die perfekte Illusion bzw. das vollständige Verschwinden der medialen oder ästhetischen Rahmung für die Wahrnehmung (von einem „Verschwinden des Computers“ sprechen bereits Lanier/Bocca 1992: 166). Eine eher psychologisch ausgerichtete Perspektive hingegen versteht Immersion als ein Ergebnis von mal mehr, mal weniger von außen angeregter Aufmerksamkeitslenkung („shift of attention“, Thon 2008: 18). Rezeptionsästhetische Ansätze setzen dem Illusionscharakter des Objektes außerdem die Imaginationsleistung des Subjektes entgegen, das sich auch selbst-aktiv und mit stark reduziertem oder abstrahiertem Reizangebot ganz gezielt in ästhetische Kontexte oder Objekte immersiv versenken oder ‚einfühlen‘ kann (Curtis 2015; 2008; Holzmüller 2020a: 7 ff.). Unabhängig davon, ob man die objektinduzierten oder die selbst-aktiven Anteile beim Zustandekommen stärker bewertet, lässt sich Immersion phänomenologisch reduziert beschreiben als eine erlebte Relation zwischen Subjekt und Objekt, von der ein transformatives Moment ausgeht: das Erlebnis, ganz im Medium – im Klang, im Bild, in Farbe oder Form, in der Erzählung etc. – zu sein und dieses als alternativen Erfahrungsraum, als „otherness“ (Griffith 2008: 3), wahrzunehmen. Noch deutlich umfassender wird jenes grenzüberschreitende Potential der Immersion von Jaron Lanier in seinen 52 Definitionen der Virtual Reality erläutert, etwa in der 50. Definition: „A hint of the experience of life without all the limitations that have always defined personhood.“ (Lanier 2017: 297) Auch wenn diese Art des Erlebens eine klar zu ziehende Grenze zwischen einem erlebenden Subjekt und einem erlebten Objekt vorauszusetzen scheint, so werden Grenzen in der Immersion thematisiert und erfahren, aber nicht in einem ontologischen Sinne verhandelt oder vorausgesetzt. Vielmehr hängt es primär von der diskursiven Rahmung des Erlebens ab, ob ein Immersionserlebnis klare Grenzen eher affirmiert und stabilisiert – wie beispielsweise im Fall von Transportationserfahrungen in abgeschlossene virtuelle Realitäten oder musikalische Gegenwelterfahrungen, wo das Übertreten der stark markierten Grenze zwischen Kunst und Lebenswelt im Zentrum des Erlebens steht (Holzmüller 2018) –, oder ob es diese Grenzen zur Disposition stellt oder destabilisiert – wie im Fall von klassischer Performancekunst und Happenings der 1960er-Jahre,

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die den fließenden Übergang oder gar die Identität von Kunst und Alltagswelt erfahrbar werden lassen. Die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt können im Immersionserleben auch so fluide werden, beispielsweise durch starke Reduktion oder Abstraktion der Anschauungsgegenstände, dass es keinen Objektbezug mehr zu geben scheint und der als otherness erlebte Immersionsraum eins wird mit dem eigenen Vorstellungsraum (Curtis 2015). Das Verhältnis von Immersion und Muße-Erleben lässt sich entlang von vier Aspekten analytisch in den Blick nehmen: (1) der transformierten Erfahrung von ↗ Raumzeitlichkeit (2) der konstruktiven Rolle verschiedener Formen von ↗ Freiheit, (3) den Potenzialen für Reflexion, Kritik und schließlich (4) den erlebnisgeschichtlichen Schnittmengen mit dem Begriff der ↗ Kontemplation. (1) Die ↗ Erfahrung von Muße lässt sich u. a. als veränderter Bezug zur ↗ Raumzeitlichkeit verstehen. Intentional gestaltete und diskursiv gerahmte Mußeräume wie Parks, Wald, Badeanstalten oder Sakralräume können konkrete Angebote für eine alternative Raumerfahrung machen. Eine ‚Verräumlichung‘ der Wahrnehmung geht aber auch mit der Zeiterfahrung in der Muße insofern einher, als die zeitliche Linearität im Sinne eines festgelegten, ziel- und zweckorientierten Nacheinanders zurücktreten kann zugunsten einer offenen ‚verräumlichten‘ Zeitstruktur, in der sich der Zeitverlauf unabhängig von Aufforderungscharakter und Verpflichtungen als Möglichkeitsraum präsentiert (Figal 2014a). Auch für die Erlebnisstruktur der Immersion ist ein transformiertes RaumZeit-Erleben elementar. Von außen kommende Angebote für alternative Raum- und Zeit-Erfahrung sorgen wie oben erwähnt für die vielleicht konkretesten Überschneidungen von Muße- und Immersionsräumen. Das in der Mußeerfahrung notwendigerweise erfolgende Zurücktreten der konkreten, objekthaft-vorstrukturierten raumzeitlichen Angebote zugunsten einer Offenheit des Raumzeit-Erlebens bleibt in der Immersion jedoch häufig aus, stattdessen bleibt die Aufmerksamkeit eher auf das Objekt und seine spezifische Raum- oder Zeithaftigkeit gerichtet. Besonders deutlich wird dies am Beispiel zeitlicher Abläufe: Auch in der Immersion wird die Zeiterfahrung des Alltags suspendiert; häufig wird sie jedoch nicht zu einer verräumlichten Offenheit hin transformiert, sondern durch das neue mehr oder weniger lineare Nacheinander einer ästhetischen Eigenzeit des jeweiligen Objektes ersetzt, sei es durch die vorstrukturierten Zeitabläufe in musikalischen Werken oder im Film, durch narrative Zeitstrukturen in Literatur (Ryan 2015) oder durch die Zeitabläufe von interaktiv gestalteten Handlungsvorgaben und Storytelling im Videogame. In solchen wird die Aufmerksamkeit stärker durch die den Medien und Objekten eingeschriebenen eigenen Zeitstrukturen geführt und gelenkt. Dies ist v. a. der Fall in immersiven Kontexten, die zu objektbasierten Wahrnehmungsangeboten tendieren. (2) Bereits hier zeigt sich, dass die wesentliche Differenz, die sich im unterschiedlich transformierten raumzeitlichen Erleben in Muße und Immersion



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ausdrückt, im Moment der ↗ Freiheit liegt und in der Rolle, die ihm jeweils zukommt. Freiheit ist für Muße ein derart zentrales Moment, dass sich Mußepraktiken letztlich als „Vollzugsformen von Freiheit“ beschreiben lassen (Gimmel/ Keiling 2016: 61): „Muße entsteht aus einem Moment negativer Freiheit und führt zu einer Erfahrung positiver Freiheit hin.“ (Gimmel/Keiling 2016: 63) Die Potenzialität, die durch den Umschlag von negativer in positive Freiheit entsteht, ermöglicht erst die wesentlichen paradoxalen Bestimmungen der Muße als „bestimmte Unbestimmtheit“ oder „produktive Unproduktivität“. Das produktive Potenzial von Muße, z. B. zu neuen kreativen Prozessen durchzudringen, liegt erst darin, dass sie frei von solchen Produktionszwängen ist. In der Immersion ist dieser Umschlag von negativer in positive Freiheit zumindest fraglich. Mit der Erfahrung eines Grenzübertritts und dem Eintritt in eine alternative Raumzeitlichkeit ist zwar ein starkes Moment negativer Freiheit verbunden, doch die für Muße zentrale Potenzialität stellt sich eher weniger ein. Vielmehr scheinen viele Immersionskontexte die Möglichkeitsräume selbst mit ihren eigenen Wahrnehmungs- oder Handlungsangeboten zu füllen, so dass die Aufmerksamkeit eben nicht frei ist, sondern gelenkt wird. Offensichtlich ist dies in Immersionskontexten, die die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen durch sinnliche Überwältigung und hohe Reizintensität auf sich ziehen, durch Größe und Realismus, wie im Panorama (Grau 2001) oder dem IMAX Cinema (Curtis 2015), oder auch durch Lautstärke, Klangmasse oder räumliches Einhüllen, wie es in zahlreichen musikalischen Hörsituationen der Fall ist (Bernet 2020; Fuhrmann 2020; Holzmüller 2020a). Interessanter und fragwürdiger sind im Hinblick auf die Rolle von Freiheit solche Immersionskontexte, die stark auf die imaginäre oder gedankliche Eigenleistung von Rezipient*innen setzen, die durch ein gezielt reduziertes Reizangebot zur aktiven und selbstgesteuerten Versenkung einladen und daher von vornherein weniger lenken, niederschwellig für alternative Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sind und deshalb einen nicht vorbestimmten Möglichkeitsraum eröffnen können. Die Frage, ob Immersion eine Form von Muße sein kann oder lediglich ein Schwellenphänomen zur Muße darstellt, ist dann wesentlich an die Frage geknüpft, inwiefern Immersion aus sich heraus – und das muss in Anlehnung an den oben gesteckten Rahmen eines phänomenologischen Kerns bedeuten: aus dem Aufmerksamkeitsbezug auf ein Gegenüber heraus – Momente der positiven Freiheit hervorbringen kann. Diese Frage gilt es noch weiter zu verfolgen und zu differenzieren. (3) Aus dem Umschlag von negativer in positive Freiheit kann im Muße-­ Erleben als leiblich und kognitiv verändertem Weltbezug eine Differenzerfahrung zur Alltagswelt und zum Alltagserleben entstehen, die wiederum zu Momenten von Reflexion oder auch Kritik führen kann (↗ Erfahrung). Für Immersion ist die Frage nach Reflexion und Kritik insofern zentral, als immersives Erleben tendenziell unter den Verdacht gestellt wird, eine nur affirmative

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oder identifikatorische Haltung gegenüber den erlebten Kontexten, Werken und Gegenständen zu provozieren und Momente der kritischen Distanzierung zu tilgen. So wird häufig der Illusionscharakter immersiver Kunst einer distanziert-reflektierenden Rezeption entgegengestellt. Für Oliver Grau gerät so die für die Kunsterfahrung elementare „Distanzgeste des Rezipienten, die eine kritische Reflexion erst möglich macht“, in der immersiven Erfahrung virtueller Medienkunst in Bedrängnis, da diese alles daransetze, ihre Objekthaftigkeit und Gemachtheit vergessen zu machen (Grau 2004). Ähnlich wirft Theodor W. Adorno den Opern Richard Wagners stellvertretend für die ‚Phantasmagorie‘ in der Kunst vor, den illusionären Charakter des Kunstwerks im ‚lückenlosen Schein‘ zu verabsolutieren und so die Bedingungen ihres Produziertseins und ihre Konstruktion zu verschleiern (Adorno 2003d: 82). Die Arbeit im Sonderforschungsbereich deutet aber bereits darauf hin, dass Möglichkeiten zur Distanznahme und zur Reflexion zu einem gewissen Grad durchaus auch in der Immersion und aus Immersion heraus denkbar und möglich sind, beispielsweise durch die bereits erwähnten Möglichkeitsräume, die einen gelenkten Übergang zu positiver Freiheit und damit auch zu gedanklichem Rückbezug und zur kritischen Reflexion eröffnen. Die sogenannten Screen-Medien (vom Handbildschirm bis zur Kino- oder IMAX-Leinwand) haben im Alltag des 20. und 21. Jahrhunderts diesbezüglich zunehmend eine Schlüsselfunktion. Ein Oszillieren zwischen Zerstreuung und Konzentration, Fremdbestimmung und (Selbst-)Reflexion prägt diese medialisierten Erfahrungen der Jetztzeit. Auch hier ist die positive Freiheit nicht ausgeschlossen. Eine weitere Möglichkeit zur Reflexion durch Immersion, die im klassischen Sinne durch digitale Medientechniken erfahrbar wird, sind hybride Raumerfahrungen, bei denen durch die Simultaneität oder auch den schnellen Wechsel erlebter Raumpräsenzen ein Moment der Distanzierung und der Relativität einsetzt. Beispiele für den Weg zu kritischer Distanz durch wechselnde oder gleichzeitig präsente Immersionsräume geben so u. a. die Kompositionen des belgischen Komponisten Stefan Prins, in dessen Zyklus Piano Hero für Klavier(-e) und Videoinstallation die Live-Situation stetig durch verschiedene Alternativräume originärer Klangproduktion  – computergesteuerte Live-Elektronik, Video- und Audioaufnahmen vergangener Klangproduktionen oder wahrnehmungspsychologische Phänomene beim Publikum  – in Frage gestellt wird (Holzmüller 2021). (4) Ein begriffs- und erlebnisgeschichtlich wirksamer Berührungspunkt von Immersion und Muße deutet sich möglicherweise auch in den Begriffen der ↗ Kontemplation und der Ekstase an, auch wenn diese Verbindungen sicher noch der differenzierteren historischen Auswertung bedürfen: Historisch steht die theôria (lat. contemplatio) in der antiken aristotelischen Tradition für eine von fremdbestimmten Zweckzusammenhängen befreite ‚Schau‘ und ein Ideal ausgefüllter Zeit, in der spätantiken und mittelalterlichen Rezeption u. a. bei Au-



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gustinus leitet sich daraus die idealisierte monastische Lebensform (vita contemplativa) ab, die sich der metaphysischen Reflexion in Gebet und Schriftlektüre widmet. Wie Muße und auch Immersion steht die contemplatio in der mittelalterlichen Tradition quer zur alltäglichen Zeitstruktur und kann in der Form religiöser Ritualisierung oder auch als Kunsterleben auf die Transformation der erlebten Zeit ausgerichtet sein. Immersion steht erlebnisgeschichtlich u. a. in der historischen Tradition der Ekstasis. So werden musikalische Immersionserlebnisse, das klangräumliche Umfasst-Werden und der erlebte Eintritt in eine andere Raumzeitlichkeit, im ausgehenden 18. Jahrhundert zuerst greifbar in einer ästhetisch anverwandelten Rhetorik religiös-mystischer Ekstase bzw. in der Sprache der Quellen, der ‚Verzückung‘ durch Musik in einen Himmelsraum (Holzmüller 2020b). Ekstase und Kontemplation lassen sich in ihrer Transformation des Zeiterlebens insofern als gegensätzliche Konzepte beschreiben, als Ekstase ein transzendentes Heraustreten aus der Zeit ermöglicht, in Kontemplation und Muße hingegen die Zeit nicht derart transzendiert wird, sondern vielmehr das Verhältnis zur Zeit verändert wird (↗ Kontemplation). Auch steht die ekstatische Struktur, d. h. die Subjekt-Objekt-Grenzen transzendierende Bewegung einer Entrückung oder Versenkung in etwas, der Struktur einer kontemplativen, auf Distanz zum Gegenstand bleibenden ‚Schau‘ vermeintlich entgegen. Allerdings zeichnet sich auch ab, dass diese Grenze in einem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen, auf die sinnliche Erkenntnis Gottes gerichteten Kunstdiskurs weniger deutlich gezogen wird und dass die Begriffe Kontemplation und Ekstase als Formen göttlicher Erkenntnis und alternativer Raumzeiterfahrung jeweils auf durchaus ähnliche oder sogar austauschbare Konzepte verweisen (zur Annäherung von otium contemplandi an die sinnliche Kunstbetrachtung im Frühhumanismus s. auch Hubert 2016). So unterscheidet Johannes Tinctoris im Traktat Complexus effectuum musices (1472–1475) zwischen den Effekten der Ekstase durch Musik (Effekt Nr. 10: „Musica exstasim causat“) und dem Effekt der Entrückung und Kontemplation durch Musik (Effekt Nr. 11: „Musica terrenam mentem elevat“). Letztere, die Entrückung durch Musik (elevatio), wird näher beschrieben als contemplatio gaudiorum supernorum, also als Schau der himmlischen Freuden, ausgelöst durch die Süßigkeit (dulcedo) der Harmonie. Hier deutet sich bereits an, dass die Differenzierung zwischen Ekstase und kontemplativer Entrückung im mittelalterlichen Sinnlichkeitsdiskurs eine sehr feine ist, die Begriffe extasis, excessus mentis und elevatio – letzteres wie oben verbunden mit contemplatio – werden häufig auch synonym verwendet (Fuhrmann 2008: 27; Hammerstein 1962: 140). Eine weitere Klärung des erlebnisgeschichtlichen Zusammenhangs von Muße und Immersion in der contemplatio wäre auch insofern wünschenswert, als das produktive Potenzial von Immersion als Schwellenphänomen der Muße voraussichtlich eine gesellschaftlich immer wichtigere Rolle spielen wird. Es er-

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scheint jedenfalls nicht unrealistisch, dass mit der zunehmenden Hybridisierung des Alltags auch fluide Übergangserfahrungen wie das Oszillieren zwischen Eintauchen und Distanznahme oder der Übergang von Versenkung in ein Objekt hin zur Ruhe in sich selbst in einer technologisch angereicherten Alltagswelt an Bedeutung gewinnen werden und sich entsprechende neue Mußepraktiken ausprägen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Holzmüller, Anne (2020a), „Was ist musikalische Immersion? Theoretische und methodische Annäherungen am Beispiel von Carl Philipp Emanuel Bachs ‚Heilig‘“, in: Wolfgang Fuhrmann/Anne Holzmüller (Hg.), Zwischen Absorption und Überwältigung. Musikalische Immersion in der Diskussion (Musiktheorie 35,1), Laaber, 4–18. Holzmüller, Anne (2020b), „Seelenbewegungen. Zum historischen Verhältnis von Emotion und Immersion in der Musik“, in: Marie-Louise Herzfeld-Schild (Hg.), Musik und Emotionen. Kulturhistorische Perspektiven, Stuttgart, 23–59. Holzmüller, Anne (2018), „Konfessioneller Transfer und musikalische Immersion im späten 18. Jahrhundert“, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 101, 75–100.

Kontemplation Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch In einer Vielzahl von Traditionen wird Muße in einer engen Verbindung mit Spielarten der Kontemplation gedacht. Während dies beispielsweise für Traditionslinien zutreffend ist, die stark durch griechisch-philosophisches Gedankengut (Platon, Aristoteles) geprägt sind, findet sich gleichzeitig eine Reihe von Konzeptionen von Muße, welche diese keineswegs in einer solchen (positiven) Relation zur Kontemplation fassen und für die kontemplative Praktiken unnötig für die Konstitution von Muße sein können. Muße kann sich folglich mit Kontemplation verbinden, sie muss es aber nicht. Angesichts der immensen Wirkungsgeschichte, welche die positiven Verhältnisbestimmungen von Kontemplation und Muße entfaltet haben, werden diese im Folgenden im Fokus der Betrachtung stehen, ohne dass damit die eben angeführte Differenzierung unberücksichtigt bliebe. In Kontexten einer solchen positiven Verhältnisbestimmung zeigt sich die Verbindung zwischen Muße und Kontemplation systematisch betrachtet etwa in der Annahme, dass die von Fremdansprüchen freie Muße einen Freiraum des Rückzugs und der Ruhe im Erleben von Gegenwart biete. Hier findet Kontemplation – beispielsweise im Sinne der griechisch-philosophischen theôria oder der in der lateinischen Tradition beheimateten contemplatio  – als exponierte Praxis ihren Platz. Damit ist die Muße in diesen Zusammenhängen zunächst die Bedingung der Möglichkeit der kontemplativen Betrachtung, die auch als konstitutives Moment einer Lebensform dient (vita contemplativa). Eine Affinität und Nähe der Muße zu einer solchen kontemplativen Lebensform lässt sich paradigmatisch u. a. im (früh-)christlichen Mönchtum erkennen. Kontemplation bezeichnet zuerst eine geistige Praxis, die weitreichende Konsequenzen für die konkrete Lebensgestaltung hat. Diese zeichnet sich durch eine bewusste Verinnerlichung, eine (systematische) Konzentration auf geistige Gegenstände und (oft auch) ein Hintanstellen von materiellen Gütern (Besitzreduktion, Minimalismus) bzw. einen selbstgewählten Verzicht auf Güterakkumulation (↗ Askese, ↗ Verzicht) aus. Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche Negation der Welt, sondern um einen bewussten Umgang mit ihr durch eine metaphysische Reflexion bzw. durch ein beständiges Bedenken des Prinzips der Welt und aller Wirklichkeit. Im religiös-monotheistischen Kontext ist hiermit Gott als Schöpfer und also höchste Ursache der Welt bezeichnet. Im engeren

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Sinn fallen besonders jene Tätigkeiten unter den Begriff der Kontemplation, die v. a. im mönchischen Kontext fest etabliert, streng geregelt die Tagesstruktur bestimmen und eine unmittelbare Beschäftigung mit Gott bezeichnen (beispielsweise Gebet und Schriftlektüre). Bezüge zum transzendenten göttlichen Raum lassen sich in diesem Zusammenhang schon in der griechischen Philosophie erkennen, welche die von der Unruhe des menschlichen Handelns als endlose Sukzession befreite Schau (theôria) als diejenige Praxis fasst, durch welche Mußezeiten idealerweise ausgefüllt werden sollen; ‚verunsterblicht‘ die Schau doch etwa Aristoteles zufolge den Menschen, indem sie ihn über den Strom der Zeit erhebt und ihn mit dem Göttlichen verbindet. Als bestmögliche Praxis zur Ausfüllung des Freiraums der Muße können Muße und Kontemplation mit Aristoteles gedacht sogar gleichgesetzt werden, kann Muße im emphatischen Sinne auch selbst Kontemplation bedeuten, wenn diese als reine, entzeitlichende Erkenntnis und Innerlichkeit einzig in der Schau des höchsten Prinzips als Muße im eigentlichen, höchsten Sinn Erfüllung findet.

Klöster und andere „Räume“ der Muße Die eben skizzierten Überlegungen zum Verhältnis von Muße und Kontemplation werden u. a. im frühchristlichen Mönchtum aufgenommen. So ist das im engeren Sinn kontemplative Leben im spätantiken klösterlichen Umfeld zwar einerseits streng von Regeln und einer Kultur des Verzichts auf Materielles bestimmt. Andererseits wird gerade diese einfache und asketische Klarheit als konstitutiv für die Schaffung von Mußeräumen betrachtet, die durch eine Freiheit von der Sorge um das sonst Notwendige und den Geist Einnehmende bestimmt sind. Nicht mehr die materiellen Nöte um Arbeit, Lohn, Brot, Familie, Politik etc. nehmen den Menschen ein, sondern er kann sich weithin in sich selbst versenken, was hier nichts anderes meint als: in Gott (Kirchner 2018a: 237; Augustinus: Soliloquia). Der Rückzug in sich selbst und die Freiheit von äußeren Nöten und Belangen erklärt auch die Verbindung von Kontemplation und Muße in Bereichen des literarischen Schaffens (Feitscher 2018) und in Formen der Verräumlichung, wie sie sich in der Entwicklung des Begriffs Schule aus scholê, dem griechischen Wort für Muße, oder auch in der Entstehung von Klosterbauten abbildet. Es ist bemerkenswert, dass beispielsweise schola in monastischen Texten (Johannes Cassian, Faustus von Lérin, Caesarius von Arles etc.) v. a. zwei Bedeutungen hat: Einerseits bezeichnet sie die klösterliche Gemeinschaft, andererseits den klösterlichen Bezirk, der als solcher, u. a. aufgrund der größtmöglichen Freiheit von Störung oder Ablenkung, zum Sinnbild einer ‚verräumlichten‘ Form der Muße wird (↗ Raumzeitlichkeit). So weist die Klosterkultur auf die enge Verbindung von Muße mit Kontemplation, Gemeinschaft und Verräumlichung hin. Die Beschäftigung mit ↗ Urbanität zeigt allerdings exemplarisch, dass kontem-



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plationsorientierte Muße prinzipiell nicht ausschließlich an bestimmte (Ruhe-) Räume wie beispielsweise Parks, Gärten, Museen oder Friedhöfe gebunden ist. Dies gilt, wenngleich sie auch im Treiben der Stadt oft an solchen idealtypischen Rückzugsräumen ihren Ort findet, insofern hier Konzentration abseits einer Ablenkung durch Geschäftigkeit und Menschenmassen eher möglich ist. Der u. a. im klösterlichen Kontext geförderten kontemplativen Lebensform (vita contemplativa) wird bisweilen  – in der Gegenwart beispielsweise unter Bezugnahme auf die Überlegungen Hannah Arendts oder bestimmte mystische Traditionen – eine der Arbeit und dem gesellschaftlichen Handeln verpflichtete Lebensform (vita activa) entgegengestellt. Im Unterschied zur vita contemplativa gerät eine solche auf Aktivität angelegte Lebensform z. B. aus Sicht einer monastisch geprägten Perspektive in den Verdacht, permanent der Gefahr der Fremdbestimmung zu unterliegen, wenn die Ansprüche gesellschaftlicher Funktionen und Rollenerwartungen sowie zweckrationale Logiken und temporale Zwänge der individuellen Freiheit kaum Raum lassen. Hier konfligiert die aktive Lebensform mit der der Muße eigenen Freiheit von Zeitnot, Zwang und Zweck (↗ Freiheit). Gerade von ihrer Verbindung zur kontemplativen Lebensform her gedacht tritt das Freiheitskonzept der Muße demnach auch als Herausforderung oder Provokation der Leistungsgesellschaft hervor. Denn die Kontemplation als sich selbst genügende Betrachtung fügt sich nicht der Zwangslogik der Selbstüberbietung, solange sie nicht instrumentalisiert und als Möglichkeit der leistungsorientierten Selbstoptimierung dienstbar gemacht wird. Die Freiheit von solcher Vereinnahmung setzt eine Distanz, die eine wesentliche Nähe zu wichtigen Aspekten der Muße aufweist, wie sie im Kapitel zur ↗ Freiheit beschrieben werden. Die vita contemplativa ist allerdings nicht als strenger Gegensatz zur vita activa zu bestimmen. Vielmehr bezeichnet diese die grundsätzliche Präferenz und bewusste Aufwertung der ebenfalls niemals ganz ohne Aktivität, Notwendigkeit und Bedürfnisbefriedigung auskommenden Seite der Innerlichkeit des Menschen, die in Betrachtung und Besinnung hervortritt und doch nicht in radikaler Einseitigkeit lebbar ist. Die vita contemplativa kann daher eher als Haltung gelten (Dischner 2009: 151), die dem notwendigen Übel der Arbeit und des wirtschaftlichen Handelns keinen eigenen Wert zuspricht (Reinhard 2007: 17), wenngleich sie ihnen einen Platz einräumt. Kontemplation ist demnach eine Weise des Tuns, nicht ein permanentes Vermeiden desselben. Wie bestimmte Formen der Meditation lässt sie sich ebenfalls als eine intentionale Bewusstseinsübung begreifen (↗ Religiöse Praktiken), die den Geist und das Denken auf ein bestimmtes Ziel hin sammelt, dazu auch den Willen konzentriert und erlernte Verhaltens-, Gefühls- und Urteilsmuster dekonditioniert (Brück 2002). Das bedeutet eine Vergegenwärtigung, die man nicht als Anstrengung, sondern im geübten Zustand gerade als eine enorme Erweiterung des inneren Raumes und ein Gegenwärtigsein bezeichnen kann.

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Kontemplation (wie auch Muße) steht selbst quer in der linear-sukzessiven Zeitstruktur (↗ Zeit). Religiöse Ritualisierungen können gar als Praktiken einer Zeitaufhebung – die Gegenwart bildet die universale Mitte der Zeit – verstanden werden (Manhart/Wendt 2019: 237 f.). Muße und Kontemplation stehen aufgrund ihrer Unangepasstheit an Zeit-, Leistungs- und Produktivitätsstrukturen in der Gefahr einer vorschnellen Idealisierung. Sie werden in diesem Fall nicht nur als Kontrastkonzepte gezeichnet, sondern gewinnen als Sehnsuchtsentwürfe bisweilen beinahe erlösende Dimension. Ein solcher Blick birgt die Gefahr der ideologischen Vereindeutigung, welche die individuellen Erfordernisse wie auch die gesellschaftlichen Bedingungen der Kontemplation (und noch mehr des mit ihr verbundenen Lebensentwurfs) oft zu wenig herausstellt und sie um willen der ideologischen Rechtfertigung der Muße bestimmter Gruppen funktionalisiert. Gerade der Blick auf die in der Geschichte realisierten Praktiken der Kontemplation zeigen diese Probleme – Weltflucht, (Selbst-)Ausbeutung, Machtmissbrauch etc. – deutlich. Auch Kontemplierende bleiben Teil sozialer Strukturen, die sich oft durch Privilegien gegenüber der größeren Sozialstruktur der Gesellschaft auszeichnen. Wo dann noch die vermeintlich größere Nähe zu Gott als ein Machtaspekt geltend gemacht wird, besteht die Gefahr der politischen Vereinnahmung bzw. der Politisierung kontemplativer Ideale.

Historische Aspekte In der Geschichte haben sich unterschiedliche Weisen und Praktiken der Kontemplation mit unterschiedlichen Techniken und Zielsetzungen entwickelt. Wo das Ideal der Muße im klassisch-emphatischen Sinn als Freiraum ohne äußere Zweckbestimmung begriffen wurde, konnte die Kontemplation, v. a. die aus der Philosophie ausgehende theôria etwa der (Spät‑)Antike, manches Mal als ideale Füllung dieses Freiraums gelten (Böhm 2014; Kirchner 2018a). Anders als die meisten philosophischen Konzeptionen zielen die kontemplativen Techniken der Religionen  – v. a. Gebet, Meditation, Besinnung, Schriftlesung oder überhaupt Gottesgedenken etc. – auf eine nicht allein kognitive Vergegenwärtigung des Gegenstands der Schau und darauf, die eigene Gegenwart in die schöpferische Hand zu legen. Dabei lässt sich immer wieder feststellen, dass die Kontemplation als Gottesbetrachtung zugleich eine Weise der Weltbetrachtung bedeutet. Wenngleich die Verbindung von Muße und Kontemplation konzeptgeschichtlich bis zu den Anfängen der griechischen Philosophie zurückreicht – man denke an den in der Betrachtung des Himmels vertieften Thales, der in den Brunnen fällt und von der thrakischen Magd verhöhnt wird –, kann der Anfang des platonischen Phaidros in besonderer Weise als Urszene der philosophisch-



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kontemplativen Muße gelten. Hier begegnet nicht nur die Schilderung eines Naturbildes (↗ Natur) im Sinne eines klassischen locus amoenus als Mußetopos, sondern auch die Beschreibung der als Schau der ewigen Ideen konzipierten theôria. Im Rahmen dieser Betrachtung – v. a. der Ideen des Schönen, Wahren und Guten – ereignet sich Platon zufolge eine im Sinne einer Wiedererinnerung gefasste erkenntnismäßige Heimkehr der schauenden Seele in die Sphäre des Göttlichen, das die Seele vor ihrer Einkehr in den Leib bereits geschaut hatte (Seelenflugmythos, Phaidros: 246a3–249d3). Für Aristoteles ist die Muße nicht nur der Anfang von allem – v. a. der Wissenschaft, die nach ihm erst durch die Muße der ägyptischen Priester gefunden wurde  –, sondern auch aufs Engste mit philosophischer theôria verbunden. In der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles die Muße als „Bedingung für den Vollzug der Theoria“; die theôria aber ist die Tätigkeit (Jürgasch 2013: 189–194), die den Menschen zur höchsten glückseligen Vervollkommnung führt. Damit ist das „Leben nach dem Geistigen im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich“ (Nikomachische Ethik: X 7 1177b30f ). Die vollkommene theôria ist dem Menschen, der angewiesen bleibt auf anderes Sein und dessen Geist nicht zur ewig lustvollen, autarken und intrinsischen theôria fähig ist (Herzberg 2013: 154), versagt. Dennoch ist dies die höchste und bestmögliche Tätigkeitsform des Menschen; sie allein wird der Muße im emphatischen Sinne gerecht und genügt sich selbst. In dieser Kontemplation findet sich „die Genügsamkeit, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt“ (Nikomachische Ethik: X 7 1177b16–1178a8). Die Engführung von Selbstgenügsamkeit, Freiheit, Muße, Kontemplation und Glück wurde traditionsmächtig, prägte viele kontemplative Lebensideale der folgenden Jahrhunderte und wirkt teils bis in die Gegenwart. Wird also mit Platon und Aristoteles die theôria bereits zum Inbegriff philosophischer Tätigkeit und menschlicher Vervollkommnung, differenziert sich diese emphatische Aufladung in der Spätantike noch einmal weiter aus. Hier kommt es einerseits zu einer Übersteigerung der Bedeutung: Plotins ‚Pankontemplationismus‘ erhebt die Theoria zum Grundbegriff überhaupt aller Wirklichkeit („Alles strebt nach Theoria!“, Enneade: III,8,2; Kirchner 2016). Plotin spricht nicht länger nur vom Menschen (oder Göttlichen), wenn er über theôria schreibt. Der plotinische Grundsatz besagt, dass eigentlich alle Bewegung und alles Streben – darunter fällt auch alle natürliche und ohne Absicht oder Intention erfolgende Bewegung und Veränderung – theôria sei. Dies gilt für Plotin deswegen, weil sie „als mimetisch-defizitäre Unterformen der einen wahren theôria des reinen Geistes zu begreifen sind“ (Kirchner 2018a: 91), aus der heraus alle Wirklichkeit emaniert. Gleichzeitig lässt sich in der spätantiken Philosophie und Theologie auch eine gegenläufige Bewegung finden, die Theorie und Praxis stärker miteinander vermittelt, statt sie ineinander aufgehen zu lassen. So ist beispielsweise bei Philo von Alexandrien die theôria der Praxis zwar logisch

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vorgeordnet, zeitlich folgt sie ihr aber nach, und es findet sich ausdrücklich die Pflicht zum Handeln und Wirken. Dieser Zugang, der Kontemplation als Verdienst hinter Arbeit und Praxis stellt, findet sich häufiger auch in anderen religiösen und v. a. in christlichen Kontexten (Eder/Manuwald/Schmidt 2021b) und er wird gelegentlich ausdrücklich mit der von Christus präfigurierten Praxis der Nächstenliebe begründet (Ambrosius, Augustinus, Basilius etc.). Weitere zentrale Aspekte christlicher Konzeptionen der Kontemplation werden mit der seit dem 4. Jahrhundert v. a. im ägyptischen und syrischpalästinischen Raum beobachtbaren Entwicklung monastischer Traditionen thematisch (Anachoreten und Koinobiten; ↗ Askese). Die theôria ist, wenngleich in den Quellen nicht immer explizit reflektiert, in den Konzeptionen der Mönchszelle (kellion), der Abgeschiedenheit, der Ruhe, der Wüste sowie der unterschiedlichen Formen des Gottesgedenkens (Gebet, Schriftlesung etc.) stets thematisch impliziert. Im gemeinschaftlichen, koinobitischen Mönchtum werden die Kontemplationsformen eng mit einem Leben der Muße verbunden, wobei dieses ‚dynamisch-aktiv‘ und nicht als untätig verstanden werden muss (↗ Askese). So wird die Kontemplation von den Gründern früher Mönchsgemeinschaften bewusst in eine enge Verbindung zu anderen Formen menschlicher Praxis gestellt, indem beispielsweise der Wechsel von Kontemplation und körperlicher Arbeit und z. T. sogar die Verbindung beider als wesentliche Momente klösterlicher Aktivität konzipiert werden. Schon in diesen monastischen Kontexten zeigt sich demnach deutlich, wie sehr um das rechte Verhältnis von vita activa und vita contemplativa, von Praxis und Theorie also, gerungen wurde. Hiervon zeugen in der monastischen Literatur zahlreiche Überlegungen zur Rolle der körperlichen Arbeit (z. B. Flechten von Körben oder Seilen, einfache landwirtschaftliche und gärtnerische Tätigkeiten etc.), die der Akedia, der Mönchskrankheit der Trägheit und der geistigen Ermattung, vorausgreifen sollte (Jürgasch 2021). Die reine Kontemplation lief in der Anstrengung des Geistes Gefahr, in Ermattung und Trägheit umzuschlagen (Vollstädt 2018). Dagegen sollten gemäß der Kloster- und Ordensregeln neben körperlicher Arbeit auch zeitlich strenge Abläufe, Warnungen und Praktiken sowie gegenseitige Kontrolle und Ermahnungen helfen. Hinsichtlich der mittelalterlichen Entwicklung lässt sich eine gemeinsame Strukturlogik von Muße im Rahmen von Vollkommenheitsentwürfen in der höfischen Literatur um 1200 und der religiösen Literatur des 14. Jahrhunderts aufzeigen. Während in beiden Bereichen eine Spannung zwischen institutionalisierten Praktiken der Perfektionierung und Freiräumen der Transgression durch Muße beobachtet werden kann, ist das Ziel der Vervollkommnung inhaltlich unterschiedlich besetzt, je nachdem, ob es sich um einen höfischen Ritter oder einen Religiosen handelt. Was jeweils als Ziel der Vervollkommnung dient, ist folglich immer auch an bestimmte gesellschaftliche Konventionen und Gruppen gebunden. In beiden Bereichen können jedoch auch überständische Modelle



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der perfectio identifiziert werden, das des Tugendadels im höfischen Bereich und das einer von äußeren Handlungen unabhängigen Hinwendung zu Gott im Mystischen. Es zeigt sich ein Zusammenhang von Stand, Lebensform und Muße. Dazu stellt sich die Frage, wo Muße ihren Ort bei Lebensmodellen hat, bei denen es Ansprüche verschiedener Art zu erfüllen gilt, was insbesondere für die Verhältnisbestimmung von Muße und Kontemplation von Bedeutung ist. Dazu lässt sich konzeptionell auf das Modell der vita mixta rückgreifen (Eder/ Manuwald/Schmidt 2021a), das seit der Spätantike v. a. als ideale Lebensform der Bischöfe diskutiert wurde, die pastorale Aufgaben (vita activa) mit der Hinwendung zu Gott im Gebet (vita contemplativa) zu vereinigen hatten. Dieses nun auch für andere Personengruppen des Hoch- und Spätmittelalters relevante Modell wirkt fort sowohl in der spätmittelalterlichen Laienfrömmigkeit, die weltzugewandte Geschäfte und religiöse Praxis miteinander zu vereinbaren sucht, als auch im Frühhumanismus als spannungsreiche Kombination von otium bzw. studium und politischen Aufgaben (Möllenbrink 2021). In diesen Kontexten lassen sich eine Dynamisierung von Lebensformkonzepten und eine Verschiebung in der Semantisierung von Muße beobachten. Dabei kann die Hochschätzung von Arbeit in Verbindung mit einer Leistungsethik bereits für die spätmittelalterliche Frömmigkeitskultur nachgewiesen werden (Schreiner 2006); an Max Webers These einer spezifisch protestantischen Ethik entzündete sich allerdings vielfältige Kritik (Lichtblau 2017: 261–278). Das Verhältnis von Muße und Kontemplation gerät mit dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit in einen Wandlungsprozess, der allerdings uneinheitlich gedeutet wird, so dass sich beispielsweise die Rede von einer Wiederentdeckung von antiken Konzeptionen gelehrter Muße im RenaissanceHumanismus (Vickers 1990) oder auch von einer ‚Entdeckung‘ der ↗ Freizeit (Burke 1995; dazu kritisch Marfany 1997; Rosseaux 2005) finden lässt. Weitere Überlegungen beziehen sich in diesem Zusammenhang auf eine mögliche „Wende“ zur vita activa (Reinhard 2007), die mit einer im Protestantismus beobachtbaren Aufwertung der Arbeit (z. B. Müller-Schmid 2009: 8 f.) und einer damit einhergehenden Ablehnung von Muße assoziiert wird. Im Sinne dieser vermeintlichen protestantischen Ablehnung gilt Muße in manchen Darstellungen der Frühen Neuzeit wirtschafts- und kulturgeschichtlich als katholisches Phänomen (Hersche 2006). In all diesen Deutungen wird klar, wie relevant Mußekonzepte für Gesellschaftskonzepte insgesamt sind. Die ständische Gesellschaft lässt sich tatsächlich nicht hinreichend allein mit dem Instrumentarium heutiger Gesellschaftsmodelle begreifen. Das monastische Leitkonzept der vita contemplativa wird ab dem 13. Jahrhundert zunehmend säkularisiert und im Sinne ‚weltlicher‘ Muße als Signum des Adels transformiert (Krause 2003). Damit eignet sich der Adelsstand das vormalige Signum des Klerus und v. a. der Mönche an, denn noch „für Thomas von Aquin [bestand] der höchste Wert schlechthin, nämlich die ewige Seligkeit im Jenseits, in der Visio beatifica, in

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der ständigen Anschauung Gottes, also einer Art von ewigem Mußezustand der Kontemplation“ (Reinhard 2007: 16). Mit der durch die Reformation erfolgenden Infragestellung der klerikalen Ordnung, der Auflösung der Orden und der Abschaffung vieler Privilegien wurde auch die neuerliche Positionierung zwischen vita activa und vita contemplativa notwendig. Am Beginn der Neuzeit ist Petrarca für die Geschichte der Kontemplation eine entscheidende Figur. Mit der zwischen 1346 und 1356 entstandenen Schrift De vita solitaria entwirft er die zentrale „frühneuzeitliche Apologie eines zurückgezogenen Lebens in Muße“ (Feitscher 2018: 155). Die Schrift wirbt für das durch das otium bestimmte Leben, indem sie dessen Vorzüge gegenüber dem negotium herausstellt. In der Neuzeit wird  – v. a. in der Folge der Aufklärung und der Religionskritik – das kollektiv-kontemplative Ideal an Einfluss verlieren, während zunehmend individuelle Kontemplationsformen stärker an Bedeutung gewinnen und nicht selten mit einer Kritik an der Leistungs- und Arbeitsgesellschaft einhergehen. Allerdings festigt sich zugleich auch durch neue Formen der Arbeit das breite Unbehagen an der Muße als Müßiggang, die nun mehr noch als schon im Mittelalter als „Ruhekissen des Teufels“ gilt, wozu Kierkegaard kritisch bemerkte: „der Teufel findet die Zeit nicht, seinen Kopf auf dieses Kissen zu legen, wenn man sich nicht langweilt.“ (Kierkegaard 2016: 167) In der Moderne und noch einmal mehr in der Gegenwart kommt es auch zu einer zunehmenden Begegnung mit und einer Aufnahme von kontemplativen Techniken östlicher Spiritualität (↗ Kulturtransfer). Schopenhauer, für den „das Wesen des Genius […] in der überwiegenden Fähigkeit zu […] Kontemplation“ (Schopenhauer 1977: 240) besteht, spricht v. a. von der „reinen, von allem Leiden des Wollens und der Individualität befreiten Kontemplation“ (Schopenhauer 1977: 276) und von der ästhetischen Kontemplation, die ein willenloses Erkennen voraussetzt (Schopenhauer 1977: 267). Hier klingen bereits fernöstliche Denkmuster an, insofern der Wille als Ausdruck von Bedürfnis, Mangel und Leiden (Schopenhauer 1977: 252) betrachtet wird. Gegenwärtig ist es v. a. die aus dem Buddhismus stammende und der Kontemplation verwandte Übung der ↗ Achtsamkeit, die eine eigene Form eines reinen, weil wertfreien und kontinuierlichen Schauens beschreibt. Achtsamkeit, die allerdings in den westlichen Kulturen oft funktionalisiert wird, lässt sich insofern als potentielle Transgressionspraxis der Muße fassen, wenngleich auch die Muße selbst unverfügbar bleibt. Nicht nur in einer Engführung von Muße und einem kontemplativen Leben, sondern auch in der Praxis der Achtsamkeit verbindet sich Muße insofern mit Erkenntnis (Gimmel/Keiling 2016: 53–60). So lassen sich die verschiedenen Stadien der Geschichte der Kontemplation als ‚Ausformungen der Muße im klösterlichen Kontext‘ (Spätantike), ihre ‚Spiritualisierung‘ (Spätmittelalter) oder ihre ‚Ästhetisierung‘, ‚Politisierung‘ bzw. ‚Psychologisierung‘ (Moderne) begreifen. Historisch-diachrone Untersuchungen zeigen, dass die jeweiligen Vorstellungen und Konzepte von Muße



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den Gegensatz von vita activa und vita contemplativa überschreiten. Begrifflich steht Muße zwar in ihren Anfängen, nicht dagegen in der weiteren konzeptgeschichtlichen Entwicklung in einem radikalen Widerspruch zur Arbeit. Auch ist sie nicht mit Kontemplation gleichzusetzen. Sie vermag vielmehr die Polarität dieser Lebensformen zu überwinden, sie auf einer anderen Ebene aufzuheben (Gimmel/Keiling 2016: 11–24). So unterschiedlich die jeweiligen Ebenen und die entsprechenden Ausgestaltungen sind: Muße als Denkfigur entzieht sich Zuschreibungen binärer Lebensformen. Neben dem hier näher betrachteten religiös gefassten kontemplativen Ideal, das sich in beinahe allen Religionen unterschiedlich stark ausgeprägt finden lässt, gibt es aktuell auch in der Postwachstumsdebatte vereinzelt Rückgriffe auf kontemplative Lebensgestaltungen (↗ Askese, ↗ Verzicht).

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Feitscher, Georg (2018), Kontemplation und Konfrontation. Die Topik autobiographischer Erzählungen der Gegenwart (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 9), Tübingen. Kirchner, Andreas (2018a), Dem Göttlichen ganz nah. „Muße“ und Theoria in der spätantiken Philosophie und Theologie (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 8), Tübingen. Vollstädt, Michael (2018), Muße und Kontemplation im östlichen Mönchtum. Eine Studie zu Basilius von Caesarea und Gregor von Nyssa (Freiburger theologische Studien 184), Freiburg.

Krankheit Jürgen Bengel/Lisa Müller Chronische Erkrankungen wie Schmerzsyndrome und Tumorerkrankungen gewinnen in den westlichen Industriegesellschaften weiter an Bedeutung. Angesichts des demographischen Wandels, verbesserter medizinischer Versorgungsmöglichkeiten und neuer Therapie- und Behandlungsansätze haben viele der Erkrankungen heute eine offenere Verlaufsdynamik und für Betroffene gilt es, die gewonnenen Lebensjahre möglichst selbstbestimmt und ‚gesund‘ zu gestalten (Ohlbrecht/Meyer 2020: 2). Dies berührt die Frage, wie Patientinnen und Patienten die chronische Erkrankung bewältigen, also welche Reaktionen sie zeigen, „um mit den Anforderungen [durch sie] zurecht zu kommen“ (Krämer/Bengel 2016: 30). Existierende Konzepte der Krankheitsbewältigung fokussieren überwiegend defizitorientiert auf eine Milderung krankheitsbedingter Symptome und Beschwerden durch verschiedene Formen der Bewältigung. Dass Gesundheit aber mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit, zeigt bereits die Definition der World Health Organization von 1946, in der Gesundheit idealtypisch als vollkommenes physisches, mentales und soziales Wohlbefinden gefasst wurde (WHO 1946). Die Definition verweist auf die Notwendigkeit einer Perspektivenerweiterung in der Forschung zu Krankheitsbewältigung: von einer pathogenetischen Sichtweise, also dem Interesse an Beschwerden und ihrer Bewältigung, hin zu einer salutogenen Perspektive, also der Frage, was Menschen angesichts belastender Lebensereignisse ‚gesund‘ erhält (Bengel/Lyssenko 2012; Ohlbrecht/Meyer 2020). Die Frage nach Muße in Krankheitszeiten bietet sich hier an: Mit Muße wird ein positiv konnotiertes Konzept prominent gesetzt, das bislang im Kontext von Krankheitserfahrungen nicht untersucht wurde. Anhand der Ergebnisse einer empirischen Studie soll in der Folge exemplarisch gezeigt werden, inwiefern Mußeerfahrungen bei der Bewältigung chronischer Erkrankungen eine Rolle spielen. Zudem werden allgemeine Bezüge und Parallelen zwischen Krankheit und Muße skizziert.

Muße in Krankheitszeiten? Krankheitserfahrungen weisen auf den ersten Blick kaum eine Verbindung mit Muße auf. Besonders zu der Freiheit und Selbstbestimmung der Muße (Gimmel/Keiling 2016: 61 ff.) scheinen sie in Widerspruch zu stehen. Patientinnen



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und Patienten leiden in der Regel nicht nur unter Belastungen wie körperlichen Beschwerden und einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit, sondern auch an einem tiefgreifenden Einschnitt in das alltägliche Leben. Er kann etwa darin bestehen, dass Selbstversorgung, Erwerbsfähigkeit und Freizeitaktivitäten (dauerhaft) eingeschränkt sind und soziale Aufgaben und Rollen neu verhandelt werden müssen (Krämer/Bengel 2016). Diese Verluste von Autonomie und Kompetenz sowie das Schwinden einer verlässlichen Zukunftsperspektive wurden aus sozialwissenschaftlicher Perspektive vielfach als biographischer Bruch beschrieben (Bury 1982). Hypothetisch bedeutet allerdings gerade die Unterbrechung biographischer Kontinuität und von identitätsrelevanten Linien in Lebensvollzug und Handlungspraxis eine (unfreiwillige) ↗ Freiheit von bisherigen Rollenerwartungen, (zeitlichen) Verpflichtungen und zweckrationalen Logiken, wie sie etwa im Rahmen der Erwerbsarbeit bestehen. Hierdurch, so die These, können im Leben der Patientinnen und Patienten auch neue ‚Freiräume‘ entstehen, die unfreiwillig Gelegenheit für eine Neuorientierung im Kontext der Krankheitserfahrung bieten. Diese ‚Freiräume‘ können durch Hoffnungslosigkeit angesichts einer unsicher gewordenen Zukunftsperspektive ebenso geprägt sein wie durch Neuverhandlungen des brüchig gewordenen Selbstbildes oder die Erprobung neuer Handlungsalternativen. Indem sich die ‚Freiräume‘ über eine ↗ Freiheit von Leistungs- und Produktivitätsansprüchen konstituieren, bieten sie potentiell auch einen Rahmen für Muße, für die ebenfalls das Moment der negativen Freiheit charakteristisch ist. Für ‚Freiräume‘ ist allerdings eine Freiheit relevant, die im Zusammenhang mit einem nicht willentlich herbeigeführten Ereignis – der Erkrankung – steht und die insofern auch im Kontext erzwungener Muße betrachtet werden kann (Cheauré 2017d). Im Zusammenhang mit Erkrankungen stellt sich die spezifische Frage, wie innerhalb ‚unfreiwilliger Freiräume‘ oder ‚Leerräume‘ die Erwartung an eine „qualitativ wertvolle […] Ausgestaltung […] der freien Zeit“ (Riedl 2021a: 6) entsteht. Und weiterführend: Wird Muße von Patientinnen und Patienten hergestellt, erlernt, eingeübt? Was genau sind ihre Inhalte?

Muße erzählen Mit Blick auf die Fragen nach ‚Freiräumen‘ und Muße kann eine Analyse von Krankheitserzählungen (engl. Illness Narratives; Kleinman 1988) besonders aufschlussreich sein. Das mündliche, autobiographische Erzählen von Patientinnen und Patienten in Gegenwart eines oder einer Zuhörenden lässt sich als konstruktive Leistung verstehen: Im Erzählakt bringen Patientinnen und Patienten erinnerte biographische ↗ Erfahrungen über das Medium der Sprache in einen Sinnzusammenhang mit temporaler Ablaufstruktur und bearbeiten ihre (be-

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reits geschichtsförmigen) Erinnerungen nach den kommunikativen Regeln der Sprache (Rosenthal 2010). Die entstehende Erzählgestalt ist damit kein Abbild des ursprünglich Erlebten, sondern eine „mimetische Darstellung […]“ (LuciusHoene/Deppermann 2004: 29) hiervon. Eine Analyse von Krankheitserzählungen hinsichtlich ‚Freiräumen‘ und Muße kann deshalb aufschlussreich sein, weil Patientinnen und Patienten im Sprechen über ihre Erfahrungen typischerweise auf die vielfältigen Verflechtungen der Erkrankung mit ihrem biographischen Werdegang eingehen. Sie thematisieren den Einbruch, den die Erkrankung verursacht hat, und schildern Verluste alltäglicher Selbstverständlichkeiten sowie Veränderungen des Leibes, des Lebensmilieus und des Selbstverständnisses (Lucius-Hoene 2008). Über die Einbindung kultureller Sinnstiftungsmuster formulieren sie Ängste und Hoffnungen sowie veränderte Motivlagen, Selbstansprüche und Handlungsdispositionen. Eine Analyse lebensweltlicher Erzählungen muss sich allerdings nicht auf das Was der Erzählung, also ihren thematischen Gehalt, beschränken. Sie kann auch das Wie der Erzählung, d. h. ihre sprachliche Struktur und Form, in den Blick nehmen. Es lässt sich etwa fragen, wie detailliert und aus welcher zeitlichen Perspektive erzählt wird, oder wie sich die Prosodie im Verlauf des Erzählens ändert. Eine Untersuchung von Krankheitserzählungen kann damit zeigen, wie Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen über neu entstandene ‚Freiräume‘ und Muße sprechen: Welche für die Krankheitsverarbeitung relevanten Erfahrungen in ‚Freiräumen‘ stellen sie dar und wie konstruieren sie Übergange zu Muße? In welchen semantischen Feldern wird Muße dargestellt und in welcher sprachlichen Form an Zuhörende kommunikativ vermittelt?

Muße als Raumphänomen Um diese Fragen im Kontext einer empirischen Studie zu beantworten, ist es notwendig, das Sprechen über Muße von sprachlichen Darstellungen anderer Erfahrungen (wie z. B. Grübeln) zu unterscheiden. Die Orientierung an einer bereits vorliegenden Konzeption von Muße kann hierbei hilfreich sein. Muße – als eine mögliche Erfahrung in krankheitsbedingt entstandenen ‚unfreiwilligen Freiräumen‘ – lässt sich aus philosophischer Perspektive im engeren Sinn als räumlich konzeptualisieren (Figal/Keiling 2016). Sie zeichnet demnach zunächst die Erfahrung von Raum aus: Alternative Handlungsmöglichkeiten, die gerade abseits von zielgerichtetem und sozial normiertem Handeln liegen, gälten in Muße als potentiell realisierbar. Weiterhin stelle sich in Muße räumliches Verhalten und Handeln ein; d. h. ein Verhalten und Handeln, das wiederum Möglichkeit und Potentialität erfahrbar macht oder ‚enthält‘ (Figal/Keiling 2016: 17). Und schließlich manifestiere sich Muße prädestiniert in physischen Räumen etwa der Architektur und Gartenkunst. Diese inszenierten durch ihre



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bauliche Beschaffenheit das Offene und Potentielle der Muße und böten deshalb mußevollen ‚Lebensformen‘ besondere Entfaltungsmöglichkeiten (↗  Raumzeitlichkeit). Die „allgemeine[n] und anzeigende[n] Begriffe“ (Figal/Keiling 2016: 22) sollen Aspekte des Räumlichen, beziehungsweise von Muße, besser beschreibbar machen. Sie lassen sich sowohl in Untersuchungen anwenden, in welchen der Gegenstand ‚natürlich gegeben‘ ist (also z. B. ein architektonischer Raum), als auch in solchen, in welchen der Gegenstand durch menschliche Interaktion konstruiert und produziert ist (also z. B. ein literarisch inszenierter locus amoenus) (Figal/Keiling 2016: 21). Eine Orientierung an den philosophischen Bestimmungen des Räumlichen ist damit grundsätzlich im Kontext einer empirischen Studie möglich, in der nach sprachlichen Konstruktionen von Muße gefragt wird (Bengel/Müller 2018).

Das Projekt DIPExGermany In der empirischen Untersuchung wurden bereits vorliegende Erzählungen von Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen untersucht, die vorab im Rahmen des Projekts DIPExGermany erhoben worden waren (LuciusHoene/Adami/Koschak 2015). Im Rahmen der Arbeit von DIPEx wurden die Erzählungen mittels sogenannter narrativer Interviews elizitiert. Diese Form des Interviews wird durch eine offen formulierte Eingangsfrage eingeleitet, welche es Erzählenden ermöglicht, ihr Leben, insbesondere seit Einsetzen der Erkrankung, aus dem Stegreif zu erzählen. Im Gesprächsverlauf überlassen Forschende Erzählenden weitgehend monologisches Rederecht, um die freie, erzählerische Darstellung biographischer Erfahrung zu unterstützen (↗ Erzählen). Ein Teil der im Rahmen des Projekts DIPEx erhobenen Krankheitserzählungen wurde in einer weiterführenden Analyse hinsichtlich ‚Freiräumen‘ und Muße untersucht. Hierzu wurden Erzählpassagen aus den Interviews ausgewählt, zu thematischen Kategorien kondensiert und die gebildeten Konzepte in ein theoretisches Modell Mußeerleben in Krankheitszeiten integriert (L. Müller 2021).

Mußeerleben in Krankheitszeiten Im Zentrum des entwickelten theoretischen Modells steht das Konzept Selbstbestimmte Entscheidungen. Es bezieht sich auf Beschreibungen von Handlungsentscheidungen, sowohl in Behandlungs- als auch alltäglichen Kontexten. Die Entscheidungen werden nicht als etwas Statisches dargestellt, sondern als Ergebnis eines Prozesses, in dessen Rahmen sich Selbstbestimmung entwickelt und der sein Ziel in der Bildung und Umsetzung von neuen Handlungsintentionen

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findet. Der Prozess umfasst mehrere, aufeinander aufbauende Schritte: Das zeitweise Grübeln über die Erkrankungsursachen, die schrittweise Akzeptanz irreversibler, krankheitsbedingter Einschränkungen und Verluste, die intentionale Reflexion von Empfindungen und Bedürfnissen und das Entwickeln von Eigeninitiative, das im Treffen selbstbestimmter Handlungsentscheidungen münden kann. Erzählende schildern, wie dieser Prozess auch scheitern kann und von Einflussfaktoren wie Formen der sozialen Unterstützung abhängt. Beschreibungen von Handlungsentscheidungen lassen sich auf einer stärker abstrahierenden Ebene konzeptuell als Raumerfahrungen fassen: Indem Erzählende darauf Bezug nehmen, angesichts von Unfreiheit und Fremdbestimmung durch die Erkrankung doch wieder zwischen verschiedenen Handlungsoptionen wählen zu können, thematisieren sie die Erfahrung einer gewissen Potentialität; beziehungsweise die „Erfahrung, dass es auch anders möglich wäre, weil auch andere Möglichkeiten zugelassen sind, [woraus] sich dann ein anderes Handeln entwickeln“ (Figal/Keiling 2016: 17) kann. Tätigkeiten, die solchen Entscheidungen – respektive Raumerfahrungen – entspringen, werden als grundsätzlich dem eigenen Wollen entsprechend beschrieben und lassen sich damit als selbstbestimmt charakterisieren. Aber auch selbstbestimmtes Tun erscheint häufig als eher funktional strukturiert, wenn etwa darauf Bezug genommen wird, einer neuen Erwerbsarbeit nachzugehen, die primär der Sicherung des Lebensunterhaltes dient. Demgegenüber stehen Schilderungen von Zeiten für sich selbst im Sinne persönlicher Auszeiten, in welchen alltägliche Funktionszusammenhänge vorübergehend suspendiert sind. Erzählende beschreiben, in diesen Zeiten Tätigkeiten nur deshalb zu verfolgen, weil sie als sinnstiftend und dem Wohlbefinden zuträglich empfunden werden. Damit lassen sich diese Tätigkeiten als selbstzweckhaft und ergebnisoffen charakterisieren. Patientinnen und Patienten stellen dar, dass diese Formen des Tuns an leibliche Positionen wie das langsame Gehen, das Sitzen oder Liegen geknüpft sind (↗ Leiblichkeit) und sich in physischen Räumen manifestieren (↗ Raumzeitlichkeit). Damit lassen sich die Schilderungen  – wiederum auf stärker abstrahierender Ebene und in Anlehnung an die philosophischen Begriffe  – als Mußeräume fassen: Das Nehmen persönlicher Auszeiten impliziert eine Erfahrung von Potentialität oder Raum; aber auch das Handeln in Auszeiten lässt sich als räumlich fassen, weil es – u. a. durch die Einnahme leiblicher Positionen  – Möglichkeit im Sinne von Ergebnisoffenheit erfahrbar macht. Und schließlich konstruieren Erzählende konkrete, physische Räume, in welchen sich das mußevolle Handeln entfaltet. Als wichtigste Handlungsformen in Muße beschreiben die Patientinnen und Patienten Reflexionen im Sinne des Nachdenkens und Perzeptionen im Sinne des Wahrnehmens. Beide Tätigkeitsformen, die erzählerisch als für Muße charakteristisch stilisiert werden, werden in der Folge anhand von zwei Interviewbeispielen veranschaulicht. Die Namen sind frei gewählt.



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Herr Klein ist zum Zeitpunkt des Interviews 77 Jahre alt und lebt gemeinsam mit seiner Ehefrau. Fünf Jahre zuvor hat er die Diagnose Darmkrebs erhalten. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen engagiert er sich ehrenamtlich und gibt Führungen durch eine Kapelle. Die Frage der Forscherin, ob die Krebserkrankung auch einen Sinn in seinem Leben gehabt hätte, bejaht Herr Klein. Er beschreibt, die Krankheitserfahrung habe ihn dazu bewogen, sich regelmäßig in einer reflexiv-spirituellen Praktik zu üben (↗ Religiöse Praktiken): Und äh, wie gesagt, wenn ich jeden Tag auf die Kapelle gehe, auch bei ganz schwülem Wetter, und ich weiß, es kommt kein Mensch, dann ist nichts im Opferstock. [Ich] schalte die Musik an, ich setze mich hin und bete oder denke über meine Familie nach. Ich nütze also den Besuch auf der Kapelle, um selbst den Nutzen zu haben, um in mich zu kehren. Also die Krebserkrankung [hat] mich nicht von der Kirche entfernt, vom Glauben entfernt, sondern [hat] mich näher heranrücken lassen.

Neben der Spezifikation der situativen Rahmung der Szene ist hier insbesondere die chronologische Beschreibung von Handeln bedeutsam: Sowohl das Gehen zur Kapelle und das Anschalten der Musik als auch das Sich-Setzen implizieren perzeptive Momente, auf welche das Beten und Nachdenken als reflexives Moment und eigentlicher Handlungs-Höhepunkt folgen. Herr Klein beschreibt, dass der Besuch der Kapelle der persönlichen, inneren Einkehr dient, die ihren Zweck in sich selbst findet; dass aber trotz dieses selbstzweckhaften Momentes das Reflektieren quasi ‚nebenbei‘ neue Einsicht und Erkenntnis nach sich ziehen kann. Ein weiteres Beispiel: Frau Sommer ist zum Zeitpunkt des Interviews 54 Jahre alt, verheiratet und arbeitet als Verwaltungsbeamtin. Drei Jahre zuvor wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert. Nach mehreren Behandlungsschritten (u. a. Chemo-, Strahlen- und Antikörpertherapie) hat sie sich für eine vierwöchige Reha an der Ostseeküste entschieden. Sie erzählt, sie habe dort bewusst viel alleine unternommen, um sich auf sich selbst konzentrieren zu können: Ich bin fast jeden Abend am Wasser gewesen, habe dem Sonnenuntergang zugeschaut, oder ähm, fand es einfach faszinierend, in dieses Naturschutzgebiet zu fahren, äh, und Moorlandschaften zu sehen und ähm, dem Lichtspiel so zu folgen, [wenn] so Nebelschwaden hochkommen. Man hat da alles erlebt, es hat mal geregnet, es war mal neblig, es war wie gesagt herrlicher Sonnenschein. [Ich] hab’s genossen einfach nur am Wasser längs zu laufen mit den Füßen im Wasser und Sand. Und das hat mir eigentlich die Kraft wiedergegeben.

Im Gegensatz zu Herrn Klein schildert Frau Sommer ein Tätigsein in Muße ausschließlich als Perzeption, als Wahrnehmungsprozess. Sie beschreibt, Naturphänomene im geschilderten außer-alltäglichen Rahmen visuell intensiv und detailreich zu erfahren, wobei im langsamen Gehen auch haptische Elemente aufscheinen. Frau Sommer assoziiert die Naturbeobachtungen mit dem selbstzweckhaften Moment der persönlichen Faszination und stellt dar, aus dieser – wiederum nebenbei – neue Kraft zu schöpfen.

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In vielen Erzählbeispielen lassen sich bestimmte narrative und sprachliche Strategien nachweisen, durch welche Mußeerfahrungen an Zuhörende vermittelt werden (↗ Erzählen). Wesentlich ist hier ein spezifischer Umgang mit der Zeit im Erzählakt: Im ‚kreativen Spiel‘ mit den beiden Zeitebenen des Erzählens, der erzählten Zeit und der Erzählzeit, sprechen Patientinnen und Patienten über Mußeerfahrungen zumindest punktuell re-inszenierend. Sie bieten durch die Reaktualisierung ihrer damaligen Wissens- und Erwartungsperspektive Vergangenes dar, als vollzöge es sich unmittelbar in der Gegenwart vor den Augen der am Gespräch Beteiligten. Im Kontext von Krankheitserfahrungen sind besonders die interaktiv-phatischen Wirkungen, die dieses re-inszenierende Erzählen über Muße entfalten kann, bedeutsam: Diese Form des Sprechens fördert das empathische Mitschwingen von Zuhörenden und ermöglicht hierüber eine gemeinsame Konstruktion und die Integration von Aspekten der Krankheitserfahrung in sozial und kulturell geteilte Bedeutungen. Die emotionale Anteilnahme Zuhörender kann die affektive Auseinandersetzung mit den Erinnerungen an Vergangenes stützen und Selbstdeutungen bestätigen (LuciusHoene 2002). Damit kann das Sprechen über Muße selbst Wirkungen entfalten, die für die Krankheitsbewältigung relevant sind.

Fazit Die zentrale These, die sich aus den Ergebnissen der vorgestellten empirischen Studie ergibt, ist, dass die Entstehung von Freiräumen im Kontext von Krankheitserfahrungen eine grundlegende, ‚initiale‘ Krankheitsverarbeitung voraussetzt. Diese umfasst mehrere Schritte und kann darin münden, dass ein Mensch mit einer chronischen Erkrankung auch angesichts von Einschränkungen Handlungsentscheidungen trifft, die den eigenen Intentionen und Absichten Ausdruck verleihen. Eine ↗  Freiheit von Formen der Fremdbestimmung durch die Erkrankung, aber auch von nicht gewollten (Rollen-)Erwartungen und Verpflichtungen, erscheint damit im untersuchten Kontext nicht einfach gegeben. Die Ergebnisse legen vielmehr nahe, dass diese Freiheit aktiv und willentlich erarbeitet und erkämpft wird. Auch das selbstbestimmte, eher funktional strukturierte Handeln in neuen Freiräumen und das Schaffen von Zeiten für sich selbst, in welchen sich Muße einstellen kann, erscheinen als getragen durch aktivisch-emanzipatorische Momente. Lediglich das Handeln in Muße selbst, charakterisierbar als selbstzweckhaft und ergebnisoffen, ist nicht gekennzeichnet durch eine ‚Bewegung des Wollens‘, die entsteht, weil ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll. Gewissermaßen ist das Handeln in Muße nur durch eine „Spur des Wollens“ (Gimmel/Keiling 2016: 45) geprägt, weil absichtsvolles, intentionales Handeln ihm vorausliegt. Die hier dargestellten Beobachtungen, denen zufolge das selbstzweckhafte, ergebnisoffene Handeln



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in Muße bestimmter Voraussetzungen bedarf, die durch intentionales Handeln geschaffen werden können, stehen damit im Kontrast zu Positionen, die Muße in Anlehnung an Rosa (2020) als gänzlich unverfügbar beschreiben. Legt man den Fokus auf das Mußehandeln selbst, erscheint es im untersuchten Kontext nicht als ‚unbestimmt‘ (Soeffner 2014), sondern als sich in den spezifischen Praktiken der Reflexion und Perzeption realisierend. Muße, gefasst als spezifische Handlungsstruktur, lässt sich hier dann kaum als ‚tätige Untätigkeit‘ beschreiben (Wulf/Zirfas 2007), sehr wohl allerdings als ‚produktive Unproduktivität‘, wenn die Konsequenzen des Mußehandelns etwa in der beiläufigen Entstehung neuer Einsichten oder Kräfte bestehen (↗ [Un-]Produktivität). Aus den Ergebnissen lassen sich auch praktische Implikationen für die Krankheitsbewältigungs- und Versorgungsforschung ableiten. So liefern sie Hinweise darauf, dass es erlernbare Kompetenzen gibt, die selbstbestimmtes Entscheiden und Handeln für Menschen mit einer chronischen Erkrankung eher möglich machen: Die schrittweise Akzeptanz irreversibler, krankheitsbedingter Einschränkungen etwa, aber auch die intentionale Reflexion von Empfindungen und Bedürfnissen können im Rahmen rehabilitativer Maßnahmen gefördert werden. Weiterhin legen die Ergebnisse nahe, dass therapeutisches Personal bei der Planung rehabilitativer Maßnahmen persönliche Auszeiten, in welchen für Menschen mit chronischen Erkrankungen Muße möglich werden kann, zumindest berücksichtigen sollte. Denn indem sich Prozesse der Krankheitsbewältigung mit Muße zu überschneiden scheinen, wird sie als Bewältigungsressource abseits der konkreten Maßnahmenplanung interessant und relevant. Narrationen bilden als lokal und pragmatisch situierte Konstruktionen das ursprünglich Erlebte nur mimetisch ab (↗ Erfahrung). Sie geben damit nur begrenzt Einblicke in ‚tatsächlich stattgefundene Bewältigung‘. Das muss bei der Ableitung praktischer Implikationen aus den Untersuchungsergebnissen stets berücksichtigt werden. ‚Unproblematisch‘ ist der konstruktive Charakter des Erzählens hinsichtlich des Befundes, dass die Art und Weise des Sprechens über Muße selbst interaktiv-phatische Wirkungen entfalten kann. Dies legt nahe, dass sich Krankheitsbewältigung auch im Erzählakt vollzieht (Lucius-Hoene 2002) und dass durch den Einsatz narrativer therapeutischer Strategien in Behandlungs-Settings Bewältigungsprozesse dynamisiert werden können (Angus/ McLeod 2004). Insgesamt verweisen die Ergebnisse der empirischen Studie auf die Relevanz salutogener Perspektiven auf Prozesse der Krankheitsbewältigung. Durch die Frage nach Muße in Krankheitszeiten etwa gerät nicht aus dem Blick, welche Faktoren die ‚Gesundheit‘ und Selbstbestimmung von Menschen erhalten, die sich mit teilweise immensen Belastungen konfrontiert sehen. Dennoch bleibt auf einer allgemeineren Ebene ein Widerspruch bestehen zwischen schwerwiegenden Erkrankungen als existentiellen Grenz- und Krisenerfahrungen einerseits und Muße als Zeit des räumlichen Handelns frei von Praxisdruck andererseits.

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Demgegenüber stehen die vielfältigen Parallelen und Bezüge zwischen Muße und der Krankheitserzählung, welche hier abschließend ausschnitthaft skizziert werden sollen. Erzählsituationen bieten  – wie Mußesituationen  – einen geschützten Rahmen für Infragestellung und Selbstverunsicherung und können somit zum Ort der abgesicherten, simulierten Krise fernab der Zwänge und Zwecke des Alltags werden (Gimmel/Keiling 2016; Oevermann 1996). So lässt sich die erzählerische Aufbereitung der Krankheitserfahrung in Gegenwart eines empathischen Gegenübers auch als ‚narratives Probehandeln‘ verstehen: Im Erzählen wird das narrative Selbst in eine potentielle Zukunft projiziert, wünschenswerte Selbstaspekte werden tentativ erprobt und auf ihre interaktive Wirkung hin getestet (Lucius-Hoene 2002). Die narrative Strukturierung des Problems, das erzählerisch in einen Kausal- und Bedingungszusammenhang gebracht wird, fördert die Erinnerungsarbeit und das Auftreten von Emotionen, was zur erzählerischen Vertiefung oder Abstandnahme von bestimmten Themen anregt und selbstvergewissernd wirken kann (↗ Erzählen). Abgesehen hiervon weisen Krankheitserzählungen grundsätzlich eine Strukturanalogie zu der Offenheit von Muße auf: Da der Ausgang des Krankheitsgeschehens zum Zeitpunkt des Erzählens nicht feststeht, kann jede neue Erfahrung eine Revision des Narrativs bedeuten. Dies wird in der Literatur auch als „unheilbare Offenheit“ (LuciusHoene 2008: 92) der Krankheitserzählung bezeichnet. Und schließlich ist dem Krankheitsnarrativ wie Muße ein Widerstandsmoment gewissermaßen inhärent: Krankheitserzählungen von Betroffenen werden auch als „counter narratives“ bezeichnet, welche „master narratives“ als Diskurse von Institutionen und Experten konterkarieren (Bamberg/Andrews 2004). Hierdurch erhalten sie die Authentizität und Würde der subjektiven Erfahrung und können verhindern, dass Betroffene auf den Status von Trägerinnen und Trägern einer Krankheitskategorie reduziert werden (Lucius-Hoene 2008). Weniger zwischen Muße und Krankheit, wohl aber zwischen Muße und der Krankheitserzählung, in welcher die subjektive ↗ Erfahrung sprachlich verarbeitet und ästhetisiert aufscheint, bestehen damit Bezüge und Parallelen. Dies führt abschließend zu der an dieser Stelle offen gehaltenen Frage, inwiefern die grundsätzlichen Strukturanalogien zwischen Muße und dem Krankheitsnarrativ eine Voraussetzung dafür bilden, dass in den Erzählungen sprachliche Darstellungen erschlossen werden können, die sich als Muße fassen lassen.



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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth (2017d), „Muße, Gender  – und ein Selbstmord. Zur Funktion von Handarbeiten in L. N. Tolstojs Anna Karenina“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen, 401–418. Figal, Günter/Keiling, Tobias (2016), „Das raumtheoretische Dreieck“, in: Günter Figal/ Hans W. Hubert/Thomas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 2), Tübingen, 9–28. Gimmel, Jochen/Keiling, Tobias (2016), Konzepte der Muße, Tübingen.

Kreativität Tilman Kasten Mit dem Begriff der Kreativität werden u. a. Produkte beworben, Freizeitaktivitäten charakterisiert oder die Human Resources des Innovationsstandorts Deutschland angepriesen. Kreativität durchdringt die unterschiedlichsten Bereiche des privaten, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Lebens. Dementsprechend groß ist das wissenschaftliche Interesse an ihr, was zugleich dazu führt, dass eine Vielzahl von disziplinären Zugängen und Definitionen des Begriffs existiert. Der gebotenen Kürze dieses Beitrags geschuldet, möchte ich dieses breite Spektrum nicht nachzeichnen, sondern (wenig kreativ) mit einem einschlägigen Zitat fortfahren: „Kreativität ist ein Akt, der etwas zum Dasein bringt, das vorher nicht da war. […] Kreativität ist das Vermögen, Urheber zu sein.“ (Popitz 2000: 98) Bereits in diesem Zitat manifestiert sich der vielschichtige Charakter dieses Begriffs, bezeichnet er hier doch sowohl einen Aktionszusammenhang („Akt“) als auch eine auf diesen bezogene Fähigkeit („Vermögen“). Im Zitat angedeutet ist ebenfalls, dass Kreativität von ihren Resultaten („etwas“) ausgehend zu denken ist. Diese sind insofern ‚kreativ‘, als sie als neu qualifiziert werden. Dieses Neue muss nicht „präzedenzlos vom Himmel fallen“, aber doch mehr sein „als bloße Wiederholung, Bestätigung und Vermehrung des Gegebenen“ (Popitz 2000: 98). Idealtypisch lassen sich drei unterschiedliche Formen (und zugleich Intensitätsgrade) der Hervorbringung von Neuem unterscheiden: zunächst das „Neu-Arrangieren bereits vorhandener Elemente“, sodann Prozesse, in denen die „Einbildungskraft konstitutiv im Spiele ist“, und schließlich „die Transformation, das Durchbrechen, das Ersetzen alter durch neue Prinzipien, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten“ (Abel 2006: 4). Auch die „Integration von Alteritäten und Dualitäten“ (Schmidt 1988: 38) und damit die Überschreitung von im Alltag wirksamen Grenzen und Kategorien, aus der sich dann etwas Neues ergeben kann, spielen bei Kreativität eine wichtige Rolle. Zugleich erzeugt sie aber auch neue Unterscheidungen, denn im Lichte des kreativ hervorgebrachten Neuen erscheint das, was eben noch als brandneu galt, nur noch als alter Hut. Das Neue ist also in dieser Hinsicht eine „relationale Kategorie“ (Bröckling 2017: 417) und daraus folgt zugleich, dass auch Kreativität aufs Engste mit diskursiven Aushandlungsprozessen und gesellschaftlichen Zuschreibungen verknüpft ist.



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Drei systematische Bezüge: produktives Tätigsein – Kontingenz – Unverfügbarkeit Die offenkundigsten Bezüge zwischen Kreativität und Muße ergeben sich, wenn man vom Aspekt des produktiven Tätigseins (s. o. „Akt“) und seinen Resultaten ausgeht. Muße eröffnet einen Freiraum für ein solches Tätigsein (↗ [Un-]Produktivität). Unter letzterem lassen sich Formen des ‚Tuns‘ im engeren Sinne (wie etwa Handarbeiten), aber auch Gedanken und in gewissem Sinne auch Gefühle fassen. Dass eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Dimensionen möglich, aber nicht immer sinnvoll ist, verdeutlichen Phänomene wie das Verfassen eines Textes, dessen Idee erst im Schreibprozess Gestalt annimmt. Gleichzeitig ist es aber nicht unerheblich, ob ein in Muße gefasster Gedanke sogleich oder erst später, d. h. unter anderen Bedingungen (im Alltag, Beruf etc.), zu einem Tätigsein im engeren Sinne führt. Wird das in Muße Hervorgebrachte als ‚neu‘ qualifiziert, lässt sich schlussfolgern, dass die betreffende Person (oder man selbst) in Muße einen kreativen Akt vollzogen hat. Als kreativ können somit bestimmte Spielarten des Produktivseins in Muße qualifiziert werden. Doch nicht jede Muße ist im kreativen Sinne produktiv, und ebenso wenig ist Muße notwendige Voraussetzung von Kreativität. Muße ist eine mögliche Voraussetzung für kreatives Tätigsein. Wird die Unbestimmtheit der Muße mit kreativem Tätigsein (im obigen Sinne) gefüllt, kann man von kreativer Muße sprechen. Es handelt sich dabei freilich um kein objektives Kriterium, sondern um eine Zuschreibung, die vor dem Hintergrund bestimmter (ökonomischer, künstlerischer, wissenschaftlicher etc.) Prämissen vorgenommen wird. Als „Antistruktur des Alltags“ vermag Muße eine „Differenzerfahrung“ (Dobler/Riedl 2017a: 7) zu ermöglichen: In Muße sieht man die Welt gewissermaßen mit anderen Augen und findet so die gedankliche Freiheit, die man im Alltag nicht ohne Weiteres hat. Muße eröffnet einen Freiraum dafür, dass das im Alltag Selbstverständliche bzw. Unhinterfragte in seinem kontingenten Charakter erkannt wird. Hier manifestiert sich dann das „Auch-anders-sein-Können als wirkliche Alternative“ (Makropoulos 1998: 23). Es kann sich dabei um bereits bekannte Alternativen handeln, aber auch um das noch nicht dagewesene Neue. In der kreativen Muße kann allerdings nicht nur die Möglichkeit eines Auchanders-sein-Könnens erkannt werden, sondern auch eine Offenheit für kontingente Prozesse entstehen, aus denen Neues hervorzugehen vermag – wie etwa bei der „Verwendung von Zufällen“ (Luhmann 1988: 17). ‚Primär zuständig‘ ist dabei die mit der Phantasie verknüpfte Kreativität, die die „Vergegenwärtigung des (Noch-)Nicht-Existenten“ (Bröckling 2017: 411) leisten kann. Gerade in der Offenheit für das Auch-anders-sein-Können im Verbund mit einer produktiven Phantasie deutet sich an, inwiefern in kreativer Muße das kritische oder gar transgressive Potential, das Muße im Verständnis des Sonderforschungsbereichs generell besitzt, besonders zum Tragen kommen könnte; und gerade weil sie

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Entroutinisierung, Neujustierung, Kritik oder sogar umfassende Erneuerung ermöglichen kann, läuft sie oftmals Gefahr, politisch, sozial oder ökonomisch kontrolliert und instrumentalisiert zu werden. Die Phantasie ist (auch kulturhistorisch) ein wichtiges Bindeglied von Muße und Kreativität und verweist zugleich auf einen weiteren gemeinsamen Aspekt: den der Unverfügbarkeit. So sehr man auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene versuchen kann, mußeförderliche Freiräume zu schaffen, so wenig lässt sich garantieren, dass sich die Muße auch einstellt. Ähnliches wurde auch in Bezug auf Kreativität formuliert: Charakteristisch für diese seien u. a. ihre „Unvorhersagbarkeit“ (Abel 2006: 17), sie habe keinen „notwendigen Existenzgrund“ (Bröckling 2017: 412) und verdanke sich oftmals dem Zufall (Luhmann 1988: 17). Für Muße und Kreativität ist das Moment der Unverfügbarkeit also gleichermaßen charakteristisch und beide können hinsichtlich dieser Bestimmungsgröße auf unterschiedliche Art und Weise in Beziehung gesetzt werden. Die Bezeichnung von Kreativität als „Vermögen“ (s. o.) erscheint vor diesem Hintergrund zumindest erklärungsbedürftig, tun sich doch Assoziationen zu trainierbaren Fähigkeiten oder einem emphatischen Begriff von Genialität auf. Sicherlich können individuelle Dispositionen, das Erlernen bestimmter Techniken sowie die Gestaltung von Rahmenbedingungen als potentiell förderlich für kreative Muße in Rechnung gestellt werden, die individuellen und gesellschaftlichen ‚Zugriffsmöglichkeiten‘ müssen aber als begrenzt angesehen werden, möchte man sinnvollerweise von kreativer Muße sprechen. Auch wenn die bis zu diesem Punkt umrissenen Aspekte in systematischer Absicht formuliert wurden, fußen sie z. T. auf historisch und kulturell variablen Voraussetzungen und Prämissen. Dies verdeutlichen die folgenden Perspektiven auf die historischen Dimensionen kreativer Muße.

Zwei Wegmarken in der Geschichte der kreativen Muße Der Begriff der Kreativität geht im Sinne von ‚erschaffen, erfinden‘ zurück auf das englische creativity und dieses wiederum auf das Lateinische creare (Pfeifer u. a. 1993: s. v. Kreativität). Zwar kann das antike otium (litteratum) eine als sinnhaft erfahrene Tätigkeit ermöglichen (Eickhoff 2021a: 101), von Kreativität im engeren Sinne lässt sich hier aber nicht sprechen. In der frühchristlichen Theologie verweist die creatio in der Formel creatio ex nihilo auf die ausschließlich Gott zugesprochene Fähigkeit, etwas aus dem Nichts, d. h. ohne jegliche Voraussetzungen erschaffen zu können (May 2004). Auch im thomistischen Weltbild der mittelalterlichen Theologie war nur Gott zu einem schöpferischen Akt fähig, d. h. der Begriff der Schöpfung war hier „nicht anwendbar auf irgendeine partikuläre Hervorbringung“ (Cramer 1985: 262). Daher waren theôria und contemplatio (↗ Kontemplation), die (spät-)antik und mittelalterlich oft als



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beste Praktiken der Muße oder sogar als Erfüllung des Menschseins aufgefasst wurden (Kirchner 2018a; ↗ Religiöse Praktiken), nicht mit der Hervorbringung von Neuem verknüpft. Wo als Konsequenz der Hinwendung zu Gott die Welt als Schöpfung erkannt wurde, erhielt sie eine Geschichte, die als Heilsgeschichte verstanden werden konnte und insofern nicht kontingent verfasst war. Die Exklusivität der ‚kreativen‘ Fähigkeiten des Schöpfergottes erfuhr zwar bereits im Mittelalter und noch stärker in der Frühen Neuzeit eine teilweise Relativierung, eine fundamentale Infragestellung (und zugleich eine nicht nur punktuelle Anerkennung menschlicher Schöpferkraft) erfolgte freilich erst im 18. Jahrhundert. Dies ist u. a. an der Ablösung der Regelpoetik durch die Genieästhetik ab ca. 1750 abzulesen, in deren Rahmen Autorinnen und (zunächst v. a.) Autoren einen Anspruch auf Autonomie ihres Schaffens sowie Originalität ihrer Werke erheben konnten. So konstatiert Dieter Martin für die deutschsprachige Literatur ab ca. 1750 „eine Neukonzeption, die Muße zum unabdingbaren Fundament erklärt für die Entfaltung einer als Selbstzweck erachteten dichterischen Kreativität“ (Martin 2014: 179). Im Gegensatz zur theôria oder contemplatio steht die kreative Muße ab dieser Zeit für die Befreiung des Menschen aus einer festgefügten göttlichen Ordnung. Zugleich wird deutlich, dass das ab 1750 programmatisch und theoretisch ausformulierte ästhetische Moment der Selbstzweckhaftigkeit (↗ Aisthesis) in den Vordergrund der Auffassungen von Muße und Kreativität gleichermaßen rückt. Mehrere Studien des Sonderforschungsbereichs zu Literaturen des 18. und 19. Jahrhunderts verdeutlichen, inwiefern kreative Muße als Katalysator menschlicher Selbst‑, Freiheits- und Autonomieerfahrung in der selbstzweckhaften Sphäre des Ästhetischen fungierte (u. a. Feitscher 2018; Sennefelder 2018; Riedl 2021a; 2014; 2011) und zugleich Gegenstand regulativnormativer Grenzziehungen gesellschaftlicher, ökonomischer und/oder institutioneller Art war (z. B. Cheauré 2017a).

Kreativität und Fortschritt Doch nicht nur in der Sphäre des Ästhetischen war die Frage nach den menschlichen Fähigkeiten des Hervorbringens von Neuem von Bedeutung, sondern auch im umfassenderen Rahmen der „Verzeitlichung der Geschichte“ (Koselleck 1989b: 19) zwischen 1500 und 1800 sowie der damit verbundenen Auffassung von Zukunft als offenem zeitlichem Horizont (Koselleck 1989a). Hier spielt das Moment des Neuen eine wichtige Rolle, denn Vergangenes kann sich in diesem Verständnis nicht in identischer Form in der Zukunft wiederholen. Die Zukunft bringt notwendigerweise Neues mit sich und der Mensch fungiert dabei als eine Instanz der Hervorbringung dieses Neuen. Ob dieses Neue geschichtsphilosophisch als Fortschritt aufgefasst oder durch das Prisma des historistischen Relativismus betrachtet wurde, hing von der jeweiligen Geschichtsauffassung

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ab. Gemeinsam ist diesen beiden Möglichkeiten, dass in ihrem Rahmen die schöpferische Autonomie des Menschen auf Zwecke bzw. zu erreichende Ziele festgelegt werden konnte (vgl. politische ↗ Freiheit) und daher nicht notwendigerweise der Muße als Voraussetzung ihrer Realisierung bedurfte. Während im Bereich der Literatur und Künste der Zusammenhang von Muße, schöpferischem Hervorbringen und dem neu Hervorgebrachten durchgehend ästhetisch gerahmt war, war dies im Bereich etwa der Politik, Wissenschaft oder Technik nicht notwendigerweise gegeben. Auch wenn die Geschichte des Fortschrittsdenkens oder historischer Zukunftsvorstellungen nicht bruchlos ins 21. Jahrhundert hinein verlängert werden kann, ist ohne sie die Rolle der Kreativität in der Spätmoderne nicht nachvollziehbar. Genau an diesem Punkt setzen Andreas Reckwitz’ Ausführungen über das Kreativitätsdispositiv an. Er vertritt die These, dass das an der künstlerischen Hervorbringung von Neuem orientierte Modell im Laufe der Moderne allmählich die begrenzte Sphäre der Künste verlassen, sich spätestens seit den 1980er Jahren zum gesamtgesellschaftlichen Dispositiv (Reckwitz 2017) gewandelt habe und zu einer umfassenden Ästhetisierung der spätmodernen Gesellschaften führe. Wenn Kreativität in dem Sinne eine individuelle, gesellschaftliche und ökonomische Ressource bzw. Notwendigkeit ist, so bedarf es ihrer Mobilisierung. Das Neue werde dabei, so Reckwitz, dominant am Ästhetischen und nicht an Innovation und Erfindergeist ausgerichtet, und auf diese Weise verliere die Kategorie des Fortschritts in der Spätmoderne die Relevanz, die sie im Kontext des Modernisierungsparadigmas noch besessen habe. Wird das Neue nicht mehr notwendigerweise als „Fortschritt oder als quantitative Steigerung“ (Reckwitz 2017: 40) begriffen, wirkt sich dies auch auf kollektiv geteilte Vorstellungen und Erfahrungen von ↗ Zeit aus. An diesem Punkt sind Reckwitz’ Ausführungen anschlussfähig an spätmoderne Zeit-Diagnosen (zusammenfassend Assmann 2013: 247–265): Während in der modernen Zeitordnung die drei temporalen Horizonte klar voneinander getrennt und zugleich im Sinne des Fortschritts einander zugeordnet gewesen seien, zeichne sich die Spätmoderne durch eine „erstreckte“ (Nowotny 1989: 9) oder „breite“ (Gumbrecht 2010) Gegenwart, einen Präsentismus (Hartog 2015: XVIIf.) bzw. das Paradox „der simultanen Beschleunigung des sozialen Wandels und der Erstarrung der sozialen Entwicklung“ (Rosa 2014: 42) aus. Im Lichte dieser nicht unumstrittenen (Hölscher 2020: 55–58) Zeitdiagnosen verliert das durch Kreativität hervorgebrachte Neue seinen prospektiven zeitlichen Bezug und kennt als „fortwährende Sequenz von Reizen“ (Reckwitz 2017: 40) oder als „Wiederkehr des immergleichen Neuen“ (Bröckling 2017: 420) letztlich nur eine geschichtslose Dauer. Freilich stellt sich die Frage, ob man dann noch (im obigen Sinne) sinnvoll vom kreativ erschaffenen Neuen sprechen kann oder allenfalls von der „Simulation von Kreativität“ (Bröckling 2017: 420).



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Voraussetzungsreiche Potentiale von Erkenntnis und Kritik Daraus könnte man folgern, dass das Kreativitätsdispositiv auch (die Voraussetzungen für) Muße betrifft. Jegliche Unbestimmtheit der Muße wäre dann durch das Dispositiv eindeutig determiniert. Demgegenüber könnte man aber auch an der prinzipiellen Möglichkeit der Erfahrung von ästhetischer Freiheit und Kreativität (Thomä 2010) und damit auch von ‚echter‘ kreativer Muße festhalten. In Bezug auf diese beiden Alternativen ist von Bedeutung, was Gregor Dobler mit Blick auf Methodenprobleme bei der Erforschung von Muße und ↗ Arbeit betont hat: Dass nämlich (z. B. von Marx oder Foucault ausgehende) Ansätze „Subjekte und ihre Erlebnismöglichkeiten in einem Maße von Gesellschaft geprägt sehen, das jede individuelle Erfahrung gleichzeitig zum Nachweis ihres Gegenteils machen kann“ (Dobler 2021: 307). Demgegenüber versuchten handlungsorientierte Ansätze meist, an der Gültigkeit subjektiver Erfahrungen von Muße festzuhalten, ohne deshalb ihre gesellschaftlichen Rahmungen zu leugnen. In der Logik handlungsorientierter Ansätze wäre es beispielsweise nicht prinzipiell auszuschließen, dass durch die temporale Freiheitsdimension der Muße der spätmoderne Präsentismus (s. o.) auf individueller Ebene zeitweise überwunden und ‚echte‘ Kreativität freigesetzt werden könnte. Lässt sich Geschichte mitsamt dem „Versprechen einer offenen Zukunft“ (Gimmel 2019: 316) wieder ‚kreativ‘ aneignen, oder würde eine gesamtgesellschaftliche Ausweitung der Chancen auf kreative Muße nicht doch nur zur Innovationsverdichtung führen und so Gefahr laufen, die spätmoderne ‚breite Gegenwart‘ (s. o.) oder im Gegenteil die „Gegenwartsschrumpfung“ (Lübbe 1997: 132) zu forcieren? Weisen schon die auf ↗ Zeit bezogenen definitorischen Wendungen des Sonderforschungsbereichs, wie „freie[s] Verweilen in der Zeit“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3), eine verdeckte Affinität zur spätmodernen Privilegierung von Dauer (anstelle von Geschichte) auf und sind sie damit vielleicht eher ‚Kinder ihrer Zeit‘ als über ihren Entstehungskontext hinausweisende analytische Bestimmungen? Letztlich wird in den zentralen Termini des Sonderforschungsbereichs (wie Freiheit oder Transgression) bereits deutlich, welcher dieser beiden Ansätze für die gemeinsame Forschung im weitesten Sinne leitend war. Die Forschungen des Sonderforschungsbereichs wollten gesellschaftliche Determiniertheit und individuelle Erfahrung in einer Weise in Beziehung setzen, die das Subjektive nicht gänzlich im sozial und ökonomisch Bestimmten aufgehen lässt. Diese Perspektive ist zugleich mit der Gefahr verbunden, dass Subjektivierungsprozesse weniger intensiv kritisch reflektiert oder sogar verklärt werden. Wir haben versucht, dieser Gefahr zu entgehen, indem wir das so beschriebene Verhältnis als Idealtypus auffassen, der Konkretionen kreativer Muße besser verstehbar sowie der Kritik zugänglich machen soll. Ähnliches gilt auch für die Fortschrittsperspektive, die den hier vorgestellten Aspekten kreativer

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Muße implizit ist. Das Neue, das aus kreativer Muße kommt, darf aber nicht im teleologischen Sinne als Fortschritt verstanden werden. Vielmehr erwächst aus ihm ein bestimmt-unbestimmtes Potential der Veränderung, das nicht vorschnell geschlossen werden sollte. Diese Veränderung können unterschiedliche Beobachter dann in normativer Beurteilung als Fort- oder Rückschritt interpretieren. Diese normative Dimension gilt es bei der Anwendung auf konkrete Gegenstände kritisch zu reflektieren und somit auch die temporalen Prämissen der eigenen Forschung (im Sinne von impliziten Geschichts-, Zukunfts- oder Fortschrittskonzepten) auszuweisen (↗ Zeit). Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, warum die Vorhaben des Sonderforschungsbereichs zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, was die konkreten Potentiale kreativer Muße betrifft. Alexander Lenger hält etwa aus soziologischer Perspektive mit Blick auf die Geisteswissenschaften fest, dass die produktive Unproduktivität der Muße „nicht (mehr) zum Systemprogramm moderner Universitäten zu zählen ist“, und entsprechend pessimistisch äußert er sich in Bezug auf die Zukunft „gegenstandsbezogener und innovationsorientierter Forschung“ (Lenger 2017: 225; ↗  Wissenschaft). Psychologische Forschungen zu Muße im schulischen Kontext legen wiederum nahe, dass sich Schülerinnen und Schüler mithilfe achtsamkeitsbasierter Techniken (↗ Achtsamkeit) Freiräume erschließen können, in denen kreatives Tätigsein möglich wird (Gouda/Luong/Schmidt/Bauer 2016: 14); und dies trotz Rahmenbedingungen, die in ihrer Grundtendenz (u. a. Ökonomisierung, Karriere- und Leistungsdruck) den von Lenger beschriebenen hochschulpolitischen Kontexten in vielen Punkten ähneln. So unterschiedlich die beiden Beispiele ausfallen, so deutlich zeigt jedes auf seine Weise, inwiefern die Beschäftigung mit kreativer Muße auch Ausgangspunkt von wissenschaftlich fundierter Kritik sein kann.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth (2017a), „Faulheit. Muße. Kreativität. Überlegungen zur Oblomowerei“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen, 267–288. Martin, Dieter (2014), „Muße, Autonomie und Kreativität in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae 35). Berlin/Boston, 167–179. Riedl, Peter Philipp (2011), „Die Kunst der Muße. Über ein Ideal in der Literatur um 1800“, in: Publications of the English Goethe Society 80,1, 19–37.

Kulturtransfer Thomas Böhm Die Thematik des Kulturtransfers ist eine in dieser Begrifflichkeit relativ junge Fragestellung und reiht sich in eine Gruppe weiterer Begriffe wie Inkulturation, Akkulturation, Akkomodation etc. ein. Wegweisend waren hier zunächst die Überlegungen von Michel Espagne und Michael Werner, Transfers zwischen national-kulturellen bzw. regional-kulturellen Räumen zu untersuchen, näherhin zwischen Frankreich und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Entgegen der oftmals formulierten Kritik behaupteten sie nicht, dass es sich bei diesen Kulturen um objektive, feste Größen handeln würde (Espagne/Werner 1985; dazu u. a. Middell 2016; Schmale 2012). Im Folgenden sollen einige Grundansätze der Kulturtransferforschung angeführt werden, um in einem weiteren Schritt anhand eines Beispiels aus der Mußeforschung die Bedeutung von Diskursen zum Kulturtransfer zu erläutern. Zu betonen ist, dass der Beitrag aus historischer und philosophischer Perspektive verfasst ist, wiewohl auch soziologische Perspektiven Eingang finden. Ferner ist zu beachten, dass die Kulturtransferforschung v. a. auch in philologischen Disziplinen eine Anwendung findet. Diesen beiden Schritten sind jedoch Vorüberlegungen vorauszuschicken, die den ‚Kultur-Transfer‘ betreffen. Es ist nämlich  – inhaltlich und methodisch  – weder eindeutig, was unter Kultur zu verstehen ist, noch ist klar, welche Formen von Interaktionen zwischen Gruppen oder einzelnen Personen sinnvollerweise mit dem Begriff ‚Transfer‘ beschrieben werden können. Zudem ist uneindeutig, wie different konnotierte Diskurse in ihrer jeweiligen geschichtlichen Kontextualisierung interagieren. Kultur, abgeleitet von lateinisch colere, stammt ursprünglich aus dem Bereich der Landwirtschaft im Sinne von ‚züchten‘, wird aber bereits von Cicero im übertragenen Sinne gebraucht, nämlich der cultura animi (Tusc. disp. II,5). Explizit oder implizit wird Kultur hier auf Natur bezogen. Systematisch lassen sich nach Frithjof Rodi (1990) verschiedene Kulturbegriffe unterscheiden: 1. Anthropologischer Kulturbegriff: In einem weiteren Sinne ist hier gemeint, dass es sich um Errungenschaften des Menschen handelt, die über dessen ‚natürliche‘ Bedingungen hinausreichen, den Menschen in seinem Dasein zum Teil kennzeichnen und zugleich die Vielfalt von dessen Möglichkeiten ausdrücken. Im engeren Sinne ist dies auf die menschliche Geschichte bezogen. Der Mensch wird als Schöpfer von Kultur begriffen (Wilhelm Dilthey; Helmuth

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Plessner), etwa bei Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik usw., wobei er in diesem Sinne nicht nur Kultur hervorbringt, sondern zugleich Produkt eben dieser Kultur ist (Michael Landmann). Geantwortet wird in diesem Kontext auf die philosophische Frage ‚Was ist der Mensch?‘, die mit der Prämisse verknüpft ist, dass sich der Mensch vom Tier abhebe (Arnold Gehlen). Bei Gehlen setze der Mensch produktive Akte zur Bewältigung der Mängelbelastung. Der Mensch werde so zu einem handelnden Wesen, er werde durch die Kultur zu dem, was er sei (Friedrich Nietzsche). Zwar werden bei solchen Ansätzen wichtige Elemente von Kultur auf anthropologischer Basis herausgearbeitet, bisweilen ist der Kulturbegriff jedoch einseitig aus der angeblichen biologischen Differenz zum Tier erarbeitet und bleibt insgesamt unterbestimmt. Aus diesem Grund scheint ein solcher Kulturbegriff nicht geeignet zu sein, einen Kulturtransfer auch im Hinblick auf Muße beschreiben zu können. 2. Normativer Kulturbegriff (nach Rodi mit den Unterabteilungen ‚Fortschrittsideal‘, ‚Zivilisation‘ und ‚Kulturkritik‘): Vor allem im Gefolge von Immanuel Kant orientiert sich die Fragestellung, was unter Kultur zu verstehen sei, primär an der Vernunftstätigkeit, mithin an der ↗ Freiheit, wonach die Instinktgebundenheit durch Setzung beliebiger Zwecke kultiviert werde. Nach Johann Gottlieb Fichte führe diese Setzung zur Selbstbestimmung des Menschen gegenüber seiner eigenen Natur – ein Gedanke, der leicht modifiziert bei Friedrich Schiller zur Versöhnung von Natur und Vernunft führe (ähnlich Georg Simmel). In der Aufklärung werde dies zu der von Kant entwickelten Idee eines Fortschritts in der Menschheitsgeschichte und führe damit zu einer zunehmenden, linear gedachten fortschreitenden Kultivierung, die erst durch ein zyklisches Schema von Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften bei Johann Gottfried Herder durchbrochen wurde. Dass die v. a. im deutschen Idealismus entwickelte Form von Kultur als Selbstbestimmung des Menschen in seiner Freiheit (nicht nur von Herder im Fortschrittsgedanken) kritisiert wurde, hängt auch damit zusammen, dass mit dieser Bestimmung auch ein normativer Anspruch erhoben wurde. Kultur gelangte so unter den Verdacht einer totalen Rationalisierung und zugleich im Zuge einer Expansionspolitik europäischer Nationalstaaten bzw. der Kolonialisierung zu einer Form europäischer Normsetzung (↗ [Post-]Kolonialismus). Die Kulturkritik hat dabei zahlreiche Facetten, etwa das Ideal einer Naturnähe bei Jean Jacques Rousseau, aber ebenfalls die Auseinandersetzungen von Herbert Marcuse oder Erich Fromm mit der Analyse des Unbehagens in der Kultur bei Siegmund Freud, wonach Triebverzicht und Sublimierungszwang notwendige Voraussetzungen von Kultur darstellten. 3. Historisch-morphologischer Kulturbegriff: Neben den bereits erwähnten Kulturzyklentheorien (Herder), die bis zum Historiker Polybios zurückreichen und die bei Oswald Spengler in eine geschichtsmetaphysische Deutung münden, wonach Kulturen notwendig zugrunde gehen (Der Untergang des Abendlandes), sind hier v. a. Theorien zu nennen, die Kultur einerseits durch ein deskriptives



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Fremdverständnis und emotives Selbstverständnis beschreiben. Kultur wird allgemein als „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellungen“ (Mühlmann 1969: 598) verstanden. Deskriptiv ist ein solcher Ansatz insofern, als damit die Gesamtheit aller Lebensformen im Sinne dessen, was von Menschen erschaffen wurde und wird, begriffen wird, aber auch die Bündelung von ‚typischen‘ Lebensformen. Vermieden werden hier eindeutig normative Setzungen, was Kultur sein soll, etwa Hochkulturen oder ethnozentrische Normen (z. B. europäische). Dieser Ansatz ist aber in einem Sinne dennoch normativ, und zwar insofern, als versucht wird, morphologisch bestimmte Objektivationen in ein kohärentes Bild zu bringen, etwa im Sinne eines ‚Kulturstils‘. Dennoch leistet ein solcher Zugang zunächst eine deskriptive Neutralität (Fremdverständnis), was jedoch nicht bedeutet, dass das Selbstverständnis der Betroffenen in Bezug auf Kultur einer solchen Neutralität unterliegen muss. In der Regel wird eine solche Kohärenz bestimmter Objektivationen fundiert in einer gemeinsamen Sprache im Sinne von Bedeutungszuweisungen. Neben dem Zusammenhang von Weltbild und Sprachstruktur (Benjamin Lee Whorf ) hat besonders Umberto Eco in seiner Semiotik zu zeigen versucht, dass ein Kultursystem als Kommunikationssystem aufgefasst werden kann; es „enthält nämlich jede Kultur eine unendliche Zahl von ‚kulturellen Einheiten‘, d. h. Bedeutungen, die als Signifikate von Wortzeichen die Wirklichkeit in semantische Felder aufgliedern und damit kulturspezifisch strukturieren“ (Rodi 1990: 183). Ohne hier noch das Verhältnis von Kultur und ↗ Gesellschaft näher zu thematisieren (vgl. dazu einführend Rodi 1990: 184–186), sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass der historisch-morphologische Ansatz für eine ‚Bestimmung‘ eines Kulturbegriffes offensichtlich am besten geeignet ist, um sich dem Phänomen eines Kultur-Transfers anzunähern, ohne anthropologische oder normative Prämissen einzuführen. Der Vorteil besteht eindeutig darin, dass hier zwischen deskriptiver Fremdwahrnehmung und dem Selbstverständnis unterschiedlicher Kulturen unterschieden wird und mit Blick auf den semiotischen Zugang von Eco Kultursysteme als Kommunikationssysteme aufgefasst werden können. Dies kann sowohl synchron als auch diachron erfolgen. Unklar ist dann aber in einem nächsten Schritt, was unter dem Begriff Kultur-Transfer zu verstehen ist. Die Bestimmung als Transfer im Sinne einer Übertragung des Fremden in das Eigene berücksichtigt zwar Diversitäten von Kulturen im Blick auf einzelne Personen und Gruppen sowie Gesellschaften, suggeriert jedoch eine Eindimensionalität, die unterschiedliche Kommunikationssysteme in ihrer Komplexität nicht erfasst. Dies betrifft nicht einmal ausschließlich die von Eco in seiner Semiotik betonten unendliche Anzahl von Bedeutungen, die kulturspezifisch strukturierend wirken. Der Begriff des Kultur-Transfers ist offensichtlich unterkomplex, da er folgende Phänomene nicht berücksichtigt: Strategien der Segregation, Integration, Assimilation und Marginalisierung, aber auch der

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Amalgamierung. Ferner sind Themenfelder der Verschriftlichung von Sprache unterrepräsentiert, etwa Fragen des literarischen Genus, narratologische Strategien oder Imagologie. Und schließlich findet in der Bestimmung des Transfers von Kultur kaum Berücksichtigung, was unter den Ansätzen des Habitus, der Auto- und Heterostereotypen auf der einen Seite oder der Mentalitätsgeschichte und der sogenannten entangled history oder histoire croisée auf der anderen Seite verhandelt wird (z.  B.  Eppl/Kaltmeier/Lindner 2011; kritisch dazu Schmale 2012). Es bietet sich überdies an, Kulturtransfer im Rahmen einer allgemeinen soziologischen Untersuchung zu erörtern, wie sie exemplarisch etwa Niklas Luhmann in seinem wegweisenden Werk Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie vorgelegt hat (Luhmann 1984). Zentral ist hier, dass nach der Systemtheorie Luhmanns eine wechselseitige Durchdringung von Systemen mit fremden Leistungsanforderungen vorliegt (Interpenetration), die eine Verbindungsfähigkeit verschiedener Arten von Autopoiesis voraussetzt. Interpenetrierende Systeme können laut Luhmann die Variationsmöglichkeiten der Komplexität des anderen Systems nie völlig ausschöpfen. Für Luhmann sind in diesem Kontext nicht Handlungen zentral, sondern Operationen bzw. Kommunikation. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, wechselseitige Beeinflussungen von Kulturen, aber auch Integrationen, Marginaliserungen etc. zu erfassen. Ergänzt werden könnte eine solche Schematisierung dadurch, dass Elemente des philosophischen Poststrukturalismus etwa im Sinne von Jacques Derrida einbezogen werden. Indem nämlich das Andere das Eigene strukturiert und transformiert, ändert sich der Bezugspunkt dessen, worauf man sich beziehen kann, d. h. das System selbst (das eigene und das fremde) wird im Adaptionsprozess jeweils verändert, so dass sich die Referenzrahmen selbst fluktuierend ändern (zu Derridas Ansatz Kimmerle 1997). Die Übersicht zu den unterschiedlichen Ansätzen zu Kultur und Transfer macht deutlich, dass die Kategorie des Kulturtransfers zumindest als problematisch einzustufen ist, sofern bestimmte historische, literaturwissenschaftliche, soziologische oder philosophische u. a. Konzeptionen oder Ansätze es nahelegen, aufgrund der Komplexität nicht von Kulturtransfer zu sprechen, sondern im Plural von Kulturtransformationen oder, falls man die Systemtheorie von Luhmann favorisieren sollte, von Kulturinterpenetrationen. Kehrt man nun zu den dezidiert an dem Kulturtransfer orientierten Forschungen zurück, hat vor allem Lutz Musner einen Beitrag vorgelegt, der sich in die bisherigen Überlegungen einordnen lässt. Musner versteht Kultur als eine Verfahrens- oder Vorgangsweise und verortet den Kulturtransfer in Austauschprozessen zwischen Kulturräumen und kulturellen Systemen. „Bei diesen Austauschprozessen handelt es sich um Vorgänge der interkulturellen Übertragung und Vermittlung von Texten, Diskursen, Medien und kulturellen Praktiken, die durch je spezifische Muster der Selektion, Mediation und Rezeption gesteuert



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werden.“ (Musner 2005: 173; Musner knüpft hier direkt an Derrida [1985: 274] an). Ausdrücklich warnt er davor, sich auf das Imaginäre zu konzentrieren, da dann die materiellen Rahmungen menschlicher Vorstellungsweisen aus dem Blick geraten; und er ergänzt: „richten wir unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf das, was als hybrid, diasporisch, translokal und transitorisch erscheint, so übersehen wir schnell das, was gleich, starr und träge bleibt“ (Musner 2005: 175). Kulturtransfer hat somit, um metaphorisch zu sprechen, mit dem ‚Trägen‘, aber auch dem ‚Flüssigen‘ zu tun, wie dies Zygmunt Bauman (2008) herausgearbeitet hat, sowie dem Aufeinandertreffen beider (Schmale 2012). Dies korreliert durchaus mit den Ansätzen zum Kulturbegriff, die von deskriptiver Fremdwahrnehmung und emotivem Selbstverständnis ausgehen. Sowohl in der Makrogeschichte als auch in der Mikrogeschichte ist für die Kulturtransferforschung, wie bereits betont, die Annahme vorauszusetzen, dass es unterscheidbare Entitäten gibt, die – weil sie unterscheidbar sein sollen – wiederum eine gewisse Kohärenz voraussetzen. Dies bedeutet jedoch nicht eine lineare Unterscheidbarkeit, sofern Kohärenzen in ‚unendliche‘ Richtungen miteinander verbunden sein oder Makrokohärenzen ausbilden können, etwa eine ‚Nation‘ (Schmale 2012). Darüber hinaus müssen die jeweiligen Kontextualisierungen berücksichtigt werden, und zwar sowohl auf Seiten der Fremdwahrnehmung und der Selbstwahrnehmung als auch für den Kulturtransfer selbst. Die Beschreibung von Kulturtransfers oder – wie dies auch versucht wurde – von kulturellem Austausch (cultural exchange) bzw. Übersetzung (translation) (Burke/Hsia 2007; Dingel/Schäufele 2007) ist auf keine geschichtliche Zeit oder Epoche beschränkt, sondern stellt ein Instrumentarium für die interpretatorische Erfassung von ‚Geschichten‘ dar. Obwohl deutlich ist, dass sich die unterschiedlichen Theorien zum Kulturtransfer nicht immer und auch nicht zwingend mit den systemtheoretischen und poststrukturalistischen Zugangsweisen verbinden lassen, könnte eine komplementäre Bezogenheit durchaus fruchtbar sein. Jedenfalls ist für eine Pluriformität unterschiedlicher Zugangsweisen zu plädieren. Kulturtransfers in Zusammenhang mit Muße können an ganz unterschiedlichen Phänomenen festgemacht werden, wie etwa in vorliegendem Band exemplarisch bei Fragen der ↗ Achtsamkeit, des ↗ (Post-)Kolonialismus oder der ↗ Reisen. Eingebettet sind solche Phänomene jeweils in historische bzw. geschichtliche Kontexte, zu denen man Zugang erhält über Vermittlungsformen oder Quellen in einem eminent umfassenden Sinne. Die Quellenlage mag in den Einzelfällen geringer oder umfangreicher sein, das Verstehen von Bedeutungen steht jedoch im Kontext der Fremd- und Eigenwahrnehmungen und wird durch das Verstehen selbst wiederum verändert, wie dies zuvor anhand poststrukturalistischer Ansätze etwa bei Derrida angedeutet wurde. Grundsätzlich besteht kein Unterschied, ob Phänomene in der Spätantike oder z. B. im 20. Jahrhundert untersucht werden, wiewohl der Umfang des Kontextes im Verstehen divergieren mag.

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Als Beispiel für einen Kulturtransfer, näherhin für einen ost-westlichen Kulturtransfer, soll hier die erbauliche Erzählung Barlaam und Josaphat gewählt werden, da in diesem Roman wesentlich auch Mußekonzeptionen thematisiert werden. Diese Erzählung eignet sich deswegen für diese Fragestellung, weil die griechische Fassung, die unter dem Namen von Johannes von Damaskus überliefert ist, jedoch vermutlich von Euthymius dem Georgier vom Athos (10. Jahrhundert) verfasst ist (zur Erzählung von Barlaam und Josaphat insgesamt neuerdings ausführlich Ruf [2020] mit der dort verzeichneten Literatur), neben der lateinischen Version eine enorme Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte nicht nur in Europa bis in die Neuzeit hatte (exemplarisch Cordoni 2014 für die mittelalterliche Rezeption). Die Rahmenhandlung sei hier sehr kurz angeführt: Im Zentrum steht der Königssohn Josaphat, dessen Vater Abenner über ein heidnisches Reich in Indien herrscht. Abenner versucht am Königshof, Josaphat ein nicht-asketisches Leben zu ermöglichen und diesem Luxus und Reichtum zu gewähren, indem er ihn von der Welt abschirmt. Glück soll der Königssohn in diesem Prunk finden. Auf Drängen von Josaphat erlaubt der Vater diesem von Zeit zu Zeit, den Palast zu Ausritten zu verlassen. Bei diesen Gelegenheiten trifft Josaphat auf einen Aussätzigen, einen Blinden und einen Greis, was dazu führt, dass Josaphat angesichts von Leid und Tod an dem angeblich glücklichen Leben im Palast zweifelt. In dieser Situation trifft Josaphat auf den christlichen Eremiten Barlaam, der den Königssohn vom Christentum überzeugt und die Bedeutung der Askese für ein christliches, mußevolles Leben hervorhebt. Sein Vater Abenner versucht mit allen Mitteln, seinen Sohn von diesem Weg abzubringen. Als Lösung schlägt der König noch zu Lebzeiten die Teilung seines Reiches vor. In dem Teil des Reiches, für das nun Josaphat zuständig ist, herrscht eine milde Herrschaft unter den Vorzeichen eines barmherzigen Christentums, so dass sogar die Untertanen aus Abenners Herrschaftsgebiet zu Josaphat fliehen. Der König gesteht seine Niederlage ein und bekehrt sich selbst zum Christentum. Nach dem Tod des Königs zieht Josaphat in die Wüste zu seinem Lehrer Barlaam, um dort das erstrebenswerte asketische Leben zu führen, ein Leben, das in das mußevolle Streben nach der Schau Gottes mündet. ↗ Askese wird in dieser erbaulichen Erzählung deutlich als Weg zur Muße verstanden. Wie die ägyptischen Anachoreten strebt der einzelne Mönch oder Asket in der Theoria zum Göttlichen und nähert sich diesem an: Hier ist Muße realisiert. Aber anders als etwa bei Basilius von Caesarea  – trotz zahlreicher Parallelen zwischen der Barlaam-Erzählung und der Theologie des Basilius  – realisiert sich Muße nicht im Koinobion (im Gemeinschaftskloster), sondern bei dem eremitisch lebenden Mönch und in voller Ausprägung auch nur bei diesem (Ruf 2020: 168–217). Dies könnte seine Ursachen darin haben, dass der vermutete und wahrscheinliche Autor Euthymius selbst aus dem georgischen Eremitentum im Iviron-Kloster auf dem Athos stammte und mit seiner Barlaam-



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Erzählung gerade die Neuerungen durch die entstehenden Koinobien auf dem Athos zurückweisen oder korrigieren wollte (Ruf 2020: 192–216). Aus der Forschung zu diesem Roman ist zudem ersichtlich, dass die griechische Fassung eine Bearbeitung von altgeorgischen Versionen ist, die offensichtlich durch Euthymius im georgischen Iviron-Kloster vorgenommen worden ist. Aber auch davon gibt es Vorgängerversionen, nämlich die arabisch-islamische Version, manichäische, äthiopische, tibetische u. a. Bearbeitungen, die wiederum auf der Buddha-Legende (z. B. Mahavastu; Lalita-Vistara u. a.) aufruhen. Man könnte nun vermuten, dass über die unterschiedlichen Vermittlungsstufen die buddhistische Auffassung von Askese für den Erleuchteten (Buddha) auch in die Erzählung Barlaam und Josaphat Eingang gefunden hat, zumal die oben dargestellte Rahmenhandlung, aber auch manche Erzählstoffe (Parabeln) deutliche Parallelen zur Buddha-Legende aufweisen (Volk 2009). Erkennbar ist also die Übernahme der Rahmenhandlung, erkennbar ist auch die Bedeutung der Askese, die in der Buddha-Legende und im Barlaam-Roman eine zentrale Rolle spielt. Auffällig ist jedoch, dass die Erzählstoffe seit der altgeorgischen Version zusehends christianisiert wurden, u. a. durch Taufschilderungen und die Unterweisungen im christlichen Glauben mit einer Zuspitzung auf das Selbst des Eremiten und dessen Schau des Göttlichen. Für diesen Aspekt könnte man von einem Transfer zwischen Kulturen oder von Aneignungs- und Transformationsprozessen sprechen. Wesentlich ist nun aber, ob mit der Rede vom eremitischen Selbst auch die buddhistische Vorstellung vom Selbst, wenn auch in veränderter Gestalt, transferiert worden ist. Wie aus den Buddha-Legenden ersichtlich ist, geht es bei Siddhartha, der zum Erleuchteten (Buddha) wird, um die Erlösung vom Leid, und zwar durch die Einsicht in die Konditionalität aller Dinge. Dem Leid kann man im buddhistischen Kontext gerade nicht entgehen, indem man die Verbindung zu den begehrten Objekten aufhebt. Vielmehr muss das eigene ‚Selbst‘ aufgehoben werden. Buddha lehrte die „Selbst-Erlösung, die Erlösung durch das eigene Erkennen sowie die Erlösung von der Vorstellung des eigenen ‚Selbst‘“ (Uhde 2013: 240). Gerade eine solche Vorstellung von der Negation des Selbst und, damit verbunden, des Willens findet sich in der Erzählung Barlaam und Josaphat nicht. Zentral für die Muße ist in der erbaulichen Erzählung vielmehr, dass eine starke Fokussierung auf die Askese als die bestmögliche Lebensform stattfindet. Damit wird die im griechischen Westen dominante Form der Konzentration auf die Intellegibilität zwar transformiert, nicht jedoch aus defizitären Gründen, da Muße bzw. Theoria bereits in Askeseformen integriert waren. Vor dem Hintergrund des skizzierten Beispiels können Prämissen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kulturtransfer kritisch hinterfragt werden. So geht etwa Middell davon aus, dass ein Kulturtransfer eines Defizites bedürfe: Elemente der aufzunehmenden Kultur setzten einen Mangel in der aufnehmenden Kultur voraus (Middell 2016). Vielmehr finden selektive Rezeptionen und An-

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passungen bzw. neue Kontextualisierungen statt, mit denen Transformationen der buddhistischen Selbstwahrnehmung durch die Fremdwahrnehmungen einhergehen. In diesem Sinne ließe sich der hier beschriebene Kulturtransfer als selektiv ausgeprägte Interpenetration beschreiben. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Beispiel zwar auf einen Text bezogen ist. Da hier aber konkrete historische Diskurse reflektiert werden, impliziert dies auch, dass kulturelle Phänomene und deren Transfer thematisiert sind.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Ruf, Florian (2020), Barlaam und Josaphat. Ein Beispiel für die Transformation philosophisch-theologischer Mußekonzeptionen, Diss. Freiburg, DOI: 10.6094/UNI​FR/​ 230701.

Leiblichkeit Marion Mangelsdorf Muße ist mit leiblichen Empfindungen, Körper-Konzepten und körperlicher ↗ Erfahrung verbunden. Wenden wir den Blick auf die leiblichen Dimensionen der Muße, tritt der Facettenreichtum von Mußeerfahrungen zu Tage. Häufig werden vor allem solche Praktiken mit Muße assoziiert, die Momente der Konzentration, der Betrachtung und inneren Einkehr unterstützen: beispielsweise Atemund Achtsamkeitsübungen, rituelle und repetitive Tätigkeiten, aber auch Lesen und Schreiben. Ebenso können solche Praktiken, die den Körper in Bewegung versetzen und die Sinne explizit aktivieren, als mußevoll erfahren werden: das Flanieren durch die Stadt oder ein Waldspaziergang, Yoga, achtsamkeitsbasierte Gehmeditationen, ekstatisches Gebet und Gesang, ebenso wie der Besuch von Museen, Kaffeehäusern, Gärten und außergewöhnlicher sakraler oder profaner Architektur. So weit das Spektrum dieser unterschiedlichen Erfahrungen auch reicht, in Muße scheint eines zu gelingen: eine aktive Hinwendung zu sich selbst. Muße ist durch eine radikale Situierung im Hier und Jetzt charakterisiert, durch eine präsentische Erfahrung im Wechselverhältnis von Körper und Geist, Selbst, Anderen und Umwelt. Dadurch intensiviert wird die Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung des oder der anderen und der Umgebung, wodurch ein Frei- und Möglichkeitsraum eröffnet wird. Die besondere Raumzeitlichkeit von Muße kann transgressive Qualitäten, d. h. das Selbst und die Situation transformierende Kräfte hervorbringen. Aufgrund des Wechselverhältnisses von körperlichen und geistigen Aspekten im Kontext von Mußeerfahrungen gehe ich davon aus, dass der Begriff der Leiblichkeit am besten dafür geeignet ist, diese zu beschreiben. Im Anschluss an eine kurze Erläuterung des Leib-Begriffs konzentriere ich mich auf zwei zentrale Aspekte der Muße-Forschung des Sonderforschungsbereichs und befrage diese hinsichtlich leiblicher Aspekte. Derart in den Fokus gerät zum einen die Frage nach der Erlernbarkeit von Muße, zum anderen die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Muße und Arbeit.

Leiblichkeit und Embodiment Auf die geistesgeschichtliche Relevanz des Leibbegriffes etwa für (spät-)antike oder mittelalterliche Mußekonzeptionen im Spannungsfeld einer Leib-SeeleProblematik kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Die Publikationen

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des Sonderforschungsbereichs u. a. zur Theoria bzw. Theorie reflektieren die entsprechenden philosophiegeschichtlichen und theologischen Zusammenhänge (Jürgasch/Keiling 2017; Kirchner 2018a). Ausgangspunkt dieses Beitrags sind die jüngeren philosophischen Debatten, in deren Zentrum der Begriff des Leibes bzw. der Leiblichkeit stand und bis heute steht. Mit ‚Leib‘ ist darin die ambige Erfahrung gemeint, dass Menschen sich im ‚Dazwischen‘ erleben, weder als ein reines ‚Ding‘ noch als ein reines Bewusstsein. Dem entspricht das Phänomen der Doppelempfindung (Husserl 1952: 145), das sich anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen lässt: Berühre ich mit der rechten Hand meine linke, so kann ich meinen Leib auf doppelte Weise spüren: Einerseits kann ich meinen Körper in seiner Dinghaftigkeit wahrnehmen, d. h. als wie glatt, warm oder haarig ich meine eigene Haut erfahre. Andererseits empfinde ich die Berührung als eine meines Körpers, ich nehme die umschließende Geste meiner Hand sowohl auf und in meinem Körper wahr. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, inwiefern der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty den Leib als die vermittelnde Instanz zwischen Empirismus und Intellektualismus auffassen konnte: Menschen sind zugleich Leib und haben einen Körper (Merleau-Ponty 1986; Waldenfels 2000). Jene Vermittlungsdimension und damit die leibliche Dimension von Erfahrung lassen sich jedoch schwer in Worte fassen; sie sind Teil des nicht oder nur schwer zu verbalisierenden impliziten Wissens (Polanyi 1985: 14). Leibphänomenologische Ansätze prägen die interdisziplinäre Forschung zu Verkörperungstheorien. Sie weisen auf die verschiedenen Wechselwirkungen von Leib, Geist und Umwelt hin, die auch für Überlegungen zum Verhältnis von Muße und Leiblichkeit von großer Relevanz sind. Sie gehen dezidiert auf die Bedeutung des impliziten Wissens für die menschliche Erfahrung ein. Gefragt wird, welche Rolle der Leib für das Denken, die Wahrnehmung, das Bewusstsein und unser gesamtes In-der-Welt-Sein spielt. Im Rahmen dessen bezeichnet ‚Embodiment‘ den sowohl kulturell geformten als auch Kultur formenden Körper (Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013).

Leibliche Dimensionen der Frage nach Steuer- und Erlernbarkeit von Muße Ein Ausgangspunkt der Forschung am Sonderforschungsbereich war die Frage, inwiefern in Muße bestimmte leiblich-geistige Formen der Selbstwahrnehmung möglich sind und wie diese wiederum in Bezug zu jeweils spezifischen KörperPraktiken stehen. Dabei können bestimmte (kulturell und historisch variable) Praktiken, wie beispielsweise das Lesen, Flanieren, Besichtigen, Baden, Spazierengehen, Musik-Hören, Ruhen oder Warten, eher als Muße ermöglichende Tätigkeiten beschrieben werden, während andere als mußehinderlich gelten.



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Mit Blick auf ein transgressives Potential der Muße lassen sich solche Zuschreibungen auf analytischer Ebene allerdings nicht verabsolutieren, vielmehr hängt die Beschreibung von Mußeerfahrung von der inneren Haltung  – wie etwa Gelassenheit oder Achtsamkeit – der jeweiligen Person ab. Welche Bedeutung verleiht ein Mensch einer Erfahrung in einem bestimmten Moment, an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Bewusstseinszustand? Ab wann wird etwa ein Erregungszustand als unangenehm erfahren, so dass ich ‚außer mich gerate‘ und nicht mehr genießen kann, dass ich von meiner Umgebung affiziert wurde? Und wenn Muße von einer inneren Haltung abhängig zu beschreiben ist, ließen sich dann nicht Wege finden, die eigene Gelassenheit oder Achtsamkeit gleichsam zu trainieren? Joachim Bauer weist in diesem Zusammenhang in seinem Aufsatz zu Selbststeuerung als Voraussetzung von Muße darauf hin, wie entscheidend es aus der Perspektive der sozialen Neurowissenschaften ist, spontan auftretende Impulse in Einklang zu bringen mit Selbststeuerung und Planung. Dafür sieht er eine in Pope’scher und Humboldt’scher Tradition stehende Bildung als essentiell an, mittels derer sich Selbststeuerung erlernen ließe, vor allem angesichts der Reizüberflutung deren wir heutzutage ausgesetzt sind (Bauer 2017: 89–100; vgl. auch Dobler/Riedl 2017: 11). In diesem Sinne hat sich ein empirisches Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs auch mit Achtsamkeitspraktiken in Schulen befasst (Bauer 2015; Gouda 2017; Luong 2017; Luong/Gouda u. a. 2019) sowie mit ‚Mindfulness-Programmen‘ für Assistenzärzt*innen in Krankenhäusern (Fendel/Schmidt/Aeschbach/Göritz 2019). Stefan Schmidt, Johannes Fendel und Vanessa Aeschbach untersuchten u. a., inwiefern sich im ‚Mindfulness-Programm‘ erlernte Praktiken in den Krankenhausalltag integrieren lassen und damit das Wohlbefinden des gestressten Krankenhauspersonals steigern können: Welche Auswirkungen hat es beispielsweise, wenn die Assistenzärzt*innen den routinierten Gang zum Desinfektionsspender verwendeten, um ihr Arbeitstempo zu drosseln, kurz innezuhalten, durchzuatmen und die Kühle der Flüssigkeit auf der Haut wahrzunehmen? Wie können solcherart automatisierte Routinen auf eine Weise genutzt werden, dass sie – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – als Ruhemomente erfahrbar werden? Die bewusst erlebte leibliche Erfahrung kann in solchen sich wiederholenden Situationen als ausschlaggebend dafür verstanden werden, dass Menschen Stress abbauen und dem Arbeitsalltag gelassener begegnen können. In welchem Zusammenhang jedoch steht eine solche Erfahrung mit Muße? Selbst wenn die Selbststeuerung und Selbstwahrnehmung durch Achtsamkeitspraktiken geschult werden können, lassen sich die damit einhergehenden Erfahrungen mit Muße gleichsetzen? Mit Sicherheit nur begrenzt, denn Mußeerfahrung, ebenso wie die ihr verwandten ‚Erfahrungsphänomene‘, beispielsweise Immersion, Flow oder Trance bleiben schlicht und einfach unverfügbar. Sie entziehen sich dem willentlichen Zugriff. Sie sind als subjektive Momente der Erfahrung zu charakterisieren, welche vor dem Hintergrund kultureller und

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sozialer Rahmungen sowie durch ↗ Geschlecht konnotierte Interpretationen betrachtet werden müssen. Kann Muße also überhaupt erlernt werden? Auf der Grundlage ethnographischer Forschung haben sich Markus Tauschek und Inga Wilke am Sonderforschungsbereich intensiver mit dieser Frage beschäftigt. In einem kulturanthropologischen Teilprojekt befassten sie sich mit Kursangeboten u. a. zu Achtsamkeit und Entschleunigung (Tauschek/Wilke 2020). Es sind dies Kurse, die sich damit befassen, spezifische Körperpraktiken zu vermitteln – wie etwa beim Waldbaden, ‚Mind Body Walk‘ oder bei Meditationspraktiken –, die als besonders mußeaffin verstanden werden. Sind dies Praktiken, die den Sehnsüchten überarbeiteter Menschen, den von Leistungsdruck Ausgezehrten sowie den an Reizen und Verpflichtungen Übersättigten entgegenkommen (vgl. Cheauré/ Dobler/Mangelsdorf u. a. 2019)? Lässt sich in diesem Sinne Muße als Praktik der Selbstsorge beschreiben, die sich am individuellen Wohlbefinden bemisst und entscheidend zu einem genussvollen und gelingenden Leben beiträgt, das Glück verspricht? Es gehe – so betonen Markus Tauschek und Inga Wilke – im Kontext dieser Kurse um ‚Embodiment‘, d. h. nicht nur darum, das Nachdenken über sich selbst zu verändern, sondern darum, die Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit zu schärfen und wohltuende leibliche Erfahrungen zu machen (Tauschek/Wilke 2020: 184). Durch die in Interviews geäußerten Selbstdeutungen und Gesellschaftsbilder, die beide Autor*innen vor dem Hintergrund einer ‚Entgrenzung der Arbeit’ analysieren, kristallisieren sie ein mehrdeutiges Konzept von Muße heraus, das im Kontext neoliberaler Anforderungen auf ambivalente Weise weder rein ‚selbstsorgerischen‘ noch rein ‚selbstoptimierenden‘ Logiken zuzuordnen sei. Sie zeigen auf, dass darin durchaus gesellschaftstransformierendes Potenzial läge. Denn auch wenn die Diskursivierungen von Muße im Rahmen dieser Kurse ex negativo Arbeit immer mitdenken, Ökonomisierung und Optimierung fortschreiben und reproduzieren würden, könnten insbesondere die mit Muße verbundenen körperlichen Erfahrungen als strategisch einzusetzendes Instrument gegen die Herausforderungen innerhalb der von ständiger Selbstoptimierung geprägten Leistungsgesellschaft verstanden werden (Tauschek/ Wilke 2020: 196). So fordert der Blick auf die leiblichen Dimensionen der Muße dazu heraus, sich mit dem Verhältnis von Muße und Arbeit sowie von Muße und (Un-) Produktivität näher auseinanderzusetzen; sie als Spannungsverhältnisse, aber nicht per se als unvereinbare Gegensätze zu begreifen.



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Zum Verhältnis von Muße, Arbeit, (Un-)Produktivität und Leiblichkeit Der Ethnologe Gregor Dobler schlägt in einem die Aufsätze des Sammelbandes Produktive Unproduktivität resümierenden Beitrag vor, vier Varianten in der Bestimmung des Verhältnisses von Muße und Arbeit zu unterscheiden. Im Folgenden möchte ich die leiblichen Aspekte dieser verschiedenen Varianten betonen: Zunächst skizziert Dobler eine Relation von Muße und Arbeit, in der diese als Gegensätze aufgefasst werden. Nach diesem Verständnis könne Muße nur dort als möglich angenommen werden, wo Menschen von körperlicher Arbeit befreit sind. Diese Mußebestimmung hat anknüpfend an Aristoteles lange Traditionslinien in der europäischen Geistesgeschichte. Dem steht eine Auffassung gegenüber, in dessen Rahmen Muße als eine Erfahrung begriffen wird, bei der eine ‚Entgrenzung der Arbeit‘ stattfindet, so dass sich Produktivitätslogiken bis in die Freizeit hinein erstrecken, Muße sich gleichsam zur ‚Arbeit am Selbst‘ ausgestaltet. Die körperliche Dimension dieser ‚Arbeit am Selbst‘ kann mit Achtsamkeitspraktiken wie den zuvor geschilderten, verbunden gesehen werden: wie z. B. beim Waldbaden, Meditieren, beim Wandern oder Radfahren. Das Verhältnis von Muße und Arbeit stellt sich aber auch ambivalenter dar (so die dritte von Dobler umrissene Variante), etwa wenn Muße und Produktivität im Rahmen einer ‚selbstbestimmten Tätigkeit‘ gleichsam verschwimmen, beispielsweise in Form von Selbstsorge oder ↗ Kreativität, wie beim Malen eines Bildes oder beim Schreiben eines Textes. Leiblichkeit tritt hier in Form von sinnlicher Wahrnehmung in den Vordergrund, ebenso wie der Körper als ein sinnlich Darstellender. Zu guter Letzt sei eine weitere Variante genannt, die immer wieder für Kontroversen sorgt und mit der Frage verknüpft ist: Kann Muße sich auch während ‚fremdbestimmter Zeit‘ ereignen (Dobler 2021: 310–311)? Schauen wir uns diese Frage näher an. Sie knüpft an die zuvor geschilderten empirischen Untersuchungen an und befasst sich mit der Interdependenz von Mußeerfahrungen in Abhängigkeit von der eigenen inneren Haltung  – wie Gelassenheit oder Achtsamkeit – ungeachtet der äußeren Bedingungen. Dobler eröffnet an dieser Stelle den Blick auf einen weiteren körperlichen Aspekt, um mit Blick auf unterschiedliche gesellschaftliche Rahmungen die starke Trennung zwischen zweckbestimmter Arbeitszeit und von Zwecken entlasteter Freizeit, wie sie in der Moderne vielfach vorgenommen werde, zu hinterfragen (Dobler 2017: 61; vgl. auch Noor 2021). Am Beispiel der körperlichen Arbeit namibischer Bäuerinnen verdeutlicht er, wie die Rhythmisierung der entsprechenden Tätigkeiten (z. B. Hirsestampfen) dazu führen kann, dass das Moment der Zweckgerichtetheit in den Hintergrund der Erfahrung tritt und sich stattdessen ein Möglichkeitsraum für ein als selbstbestimmt und frei erfahrenes Tun öffnet. In Rückbezug auf den Ökonomen Karl Bücher beschreibt Gregor Dobler:

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Indem wir rhythmisch arbeiten [und hier, so möchte ich hinzufügen, kommt die Körperlichkeit explizit zum Tragen, Anm. d. Verf.], können wir den fremdbestimmten und entfremdeten Charakter unserer Arbeit teilweise vergessen. Rhythmus verleiht der Arbeit ästhetischen Wert, lenkt die Aufmerksamkeit der Arbeitenden von der Notwendigkeit der Arbeit und ihren Zielen ab und verwandelt sie in eine eigenlogische Handlung. (Dobler 2017: 64)

In diesem Sinne lenkt Dobler den Blick auf verschiedene Tätigkeiten, seien es Rudern, gemeinsames Lastentragen, Ankerlichten oder auch die arbeitsteilige Arbeit am Fließband, bei der repetitive und rhythmisierte Bewegungsabläufe Flow-Erfahrungen oder Erfahrungen von ‚Muße in Arbeit‘ ermöglichten, bei der die Produktionslogik außer Kraft gesetzt und die eigene Tätigkeit als sinnstiftend erfahren werde (Dobler 2017: 61–88). Muße kann, so das Fazit seiner Überlegungen, insbesondere auf einer körperlich-leiblichen Ebene selbst im Kontext ‚fremdbestimmter Zeit‘ erfahrbar werden. Vergleichbar seiner Überlegungen zur Kohärenz von Rhythmus und MußeErfahrungen unterstreichen Günter Figal, Hans W. Hubert und Thomas Klinkert im Sammelband Die Raumzeitlichkeit der Muße ein Erleben von ‚Eigenzeitlichkeit‘: Mit dem Zustand der Muße verändern sich die Erfahrungen von Raum und Zeit: Die Zeit drängt dann nicht mehr; die Zwänge der Uhr und des Kalenders verlieren an Bedeutung. Man verweilt, statt planend sich selbst voraus zu sein und fortwährend an das Zukünftige zu denken. […] [Dabei ist] Muße wesentlich räumlich; ihre Räumlichkeit gestattet ein ungezwungenes Hiersein, in dem sich Gedanken, kreative Kräfte und gesellige Möglichkeiten entfalten können. (Figal/Hubert/Klinkert 2016a: 1)

Zwar werden die drei genannten Forscher eher Mußeerfahrungen während ‚selbstbestimmter Tätigkeiten‘ bei ihrer Beschreibung im Blick gehabt haben, aber ihre Gedanken lassen sich durchaus mit denen Gregor Doblers zusammenführen, der die Eigenlogik der subjektiven Erfahrung – wie er sie etwa bei den Hirse stampfenden Bäuerinnen beschreibt – gegenüber der sich in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen manifestierenden Produktionslogik betont. Sicher, der an Jahreszeiten angepasste Zyklus der Bewirtschaftung von Gut und Ländereien in bäuerlichen Kulturen ermöglicht und verunmöglicht andere Formen leiblicher Erfahrung von Muße, als es in Industriegesellschaften der Fall ist, in denen tägliche Arbeitszeit ebenso wie tägliche Freizeit von der Organisation der Produktionsprozesse abhängig ist. Entscheidend für die Thematik der Leiblichkeit ist jedoch, dass jede der von Gregor Dobler beschriebenen Varianten den Blick auf verschiedene Formen der Muße als eine Erfahrung lenkt, die in unterschiedliche Vorstellungen von Zeit und (Un-)Produktivität eingebunden ist. Daran anknüpfend stelle ich abschließend folgende Frage: Welche zeitdiagnostischen Perspektiven eröffnen sich dadurch?



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Ausblick Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass die Auseinandersetzung mit leiblichen Aspekten der Muße anschlussfähig an zeitdiagnostische Diskurse ist: Etwa durch die einschlägigen Befunde zur Beschleunigung (Rosa 2021), zur Unruhe (Konersmann 2015), Selbstoptimierung (Bröckling 2007), angesichts von Zuständen der Überforderung (Fuchs/Iwer/Micali 2018), Bedürfnissen nach Resonanz (Rosa 2016), nach Gesundheitskompetenz und Selbstregulation (Bauer 2015). In diesen Zusammenhängen ist von besonderem Interesse, wie sich Praktiken der ‚Selbstsorge‘, bei denen auch körperliche Praktiken eine große Rolle spielen können, zu einer (Für-)Sorge in Bezug auf kollektive Anliegen verhalten. Der Terminus „Care-Revolution“ (Winker 2015), der Entwürfe für eine solidarische Gesellschaft verhandelt sowie das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Fürsorgearbeit näher betrachtet (Bertram 2017: 21–46), geht dieser Frage beispielsweise näher nach. Solche Fragen nach dem spannungsreichen Verhältnis von (sozialer oder ökonomischer) Bestimmtheit auf der einen und der Unbestimmtheit der individuellen Erfahrung auf der anderen Seite, wie sie in den obigen Beispielen immer wieder anklang, werden in Zukunft vermutlich weiter Relevanz erlangen – nicht zuletzt, wenn Digitalisierungsprozesse die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre weiter erodieren lassen. Durch die weitere Perfektion von digitalen immersiven Techniken  – wie etwa in Mark Zuckerbergs Metaverse – wird die Rolle des Leibes als Medium der Welterschließung sicherlich neu verhandelt werden. Vermutlich werden sich neue körperliche Praktiken im Bereich der Erwerbsarbeit, Fürsorgearbeit und der Freizeit etablieren und gegebenenfalls auch das relationale Verhältnis unterschiedlicher Größen neu justieren. Dass sich dies wiederum auf Möglichkeiten und Formen der Selbstfürsorge sowie die Art und Weise, wie Arbeit als selbst- oder fremdbestimmt erfahren wird, auswirken könnte, lassen die obigen Ausführungen zumindest erahnen. Auch in Bezug auf die künftigen medialen (und damit verbundenen sozialen) Transformationen wird es somit lohnenswert sein, Muße als Rahmenbedingung und Voraussetzung für Erfahrungen der Kohärenz, Sinnhaftigkeit und Resonanz zu erforschen, die für das Wohlbefinden und damit die Gesundheit von Menschen ausschlaggebend zu sein scheinen.  – Es sind dies gute Gründe, wie ich meine, die Muße nicht aus den Augen zu verlieren.

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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Dobler, Gregor/Peter Philipp Riedl (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Figal, Günter/Hubert, Hans W./Klinkert, Thomas (Hg.) (2016a), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 2), Tübingen. Wilke, Inga/Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Vollstädt, Michael (2021), Produktive Unproduktivität (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen.

Museum Regine Nohejl Wortgeschichtlich haben der bis ins Althochdeutsche und eventuell weiter zurückreichende Begriff der Muße (ahd. muoza) und die/das aus dem Altgriechischen stammende Muse/ion (μοῦσα/μουσεῖον) nichts miteinander zu tun. Es ist die rein zufällige lautliche Ähnlichkeit, die bisweilen zu etymologischen Fehlschlüssen und auch zu Verwechslungen der beiden Begriffe (ver-)führen mag. Ungeachtet der etymologischen Ferne weisen die kultursemantischen Felder (↗ Muße-Semantiken) von Muße und Muse/um eine Menge potenzieller Berührungspunkte auf. Die Musen gelten seit jeher als Quellen der Kreativität und Inspiration. Das Museum als ein den Zwängen der Alltagsroutine enthobener Freiraum, in dem solche Inspiration oder die Ergebnisse solcher Inspiration jenseits aller Zweckbestimmtheit als in sich wertvoll und bereichernd erfahren werden können, erfüllt eine ganze Reihe von Voraussetzungen, die in der Grundlagenarbeit des Sonderforschungsbereichs als mußerelevant beschrieben werden. Im Folgenden wird versucht, diesen intuitiven ersten Befund stringenter zu fassen und kritisch zu schärfen.

Auratisches Erleben und Kult – Ein Objekt bestaunen Museen sind Orte, an denen menschliche Kulturgüter im weitesten Sinne (vom Kunstobjekt bis hin zu Belegen und Produkten der Erforschung der Natur) gesammelt, gesichert, geordnet und – zur Schau gestellt werden. Neben der Funktion des Bewahrens und des Informierens haben Museen immer auch den Charakter von Kultstätten, an denen der Mensch die Macht der eigenen Erkenntnis und Schöpferkraft demonstriert und ‚zelebriert‘. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Museumsarchitektur. Wirklich brisant wird die Kultfunktion des Museums in der Moderne; nicht nur, weil das Wissen und die Kulturproduktion jetzt förmlich explodieren, sondern vor allem, weil zugleich das Religiöse seine kultische Bedeutung immer mehr einbüßt und eine Leerstelle hinterlässt, die nach säkularer Kompensation verlangt. Kunst und Ästhetik sind die eine ‚Ersatzreligion‘ des 18./19. Jahrhunderts, Nation und (Natur-)Geschichte die andere. Und nicht zufällig etablieren sich genau in diesen Bereichen die für die Moderne typischen großen, palastartigen Museen. Das British Museum in London setzt 1759 den Maßstab für ein

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Nationalmuseum, der Louvre in Paris 1793 den für ein Kunstmuseum. Neu an diesen Museen ist ihr öffentlicher Zugang. Während in traditionellen Kultstätten das Allerheiligste den Blicken oft entzogen und nur für wenige bestimmt ist, sollen nunmehr möglichst viele direkt an ihm teilhaben können. Der kultische Habitus aber bleibt. Dieser Habitus ist uns bis heute vertraut, auch wenn wir ihn oft belächeln: stummes Staunen, Bewunderung, ja Anbetung des Schönen, Genialen und ‚Echten‘. Man gibt sich ganz der ‚Aura‘ kostbarer Exponate hin. Die geforderte Grundhaltung ist eine passiv-affirmative, mehr braucht es nicht. Gerade darin liegt der Reiz dieses Erlebens, und zweifellos kann aus solch vollkommener Hingabe ans Objekt Muße resultieren (Pieper 1948). Man sage nicht, Museen hätten heute keinen sakral-kultischen Charakter mehr. Warum spricht man immer noch von der Museums-Schwellenangst (oder positiv formuliert: Schwellenneugier)? Warum flüstern bzw. senken wir unsere Stimme, sobald wir ein Museum betreten? Warum machen wir von den Sitzmöbeln, von denen die meisten ohnehin ausschließlich für das Aufsichtspersonal vorgesehen sind, nur zögerlich Gebrauch? Warum drängen sich Tausende um das winzige, festungsmäßig gesicherte Bildnis der Mona Lisa und bekommen es dabei oft nicht einmal wirklich zu Gesicht? Oder stehen Schlange vor einem Bild von Banksy, das sich selbst geschreddert hat? Natürlich ist hier auf Produzent*innen- wie auf Rezipient*innenseite stets ein Augenzwinkern in Rechnung zu stellen. Auratische Erlebnisse sind heute vielfach ironisch gebrochen und kommerziell überformt. Gerade Banksys Schredderbild kann als Aufforderung verstanden werden, sich mit der auratischen Wirkung von Kunst kritisch auseinanderzusetzen. Doch interessanterweise entschließt sich ein großer Teil des Publikums angesichts der Provokation eben nicht dazu, auf derartige Museumserlebnisse zu verzichten; stattdessen stellt man sich geduldig an, um die Aura des aura-kritischen Kunstwerks zu erleben. Die Sehnsucht nach der Aura scheint unauslöschbar; sie wird wohl immer ein Teil des Museumserlebens und damit auch ein potenzieller Auslöser von Mußeerlebnissen im Museum sein.

Hermeneutisches Erleben – Teil einer Geschichte werden Man kann das Phänomen ‚Museum‘ allerdings auch aus ganz anderen Perspektiven betrachten. Die im 18./19. Jahrhundert entstandenen großen Nationalmuseen z. B. sind Monumente des Nationalstolzes und transportieren alle damit verbundenen Wertvorstellungen, Vorurteile, Verblendungen, ‚blinden Flecken‘, Machtgefälle, Hierarchien usw. (Greve 2019). Man muss nur an die gegenwärtigen Debatten um Raub-, Beute-, Kolonialkunst denken, schon tun sich Abgründe



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auf: Hinter dem schönsten Kunstwerk kann sich eine höchst problematische Geschichte verbergen. Museen sind also niemals einfach nur alltagsenthobene Orte selbstvergessenen Kulturgenusses, auch wenn sie sich so präsentieren oder die Besuchenden sie im jeweiligen Moment so erleben. Sie tragen stets die Spuren der Verhältnisse, unter denen sie entstanden sind, gestaltet und besucht werden. Das muss aber nicht das ‚Aus‘ für das Mußeerleben bedeuten, im Gegenteil. Vielleicht liegt gerade in der Erkenntnis der hermeneutischen Verstricktheit des Museums das Potenzial für ein Mußeerleben ganz anderer Art. Im 20. Jahrhundert hat in Museumstheorie und -praxis ein „paradigmatischer Wandel“ (Anderson 2012) stattgefunden. Dieser Wandel ist nicht ohne die Veränderungen verstehbar, von denen die Kulturwissenschaften insgesamt erfasst worden sind. Insbesondere die Semiotik und der Strukturalismus haben auch die Vorstellungen davon, wie ein Museum ‚funktioniert‘, verändert. Im strukturalistisch-semiotischen Paradigma hat jedes Einzelelement Zeichencharakter; es gewinnt seine Bedeutung nie aus sich selbst heraus, sondern einzig und allein aus dem Kontext, in den es eingebettet ist. Auch die Exponate in einem Museum sind in diesem Sinne Semiophoren, d. h. „Zeichenträger“ (Keiling/Jürgasch 2016: 231 ff.; Pomian 1988; Scholze 2013); ihr Wert liegt weniger in ihrer Materialität und Singularität als in ihrer semiotischen Verweisfunktion. Kostbare Einzelstücke zu präsentieren, ist aus semiotischer Sicht zwar möglich, aber sinnfrei. Der kurzfristige Effekt des Staunens, der Ergriffenheit zerschellt alsbald an der Wand des ‚Nichteinordnenkönnens‘, am fehlenden Kontext. Die Wirkung trägt nicht, sondern nutzt sich rasch ab, und muss durch immer neue Sensationen aufgefrischt werden. Auf diese Weise tritt rasch ein Übersättigungseffekt ein – nicht, weil so viel gezeigt wird, sondern weil so viel Zusammenhangloses gezeigt wird. So werden Museen ‚langweilig‘ (museum fatigue syndrome), „öffentliche Schlafsäle“ mit „vielen Körpern, die einander nicht kennen“, wie es der italienische Futurist Filippo Marinetti ausgedrückt hat (Marinetti 1995: 5). Wassili Kandinskys naiv-verfremdende Schilderung einer traditionellen Kunstausstellung in Über das Geistige in der Kunst (zuerst 1911) gibt sehr schön die frustrierende Empfindung angesichts solch sinnleerer Anhäufung wieder: Alle Wände der Räume mit kleinen, großen, mittleren Leinwändern [sic!] behängt. Oft mehrere Tausende von Leinwändern. Darauf durch Anwendung der Farbe Stücke „Natur“ gegeben: Tiere in Licht und Schatten, Wasser trinkend, am Wasser stehend, im Grase liegend, daneben eine Kreuzigung Christi […], Blumen, menschliche Figuren sitzend, stehend, gehend, oft auch nackt, viele nackte Frauen […], Äpfel und silberne Schüsseln, Porträt des Geheimrats N, Abendsonne, Dame in Rosa, fliegende Enten, Porträt der Baronin X, fliegende Gänse, Dame in Weiß, Kälber im Schatten mit grellgelben Sonnenflecken, Porträt Exzellenz Y, Dame in Grün. Dieses alles ist sorgfältig in einem Buch gedruckt: Namen der Künstler, Namen der Bilder. Menschen haben diese Bücher in der Hand und gehen von einer Leinwand zur andern und blättern und lesen die Namen. Dann gehen sie

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fort, ebenso arm oder reich, wie sie eintraten und werden sofort von ihren Interessen, die gar nichts mit der Kunst zu tun haben, absorbiert. Warum waren sie da? In jedem Bild ist geheimnisvoll ein ganzes Leben eingeschlossen […]. (Kandinsky 1912: 6–7)

Kandinskys Text ist ein einziger Hilfeschrei nach Kontextualisierung. Narrativieren und szenografisches Inszenieren sind denn auch die neuen Zauberworte der Museumsgestaltung geworden (Brückner/Greci 2019; Hochkirchen/Kollar 2015; Korff 2007; Lange-Greve 1995; Stapelfeldt/Vedder/Wiehl 2020; Wißkirchen 2002). Immer mehr geht man dazu über, Exponate in Ensembles zu fassen, sie zu Kontexten zu formen und mit ihnen ‚Geschichten‘ zu erzählen, statt sie als Solitäre zu präsentieren. Museen werden zum „Eldorado für das Erzählen mit Dingen“ (Parmentier 2012: 162). Der narrative turn im Museum hat u. a. auch dazu geführt, dass die umstrittene Gattung der Literaturmuseen boomt. Lange Zeit galt Literatur als „unausstellbar“ (Heilwagen 2002), da eine Literaturausstellung ja allenfalls Locken, Brillen, Schreibtische und andere Devotionalien von Dichtern und Dichterinnen präsentieren könne oder auch die Titelseiten wertvoller Erstausgaben, niemals aber den eigentlichen ‚Gehalt‘ des dichterischen Schaffens (Cheauré 2021a). Irgendwann wurde klar, dass die vermeintlich spezifischen Probleme der Ausstellung von Literatur die Probleme eines jeden objektfixierten Ausstellens sind; sie gelten im Kunstmuseum nicht weniger, nur bemerkt man sie dort nicht so schnell. Ein Kunstwerk kann man einfach ‚nur‘ anschauen (und es gibt immer noch Stimmen, die die Frage nach dem Kontext zum Tod des reinen Kunstgenusses erklären); beim Anschauen eines Buchtitels hingegen wird man sofort mit der unbefriedigenden Einsicht konfrontiert, dass bei dieser Art des Ausstellens etwas ganz Wesentliches fehlt: der innere Gehalt, der Kontext (Wißkirchen 2002: 48 f.). So gibt mittlerweile umgekehrt die Literatur vielfach das Grundmuster vor für ‚literaturhaft‘, sprich narrativ gestaltete Museen und Ausstellungen aller Art. Auch im Transferprojekt des Sonderforschungsbereichs wurden in den Jahren 2017 bis 2021 zunächst eine Literaturausstellung und dann ein Literaturmuseum, das Muße-Literaturmuseum in der Stadtbibliothek Baden-Baden, gestaltet (Cheauré 2021a; Cheauré/Nohejl/Gorfinkel 2018). Dabei ging es nicht nur um Inhalte – die Literatur im Kurort, der Kurort in der Literatur –, sondern v. a. um die narrative Form der Gestaltung, die die Besuchenden in die Ausstellung eintauchen lässt wie in ein spannendes Buch und sie so in hohem Maße ins Ausstellungsgeschehen einbezieht. Die Zusammenhänge zwischen Erzählen bzw. Narrativität und Muße wurden im Sonderforschungsbereich intensiv erforscht. Im literarischen Erzählen gewinnt die sprachliche Form die Oberhand über den Inhalt, sie wird im Extremfall zum Selbstzweck. Zugleich erhält im narrativen Modus die Welt eine Ordnung, einen Sinn, auch wenn sie inhaltlich noch so zerrissen und problematisch ist. Es wird möglich, dem „Chaos des Realen eine Ordnung des Sym-



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bolischen entgegenzustellen“ (↗ Erzählen; Klinkert 2016b). Erzählen als Form der Weltbewältigung, als Möglichkeit der Entlastung vom unmittelbaren Druck des Weltgeschehens kann so weit über das Literarische hinaus als anthropologisches Grundbedürfnis verstanden werden (Eibl 2004). „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“, ist ein vielzitierter Satz aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (Musil 1960: 650). Erzählen räumt Krisen nicht aus der Welt, aber es schafft den Rahmen, sie ‚einzuordnen‘ und gelassener und produktiver mit ihnen umzugehen. In narrativen Räumen öffnen sich immer neue, unerwartete Türen, sie beflügeln neben dem Wirklichkeitsauch den Möglichkeitssinn (nach Musil). Auf diese Weise kann sich ein zentrales Element der Muße, ihre transgressive Wirkung, entfalten. In die narrativen Räume tauchen nicht nur diejenigen ein, die diese Räume gestalten, sondern auch die Lauschenden/Lesenden. Einer Erzählung zu lauschen oder sie zu lesen, ist niemals ein rein passiver Akt, die Rezipierenden gestalten sie stets aktiv mit (↗ Erzählen). Im Sinne der Hermeneutik ist keine Geschichte jemals zu Ende erzählt. Jeder Akt der Lektüre bringt, und sei es nur in minimalen Nuancen, eine neue Geschichte hervor. Wer mit der Geschichte in Berührung kommt, wird auf diese Weise ein Teil von ihr. Das gilt auch für die Besucher*innen von narrativ gestalteten Ausstellungen und Museen. So wie in der Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert der Schwerpunkt von der Autorschaft über das Werk hin zur Rezeption gewandert ist, so sind auch in der Museologie immer mehr die Besucher und Besucherinnen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Wenn man allerdings sieht, wie jung die Besucherforschung in Museen ist (Davis/Smeds 2016; Deutscher Museumsbund e. V. 2019), dann wird auch klar, wie stark das auratische Modell nachwirkt, für das die Besuchenden eben lediglich passive, nicht weiter untersuchungswürdige Projektionsflächen sind. Typisch für den Übergang vom auratischen zum hermeneutischen Modell ist die Museumspädagogik, die schon seit den 1970er Jahren boomt (Czech/Kirmeier/Sgoff 2014; Deutscher Museumsbund e. V./ Bundesverband Museumspädagogik e. V. 2020). Mehr und mehr wird aber auch (an-)erkannt, dass die Besuchenden in Ausstellungen ganz eigene Interessen und Kompetenzen der Sinnproduktion entwickeln und gar keiner umfassenden pädagogischen Einweisung bedürfen. Es wäre im hermeneutischen Sinne geradezu eine Katastrophe, eine Bankrotterklärung der Kreativität gewissermaßen, wenn sie die Ausstellung genau so verstehen würden, wie pädagogisch bemühte Kurator*innen sie gemeint haben. Museumsbesucher werden mittlerweile als ein „flaneurartiger Sozialtypus“ (Käuser 2005: 18) beschrieben. In der Tat weist das performativ-ergebnisoffene Sichtreibenlassen durch die Räume einer Ausstellung, die qua der ihr eingeschriebenen narrativen Strukturen einen zwanglosen Orientierungsrahmen bietet, Ähnlichkeit mit dem Habitus des Flaneurs/ der Flaneuse auf (↗ Flanerie). Die durchs Museum Flanierenden ‚docken‘ gleichsam absichtslos an das dort Erzählte an und entwickeln daraus zugleich

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ihre ganz eigenen, individuellen Geschichten. Deshalb erfahren wir im Gestalten und Rezipieren von Ausstellungen mindestens ebenso viel über uns selbst wie über den ausgestellten Gegenstand. Mußeerlebnisse, die im Eintauchen in ein solches hermeneutisches Dialogfeld möglich werden, haben ersichtlich eine vollkommen andere Struktur als das auratische Erleben. Die Narrativierung des Ausstellungsgeschehens hat im Übrigen noch eine ganze Reihe anderer gravierender Folgen. Potenziell kann jetzt alles Gegenstand des Museums werden, auch die Bierdeckel im Bierdeckelmuseum, und eben auch alles immaterielle Kulturgut. Es muss sich nur eine spannende Geschichte daraus konstruieren lassen. Der Hang zur Panmusealisierung ist durchaus nicht unproblematisch; dies zeigt sich z. B. in den inflationären Bewerbungen um das UNESCO-Welterbe (Tauschek 2013). Im Extremfall könnte in einer narrativierten Ausstellung auf wertvolle, auratische Originale ganz verzichtet werden. Denn die Authentizität liegt nun nicht mehr in erster Linie in der Echtheit des Gegenstands (aus hermeneutischer Sicht ist ohnehin äußerst fragwürdig, wie ‚authentisch‘ z. B. der ‚echte‘ Pergamonaltar im ‚falschen‘ Umfeld eines Berliner Museums ist), sie ergibt sich aus der internen Schlüssigkeit und Stimmigkeit der erzählten bzw. erlebten Geschichten (Kimmel/Brüggerhoff 2020; Sabrow/Saupe 2021; Saupe 2019). Erst unter diesen Umständen wird das Museum tatsächlich ein Raum für Besucherinnen und Besucher. Solange Originale präsentiert werden, die mittels Temperaturregelung, Beleuchtungsverhältnissen, Aufsichtspersonal, Alarmanlagen etc. geschützt werden müssen, werden es immer die Objekte sein, die den Raum beherrschen und auch die Möglichkeit von Mußeerlebnissen massiv beeinflussen. Da nutzt es auch nichts, wenn parallel virtuelle Welten angeboten werden, in die die Besuchenden ‚umgeleitet‘ werden, weil sie dort ja nichts ‚kaputtmachen‘ können. Im oben erwähnten Muße-Literaturmuseum, das aus einer Kooperation des Sonderforschungsbereichs mit der Stadtbibliothek Baden-Baden entstanden ist, wird übrigens ein neuer und recht kühner Weg erprobt: Es gilt die Devise „Benutze das Original“. Das ist selbstredend bei den meisten Originalen nicht ohne weiteres möglich. Aber warum sollte ein robuster Dichtersessel nicht auch denen zur Verfügung stehen, die ins Literaturmuseum kommen? Zumal viele Museen immer noch nicht in Rechnung stellen, dass der Mensch ein „flügelloser Zweibeiner“ ist (Heilwagen 2002: 129) und daher allein die Einladung, einfach einmal gemütlich und zwanglos in einem aura-behafteten Sitzmöbel zu verweilen, ungeahnte Freuden und Mußeerlebnisse auslösen kann. Dies ist, wie sich gezeigt hat, nicht nur bei den Besucher*innen der Fall, sondern auch beim Museumspersonal, das nach anfänglichem Widerstand von der Rolle der strengen Aufsicht in die des Gastgebers bzw. der Gastgeberin wechselte und die Gäste mit unbeschreiblichem Vergnügen dazu aufforderte, das zu tun, was normalerweise im Museum ‚verboten‘ ist.



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Das Geheimnis eines mußevollen Museumsbesuchs liegt wahrscheinlich in der gekonnten Mischung von auratischen Effekten und dem beglückenden hermeneutischen Empfinden des Mitmachens und Dazugehörens. Verlocken doch beide Modi des Museumsbesuchs dazu, sich aus freien Stücken ‚ganz und gar‘ auf eine Sache einzulassen. Und so gern wir gelegentlich dem Reiz der ‚Aura‘ erliegen, so gern wären wir auch einmal mit Ben Stiller Gäste Nachts im Museum (2006), wenn all die stummen, leblosen Gestalten und Exponate zum Leben erwachen und ihre Geschichten erzählen und den Besucher zum Mitspielen auffordern.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Cheauré, Elisabeth/Nohejl, Regine/Gorfinkel, Olga (2018), „Muße im Museum“, in: Elisabeth Cheauré/Regine Nohejl/Olga Gorfinkel (Hg.), Russland in Europa – Europa in Russland. 200 Jahre Ivan Turgenev, Baden-Baden, 20–27. Keiling, Tobias/Jürgasch, Thomas (2016), „Enzyklopädische Räume. Zur Gegenwart der Geschichte in Peter Zumthors Kolumba-Museum“, in: Günter Figal/Hans W. Hubert/ Thomas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 2), Tübingen, 223–256. Klinkert, Thomas (2016b), Muße und Erzählen. Ein poetologischer Zusammenhang. Vom ‚Roman de la Rose‘ bis Jorge Semprún (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 3), Tübingen.

Muße-Semantiken Henrike Manuwald ‚Muße‘ in der deutschen Gegenwartssprache: Vom Einzelwort zum Kontext In Wörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache findet man zur Bedeutung von ‚Muße‘ folgende Einträge: „arbeitsfreie Zeit, die der Entspannung, Erholung, Beschaulichkeit dient“ (WDG 1964–1977: s. v.), „freie Zeit und [innere] Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“ (Dudenredaktion o. J.), „Ruhe u. Zeit, ruhige, beschauliche Freizeit“ (Wahrig-Burfeind 2018: s. v.). Mit solchen Kurzbeschreibungen, die jeweils vom Einzelwort (dem Lexem ‚Muße‘) ausgehen, ist die Vielschichtigkeit der Bedeutungen von ‚Muße‘ allerdings nicht erfasst; man denke etwa an das komplexe Verhältnis von Muße zu ↗ Arbeit (Wilke/Dobler/Tauschek/Vollstädt 2021) und ↗ Freizeit. Eine tiefergehende Annäherung an die Bedeutungen von ‚Muße‘ ist jedoch mit spezifischen Problemen verbunden. Im Folgenden werden mehrere Ansätze in ihrem Erkenntnispotenzial, aber auch den mit ihnen verbundenen Herausforderungen vorgestellt. Zwei grundlegende Herangehensweisen lassen sich unterscheiden: eine semasiologische, die auf das Wort ‚Muße‘ fokussiert ist, und eine onomasiologische, die nach Benennungen für das Konzept ‚Muße‘ fragt. Mit letzterer kann besonders gut sprachvergleichend gearbeitet werden. Auch deshalb ist sie wichtig für die Erforschung der kulturellen Semantik von ‚Muße‘ in verschiedenen Gesellschaften. Die eingangs zitierten lexikographischen Angaben zur Bedeutung des Wortes ‚Muße‘ in der deutschen Gegenwartssprache lassen sich differenzieren, wenn der Kontext der Wortverwendung beachtet wird (Krasselt/Runte 2021: bes. 117–125): Das Wort ‚Muße‘ tritt besonders oft in Kombination mit Substantiven wie ‚Ruhe‘, ‚Entspannung‘ und ‚Arbeit‘ auf und mit Verben wie ‚brauchen‘ und ‚genießen‘. Außerdem legen häufig vorkommende Kombinationen mit Wörtern anderer Wortarten wie ‚mehr‘, ‚viel‘ oder ‚genug‘ nahe, dass es als erstrebenswert angesehen wird, ausreichend Muße zu haben. Auf der anderen Seite ist ‚Muße‘ auch zusammen mit den Adjektiven ‚unfreiwillig‘ und ‚erzwungen‘ nachzuweisen, und zwar bezogen auf Zeitspannen, in denen eigene Aktivitäten eingeschränkt sind (etwa bei ↗ Krankheit). Die meisten Wörter, die ein ähnliches Kontextprofil wie ‚Muße‘ haben – z. B. ‚Zerstreuung‘, ‚Ruhe‘, ‚Besinnung‘, ↗ ‚Kontemplation‘,



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‚Ausspannen‘  –, scheinen jedoch positive Assoziationen zu wecken, was sich in einer empirisch-sprachpsychologischen Studie bestätigen ließ (Nothdurft/ Kreil/Kiesel/Thomaschke 2021: bes. 152–155). Es finden sich unter Wörtern mit einem ähnlichen Kontextprofil aber auch Bezeichnungen für der Muße entgegengesetzte Phänomene wie ‚Alltagshektik‘ und ‚Müßiggang‘; das Bedeutungsspektrum des Wortes ‚Müßiggang‘ überlappt sich dabei in einigen Aspekten mit dem von ‚Muße‘, es schwingen jedoch auch negative Bedeutungen mit.

Etymologie und Bedeutungsgeschichte: Von der Wortfamilie zum Wortfeld Ein Zusammenhang zwischen ‚Muße‘ und ‚Müßiggang‘ besteht nicht nur in Bezug auf das Kontextprofil, sondern die Wörter sind auch vom Wortstamm her miteinander verwandt, gehören also zu derselben Wortfamilie. Zwar ist die Ableitung von demselben Wortstamm ein formales und kein semantisches Kriterium, zur Annäherung an die Bedeutungen von ‚Muße‘ bietet es sich aber an, unter Einbeziehung der Bedeutungsgeschichte die gesamte Wortfamilie in den Blick zu nehmen. Denn manche Bedeutungsaspekte, die heute mit dem Wort ‚Muße‘ verbunden sind, waren in früheren Sprachstufen verwandten Wörtern wie mittelhochdeutsch müezecheit zugeordnet. Vor dem Hintergrund der Bedeutungsgeschichte von ‚Muße‘ lässt sich auch das heutige Bedeutungsspektrum schärfer konturieren. Sowohl ‚Muße‘ als auch ‚Müßigkeit‘ sind letztlich von einer Vorgängerform des neuhochdeutschen Verbs ‚müssen‘ abgeleitet (1DWB 1852–1971: s. v. musze; Kluge 2011, Pfeifer u. a. 1993: s. v. Muße), dessen Entsprechungen in alt- und mittelhochdeutscher Zeit auch ‚können‘ oder ‚dürfen‘ bedeuteten (AWB 1952 ff.: s. v. muozan; BMZ 1854–1866, Lexer 1869–1878: s. v. müezen). Dementsprechend ist in den ersten Zeugnissen für das althochdeutsche Substantiv muoza v. a. die Bedeutung ‚Gelegenheit‘ nachzuweisen (AWB 1952 ff.: s. v.), die sich als Einzelbedeutung bis ins Frühneuhochdeutsche belegen lässt (FWBonline 1986 ff.: s. v. musse). Mit dieser Grundbedeutung von muoza hängt eine Ambivalenz zusammen, die trotz zahlreicher Prozesse des Bedeutungswandels auch später bei Wörtern der Wortfamilie (‚Muße‘, ‚müßig‘, ‚Müßiggang‘) präsent bleibt: Es wird ein (zeitlicher) Freiraum bezeichnet, der einem die Gelegenheit bietet, etwas Erstrebenswertes zu tun, aber eben auch die Gelegenheit, Zeit sinnlos zu verschwenden oder etwas Negatives zu tun. Anders als (weitgehend) im Neuhochdeutschen sind im Mittelhochdeutschen positive und negative Bedeutungsaspekte nicht auf die Wörter ‚Muße‘ und ‚Müßiggang‘ verteilt, sondern eine Ambivalenz lässt sich jeweils bei den Verwendungsweisen der Wörter muoze und müezecheit feststellen: Sie können ebenso gefährliches Nichtstun bezeichnen wie eine erstrebenswerte innere Offenheit (Becker 2019: bes.

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107–122; Hasebrink 2014; Keiling 2019: bes. 1–9; Manuwald/Becker/Bernhardt u. a. 2016: s. v. müezecheit und muoze). Der diachrone Bedeutungswandel bei einzelnen Wörtern der Wortfamilie von ‚Muße‘ verweist darauf, dass im gesamten Feld bedeutungsähnlicher Wörter Verschiebungen im Bedeutungsspektrum stattgefunden haben, also potenziell auch bei Wörtern, die vom Wortstamm her nicht mit ‚Muße‘ verwandt sind (wie z. B. ‚Ruhe‘). Um solche Verschiebungen zu erfassen, ist es hilfreich, das gesamte Wortfeld zu betrachten. Die vom Einzelwort ‚Muße‘ bzw. der Wortfamilie ausgehende semasiologische Perspektive ist also um eine onomasiologische Betrachtungsweise zu ergänzen, da es letztlich darum geht, mit welchen Wörtern das Konzept ‚Muße‘ beschrieben und von anderen Konzepten abgesetzt wird. Zwar lässt sich ein Wortfeld zunächst über die Bedeutungsverwandtschaft von Wörtern ermitteln – auch Wörter mit entgegengesetzter Bedeutung (Antonyme) spielen eine Rolle –, für die Eingrenzung des Wortfelds um ‚Muße‘ ist dennoch wenigstens ein vorläufiger konzeptueller Mußebegriff vonnöten, auch wenn konzeptionelle Festlegungen problematisch sind (Gimmel/Keiling 2016: 1–10). Die nähere Bestimmung des Wortfelds um ‚Muße‘ soll hier zunächst modellhaft am Mittelhochdeutschen vorgestellt werden, um Aspekte einzuführen, die auch für den Vergleich verschiedener Einzelsprachen unter dem Aspekt der Muße relevant sind. Bei Sondierungen zum Wortfeld um mittelhochdeutsch muoze und müezecheit (Manuwald/Becker/Bernhardt u. a. 2016) war es ein wichtiges Kriterium, dass Phasen der Muße durch ↗ Freiheit und eine gewisse Art von Zweckenthobenheit (↗ [Un-]Produktivität) gekennzeichnet, aber in der Ausfüllung unbestimmt sind (Lauppe/Manuwald 2018: 277; mit Bezug auf Hasebrink/Klinkert 2014: 8 f.). Neben Antonymen wie unmuoze und unmüezecheit und Wörtern wie kurzwîle (‚Zeitvertreib‘), die sich auf eine von Muße verschiedene Art der Ausfüllung zeitlicher Freiräume beziehen, wurde deshalb beispielsweise auch ledicheit (,Freisein‘) als zum Wortfeld zugehörig erachtet. Dafür lässt sich zusätzlich das Argument anführen, dass Wörter aus der Wortfamilie von ledicheit und der von muoze bzw. müezecheit gemeinsam vorkommen. Für die Erforschung des Wortfelds um ‚Muße‘ ergibt sich insgesamt die doppelte Herausforderung, dass sich das Feld und das Verhältnis der einzelnen Lexeme im Verlauf der Geschichte verändern und dass das Verhältnis der einzelnen Lexeme in dem Feld auch synchron dynamisch ist, da es je nach Textsorte, Kontext und Handlungszusammenhang variiert (Lauppe/Manuwald 2018): So stellt sich das Verhältnis von Tätigkeit und Untätigkeit (mittelhochdeutsch müezecheit und unmüezecheit) z. B. im Rahmen der christlichen Lasterlehre anders dar (,Müßiggang ist aller Laster Anfang‘) als im Kontext der christlichen Mystik, wo das Aufgeben äußeren Strebens als eine wichtige Voraussetzung für die Begegnung mit Gott konzipiert sein kann (Hasebrink 2017b; 2014: 107–115, 129 f.; Keiling 2019; Manuwald 2022).



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Die Verwendungsweisen der Wörter des Wortfeldes um muoze sind im Mittelhochdeutschen jedoch nicht nur vom Zusammenhang des jeweiligen Einzeltextes und seiner Kontexte geprägt; implizit beziehen sie sich angesichts der Zweisprachigkeit der damaligen Schriftkultur oft auch auf Bedeutungen semantisch verwandter lateinischer Wörter wie acedia als Bezeichnung für das Laster der Trägheit oder otium: Das Wort otium, das als Benennung für eine Abwesenheit von Verpflichtungen oder (kriegerischer) Unruhe bereits im klassischen Latein vielschichtige Bedeutungen annehmen kann (Eickhoff 2021a; 2021d; Harter 2016), begegnet etwa beim Kirchenvater Augustin als otium desidiae (,träge Untätigkeit‘) ebenso wie als otium cogitationis (,Freiraum für gedankliche Versenkung‘) (Kirchner 2018a: 267–277) oder sogar als otium sanctum (,heilige Muße‘) (Manuwald 2021: bes. 118 f.). Analoge Spezifikationen, die ein ambivalentes Bedeutungsspektrum fallweise festschreiben, lassen sich entsprechend bezogen auf müezecheit finden, wenn das Wort als verlegeniu müezecheit (‚träger Müßiggang‘) oder ledig muͤssekeit (,geistige Offenheit‘) qualifiziert wird (Becker 2019: 107–122; Hasebrink 2014; Keiling 2019: 1–9; Manuwald/Becker/Bernhardt u. a. 2016: s. v. müezecheit). Dabei handelt es sich nicht unbedingt um Übersetzungen aus dem Lateinischen, sondern um Reaktionen auf Ambivalenzen, die beim Mußebegriff offenbar vorhanden sind und die auf konzeptueller Ebene die Einzelsprachen überschreiten.

‚Muße‘ im Sprachvergleich: Von der Wortsemantik zur kulturellen Semantik Die methodologischen Erfordernisse, die sich für die Erforschung der Semantik von ‚Muße‘ im Mittelhochdeutschen als notwendig erwiesen haben, stellen sich umso mehr, wenn man den Fokus vom Deutschen auf andere Sprachen erweitert: Wörter, deren Bedeutungsspektrum mit dem des neuhochdeutschen Wortes ‚Muße‘ genau übereinstimmt, lassen sich kaum finden. Das gilt schon für die antiken Bezeichnungen (altgriechisch) scholē (Kirchner/Jürgasch 2021) und (lateinisch) otium, obwohl die damit verbundenen Konzepte, wie sie insbesondere im Humanismus rezipiert wurden (Möllenbrink 2017), heutige westeuropäische Mußevorstellungen mit prägen. Genannt sei hier nur die auf Cicero zurückgehende Phrase des otium cum dignitate (‚würdevolle Muße‘), die zum Sinnspruch geworden ist. Zwar überlappt sich das Bedeutungsspektrum von otium mit dem von ‚Muße‘, es ist aber nicht deckungsgleich, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass auch das Antonym negotium (‚Tätigkeit‘, aber auch ‚Staatsdienst‘) anders besetzt ist als das heute nicht mehr gebräuchliche Wort ‚Unmuße‘ (Eickhoff 2021c: bes. 8–18, 89–104; Menghi 2016). Angesichts der Ermangelung exakter Entsprechungen für das neuhochdeutsche Wort ‚Muße‘ ist es daher nötig, für die Erschließung von Mußevorstellungen

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im kulturellen Umfeld anderer Sprachen jeweils mit einem onomasiologischen Zugang ein ganzes Wortfeld zu betrachten: Zentrale Wörter sind dabei etwa im Englischen idleness (,Müßiggang‘, ‚Nichtstun‘, ‚Faulheit‘), indolence (,Trägheit‘) und leisure (,Freizeit‘, auch ‚Muße‘) (Fludernik 2021a: 210–216; Fludernik/ Nandi 2014b), im Französischen oisivité (,Trägheit‘) und loisir (,Freizeit‘, auch ‚Muße‘) (Sennefelder 2018: 31–39), im Russischen prazdnost’ (,Müßiggang‘) und dosug (,Freizeit‘, auch ‚Muße‘) (Cheauré 2021b; 2017b). Auch im Tschechischen wird zwischen positiv besetzten Wörtern für zeitliche Freiräume und negativ besetzten Wörtern für ‚Müßiggang‘ unterschieden, wobei bei den zeitlichen Freiräumen auch wertneutral die Zeitspanne bezeichnet werden kann (Kasten 2021: 268–272). Für die hier exemplarisch aufgeführten Wörter können die schlagwortartig angegebenen deutschen Entsprechungen das komplexe Bedeutungsspektrum nur unvollkommen abbilden. Die Wortfelder der genannten Einzelsprachen sind jeweils vielschichtiger und umfassen etwa auch Bezeichnungen für Zerstreuungen. Bei der Untersuchung der Wortfelder ist außerdem zu beachten, dass – wie im Deutschen – bei jeder Einzelsprache im historischen Verlauf Veränderungen im Wortfeld stattgefunden haben. Sie betreffen sowohl die Gewichtung, wenn etwa im Mittellateinischen neben otium die Ableitung otiositas als Bezeichnung für ‚Müßiggang‘ an Prominenz gewinnt, als auch den Wandel der Bedeutung einzelner Wörter (Cheauré 2021b; 2017b; Kasten 2021: 268–272), wenn z. B. oisivité im Altfranzösischen durchaus noch ‚Muße‘ bedeuten kann, aber im 19. Jahrhundert eine deutliche Bedeutungsverschlechterung erfährt (Sennefelder 2018: 31–49; Sennefelder/Feitscher 2016: 606). Auch der Aspekt des Sprach- und Kulturkontakts, der bereits beim Verhältnis vom Mittelhochdeutschen zum Lateinischen modellhaft erläutert wurde, ist für die Betrachtung von Mußewortfeldern in verschiedenen Einzelsprachen generell wichtig. Denn die ‚Übersetzbarkeit‘ von ‚Muße‘-Ausdrücken und die damit verbundene Auseinandersetzung mit den dahinterliegenden Mußekonzepten ist nicht erst bei der Analyse der Wortfelder ein Thema, sondern kann bereits deren Konstituierung mit beeinflussen. Besonders deutlich zeigt sich das beim Sprechen über Muße in kolonialen oder postkolonialen Zusammenhängen (↗ [Post‑]Kolonialismus), in denen sich  – bei asymmetrischen Machtverhältnissen – sowohl die Kolonialisierenden als auch die Kolonialisierten mit Mußekonzepten der jeweils anderen Kultur auseinandersetzen (Fludernik 2020; Noor 2021). Übersetzungsprozesse begegnen hier auf der Ebene von Einzelwörtern und Phrasen, wenn etwa otium cum dignitate mit (sonst nicht gebräuchlichen) Umschreibungen in Urdu-Wörterbücher aufgenommen ist (Noor 2021: 303– 307), aber auch auf der Ebene der Einordnung bestimmter Praktiken, die aus kolonialistischer Sicht in Stereotype wie dem des ‚lazy native‘ gefasst wurden (Fludernik 2014). Für die kulturelle Einbettung von ‚Muße-Wörtern‘ ist es aufschlussreich, dass Entsprechungen zu ‚Muße‘ oder ‚Müßiggang‘ in südasiatischen Sprachen wie



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Urdu oder Bengalisch selbst bei negativen Implikationen keine Aspekte von Laster- oder Sündhaftigkeit transportieren (Noor 2021: 307), anders als das bei Sprachen christlich geprägter Kulturen der Fall ist. Das ist symptomatisch dafür, dass sogar Einzelwörter semantisch mit bestimmten Denktraditionen aufgeladen sein können. Die Analyse der Wortsemantik von ‚Muße‘ ist folglich auch immer eine Beschäftigung mit ihrer kulturellen Semantik. ‚Muße‘-Lexeme können als „Seismographen für sozialhistorische Entwicklungen und für Kulturtransferprozesse“ dienen (Cheauré 2021b: 146; ↗ Kulturtransfer). Besonders markant ist das beim Bedeutungswandel des russischen Wortes dosug zu sehen, das am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mit zweifelhaften Privilegien des Adels assoziiert wurde, sich in sowjetischer Zeit aber zu einer Bezeichnung einer funktional eingebundenen und vernünftig zu nutzenden ↗ Freizeit gewandelt hat (Cheauré 2021b). Auch einzelne Wörterbucheinträge können sich als aufschlussreich für gesellschaftliche Implikationen erweisen. So transportiert die eingangs zitierte Umschreibung des heutigen deutschen Wortes ‚Muße‘ als „freie Zeit und [innere] Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“ (Dudenredaktion o. J.) über die Wortwahl eine positive Einschätzung, die kulturell bestimmt ist. Das zeigt sich insbesondere im interkulturellen Vergleich, wenn man bedenkt, dass in China junge Leute, die mit der Kultur des ‚Flachliegens‘ (tang ping) einen gegen den Leistungs- und Konsumzwang der Gesellschaft gerichteten Lebensstil propagieren (für Links zu einschlägigen Presseberichten vgl. N. N. 2021), als subversiv von der politischen Führung kritisiert und zensiert werden. Über die Semantiken von ‚Muße‘ – vom Einzelwort bis zum Konzept – kann man sich also ihrer gesellschaftlichen Relevanz annähern.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Fludernik, Monika/Jürgasch, Thomas (Hg.) (2021), Semantiken der Muße aus interdisziplinären Perspektiven (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 20), Tübingen. Hasebrink, Burkhard/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2014b), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae 35), Berlin/Boston. Manuwald, Henrike/Becker, Rebekka/Bernhardt, Susanne u. a. (2016), Muße/muoze digital – mittelalterliche Varianten der Muße, https://www.musse-digital.uni-freiburg. de/c1/index.php/Hauptseite (abgerufen am 30.08.2021), archiviert unter: https://web. archive.org/web/20181215074714/https://musse-digital.uni-freiburg.de/index.html.

Natur Johannes Litschel Natur spielt in Mußediskursen eine wichtige, meist auch stark emotional besetzte Rolle, vor allem als Raum (↗ Raumzeitlichkeit) für temporären ↗ Rückzug. Eng verbunden ist damit im kulturellen und gesellschaftlichen Gefüge der (Spät-) Moderne der Wunsch, sich in der Natur der Wirksamkeit gesellschaftlicher Distinktionen temporär zu entziehen, um die eigene Individualität jenseits gesellschaftlicher Zuschreibungen erfahren und entfalten zu können. Naturräume werden in ihren kulturellen Konstruktionen v. a. als Gegenpole zu urbanisierten Räumen verstanden (↗ Urbanität). Der von Erfahrungen der Arbeitslast, des Zeitdrucks, der Funktionsgerichtetheit und der Fremdbestimmung geprägten Stadt wird ein von Zwängen weitgehend freier und deshalb positiv bewerteter ‚Ort im Grünen‘ gegenübergestellt. Hier scheint der Mensch mit sich und der Welt in Einklang zu stehen; gesellschaftliche Widersprüche oder Entfremdungserfahrungen sollen hier durch Entlastung, ↗ Freiheits- und Mußeerfahrung in den Hintergrund treten (Litschel 2021: 88), wenn nicht sogar überwunden werden. Muße kann in der Natur erfahren werden, beispielsweise im entschleunigten Wandern, Nachdenken oder Meditieren. Die Natur ist dabei aber nicht notwendigerweise Bestandteil der Mußeerfahrung. Wenn die Natur als Rückzugsraum wahrgenommen wird und insofern eine wichtige rahmende Voraussetzung für Muße darstellt, handelt es sich nicht nur um Muße in der Natur, sondern auch um Muße wegen der Natur. Dieser Text fokussiert den zuletzt genannten Aspekt: Er fragt weniger nach einzelnen Praktiken der Muße, die in der Natur ausgeübt werden können oder nach dem spannungsreichen Verhältnis von Muße und (bisweilen körperlich anstrengender) ↗ Arbeit in und mit der Natur. Er interessiert sich vielmehr für die Naturwahrnehmung, ihre Geschichte sowie die medialen Repräsentationen, in denen diese Wahrnehmung ihren Ausdruck gefunden hat. Diesem Fokus liegt die Annahme zugrunde, dass menschliche Wahrnehmung durch medial vermittelte Muster, ‚Frames‘, Topoi, Diskurse oder kollektive Imaginationen geprägt oder gar vorstrukturiert ist und dass sich diese wiederum auf körperliche, sinnliche, spirituelle etc. Erfahrungen  – und d. h. auch: Erfahrungen der Muße – auswirken. Insofern geht es im Folgenden nicht um individuelle Naturwahrnehmungen, sondern um die innere Logik und Geschichte von kollektiv geteilten und medial vermittelten Wahrnehmungs-



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mustern von Natur – in ihrer Relevanz für das Thema Muße. Gleichzeitig liegt der Interessensfokus auf der abendländischen Tradition und – wie sich aus dem Untersuchungsgegenstand selbst ergibt  – dem langen 19. Jahrhundert, in dem Wechselwirkungen von europäischer Aufklärung und (deutscher) Romantik einen zentralen ideengeschichtlichen Bezugspunkt dieser Entwicklung bilden. Dies zeigt sich auch daran, dass sich etwa ab dem späten 18. Jahrhundert die Ästhetisierung der Natur nicht mehr nur in kulturellen Erzeugnissen wie Literatur oder Malerei niederschlägt, sondern Naturräume im Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung des Spaziergangs (↗ Flanerie) und der Wanderung sukzessive auch realiter als Mußeräume erfahren werden.

Natur als ästhetische Kategorie ‚Landschaft‘ ab dem 18. Jahrhundert Ein wichtiges Merkmal dieser neuzeitlichen Traditionslinie ist, dass die Engführung von Mußeerfahrung und der Imagination von „Natur als Gegenwelt“ (Großklaus/Oldemeyer 1983: 8) einhergeht mit einer ästhetisierten, als ‚schön‘ empfundenen Natur (Sennefelder 2017: 118). Die Natur ist dabei nicht kleinteilig in ihre Bestandteile, in ökologische Prozesse und einzelne Teilzusammenhänge zergliedert, sondern wird als Naturganzes wahrgenommen, das über spezifische, diskursiv verhandelbare Zuschreibungen ästhetisch kategorisiert wird. Diese Konstruktion von Natur ist holistisch-synthetisierten Charakters und Grundlage dafür, dass sie als das Naturschöne oder als Landschaft wahrgenommen werden kann. Sei es der ‚ruhige Wald‘, in dem Wandern und Verweilen möglich sind, der englische Landschaftsgarten mit seinen Pavillons und Tempeln der Ruhe oder die städtische Parkanlage, die eine Auszeit von urbaner Hektik ermöglicht – gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie an spezifische ästhetische Vorstellungen gebunden sind, wie diese jeweilige ‚Natur‘ gestaltet sein soll. Hinzu kommt, dass es sich dabei nur um vermeintliche Ausprägungen von Natur handelt (im Sinne eines unberührten und sich selbst überlassenen Raumes), dass die jeweilige Beschaffenheit also vielmehr Resultat entsprechender Eingriffe des Menschen ist. Daraus folgt mit Blick auf die Muße: Wenn sie sich wegen der Natur einstellt, so bezieht sie sich auf die soziale Konstruktion eines bestimmten Natursubstrats, durch die sich Muße einstellen kann. In historischer Perspektive war eine zentrale Voraussetzung für derartige ästhetische Wahrnehmungsprozesse die Zähmung der Natur als Ergebnis der rationalen Naturdurchdringung im Zuge der Aufklärung: Die Wahrnehmung der Natur als ‚schöne‘ Landschaft im Allgemeinen und als ↗ Rückzugsraum für Muße im Besonderen wurde durch das Bewusstsein begünstigt, dass die Natur keine amorphe und potenziell gefährliche Wildnis (mehr) war, sondern vom Menschen durchdrungen wurde und ihre Unberechenbarkeit verlor (vgl. Ritter 1963). Als die Natur keine Bedrohung für den Menschen mehr darstellte, er-

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öffnete sich das Potenzial für ihre Ästhetisierung zur Landschaft, in der Muße als temporäre und individuelle ↗ Freiheitserfahrung erlebt werden konnte. Der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts und der innerstädtische Park sind geplante und gepflegte Grünflächen. Auch der Wald in Deutschland ist ab dem 18. Jahrhundert keine Wildnis mehr, sondern ein nunmehr forstwissenschaftlich und forstwirtschaftlich durchdrungenes und erschlossenes Substrat, das im Gefühl der Sicherheit aufgesucht werden konnte. Aus diesem Grund gilt das 18. Jahrhundert in der Kulturgeschichte der abendländischen Neuzeit als derjenige historische Ort, an dem sich im Zuge der Ausprägung der Naturwissenschaften dieser Wandel v. a. in (bildungs-)bürgerlichen Kreisen maßgeblich vollzog (Ritter 1963; s. a. Großklaus 1983; Trepl 2012: 53–63).

Die Natur als Idyll der Muße: Beispiel Wald Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass – erneut v. a. in Interdependenz mit der Wahrnehmung urbaner Räume – idyllische Topoi als „spezifische Form der Landschafts- und Naturimagination“ (Waßmer 2021: 58) die Wahrnehmungsprozesse charakterisieren. Im Folgenden wird dies beispielhaft anhand des Waldes veranschaulicht, der v. a. im deutschsprachigen Raum als topischer Mußeraum verstanden werden kann, da das Natursubstrat wiederkehrend und traditionsreich als Raum der temporären und individuellen Befreiung von gesellschaftlichen Beschränkungen konstruiert wird. Schon vor Beginn der Romantik spielte bei Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778) der idyllische Wald als Naturraum, in dem Muße gesucht wird, eine Rolle. Geradezu prototypisch berichtete Rousseau in seinen Bekenntnissen (1971 [erstmals 1782 bzw. 1789]) davon, dass er durch den Rückzug in die Wälder Distanz zu dem ihm ungeliebten Paris gewinnen und sich bei tagelangen ziellosen Streifzügen durch den Wald seiner Philosophie widmen konnte (Harrison 1992: 156–159). Neben diesem individuellen Fall findet sich eine derartige Wahrnehmung der Waldnatur auch auf einer breiteren, kollektiven Ebene; das Phänomen, dass der Wald als Refugium vor den Belastungen der Großstadt wahrgenommen und genutzt wurde, lässt sich ab dem 18. Jahrhundert auch für urbane Zentren in Deutschland beobachten. Bekannte und gut erforschte Beispiele sind der Berliner Grunewald, der sich bei der städtischen Bevölkerung ab dem 19. Jahrhundert großer Beliebtheit als Naherholungsziel erfreute, und der Wandsbeker Waldpark bei Hamburg (Litschel 2021). Insbesondere für den Wandsbeker Fall ist bemerkenswert, dass sich der landschaftliche Idealtypus des idyllischen Waldes nicht nur in der Wahrnehmung der Großstädter*innen, sondern auch im Planungskonzept niederschlug. Der Gartenplaner C. C. L. Hirschfeld (1742– 1792) konzipierte das knapp 40 Hektar große Waldstück auf dem Gut Wandsbek in den 1780er Jahren als Erholungsgebiet und griff dabei neben der bewussten



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Sichtbarmachung der Stadtnähe dezidiert auf idyllische Landschaftsideale zurück: Pavillons, Wandelgänge und schattige, baumumrankte Ruheinseln sollten den Wald im Sinne des Planers explizit als Raum der inneren Einkehr verfügbar und erfahrbar machen (Litschel 2021). Auf Seiten der Besucher*innen zeigen die negativ konnotierten, bisweilen abfällig geäußerten Verweise auf die große Zahl an Ausflügler*innen und Tourist*innen in den Berliner und Hamburger Wäldern einerseits die Beliebtheit dieser Ausflugsziele an, andererseits aber auch die Wirkmächtigkeit der im 18. Jahrhundert bereits existierenden Vorstellung von ‚einsamen Wäldern‘, die durch ebenjene Überfüllung konterkariert wurde (Litschel 2021). Die Romantiker griffen auf diese Naturvorstellung zurück und erzeugten an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mit diesem, bis in die Gegenwart nachwirkenden Verständnis vom Wald als Rückzugsraum eine enorme Breitenwirkung. Der Wald stand fortan Pate für die sprichwörtliche, von ihrer ursprünglichen Bedeutung weitgehend gelöste ‚Waldeinsamkeit‘, die 1797 in Ludwig Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert erstmalig Erwähnung fand. Von dem komplexen, weil hoch ambivalenten Tieck’schen Begriffsverständnis entkoppelt, entwickelte sich der Terminus schon im frühen 19. Jahrhundert zu einem bildungsbürgerlichen Pendant zu ‚Waldesruhe‘ oder ‚Waldidylle‘, das den sich ausprägenden urbanen Lebens- und Gesellschaftsstrukturen kompensierend entgegengestellt wurde (↗ Urbanität). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird zur Zeit der Hochindustrialisierung das Verständnis vom Wald als Refugium verstärkt, weil hier die die großstadt- und fortschrittskritischen Implikationen kollektiver Wald-Bilder im Zusammenspiel mit der Sehnsucht nach ‚natürlichen‘ Mußeräumen eine besondere Wirkung entfalten konnten (Litschel 2022). Zwei kulturgeschichtliche Aspekte sind in diesem Zusammenhang nennenswert: Erstens hatte sich die Wanderung, die sich aus der beruflich oder religiös motivierten Fußreise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte, als Erholungspraktik etwa ab der Jahrhundertmitte in gesamtgesellschaftlicher Breite etabliert. Wandern wurde betrachtet als mußevolle Form der Landschaftserschließung, bei der die Erfahrung der Landschaft im Mittelpunkt stehen sollte (Litschel 2021: 84–88). Dabei rückten in romantischer Tradition die Wälder stark in den Fokus der Erholungssuchenden, wurden nun aber nicht mehr nur mittels kultureller Erzeugnisse wie Literatur oder Malerei ästhetisch vermittelt, sondern auch in situ erfahren. Zweitens zeigt sich, dass in der populärkulturellen Verarbeitung des Waldes als Raum für Muße idyllische Topoi nach wie vor den Kern der Naturkonstruktion ausmachten. Beispielhaft deutlich wird dies bei einer Betrachtung eines der wichtigsten publizistischen Organe jener Zeit, der Zeitschrift Die Gartenlaube. Es handelt sich dabei um ein für die publizistische Öffentlichkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hochrelevantes Periodikum mit enormer Reichweite und starkem politischem und kulturellem Einfluss nicht nur, aber v. a. im bürgerlichen Milieu (s. beispielhaft

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für die umfangreiche Forschungsliteratur zur Gartenlaube Stockinger 2018). In denjenigen Wanderskizzen, Reisebeschreibungen und ethnografischen Notizen der Gartenlaube, in denen der Wald als Erholungs- und Rückzugsraum ins Zentrum gestellt wurde, wurde dieser Naturraum vom Gründungsjahr der Zeitschrift 1853 bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein mit bemerkenswerter Stabilität als idyllisches, einladendes Refugium verarbeitet. Konstruiert wurde ein in sich ruhender, abgeschiedener und abschirmender Raum, der ausschließlich den Rhythmen einer zyklischen Naturzeit unterworfen zu sein schien und in dieser Wahrnehmung die idealen Rahmenbedingungen für Muße zu bieten schien. In diesen eigenlogischen raumzeitlichen Mikrokosmos gliederte sich dann selbst die Waldarbeit ein, die – vom externen Waldbesucher interessiert beobachtet – nicht als mühevoll und gefährlich, sondern als gelassenes und selbstbestimmtes, mußevolles Tun der ‚Wäldler‘ verklärt wurde (Litschel 2022).

Der Wald als Raum für Muße in der Gegenwart Das Narrativ vom Wald als eigenlogischem Raum für Rückzug und Muße ist bis ins 21. Jahrhundert hinein wirksam und dominiert die nichtforstliche Wahrnehmung des Naturraums nach wie vor. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich sowohl die kulturellen und gesellschaftlichen Umstände als auch die ökologische Situation der heimischen Wälder seit der Romantik signifikant verändert haben und freilich auch weiterhin Veränderungen unterworfen sind. Die Vorstellung von ‚einsamen Wäldern‘, die als gesellschaftliche Gegenräume imaginiert werden, zeigt sich damit als bemerkenswert breites und stabiles kulturhistorisches Fundament: Auch gegenwärtig nehmen Touristinnen oder Spaziergänger den Wald als Naturraum mit einer spezifischen topologischen Struktur wahr, die es Menschen ermögliche, in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht (z. T. solipsistisch) Distanz zu ihrem Alltag zu gewinnen (Ensinger/Wurster/Selter u. a. 2013). Gleichzeitig, so ein weiterer Befund zeitgenössischer Studien, sei der Wald in der Wahrnehmung der Besucher*innen durch zyklische Zeitstrukturen und zeitliche (weil waldökologische) Maßstäbe charakterisiert, die über die temporalen Horizonte menschlicher Erfahrung hinausgingen. Aus diesem Grund würden für die Proband*innen der entsprechenden Untersuchungen lineare, eng getaktete Zeitstrukturen des Alltags im Wald an Relevanz verlieren und eine Überwindung jener temporalen Beschränkungen ermöglichen, die mit der ‚eigentlichen‘, technisch-sukzessionalen ↗ Zeit in Verbindung stehen (Ehret/ Roth/Zimmermann/Thomaschke 2020; Ensinger/Bethmann/Wurster/Selter u. a. 2014). Diese Erkenntnisse ergänzend erscheint es denkbar, dass die Wegführung im Wald, die durch einen unübersichtlichen, mäandrischen oder labyrinthischen Verlauf gekennzeichnet ist, Erfahrungen ermöglicht, die in positiver Weise vom häufig durch zielgerichtetes Gehen (und Denken) geprägten Alltags-



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erleben abweichen und insofern in den Kategorien der Muße beschrieben werden können. Deutlich wird dabei aber zweifelsohne erneut die ideengeschichtliche Sedimentierung idyllisch-gegenweltlicher Konstruktionen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Waldnatur als Raum für Muße einerseits und die Notwendigkeit einer (forstlich) gezähmten Natur als Grundlage für diese Wahrnehmungsprozesse andererseits. Denn, und das ist in diesem Zusammenhang erneut zu betonen: Der Wald, der von den Besucher*innen seit dem späten 18. Jahrhundert als Raum der Muße verklärt wird, ist, von Sonderfällen wie dem Wandsbeker Waldpark abgesehen, kein speziell eingerichteter Mußeraum, wie es ein Andachtsraum oder ein Landschaftsgarten sein könnte, sondern ein unter ökonomischen und ökologischen Gesichtspunkten gestaltetes materiales Substrat, das in medialen Repräsentationen und der durch diese geprägten Wahrnehmung zu einem idyllischen Refugium konstruiert wird.

Ein Paradoxon: Das ‚unberührte‘ Idyll der Muße als gezähmte Natur Was lässt sich auf Grundlage des Gezeigten in einer allgemeineren Form zum Verhältnis von Mußeerfahrung und Naturwahrnehmung schließen? Muße lässt sich verstehen als ein Modus der Gelassenheit, der durch die Entlastung von externen Sinnstrukturen gekennzeichnet ist. Die positive Bewertung von Muße liegt dabei u. a. auch darin begründet, dass die Erfahrung von negativer ↗ Freiheit positive Freiheit und damit Selbstreflexion, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, also Erkenntnis über das eigene Selbst, ermöglichen kann (Gimmel/Keiling 2016: 41, 62 f., 68). V. a. die Freiheit von z. B. gesellschaftlichen Rollenerwartungen oder zweckrationalen Logiken ist für den hier skizzierten Zusammenhang von Muße und Naturwahrnehmung relevant. Denn eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich in der Natur ein Zustand der Gelassenheit einstellt, ist die Möglichkeit, sich ihr zwanglos und in potenziell genießender Haltung zuwenden zu können (Litschel 2022). Dies gilt für Räume der Muße im Allgemeinen, die umso mehr Räume für Muße sein können, je weniger sie funktional auf Muße zugeschnitten sind (↗ Raumzeitlichkeit; Figal 2014a: 32). Für den Zusammenhang von Muße und Naturwahrnehmung gilt dies aber im Besonderen, denn erst durch zwanglose Annäherung kann die Vorstellung von ‚Natur als Gegenwelt‘ des Alltags entstehen: Erst wenn die Möglichkeit existiert, Natur nicht primär als Ressource nutzen zu müssen, beispielsweise um die eigene unmittelbare und mittelbare Versorgung zu sichern, wird eine Annäherung an die Natur möglich, die nicht mehr von der Notwendigkeit der Ressourcengewinnung oder Nahrungsproduktion geleitet wird. Die Naturaneignung kann dann vielmehr in jener potenziell genießenden Haltung erfolgen. Anstatt Ökosystem und Holzlieferant kann der Wald dann ‚schöner‘ Rückzugsraum, statt Ackerfläche und Grünland kann die Natur vor den Toren

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der Stadt zum Idyll der Muße werden. Weder der ländliche Raum noch der Wald waren und sind somit per se Räume für Muße, sondern sie wurden und werden in der skizzierten historischen Entwicklung in der kollektiven Imagination als solche konstruiert. Erneut zeigt sich, dass und wie das (späte) 18. Jahrhundert als wichtiger kulturhistorischer Bezugspunkt eine Rolle spielt: Die einsetzende Industrialisierung erwirkte eine Transformation von einer agrarischen zu einer sich industrialisierenden, arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Die Bereitstellung natürlicher Ressourcen wurde sukzessive die Aufgabe bestimmter Bevölkerungsteile der Urproduktion. Im Gegenzug ermöglichte die Industrialisierung dem Großteil der Bevölkerung, der nicht (mehr) im primären Sektor tätig war, die Natur nicht aus existenziellen Gründen bearbeiten zu müssen, sondern sich ihr in zwangloser Haltung annähern zu können – gefördert von dem bereits skizzierten aufklärerischen Wissen über die Zähmung und rationale Durchdringung jener Naturräume. Diese gesellschaftliche Transformation ging zudem einher mit zunehmender Verstädterung. Im Zusammenhang mit dem oben Gezeigten schließen wir daher, dass die Vorstellung von Naturräumen als Räume für Muße in ihrer Entstehung im urbanen, kulturell geprägten Kontext zu verorten sind (↗ Urbanität). Dies beschränkt sich nicht auf eine einfache dichotome Gegenüberstellung von ‚Stadt‘ und ‚Land‘, sondern bezieht sich auf einen urbanisierten Lebensstil, der eine lebensweltliche Entfernung von der Natur als Ressource ermöglicht (Härdter 2004: 183–187). Für die Wahrnehmung der Natur als Raum für Muße erscheint daher neben einer vor allen Dingen soziokulturell begründeten Distanz zur Natur eine Überschreitung der eigenen lebensweltlichen Grenzen, die im ‚Hinausgehen‘ aus der urbanisierten Lebenswelt eine Differenz zum Alltag erschafft, als wichtige und begünstigende Voraussetzungen für eine Mußeerfahrung in der Natur. Dies bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass nur denjenigen eine ästhetische Naturerfahrung möglich ist, die es sich leisten können, die Natur nicht bearbeiten zu müssen. Wie Klaus Schriewer richtig bemerkt und in empirischen Überprüfungen belegt, wäre es fahrlässig, denjenigen Menschen, die in und mit der Natur arbeiten, ein ästhetisches Verständnis für die sie umgebende Umwelt abzusprechen (Schriewer 2015: 163). Allerdings: Die primäre Wahrnehmung von Naturräumen als Räume für Muße scheint sich v. a. dann konstituieren zu können, wenn die Natur als von Arbeit und Zwang entlastete Sphäre zum ästhetischen Verweilen aufgesucht und wieder verlassen werden kann. Dieser Rückschluss lässt sich aus dem hier Gezeigten ziehen, gleichzeitig kann auch davon ausgegangen werden, dass sich ebenso diejenigen, die die Natur bearbeiten, diese in der oben beschriebenen, geistesgeschichtlich geprägten ästhetischen Tradition wahrnehmen können. Die Frage, ob es sich dann um Mußeerfahrungen in der Natur handelt, die sich jenseits der hier besprochenen, ästhetischen Wahrnehmungskategorien bewegen oder auf diese zurückgreifen, ist noch offen. Zielführend scheint hierbei auch eine



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Perspektivierung der ↗ Arbeit als naturbearbeitende Praktik zu sein, die Fragen nach den Modi dieser spezifischen Naturwahrnehmung ergänzen kann. Das hier geschilderte Verweilen in der Natur hat zur Folge, dass lebensweltliche Beschränkungen auf eine Art und Weise suspendiert werden, dass das Erlebnis des Raumes (in seiner räumlichen Dimension) besonders intensiviert wird. Dies kann zu einer ↗ Erfahrung führen, bei der der Mensch mit sich und v. a. der Umwelt in Einklang sein kann. Die Vorstellung von ‚schöner‘ Natur als Rückzugsraum für Muße (↗ Rückzug) belegt ein damit verbundenes Naturbild, das von der Forschung als ein sympathetisches oder romantizistisches bezeichnet wird (Huber 1991). In seinem Rahmen erscheint Natur weniger als ein durch den denkenden und handelnden Menschen zum Objekt degradiertes Phänomen. Vielmehr verweist es auf die Gleichberechtigung von menschlicher Natur und ‚natürlicher‘ Umwelt (Huber 1991). Im Gegensatz zu einem possessionistisch ausgerichteten Naturbild, das auf eine Durchdringung, Unterwerfung und Nutzbarmachung der Natur abzielt, versteht das sympathetische den Menschen als Teil der Natur, in die er sich harmonisch eingliedert. Der Mensch wird in dieser Sichtweise mehr zum Apologeten der Natur als zu deren Ausbeuter (Huber 1991: 33). Dieses Naturbild ist allgemein charakteristisch für fortschritts- und zivilisationskritische Diskurse und daher nicht ausschließlich mit einer mußevollen Naturaneignung verbunden. Es wird aber relevant, wenn Muße, wie bei Anna Sennefelder, als intensive Gegenwartserfahrung verstanden wird, die sich neben der Zeit- auch auf die Raumwahrnehmung bezieht; im Ergebnis steht dann neben einer gefühlten Verankerung im Moment auch eine enge Bindung an den Raum der Mußeerfahrung (Sennefelder 2017: 20; s. a. Feitscher 2016: 80). Mit der Übertragung dieser Prämisse auf die Verwendung von Naturräumen als Räume für Muße wird eine Nähe zu sympathetischen Naturbildern und damit zu fortschritts- und kulturkritischen Diskursen deutlich: Das Individuum, das die Natur als eine Gegenwelt auffasst, die als externalisiertes Artefakt die Voraussetzung für Muße darstellt, gliedert sich temporär in die Natur ein, anstatt sie utilitaristisch als Ressource zu verstehen (Litschel 2022). Die Natur ist dann keine ‚Natur der Ökonomie‘ mehr, sondern wird, wie Ludwig Trepl es formuliert, zu einer „Landschaft der Kontemplation“, die in Muße geschaut werden kann (Trepl 2012: 57; ↗ Kontemplation). Die Natur als Artefakt für Muße kann dann den oben beschriebenen Erkenntnisgewinn begünstigen, der sich aber dann nicht mehr aus der rational-wissenschaftlichen Durchdringung der Natur ergibt, sondern über deren betrachtende Schau in Muße, die dem Menschen Aufschluss über sein eigenes Selbst geben kann.

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Fazit Zwar ist die (Wald-)Natur, die ab dem 18. Jahrhundert insbesondere vor dem Hintergrund der romantisch-bürgerlichen Traditionslinie mit Muße in Zusammenhang gebracht wird, eine gezähmte, die Vorstellung vom Idyll der Muße im Rahmen eines sympathetischen Naturbildes impliziert aber zugleich die Ablehnung menschlicher Eingriffe, Durchdringung und Nutzung. Damit ergibt sich eine Paradoxie, mit der sich der Zusammenhang von Mußeerfahrung und Naturwahrnehmung unter dem hier gesetzten Fokus insgesamt charakterisieren lässt: Die abendländisch-neuzeitliche prototypische Natur der Muße ist eine (vermeintlich) unberührte, die diesen Charakter aber erst dann erhält, wenn die Natur zuvor mittels der menschlichen Ratio verstanden, durchdrungen und gezähmt wird. Das eröffnet abschließend auch die bewusst offen gehaltene Frage, ob und inwiefern die Natur der Muße die Voraussetzungen ihrer Entstehung überhaupt zu überschreiten im Stande ist, wenn die (vermeintliche) Freiheit der Muße wegen der Natur nur im Kontext einer diskursiven Vorprägung durch die Moderne erfahren werden kann.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Ehret, Sonja/Roth, Sibylle/Zimmermann, Salome U./Selter, Andy/Thomaschke, Roland (2020), „Feeling Time in Nature. The Influence of Directed and Undirected Attention on Time Awareness“, in: Applied Cognitive Psychology 34,3, 737–746. Litschel, Johannes (2021), „‚Die Ruhe die dem Weisen lacht, im Schooße der Natur gefunden‘. Stadtnahe Wälder als Räume für Muße? Voraussetzungen, Kontexte und Fallbeispiele“, in: Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 19), Tübingen, 83–109. Litschel, Johannes (2022), Rückzug und Freiheit. Der Wald als Raum für Muße in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kontexte, Rahmenbedingungen und Formen einer spezifischen Waldwahrnehmung, Freiburg, DOI: 10.6094/UNIFR/226251.

(Post-)Kolonialismus Monika Fludernik Im Sonderforschungsbereich haben sich zwei anglistische Projekte (C3, G4) kolonialen und postkolonialen Thematiken in Verbindung mit Mußepraktiken und -diskursen in Indien gewidmet. Ein weiteres ethnologisches Projekt (C5) widmete sich dem Thema Muße und Arbeit in Namibia. Die Verbindungen zwischen (Post-)Kolonialismus und Muße werden im Folgenden beispielhaft an den Ergebnissen der anglistischen Projekte diskutiert. Ausgangspunkt dieser Projekte war die Einsicht, dass Muße als „soziale Distinktion“ fungiert (Fludernik 2017) und daher inhärent Machtverhältnisse reflektiert. Im indischen kolonialen Kontext heißt das, dass ein Recht auf Muße einerseits von den indischen Eliten für sich in Anspruch genommen wurde und andererseits die britischen Kolonialbeamten dieses Privileg nachahmten. In der indischen Bevölkerung galt Muße zwar auch als ein Privileg der oberen Schichten, es gab jedoch generell keine Verdammung der arbeitenden Bevölkerung als faul oder ‚müßig‘. Hingegen bedient sich der koloniale Diskurs mehrerer Topoi, die auf britisch-puritanische Vorstellungen rekurrieren, und die Einheimischen generaliter als faul (Stichwort „the lazy native“ – Alatas 1977) kennzeichnen. Durch diese Zuschreibung untermauern die Kolonisten insgesamt, auch die rangniedrigeren unter ihnen, ihren Anspruch auf einen gehobenen Lebensstandard (z. B. durch die Beschäftigung zahlreicher einheimischer Diener), den sie z. T. in Großbritannien nicht hätten erwarten dürfen. Durch die wechselseitige Beeinflussung zwischen kolonialen und einheimischen Einstellungen und Diskursen, die nach Homi Bhabha (1994; s. a. Fludernik 1998) ein typisches Kennzeichen der kolonialen Hybridisierung ist, lassen sich die zu beschreibenden Phänomene und Prozesse auch als Aspekte eines britisch-indischen ↗ Kulturtransfers interpretieren. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile: (1) Mußepraktiken im vorkolonialen Indien; (2) die Verdammung der Einheimischen als faul; (3) Übernahme des britischen kolonialen Diskurses seitens indischer Eliten; und (4) Postkolonialismus und Globalisierung. Die vorkoloniale Zeit ist hier bis 1757 angesetzt, also bis zur Schlacht von Plassy, in der Großbritannien die Franzosen in Bengalen besiegte und eine koloniale Herrschaft über große Teile Nordindiens zu etablieren begann. Ein weiteres wichtiges Datum ist 1857, der Sepoy-Aufstand (aus britischer Sicht als The Mutiny bekannt, aus indischer Perspektive als First War of Indian Independence bezeichnet). Der Aufstand markiert das Ende des

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regierungshaften Status der East India Company in Indien und leitet die direkte britische Herrschaft in Indien (auch als Raj bekannt) ein. Queen Victoria und später George V. wurden Kaiserin bzw. Kaiser von Indien. Der dritte Wendepunkt ist 1947, die Unabhängigkeit Indiens, die mit einer Teilung in Indien und Pakistan (als Partition bekannt) nach religiöser Zugehörigkeit einhergeht.

Mußepraktiken im vorkolonialen Indien Muße ist im vorkolonialen Indien durch drei Aspekte geprägt. Erstens war Indien bis zum 19. Jahrhundert ein vorindustrielles Land, in dem Arbeitsprozesse nach Jahreszeit und Wetter strukturiert waren. Wie der Sonderforschungsbereich zeigen konnte, sind generell in vorindustriellen Gesellschaften die Arbeitsrhythmen so organisiert, dass es saisonale Ruhepausen gibt, wiederkehrende Feste und gesellige Zusammenkünfte, und dass die Arbeit selbst z. T. individuell so ausgeführt werden kann, dass sie Erholungspausen und flow alternieren lässt (Beispiele etwa bei Dobler 2021; 2017; 2016). Diese generelle Rahmung der Arbeit wird in Indien durch den Kolonialismus (Monokulturen und Plantagen) und die Industrialisierung (erste Fabriken) durchbrochen, auch wenn sie in weiten Teilen der Gesellschaft und des Landes weiterbesteht. Zweitens existiert eine einheimische Elite, die sich Muße leisten kann, also eigene Mußepraktiken und ‑traditionen entwickelt hat. Hier spielen die Künste eine entscheidende Rolle, insbesondere während der Mughal-Herrschaft in Indien. Die Einflüsse des persischen Hofes und der Lyrik-Tradition generieren in Indien u. a. die Poesie der ghazals und anderer Formen von Dichtung; aber auch der Tanz spielt eine zentrale Rolle. Man denke an die wohl etwas übertriebene Darstellung des Hofs von Wajid Ali Shah von Lucknow in Satyajit Rays Film Die Schachspieler (1977), der von der Absetzung des Nawabs durch die Briten 1856 handelt. Auch das Halten von Tauben und die Tradition des Drachenfliegens werden von Ray thematisiert. Sozial weniger hochstehende Schichten konnten sich dem Rauchen, Schachspielen und der Konversation als Mußepraktiken verschreiben, wie dies die Schachspieler Mir und Mirza im Film praktizieren. Muße ist also auch im traditionellen Indien ein sozial konfiguriertes Privileg der oberen Schichten, jedenfalls in Hinblick darauf, dass diese (nicht nur in Indien) in Friedenszeiten nicht arbeiten mussten und von den Einkünften aus ihrem Grundbesitz lebten. Die bereits erwähnten Mußepraktiken der Reichen können mit Hinweis auf die lange literarische Tradition Indiens ergänzt werden. Fürstenhöfen gemäße Freizeitpraktiken, die mußeaffin sind, wie Jagd, das Würfelspiel, der Tanz sowie Geselligkeit, werden im Mahābhārata und bei Kalidasa geschildert (Ali 2004; Lienhard 1984; Wilhelm 2007). Darüber hinaus gibt es im Sanskrit-Drama in den Monologstücken caturbhāṇī (5.–6. Jahrhundert; De 1926; Moačanin 2012) zwei Mußefiguren, nämlich den viṭa und den nāgaraka.



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Im Pādatāḍitaka des Śyāmilaka schlendert der viṭa durch die Stadt; er ist ein Flaneur, sieht sich alles an, plaudert, betrachtet die Architektur und genießt andere schöne Dinge: er widmet sich einem extensiven Liebesleben und dem Luxus. Dem nāgaraka, der Figur des städtischen Lebemanns („man about town“), wird schon in der Kāmasūtra ein Kapitel gewidmet (I, 4; Ali 2004; Wilhelm 2007). Hiermit könnte man zumindest ansatzweise von einem indischen Flaneur reden. Im Buddhismus und anderen religiösen Gruppierungen in Indien spielten ↗ Askese und Meditation eine zentrale Rolle. Jedoch sollte man Muße und Meditation nicht gleichsetzen, da letztere schwerste Arbeit an sich selbst beinhaltet. Die durch den modernen Yogakult im Westen verbreitete Interpretation, dass Meditation und Achtsamkeitsübungen Muße generieren könnten, gehen an den Realitäten der indischen Askese vorbei (Michaels 2004; ↗ Religiöse Praktiken; ↗ Achtsamkeit). Dennoch findet sich in anglophonen Romanen der Gegenwart dieses (eventuell orientalistische) Klischee immer wieder (Munz 2020).

Der Kolonialismus und die Faulheit Die britischen Kolonisten waren von einer puritanischen Kultur geprägt, die sich auf der Basis calvinistischer Lehren bereits im England des 16. Jahrhunderts auszubreiten begann und im 18. Jahrhundert und danach immer weitergehender an Bedeutung gewann. Durch die Ablehnung des Katholizismus mit seinen religiösen Festen, Heiligenverehrung und Klosterkultur, die als Müßiggang verschrien waren, etablierte sich in Großbritannien eine protestantisch-bürgerliche Weltsicht, die Fleiß verabsolutierte und Arbeit reglementierte. Freie Zeit, so sie nicht für Gottesdienste oder Bildung genutzt wurde, gelangte auf diese Weise in den Ruch von Müßiggang und Faulheit, die wiederum als Quell allen Lasters betrachtet wurden. Im 18. Jahrhundert kehrte sich dieser negative Stereotyp im Kontext der Rousseau’schen Zivilisationskritik in das Lob der Muße des edlen Wilden um (Fludernik/Haslinger/Kaufmann 2002; Lovejoy/Boas 1997). Diese Auffassungen schlugen sich in zahlreichen Schriften gegen Faulheit und Müßiggang nieder (z. B. John Jewels Traktat in seinem Second Book of Homilies, „Against Idleness“, 1571; Jordan 2003) und betrafen v. a. die Disziplinierung der Lehrlinge und des städtischen Pöbels (bzgl. Lehrlingen s. Aldrich 2006). Bereits im 16. Jahrhundert wurden Landstreicher und Bettler in Zuchthäuser (sogenannte Bridewells) gesteckt, um sie durch Zwangsarbeit zu ‚läutern‘. Ab dem 18. Jahrhundert, als der Adel nicht mehr als Kriegerkaste agierte, erweiterte sich die Schelte des Müßiggangs auch auf die Adeligen, die zunehmend als Lüstlinge und Parasiten gesehen wurden. In Anbetracht dieser gesellschaftlichen Vorurteile in England ist es wenig verwunderlich, dass die Briten in den Kolonien die Einheimischen als faul ansahen. Der Begriff des lazy native wurde zwar für den pazifischen Raum geprägt (Alatas

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1977), entspricht aber durchaus den Ansichten englischer Kolonisten in Indien (Jordan 2003; Masurczak 2016): The idleness of the natives is excessive; for instance my ayah will dress me, after which she will go to her house, eat her dinner, and then returning, will sleep in one corner of my room on the floor for the whole day. The bearers also do nothing but eat and sleep, when they are not pulling the pankhās. (Parkes 2002: 19)

Auch für Südafrika gibt es zahlreiche Belege, v. a. in Reiseberichten. So mokiert sich Johan Nieuhof 1654 (zit. Raven-Hart 1971: I, 22) darüber, dass die Einheimischen fauler als die Schildkröten wären, die sie essen, bzw. Volquart Iversen 1667, dass sie nur herumsäßen und gar nichts täten (zit. Raven-Hart 1971: I, 103), während William ten Rhyne 1686 ihnen „luxurious idleness“ zuschreibt und sie implizit mit den biblischen Lilien auf dem Felde vergleicht: „they never till the soil, they sow nothing, they reap nothing, they take no head what they shall eat or drink“ (zit. Schapera 1933: 123). Dabei verknüpfte sich der koloniale Rassismus quasi intersektional mit der sozialen Stellung – Einheimische wurden als Müßiggänger und Faulpelze verleumdet, und zwar sowohl durch ihren Status als Unterschicht wie auch als ‚unzivilisierte‘ Einheimische. Die Privilegien der Kolonisten äußerten sich u. a. in ihrer positiven Einstellung der eigenen Muße gegenüber, die sie v. a. als Konsequenz der klimatischen Verhältnisse betrachteten (Fludernik 2014; Masurczak 2016). So schreibt Fanny Parkes (1794–1875): „I knew not before the oppressive power of the hot winds, and find myself as listless as any Indian lady is universally considered to be; I can now excuse what I before condemned as indolence and want of energy – so much for experience“ (Parkes 2002: 19; 20. März 1823). Im Laufe der Konsolidierung der britischen Herrschaft in Indien übernahmen die Engländer zudem Freizeitaktivitäten wie die Jagd von den einheimischen Eliten; sie lehnten aber den Tanz als obszön ab und sahen die Zelebrierung von Lyrik und Gesang eher als effeminierend an. Die Bewertung von Indern war direkt gebunden an ihre kriegerischen Fähigkeiten, d. h. ihren Einsatz als Soldaten (daher die Hochachtung der Sikhs). Die hinduistischen Bengalen wurden vielfach als träge und verweichlicht verschrien, und ebenso die Muslime am Hof in Lucknow und Delhi.

Auswirkungen des Kolonialismus Die Verurteilung des Müßiggangs durch die Kolonialherren hatte auf die bürgerlichen und intellektuellen Eliten direkte Auswirkungen. Einerseits förderten sie das Gefühl der Minderwertigkeit, das eine Grundannahme der Kolonisation bzw. des sogenannten Orientalismus (Said 1978/1995) darstellt. Andererseits regte das Vorbild der erfolgreichen Engländer, gepaart mit ihren Bildungsoffensiven (Schulen, in denen die Tugend des Fleißes gepredigt wurde), die



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einheimischen aufstrebenden Schichten dazu an, ihrerseits die traditionellen Formen der Muße gegen Gewinnstreben und Arbeitseifer zu tauschen und heimische Traditionen zu verachten. Dies kommt besonders in den muslimischen Bevölkerungsschichten zum Tragen, da durch den Sieg der Engländer nach der Rebellion von 1857 Delhi als Zentrum der mußeaffinen Mughal-Hoftradition zerstört wurde, nachdem auch bereits Lucknow durch die Absetzung von Wajid im Jahr 1856 neutralisiert worden war. Progressive Schriftsteller, die westlichen Standards nacheifern, beginnen zu diesem Zeitpunkt in ihren Romanen positive Figuren als zielstrebige Personen und negative als Müßiggänger zu zeichnen (Noor 2022). Damit geht eine Nostalgie einher, die den Verlust der traditionellen Mughal-Kultur beklagt und den Wunsch nach den angestammten Mußepraktiken bedauernd zum Ausdruck bringt. Eine zweite Welle von Progressivismus als Reaktion auf diese Nostalgie entsteht im Progressive Writers’ Movement ab 1932. Diese Reaktionen auf die britischen Moralvorstellungen (Übernahme britischer Werte und Abkehr vom traditionellen Mußediskurs) sind emblematisch für die allgemeinen Entwicklungen im Kolonialismus, die neben Unterdrückung und Ausbeutung immer auch geprägt waren von Verwestlichung, also der z. T. sogar enthusiastischen Nachahmung westlich-kolonialer Kultur und ihren technischen Errungenschaften und intellektuellen Fähigkeiten. Mit Homi Bhabha (basierend auf Frantz Fanon) können diese Ambivalenzen als Teil der Kolonialismus-typischen mimicry gesehen werden: Der Kolonisierte wünscht sich, so zu sein wie der Kolonisator, um ihm ebenbürtig zu werden und von ihm geachtet zu sein. Diese Unterdrückung der eigenen Mußekultur im Bestreben, britische Tugenden des Fleißes und der Strebsamkeit zu replizieren, ist nur ein Phänomen dieser imaginären Nachahmung des vermeintlich ‚besseren‘ Engländers. Sie geht einher mit einer tiefen traumatischen Selbstverachtung und einer Marginalisierung der eigenen kulturellen Wurzeln trotz des weiter bestehenden insgeheimen Verlangens nach diesen (Nostalgie). Gerade in Indien ist der Einfluss der westlichen Kultur offensichtlich in dem bis heute englischsprachigen höheren Bildungssystem und der Übernahme westlicher Strukturen der Demokratie und des globalisierten Kapitalismus. Wie die postkoloniale Theorie jedoch gezeigt hat, ist der ↗ Kulturtransfer keine Einwegstraße geblieben: Auch die Engländer werden hybridisiert, u. a. in ihrer Übernahme mughalischer Mußepraktiken und in der Konstituierung des Raj, eine Herrschaftsform, die zum besseren Regieren in Indien prunkvolle Herrschaftsinszenierungen adoptiert.

Postkolonialismus und Globalisierung Nach der Unabhängigkeit der Kolonien fand keine Rückkehr zu den traditionellen Lebensweisen, daher auch nicht zu den traditionellen Mußepraktiken, statt. Um in der zunehmend globalisierten Welt bestehen zu können, sind die

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Regierungen postkolonialer Staaten erst recht gezwungen, die Vorgaben des westlichen Kapitalismus zu übernehmen. Dies führt dazu, dass Fleiß weiterhin hochgehalten wird und die einheimischen Traditionen nur in Randbereichen wiederbelebt werden. Die einzelnen Entwicklungen sind jedoch durchaus komplex. So ist der indische Freiheitskampf durch die Doktrin des svadeshi von einem Boykott westlicher Güter und einer Rückkehr zu einem einfachen Leben (↗ Askese; ↗ Verzicht; z. B. das eigenhändige Spinnen von Kleidung) geprägt. Dies geht jedoch mit der Verfolgung nationaler Ambitionen seitens in London ausgebildeter Juristen einher, die sich westlichen Rechts bedienen, um die Engländer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Angesichts der sich verstärkenden neokolonialen Zwänge und der um sich greifenden Globalisierung, die für viele ehemalige Kolonisierte eine Intensivierung der Ansprüche seitens ihrer Arbeitgeber an sie mit sich bringt, hat Muße sowohl als frei verfügbare Zeit wie auch als Erfahrungsdimension in den einstigen Kolonien wenig Chance auf Rekonstituierung. Muße wird stattdessen nach westlichem Muster eher auf Bereiche wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit verdrängt. Überhaupt repliziert die fortschreitende Industrialisierung in den ehemaligen Kolonien die für die westliche Industrialisierung typische Umstrukturierung von einer vorindustriellen Zeit (in der Feste und regelmäßige arbeitsbezogene Auszeiten vorherrschten) zu einer Zweiteilung in Arbeitszeit und Freizeit, die nun auch in Indien zur neuen Praktik des Urlaubens führt, jedenfalls für die Mittelschichten (Brosius 2010). Gegen diese Zeitzwänge formiert sich andererseits Widerstand, der in mehrfacher Form auftreten kann. Wie indische Romane in englischer Sprache es darstellen, ist eine mögliche Reaktion auf die Zumutungen der modernen Arbeitswelt der Rückzug in ein einfaches Leben in der Natur, das über Konsumverzicht (↗ Verzicht) der Notwendigkeit des industriell-bürokratischen Hamsterrades entgeht und sich auf einheimische Traditionen der Asketen besinnt (diese jedoch nicht reproduziert). Beispiele sind etwa das Verhalten der Protagonisten in Pankaj Mishras The Romantics (2000) (Munz 2021b; 2020), Nayantara Sahgals A Time to be Happy (1957) und Anita Desais The Artist of Disappearance (2011) (Fludernik 2014). Eine andere Reaktion findet sich in aktivem Protest durch Sabotage, wie Upamanyu Chatterjee dies am Beispiel seines Protagonisten des Romans English, August (1988) illustriert, der seinen langweiligen administrativen Job durch weitgehendes Fernbleiben von Sitzungen erträglicher macht, sich aber auch einer subversiven Strategie des Nichtstuns bedient (Fludernik 2021b; 2020). Widerstand gegen die Zwänge der Leistungsgesellschaft wird auch in der Pflege von geselligem Reden (Tratsch) zelebriert, wobei die einstmals literarischen Gespräche (adda, Chakrabarty 2008) in alltäglichen ausgedehnten Kaffeepausen wiederbelebt werden (Noor 2022). Diese Art von Rückgriffen auf traditionelle Mußeformen ist gezielt transgressiv und sabotiert die globalisierten Arbeitsbedingungen (Chakrabarty 2008: Kapitel 8; Sarkar 2002).



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Zusammenfassung Insgesamt erlaubt das Thema Muße, Prozesse des Kolonialismus diagnostizierend zu erhellen. Muße bzw. als Faulheit angeprangeter Müßiggang treffen ins Zentrum der kolonialen Herabwürdigung des Kolonisierten und der psychischen Konsequenzen derselben, die bis heute in die Zeiten des Postkolonialismus hineinwirken. Dieser Beitrag konnte nur Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs berücksichtigen. Eine Analyse der Muße im Kolonialismus und Postkolonialismus für andere indische Sprachen und Kulturen (Hindi, Telugu etc.) oder für Afrika, die Karibik und den ostasiatisch-pazifischen Raum steht noch aus.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Wilke, Inga/Dobler, Gregor/Tauschek, Markus/Vollstädt, Michael (Hg.) (2021), Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 14), Tübingen.

Raumzeitlichkeit Hans W. Hubert Jede Form von ↗ Aisthesis, verstanden in der begriffsgeschichtlichen Bedeutung von ‚sinnlich geistigem Wahrnehmen und Gewahrwerden‘, findet in einer räumlichen Umgebung und zeitlichen Einbettung statt. Aisthesis spielt in Praktiken und Repräsentationen von Muße auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle. Einer der zentralen Begriffe des Sonderforschungsbereichs, der der Konzeptualisierung von Muße dient, ist daher ‚Raumzeitlichkeit‘ (Figal/Hubert/Klinkert 2016a). Mit diesem Begriff werden sowohl objektiv beschreibbare ‚äußere‘ Rahmenbedingungen des Erlebens und Erfahrens von Muße bezeichnet als auch die subjektive und individuell je verschiedene ‚innere‘ Wahrnehmung raumzeitlicher Phänomene (↗ Erfahrung). Zu unterscheiden sind daher einerseits der äußere Raum und die physikalische Zeit, in denen sich Muße Erlebende befinden und die (von außen) bestimmbar sind (Raumzeitliche Kontexte), und andererseits jener Raum und jene Zeit, die vom Erlebenden während seiner Muße subjektiv wahrgenommen und beispielsweise als Zeit- und/oder Ortsvergessenheit geschildert werden (Raumzeitliche Erfahrungsdimensionen). Nicht gemeint ist mit dem Begriff ‚Raumzeitlichkeit‘ das ‚Raum-Zeit-Kontinuum‘ der Relativitätstheorie.

Raumzeitliche Kontexte Muße kann sich an jedem Ort und zu jeder Zeit einstellen, da sie sich einer Verfügbarkeit bzw. Herstellbarkeit prinzipiell entzieht. Dennoch gibt es raumzeitliche Rahmenbedingungen, die allgemein als vorteilhaft für das Erleben von Muße angesehen werden, sogenannte mußeaffine Zeiten und Räume (zur Konzeption des Begriffes Raum und Ort s. Dünne/Günzel 2006; Figal 2015b; Figal/Keiling 2016; Günzel 2010). Dazu werden nicht zuletzt aufgrund der historischen Wirkmächtigkeit bestimmter Mußekonzepte generell solche gezählt, die möglichst wenig Störung oder Ablenkung hervorrufen (Nothdurft/Kreil/ Kiesel/Thomaschke 2021). Räume der Stille, so die seit alters her tradierte Erfahrung, können in besonderer Weise zu Gelassenheit und innerer Ruhe führen, was das Erleben von Muße erleichtere. Entsprechendes gälte für die Zeit, wenn sie frei verfügbar und unbeschwert ist, statt durch Termine eng gerahmt oder stressbesetzt zu sein.



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Dies hat zur Folge, dass in Hinblick auf Muße sowohl Zeit als auch Raum gezielt ausgestaltet werden können. So bestehen (gesellschaftlich ausgehandelte) arbeitsfreie Zeiträume wie Wochenenden, Feiertage und Ferienzeiten, die der Muße dienen können, und innerhalb des täglichen Zeitflusses werden spezifische ‚Auszeiten‘ zur individuellen oder kollektiven Erfahrung von Muße in spontaner oder rhythmisierter Form eigens eingerichtet, etwa der gelegentliche Spaziergang oder Konzertabend, die wöchentliche gesellige Zusammenkunft mit Freunden oder die regelmäßige Lesestunde. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass das Verhältnis von (für Muße) freigeräumter Zeit, ↗ Freizeit und Arbeitszeit keineswegs ein dichotomisches oder trichotomisches ist, sondern ein komplexes, sich überlagerndes und transgressives sein kann, bei dem Muße auch während der Arbeit(-szeit) erfahren werden bzw. Muße sich zur ↗ Arbeit transformieren kann (Cheauré/Gimmel/Rapp 2021; Wilke/Dobler/Tauschek/ Vollstädt 2021). Ähnliches gilt für die Räume, denn auch diese können eigens bereit- oder hergestellt werden. Gärten, Parks und Erholungswälder – oft mit Sitzgelegenheiten zur Entspannung versehen – werden als naturnah gestaltete Räume neben der körperlichen und geistigen Erholung und Erquickung auch bevorzugt zum Mußeerleben aufgesucht (↗ Natur; Berman/Jonides/Kaplan 2008; Goldstein 2013). Seit der Antike bietet die europäische Kultur- und Architekturgeschichte eine Vielzahl von Räumlichkeiten und Bauwerken, die das Erleben und Erfahren von Muße befördern sollen bzw. die den ‚klassischen‘ Mußetätigkeiten, wie dem Studium, dem Musikgenuss, dem Baden oder dem Naturgenuss, gewidmet sind. Oft sind diese Bauten als Gegenorte (Heterotopien) zu den alltäglichen, mit Belastungen verbundenen Lebensumständen konzipiert. Dazu gehören schon seit der römischen Antike ländliche Villen als Sommeraufenthaltsorte, in welchen eine stadtmüde privilegierte Gesellschaftsschicht sich dem otium cum dignitate hingeben konnte (Ackerman 1990; Eickhoff 2021b). Innerhalb der Villen wurden u. a. eigens Räume mit gerahmten Ausblicken zur ästhetischen Erfahrung der Landschaft, Studierzimmer (studioli) für die Kontemplation und studia humanitatis oder Wandelgänge (ambulatia, Loggien) zum entspannenden Spazierengehen eingerichtet (Allekotte 2011; Blum 2015; Lefèvre 1987; 1978; 1977; Liebenwein 1977; Scheidel 2017). Weitere Räumlichkeiten, die sich wie die Villenanlagen als intentional mußeaffin beschreiben lassen, sind beispielsweise Andachtsräume, private Gärten (giardini segreti), ‚Minnegrotten‘ (Becker 2019; Seeber 2021), Musikzimmer, Theater- und Opernsäle oder als ‚Eremitagen‘ bezeichnete Rückzugsräume (Birkenmaier 2020; 2013; Horsch 2018). Als Mußeort par excellence dürfen auch Badeanlagen gelten, in denen körperliche und geistige Entspannung in besonderer Weise zusammenfallen (Deutsch/EchingerMaurach/Krems 2017; Hubert/Grebe/Russo 2020). Abgesehen von den Räumlichkeiten als solchen kann auch ihre Ausstattung intentional so gestaltet sein, dass sie eine mußeaffine Atmosphäre erzeugen und spezifische Wahrnehmungs-

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angebote (↗ Aisthesis) bieten. Möblierung, Wanddekorationen, Materialien, Wegführung und Lichtregie können u. a. dazu beitragen. In der Moderne wird zumeist eine zurückhaltend minimalistische Einrichtung als förderlich für innere Sammlung, Konzentration und eben auch für Muße angesehen. Bei der speziellen Form von auditiv begleiteten Mußeerfahrungen kann man neben dem euklidischen Raum auch metaphorisch vom ‚akustischen Raum‘ sprechen, um das Wahrnehmungsphänomen eines den Leib umhüllenden Klangraumes zu beschreiben. Tatsächlich kann auch die Einbettung in eine spezifische Klangraumumgebung Mußeerfahrung befördern. Das Besondere dabei ist, dass Hör-Raum und Hör-Zeit zusammenfallen, ohne notwendigerweise mit der Mußezeit identisch zu sein. Außerdem ist der Hör-Raum seit der Erfindung moderner klangreproduzierender Medien nicht mehr an Konzert-, Opern- oder andere Aufführungssäle gebunden, sondern kann an unterschiedlichsten Orten entstehen und mittels Kopfhörer etc. sogar durch physische Räume hindurch bewegt werden. Die genannten Beispiele und ihre kulturgeschichtliche longue durée dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch nichteuropäisch geprägte Kulturen ihre eigenen Mußekonzepte (Mine 2016) und mußeaffinen Orte und Räumlichkeiten entwickelt haben. Oftmals sind diese den europäischen sehr ähnlich. Es gibt aber auch ganz eigenständige Formen: Hingewiesen sei auf die japanische Kultur mit ihrer Teezeremonie im Teegarten (chaté) mit Teehaus (chashitsu) oder an die Betrachtung, Verehrung und Kontemplation des Mondes (tsukimi/ jūgoya/meigetsu). Für zweitgenannte wurden eigens eingerichtete Gartenanlagen (tsukiyama) und künstlich angelegte Terrassen und Teiche (ike) geschaffen, welche Mondspiegelungen inszenieren. Diese räumlichen Gestaltungsformen ermöglichen einen besonderen Blick auf das nächtliche Firmament und sollen so jene Mußeübung befördern, bei der u. a. Tanka-Gedichte geschrieben wurden. Weitere Beispiele sind der Trockenlandschaftsgarten (karesansui) und davon beeinflusste Teegärten, die dem Betrachter die Zen-Lehren vor Augen führen und zur Meditation anregen sollen (Fehrer 2005; Isozaki 2006; Verberk 2021; Watanabe-Rögner 2008). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass manche der genannten Orte Mußeerfahrungen nicht nur räumlich, sondern  – zumindest implizit  – auch zeitlich rahmen: Villen und Badeanlagen sind in der Regel für eine bestimmte saisonale Nutzung angelegt; die meisten anderen Räume sind auf tageszeitlich erfahrbare Muße hin konzipiert, die japanischen Gärten auf eine von Mondphasen abhängige abendliche oder nächtliche Zeitspanne. Eine explizite zeitliche Rahmung erfolgt, wenn beispielsweise in Sakralräumen zu festgelegten Zeiten Andacht gehalten wird (↗ Religiöse Praktiken) oder in Theater- und Konzertsälen zu bestimmten Uhrzeiten Aufführungen stattfinden. Was als Muße verstanden und wie sie bewertet wird, ist historisch sowie kulturell geprägt und Konjunkturen unterworfen (Gimmel/Jürgasch/Kirchner



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2021; Gimmel/Keiling 2016; Hasebrink/Riedl 2014b; Jürgasch/Keiling 2017; Wilke/Dobler/Tauschek/Vollstädt 2021). Das gilt genauso für die Bereitstellung oder Zugänglichkeit von Räumen für bestimmte Arten von Muße zu bestimmten Zeiten. Gerade in vormodernen Adelsgesellschaften haben sich als Kontrast zu den zeremoniell geregelten Tagesabläufen andere, freier gestaltete Lebensformen herausgebildet, die unter dem Oberbegriff der selbstbestimmten, mußeaffinen Beschäftigungen subsumiert werden können. Dazu zählen u. a. kontemplative Tätigkeiten wie Lesen und Philosophieren, schöpferische Tätigkeiten wie Schreiben, Dichten, Musizieren oder andere künstlerische Beschäftigungen sowie zerstreuende Tätigkeiten wie Gespräche, Jagdausflüge und Badefreuden. In der Moderne kommen weitere Formen wie Flanieren und Spazierengehen hinzu (Riedl 2021a; Riedl/Freytag/Hubert 2021b; ↗ Flanerie). Jede dieser und weiterer Mußepraktiken steht im Wechselverhältnis mit Räumen und Zeiten, in und zu denen sie vorzugsweise ausgeübt werden. Der große Aufwand, der bei der Herstellung und Ausstattung von intentional mußeaffinen Räumen betrieben wurde und wird, bedeutet nicht, dass diese allen gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen zugänglich (gewesen) wären. Im Gegenteil: Gerade in vormodernen Epochen haben solche Räumlichkeiten dezidiert exklusiven Charakter und weisen Muße somit auch als ein standesspezifisches Distinktionsmerkmal aus (↗ Gesellschaft). Solche, exklusive Personenkreise bevorzugende Mußeräume gibt es auch in der Gegenwart, insofern ihr Zugang preislich (z. B. ein fernes Urlaubsparadies) oder durch andere Kriterien restriktiv geregelt ist. In der Gegenwart bemüht man sich allerdings oftmals dezidiert um inklusive Mußeräume, wie sie beispielsweise in den sogenannten Räumen der Stille gerade eine besondere Konjunktur erfahren: Aus christlich-konfessionell gebundenen Andachtsräumen hervorgegangen, sollen sie an Orten verdichteter menschlicher Zusammenkünfte (Stadtzentren, Bahnhöfe, Flughäfen etc.) und bei Verzicht auf spezifisch religiöse Zeichen allen Interessierten unabhängig vom persönlichen Glauben einen Ort des zeitlichen und gedanklichen Innehaltens und der Besinnung bieten (Beinhauer-Köhler 2015; Kraft 2007). Die erstaunliche Breite und Bedeutung mußeaffiner Bauaufgaben – nicht nur in der europäischen Architekturgeschichte  – mag angesichts der prinzipiellen Nicht-Herstellbarkeit von Muße durch äußere Rahmenbedingungen, die nochmals in Erinnerung gerufen sei, überraschend erscheinen. Diese Vielfalt lässt sich nicht nur als Ausdruck der hohen Wertschätzung von Muße als Entlastung von Alltagsverpflichtungen und -geschäften sowie als eine besondere Lebensform verstehen, sondern die baulich repräsentativ gefassten Mußeräume sind, wie gesagt, v. a. auch Ausdruck standesspezifischer Lebensformen und stehen als solche in einem durch Moden und Konkurrenzen geprägten kulturellen Referenzsystem, das wesentlich zu ihrer Vielfalt und Verbreitung beigetragen hat und beiträgt. Das bedeutet nicht, dass die nichtadelige Bevölkerung oder

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der geistliche Stand keine eigenen Mußepraktiken gepflegt und diesen entsprechende Räume besessen hätten. Für sie gilt das gleiche wie für höherstehende Bevölkerungsschichten, nur sind jene Räume in der Regel weniger bekannt und erforscht.

Raumzeitliche Erfahrungsdimensionen In einem diametralen Kontrast zu dem oben beschriebenen Aufwand an Einrichtung und Gestaltung von intentionalen Freiräumen für Muße steht die Tatsache, dass im Zustand der Muße gerade auch Orts- und Zeitvergessenheit erfahren und beschrieben wird (Fraser 1989), dass sich also insgesamt eine besondere raumzeitliche Erfahrung einstellt (Figal/Hubert/Klinkert 2016b). V. a. seit Edmund Husserls ab 1908 entwickelter Phänomenologie des Zeitbewusstseins (Husserl 1928) haben sich Psychologie sowie Kultur-, Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften intensiv mit der psychologischen Zeitwahrnehmung auseinandergesetzt und zahlreiche Phänomene subjektiver Zeiterfahrung und -bedeutung untersucht (Block 1990; Fraser 1988; Gallagher/Zahavi 2021; Hinz 2000; Kasten 2001; Metzger/Daphinoff 2019; Roeckelein 2000; Rosa 2021; Schmolinsky/Hitzke/Stahl 2018). Begriffe wie ‚Weltzeit und Lebenszeit‘ (Hans Blumenberg) oder ‚Eigenzeit und Fremdzeit‘ (Helga Nowotny) deuten die Komplexität eines nichtphysikalischen Zeitbegriffes an. In unserem Zusammenhang ist v. a. das subjektive Zeitempfinden wichtig, denn im Zustand der Muße kann sich die individuelle Wahrnehmung der Komponenten Raum und ↗ Zeit intensivieren und diese jeweils für sich oder gemeinsam verstärken oder abmindern. Lassen sich der physische Raum und die objektive Zeit des Mußeerlebenden von außen vergleichsweise einfach beschreiben, so gilt dies nicht für die entsprechenden Aspekte der inneren Mußeerfahrung (↗ Erfahrung). Hier ist man im Wesentlichen auf Selbstaussagen von Personen angewiesen, die Muße erfahren haben. Diese Aussagen können auch in empirische Untersuchungen eingebettet sein (Ehret 2020; Ehret/Roth/Zimmermann/Selter/Thomaschke 2020; Ehret/ Trukenbrod/Gralla/Thomaschke 2020; Nothdurft/Kreil/Kiesel/Thomaschke 2021), jedoch sind raumzeitliche Erfahrungen im Zustand der Muße schwer objektivierbar und nicht wissenschaftlich messbar, weil Emotionen und Kognitionen im subjektiven Erleben von Zeit immer ineinandergreifen, sich dabei in der Selbstdeutung verzerren und in ihrer Bewertung (Muße versus Müßiggang) obendrein stark kulturellen Prägungen unterliegen. Zeitbewusstsein ist zudem weder zivilisationsgeschichtlich konstant noch kulturell einheitlich (Wendorff 1988). Beschriebene Phänomene in tagträumerischer Muße sind beispielsweise ein intensiviertes Erleben der Jetztzeit, aber auch die Erfahrung von ‚Zeitlosigkeit‘ oder das Bewegen in imaginären vergangenen oder zukünftigen Zeiten. Glei-



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chermaßen kann Muße die Erfahrung von Räumlichkeit steigern sowie mentale Räume unterschiedlichster Art eröffnen, aber auch durch Versenkung völliges Ort-Unbewusstsein hervorrufen. All diesen Phänomenen wohnt insofern ein für Muße charakteristisches transgressives Moment inne, als gewöhnliches Raum-Zeit-Erleben überschritten wird. Zahllos sind persönliche Aussagen über raumzeitliche Aspekte von Mußeerfahrungen, und schwer überschaubar ist die Menge der in Literatur, Bildender Kunst, Architektur, Film und anderen Medien auf unterschiedlichen Ebenen verarbeiteten Mußemotive. Sie konnten vom Sonderforschungsbereich nur sehr lückenhaft erfasst und behandelt werden. Aber gerade vor dem Hintergrund dieser exemplarischen Ergebnisse erweist sich ihre vertiefte Untersuchung nach wie vor als großes Desiderat. Hierbei könnten die bereits vorgelegten Resultate geschärft und vor allem noch erheblich differenziert werden. Auch wäre das Untersuchungsfeld stärker auf nicht-europäische Gesellschaften und deren spezifische Mußekonzeptionen und ‑praktiken sowie auf die Frage der gesellschaftlichen Verfügung und Akzeptanz von Muße auszudehnen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Figal, Günter/Hubert, Hans W./Klinkert, Thomas (Hg.) (2016a), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 2), Tübingen. Hubert, Hans W./Grebe, Anja/Russo, Antonio (Hg.) (2020), Das Bad als Mußeraum. Räume, Träger und Praktiken der Badekultur von der Antike bis zur Gegenwart (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 13), Tübingen.

Reisen René Waßmer/Tim Freytag Reisen ist geprägt durch eine Spannung zwischen Funktionalisierung und Freiheit. Wer reist, kann fremdbestimmten Zwecken unterliegen, klar definierte Ziele verfolgen oder einem vorabbestimmten Programm nachgehen, das keinen oder nur sehr wenig Raum zum (spontanen) Verweilen lässt. Wer reist, kann aber genauso Freiheitserfahrungen machen, die Zeit jenseits alltäglicher Sorgen und Nöte genießen oder gelassen in den Tag hineinleben. Dass solche Spannungen gar auf ein und derselben Reise auftreten können, zeigt schon das frühe historische Beispiel der Grand Tour, die eine grundlegende Phase für die Entwicklung des Tourismus in der westlichen Welt darstellt (Enzensberger 1964; Towner 1996). Wenn die jungen Reisenden des 17. und 18. Jahrhunderts durch Europa fuhren, dann verband sich das zweckrationale Ansinnen, die eigene Persönlichkeit zu entfalten sowie Bildung und Erfahrung für den Lebensweg zu erlangen, mit Momenten der Muße wie der geselligen Konversation oder dem leiblichen Genuss, die ebenfalls in den zahlreichen Reiseberichten sinnfällig werden. Genauso gilt diese Spannung für unsere Gegenwart. Wenn Touristinnen und Touristen fremde Orte und Länder bereisen, ist dies oft mit dem Wunsch verbunden, Abstand vom eigenen Alltag zu gewinnen und Freiheit jenseits von dem zu erfahren, was ihr Leben normalerweise bestimmt (Hennig 1999). Dieser Wunsch muss jedoch nicht zwingend eingelöst werden, sondern kann in Zeiten des Massentourismus und der dauerhaften digitalen Verfügbarkeit sogar in sein Gegenteil umschlagen, wenn während der Reise sehr enge Kontakte zu Alltag oder Beruf gehalten werden. Dass Reisen in seinen vielfältigen Formen ganz unterschiedliche Erfahrungen hervorbringen kann, zeigt demnach, dass es keine grundlegende und allgültige Verbindung zwischen Reisen und Muße gibt. Unter kulturgeschichtlichem (Beyrer 1992; Brenner 1989) wie gegenwartsorientiertem Blick (Leder 2007) gilt es vielmehr, die Heterogenität des Reisens und damit auch seiner potenziellen Mußeerfahrungen zu betonen. Ziel der folgenden Ausführungen ist daher, drei ausgewählte Aspekte zu beschreiben, innerhalb derer sich eine verwandtschaftliche Beziehung von Reisen und Muße identifizieren lässt. Anhand der drei Kategorien ‚Abstand‘, ‚Räume der Muße‘ und ‚Vielseitigkeit von Mußeformen‘ entwickelt sich ein analytisches Netz, das ermöglicht, Praktiken und Erfahrungen des Reisens unter dem Gesichtspunkt der Muße genauer zu beleuchten.



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Abstand Eine grundlegende Affinität von Reisen und Muße liegt im Phänomen des Abstandes. Wer reist, entfernt sich von seinem Alltag, distanziert sich von demjenigen, was das Leben normalerweise dominiert. Die damit verbundene Unterbrechung alltäglicher Routinen eröffnet Freiräume und neue Perspektiven, so dass vielfältige Anregungen aufgenommen werden können, die Impulse für ↗ Kreativität, Erholung und Erneuerung ermöglichen. Dies gilt in ähnlicher Weise für Praktiken der ↗ Freizeit und Naherholung, die im Unterschied zum Reisen kürzer andauern und keine Übernachtung umfassen (Bauder/Freytag 2020). Das Herstellen von Abstand kann freiwillig geschehen, etwa im Sinne einer Urlaubs- oder Erholungsreise; es kann fremdbestimmt sein, beispielsweise bei einer beruflich bedingten Reise. Solange das Reisen etwas Besonderes darstellt und nicht – wie etwa bei ausgedehnten Weltreisen oder Beschäftigten im Außendienst – zu einem Dauerzustand wird, ist der freiwilligen und der fremdbestimmten Variante gemeinsam, dass die Reisenden sich von dem entfernen, was ihr Leben und ihren Alltag in aller Regel bestimmt. Reisen kann demgemäß als eine Form der negativen ↗ Freiheit, der Freiheit von etwas verstanden werden. Dieser Abstand muss nicht unbedingt quantitativ im Sinne von ‚empirisch messbar‘ gegeben sein, bedeutender scheint vielmehr seine qualitative und von den Reisenden selbst empfundene Dimension. Eine Engführung von Muße und Reisen liegt gerade dann nahe, wenn der Aufenthalt in einem anderen Raum, fernab von alltäglichen Zwängen und Pflichten, die Wahrnehmung der Reisenden dominiert. Dies zeigt sich z. B. im weit verbreiteten Vorstellungsbild vom exotischen Palmenstrand als Urlaubsparadies und anderen tourist imaginaries (Gravari-Barbas/Graburn 2012), die von Reisenden und Tourismusanbietern auf Destinationen projiziert werden und diese in vermeintliche Sehnsuchtsorte verwandeln. Letztlich ist es aber nicht einmal notwendig, eine Reise zu buchen und räumliche Distanz zu überwinden, um Abstand vom Alltag herzustellen, denn auch das imaginierte Reisen ‚im Kopf ‘, gedanklich abzuschweifen und sich treiben zu lassen, kann es erlauben, Muße zu erfahren. Die historische wie gegenwärtige Popularität von Reiseberichten in sämtlichen medialen Formen ist der vielleicht einschlägigste Hinweis darauf. Wenn etwa die deutschen Großstadtliteratinnen und -literaten um 1800 in ihren Berichten immer wieder das imaginäre Lesepublikum und seine potenzielle Reiseerfahrung ästhetisieren (Fischer 2004; Waßmer 2022), spricht dies ebenso für die Bedeutung vorgestellten Reisens wie die gegenwärtige Beliebtheit von TV-Reisesendungen oder Reiseblogs (Klemm 2020). Denn obwohl zwischen beiden Phänomenen gravierende mediale und historische Differenzen liegen, sind sie doch im Bestreben vereint, einem adressierten Publikum imaginäre Reiseerfahrungen und damit verbundenen Abstand zu ermöglichen. Insgesamt scheint es weniger die räumliche Dimension des Rei-

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sens zu sein, die eine verwandtschaftliche Beziehung zur Muße zu konstituieren vermag, sondern vielmehr die von Individuen wahrgenommene Distanz zum Alltäglichen, zum Zweckrationalen und zum Fremdbestimmten. Allerdings ist zu bedenken, dass Abstände auch Widerständen ausgesetzt sind. Sich beispielsweise weit von der eigenen Heimat zu entfernen und größtmögliche Distanz aufzubauen, muss nicht immer bedeuten, dass dieser Abstand seine distanzierende Wirkung tatsächlich entfaltet. Reisende können fernab des Alltags plötzlich von dessen Sorgen eingeholt werden, mediale Kommunikation mit den Zuhausegebliebenen kann die eigentlich aufgebaute Distanz erodieren lassen (Molz 2012), und auch die Tatsache, dass Reiseerfahrungen zumeist durch Vorwissen und Erwartungen an die Fahrt und den Aufenthalt geprägt sind, kann hemmend wirken. Besonders letztgenannten Punkt gilt es zu betonen. Sowohl historischen als auch gegenwärtigen Reisepraktiken ist gemeinsam, dass sie in enormem Maße durch vorab entstandene Erwartungen bestimmt sind (Freytag 2010). Das äußert sich auch in den charakteristischen Formen des tourist gaze (Urry/Larsen 2011), die den touristischen Blick auf Landschaften und Menschen betreffen und die vorherrschende Bedeutung etablierter Formen der visuell-ästhetischen Aneignung in der Tradition eines westlich-europäisch geprägten Tourismus unterstreichen. Wer also reist, tut dies in den seltensten Fällen unvoreingenommen. In aller Regel wissen die Reisenden sowohl, was sie vor Ort erwarten wird, als auch, was sie erleben möchten (MacCannell 2013). Selbst vermeintlich spontane Reiseformen wie die des Roadtrips sind zumeist durch Erwartungen und ein wie auch immer geartetes Vorwissen über die bereisten Orte bestimmt. Auf Erfahrungen der Muße kann dies sehr variabel einwirken. Dass es sich bei Reisen nicht um eine absolute, um eine unvertraute, sondern um eine relative Fremderfahrung handelt, kann einerseits dafür sorgen, dass gerade aufgrund des ausbleibenden ‚Erfahrungsschocks‘ Formen des freien Verweilens in der Zeit möglich werden. Genauso kann es aber dazu führen, dass der eigentlich verlassene Alltag rasch in das Blickfeld der Reisenden zurückkehrt, dass die ausbleibende Fremdheit der intendierten Reiseerfahrung im Weg steht. Diese Konstellation entsteht nicht erst im modernen und informationsgesättigten Zeitalter. Wenn Reisende etwa um 1800 in eine bereits eifrig bereiste und literarisch dargestellte Gegend fuhren, informierten sie sich vorab umfänglich über die angesteuerten Orte und waren daher ebenfalls bereits gut darauf vorbereitet, was sie erwartete (Meier 1999). Dass zudem mit der Apodemik gar eine eigene Literaturgattung existierte, die darüber aufklärte, wie idealerweise zu reisen sei, verstärkt diesen Eindruck (Stagl 2002). Für das historische Reisen gilt damit ebenso wie für das gegenwärtige vielfach: Alltag und Reise gehen miteinander eine transgressive Beziehung ein, sie können einander überlappen und sind letztendlich selten endgültig ausdifferenzierbar. Das verbindende Element von Reisen und Muße, die Erfahrung des Abstands,



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ist demnach maßgeblich durch seine Fragilität bestimmt. Diese Fragilität kennzeichnet auch die Erfahrung von Muße im europäischen Städtetourismus der Gegenwart (Kramer/Winsky/Freytag 2019). Erfahrungen von Muße während des Reisens unterliegen insofern einer gewissen Kontingenz, als sie sich einer absoluten Planbarkeit entziehen. Schließlich kann die Brüchigkeit von Alltag und Abstand während der Reise zu einem entscheidenden Faktor geraten.

Räume der Muße So vielseitig Reisen sein können, haben sie eines gemeinsam: ein räumliches Element. Obwohl der während des Reisens gewonnene Abstand nicht zwingend in einem quantitativen Sinne verstanden werden muss, ist es doch das Aufsuchen eines ‚anderen Raumes‘ jenseits des Alltäglichen (Wöhler/Pott/Denzer 2010), das die Beziehung von Reisen und Muße wesentlich modelliert. Erfahrungen der Muße während des Reisens sind daher eng mit räumlichen Erfahrungen verbunden (↗ Raumzeitlichkeit). In diesem Kontext kristallisiert sich noch einmal heraus, inwieweit das Phänomen des Abstandes letztlich als ein höchst relatives zu erachten ist. Abstand vom Alltag, vom Diktat der Zeit zu gewinnen, kann mit einer Reise in ferne Gegenden ebenso verbunden sein wie mit Aufenthalten in der näheren Umgebung oder gar mit dem körperlichen Verweilen an ein und demselben Ort im Sinne der imaginierten, der gedanklichen Reise (Kubin 2014). Die Räume der Muße, die sich mit dem Reisen verbinden können, sind daher so vielfältig wie die Praxis des Reisens selbst. Freilich gilt es an dieser Stelle die historische Heterogenität zu betonen. Besonders der radikale Wandel von Mobilitätsstrukturen im 19. und 20. Jahrhundert, etwa mit dem Aufkommen von Eisenbahn- und Flugverkehr, führt zu einer erheblichen Erweiterung von potenziellen Reiseräumen, die sich zugleich mit einer sozialen Verbreiterung, u. a. im Sinne des sich nach und nach entfaltenden Massentourismus, verbindet. Dies führt außerdem zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Reisepraktiken und Praktiken während des Reisens. Während innerhalb der Forschungen des Sonderforschungsbereichs ein Schwerpunkt auf Städtereisen und der Erfahrung von Muße in urbanen Räumen lag (u. a. Korte 2014; Kramer 2020; Liedke 2018a; Riedl 2021a; 2018; Riedl/ Freytag/Hubert 2021b; Waßmer 2022), ist zu bedenken, dass das ländliche Reisen sowohl historisch als auch gegenwärtig ebenfalls eine enorme Rolle spielt. Der Aufenthalt in idyllischen Naturräumen fernab der hektischen und betriebsamen Städte ist ein Topos, der bereits seit der Antike kulturgeschichtliches Gewicht besitzt und die Historie und Bilder des Reisens bis in die Gegenwart maßgeblich bestimmt. Wie einschlägige Forschungsbeiträge aufzeigen, ist dabei das Verhältnis zwischen Stadt und Land letztlich ein rekursives (Langner/FrölichKulik 2018). Die ländlich-idyllischen Naturräume sind oftmals ebenso ein Pro-

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dukt urbaner Projektionen wie andererseits städtische Räume durch ländliche Wahrnehmungsvoraussetzungen geprägt sein können (↗ Urbanität). Besonders solche Reisen, während derer sowohl städtische als auch ländliche Räume aufgesucht werden, weisen dieses Muster auf. Auch die Popularität von Landpartien ist nennenswert, insofern sie noch einmal zeigt, dass sowohl die räumliche als auch die zeitliche Differenzerfahrung des Reisens qualitativ bedeutend ist. Die Landschaftsästhetik in der Nachfolge Rousseaus und im Zeichen der anbrechenden Romantik um 1800 etwa ist maßgeblich davon gekennzeichnet, urbane und rurale Räume ineinander verschwimmen zu lassen (Waßmer 2021). Doch auch in der Stadt selbst lassen sich kleinräumige Verbindungen des Ruralen mit dem Urbanen ausmachen. Dies gilt beispielsweise für Parks, Gärten und Friedhöfe, die sich inselartig von dem sie umgebenden städtischen Raum abheben und durch ihr spezifisches Ambiente dazu beitragen, dass Besucherinnen und Besucher dort Muße erfahren können (Kramer 2019). Die Räume der Muße, so zeigt diese Skizze, sind damit von einer ausgesprochenen Heterogenität geprägt. Sie stehen allerdings in engster Verbindung zum Leitbegriff des ‚Abstandes‘. Die bereisten Räume – unabhängig davon, wie fern oder nah sie der eigenen Heimat sind – fungieren vor allem als Differenzmarkierungen (Pott 2007). Sie sind zumeist eingelagert in vermeintlich dichotome Konstellationen, beispielsweise Stadt und Land, Vertrautheit und Exotik oder Natur und Kultur. Diese Zuschreibungen erweisen sich jedoch in aller Regel als wechselseitige Projektionen, die von Übergangserscheinungen geprägt sind.

Vielseitigkeit von Mußeerfahrungen Neben den Räumen sind es auch die Praktiken während des Reisens, welche die Verbindung von Muße und Reisen konstituieren. Was Reisende während ihrer Aufenthalte letztlich als Muße wahrnehmen oder inszenieren, ist äußerst individuell und nur schwerlich in einem allgemein erklärenden Sinne erfassbar. Im Zeichen eines Mußebegriffs, der nicht essentialistisch an einzelne Praktiken gebunden ist, lässt sich keine pauschale Antwort auf die Frage geben, welche Reisepraktiken konkret mit Muße in Verbindung zu bringen sind. Wie insbesondere die Forschungen des Sonderforschungsbereichs gezeigt haben, können sehr diverse Praktiken mit Muße assoziiert werden. Dabei lässt sich formal unterscheiden zwischen erlebnisorientierter und kontemplativer Muße (Riedl 2021a; 2021b). Während manche Reisenden betonen, Abstand im Rückzug zu finden, etwa beim Verweilen in Parks und Gartenanlagen, inszenieren andere im geselligen Beisammensein oder an vielbesuchten städtischen Schauplätzen solche Erfahrungen (Kramer 2020). Die ↗ Flanerie im urbanen Raum (Waßmer 2022) kann ebenso eine Mußepraktik darstellen wie das Besuchen von Museen, das Essen und Trinken oder das aktiv-zielgerichtete Entdecken und Vermessen



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des bereisten Raums (Kramer 2019; 2018). Auffällig ist dabei erneut die Individualität, Fragilität und Kontingenz dieser Erfahrungen. Was ein Reisender als erfüllenden Genuss beschreibt, kann für die oder den nächsten puren Stress bedeuten. In engem Zusammenhang steht dies mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Reisepraktiken selbst  – insbesondere im gegenwärtigen Tourismus, der sich durch eine immer stärkere Binnendifferenzierung und Feingliederung auszeichnet. Auch dass Globalisierung, Digitalisierung und Beschleunigung beständig auf die Reisepraxis einwirken, ist zu bedenken und verleiht insbesondere der medialen Darstellung und sozialen Funktionalisierung von Reisen neue Facetten (Bauder/Freytag 2020). Bisweilen geht dies damit einher, dass das Reisen von Anbietern und Reisenden selbst mit dem Begriffsfeld ‚Muße‘ verbunden wird. Slow tourism oder der wachsende Wandertourismus sind dabei nur zwei von zahlreichen Beispielen, die Erfahrungen der Muße als Leitmotiv besitzen. Doch auch in diesen Fällen bleibt festzuhalten, dass die Frage, ob die Etikettierungen des Reisens tatsächlich entsprechende Erfahrungen zeitigen, sich einer allgemeingültigen Antwort entzieht.

Fazit: Reisen und Transgression Der Zusammenhang von Muße und Reisen, so haben die drei näher ausgeführten Teilaspekte gezeigt, ist v. a. über den Begriff der Transgression bestimmt. Sowohl für den das Reisen konstituierenden Abstand und die Räume der Muße als auch die konkreten Praktiken und Erfahrungen ist jeweils prägend, dass sie sich dichotomen Zuschreibungen grundsätzlich entziehen. Die Antworten auf die Frage, was während des Reisens Muße sein kann und inwiefern Reisen überhaupt Muße sein kann, zeichnen sich durch diverse Übergangserscheinungen aus. Reisen bewegt sich zwischen Abstand und Alltag, Fremdheit und Vertrautheit, Stadt und Land, Rückzug und Massenerlebnis oder Genuss und Stress – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Übergänge innerhalb dieser jeweiligen Kontinuen sind von einer ausdrücklichen Fluidität geprägt und konstituieren damit wesentlich den transgressiven Charakter des Reisens sowie mit ihm verbundener Mußeerfahrungen. Genau in diesem letztlich nicht definitiv bestimmbaren und prinzipiell offenen Mußebegriff des Reisens liegt vielleicht seine besondere Attraktivität für weitere wissenschaftliche Untersuchungen. Reisen ist genau wie Muße selbst eine kulturgeschichtliche Größe, die historischer, sozialer und gesellschaftlicher Varianz unterliegt. Mußeerfahrungen zu analysieren, wie sie während des Reisens gemacht werden oder in medialen Repräsentationen zum Ausdruck kommen, ist daher ein Schlüssel, auch dasjenige genauer zu erfassen, was kulturell dem Reisen zugrunde liegt.

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Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Kramer, Clara Sofie/Freytag, Tim (2021), „Erlebte Orte und Momente der Muße im europäischen Städtetourismus der Gegenwart“, in: Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 19), Tübingen, 295–313. Liedke, Heidi (2018a), The Experience of Idling in Victorian Travel Texts, 1850–1901, Cham. Waßmer, René (2022), Muße in der Metropole. Flanerie in der deutschen Publizistik und Reiseliteratur um 1800 (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 25), Tübingen.

Religiöse Praktiken Andreas Kirchner/Thomas Jürgasch Die Rede von religiösen Praktiken steht vor dem Problem der Definition von Religion, in der sich je nach Perspektive theologische, philosophische, ethnologische, soziologische etc. Konzepte überlagern. Wir verstehen Religion behelfsweise als Beschreibung von (im weitesten Sinn) Transzendenzbeziehungen des Menschen. Religiöse Praktiken sind demnach religiös begründete Rituale und Handlungen, kontemplative Techniken wie u. a. Gebet und Meditation (↗ Kontemplation). Religiöse Praktiken zeigen häufig eine grundsätzliche Affinität zur Muße, die auf „ästhetisch und räumlich inszenierte Lebensformen einer Freiheit [zielt], die in der Zeit nicht der Herrschaft der Zeit unterliegt“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3). In diesem Zusammenhang bezeichnet ‚Zeit‘ die Ordnung des Geschehens und Tuns, die dieses durch ein Nacheinander strukturiert (Figal 2006), wobei die Zeitstrukturen der Muße zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit produktiv in der Schwebe bleiben (Figal 2009: 258–266). Zugleich liegt die Verheißung der Muße in der Unbestimmtheit der durch sie und in ihr eröffneten Potentiale, die historisch gesehen ein weites Spektrum von theôria und contemplatio bis zu Selbsterfahrung und Kreativität aufweisen. Muße lässt sich u. a. als eine Weise der Innerlichkeit (Cheauré 2017b: 20; Kirchner 2018a: 240) und des Geistes (vgl. Augustinus, s. u.; Seneca, Epistula 104,6–7 etc.) begreifen. In philosophisch wie auch theologisch geprägten Traditionen wird sie oft eng mit ↗ Kontemplation und theôria (Kirchner 2018a; 2018b; Laner 2016: 57; Hohenadel 2013) sowie Reflexion fördernden, ritualisierten Elementen von Gebet und Meditation verbunden und stellt den Menschen aus alltäglichen, kaum mehr reflexiven Bezügen heraus. Die Sukzession der Zeit, die etwa mit Funktionalisierungen, Rollen-, Leistungs- und Zielerwartungen verbunden ist, wird durch die Gegenwartsorientierung und Sinnperspektive unterbrochen. Hier wird bereits das Spannungsfeld zwischen vita activa und vita contemplativa tangiert (Eder/Manuwald/Schmidt 2021a), in dem das Verhältnis von Handeln und Denken, Materialität und Immaterialität, Außen und Innen, Körper und Geist (wobei mit dem Begriff des Leibes die Untrennbarkeit beider angezeigt ist), Unruhe und Ruhe usw. verhandelt wird. Religiöse Praktiken verbinden diese Ebenen oft und beschreiben ein individuelles oder kollektives Handeln, das durch den zeitlichen Vollzug mit einer überzeitlichen Sinn-

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ebene verknüpft ist. Im Unterschied zu alltäglichen Vollzügen wie Essen oder Arbeiten offenbaren sie ihre Sinnhaftigkeit nicht zuerst aus sich selbst heraus; der religiöse Mensch blickt über die bloße Zeitsukzession auf eine Anderszeit (Heterochronos) oder auch Ewigkeit, die mit dem Heterotopos verbunden ist (Foucault 2005). So lässt sich religiöse Praxis im Wesentlichen als Praxis der ↗ Freiheit begreifen, die negative wie positive Freiheit zugleich meint. In der Perspektive der fundamentalen Religionskritik gilt die Religion allerdings, entgegen ihrem eigenen Anspruch von Erlösung und Befreiung, als eine Hypostase der Unfreiheit, was sowohl zutreffend (historisch evident) als auch fragwürdig (ideologisch motiviert oder verkürzend) ist. Religiöse Praxis kann zu einer Hinwendung zum (im weitesten Sinne) Göttlichen (personal oder auch metaphysisch-apersonal) befähigen (Kirchner 2021b), die ihrerseits zur Weisheit führen kann (Jürgasch 2013), jedenfalls aber eine spezifische Ordnung setzt, welche „die Gegebenheiten entweder als profane oder als Manifestationen des Heiligen […] erleben lässt“ (Fischer 2007: 29). Die Hinwendung kann sich in Praktiken äußern, die einen Abstand zur physischmateriellen Welt zeigen, insofern sie dem Anspruch nach ihr Ziel nicht (allein) in dieser weltimmanenten Sphäre haben. Hier lässt sich vor allem an Praktiken der ↗ Kontemplation, des Gebets und der Meditation, der ↗ Askese, des Opfers, der Trance, der Schriftlesung, ritualisierte Gottesdienste usw. denken. Es fällt auf, dass diese Praktiken als alternative Handlungsmodelle einen transzendenten Relationspunkt setzen und sich sodann der dominanten Logik von Produktivität, Leistung, Zielorientierung etc. entziehen. Oftmals stehen sie nicht nur quer zu den konventionellen Leistungslogiken, Zwängen und Erwartungen der gegenwärtigen Zeit und Gesellschaft, sondern artikulieren ihrerseits alternative (und dem Anspruch nach überlegene) Weisen des Handelns. Gleichwohl können religiöse Praktiken sozial funktionalisiert sein, was sich paradigmatisch in der ideologischen Instrumentalisierung religiöser Konzepte zur Bestätigung der mit dem sozialen Wettbewerb eintretenden Distinktion (Verdienstethik, Erwählungsgedanken, Prosperity Gospel, protestantische Arbeitsethik, Herrschaftslegitimation etc.) zeigen lässt. Religiöse Praktiken etablieren dann teils eigene Produktivitätserwartungen (beispielsweise Arbeitsethik, Arbeit am Seelenheil etc.) und Leistungszwänge, begründen und stabilisieren Ordnungen, indem sie sie durch Transzendenzbezug legitimieren. Aus Sicht einer der Muße eigenen Leistungs- und Produktivitätskritik ist hier eine kritische Perspektive geboten. Zentral für den Gedanken, dass Muße relevant für religiöse Praktiken sei, ist die Frage nach bestimmten leiblich-geistigen Formen der Selbstwahrnehmung und nach deren Zusammenhang mit spezifischen Körper-Praktiken (↗ Leiblichkeit). Praktiken, die als potentiell mußeaffin beschrieben werden können, sind beispielsweise Lesen, Beten, Meditieren, Gehen, Pilgern, Ruhen oder Warten. Allerdings sind analytische Zuschreibungen vor dem Hintergrund des trans-



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gressiven Potenzials der Muße problematisch, insofern die Beschreibung von Mußeerfahrungen vom Standpunkt und der inneren Haltung der Akteurin oder des Akteurs abhängt, die oder der einer bestimmten Erfahrung erst Bedeutung verleiht. Ein exemplarischer, nicht systematischer Blick auf wesentliche mit Muße verbundene religiöse Praktiken muss sich auf eine paradigmatische Auswahl – Gottesdienst und Ritual, Sabbat und Sonntag sowie Gebet und Meditation – beschränken. Für ↗ Kontemplation, ↗ Askese und ↗ Verzicht sowie ↗ Achtsamkeit wird auf separate Artikel verwiesen.

Gottesdienst und Ritual Die Geschichte des allwöchentlichen Feiertags, der die feiernde Haltung der Gläubigen gegen die Superdominanz von Arbeit und Produktivität und die Hinordnung auf höhere Güter fordert, ist bemerkenswert. Schon die frühchristlichen Anfänge der Gottesdienstfeiern in Hausgemeinden stellen die nicht funktionale Beziehung der Menschen in den Mittelpunkt; die zunächst von äußeren Zwecken freie Begegnung kann die Gottesdienste als Ermöglichung von Mußehandeln qualifizieren. Allerdings kann der Gottesdienst nicht unabhängig von den alltäglichen Kontexten der Menschen gesehen werden, insofern die Lebenswelt insgesamt stets die Hermeneutik der Freiheitserfahrung mit teils kontrastiven Ansprüchen mitbestimmt. Inwiefern die aus der Tradition bekannte Verknüpfung von Gottesdienst und Muße empirisch greifbar ist und wie sehr die Alltagsstruktur der Menschen mitzubedenken ist, zeigt sich exemplarisch an zwei sehr unterschiedlichen – anglikanischen und charismatischen – Gottesdienstformen im Norden Namibias, die im Sonderforschungsbereich ethnologisch erforscht wurden (Kirchner/van den Berg 2023). Die dortige Gesellschaft ist durch eine Religiosität geprägt, in der der Gottesdienst nicht nur ‚als privilegierter Ort der Ästhetik‘ (Wahle/Schlimbach 2011), sondern vor allem auch der spirituellen Erfahrung und spirituellen Sicherheit (Kirchner/van den Berg 2023) gelten darf. Insgesamt korrespondieren Alltagsreligiosität und Gottesdiensterfahrungen miteinander. Erfahrungen des beschädigten Lebens (beispielsweise Krankheit, Arbeitslosigkeit, Gewalterfahrung) und deren Transformation im Gottesdienst stehen hier im Mittelpunkt; ihnen wird durch Gebet, Trance und Exorzismus begegnet. Diese Religiosität schafft Erfahrungen, die sich stark vom Alltag unterscheiden und doch auf ihn bezogen bleiben. Im Zentrum europäischer theologischer Mußebegriffe stehen kontemplative Mußeerfahrungen, die einen Erfahrungsraum aufspannen, der zwar produktiv wird, aber primär nicht durch Zweckhaftigkeit bestimmt ist, der in seiner präsentischen zeitlichen Struktur aus den konsekutiven Abläufen des Alltags herausgenommen ist und auch konzeptuell den Alltagserfahrungen entgegen-

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gestellt wird. Anglikanische Gottesdienste, die anders als die charismatischen um Wohnortgemeinden organisiert sind, sind ruhiger, weniger ereignishaft, für die Teilnehmenden weniger packend und weniger erfahrungszentriert. Ihr Erfahrungsraum ist stärker kontemplativ und ermöglicht es, sich innerlich zurückzuziehen, abzuschweifen, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Insgesamt bestätigen sie vorhandene Sozialstrukturen sehr viel stärker, als dass sie sie performativ transformieren würden. Dennoch bieten auch sie einen vom Alltag abgegrenzten, stets aber auf ihn bezogenen Sonderraum, in dem zeitliches Nacheinander, unmittelbare Zweckhaftigkeit und Produktionslogik auf Zeit außer Kraft gesetzt werden. Beide Formen des Gottesdienstes mit den in ihnen vollzogenen religiösen Praktiken ermöglichen auf unterschiedliche Weise einen kritischen Bezug auf den Alltag und die Erfahrung desselben: hier performativer, dort stärker kontemplativ. In ihnen sind alltägliche Probleme präsent, verlieren aber durch die Einbindung in das rituelle Geschehen ihre Ausschließlichkeit. Beide Weisen der Erfahrung können für die Beteiligten transformativ wirken – auch wenn sie das keinesfalls an jedem Sonntag tun. Neben diesen konkreten empirischen Gottesdiensterfahrungen ist auch die theologisch-philosophische Dimension für die Bestimmung der Berührungspunkte von Gottesdienst und Muße hilfreich. Diese belegt, dass der (sonntägliche und historisch mit dem Sabbat verbundene) Gottesdienst gelegentlich als Mußeraum par excellence gilt (Pieper 2007). Der christliche Gottesdienst als Feier des Sonntages ist vor dem Hintergrund der mit den Ursprungs- bzw. Schöpfungserzählungen verbundenen Zeitstruktur, die der religiösen Sicht zugrunde liegt, zu begreifen. Gleichzeitig ist er auch mit eschatologischen Motiven verknüpft. Die sonntägliche Feier schenkt einen Vorgeschmack auf die ewige himmlische Anbetung Gottes, sie folgt dem Sabbat und orientiert sich also am Schöpfungswerk und an dessen Vollendung selbst, greift aber zugleich voraus auf die kommende himmlische Wirklichkeit. Dem immanenten Anspruch nach bilden gerade die gottesdienstlichen Praktiken nicht selten die transzendente Wirklichkeit selbst nach. Sie eröffnen eine Möglichkeit der Partizipation an der jenseitigen, ‚himmlischen‘ Wirklichkeit und bilden Brücken einer Anderszeit in der sonst unvermeidlichen, unaufhaltsamen Zeitsukzession der Diesseitigkeit. Der Gottesdienst ist eine Feier der Gegenwart, die die Gläubigen aller Zeiten in der streng ritualisierten (entzeitlichten) Gestalt miteinander und auch mit dem Anfang (Genesis, der göttliche Sabbat) und dem Ende (Vollendung der Schöpfung, der siebte Tag als Tag der Auferstehung und des Lebens, der achte Tag als ewig-himmlische Vollendung) verbindet. Das vom Zeitzwang frei gewordene Verweilen in der Zeit führt bis zur elementaren Erfahrung des Zurücktretens der zeitlichen Dimension. In dem Maße, in dem das Zeitliche in der Muße verblasst, gewinnt die Erfahrung des Raumes (und damit die ästhetische Rauminszenierung) an Bedeutung (↗ Raumzeitlichkeit).



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Sabbat und Sonntag Als feste Feiertage strukturieren und begleiten nicht nur der Sabbat oder der Sonntag – im Folgenden wird, trotz der konzeptgeschichtlichen Unterschiede, die an dieser Stelle unscharf bleiben müssen, vereinfacht vom Sabbat gesprochen –, sondern auch singuläre religiöse Passageriten und Transitionsfeste die gesamte (Lebens-)Zeit und die Erfahrung der Gläubigen. Damit verbunden entwickelte sich eine reiche Tradition an religiösen Praktiken, zu denen auch die Sabbatruhe gehört, deren schöpfungstheologisch begründete Befreiung von der Arbeit einige wichtige konzeptionelle Überschneidungen mit der Mußethematik aufweist. Als „Palast in der Zeit“ (Joshua A. Heschel) verbindet der Sabbat den Menschen religiös gedacht mit der transzendenten Wirklichkeit und eröffnet damit neue Ebenen der Wirklichkeitserfahrung. Damit einher geht eine Relativierung diesseitiger Bezüge, die zwar nicht abgelehnt, aber in der Vergegenwärtigung des Woher und des Wohin des Menschen neu geordnet werden sollen, um den (aus religiöser Sicht) „besseren Teil“ (Lk 10,38–42) in der Geschäftigkeit der Welt nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Konflikt zwischen Leistungsanspruch und religiösem Anspruch bestimmt die Auseinandersetzungen um den Sabbat seit frühester Zeit (Mk 2,23–28). Schon in der Spätantike (v. a. Ambrosius, Augustinus) bildet die Muße (otium) oft die diesseitig in der Zeit erreichbare höchste Stufe einer tätigen Ruhe bei Gott, die ihre ideale Versinnbildlichung im Sonntag bzw. Sabbat findet. Für die frühen Christen bedeutet die Muße vor allem eine Verpflichtung: Die ihnen zugesprochene Freiheit begründet den Anspruch, ein gottgefälliges, zu Gott strebendes Leben zu führen. Ignatius, ein christlicher Bischof und Autor des 2. Jahrhunderts, betont (An Polykarp: 7,3), dass der Christ kein Recht auf sich selbst habe, sondern sich Gott hingebe (wörtl. etwa „Muße für Gott hat“). Damit wird gesagt, dass der Christ seine Muße ganz Gott zuwenden solle (Kirchner 2018a: 153); das christliche Leben steht unter Imperativen, bestimmt von den Geboten und dem Vorbild Jesu. Vor diesem religiösen Hintergrund gewinnt das Mußekonzept an Spannung, alles (Nicht-)Handeln ordnet sich als eine religiöse Praxis auf Gott hin. Muße darf nicht mehr bloß selbstgenügsame Untätigkeit sein. Ambrosius polemisiert dementsprechend gegen die angebliche jüdische Deutung des Sabbatgebotes und stellt ihm Werke der Gnade gegenüber, die sich am Handeln Jesu orientieren (vgl. Ambrosius, Expositio evangelii secundum: Lucam 5,339–342). Die christliche Muße unterscheide sich demnach auch vom klassischen Topos des (ländlichen) Rückzugs aus den Geschäften und Pflichten, insofern sie ein stets tätiges Wirken impliziert, das sich allerdings nicht unbedingt im Äußeren zeigen muss und immer mit einem (inneren) Gottbezug zusammengeht. Allein aus Gott heraus und allein auf ihn hin hat alles Ruhen und Wirken Ziel und Bestimmung. Augustinus, der sich ebenfalls kritisch von einem

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Sabbatverständnis als ‚Muße von den körperlichen Werken‘ distanziert, zitiert Ps 45,11 (De vera religione: 65): „‚Handelt in Muße und erkennt, dass ich der Herr bin.‘ Nicht die Muße der Trägheit ist gemeint, sondern die Muße des Nachdenkens, die der Räume und Zeiten ledig ist!“ Die Unterscheidung zwischen der ‚Muße der Trägheit‘ und der ‚Muße des Denkens‘ bildet eine Grundlage für die Integration des Mußekonzeptes als tätiger Muße mit aktiver Gottesrelation in die christliche Theologie und weist auf die enge Verbindung zwischen Muße und christlich-religiöser Praxis hin. Aufgrund der Eigentümlichkeit ihres Zuwendungsobjektes (Gott) muss sich die skizzierte Relation idealerweise von Zeit und Raum befreien, soweit dies dem Menschen möglich ist. Übergeordneter Zielpunkt dieses Strebens ist nicht mehr die Muße, sondern der Frieden, der sich erst in Gott erfüllt: „Unruhig ist unser Herz, bis dass es Ruhe findet in Dir, Herr!“ (Augustinus, Confessiones: 1,1) Während Muße ein Relationsverhältnis und somit eine Spannung bezeichnet, in welcher der Mensch sich denkend in der Welt zu Gott (und damit über die Welt hinaus) verhalten und praktisch tätig sein kann, wird der Frieden als über allem Spannungsverhältnis (auch von Muße und Arbeit) stehender Einheitspunkt jenseits menschlichen Denkens beschrieben. Der Sabbat sei für die Gotteshinwendung und das Zurückstehen von den ‚knechtischen Werken‘ im Sinne einer inneren Haltung (Enarrationes in Psalmos: 91,2) entworfen. Das Gott zugewandte Denken ist zugleich praktisch gefasst und verbunden mit der Gottesliebe. Sabbatruhe als tätige Muße ist demnach Gottesgedenken, ruhendes Wirken und Lassen von den falschen Werken bzw. des falschen (knechtischen) Modus des Wirkens. Der Mensch steht in ihr an den Grenzen des Vergänglichen und wendet sich dem über alle Wandelbarkeit der Erscheinungen von Raum und Zeit Erhabenen zu. Das augustinische Konzept von ‚Gebrauch‘ und ‚Genuss‘, welches die weltlichen von den göttlichgeistigen Ebenen unterscheiden hilft, lässt erkennen, dass die Muße in diesem Kontext eine Brücke bildet, die dem Geist ermöglicht, sich aufzuschwingen und nach dem zu suchen und zu fragen, was den menschlichen Geist transzendiert, um sich diesem Grund ohne äußere Not in der Liebe zuzuwenden. Muße zielt also, so verstanden, eindeutig auf eine religiöse Praxis. Wie schon bei Aristoteles (↗ Kontemplation) wird der Mensch in der tätigen Muße aus Sicht einer derartigen Theologie als bessere Verwirklichung seiner selbst betrachtet, da er die Augen des Geistes erhebt und auf eine Form der Wahrheit blickt, die nicht in der Sprache der vielheitlichen Welt artikuliert werden kann. Für die frühe christliche Theologie bleibt Gott auch im äußersten otium in seinem Wesen dem menschlichen Begreifen unzugänglich, schon weil er in seiner absoluten Einheit dem Zugriff des menschlichen Begriffs (und der menschlichen Begriffe) stets entzogen bleibt. Dennoch offenbart die emphatische Muße einen Vorbegriff des späteren eschatologischen Gottesgenusses, ist temporäre Entfernung aus einzelnen äußeren Strukturen, aber niemals vollständiges Ruhen, weswegen sie selbst unter den Bedingungen der Zeit und des zeitlichen Lebens



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nicht um jeden Preis zu erstreben ist, wenn darunter das aus dem Auftrag der Liebe folgende Gebot des Wirkens am Menschen vergessen würde. Insofern ist auch die gewählte Lebensform – vita activa oder vita contemplativa – zunächst sekundär, solange Gottes- und Nächstenliebe auf einen gemeinsamen Ursprung aufruhen und Gott zum Ziel haben. Neben der traditionsmächtigen theologischen Konzeption wurde eine utopische Idee des Sabbats auch philosophisch gegen „Arbeit, die äußeren Zwecken dienen muss“ und dementsprechend „als grundlegend unfrei und lebensfeindlich“ attribuiert ist, in Stellung gebracht (Dobler/Riedl 2017a: 16). Der Sabbat wurde hier zum „Gegenkonzept zur entfremdeten Arbeit“, das seinerseits „in moderne Konzeptionen der (politischen) Philosophie eingegangen“ ist (Gimmel 2017c: 335) und in einer größeren Wendung beitragen kann zur „Versöhnung mit Natur, Mitmensch und der Menschheit in der Geschichte“ (Gimmel 2017c: 377).

Gebet und Meditation Meditation (meditari = nachdenken, nachsinnen, einüben, vorwegnehmen, preisen) bedeutet im christlichen Kontext „eine vertiefte Reflexion, meist über biblische Texte und Inhalte, die […] verinnerlicht angeeignet werden“, und steht „dem mentalen, schweigenden Gebet nahe“ (Bäumer/Hödl 2003: 705). Diese vertiefte Reflexion zielt auf einen „Prozess der Entautomatisierung der Ich-Funktionen“ (Dischner 2009: 151) und somit auf ein Kontinuieren der Reflexivität. Das wiederum hat das Ziel, „den unruhigen Geist zur Ruhe zu bringen, die störenden Gedanken auszuschalten und in der Stille zu sich selbst und damit zu Gott oder zu einer transzendent-immanenten absoluten Wirklichkeit zu kommen“ (Bäumer 2003: 706), indem Gegenwarts- und Selbstwahrnehmung und damit auch Selbstbestimmung und Freiheit von vereinnahmenden äußeren Bezügen eingeübt werden. Dazu bedarf es der Konzentration, der Sammlung, oft haben Körperübungen wie die Rhythmisierung des Atems eine große Bedeutung, v. a. aber geht es um das Schweigen sowie die „Loslösung von alltäglichen Sorgen und Spannungen, Öffnung auf eine nicht verfügbare andere (‚höhere‘) Dimension der Wirklichkeit und auf einen erweiterten und vertieften Bewusstseinszustand“ – Aspekte, die weitestgehend als mußeaffin gelten können, solange sie nicht zu einem Zwang oder Wettstreit der Erlösung oder Befreiung, wie auch immer sie inhaltlich gefasst werden, verkommen. Die Bewusstseinsschulung bereitet auf eine mögliche Transzendenzerfahrung vor und bezieht dazu Körper, Geist und Seele integrativ mit ein. Das zielt nicht auf eine Weltflucht, sondern auf ein geregeltes Weltverhältnis und eine entwickelte Innerlichkeit, die vor allem eine Vergegenwärtigung der transzendenten Gegenwart, „ein Sich-Erinnern an die Taten Gottes“ (Bäumer 2003: 706) meint. In den aus dem Buddhismus

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entstammenden Achtsamkeitspraktiken (↗ Achtsamkeit) findet sich eine große Nähe zu vielen dieser Aspekte. Eigentümlich ist den entsprechenden religiösen Praktiken, dass sie zwar detailliert als Körperpraktiken beschrieben werden, aber gleichzeitig ihren eigentlichen Anspruch nicht in der ihnen eigenen Körperlichkeit haben; stattdessen sind sie als praeparatio zu verstehen. Sie bereiten durch ihre Distanznahme (Askese, Verzicht) zu materiellen Wünschen und Bedürfnissen, ausgelassenen Vergnügungen und Unterhaltung auf eine reflexive Innerlichkeit vor, in der die geistige Wirklichkeit (Transzendenz) betrachtet werden soll. Beten und das Gebet sind also weniger Körperpraktiken, lassen sich aber als leibgeistige Praktiken begreifen, haben (wie alle menschlichen Äußerungen) körperliche Anteile. Allerdings erschöpft sich ihre Sinndimension nicht in dieser Körperlichkeit: Gefaltete Hände, gebeugte Knie, geschlossene Augen usw. – das Gebet ist weit mehr als diese ästhetischen Inszenierungen. Auch ohne sie kann der Mensch beten und diese sichtbare Äußerung ist kein Beleg für das Gebet. Allerdings sind innere Prozesse empirisch schwieriger greifbar (↗ Erfahrung). Das ist eine wichtige Entsprechung zwischen religiösen Praktiken und Muße: Nicht die äußerlich-empirische Prozessebene gibt Aufschluss über die Bedeutung, sondern erst das innere Erleben bzw. der Vollzug. Religiöse Praktiken sind demnach auf vielen Ebenen mit Muße verbunden. Gegenwartsorientierung und Sinnperspektive, emphatischer Freiheitsanspruch, Haltung der Innerlichkeit, Reflexivität und kritischer Abstand zur Welt sowie zu üblichen Funktions- und Leistungsansprüchen etc. sind nur einige wesentliche Aspekte.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Gimmel, Jochen (2017c), „Vom Fluch der Arbeit und vom Segen des Sabbats. Überlegungen zu einer alternativen Traditionslinie der Muße“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen 2017, 335–377. Kirchner, Andreas (2018a), Dem Göttlichen ganz nah. „Muße“ und Theoria in der spätantiken Philosophie und Theologie (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 8), Tübingen. Kirchner, Andreas/van den Berg, Yannick (2023), Religion und Muße. Erkundungen eines Zusammenhangs, Tübingen.

Rückzug Judith Frömmer Muße wird in der Regel weniger als progressive, denn als rückwärtsgewandte und tendenziell verlangsamende Bewegung gedacht. Sie wird daher häufig mit verschiedenen Formen des Rückzugs assoziiert (vgl. exemplarisch Sennefelder 2018): sei es beispielsweise mit Rückzug aus der ↗ Gesellschaft und näherhin aus bestimmten Verdichtungsformen sozialer Interaktion wie dem Hof, der Großstadt (↗ Urbanität) oder dem beruflichen oder familiären Umfeld; sei es, positiver und auch aktiver konzipiert, z. B. als Rückzug in die ↗ Natur, auf einen anderen Kontinent oder eine Insel, in eine religiöse Gemeinschaft, aber auch in innere bzw. imaginäre Räume, wie sie durch Literatur und Kunst oder Kontemplations- und Körpertechniken wie Gebet, Meditation oder Yoga entstehen können. Rückzug wird meist nicht nur als Abkehr, sondern vor allem auch als Rückkehr, Einkehr oder Umkehr verstanden und weist damit Analogien zu anderen Praktiken der Muße auf. Von der europäischen Antike an oder etwa in der buddhistischen Tradition gelten der Rückzug aus der Welt und die Distanzierung von ihren Verbindlichkeiten oder Zwängen oft als Voraussetzung für die Erfahrung von Muße. Dies ist aber nicht zwangsläufig im Sinne von Weltflucht und Einsamkeit zu verstehen, wie sie in den verschiedensten Kulturen unter anderem von Eremiten oder Einsiedlern praktiziert werden. Vielmehr kann der Rückzug immer auch mit neuen oder alternativen Formen der Vergemeinschaftung einhergehen oder aber in verschiedener Weise auf die ↗ Gesellschaft bezogen sein und sich als Intervention im Hinblick auf die bestehende Ordnung verstehen. Das gilt für antike Philosophen oder romantische Autorinnen ebenso wie für christliche Ordensgemeinschaften oder den Taoismus. Bezeichnenderweise birgt der Begriff des Rückzugs in vielen Sprachen wie im Deutschen, dem Englischen und in den romanischen Sprachen immer auch militärische Konnotationen. Dabei hat diese militärische Bedeutung im Laufe der Geschichte Umdeutungen und Ambiguisierungen erfahren, die für die Erforschung von Mußepraktiken aufschlussreich sind. Heutzutage wird militärischer Rückzug landläufig als Form der Niederlage oder gar Kapitulation interpretiert. Häufig wird die Bezeichnung sogar vermieden oder sie ist, wie jüngst im Zuge der militärischen Interventionen der USA im Irak oder in Afghanistan, überaus umstritten. Dahingegen galt der Rückzug in der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein als integraler Bestandteil jeder militärischen

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Operation. Von ­Militärtheoretikern wird er oft als anspruchsvoller dargestellt als der Angriff (vgl. Schivelbusch 2019). Als Sammlung und Neuformierung, um in verschiedenen Konfliktsituationen besser bestehen zu können, weist die Muße strukturelle Parallelen, signifikante Berührungspunkte und Überschneidungen mit Rückzug in einem militärischen Sinne auf: sei es im Rückzug in eine erzwungene Mußesituation, wie sie Ciceros oder Machiavellis literarische Aktivitäten (Eickhoff 2021c; Frömmer 2022; Guidi 2019; Saracino 2022), aber beispielsweise auch Krankenhausaufenthalte oder chronische Krankheiten charakterisiert, die Freiraum und Neuorientierung angesichts von Verzicht und Verlust ermöglichen, ja manchmal erzwingen können (Bengel/Müller 2018; L. Müller 2021); sei es im gezielten Einsatz von Mußepraktiken, wie sie unter anderem als Retreats zum Faktor einer Unternehmens- oder ↗ Wissenschaftsstrategie werden können. Ein besonders prominenter Beleg hierfür ist Ulrich Schnabels Buch Muße. Vom Glück des Nichtstuns (2010): Während dieses Buch einerseits mit vielen Beispielen die befreiende Dimension von Rückzugsorten der Muße belegt, betont es zugleich, dass diese Muße im Rückzug keinesfalls gesellschaftlichem Erfolg in einer hochmodernen (↗ Arbeits-)Welt entgegenstehen muss. Aus dem Rückzug entstehen neue Kräfte, die den bereits verloren geglaubten Erfolg auf überraschende Weise neu erringen. In diesen Perspektiven, wie sie sich aus der Begriffsgeschichte (↗ MußeSemantiken) sowie in den Fallstudien zu historischen Praktiken der Muße ergeben, erweist sich der Rückzug damit gerade in diesem Kontext als potenziell paradoxale Denkfigur: Zwar steht das Konzept des Rückzugs in seinen dominanten Konnotationen in enger Verbindung mit Mußepraktiken (Eickhoff 2021b; 2021c; Klinkert 2016b; Schmidt 2022; Sennefelder 2018). Doch wird Muße in der Wahrnehmung vieler von Formen eines zweckgerichteten Handelns abgesetzt, wie es der Rückzug insbesondere als militärische Strategie oder Taktik zu implizieren scheint. Diese Ambivalenz eignet indes der Figur des Rückzugs als militärischer Praxis selbst: Sie bezeichnet eine überlegte und geordnete Bewegung, die jedoch nicht nur darauf zielt, in einer Situation beschränkter Handlungsmöglichkeiten größeren Schaden abzuwenden, sondern umgekehrt gerade neue, noch unbestimmte Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, um zu einem späteren Zeitpunkt die Initiative wiederzugewinnen und umso effektiver intervenieren zu können. Im Idealfall basiert der Rückzug also einerseits auf planvollem Handeln. Sein volles Potenzial kann er andererseits aber nur in der Offenheit noch unbekannter und daher zumindest teilweise nicht intendierter Effekte entfalten. Als Denk- und Handlungsfigur tritt der Rückzug – sich dem Gegner entziehen, um ihn dann besser angreifen oder den Konflikt anders lösen zu können  – damit in die Nähe zu den gegenläufig-paradoxen Formeln wie ‚tätige Untätigkeit‘ oder ‚absichtsvolle Absichtslosigkeit‘, mit denen Muße formal bestimmt werden kann (Gimmel/Keiling 2016: u. a. 11–23; Hasebrink/



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Riedl 2014a: 1–11; Soeffner 2014). Im Spannungsfeld zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Handlungsohnmacht und reflexiver Öffnung, strategischem Handeln und affichierter Unbetroffenheit, ja bisweilen auch zwischen unterstellter Schwäche und intrinsischer Stärke kann der Rückzug in (die) Muße damit gleichermaßen zur Strategie der Bewältigung wie des Widerstandes in ganz unterschiedlichen Kontexten werden. Beim Rückzug handelt es sich sowohl um eine räumliche als auch um eine zeitliche Praxis. Diese konstituiert sich über eine Bewegung, die es erlaubt, bestimmte Situationen oder Zwänge abzustreifen, die den menschlichen Aktionsradius über Gebühr, ja manchmal in schädlicher oder sogar existenzbedrohender Weise einschränken. Dies knüpft sich meist an die Hoffnung, sich in der und durch die mehr oder minder planvolle Bewegung (mitunter auch nur mental) in eine andere, räumlich und zeitlich entfernte Umgebung zu versetzen. Im Idealfall können dadurch neuartige Handlungsspielräume entwickelt werden. Insbesondere Zeit wird dadurch anders wahrgenommen und vielfältiger gestaltbar.

Topologien und Topographien des Rückzugs Wendet man sich der räumlichen Dimension zu, so stellt man schnell fest, dass dem Rückzug spezifische Topologien und Topographien eignen. In diesem Zusammenhang lässt sich zunächst zwischen äußeren und inneren Formen des Rückzugs unterscheiden. Rückzug kann eine physische Bewegung im Raum beinhalten, muss es aber nicht. Dabei lassen indes auch äußerliche Formen des Rückzugs, die sich mit bestimmten Räumen und oft auch mit tradierten mußeaffinen Topoi wie dem Rückzug aufs Land oder in ein Kloster verbinden, häufig eine Tendenz zur Verinnerlichung, zur Vergeistigung oder zum ↗ Verzicht erkennen. Nicht selten erwartet man sich vom Ortswechsel eine Reduktion von Komplexität, Interaktion oder Konsum und damit nicht selten auch die Möglichkeit zu ↗ Askese und ↗ Kontemplation. Topologisch äußert sich das in der Vorstellung einer Wendung nach innen. Gemein ist verschiedenen Rückzugsformen ein Moment der Distanzierung, von dem man sich häufig einen Gewinn an ↗ Freiheit, aber auch an kritischer Reflexion oder Gemeinschaftsgeist verspricht. Dies kann sich gleichermaßen auf individueller wie auf kollektiver Ebene, im privaten wie im beruflichen Umfeld, in profanen wie in sakralen Räumen vollziehen. So werden heutzutage beispielsweise sowohl Yoga- und Meditationsurlaube oder Klosterexerzitien als auch Klausurtagungen oder Teambuilding-Maßnahmen als ‚Retreat‘ bezeichnet. Rückzug beinhaltet also nicht zwangsläufig Einsamkeit, meist aber eine (temporäre) Abwendung vom Gewohnten und vom Alltag sowie den damit verbundenen Topographien. In der orthodoxen Tradition des Buddhismus ist das Motiv der

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sogenannten ‚Hauslosigkeit‘ grundlegend. Das weltliche Leben, insbesondere die Herkunftsfamilie und/oder die Gesellschaft wird zugunsten der Aufnahme in einen buddhistischen Orden als einer neuen Form der Gemeinschaft verlassen. Davon zu unterscheiden ist der Rückzug in die Einsamkeit, wobei das Leben in Einsiedelei sowohl von Ordensangehörigen als auch von (buddhistischen) Laien praktiziert wird. Sowohl in der westlichen als auch in vielen Teilen der asiatischen Tradition setzt der Rückzug nicht zwangsläufig einen tatsächlichen bzw. geographischen Ortswechsel voraus. Vielmehr kennen die meisten Kulturen diverse Formen des inneren Rückzugs, der sich gerade über die Unabhängigkeit von objektiven räumlichen und zeitlichen Koordinaten definiert (vgl. ↗ Raumzeitlichkeit). Dazu kann man nicht nur Methoden der Meditation, des Gebets oder ↗ religiöse Praktiken, sondern vielleicht sogar Phänomene wie das der inneren Emigration und des zivilen Ungehorsams zählen, wobei das Verhältnis dieser Rückzugsformen zur Muße einer detaillierteren Klärung bedürfte. Immerhin setzen solche Formen des inneren Widerstandes sicherlich ein kritisches Verhältnis zu politischen, sozialen und ökonomischen Zwängen und insbesondere zu deren Zeitregimen voraus, die den inneren Rückzug und die sich daraus ergebende Muße als eine besondere Form der politischen Praxis ausweisen. Auch medial vermittelte bzw. mediatisierte Rückzugsformen implizieren in der Regel eine Abwendung von der Außenwelt, der man sich mehr oder minder bewusst entzieht. Neben der Lektüre, die in Europa insbesondere seit der Aufklärung häufig als Form des mitunter gefährlichen Rückzugs, ja des Realitätsverlustes mit asozialen Tendenzen zur Vereinzelung profiliert wird, weisen auch Formen der ↗ Immersion oder der Aufenthalt in virtuellen Realitäten wie dem Internet oder Computerspielen Charakteristika des Rückzugs auf (↗ Freizeit). Schließlich lassen sich auch Schlaf oder Ohnmacht als biologische Rückzugsrituale betrachten, über deren Mußecharakter man diskutieren könnte. In diesem Zusammenhang könnte Rückzug eine Form dessen darstellen, was in der Psychoanalyse als ‚Regression‘ bezeichnet wird. Freud hatte den Begriff in der ersten Fassung der Traumdeutung aus dem Jahr 1900 zunächst in einem topischen Sinne eingeführt, um ihn später durch zeitliche und formale Dimensionen zu ergänzen und auszudifferenzieren (Laplanche/Pontalis 1977: 436–439). Die Rückkehr zu einem früheren, potenziell ‚primitiveren‘ Stadium des eigenen Selbst oder der Evolution wird in der Psychologie in der Regel als Form des Rückzugs von den Erregungen der Außenwelt und den Normen der sozialen Welt interpretiert.



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Rückzug und sozialer Raum Eine politisch funktionalisierte Verknüpfung von äußerem und innerem Rückzug in (die) Muße ließe sich etwa in den Texten Henry David Thoreaus erkunden, bei dem innere „civil disobedience“ mit dem äußeren Rückzug in die Blockhütte von Walden und Manifestationen des politischen Widerstandes Hand in Hand geht (Figal 2018; Thoreau 1906). Insbesondere in der US-amerikanischen Tradition verbinden sich solche Formen des Rückzugs in die Wildnis mit zivilisations- und fortschrittskritischen Positionen und potenziell regressiven Praktiken, wie sie beispielsweise in Jack Londons 1903 erschienenem Roman The Call of the Wild (London 2018) zum Ausdruck kommen. In Jon Krakauers Into the Wild (1996) und der gleichnamigen Film-Adaptation aus dem Jahr 2007 oder dem Film Captain Fantastic (2016) werden solche Praktiken eines faktischen ‚Ausstiegsʻ aus der Gesellschaft auf ihre politischen und sozialkritischen Implikationen, aber auch ihre mögliche Überforderung des Menschen befragt. In den Romanen einer Juli Zeh nimmt dies mehr oder minder ironische, dadurch aber nicht weniger politisierte Formen an (z. B. Zeh 2021; 2016; 2012). Sowohl in seinen äußerlichen als auch in seinen verinnerlichten Formen ist der Rückzug damit als mehr oder minder planvolle, ja strategische Bewegung gekennzeichnet, die nicht zuletzt neue, äußere und innere Räume erschließen und unter bestimmten Umständen die räumliche Ordnung einer gegebenen Konstellation grundsätzlich in Frage stellen oder sogar aushebeln kann (Alsmann 2021; Gabriel 2021; Kügeler-Race 2021). In bestimmten Traditionen des Zen-Buddhismus im japanischen Mittelalter werden gerade im Rückzug, sei es der eines Einzelnen, sei es der einer Ordensgemeinschaft, Dualismen wie der zwischen Gemeinschaft und Einsamkeit oder dem Heiligen und dem Profanen überwunden. Vor allem die japanischen Zen-Mönche der Gozan sahen im Rückzug eine Praxis, die zwischen dem Raum der säkularen Gesellschaft und der Sphäre des Heiligen vermittelte (Collcut 1981). Ganz ähnliche Tendenzen finden sich in der christlichen Mystik, zum Beispiel bei Meister Eckhart, wenn (innere) Abgeschiedenheit gerade inmitten des urbanen Raums erfahren wird (Hasebrink 2017a). In bestimmten Zen-Traditionen des Mittelalters wird die künstlerische Praxis als eine Form des Rückzugs profiliert (LaFleur 1983). Diese lässt sich sogar mit der notorischen Betriebsamkeit und Unruhe eines politischen Amtes z. B. am Hof vereinbaren (Parker 1995). Mitunter tragen die Entdeckung und Inszenierung neuer Rückzugsräume zur Transformation gesellschaftlicher Topographien schlechthin bei. Bei Francesco Petrarca, Jean-Jacques Rousseau und den Romantikern werden der Rückzug in die ↗ Natur und die daraus resultierenden Mußepraktiken als Form der kulturellen und politischen Intervention lesbar, die bestehende Konstellationen wie die zwischen geistiger und weltlicher Kultur, zwischen homme naturel und Zivilisation oder zwischen Individuum und bürgerlicher Gesellschaft verrückt. Im und durch den Rückzug in (die)

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Muße können bestehende Ordnungen buchstäblich zur Disposition gestellt werden. So artikuliert sich in Petrarcas berühmtem Brief über die Besteigung des Mont Ventoux (Petrarca 1995) nicht nur eine in dieser Zeit ungewöhnliche Hinwendung zur Landschaft um ihrer selbst willen, die andere Formen der ↗ Kontemplation ermöglicht, sondern auch die Bejahung einer in der Konfrontation mit Augustinus’ Confessiones potenziell sündhaften Hinwendung nach außen und zur sinnlichen Wahrnehmung der diesseitigen Welt. Momente wie dieser markieren Kippfiguren zwischen kontemplativen Mußepraktiken, die sich auch in säkularen Kontexten realisieren lassen, und einem aus christlicher Perspektive verwerflichen Müßiggang, der traditionell u. a. aus der concupiscentia oculorum abgeleitet wurde. Rousseaus einsame Streifzüge durch die Natur in den Rêveries d’un promeneur solitaire oder die Abgeschiedenheit der (scheinbar) idealen Gutsgemeinschaft von Clarens in Julie ou la Nouvelle Héloïse zeitigen nicht nur Ermöglichungsstrukturen von Muße (Klinkert 2016b: 99–113), sondern sind in mehr oder weniger expliziter Weise polemisch auf die gesellschaftliche Ordnung des Ancien Régime und deren Topographie bezogen. Auch die historischen und exotischen Sehnsuchtsräume der Romantiker stehen im Kontext einer radikalen Neuorganisation des sozialen Raums der europäischen Staaten nach der Französischen Revolution. Der Rückzug in (die) Muße könnte sich daher nicht nur als Begleiterscheinung, sondern als wichtige Ressource innerhalb politischer und sozialer Transformationsprozesse offenbaren (vgl. hierzu auch ↗ [Post‑]Kolonialismus). In der Sattelzeit wird der Rückzug im Zuge einer Aufwertung der vita activa, infolge derer Erwerbsarbeit nicht mehr als Konsequenz eines göttlichen Fluches, sondern zunehmend als identitätsstiftend gedacht wird, auch zur Form des Aufbegehrens gegen die Werte der Arbeitswelt. Bereits Friedrich Schlegel konfrontiert in seiner „Idylle über den Müßiggang“ in der Lucinde den nimmermüden Prometheus mit Herkules, der sich nach seinen heroischen Taten Ruhe gönnt „und darum […] auch in den Olymp gekommen“ ist (Schlegel 1964: 31). Umgekehrt sehen Gesellschaften häufig spezifische Räume des Rückzugs vor, nicht zuletzt um ihr eigenes Funktionieren zu gewährleisten: Dazu zählen die Landsitze von Adeligen in der Antike und der frühen Neuzeit ebenso wie die Integration von Grünflächen und Parkanlagen in der Städteplanung, Mußeräume im Städtetourismus (↗ Raumzeitlichkeit; ↗ Reisen; Kramer/Freytag 2021), Bäder (Hubert/Grebe/Russo 2020) oder auch Kirchen sowie die Räume der Stille an Flughäfen, in Betrieben oder Schulen. Was subjektiv als individueller Freiraum wahrgenommen wird, ist also durch die ↗ Gesellschaft geprägt, in der die Spielräume für Muße spezifischen Regeln und Gesetzen der Verteilung unterliegen.



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Temporalitäten des Rückzugs Trotz seiner primär räumlichen Konnotationen eignet dem Rückzug auch eine essenziell zeitliche Dimension, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem doppelten Hegel’schen Sinne aufgehoben scheinen. Als gegenwärtige Praxis zielt er nicht nur darauf, eine Konstellation der Vergangenheit zu überwinden, sondern dadurch auch künftige, vielleicht noch unbekannte Optionen zu ermöglichen und zu erschließen. Der Rückzug selbst kennzeichnet dabei weder den Ausgangspunkt noch das Ziel, sondern eher einen Prozess oder eine Potenzialität. Die Muße resultiert vielleicht aus eben dieser (fiktionalen) Loslösung des Rückzugs von seinen Ausgangs- und Zielpunkten. Eben hierin lässt er die Charakteristika von Muße als „Freiheit, die in der Zeit nicht der Herrschaft der Zeit unterliegt“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3), erkennen. Im Anschluss an Reinhart Koselleck könnte man die Muße, die sich im und aus dem Rückzug ergibt, vielleicht über einen Zusammenfall oder zumindest eine Konfrontation von Erfahrungsraum und Erwartungsraum beschreiben (Koselleck 2021), allerdings nicht im Sinne einer Gegenwartsschrumpfung, wie sie Hartmut Rosas Theorie der sozialen Beschleunigung den modernen westlichen Gesellschaften attestiert. Vielmehr kann es im und durch den Rückzug eher zu Effekten einer Gegenwartsdehnung oder vielleicht sogar zu Formen der Suspendierung des chronologischen Zeiterlebens kommen. Als Strategie einer möglichen Entschleunigung bleibt der Rückzug indes stets auf die dominanten Zeitregimes und damit auch auf den „Beschleunigungsschub in der Moderne“ (Rosa 2021: 50) bezogen (vgl. ↗ Freiheit). Denn im Rückzug kommt es zu einer Überlagerung verschiedener Formen und Achsen von ↗ Zeit und Zeitlichkeit. Es handelt sich um einen anachronen Prozess. In verschiedenen Nationalsprachen akzentuieren der Begriff des ‚Rückzugs‘ und seine Derivate in der Regel Kontexte und Rahmungen von Muße, die sich zunächst v. a. über Formen der Abkehr oder der Negation und damit über eine Form des Vergangenheitsbezugs ergeben. Begriffssemantisch verweist ‚Rückzug‘ zunächst auf das, was man hinter sich lässt oder ausblendet, um sich dadurch einer mehr oder minder offenen Zukunft zu überlassen. Dahingegen fokussieren verschiedene Achtsamkeitstechniken im Zeichen des Rückzugs das Hier und Jetzt (Gimmel/Keiling 2016: 31–41); dabei wird oft auf einer vorübergehenden Ausblendung von Vergangenheit und Zukunft insistiert, die damit in eine Art Latenz rücken. Nicht selten verbindet sich dies mit der Vision künftiger Transformationen. Insofern ist der Rückzug entgegen seiner Etymologie immer auch nach vorne in die Zukunft gerichtet und damit, um in der militärischen Terminologie zu bleiben, potenziell ‚avantgardistisch‘. Tendenziell wendet er sich gegen das Fortschrittsnarrativ der Moderne, dem er jedoch verhaftet bleibt.

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Rückzug und Kreativität Als Bewegung der Entfernung scheint sich der Rückzug dem Zugriff des Staates, der ↗ Gesellschaft und anderer Formen der Öffentlichkeit zu entziehen, er bleibt aber stets auf diese bezogen. Daraus resultiert auch der ‚po(i)etologischeʻ Zusammenhang zwischen Muße, Rückzug und Kultur. Denn nicht zuletzt durch die Mußesituationen, die er ermöglicht, generiert der Rückzug spezifische kulturelle Praktiken, die ihn kommunizierbar und sichtbar machen, ja in denen er sich manchmal regelrecht vollzieht: sei es durch Briefe, z. B. bei Cicero, Seneca, Machiavelli oder Vittoria Colonna; sei es durch literarische Formen wie die Gedichte des japanischen Eremiten Kamo no Chōmei (Marra 1991: 70–100), die Novellen in Boccaccios Decameron oder die Essais des Michel de Montaigne; sei es in den bildenden Künsten wie z. B. in der reichen Bildtradition rund um Eremiten und Bettelmönche in China und Japan oder den Rückenbildern des Caspar David Friedrich; sei es im Kino, wo die Rückzugsszene sowohl im Western wie im Autorenfilm zum Standardinventar filmischen ↗ Erzählens gehört und sichtbar macht, was dem alltäglichen Blick der Gesellschaft entzogen bleiben muss (Havenetidis 2013). Im Film macht der Held die Zuschauerinnen und Zuschauer zwar einerseits zu Zeugen eines Rückzugs, der in der Realität des Alltags verborgen bleiben muss. Andererseits entziehen die Rückzugsszenen die Protagonisten aber auch ihrem Publikum, das nur darüber spekulieren kann, was in den Figuren vor sich geht, und dabei auf eine eigene Interpretationsleistung angewiesen ist. Ermöglicht der Rückzug einerseits ↗ Kreativität, so ist er gleichzeitig deren Resultat und erneuter Ausgangspunkt. Letztlich handelt es sich um eine Praxis und Denkfigur, die sich in ihren verschiedenen Ausprägungen den Geboten der Produktivität und der Kommunikation entziehen, diese aber ebenso produzieren wie einfordern.

Ausblick: Rückzug zwischen Experiment, Gefährdung und Reform Im Zeichen des social distancing hat jüngst die Corona-Pandemie den Rückzug in den privaten Raum gewissermaßen zum Imperativ gemacht und dabei seine kreativen wie seine bedrohlichen Potenziale in ungewohnter Weise herausgestellt. Was einige als Maßnahme der Disziplinierung und als Beschneidung von Grundrechten wahrnahmen, wurde anderen zum Modus des Selbst- und Gruppenexperiments. Was zunächst als zeitlich begrenzte Suspension sozialer Aktivitäten und Austauschformen gedacht war, hat sich in manchen Fällen zur Existenzform verfestigt. Das Verhältnis von Norm- und Ausnahmezustand und das Verhältnis von öffentlichen und privaten Räumen sind in dieser Phase einer erzwungenen Muße kollektiven Ausmaßes permanenten Verschiebungen aus-



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gesetzt. Umso wichtiger ist es, den Rückzug nicht nur als erzwungene, sondern als strategische Muße wahrzunehmen, die in Situationen beschränkter Handlungsspielräume gleichzeitig das Potenzial zu neuen Positionierungen und zur Neuformierung, ja vielleicht sogar zur Reform – sei es der Arbeitswelt, sei es des Bildungs-, des Gemein- und des Gesundheitswesens – bergen kann. Konstituiert sich der Rückzug sowohl in seinen positiven als auch seinen negativen Konnotationen als Alternative zu einer dominierenden oder als dominant empfundenen Ordnung, so können aus ihm auch andere Entwürfe und Formen von Ordnung und damit wiederum neue Praktiken des Rückzugs entstehen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Gimmel, Jochen/Keiling, Tobias (2016), Konzepte der Muße, Tübingen. Sennefelder, Anna Karina (2018), Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 7), Tübingen. Soeffner, Hans-Georg (2014), „Muße  – Absichtsvolle Absichtslosigkeit“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae 35), Berlin/Boston, 34–53.

(Un-)Produktivität Gregor Dobler „In Freiburg gibt es einen Sonderforschungsbereich ‚Muße‘, der leider bereits über 200 Publikationen hervorgebracht hat, offensichtlich wurde das Thema nicht verstanden.“ So tweetete der Philosoph Matthias Warkus im Mai 2021 über unser Forschungsprojekt. Der Tweet (der sich mit 146 Retweets und 1045 Likes kurzfristig zu einem kleineren Bestseller entwickelte) stellt Muße und Produktivität als Gegensätze dar: Entweder man nimmt Muße ernst (und tut dann eben nichts) – oder man schreibt darüber. Muße erscheint alleine als beschäftigungslose und freie Zeit, die einer Eigenlogik jenseits der Produktivität gehorchen soll. Der Tweet trifft ein Kernproblem der Mußeforschung. Mit Muße bezeichnen wir Abschnitte grundlegend freier Zeit, die nicht unter der unmittelbaren Herrschaft von Produktivitätsanforderungen stehen. Doch Muße und Nichtstun sind nicht einfach das Gleiche. Die Behauptung, eine Zeit sei als Muße zu verstehen, führt neue Qualitätsanforderungen ein. Sehr oft legen diese Anforderungen auch Folgen fest, die Muße in der Meinung der Sprechenden haben soll. Ob eine Zeit als Muße anerkannt wird oder nicht, hängt dann damit zusammen, auf welche Art und Weise sie produktiv werden kann. Daraus entsteht eine Spannung zwischen Produktivitätsentlastung und Produktivitätsanspruch, die für jedes Konzept von Muße zentral ist. Muße ist, in einer der Lieblingswendungen des Sonderforschungsbereichs, produktive Unproduktivität.

Unproduktivität: Die Selbstzweckhaftigkeit der Muße Auf der einen Seite ist eine Entlastung von Produktivitätszwängen entscheidend für das Erleben von Muße. Statt von der Notwendigkeit, etwas zu erledigen, sind Mußezeiten von ↗ Freiheit und oft von Selbstzweckhaftigkeit gekennzeichnet. Das zeigt sich schon im für europäische Mußediskurse prägend gewordenen aristotelischen Konzept der scholé. Scholé ist Selbstzweck und nicht etwa ein Mittel im Dienste eines Anderen (Gimmel 2017d; Keiling 2018: 177; Schürmann 2015; ↗ Freiheit). Zwar bietet erst scholé den nötigen Raum für Erkenntnis, theôria, aber auch diese hat keinen „das natürliche Leben betreffenden Zweck“ (Figal 2017: 1), sondern ermöglicht alleine „individuelle Sinnerfüllung“ (Varga 2017: 30). Deshalb lässt sich Muße auch nicht strategisch für etwas anderes ein-



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setzen. Ganz im Gegenteil: andere, instrumentelle Tätigkeiten sollen im Dienst der Muße stehen und sie ermöglichen. „Krieg muss man um des Friedens willen wählen, die Unrast von Beschäftigungen wählen, um in Muße leben zu können“ (Aristoteles, Politik: 1333a15; siehe auch Gimmel 2017d). In allen nachfolgenden europäischen Diskussionen über Muße lassen sich solche Zuschreibungen von Selbstzweckhaftigkeit finden. Auch phänomenologisch scheint sie für die ↗ Erfahrung von Muße entscheidend zu sein. In ihr wurzelt jene Differenz zum zweckbestimmten Handeln des ‚normalen‘ Alltags, die Muße erst als eigenes Erfahrungsfeld und als Gegenpol zur Fremdbestimmung erkennbar macht. Sie lässt Muße Phänomenen wie dem Spiel (Kirchner 2021b), dem Fest oder auch dem Rausch als verwandt erscheinen, die ihr Ziel in sich selbst haben. Doch die Betonung der Selbstzweckhaftigkeit hat eine Kehrseite. Alleine aus der Behauptung, Muße sei ihr eigener Zweck, erwächst ja noch keine positive Bestimmung von Muße und keine Abgrenzung zu Nachbarphänomenen. So stark Aristoteles die Selbstzweckhaftigkeit betont, kommt er doch nicht ohne ein inhaltliches Kriterium aus, das Muße mit einer besonderen Würde ausstattet und sie von Faulheit oder bloßer Zerstreuung abgrenzt. Nur was Theoria ermöglicht und damit dem vollkommeneren Menschsein dient, darf für ihn Muße genannt werden. Mit dieser Zweckbestimmung des Zweckfreien steht Aristoteles nicht allein. Jeder gesellschaftlich wirksame Begriff von Muße schließt gewisse Phänomene aus der Muße aus und andere mit ein. Die inhaltlichen Bestimmungen von Muße unterscheiden sich dabei durchaus stark voneinander – hier ist es die Muße der Mystikerin, die Gotteserkenntnis ermöglicht, dort die Muße des Dichters, von der ein Werk seinen Ausgang nimmt, an einem dritten Ort die Muße der philosophischen Kritikerin, von der aus sich Gesellschaft analysieren lässt. Allen gemeinsam aber ist, dass Muße, um so genannt werden zu dürfen und sich gesellschaftlich rechtfertigen zu lassen, mit einem bestimmten Inhalt gefüllt werden soll. Anders ausgedrückt: obgleich sie in der Binnenstruktur nicht durch die Notwendigkeit von Produktivität bestimmt sein darf, soll Muße dennoch in ihrem Ergebnis produktiv werden.

Produktivität als Wirkung von Muße und als Immunisierung gegen Kritik Dass Muße produktiv werden kann, liegt an ihrer Erfahrungsstruktur, insbesondere aber an der Freiheitserfahrung, die sie ermöglicht. In Muße verlieren jene alltäglichen Rollenerwartungen auf Zeit ihre handlungsleitende Bedeutung für die Einzelnen, die ihnen Pflichten auferlegen oder ihnen Handlungserwartungen entgegenbringen. Muße zu haben, bedeutet, nichts zu müssen. Das ist

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vor allem eine Verschiebung der Aufmerksamkeit: wenn die Zeit der Muße zu Ende ist, werden die gleichen Erwartungen mit den gleichen Erfüllungsfristen weiterbestehen. Was wir in Muße gewinnen, ist die Freiheit, uns eine Weile lang nicht um sie zu kümmern. Diese Entlastung schenkt ein Gefühl der „Freiheit von“. Damit entsteht ein unvorhergesehen unbestimmter Raum. Gerade weil dieser Raum nicht mit von außen kommenden Anforderungen an uns gefüllt ist, lässt er sich von uns füllen – mit schweifenden Gedanken, neuen Ideen, freier Tätigkeit, müßigem Genuss des Augenblicks. Aus dieser Möglichkeit der Neubestimmung und der Zuwendung zu Dingen, deren Bedeutung noch nicht vorab für uns im Einklang mit unseren gesellschaftlichen Rollen festgelegt sind, erwächst die Möglichkeit der Produktivität von Muße. Das bedeutet noch lange nicht, dass jede Mußezeit tatsächlich produktiv werden müsste, aber es schafft die Möglichkeit, diskursiv Mußezeiten gegenüber – beispielsweise – Zeiten der Faulheit hervorzuheben. Die Idee einer Besonderheit von Muße ist somit konzeptuell an die Idee der Produktivitätsermöglichung gebunden. Nur unter Rückgriff auf die Vermutung, der Freiraum der Muße werde positiv gefüllt, lässt sich dieser Freiraum auch erfolgreich gegen den Zugriff gesellschaftlicher Ansprüche verteidigen. Muße ist, um Cicero zu paraphrasieren, Nichtstun in Würde. Während bloßes Nichtstun, von außen gesehen, einen Freiraum markiert, der mit Aufgaben gefüllt werden kann, erscheint das mit der Würde der Muße versehene Nichtstun bereits als mit etwas gefüllt. Diese Füllung bietet einen gewissen Schutz gegen Übergriffe der Produktivitätsideen Anderer. Nur indem Muße mit als positiv gewerteten Folgen verbunden wird, lässt sie sich auf Dauer als gesellschaftlich akzeptierte Praxis etablieren.

Versuche der Produktivmachung: auf Muße zugreifen Die Betonung der Möglichkeit der Produktivität von Muße unterwirft sie dann aber neu gesellschaftlichen Diskursen und schränkt so die mit ihr verbundene Freiheit ein. Denn Muße einen produktiven Wert zuzuschreiben bedeutet gleichzeitig, gute von schlechter Muße zu unterscheiden. Die jeweilige inhaltliche Füllung von Muße in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation domestiziert die unbedingte Freiheit der Muße und lenkt sie in als gesellschaftlich akzeptabel angesehene Bahnen. Die Forschungen des Sonderforschungsbereich haben im historischen und regionalen Vergleich viele unterschiedliche Möglichkeiten herausgearbeitet, wie Muße mit Produktivitätszuschreibungen gefüllt werden kann. Ob sie in römischer Briefliteratur der Reflexion gesellschaftlicher Zustände dienen soll (Eickhoff 2021c), in spätantiker Theologie der Theoria (Kirchner 2018a) oder bei Meister Eckart dem geistig tätigen Leben (Keiling 2019); ob Goethe Rol-



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lenzuschreibungen an den Künstler erfolgreich benutzen kann, um einen dreijährigen Urlaub unter Belassung der Bezüge durchzusetzen (Riedl 2021a) oder ob ein autoritäres und auf Produktivität ausgerichtetes Regime seinen Verdacht gegen jede individuelle Mußezeit durchzusetzen versucht (Cheauré/Gimmel/ Rapp 2021) – stets wird der unbedingte Freiraum der Muße enggeführt auf klare und zumindest für ein gewisses gesellschaftliches Feld akzeptierte Vorstellungen davon, welche Art Produktivität aus ihr erwachsen soll. Damit ist immer auch eine Eingrenzung der realen Möglichkeit von Muße verbunden. Wenn Muße beispielsweise dem dichterischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Werk dienen soll, wird sie einerseits zwar in die Künstler*innenrolle eingeschrieben, damit aber anderen Rollen entzogen. Mußemöglichkeiten verdichten sich dort, wo die größte und wertvollste Produktivität vermutet wird, und werden ausgedünnt, wo das nicht der Fall ist. Das hat immer mit der gesellschaftlichen Bewertung von Produktivitätsleistungen zu tun. Andererseits werden mit realen Eingrenzungen von Mußemöglichkeiten gesellschaftliche Urteile darüber, wessen Werk besonders wertvoll ist, für die individuelle Zuteilung von Muße immer wichtiger. Denn ob es um den vom Dienstherren genehmigten Urlaub geht (der im deutschen Wissenschaftssystem noch heute nur Professor*innen in Form regelmäßiger Freisemester zusteht) oder um durch andere, von Mäzen*innen, Stipendien oder Institutes for Advanced Studies ermöglichte kreative Auszeiten: Mußezeiten müssen toleriert und, wo sie eine gewisse Länge überschreiten, auch finanziert werden. Jedes inhaltliche Urteil über die Produktivität von Muße strukturiert also, welchen Gruppen und welchen Individuen solch institutionalisierte Mußeräume zustehen und welchen nicht. Das zeigt sich auch an der heute in westlichen, kapitalistisch organisierten Gesellschaften wohl vorherrschenden Zuschreibung an die Produktivität von Muße  – an der Idee nämlich, dass Muße ein individuelles Heilmittel für die allgemeine Überforderung durch Beschleunigungsprozesse und zunehmende Produktivitätsansprüche sein könne (↗ Arbeit; ↗ Gesellschaft). Was Muße hier produzieren soll, ist einerseits Resilienz gegen Überforderung (und damit die Möglichkeit, solche Überforderung weiter zu institutionalisieren), andererseits jene Kreativität, die gleichzeitig für das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem als entscheidende Ressource definiert und von ihm systematisch verdrängt wird (Reckwitz 2017). Die Möglichkeit des Produktivwerdens von Muße liegt also im Zentrum der Möglichkeit, Muße von anderen Haltungen der Welt gegenüber abzugrenzen; gleichzeitig ist in ihr schon der Keim der konkreten Abgrenzung zwischen guter, produktiver Muße und schlechter, unproduktiver Faulheit gegeben. Produktivitätszuschreibungen schaffen gleichzeitig die Möglichkeit, den Freiraum der Muße zu begründen und zu verteidigen, und die Möglichkeit, ihn durch gesell-

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schaftliche Zuschreibungen wieder zu verengen und auf spezifische Rollen und klar abgegrenzte Situationen zu beschränken.

Transgression: Produktivität von Muße jenseits der Produktivitätszuschreibungen? Doch erschöpfen sich die Produktivitätsmöglichkeiten von Muße wirklich in ihrer sozusagen offiziellen Seite  – in den diskursiven Zuschreibungen an die akzeptablen Inhalte von Mußeräumen? So wirkmächtig gesellschaftliche Zuschreibungen und Rollenbilder auch für Muße sind: mit einer vollständigen Kontrolle des Mußeraumes würde er vollständig verschwinden, so dass er auch seine als produktiv definierte Funktion nicht mehr erfüllen könnte. Es muss ein Rest von Offenheit bestehen bleiben, in dem Muße auch ihren gesellschaftlichen Bestimmungen gegenüber transgressiv werden kann. Genau das macht Muße sozialwissenschaftlich so interessant. In einem weit divergierenden Spektrum von Einzeluntersuchungen sind wir immer wieder zu Punkten gekommen, an denen Muße auf unvorhergesehene Weise produktiv wurde und Rollen zu sprengen drohte. Mönchische Disziplinierung kann noch so stark versuchen, Kontemplation auf die Hinwendung zum Göttlichen hin zu disziplinieren, aber offensichtlich kann sie das Eindringen von anderen Gedanken und Träumen nicht vollständig verhindern  – selbst wenn diese im Nachhinein dann als überwundene Anfechtungen in den Interpretationsrahmen integrierbar sind (Dobler 2022). Weibliche Handarbeiten im russischen neunzehnten Jahrhundert waren diskursiv klar als gegenderte Verhinderung von Müßigkeit gerahmt, aber sie öffneten gleichzeitig einen Raum und eine Praxis der Reflexion (Cheauré 2017e). Die strengste Fabrikdisziplin verhindert nicht, dass sich während mechanischen Arbeiten kritische oder poetische Gedanken einstellen (Dobler 2017; Swiniartzki 2021). Wenn man die enge Rahmung durch bestehende gesellschaftliche Relevanzstrukturen verlässt, dürfte hier tatsächlich die größte Produktivitätsleistung von Muße für Gesellschaft liegen. Muße bietet einen Raum, in dem erfahrbar wird, dass unsere Alltagsrollen transzendierbar sind, und damit einen Ansatzpunkt für Kritik. Diese Form der Produktivität von Muße kann auch den jeweiligen Zuschreibungen an Muße gegenüber transgressiv wirken. Sie lässt sich nicht einplanen und nur in Grenzen als Ressource verteilen. Wer aber die Wichtigkeit dieser Form der Produktivität von Muße erkennt, wird wachsamer werden gegenüber den auch heute allgegenwärtigen Versuchen, Freiräume der Muße im Namen eng definierter Produktivität zu schließen – sei es für Einzelne oder für die gesamte Gesellschaft, sei es in Wirtschaft, Familienarbeit oder Wissenschaft. Das bringt mich am Ende noch einmal zu Matthias Warkus’ Tweet. Von Anfang an hat uns im Sonderforschungsbereich das Gefühl eines performativen



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Selbstwiderspruchs begleitet. Mit dem Beschluss, Muße zum Thema eines Verbundforschungsprojektes machen zu wollen, haben wir uns ja vor allem eine Menge zusätzlicher Arbeit eingehandelt. Wäre es nicht zumindest für Teilprojektleiter*innen auf Dauerstellen besser gewesen, Muße zu haben als sie zu erforschen? Haben wir selbst zu stark die Produktivität gegenüber der Muße privilegiert  – und uns damit auch die Maßstäbe von Produktivität stärker zu eigen gemacht als die Logik der Muße? Es fällt mir immer noch schwer, diese Fragen zu beantworten. Die intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit Muße war selbst keineswegs immer mußeförmig. Sie hat aber über ihre Inhalte einen Anspruch im wissenschaftlichen Alltag präsent gehalten und uns manchmal geholfen, ihn in der gemeinsamen Arbeit umzusetzen. In guten Momenten hat das für mich den Widerspruch zwischen Muße und Produktivität aufgehoben: wir konnten gemeinsam in Muße nachdenken. Gerade solche Momente sind produktiv und unseren früheren Ideen gegenüber transgressiv geworden. Sie haben in zweiter Ordnung dann auch mein Bild von Produktivität verändert und dazu geführt, dass ich mich anders zur Wissenschaft verhalte als zuvor. Das bedeutet freilich nicht, dass alle der inzwischen weit mehr als 200 Publikationen des SFB aus Muße heraus entstanden seien. Aber die Beschäftigung mit Muße in Muße blieb auf unvorhergesehene Weise produktiv: sie wirkte kritisch auf meinen Alltag zurück und lässt mich auch nach dem Ende des Sonderforschungsbereichs sowohl die Produktionsbedingungen von Wissenschaft als auch meine eigenen Vorstellungen von Produktivität hinterfragen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Dobler, Gregor/Riedl, Peter Philipp (Hg.) (2017b), Muße und Gesellschaft (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 5), Tübingen. Eder, Daniel/Manuwald, Henrike/Schmidt, Christian (Hg.) (2021a), Vita perfecta? Zum Umgang mit divergierenden Ansprüchen an religiöse Lebensformen in der Vormoderne (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 24), Tübingen.

Urbanität Tim Freytag/Peter Philipp Riedl Muße mit städtischen Räumen in Verbindung zu bringen, ist keineswegs selbstverständlich. Denn zahlreiche Attribute des Städtischen erscheinen hinderlich für die Erfahrung von Muße. So lassen sich Städte etwa durch ein hastiges und hektisches Treiben charakterisieren – eine rege Geschäftigkeit, deren Bedeutung buchstäblich als neg-otium, d. h. als Abwesenheit von Muße definiert werden kann. In den durch Rastlosigkeit und Betriebsamkeit geprägten städtischen Räumen herrscht infolge von Enge und Verdichtung eine umfassende Bedrängnis, die den dort befindlichen Menschen nur wenige Freiräume lässt. Indessen gilt das Ländliche als eher beschaulich, ursprünglich und naturverbunden (↗ Natur). Eine ländliche Idylle und deren landschaftsästhetische Reize laden zum Verweilen ein und sind der Erfahrung von Muße zuträglich. Vor diesem Hintergrund stellen städtische Räume einen Gegenentwurf dar  – dies kommt zumindest in einem etablierten Vorstellungsbild zum Ausdruck, das in Kunst und Literatur durch verschiedene Epochen hindurch gezeichnet und verbreitet wurde. Wunschbild Land und Schreckbild Stadt (Sengle 1963) sind dabei komplementär aufeinander bezogen. Sie bilden zwei Seiten ein und derselben Medaille. Urbanität verweist nicht so sehr auf die Stadt oder das Städtische im topografischen Sinn, sondern bezeichnet in erster Linie „eine charakteristische Lebensweise, die vorwiegend in städtischen Räumen geprägt wird und ihrerseits auch städtische Räume prägt“ (Riedl/Freytag/Hubert 2021a: 4). Dieses Verständnis von Urbanität orientiert sich am US-amerikanischen Soziologen Louis Wirth, der in seinem viel beachteten Aufsatz Urbanism as a Way of Life (1938) hervorhob, dass eine Stadt durch soziale Beziehungen und eine spezifische urbane Lebensweise geprägt werde. Letztere sei im Unterschied zu einer ländlichen Lebensweise bestimmt durch eine relativ große Anzahl unterschiedlicher Menschen, die in der Stadt dauerhaft auf engem Raum leben. Weiterhin werde in einer historischen Betrachtung deutlich, dass sich die urbane Lebensweise erstens im globalen Maßstab zunehmend entfalte und zweitens dabei in Raum und Zeit unterschiedliche Formen annehme. In diesem Sinne besitzt Urbanität keinen universellen Charakter, sondern artikuliert sich in verschiedenen Formen im Zuge fortlaufender Prozesse des Werdens und der Erneuerung, wie z. B. im Kontext von Verstädterung, Industrialisierung und Globalisierung.



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Die „Pluralität von Lebensformen“ (Löw 2018: 66) prägt in erheblichem Maß die Eigenlogik der Städte (Berking/Löw 2008). Diese Lebensformen konkretisieren sich in unterschiedlichen „städtischen Praxisformen“ (Löw 2018: 139), unter denen sich auch solche finden, die unter der Kategorie ‚urbane Muße‘ subsumiert werden können. Die wechselseitige Beziehung von Muße und Urbanität kann als ambivalent bezeichnet werden. Denn eine urbane Lebensweise ist einerseits durch zahlreiche Elemente geprägt, die einer Erfahrung von Muße entgegenstehen oder diese zumindest erschweren. Andererseits kennzeichnet diese Lebensweise ein besonderes Verlangen nach der Erfahrung von Muße. Darüber hinaus kann aber auch gerade inmitten einer Menschenmenge subjektiv Ruhe gefunden werden, aus Zerstreuung Konzentration hervorgehen, wie einschlägige Beispiele in der Literatur verdeutlichen (Riedl 2021a: 39–41, 146; 2018). Übergänge dieser Art verdeutlichen den transgressiven Charakter von Muße, die zudem in der temporären Suspendierung von Routinen diese zu modifizieren vermag. Formen urbaner Muße können so auch Alltagsroutinen kritisch spiegeln und diese potentiell verändern. Jedenfalls ergibt sich auch in dichten urbanen Räumen immer wieder aufs Neue die Möglichkeit, Muße für eine Weile zu erfahren, bevor störende Einflüsse diese Erfahrung beeinträchtigen, unterbrechen oder gar unterbinden. Eine eingehende Betrachtung erlaubt es, verschiedene charakteristische Formen urbaner Muße zu identifizieren. Im Zuge einer formalen Bestimmung von urbaner Muße können erlebnisorientierte Formen (z. B. das Flanieren) und kontemplationsorientierte Formen (z. B. das konzentrierte Betrachten von Kunstwerken) ausgemacht werden (Riedl 2021a; 2021b). Weiterhin ist es möglich, eine raumzeitliche Differenzierung (↗ Raumzeitlichkeit) vorzunehmen und zwischen verschiedenen Orten und Momenten zu unterscheiden, an denen die Erfahrung von Muße wirksam wird. Erlebnisorientierte Muße kann gerade dort erfahren werden, wo die Umstände für Ruhe und innere Versenkung auf den ersten Blick eher widrig sind: beim Eintauchen in eine Menschenmenge. Unter den erlebnisorientierten Formen urbaner Muße nimmt das ↗ Flanieren eine besondere Stellung ein. Das freie und ziellose Umherstreifen in der Stadt jenseits unmittelbarer zeitlicher Beschränkung und Zweckrationalität weist das Flanieren sogar als idealtypische Form urbaner Muße aus. Hier muss freilich zwischen einem Sozialtypus des Flaneurs, wie ihn Walter Benjamin besonders wirkmächtig entwickelt hat, und einem ästhetischen Wahrnehmungsmodus in seinen jeweiligen literarischen Wiedergaben unterschieden werden (Riedl 2021b; 2018; Waßmer 2022). Ähnliche Muster wie beim Flanieren treten auch in den Praktiken des Städtetourismus der Gegenwart hervor, wenn Reisende sich auf ihren Streifzügen durch die Stadtquartiere treiben lassen auf der unbestimmten Suche nach zufälligen Entdeckungen sowie spontanen Erlebnissen und Begegnungen. Im Unterschied zum Besuch etablierter touristischer Sehenswürdigkeiten ist das touristische

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Flanieren sehr viel offener und weniger gut planbar. Diese Unbestimmtheit verleiht den Eindrücken und Erfahrungen beim Streifen durch ein Quartier eine Unmittelbarkeit, die besonders fragil ist und sich nicht ohne Weiteres reproduzieren lässt, von vielen Reisenden als besonders authentisch wertgeschätzt wird und die Erfahrung von Muße begünstigt (Kramer 2020; Kramer/Winsky/ Freytag 2019). Weitere Beispiele für erlebnisorientierte Formen urbaner Muße bieten Praktiken des Urban Gardening sowie des gemeinsamen Kochens und Essens (Rosol 2021). Auch die Suche nach Erholung in stadtnahen Wäldern eröffnet zumindest die Möglichkeit eines Mußeerlebens, bei dem Naturerfahrung und urbaner Bezug aufs Engste verbunden sind (Litschel 2021). Eingebettet sind solche Überlegungen in übergeordnete Erkenntnisse zum komplexen Verhältnis von Stadt und Land, von Urbanität und Ruralität (Langner/Frölich-Kulik 2018). Vorstellungen ruraler Muße in Naturräumen entspringen häufig, jedenfalls in der Literatur, einem urbanen Wissenskanon (Waßmer 2021; ↗ Natur). Das entspricht der Tradition jener Idyllendichtung, in der Muße als vorherrschende Lebensform inszeniert wird. Seit Theokrit waren und sind Idyllen oftmals urbane Projektionen. Der imaginierte Rückzug in die Natur entspringt der Sehnsucht von Stadtbewohnerinnen und ‑bewohnern nach ländlicher Einfachheit, die nicht zuletzt die Komplexität urbaner Lebensweisen kritisch spiegelt. Das ländliche Idyll sowie der Topos des locus amoenus bilden epochenübergreifend einschlägige Gegenorte zum geschäftigen Treiben in der Stadt. An der Vorstellung, dass Muße als Gegenentwurf oder Kontrapunkt zum städtischen Leben gesucht und erfahren werden kann, orientieren sich auch die Sommerfrische (Villeggiatura) und die Landpartie. Auch in diesen Fällen bleibt der enge Bezug zur Stadt gewahrt. Die aus der antiken (aristotelischen) theōria-Tradition herrührende kontemplationsorientierte Muße (↗ Kontemplation) ist in Städten grundsätzlich überall möglich. Ihren idealtypischen Ort findet sie freilich in potentiellen städtischen Rückzugsräumen (↗  Rückzug) wie Parks, Gärten, Museen, Sammlungen, Friedhöfen, obgleich auch diese durchaus stark frequentiert sein können. Im Unterschied zur erlebnisorientierten Muße, die sich, z. B. beim Flanieren, inmitten urbaner Lebendigkeit transgressiv entfalten kann, wird Kontemplation eher durch Distanzierung von jener Menge befördert, die zunächst einmal, zumindest tendenziell, die eigenen Sinne absorbiert und damit auch ablenkt. Kontemplation widerstrebt Zerstreuungen und korreliert mit Konzentration. Diese Unterscheidung zwischen kontemplations- und erlebnisorientierter Muße ist freilich nicht als feste definitorische Zuschreibung, also gleichsam ontologisch zu verstehen, sondern als idealtypische Kontrastierung, die eine differenzierte Betrachtung sehr unterschiedlicher Formen urbaner Muße durch eine vorsichtige typologische Klassifizierung erleichtert. Mit anderen Worten: Die differenzierende Analyse von Formen kontemplations- und erlebnisorientierter Muße basiert auf einer heuristischen Unterscheidung.



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Kontemplationsorientierte Formen urbaner Muße sind gebunden an ein Betrachten und An-sich-Vorbeiziehenlassen, wie es etwa beim Sitzen in einem Straßencafé oder auf einer Bank im Stadtpark praktiziert werden kann. Dabei fällt es leicht, den eigenen Gedanken freien Lauf zu lassen und Muße zu erfahren. Hier lassen sich auch fließende Übergänge von erlebnis- und kontemplationsorientierten Formen von Muße feststellen, ist doch das Kaffeehaus ein in der Flaneurliteratur besonders einschlägiger städtischer Ort (Arend 2021; J. Müller 2021). Ein markantes Beispiel potentiell kontemplationsorientierter Muße ist die eingehende Betrachtung von Sehenswürdigkeiten, archäologischen Anlagen, Kirchen, Schlössern und Palästen, Kunstwerken in Museen und Sammlungen. Kunstbetrachtung ist zwar im strengen Sinn keine Form urbaner Muße, kann sie doch grundsätzlich überall erfolgen. Da aber oftmals (Groß‑) Städte oder Metropolen einschlägige Gebäude, insbesondere wichtige Museen und Sammlungen, beherbergen und Besuche dieser Einrichtungen damit im urbanen Raum erfolgen, kann hier etwas allgemeiner von Mußeformen in der Stadt gesprochen werden. Auf eindrucksvolle und besonders anschauliche Weise schildert Ahner (2021), wie der Besuch eines Planetariums zur Erfahrung von Muße einlädt. Das Betrachten der auf die abgedunkelte innere Kuppel des Gebäudes projizierten Gestirne, die dort ihre Kreise ziehen, versetzt die Besucherinnen und Besucher in Erstaunen und Demut  – sowohl gegenüber der Weite des Weltenraums und den Kräften der Natur als auch angesichts der ingenieurtechnischen und architektonischen Fertigkeiten, die dieses Schauspiel bzw. dessen Reproduktion ermöglichen. Dass kontemplative Muße zudem tagsüber im öffentlichen belebten Raum stattfinden kann, zeigt Förderer (2021) am Beispiel des Urban Birding – auch dies ein paradigmatischer Fall für mögliche Übergänge von erlebnis- und kontemplationsorientierter Muße. Ein charakteristisches Ambiente kann die Erfahrung von Muße begünstigen oder erschweren, aber es erscheint doch ausgeschlossen, dass ein bestimmtes Setting in Raum und Zeit im Sinne eines Automatismus oder Determinismus die Erfahrung von Muße auszulösen oder auch zu verhindern vermag. Denn relevant für das Erfahren von Muße (↗ Erfahrung) sind stets auch die persönliche Disposition und das jeweilige individuelle Befinden sowie der situative Kontext, in dem das subjektive Erlebnis stattfindet (Kramer 2019; Kramer/Freytag 2021). Systematische Bestimmungen und Einzelfallanalysen stehen daher in einem besonders stark ausgeprägten Spannungsverhältnis. So entziehen sich Formen urbaner Muße einer festen essentialistischen Zuschreibung. Sie stehen vielmehr im Potentialis. Zu den Rückzugsräumen innerhalb der Stadt zählen neben den schon erwähnten stadtnahen Wäldern auch weitläufige Parks und Gartenanlagen, die ein Erleben von Muße begünstigen, sowie Promenaden und Flaniermeilen (Pisani 2021), Aussichtspunkte und Terrassen, Konzerthäuser, Cafés u. a.m. Diese vielfältigen Orte verbindet die Funktion, dass sie zu erlebnisorientierter und

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kontemplativer Muße einladen. Sie schaffen einen geeigneten Rahmen, damit Menschen dort vorübergehend vom städtischen Treiben Abstand nehmen und innehalten können. Die Markierung dieses Abstands vom städtischen Treiben wird offensichtlich durch die temporäre Verlagerung des eigenen Aufenthaltsortes in ein spezifisches anderes Setting unterstützt. Auch in diesem Fall zeigt sich der transgressive Charakter von Muße, der hier v. a. durch den Wechsel urbaner Räume exponiert wird. Aus der Perspektive der schon erwähnten Villeggiatura, die in der Tradition von Horaz’ Lob des Landlebens steht, erscheint die Wendung ‚urbane Muße‘ auf den ersten Blick wie ein Widerspruch in sich. Die Vorstellung, die urbs sei der Ort für das negotium, das rus jener für otium, gewann eher schon den Charakter einer festen Zuschreibung. Literarische Darstellungen urbaner Mußeformen konterkarieren indes bereits eo ipso wirkmächtige Antagonismen, die Stadtflucht einerseits und das Lob des Landwesens andererseits als Bedingung der Möglichkeit für Erfahrungen von Muße entwerfen. Auch wenn  – abgesehen von der Flanerie  – viele der oben genannten Beispiele durch Abstand vom städtischen Treiben gekennzeichnet werden, sei es aufgrund ihrer Lage jenseits der Stadtgrenzen, sei es als inselförmige Gegenorte innerhalb einer städtischen Umgebung, so bleiben sie dennoch eng gebunden an Urbanität im Sinne einer urbanen Lebensweise. Denn es ist hier keinesfalls eine ländliche, sondern eine städtische bzw. durch eine urbane Lebensweise geprägte Bevölkerung, die außerhalb der Stadt nach Muße sucht bzw. ihren Wunsch nach Muße auf einen (oftmals idealisierten) außerstädtischen Raum projiziert. Darüber hinaus werden betreffende Orte auch als Oasen der Ruhe und Muße in den städtischen Raum integriert. Bereits um 1800 beschreibt Johann Christian Hüttner, Korrespondent aus London für Friedrich Justin Bertuchs Zeitschrift London und Paris, die von Bäumen gesäumten Squares der englischen Metropole als „ein rus in urbe“ (Bertuch 1799: 10). Diese Wendung zielt nicht nur auf die räumliche Qualität, sondern meint das spezifische Zusammenwirken von Ort, Praktik und Wahrnehmung. Der Spaziergang auf den Squares bietet ein ‚rurbanes‘ Erlebnis, indem er wunderbare Aussichten eröffnet, die zum genießenden Betrachten einladen – innerhalb der Stadtmauern, aber mit Anmutungen des Ländlichen. Historisch betrachtet, bergen die skizzierten Formen einer urbanen Muße jedoch ein hohes Maß an Exklusivität, da sie gesellschaftlichen Kreisen vorbehalten blieben, die über ausreichend freie Zeit und finanzielle Mittel verfügten sowie einen geeigneten kulturellen Hintergrund besaßen, um sich in die Lage versetzen zu können, (urbane) Muße zu erfahren. Doch eben diese Beschränkung oder Fokussierung auf einen engen gesellschaftlichen Ausschnitt, wie er z. B. durch Adel und Bildungsbürgertum bestimmt wurde, ist durchaus problematisch. Denn dahinter steht ein normatives Verständnis von Muße, das die Erfahrung von Muße zum sozialen Distinktionsmerkmal werden lässt (Fludernik 2017) und andere gesellschaftliche Gruppen davon ausschließt.



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Besonders deutlich wird dies z. B. beim ↗ Reisen, das im Rahmen der europäischen Grand Tour v. a. jungen Adligen vorbehalten war und diesen vielfältige Erfahrungen von Muße eröffnete, während im Zuge des später einsetzenden Massentourismus nur noch wenig Raum für Muße blieb – bzw. infolgedessen auch einige neuartige mußevolle Praktiken zur Entfaltung kamen. Gegen Formen von Exklusivität, die Teilhabe zum Privileg werden lässt, aber auch gegen Tendenzen des Reduktionismus, bei denen Bürgerinnen und Bürger in der industriellen und postindustriellen Stadt in erster Linie als Konsumentinnen und Konsumenten verstanden werden, wandten sich urbane Vorstellungen der Inklusion und demokratischen Partizipation, wie sie z. B. die Avantgardegruppe der Situationistischen Internationalen zwischen 1957 und 1972 mit ihrem Konzept eines urbanisme unitaire entwickelte (Orlich 2011). In diesem Zusammenhang entwarf der niederländische Künstler und Bildhauer Constant Anton Nieuwenhuys, der sich Constant nannte, das utopische Projekt einer Idealstadt, die er als New Babylon bezeichnete. Bewegliche Stadtstrukturen ermöglichen labyrinthartige Spielräume, in denen sich, so die Utopie, der Mensch von Fremdbestimmungen und Entfremdungserfahrungen befreien kann. Auf diese Weise entsteht in der künstlerischen Architektur von New Babylon der urbane Raum einer egalitären Gesellschaft, in der auch Muße als Lebensform zumindest denkbar ist. Gegenwärtige Überlegungen zur Stadtplanung und architektonischen Gestaltung urbaner Räume rufen u. a. auch Constants durchaus mußeaffine Vorstellungen wieder in Erinnerung (z. B. von Borries/Kasten 2019: 182 f.), wenn sie auf einschlägige Traditionen für das Konzept einer lebenswerten Stadt der Zukunft zurückgreifen. Ansatzpunkte für das Aufbrechen eines eng gefassten Verständnisses von (urbaner) Muße stehen in Verbindung mit ihrer Demokratisierung. Sie eröffnen vielfältige neue Ausprägungen, die freilich mit tradierten Formen und Erfahrungen von Muße korrelieren. So stellt etwa Kramer (2019; 2018) anhand ihrer Untersuchungen zum europäischen Städtetourismus heraus, dass die Erfahrung von Muße durch einen kulinarischen und ästhetischen Genuss maßgeblich unterstützt werden kann. Inwiefern Muße traditionell auf eine westlich-eurozentrische Erfahrungswelt fixiert ist und welche Potentiale, aber auch Hindernisse mit einem Transfer in den Kontext von städtischen Agglomerationen des globalen Südens verbunden sind, erläutert Munz (2021a) an Beispielen der indischen Gegenwartsliteratur. Letztlich bestehen vielfältige Verbindungen zwischen Urbanität und Muße, die sich in unterschiedlichen Formen und Kontexten artikulieren. Eine formale Differenzierung zwischen erlebnisorientierter und kontemplativer urbaner Muße lässt sich analytisch vornehmen, aber sie sollte den Blick darauf nicht verstellen, dass diese beiden getrennt voneinander betrachteten Formen bei der Erfahrung von Muße oftmals Hand in Hand gehen und sich wechselseitig verstärken können. Das betrifft Vergangenes ebenso wie Gegenwärtiges.

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Und die Zukunft der Stadt? Wird die Smart City (Bauriedl/Strüver 2018), wie von einigen erhofft, Städte in ein digitales Arkadien verwandeln, in dem auch Lebensformen der Muße aufblühen, oder droht eher ein von Algorithmen gesteuertes Überwachungs- und Kontrollsystem, das unser tägliches Leben vielleicht erleichtert, Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte indes mehr oder weniger massiv beschneidet? Das analytische Konzept von Muße kann jedenfalls dazu beitragen, unterschiedliche, einander auch widerstrebende Freiheitskonzepte künftiger Urbanität kritisch zu reflektieren und zu diskutieren.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Riedl, Peter Philipp (2021a), Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 17), Tübingen. Riedl, Peter Philipp/Freytag, Tim/Hubert, Hans W. (Hg.) (2021b), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 19), Tübingen Waßmer, René (2022), Muße in der Metropole. Flanerie in der deutschen Publizistik und Reiseliteratur um 1800 (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 25), Tübingen.

Verzicht Monika Fludernik/Timo Heimerdinger Verzicht lässt sich semantisch als freiwillige Nicht-Inanspruchnahme von möglichen Erfahrungen, Verhaltensweisen oder Konsumgütern fassen. In religiösem Kontext, wie im christlichen Mönchstum, kann Verzicht in Form von Geboten (Armut, Keuschheit) institutionalisiert und daher verpflichtend sein und als Mittel der ↗ Askese dienen. In diesem Beitrag werden aus literaturwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Sicht Formen des Verzichts besprochen, die teilweise Mußepraktiken oder Erfahrungen von Muße ermöglichen sollen. Dabei handelt es sich bei Beispielen aus der Zeit vor 1800 meist um Praktiken der Genügsamkeit und des Sich-Bescheidens. Moderne und gegenwärtige Formen des Konsumverzichts hingegen zielen darauf, Konsum- oder Besitzzwänge abzuschütteln. Diese Verzichtspraktiken stellen Strategien dar, um zu mehr persönlichem Freiraum, mehr Zeit, Muße oder Gelassenheit zu finden und so individuelles Glück, Zufriedenheit und Besinnung auf die wahren Werte des Lebens zu ermöglichen. Praktiken des Verzichts sind oft mit der Entscheidung verbunden, bestimmten gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen zu wollen, und gehen dann mit der Hoffnung einher, den durch sie ausgeübten Zwängen zu entgehen. Verzicht entspricht dann einem Grundaspekt der im Sonderforschungsbereich vertretenen Auffassungen von Muße: ↗ Freiheit von Zwängen, die Raum für mußevolle Aktivitäten generiert (Gimmel/Keiling 2016: 17), indem sie Abstand zur Welt schafft und so Gelassenheit ermöglicht. Ein zweites Kriterium von Muße ist allerdings nicht durchgängig erfüllt, nämlich das der Rahmung oder zeitlichen Beschränkung. Es handelt sich bei Verzichtspraktiken oft um eine radikale Umorientierung, eine grundsätzlich neue Lebensweise. Verzicht als solcher kann daher nicht mit Muße gleichgesetzt werden; er ermöglicht jedoch ein Leben, das Muße fördern und Mußeerfahrungen generieren kann bzw. soll. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in zwei historisch aufeinanderfolgende Abschnitte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Zunächst werden Einstellungen zu Muße und Verzicht in literarischen Texten unter Berücksichtigung des sozialhistorischen Hintergrunds diskutiert. Der zweite Abschnitt thematisiert aus kulturanthropologischer Sicht aktuelle Praktiken der Selbstrücknahme, die im Kontext von Nachhaltigkeits- und Vereinfachungsdiskursen als säkularisierte Formen einer alltagskulturellen ↗ Askese interpretiert werden können.

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Literarische und historische Verzichtsmodelle Vorstellungen von Verzicht und Askese im Hinblick auf Mußesituationen, Mußepraktiken und Mußeerfahrungen lassen sich für die Periode der frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert sowohl aus literaturwissenschaftlicher Perspektive diskutieren wie aus sozial- und politikwissenschaftlicher (Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904, mit Bezug auf den Calvinismus). In der Antike war Verzicht mit ↗ Askese gleichzusetzen; jedoch können einige der Praktiken der Kyniker auch mit dem Begriff des Konsumverzichts, wie wir ihn jetzt kennen, verglichen werden. Ab dem 16. Jahrhundert wird Muße bei philosophierenden Literaten thematisiert, v. a. bei Montaigne und Rousseau. Montaigne steht noch in der Tradition der Antike (Cicero, Machiavelli  – Eickhoff 2021b; 2021c; Frömmer 2022), während Rousseau bereits Aspekte der modernen Selbstfindung vorwegnimmt. Montaigne verfasst seine Essais ab 1571, als er sich auf sein Schloss zurückzieht; Rousseau beschreibt 1782 in den Rêveries du promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers) seine Exilerfahrung auf der Petersinsel im Bielersee. Henry Thoreau zieht sich in eine Hütte am WaldenSee bei Concord (Massachusetts) zurück, um dort ein Leben fern der Zwänge der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu führen (Figal 2018). In allen drei Fällen geht es um ↗ Rückzug (und damit auch um ↗ Freiheit in der ↗ Kontemplation durch Distanznahme vom Alltag in der ↗ Natur), der – wenn auch unterschiedlich motiviert  – die Möglichkeit einer mußevollen Existenz eröffnet, immer jedoch, und darin zeigt sich eine Analogie zum Konzept des Verzichts, in einer Logik der Reduktion, des Weniger. Inwiefern handelt es sich bei diesem Rückzug um Verzicht? Bei Montaigne (wie bei Machiavelli und Cicero) ist es ein Verzicht auf Macht, aktive politische Beteiligung und auf Gesellschaft, was jedoch durch extensive Korrespondenz ausgeglichen wird. Bei Rousseau ist die Muße das Ziel des Rückzugs, er schwelgt in Einsamkeit. Wir hören nichts von Konsumverzicht (zu Rousseau und Muße s. Klinkert 2016b; Saint-Amand 2011). Bei Thoreau hingegen ist die Einschränkung ein wiederkehrendes Thema, da er unter primitivsten Verhältnissen in einer Hütte lebt. Thoreaus Muße dank Verzicht lässt sich mit der Tradition der Utopie verknüpfen (Claeys 2010; Sargent 2010; Schaer/Claeys/Sargent 2000). Viele Utopien, beginnend mit Thomas Morus, gründen auf Konsumverzicht zugunsten einer gerechteren Verteilung der Güter unter der Bevölkerung (Fludernik 2019). Utopien reagieren so auf die Kluft zwischen Arm und Reich in den Gesellschaften, die sie reformieren möchten. Der konstitutive Verzicht auf Luxus ist in den meisten Utopien daher ökonomischer Notwendigkeit geschuldet: Wenn alle gleich gut ernährt, behaust und bekleidet werden sollen, dann muss sich der Einzelne einschränken. Dieser Konsumverzicht geht mit einer Ermöglichung



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von Muße einher: Schon in der Utopia des Thomas Morus gibt es viel freie Zeit, die zu mußevoller Bildung und ehrenamtlichen Tätigkeiten genutzt werden kann. In den zwei bekanntesten Utopien des 20. Jahrhunderts, Skinners Walden Two (1948) und Ernest Callenbachs Ecotopia (1975), ist der Verzicht v. a. auf Kleidung und Luxus konzentriert, bei Callenbach auch auf Autos und andere Technik. Der Verzicht ist ökonomisch notwendig, aber auch moralisch und ökologisch sinnvoll. Er ermöglicht das Privileg der Muße, das  – ebenso wie ein grundlegendes Auskommen  – vormals den oberen Gesellschaftsschichten vorbehalten war. Moderne Bewegungen zu Genügsamkeit, Minimalismus und materiellem Verzicht, die Zeitwohlstand und Muße als Ziele verfolgen, sind diesen Utopien verwandt. Sie basieren allerdings auf der Erfahrung weitreichender sozialer Absicherung in westlichen Wohlstandsgesellschaften. Eine literarische Konstellation, welche die Muße besonders ausgeprägt inszeniert, ist die Idylle, u. a. in der Gattung des Schäferromans. Diese pastoral romances kontrastieren die idealisierte Welt der Schäfer mit dem korrupten Fürstenhof, vor dem die Protagonisten in den Wald entfliehen, um sich dort als Schäferinnen und Schäfer verkleidet der Muße hinzugeben (↗ Natur). Das Tagwerk besteht aus dem Hüten der Schafe, dem Komponieren und dem Vortragen von Lyrik und Gesang (Alpers 1996; Gifford 1999; Montrose 1983). Verzicht oder Beschränkung ist hier deutlicher als bei Montaigne auf das einfache Leben zentriert: Die ehemals allen Luxus gewohnten Höflinge und Hofdamen, nun ärmlich gekleidet in Schäfertracht, leben in Hütten, essen einfachste Kost und trinken Wasser. Sie inszenieren eine Gegenwelt zum luxuriösen Leben am Hof. Die moralische Läuterung im Schäferexil wird jedoch am Ende immer mit einer Rückkehr in die Politik beendet: Die Muße und der Verzicht bleiben temporär. Ein weiterer locus classicus für Mußedarstellungen findet sich in der englischen Literatur der Romantik, besonders in der Lyrik Wordsworths, in der es mehrere Mußeszenarien gibt (Adelman 2011). Diese sind jedoch vordergründig nicht von Verzicht geprägt. Allenfalls lässt sich sagen, dass der Verzicht in einem Rückzug aus der Stadt mit ihren kulturellen Annehmlichkeiten in das einfache Leben auf dem Land liegt bzw. in der Zurückweisung von Ruhm- und Gewinnstreben. Die quasi-pastorale Idylle findet sich in der französischen romantischen Literatur wieder, etwa in Bernadin de St. Pierres Kultroman Paul et Virginie (1788). Obwohl Muße in Paul et Virginie eine wichtige Rolle spielt, ist es doch eher das einfache und bescheidene Leben (Fludernik 2019), also der Verzicht auf Reichtum als moralische Maxime und als Ermöglichung von Glück bzw. gutem Leben (Gimmel 2017b; 2017c), die hier im Vordergrund stehen. Dieser Text ist auch im Zusammenhang mit der Figur des ‚edlen Wilden‘ zu lesen, dessen einfaches Leben vorrangig als mußegeprägt (aber auch als müßig) gesehen wird und das dem der ‚zivilisierten‘ Engländer oder Franzosen als moralisch überlegen gilt (Fludernik 2002).

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Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ist die Muße außerhalb des Mönchstums, wo sie im Rahmen der ↗ Kontemplation eine zentrale Rolle spielt (↗ Askese, ↗ Religiöse Praktiken; Kirchner 2018a), eher verpönt; sie wird abwertend als Müßiggang und Faulheit thematisiert. In dieser Denktradition erscheinen Verzichtspraktiken keineswegs als Wege zur Muße, sondern vielmehr als ihre ideellen Gegenspieler. Wie Kearney (2010) zeigt, ist bereits ab dem 14. Jahrhundert eine Bewegung im Gange, die Arbeit und Fleiß proponiert und Muße verdammt. Die protokapitalistische Verherrlichung der Arbeit bzw. Verteufelung des Müßiggangs im bekannten Schema von Max Webers Protestantischer Ethik lässt sich somit bereits parallel zu protoprotestantischen und sozialreformerischen Bewegungen im Spätmittelalter verorten, also vor dem Auftreten des Puritanismus. Der Puritanismus übernimmt als Teil seiner Weltsicht sowohl die Idee des Verzichts als auch die Disziplinierung durch Arbeit, wie sie im Mönchstum (ora et labora) verbreitet waren. Arbeit figuriert als oberste Tugend und geht einher mit einem horror vacui, einer Furcht vor freier, unproduktiver Zeit. Fleiß und Genügsamkeit (industry und thrift) bestimmen den Alltag der Puritaner, und alle Feste und Feiern, sogar die kirchlichen Feiertage inklusive Weihnachten, werden von ihren angeblich luxuriösen und vom Glauben ablenkenden Aspekten befreit: keine Prozessionen, keine Stechpalmen (holly) zu Weihnachten. Konsumverzicht, gottgefällige Genügsamkeit und Fleiß werden als Zeichen von Tugendhaftigkeit gehandelt. Die Mehrung von weltlichen und himmlischen Gütern basiert auf unausgesetzter Strebsamkeit und delayed gratification (Belohnungsaufschub), was als Verzicht gedeutet werden kann. Arbeitswut und -effizienz sind mit Genussverzicht gepaart. Die Säkularisierung der puritanischen Weltsicht und ihre globale Verbreitung dank der britischen Handelsmacht resultieren im weltweiten Kapitalismus und der von Foucault beschriebenen Disziplinierung der Gesellschaft zu Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Industrialisierung. Sie führen zu einer Erfahrung der Beschleunigung (Rosa 2014), die im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht und kapitalismuskritische Bewegungen anregt, welche sowohl Muße (Paul Lafargue, Robert Louis Stevenson, John Ruskin) wie Verzicht (Thoreau) zentral setzen, wenn auch aus einer gänzlich anderen, säkularen und (proto‑)sozial(istisch)en Weltsicht.

Aktuelle Variationen: Minimalismus und Zeitwohlstand Aktuelle alltagskulturelle Praktiken und Ästhetiken der Reduktion, so etwa minimalistisch inspirierte Praxisformen (Derwanz 2015), speisen sich kulturhistorisch aus verschiedenen Quellen. Neben den bereits dargestellten literarisch-geistesgeschichtlichen Traditionslinien spielen hier auch künstlerische, politische oder ökonomische Bezüge eine wichtige Rolle. Gegenwärtig changiert



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das Konzept des Verzichts zwischen Hochkonjunktur und Tabuisierung. Es ist im politischen Diskurs gleichermaßen allgegenwärtig wie verdrängt und tritt sowohl als Heilsbotschaft wie als Unheilsbote auf: Mit dem Schlagwort des ‚Verzichts‘ lassen sich keine Wahlen gewinnen (Heimerdinger 2020). In alltagskulturellen Varianten jedoch begegnet uns der Verzicht in Form eines reduktionsorientierten Konsumprogramms und immanent in den Begriffen des Minimalismus, der Postwachstumsökonomie und des Zeitwohlstandes: Reduktion und Einfachheit sind en vogue  – zumindest in Koppelung mit ästhetischen Ansprüchen. Populäre Nachhaltigkeitsdiskurse haben die Ideale der asketischen Selbstbeschränkung von einem religiös-spirituell geprägten Ansatz in eine gänzlich politisch-diesseitige und damit säkularisierte Fassung transformiert und sind selbst wieder marktförmig geworden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen daher hier noch einige Hinweise auf zwei weitere Entwicklungslinien gegeben werden, die für die gegenwärtigen Ausprägungen alltagskultureller Reduktions- oder Verzichtsprogramme wichtig sind: eine ästhetisch-künstlerische und eine politisch-naturwissenschaftliche, die in erster Linie auf die Reduktion klimarelevanter Emissionen und die Probleme ihrer politischen Umsetzung zielt. Beide Entwicklungslinien adressieren das Konzept der Muße zwar nicht explizit, sind sich jedoch in ihrem Anspruch ähnlich, Raum für Wesentliches und Wichtiges zu schaffen. Sie präsentieren sich mit ihrer jeweiligen Reduktionsprogrammatik als Bedingung der Möglichkeit zur Hervorbringung von Neuem (↗ Kreativität) und Relevantem und weisen darin eine Strukturähnlichkeit zu Mußekonzepten auf. Die ästhetisch-künstlerische Entwicklungslinie findet zentrale Bezugspunkte in prominenten Werken und Figuren der Musik-, Design- oder Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, nicht nur im Umfeld der Bauhaus-Tradition. So hat etwa der deutsche Designer Dieter Rams „Weniger, aber besser!“ zu seinem Wahlspruch erklärt und mit seinen schlicht-funktionalistischen Entwürfen vieler Braun-Elektrogeräte Designgeschichte geschrieben (Klatt 2014). Auch Rezeptionen fernöstlicher Philosophie und Gestaltung (z. B. im Kontext von Meditationstechniken, [Kampf-]Sport und Wohnraumgestaltung) – so verkürzt und klischeehaft sie auch sein mögen – haben der alltagskulturellen Konjunktur eines Reduktions- und Einfachheitsideals Vorschub geleistet. Unter dem Begriff der ↗ Achtsamkeit haben seit den 1960er Jahren meditative Praxisprogramme buddhistischer Provenienz in einem breiten Spektrum zwischen spirituellen und säkularen Ausprägungen im Westen beachtliche Popularität erlangt. Die politisch-naturwissenschaftliche Entwicklungslinie bezieht sich auf den mittlerweile im Zentrum der politischen Debatte angekommenen Nachhaltigkeitsdiskurs. Spätestens seit 1972, mit der Veröffentlichung der vom Club of Rome beauftragten Studie Die Grenzen des Wachstums (Meadows/Meadows/ Zahn u. a. 1972), ist offenkundig, dass die Logik des dauerhaften Wirtschaftswachstums mit den gegebenen planetarischen Grenzen kollidiert. Der Diskurs

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um den drohenden Klimakollaps hat insbesondere seit Herbst 2018 durch die Fridays-for-Future-Bewegung einer eigentlich trivialen Einsicht zu Konjunktur verholfen: Weiteres Wachstum ist nicht mehr möglich oder sinnvoll, daher muss es künftig um bewusste Konsumbeschränkungen gehen, also z. B. weniger Flugreisen, weniger Fleischverzehr, weniger Individualverkehr, weniger Verbrauch fossiler Energieträger, weniger Konsum und Materialismus insgesamt. Anschlussfähig sind diese Argumente an die bereits seit den 1970er Jahren geführte und aktuell verstärkte Degrowth-/Postwachstumsdebatte (Paech 2012; Schmelzer/Vetter 2019), die sowohl Fragen der Staats- wie Unternehmensführung als auch der individuellen Konsum- und Alltagsgestaltung umfasst: Es geht um Reduktion, Schrumpfung und daher letztlich auch Verzicht. Dieses Weniger an Arbeit, Umsatz und Konsum ist in der Folge mit einem imaginierten oder erhofften Mehr an anderer Stelle, einem Zuwachs an Lebensqualität und einer anderen Form der Lebens- und Alltagsgestaltung verknüpft. Die vielfältigen, unter einem weiten Minimalismusbegriff zusammenzufassenden alltagskulturellen Praktiken sind oft unmittelbar mit der Diskussion um Zeitkultur, Zeitsouveränität und Zeitwohlstand verbunden (Gimmel 2017b; 2017c; Priddat/Rauen 2017). Es wird so die Hoffnung auf einen möglichen subjektiven Zugewinn an ↗ Zeit – und damit auch einen möglichen Zugewinn an Chancen auf Muße  – genährt. Der aktuelle Minimalismus-Diskurs ist durchzogen vom Gedanken der Öffnung von Freiräumen zur Besinnung, der Neuausrichtung des eigenen Lebens entlang des Relevanzkriteriums und der Hinwendung zu inneren Räumen schöpferischer Selbstentfaltung und Autonomie. Der Begriff des Zeitwohlstandes verhandelt eine selbstbestimmte Verfügbarkeit von Zeiträumen als zentrale Wohlstandskategorie und stellt diese neben die Dimensionen der Ökonomie und des Raumes. In Abgrenzung zu den weitaus gängigeren Begriffen von Freizeit oder freier Zeit zielt das Konzept Zeitwohlstand auf Selbstbestimmung, Unverplantheit und schöpferischen Freiraum, wodurch es in unmittelbarer Nachbarschaft zur Muße situiert ist (Jorck/Gerold/Geiger u. a. 2019; Rinderspacher 2002; Scherhorn 1995). Verbindendes Moment all dieser Debatten (Minimalismus, Degrowth/ Postwachstum und Zeitwohlstand) ist die gedankliche Figur der Reduktion bestimmter auf Steigerung angelegter Dynamiken wie Konsum-, Gewinn-, Leistungs-, Umsatzmaximierung oder Effizienz bzw. Produktivität. Im Zentrum stehen Akte der intentionalen Reduktion oder Vermeidung von Besitz (z. B. Kleidung, Möbel, Dekorationsgegenstände; Löfgren 2012) oder von Tätigkeiten (z. B. Arbeit oder Hobbys). Wer also verzichtet, der reduziert oder unterlässt an der einen Stelle absichtlich, um an anderer Stelle etwas Anderes oder Besseres zu erlangen. Genau diese Figur steht auch im Zentrum von Praktiken der Muße: Das Weniger an der einen Stelle zielt auf ein Besser oder Mehr an anderer Stelle  – und zwar immer verbunden mit einem freiheitlich-emanzipatorischen Impuls der Selbstbestimmung. Minimalistisch inspirierte Akteu-



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rinnen und Akteure beschreiben ihre Alltagspraktiken als einen langfristigen Prozess des Ausprobierens, Weglassens, Reorganisierens und Suchens nach Möglichkeiten der Reduktionen von Besitz oder Aufwand. Der Minimalismus stellt sich so als ein persönliches Entwicklungsprojekt dar, in dessen Rahmen der eigene Lebensvollzug immer wieder neu zu justieren ist. Der Aspekt der schmerzvollen Entbehrung, des mühevollen Ringens in ambivalenten Bedürfniskonstellationen wird rhetorisch oft zugunsten einer einhellig positiven Wohlfühlerzählung zurückgedrängt – vielleicht liegt gerade darin der Grund für die auffällige Meidung des Verzichtsbegriffs.

Zusammenfassung Der historische Überblick hat gezeigt, dass sich bereits in der frühen Neuzeit und der Moderne säkularisierte und strategische Formen des ↗ Rückzugs finden, die mit Verzicht einhergehen und Muße ermöglichen sollen, mithin auf die Option eines guten, gerechten und gesunden Lebens gerichtet sind. In der Literatur ist dies an den Gattungen der Utopie und der Schäferidylle zu verfolgen, aber auch im Rahmen des Topos des ‚edlen Wilden‘. Modelle des einfachen Lebens, das Freiheiten wie Mußeerfahrungen ermöglicht, bieten im späten 20. Jahrhundert und bis heute Vorbilder für Bestrebungen, dem Wachstum bzw. der Gewinnoder Leistungsmaximierung etwas entgegenzusetzen. In Verbindung mit den Konzepten der Nachhaltigkeit oder der Achtsamkeit entwickeln sich Strategien der Reduktion, Bescheidung, Vermeidung und Vereinfachung. Anstelle des Begriffs Verzicht, verstanden als freiwillige wenn auch mitunter schmerzhafte Unterlassung, konturieren diese Praktiken Konsumeinschränkungen oft als Tauschgeschäft zum Erwerb von mehr Zeitwohlstand und qualitätsvollerem Leben, auch in Muße. Mit Blick auf die systematische Auffächerung der konzeptuellen Dimensionen von Muße lässt sich abschließend festhalten, dass Praktiken des Verzichts weniger die Erfahrungsdimension von Muße selbst berühren, sondern v. a. ihre Voraussetzungen und Rahmungen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Feitscher, Georg (2018), Kontemplation und Konfrontation. Zur Topik autobiografischer Erzählungen der Gegenwart (Otium. Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße 9), Tübingen. Frömmer, Judith (2022), „Out of office? Machiavellische und machiavellistische Muße im Briefwechsel mit Francesco Vettori“, in: Comparatio 14,1, 27–51. Heimerdinger, Timo (2020), „Verzicht – eine Reizvokabel im Diskursklima des Klimadiskurses“, in: Kuckuck 35,2, 74–76.

Wissenschaft Jochen Gimmel Die Frage, ob Muße etwas mit Wissenschaft zu tun hat oder nicht, wird wohl sehr unterschiedlich beantwortet werden, je nachdem, wem (einer:m Philosoph:in, Ingenier:in oder Friseur:in) bzw. wo (in China, dem Kongo, am Strand oder im historischen Seminar) sie gestellt wird. Es lässt sich eine enge Verbindung ideengeschichtlich nachweisen, die von den kanonisierten Anfängen des Wissenschaftsprojekts in der griechischen Antike (Kirchner 2018a) bis wenigstens zur Idee der Universität in der europäischen Moderne (so etwa explizit bei Humboldt 2010; zur mittelaterlichen Universität siehe Bubert 2020) reicht. Während sich das ‚Projekt Wissenschaft‘ allerdings global etabliert und institutionalisiert hat, wird es selbst zur wissenschaftlichen Herausforderung, für Muße auch nur eine treffende Übersetzung zu finden (Cheauré 2021b; 2017c; Fludernik/Jürgasch 2021; ↗ Muße-Semantiken). Begriffe wie Methode, Kritik, Empirie, Kausalität usw. werden weltweit von Wissenschaftler:innen mit großer Selbstverständlichkeit gebraucht; sie gehören zum allgemeinverbindlichen Instrumentarium und fundieren den universalen Geltungsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Muße dagegen galt zwar in den Anfängen der Wissenschaft (sowohl okzidentaler als auch orientalischer Traditionen) als deren Voraussetzung und durchaus auch als ein Prinzip des Wissens (Kirchner 2021a), wurde aber auf dem weltweiten Siegeszug neuzeitlicher europäischer Wissenschaft nicht oder nur als historische und lebenspraktische Marginalie mittradiert. Diese Entkoppelung von Muße und Wissenschaft ist nicht bloß historisch und kulturell bedingt, sondern zeigt sich auch in Unterschieden der disziplinären Selbstverständnisse und angesichts des konkreten Arbeitsalltags von Wissenschaftler:innen, die Muße oft nur schwerlich mit ihrer Arbeit in Verbindung zu bringen in der Lage sind. Mit Husserl werde ich zunächst den Bezug des wissenschaftlichen Universalitätsanspruch zur Muße aufzeigen, um von daher den Bruch von Muße- und Wissenschaftsidealen in der Neuzeit verständlich zu machen. Daran schließt eine Verhältnisbestimmung von Muße zu den unterschiedlichen Fachkulturen und dem wissenschaftlichen Arbeitsalltag an. Im Zentrum steht jeweils die Frage, ob oder inwiefern Muße essentiell ist für Wissenschaft.



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Der Universalitätsanspruch der Wissenschaft und die Muße Husserl hat sein letztes großes Forschungsprojekt, das bereits von seinem institutionellen Ausschluss aus der nationalsozialistischen Universität überschattet war, der Krisis der Wissenschaft (und des „europäischen Menschentums“) gewidmet. Dort beschreibt er eindrücklich das Auftreten genuin wissenschaftlichen Fragens als ein Ereignis, mit dem „von ein paar griechischen Sonderlingen aus eine Umwandlung des menschlichen Daseins und seines gesamten Kulturlebens in Gang gebracht werden konnte“ (Husserl 1954: 336). Diese Entwicklung ist Teil einer weltgeschichtlichen Tendenz, die wir Fortschritt zu nennen gewohnt sind, in der Husserl aber zugleich auch die ‚Krisis der Wissenschaft‘ ausmacht. Jedenfalls sieht er in dem zuerst kontingenten historischen Vorkommnis ‚Wissenschaft‘ einen bis dahin ungekannten Universalitätsanspruch auf den Weg gebracht, durch den eine Dynamik losgetreten wurde, die nicht nur das Weltbild der Menschen revolutionierte, sondern im Grunde auch hinter Phänomenen wie der Globalisierung, den technisch-medialen Revolutionen und dem Siegeszug des Kapitalismus steckt. Mit Universalität ist hier nicht nur eine Betrachtungsweise der Welt im Ganzen gemeint (als einer Weltanschauung ihres Ursprungs, ihrer leitenden Elemente und Kräfte), sondern sie erweise sich im Gewinn einer „Methode sicher gelingender Erzeugung“ wissenschaftlicher Einsichten, die „sich nicht verbrauchen, unvergänglich sind“, insofern jede:r sie im eigenen forschenden (Nach‑)Vollzug als „identisch das Selbe, identisch nach Geltung und Sinn“ (Husserl 1954: 323) reproduziere. Die Reichweite und Problematik dieses Postulats lässt sich aktuell beispielsweise an der sogenannten Replikationskrise ermessen (Göritz 2020). Diesem Anspruch auf Erkenntnisidentität wird durch sehr unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche wissenschaftliche Methoden begegnet, doch er bleibt dessen ungeachtet für Wissenschaft insgesamt kennzeichnend. Einmal gewonnenen Einsichten wird in einem Prozess der Verwissenschaftlichung ein solcher Grad an Allgemeinheit abgerungen, dass sie unabhängig von der jeweiligen Person, Situation und kulturellen Bedingtheit von anderen wiederum eingesehen werden können; hier herrscht das Prinzip der Kommensurabilität. Diese allgemeinverbindliche Erzeugung von Evidenzen nimmt sich quasi aus einschränkenden Erkenntnisbedingungen (Zeit, Kultur, persönliche Umstände usw.) heraus (bzw. klammert sie ein, just wenn sie diese thematisiert) und etabliert somit eine Sonderkultur der Wissenschaft, die zu einer rückhaltlosen Infragestellung alles Gegebenen und aller Selbstverständnisse, zu einer „universale[n] kritische[n] Einstellung gegen alle und jede traditionale Vorgegebenheit“ befähigen soll. Darum sei die Wissenschaft „in ihrer Ausbreitung durch keine nationalen Schranken gehemmt“ (Husserl 1954: 335). Dieser von Husserl stilisierte Ursprung der Wissenschaft ist von einem Kultur-Paradox bestimmt, das bis heute fortwirkt: Die genuin griechische und im

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Griechischen doch zuerst unkonventionelle, ja idiosynkratrisch erscheinende Idee von Wissenschaft sprengt den epistemisch-kulturellen Rahmen, dem sie entstammt. Die gesellschaftliche Sonderstellung oder Absonderung der einst beargwöhnten akademischen Gründungsheroen gegenüber den Anforderungen einer Gemeinschaft des Handel(n)s gründet in der Idee eines  – in kantschen Worten  – interessenlosen Interesses an Erkenntnis als Selbstzweck. Erst der praktischen Absonderung von der Praxis entwächst die Universalkultur der Wissenschaft, die heute auf dem gesamten Globus ihre Adepten sammelt und doch noch immer griechische Titel trägt. Diesem Praxisentzug der Wissenschaft entstammen auch Begriffs-Totalitäten (Weltwirklichkeit, Menschheit usw.), die – nicht zuletzt durch enorme wissenschaftliche Fortschritte im Bereich der Produktion und Waffentechnik  – im bornierten Wissenschaftschauvinismus des europäischen Imperialismus in pervertierter Form eine enorme Bedeutung für die gesellschaftliche Praxis bekamen durch die reale Hervorbringung der einen „globalen Welt“. Doch Wissenschaft subvertiert aufgrund ihres Universalitätsideals zugleich diese Praxis fortschrittlicher Borniertheit, ja sie stellt das Medium ihrer radikalsten Kritik dar, da sie sich eben mit keiner Kultur ganz identifizieren kann, sondern sich vielmehr programmatisch zu allen Kulturen orthogonal stellt. Auf zeitlicher bzw. geschichtlicher Ebene verwandelt sich dieser universale Erkenntnisanspruch in ein unabschließbares Wissensprojekt als „die Idee einer Unendlichkeit von Aufgaben, von denen jederzeit eine Endlichkeit schon erledigt und als bleibende Geltung aufbewahrt ist“ (Husserl 1954: 323). Diese unendliche Aufgabe evoziert programmatisch zwei weitere Ideen: die der Wahrheit als gleichermaßen unerreichbares Ziel und immer schon erfüllter Sinn dieses Unterfangens und die der Menschheit als deren methodischer Resonanzraum. Wissenschaft betreibt eine konsequente Idealisierung der Lebenswirklichkeit durch die ‚Umstellung der Einstellung‘ weg vom Nächsten, Nützlichen, Notentsprungenen hin zu Rätselhaftem, Nicht-abschließend-Wissbarem. Diese theoretische Haltung erschließt sich aus der Radikalität eines Fragens, das sich von konkreten Interessen löst. Es ist motiviert durch eine Lust an der Überzeugungskraft und dem methodischen Versuch Antworten zu finden‚ der mit jeder Antwort jedoch die Leidenschaft des Fragens nur immer weiter schürt, da selbst die kleinsten Funken der Erkenntnis Licht darauf werfen, was wir nicht wissen (Mittelstraß 2021: 13–18). Abstraktion und Verallgemeinerung, die auch jede technische Lösung auszeichnen, verbinden sich im wissenschaftlichen Ethos mit einem Sachzugang, der ‚authentisch‘ geraten und zu den ‚Sachen selbst‘ vordringen soll, indem man sich in Distanz zu diesen von ihrer Selbstverständlichkeit befreit, „[…] derart[,] daß die in geschlossener Einheitlichkeit und unter Epoché von aller Praxis erwachsende Theoria (die universale Wissenschaft) dazu berufen wird […], in einer neuen Weise der Menschheit […] zu dienen“ (Husserl 1954: 329; ↗ Freiheit).



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Muße offenbart in dieser „Epoché von aller Praxis“ ihre Bedeutung für Wissenschaft, denn sie selbst meint eine Praxis der Epoché bzw. ermöglicht sie ganz konkret. Gegenüber religiös-mythischen oder lebenspraktisch orientierten Wissenstraditionen, deren Bedeutung und Tiefe Husserl keineswegs abstreitet, wird die Stellung der Erkenntnis im Verhältnis von Mittel und Zweck revolutioniert: Wissen und Wissenssuche stellen nicht nur Mittel zu Zwecken dar (wie etwa bei religiös-rituellen oder politisch-ethisch motivierten Welterklärungen, insofern sie funktional als Kompensationen menschlicher Ohnmachtserfahrungen begriffen werden können), sondern sie werden als Selbstzwecke aufgefasst, die ein erfülltes und glückliches Leben gerade darum versprechen, weil sie existenzielle (In-)Fragestellungen als eine Leidenschaft der Erkenntnis systematisch hervorrufen. Muße meint demnach nicht nur eine äußerliche Lebenssituation, die für Wissenschaft förderlich ist, sondern sie geht in die epistemologische Struktur wissenschaftlichen Wissens ein als Charakteristikum der theoretischen Haltung (Gimmel 2021a: 47–56) und Prinzip der Erkenntnis (Kirchner 2021a). Sie meint den Ausnahme-Freiraum, in dem die besondere und absonderliche, ja anormale Tonalität eines habituell gewordenen Staunens (Husserl 1954: 332) angestimmt ist: Ohne Muße spricht sich gewissermaßen Wahrheit weder aus, noch wird sie gehört. Natürlich stellt ein solches Programm systematischen Erkennens individuell eine systematische Überforderung dar (Gimmel 2020d), doch gerade diese Überforderung wurde auch als das leidenschaftliche Glück einer selbstzweckhaften Praxis (Theoria) unabschließbarer Wahrheitssuche angesprochen. Erst in Muße kann sich demnach der Abstand zur Alltagspraxis ergeben, der für Wissenschaft konstitutiv ist und die darum als Mußepraxis par excellence gelten konnte. Muße ist das bestimmende Prinzip einer Wissenschaft, die durch eine Erkenntnishaltung des Staunens, eine Erotik des Fragens oder durch den „inneren Berufe zur Wissenschaft“ (Weber 2002: 481) gekennzeichnet wurde. Diesem stilisierten, aber doch historisch wirkmächtigen Verständnis von Wissenschaft als einer Mußekultur wird in Selbstzeugnissen von Wissenschaftler:innen eine manische Haltung zwischen Glück und Masochismus zugeschrieben (Bubert 2020; Gimmel 2020c; Kirchner 2021a). Muße meinte das ‚Wie‘, gewissermaßen die Lebenswelt der Wissenschaft, durch die sich eine Perspektive auf Universalität und Allgemeinheit in einem radikalen Sinn erst eröffnen konnte. Aus diesem Grund ist es umso verwunderlicher, dass Muße aus dem Wissenschafts-Set und ‑Selbstverständnis zusehends herausfällt, so, als hätte es ihrer niemals bedurft. Husserl gibt auch hinsichtlich dieser Entwicklung einigen Aufschluss: Eine in seinen Augen folgenschwere „Naivität“ bestimme die Wissenschaftsgeschichte, nämlich die Tendenz zu einer „Naturalisierung des Geistes“ (Husserl 1954: 339), aufgrund derer „die objektivistische Wissenschaft das, was sie objektive Welt nennt, für das Universum alles Seienden hält […]“ (Husserl 1954: 342). Durch die Revolution der Wissenschaft in der Neuzeit nimmt diese

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Naivität ein gewissermaßen methodisch-systematisches Ausmaß an, insofern sie sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt „als universale Konfiguration aller Körper […] idealisierbar und durch Konstruktion beherrschbar werden zu lassen“ (Husserl 1954: 33). Dieser ideal konstruierte Raum wissenschaftlicher Erkenntnisse verbürge lückenlose kausale Verhältnisbestimmungen, die auf letztlich mathematisch und quantitativ erfassbare Weise aufeinander bezogen werden können und so den Geltungsbereich wissenschaftlicher (Kausal-) Erkenntnisse total, auch auf den Bereich des „Geistigen“ bzw. Psychischen, ausdehne. So würden alle Fragen zusehends als Probleme einer, wie auch immer, messbaren Physiologie (im Sinne des Konstruktraums) formuliert und auf diese Weise dem konzeptionellen Erklärungsrahmen des Weltkonstrukts ‚einverleibt‘, ‚inkorporisiert‘. Zugleich habe sich dieser ideal konstruierte Wirklichkeitsraum – und das ist das eigentlich Neuartige der neuzeitlichen Wissenschaft – an der Fülle aller Gegenstände immerfort induktiv aufzeigend zu beweisen. Das Verständnis von Wirklichkeit wird also nicht deduktiv aus Prinzipien abgleitet, sondern soll und muss durch Erfassung und Einpassung aller Einzelphänomene in den Konstruktraum immerfort induktiv erschlossen und so validiert werden (Simon 2020). Das Universalkonstrukt ‚Welt‘ wird hypothetisch konstruiert, um es induktiv nachmessend zu bestätigen oder zu verwerfen. Husserl spricht von einer universalen Induktivität: „Es galt nun durch solche Hilfsmittel [hier sind Messmethoden gemeint, JG] die universale Kausalität oder, wie wir sagen können, die eigenartige universale Induktivität der Erfahrungswelt systematisch zu erfassen, die in der Hypothese vorausgesetzt war.“ (Husserl 1954: 38) Der fragliche Wandel der Wissenschaft zeigt sich in diesem Text als die wechselseitige Fundierung eines methodischen Konstruktivismus und der Empirie als Datenerhebung. Diese Entwicklung wurde vielfach gesehen und analog gekennzeichnet als Vorrang der Methode, als Technisierung der Wissenschaft, als rechnendes Denken, herstellende Wissenschaft u. ä. (diese Entwicklung bezieht sich auch keineswegs nur auf die Naturwissenschaften). Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass hierin eine fulminante Umkehrung des Theorie-Praxis-Verhältnisses statthat, welche die enge Koppelung von Wissenschaft und Muße löst. Wissenschaft sucht nicht mehr den Freiraum von der Praxis technischer Weltbewältigung (eines Wissens als téchne), sondern fortan wird Erkenntnis tendenziell durch methodische (im Idealfall quantitative) Datenerhebung hergestellt. Technisch-methodische Praxis im Sinne einer Erkenntnisproduktion rückt also mehr und mehr an die Stelle einer Theoria als Besinnung (Heidegger 2000); Theorie nimmt dagegen die Bedeutung einer Methodologie der ‚Konstruktion‘ des idealisierten Datenraums an. Wissenschaft (im Sinne von Konstruktivismus und universaler Induktivität) ist somit wesentlich durch eine Technisierung bestimmt, insofern sie „Technik als eigene Form akzeptiert“ (Luhmann 1990: 711). Die laborierenden Wissenschaften der Neuzeit greifen Technik also keineswegs nur als ein Mittel des Verfahrens auf, sondern als Erkenntnisprinzip. Wo diese



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Tendenz vorherrscht, ist einsichtig, dass Muße nicht länger als ein essentielles Merkmal von Wissenschaft verstanden werden muss, denn die Technik einer epistemischen Herstellungspraxis bedarf im Grunde nicht mehr (oder weniger) der Muße als die Konstruktion eines Automobils. In diesem Sinne fällt also die Muße zur Wissenschaft der Weiterentwicklung eben jenes Universalitätsanspruchs zum Opfer, durch den sie einst so eng mit dieser verknüpft war.

Spezialisierung und Fachkulturen Niklas Luhmann macht in der Technisierung der Wissenschaft im Gegensatz zu Husserl nicht deren Krise aus, sondern ihren Fortschritt: Eine sich zusehends ausdifferenzierende Wissenschaft bedürfe gerade um Willen dieser Ausdifferenzierung einer grundlegenden Simplifikation ihrer Sachzugänge, die mit den Mitteln eines technisierbaren Erkenntniskonstrukts gewährleistet würde. Die technisch-konstruktive Wirklichkeitsauffassung stünde auch nicht in Konkurrenz mit der lebensweltlich-subjektiven, da diese vielmehr in der Moderne „dem Individuum überlassen“ (Luhmann 1990: 713) und im Grunde aus der Wissenschaft operativ ausgeschlossen sei. Für die Moderne gilt im Sinne Luhmanns ein Diktum der Postmoderne: Wissenschaft basiert nicht länger auf „Meta-Erzählungen“ – um einen Ausdruck Lyotards zu gebrauchen (Lyotard 1986; Luhmann 1990: 632)  –, „vielmehr probiert die Wissenschaft (ebenso wie auf ihre Weise die Technologie) Simplifikationen aus, läßt sie in eine gegebene Welt ein und sucht festzustellen, ob die dazu notwendigen Isolierungen gelingen“ (Luhmann 1990: 714). Moderne Wissenschaft vollzieht sich also immer weniger im Modus des erzählend-bedeutenden Betrachtens, das aus einer Mußeposition heraus die weiten Zusammenhänge seiner Fragestellungen ergründend und entwerfend zu verstehen versucht oder aus axiomatischen Prinzipien durch Ableitung auf Realität schließt, sondern etabliert vielmehr ein tüftelnd-konstruierendes Problemlösen als institutionelles Wissens-Ideal, das sich weitegehend mußefrei oder wenigstens mußeneutral zeigt. Dieses Ideal einer Wissenschaft als technisches Verfahren schlägt sich selbst in der Infra- und Förderstruktur der Grundlagenforschung nieder (z. B. in denen der SFB, die der organisatorischen Logik der Technik- und Naturwissenschaften entspringen) und wird somit lautlos zum Standard erklärt. Diese Tendenz kann man aus guten Gründen, wie Luhmann, als notwendig und ‚sinnvoll‘ erachten, wird dann aber Muße als Erkenntnisprinzip aufgeben müssen. Dieser Verlust wiegt dort besonders schwer, wo die methodischen Prinzipien des Konstruktivismus und der Induktivität nicht fruchten, d. h. nicht sachgerecht sind. Damit gewinnt die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Fachkulturen zur Muße an Relevanz, denn die Simplifikation durch fachliche Spezialisierung müsste ja keineswegs in allen Fächern zwingend zu einer

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Technisierung und universalen Induktivität führen. Bei der Frage nach dem Verhältnis der Fachkulturen zur Muße kommt einem zuerst die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften in den Sinn. Diese allein ist aber für die Frage nach den Mußebedingungen der Wissenschaft kaum zielführend, denn mindestens ebenso bedeutsam und quer durch die Fachkontinente verlaufend ist hierfür die Unterscheidung zwischen angewandter (bzw. ‚Verfahrens-Wissenschaften‘ wie z. B. Digital Humanities) und theoretischer (bzw. Grundlagen-) Forschung. Die Einteilung von Natur- und Geisteswissenschaften ist sehr viel weniger eindeutig, als es zuerst den Anschein hat. Die Unterscheidung von Geist/Kultur/ Mensch auf der einen und Natur auf der anderen Seite ist fragil und dialektisch, insofern beim Versuch der Abgrenzung die eine Seite der Unterscheidung die andere immanent etabliert. Der Gegenstandsbereich allein gibt also weniger Anhalt für eine grundsätzliche Unterscheidung der Disziplinen, als man anzunehmen geneigt ist. Mit Dilthey (1922) lässt sich wenigstens von einem Unterschied der Eigenlogiken von Rationalität ausgehen, insofern sie einmal auf ein Erklären (Naturwissenschaften) und das andere Mal auf ein Verstehen (historische Geisteswissenschaften) abzielen. In Wissenschaftsverständnissen, die sich als hermeneutisch, phänomenologisch oder dialektisch begreifen und sich des Verstehens nicht entschlagen wollen, bleibt die aus der Antike ererbte Verkoppelung der Erkenntnis mit Muße dem Selbstbild nach erhalten, insofern ein Verstehen auf die spezifische Distanznahme zur eigenen Praxis und der Befreiung vom Praxisdruck angewiesen bleibt (↗ Freiheit). So wird die Hermeneutik gar mit ästhetischer Praxis enggeführt (Gadamer 1999) und damit an das Motiv der Muße gebunden. Erklärende Wissenschaft gibt dagegen in einer rein kausallogisch-formalen Form den oben beschriebenen Weg zu Technisierung der Erkenntnis frei, „sucht sich des Seienden zu vergewissern, indem sie seine Erkenntnis methodisch einrichtet. Folgerichtig verketzert sie alles Wissen, das solche Vergewisserung nicht erlaubt und daher der wachsenden Beherrschung der Natur nicht zu dienen vermag“ (Gadamer 1999: 479 f.). Dieser von Gadamer den Daten erhebenden Disziplinen zugeschriebene Argwohn gegenüber der weichen Erkenntnissubstanz eines sprachlich-historischen Sinnverstehens verrät auch etwas von dem Argwohn der hermeneutischen Ansätze gegenüber dem Verfahren methodischer Deskription durch Quantifizierung. Das Verhältnis zur Muße im jeweiligen Selbstbild der Disziplinen kann als Indikator verstanden werden, der anzeigt, welcher Wissenstradition man sich zugehörig fühlt. Dennoch weisen auch experimentell-technische Wissenschaftsformen eine Mußeabhängigkeit des Verfahrens auf. Das zeigt sich exemplarisch an der Typologisierung, die Thomas Kuhn in seiner berühmten Untersuchung Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gegeben hat. Die „normalen Wissenschaften“, also der wissenschaftliche Betrieb, der innerhalb eines geltenden Paradigmas nicht eigentlich neue Erkenntnisse erwirbt, sondern nur die „stetige Ausweitung



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des Umfangs und der Exaktheit wissenschaftlicher Kenntnisse“ betreibt, kennzeichnet er als ein Knobeln an und Lösen von Rätseln (Kuhn 2014: 49–56). Kuhn weist nachdrücklich darauf hin, dass es dieser Form der Wissenschaft ihrer Motivation nach nicht um neue Erkenntnisse, bahnbrechende Fortschritte oder gesellschaftlichen Nutzen gehe (Kuhn 2014: 52), sondern dass sie sich leidenschaftlich dem Ausdifferenzieren und Ausstaffieren bereits grundsätzlich beantworteter Fragen hingebe. Bei der Lektüre Kuhns nimmt es den Anschein, dass „normale Wissenschaft“ einer Erkenntnisordnung elfenbeintürmender Nutzenfreiheit folgt und sich durchaus in ihrem spielerischen Charakter der Muße verwandt fühlen dürfte. Dass auch der Paradigmenwechsel, d. h. die Krisen und Revolutionen der Wissenschaft, als eine Durchbrechung von Spielregeln und Etablierung eines neuen Spiels bzw. einer Phase der spekulativen Freiheit gekennzeichnet wird, bestätigt, dass hier Forschung, wann immer sie glückt, wesentlich Spiel – das meint keine Metapher, sondern ein Organisationsprinzip  – bleibt (so auch Popper 1935: 22 f.). Wo technisierte Wissenschaften den institutionellen und finanziellen Freiraum – von dem sie meist mehr haben als verstehende  – gewährleistet bekommen, bleibt zwar das ‚Wissensprinzip Muße‘ in der Regel fremd, als Verfahrensprinzip ist sie aber dennoch bedeutsam. Die Relevanz von Mußeorten und -zeiten für die Forschung wurde eindrücklich in wissenschaftssoziologischen Untersuchungen ausgewiesen, beispielsweise durch die Bezeugung der wissenschaftlichen Bedeutung von „Cafeterien“ (Knorr-Cetina 2002: 245). Die zunehmende fachkulturelle Kluft, die auch das Verhältnis zur Muße mitbestimmt, bleibt zu einem erheblichen Teil der methodischen Technisierung im Zuge der Neuzeit anzulasten. Technisch-methodische Verfahrenssicherheit ist Merkmal von Science, die sich ‚Wissenschaftlichkeit‘ oftmals als Alleinstellungsmerkmal zurechnet, während Verstehen, Interpretieren und Spekulieren eher der Kunst zugeeignet werden und als Arts ein eher repräsentatives (wenn nicht gar gauklerisch erscheinendes) Dasein am akademischen Hof fristen. Muße spielt im habitualisierten epistemischen Repertoire akademischer Tüftler und Techniker keine ernstzunehmende Rolle. In den philologischen und ‚verstehenden‘ Wissenschaften wird ihrer zwar noch immer mit einer gewissen Nostalgie gedacht (Lenger 2017), doch das Wissenschaftsmanagement, das die organisatorischen Leitlinien vorgibt, nimmt an einem technikwissenschaftlichen Ideal Maß und bedenkt die Sehnsucht nach einer Forschung in ‚Einsamkeit und Freiheit‘ bestenfalls mit dem nachsichtigen Lächeln von Praktikern gegenüber verrenteten Narrativen, die man nur noch honoris causa und in Zitatform an den Universitäten duldet. Das Verhältnis von Muße und Wissenschaft ist wesentlich durch den Habitus des homo academicus (Bourdieu 1988) bestimmt, und wo Muße nicht mehr zum Selbstbild gerechnet wird, ist die Gefahr, dass sie durch das straffe Zeit- und Publikationsregime der Wissenschaftsorganisation real verunmöglicht wird, groß.

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Dennoch ist für die Mußelosigkeit im Forschungsalltag weniger die methodische Technisierung an sich verantwortlich, als vielmehr die Subordination von Wissenschaft unter das Diktat von Nutzen, Effizienz und Anwendbarkeit (Kirchner 2021b), die der Tendenz Vorschub leistet, Erkenntnis epistemologischen Kategorien der Zweckrationalität (Habermas 1968) zu unterwerfen. Mit den methodischen Postulaten des Utilitarismus, Positivismus und methodischen Konstruktivismus wird einer Logik der Resultaterzeugung gegenüber dem Begreifen durch Infrage-Stellung der Vorzug gegeben und so dem einst gehuldigten Vorrang des Fragens vor den Antworten abgeschworen. Die Zweckbindung verstellt das Mußemoment des Erkenntnisprozesses, eine Besinnung ermöglichende Praxisdistanz, praktisch: Das Auftreten einer öffentlichen wie privaten Nachfrage nach angewandter Forschung […] [führt] zu einem entscheidenden Bruch mit den Grundsätzen akademischer Autonomie wie mit den Werten der Interesselosigkeit, Zweckfreiheit und Unbeeinflussbarkeit durch Sanktionen und Anforderungen der Praxis. (Bourdieu 1988: 206)

Auf diese Weise wird Wissenschaft ‚banausisch‘, zum Know-How akademischer Handwerker:innen, deren Hemdsärmeligkeit von der Industrie, Wirtschaft und Politik gerne gesehen und genutzt wird. Das gilt auch für Anwendung im Sinne der Ausbildung, wenn sie nicht der Bildung des Individuums gilt (diese Bildung ist idealtypisch mußevoll und Selbstzweck der Forschung, Hutter/Kartheininger 2009), sondern vielmehr der Berufsqualifizierung. Folgt man Autoren wie Husserl, Gadamer, Bourdieu und vielen anderen, dann scheint mit dem Zwang, den gesellschaftlichen Nutzen (Anwendungsbezug) und die Effektivität (als Quantum der Resultate) der Forschung immerfort ausweisen und auspreisen zu müssen, der Universalitätsanspruch der Wissenschaft selbst Schaden zu nehmen und das Erkenntnisprinzip ‚Muße‘ bis zur Unkenntlichkeit beschädigt zu werden. Selbstredend teilen viele Wissenschaftler:innen auch unter den Mußeforschenden diese Einschätzung nicht, sondern verstehen den beständigen Anwendungs- und Praxisdruck als eine willkommene Möglichkeit zur Falsifizierung von Forschungsthesen im Sinne eines methodischen Desiderats. Anderen erscheint die Praxisdistanz überhaupt als ideologisches Relikt, das der Evidenzerzeugung utilitaristischer bzw. positivistischer Art nur Schimären entgegensetze. Und richtig ist sicherlich, dass eine Abkapselung der Wissenschaft von der gesellschaftlichen Praxis, die sie einerseits ermöglicht und die sie andererseits auch zum Gegenstand hat, alles andere als wünschenswert wäre; die Frage ist nur, ob Wissenschaft nicht zugleich einen spezifischen Freiraum von dieser gesellschaftlichen Praxis einnehmen muss, um diese reflektieren zu können. Der Wissenschaft als Reflexionsfreiraum der Gesellschaft wurde ja nicht grundlos ein Sachzugang im Sinne einer ↗ Freiheit in Distanz zugesprochen. Alltäglich erfahren Wissenschaftler:innen die Beschädigung des ‚Erkenntnisprinzips Muße‘ jedoch an ihrer eigenen Person durch den Betriebscharakter



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der Wissensproduktion, unter dem sie zu leiden haben. Das hat sich jedenfalls in interdisziplinären Gesprächen zu der Bedeutung von Muße für den wissenschaftlichen Arbeitsalltag fachübergreifend herauskristallisiert (Gimmel 2020c). Unabhängig davon, ob Muße im Selbstverständnis der Fachkulturen eine Rolle spielt oder nicht, scheint der Mangel an Muße in der alltäglichen Forschungsarbeit doch überall zunehmend als ein Problem für die Wissenschaft wahrgenommen zu werden. Die abschließende Betrachtung hierzu wird sich einiger polemischer Unter- und Obertöne nicht enthalten, da diese ‚Leiderfahrung‘ nun mal auch selbsterfahren ist und nicht durch vorgeschützte Neutralität verborgen werden soll.

Arbeitsalltag und Institutionen Die Entwicklung akademischer Elite-Einrichtungen hin zu Masseninstitutionen, durch die mittlerweile 50 Prozent eines Jahrgangs ‚geschleust‘ werden, war mit der großen, aber vielleicht etwas naiven Hoffnung auf eine Demokratisierung des Wissens verbunden. Dass ein immer größerer Anteil der Bevölkerung Zugang zu akademischem Wissen hat, stellt ohne Zweifel für alle, die solches Wissen schätzen, einen bedeutenden gesellschaftlichen Fortschritt dar. Allerdings findet dieser Fortschritt bedauerlicherweise keine Entsprechung in einer Demokratisierung der universitären Strukturen, die vielmehr die hierarchische Ordnung der Ordinarienuniversität reproduzieren, obgleich die Macht der Ordinarien zugunsten eines New Public Managements (Münch 2011) beschnitten wurde. Die mit der angeblichen ‚Öffnung‘ der Universitäten einhergegangene ‚Managementisierung‘ (Lenger 2017; Lenger/Obert/Panzer u. a. 2016) hat das Studium und die Forschung in einer Art verändert, die im Extrem den Eindruck einer „Chrematistik der Wissensproduktion“ (Gimmel/Kirchner/Mangelsdorf 2020a) hervorrufen kann. Das Ideal einer glücklichen Verbindung von Forschung und Lehre verschwimmt angesichts der Anforderungen arbeitsmarktgerechter Ausbildung zunehmend. Anwendungsorientierte Forschung führt keineswegs zu einer wachsenden Autonomie gegenüber ihren praktischen Zwecken (und Finanziers), wie man ja hoffen dürfte, sondern vielmehr etablieren sich zunehmend effizienzorientierte und schein-objektive Kriterien des wissenschaftlichen Qualitätsmanagements in allen Forschungskulturen. So droht schließlich die Autonomie von Wissenschaft unter der Eigenlast eines institutionellen Speckgürtels von Wissenschaftsmanagement-Einrichtungen, die sich der Steigerung und Optimierung des universitären Outputs verschreiben, langsam erdrückt zu werden (Gimmel 2022). Die Abhängigkeit der Forschung von Drittmitteln und die Finanzierung im Rahmen von Projekten, die in der Regel nur zeitlich eng befristet gewährt werden, zwingt dazu, ‚Nutzen und Zwecke‘ der einst als Selbstzweck gefeierten

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Wissenssuche in ständig wiederkehrenden Anträgen und Auswertungen glaubhaft zu machen – ein Problem, das sicher nicht neu ist, aber doch in Formen des Mäzenatentums schöngeistiger daherkam als im effizienzorientierten Sponsoring-System der Forschungsfinanzierung, das eigene akademische Beratungsorgane (research service, science support) auf universitärer Seite ins Leben rief, um den Drittmittelerwerb zu professionalisieren. Die künstlich geschaffene und zum Teil selbstverschuldete Konkurrenz der Universitäten um Exzellenzförderung versetzt ganze Universitätsstandorte in regelmäßigen Abständen in Existenzängste (Kaube 2009). Diese infrastrukturelle Traumatisierung durch eine Wissenschaftspolitik mit neoliberaler Agenda (Alt 2021) auf etatistischer Grundlage (Baecker 2008) hat sein Pendant in der gewollten existenziellen Verunsicherung des akademischen Mittelbaus durch Stellenbefristung, von der wir eindrücklich durch #IchbinHanna Zeugnis haben (s. auch Büdel 2020). Die Menge an Evaluierungsmaßnahmen ist förmlich explodiert und droht die Qualität der Forschung weniger zu gewährleisten als sie durch Qualitätsauswertung zu ersetzen (Matthies/Simon 2008). Im Extremfall führt das dazu, dass Anträge und Auswertungen die eigentliche Forschung in den Hintergrund treten lassen, da man für diese nur noch am Rande Zeit findet und sie darum ein gespenstisch virtuelles Dasein als ‚Antrags-Narrativ‘ fristen. Somit wird eine Struktur institutionell erzeugter Binnen-Heteronomie ausgebildet, die die Freiheit der Forschung gewissermaßen aus freien Stücken in Gefahr bringt. Auf Seiten der Lehre, die dem humboldtschen Ideal nach die Forschung korrigieren und fundieren sollte, hat man sich faktisch mit den Bologna-Reformen vom Ideal der Bildung zugunsten der Ausbildung verabschiedet (Eßbach 2009). Die Nutzenfreiheit der Wissenschaft wurde dem utilitaristischen common sense anscheinend so zuwider, dass man sich an den Universitäten genötigt sieht, mehr Energien für die Erzeugung eines Nützlichkeitsscheins aufzuwenden, als den Freiraum vom Nutzen- und Praxis-Druck zu verteidigen. Dabei liegt die besondere ‚Funktion‘ der Wissenschaften für moderne Gesellschaften doch gerade darin, einen Reflexionsfreiraum zu bieten, um aus dem Abstand zur Praxis und einer bewussten Nützlichkeitsabstinenz ‚innovative Potentiale‘ zu entfalten, auf welche die Praktiker der Märkte mutmaßlich zuerst schielen, wenn sie an Wissenschaft denken. Es liegt nahe, dass auch diese Entwicklungen Auswirkungen auf das Verhältnis von Muße und Wissenschaft zeitigen. Aufklärerische Utopien waren immer auch solche des Wissens und von Wissensgesellschaften, die unter anderem in der Idee der Universität zum Ausdruck fanden. In deren Schlagschatten ließe sich bezogen auf Muße zugespitzt formulieren: Die Hoffnung, möglichst Vielen Muße zur Wissenschaft zu verschaffen und damit vielleicht irgendwann die Menschheit im Ganzen aus ihrer Verstrickung in eine Praxis ohnmächtigen Fortschreitens zu befreien (Gimmel 2014), geht aus auf ein Ideal „offenen Denkens“, ‚das über sich hinausweist‘ und eine „Kraft zum Widerstand“ (Adorno



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2003b: 798) entfaltet. Ein geradehin utopisches Vertrauen in Wissenschaft, aus dem ein beachtlicher Widerstandsgeist erwächst, wird heute beispielsweise in der Fridays-for-Future-Bewegung laut. Dass dieselben Wissenschaften, denen das Leitwort für die politische Zukunftsgestaltung übergeben sein soll, gerade durch die Art ihrer systematischen Erkenntnisproduktion auch entscheidend an der Zerstörung des Planeten mitgewirkt haben, ohne Einspruch gegen dieselbe geltend machen zu können, zwingt zu einer differenzierteren Reflexion der wenigstens zwiespältigen Rolle wissenschaftlichen Fortschritts, die als eine „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 2003) begriffen werden kann. Weitgehend widerstandslos wird das durch Muße gewährte „Glück des Gedankens“ (Adorno 2003b: 798) durch institutionelle Betriebsamkeit ersetzt und damit auch Potentiale zur Transformation, die Wissenschaft aus der Distanz zur gesellschaftlichen Praxis heraus für diese Praxis entfalten könnte, konterkariert. Die Technisierung objektivierender Wissenschaften beschreibt nicht nur die Erkenntnis-, sondern auch die Funktionsweise der Wissenschaftsinstitutionen: Der methodische Konstruktivismus und die universale Induktivität werden zu Organisationsprinzipien der Institutionsverwaltung. Forschung und Lehre sollen durch Wissenschaftsmanagement bzw. betriebswirtschaftlich orientierte Wissenschaftspolitik methodisch erschlossen werden (das Prinzip des Konstruktraums schlägt sich u. a. in der Bürokratisierung und „Modularisierung“ von Studiengängen und der Forschungsförderung nieder), um sie verfahrenstechnisch zu optimieren (das Prinzip der universalen Induktivität weist sich in einer Art wissenschaftsmanagerialem Aktivismus von Erhebungen, Kursen, Qualifikationsprogrammen, Evaluationen usw. aus, die sich an den MethodenKoffern der Start-up-Ideologie orientieren) (Gimmel 2022). Durch die autopoietische Ausdifferenzierung und Schließung der wissenschaftlichen Institutionen – um hier in Worten der Systemtheorie zu reden – tritt die Unterscheidung von Wissen und Wissensobjekten und mithin die Frage nach der Wahrheit in den Hintergrund, während die Frage nach der Konstruktion von Forschung (nicht von Welt) und deren evaluativ-induktive Repräsentation (im Sinne ihrer Erfolge, Heidegger 2000) an Bedeutung gewinnt. Nicht mehr bloß „Technik ist das Wesen dieses Wissens“ (Horkheimer/Adorno 2003: 20), sondern Management bestimmt Wissenschaft als Prinzip. Sie wird nicht länger bloß nach „Art staatskapitalistischer Unternehmungen“ (Weber 2002: 476) gelenkt, wie Weber noch sagen konnte, sondern nach den betriebswirtschaftlichen Regeln des innovations-, informations- und darstellungsfixierten Kapitalismus postindustrieller Informationsverarbeitungsgesellschaften gemanagt (siehe zu dieser Entwicklung die differenzierte Darstellung von Alt 2021). Es bleibt eine dringliche wissenschaftliche Herausforderung, die Veränderungen und Entwicklungstendenzen von Wissenschaften angesichts der medial-digitalen Revolution und der damit sich wandelnden Wirtschafts- und Arbeitswelt zu reflektieren und zu diskutieren. Aufgrund der besonderen ideen-

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geschichtlichen Verbindung könnte gerade die Besinnung auf die Bedeutung der Muße gegenüber dieser Entwicklung aufschlussreich sein. Es lassen sich „MußeIdeale der Wissenschaft“ (Gimmel 2020c) formulieren und mit ihnen im Sinne einer Selbstkritik der Wissenschaft nach Kriterien fragen, was in Wissensgesellschaften des 21. Jahrhunderts von der Wissenschaft erwartet werden kann und soll. Die vielfach geäußerte Frustration über wissenschaftliche Arbeitsbedingungen aufgrund eines quälenden Mangels an Muße (Gimmel 2020c) weist auf die Dringlichkeit solcher Selbstkritik hin. Die Beschäftigung mit Muße kann aber darüber hinaus auch in Erinnerung rufen, dass Wissenschaft die Menschheit nicht zuerst zu technischem Fortschritt befähigen sollte, sondern auf eine ‚Idee des Menschen‘ zielte, die als eine weltgeschichtliche Versöhnung von Menschheit und Natur begriffen werden kann – das macht Motive geltend, die gegenüber den Zwängen einer Praxis der Verwertung und Auswertung Erkenntnis als ein Glück auffassen, das sich selbst genug ist. Dieser Anspruch lässt sich weder leicht abtun noch durch bloße Erkenntnismaximierung einlösen. „Wo die Grenzen zwischen Wissenschaft und Technik, Grundlagenforschung und angewandter Forschung blass werden und Allmachtsträume in Wissenschaft und Technik das Denken zu besetzen beginnen, es für Nachdenklichkeit und Urteilskraft auch in der Wissenschaft eng wird, ist es angezeigt, wieder einmal Distanz zwischen dem Denken und seinen vielfältigen Inanspruchnahmen, auch seinen missverstandenen eigenen, zu gewinnen.“ (Mittelstraß 2021: 22 f.) – Mit anderen Worten: Es wäre an der Zeit, dass Wissenschaft sich (wieder?) als ein Glück in Muße verstehen ließe, um sich erneuern und reformieren zu lassen.

Weiterführende Literatur aus dem SFB 1015 Gimmel, Jochen/Kirchner, Andreas/Mangelsdorf, Marion (Hg.) (2020b), Muße und Wissenschaft. Eine Sonderausgabe (Muße. Ein Magazin 5,2), DOI: 10.6094/mussemagazin/5.8.2020.3. Strohschneider, Peter (2014), „Muße und Wissenschaft. Ein Gespräch mit Burkhard Hasebrink und Peter Philipp Riedl“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (linguae & litterae 35), Berlin/Boston, 69–88. Gimmel, Jochen (2022), „Wissenschaft in der Manege. Vom Nutzen der Nutzenfreiheit – eine kritische Analyse auf dem Weg zum Reflexionsraum der Gesellschaft“, in: Wissenschaftsmanagement 26, 143–150.

Zeit Inga Wilke Wer sich mit Muße beschäftigt – sei es wissenschaftlich oder lebensweltlich-alltäglich –, wird unweigerlich auch über Zeit nachdenken. In einer geläufigen alltagssprachlichen Formulierung werden Muße und Zeit geradezu gleichgesetzt: „Das mache ich, wenn ich mal Zeit und Muße habe“. Hier bedeutet Muße dann eine spezifische zeitliche Erfahrung und die Verfügbarkeit einer von Verpflichtungen befreiten Zeit (↗ Einleitung). Dieser Beitrag verfolgt einige wesentliche Spuren im Verhältnis von Muße und Zeit: Nach einer allgemeinen Einführung zum Zeitbegriff wird (1) die strukturierende Funktion von Zeit für Mußekonzepte betrachtet. Es folgt (2) ein Blick auf die zeitliche Dimension von Gegenwartsdiagnosen und die Rolle von Muße in diesen. Dann geht es (3) um die der Mußezeit zugeschriebenen Eigenschaften und das Zeiterleben in Muße, bevor (4) der transgressive Charakter von Muße in einer Überschreitung der Mußezeit ausgemacht wird. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist Zeit nichts Gegebenes, sondern eine „kulturelle Ordnungsleistung des Menschen“ (Drascek 2007: 1) und damit etwas, das der Mensch hervorbringt, mit dem er umgeht, das er einsetzt und gestaltet und das immer in soziale, kulturelle und historische Kontexte eingebunden ist. Mithilfe von Zeit als „Orientierungsmittel“ (Elias 1984: 2) schaffen Menschen Ordnungen; so eingesetzt, formt sie soziale Praktiken und Strukturen und wird in diesen wirksam. Grundsätzlich muss jeder Mensch „Zeitstrukturierungsleistungen“ (Hörning/Gerhard/Michailow 1990: 141) erlernen und erbringen, um mit Zeit umgehen und den eigenen Alltag gestalten zu können. Zeit als Vorstellung und Praxis enthält in ihrer Gestaltbarkeit Potenziale für Handlungsmacht: Sie kann so oder so verbracht werden und eröffnet damit vielfältige Möglichkeitsräume ihrer Ausfüllung. Genauso kann Zeit einen restriktiven Charakter haben, wenn sie in Form von Zeitregimen, z. B. in der Erwerbsarbeit, dazu eingesetzt wird, Menschen zu kontrollieren, und auf diese Weise ihre Gestaltungsmöglichkeiten beschneidet. Mußekonzepte lassen sich ‚in der Zeit‘ betrachten, denn Zeit hat eine strukturierende Funktion (1). Sie stellt durch ihr „Nacheinander“ (Figal/Hubert/ Klinkert 2016b: 1) einen (unterschiedlich weit fassbaren) Horizont zur Verfügung – sei es geschichtlich, sei es biografisch –, in den sich Konzepte, Deutungen und Erfahrungen mithilfe temporaler Kategorien wie ‚früher‘, ‚jetzt‘ oder

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‚später‘ einordnen lassen. Muße erweist sich als ein historisch und kulturell kontingentes Konzept: Sie ist eben keine anthropologische (und damit tendenziell essentialisierte, naturalisierte) Konstante, sondern sie wurde und wird vielmehr in unterschiedlichen Zeiten und Räumen kontext- und situationsabhängig gedeutet und erfahren, mit Praktiken verknüpft und in sozio-kulturelle Muster eingeordnet. Verschiedene Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs haben sich historischen Formen der Muße gewidmet und dabei häufig auch auf Zeit und zeitliche Erfahrungen fokussiert (z. B. Liedke 2018b; Waßmer 2022). Über Mußekonzepte muss anhand ihrer jeweiligen Gegenwarten und damit verbundener Kontexte nachgedacht werden, gleichzeitig liefert der Blick auf ihr Gewordensein, d. h. ihre kulturgeschichtliche Einordnung, und die Frage nach ihrer Rolle für Zukunftsentwürfe eine wichtige zeitliche Dimensionierung von Mußephänomenen und -praktiken. Muße wird so in zeitliche Bezüge gesetzt und dabei gleichzeitig selbst als eine spezifische Form von Zeiterfahrung betrachtet. Wissenschaftstheoretisch gewendet, fordert die Beschäftigung mit Muße dazu heraus, die temporalen Prämissen des wissenschaftlichen Instrumentariums (z. B. Kategorien wie Kontinuität, Brüche, Wandel etc.) zu reflektieren. Die Biografie stellt einen weiteren für die Mußeforschung und die Entwicklung von Mußekonzepten bedeutsamen zeitlichen Horizont dar (↗ Erzählen). Der Lebensverlauf mit seinen unterschiedlichen Lebensphasen (Fischer/ Kohli 1987), die jeweils spezifische Anforderungen an die Subjekte mit sich bringen und eine entsprechende Ausgestaltung der Alltage bedingen, bildet auf individueller Ebene einen Deutungsrahmen, in den Erfahrungen von Muße eingeordnet werden. Kindheit und Ruhestand stellen häufig Projektionsflächen für ein als mußevoll und nicht entfremdet imaginiertes Lebensgefühl dar. Den derart entworfenen Lebensabschnitten wird die mittlere Lebensphase aufgrund der Belastungen in Erwerbsarbeit und Familienleben diametral gegenübergestellt – zumindest in jenen kulturellen Kontexten, in denen diese biografischen Phasen auf diese Weise konzipiert werden. Hieraus ergeben sich Fragen: Wer reflektiert und beurteilt wann welche Lebensphase wie in Bezug auf Muße? Wie wird Muße für Übergänge im Lebensverlauf relevant? Welche Rolle spielen Geschlechterunterschiede (z. B. in Bezug auf die Verteilung von Sorgearbeit und damit verbundener Zeitverwendungsmuster, Schöneck 2019; ↗ Geschlecht) für eine biografische Dimensionierung von Muße? Außerdem tritt die eigene Lebenszeit als limitierender zeitlicher Rahmen für die Realisierung des ‚guten Lebens‘, und damit auch für Muße, in den Fokus. Menschen und ihre Mußekonzepte und -erfahrungen sind „in ein Netz verschiedener Zeithorizonte verwoben, die gewiß Interdependenzen aufweisen, aber doch zugleich spezifische Eigenständigkeiten besitzen“ (Alheit 1988: 371). Neben (Kultur-)Geschichte und Biografie stellt die (jeweilige) Gegenwart mit ihren gelebten Alltagen einen weiteren relevanten zeitlichen Bezug für Muße dar



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(2). Für die Zeit, in der auch dieser Beitrag entsteht, gibt es je nach Perspektive und Intention verschiedene sozial- und kulturwissenschaftliche „Gegenwartsdiagnosen“ (Alkemeyer/Buschmann/Etzemüller 2019), die jeweils auf bestimmte kulturelle und soziale Charakteristika der Gegenwart abheben und aus ihnen Gesellschaftsdiagnosen ableiten. So ist z. B. die Rede von der Zweiten Moderne (Beck 1986), dem Anthropozän (Latour 2017), der Postwachstumsgesellschaft (Seidl 2010), dem Postfordismus (Dengel 1997), der Postdemokratie (Crouch 2011) oder der „Müdigkeitsgesellschaft“ (Han 2012) – um hier sehr kursorisch einige der bekanntesten aktuellen Gegenwartsanalysen zu nennen. Gesellschaftliche und individuelle Zeitvorstellungen und Zeitpraktiken stellen für diese Gegenwartsdiagnosen des 21. Jahrhunderts wichtige Forschungsgegenstände dar, Zeit tritt in ihnen als Analysedimension auf. Wie die Kulturanthropologin Laura Wehr feststellt, habe der „Umgang mit Zeit den Status des Selbstverständlichen verloren“, „ist das Nachdenken darüber, in welchen individuellen und gesellschaftlichen Zeitordnungen wir leben (wollen) und wie wir mit Zeit umgehen (sollen), zu einer kulturellen Sinnfrage geworden, die Wissenschaft, Politik, Gesellschaft und Medien beschäftigt“ (Wehr 2009: 9). In gesellschaftlichen und (populär‑)wissenschaftlichen Debatten wird Zeit gegenwärtig in ihren Erscheinungsformen und Auswirkungen reflektiert und problematisiert. Sie wird dabei in Bezug zu Transformationen in ↗ Arbeit, Alltag, Technik, Subjekt- und Weltverständnissen gesetzt. Zeitökologie als Pfeiler einer Postwachstumsgesellschaft (Reheis 2019) und Zeitökonomie, verstanden als Haushalten mit Zeit in Alltag und Wirtschaft (Priddat/Rauen 2017), bilden hierfür wesentliche Ansatzpunkte. Auf dem Feld der Zeitpolitik ringen unterschiedliche Akteur:innen um die Wiederaneignung der Zeit, so z. B. Gesetzgeber und Gewerkschaften in Bezug auf das Renteneintrittsalter oder zivilgesellschaftliche Initiativen wie der Verein zur Verzögerung der Zeit oder Die Glücklichen Arbeitslosen, die sich für eine Aufwertung verlangsamter und arbeitsfreier Zeit einsetzen. Die Probleme der Zeit (im Sinne von Gegenwart), z. B. der gesteigerte Verbrauch natürlicher Ressourcen, gehen in diesen Diagnosen mit Zeitproblemen einher: Zeit wird als Zeitmangel, als entfremdete und beschleunigte Zeit gesellschaftlich und individuell pathologisch. Zeitmangel, so Anna Sennefelder, sei „nicht als ein spezifisch postmodernes oder modernes Problem zu verstehen, sondern lediglich als ein im Verhältnis zu anderen Epochen in der Postmoderne besonders intensiv und wissenschaftsübergreifend reflektiertes“ (Sennefelder 2018: 13). Besonders die Diagnose der Beschleunigung (Rosa 2014; Virilio 1992) wird in Lesarten der Gegenwart häufig herangezogen, um soziale, technologische und alltägliche Veränderungen zu beschreiben. Bei der „Beschleunigung des Lebenstempos“ (Rosa 2014: 198) handle es sich laut Hartmut Rosa um eine subjektive Zeiterfahrung, „bei der die Steigerung der Handlungsmengen die Steigerung der Bewältigungsgeschwindigkeit übersteigt“ (Rosa 2014: 214). In ihren Folgewirkungen könne eine zunehmende Beschleunigung dazu führen,

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dass die Welt zunehmend als zu schnell und überfordernd erlebt werde (Rosa 2014: 45; Sennett 2010). Hier deutet sich ein moderner Freiheitsbegriff an, laut dem ↗ Freiheit nicht zu mehr Muße führt, sondern im Gegenteil durch die Fülle an zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen Beschleunigung befördert werde. In der Gegenwart, so stellen es sowohl wissenschaftliche (z. B. arbeitspsychologische) als auch mediale Diskurse fest, nehmen viele Menschen ihre alltägliche Lebensführung als hektisch und erschöpfend wahr: Entgrenzte Arbeitsarrangements sowie das anstrengende Austarieren von Erwerbs-, Sorgearbeit und freier Zeit verunmöglichen nachhaltige Erholung, die ‚Work-Life-Balance‘ stimmt nicht, die „Zeitkrankheit“ (Bröckling 2014: 179) Burnout, den man als Leiden an der Zeit in einer spezifischen Gegenwart definieren kann, droht. In solchen kritischen Diagnosen gegenwärtiger Zeitprobleme ist von Muße im Alltag keine Spur – so die überspitzt dargestellte eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite nehmen bereits seit mehreren Jahrzehnten Debatten um Zeitwohlstand an Fahrt auf, in denen ein selbstbestimmtes Verfügen über Zeiträume und Zeitgestaltung als zentrales Merkmal einer neuen Wohlstandskategorie festlegt werden soll (Hörning/Gerhard/Michailow 1998; Konzeptwerk Neue Ökonomie 2014; Rinderspacher 2002). Entschleunigungsversuche, die sich in so vielfältigen Formen wie Pilgerreisen, digital detox oder dem Entrümpeln der eigenen Wohnung zeigen, und die Betonung von Eigenzeit, als Versprechen einer Rückkehr zur ‚inneren Uhr‘ und eines Lebens im eigenen Tempo (Nowotny 1989), lassen sich in diesen Zusammenhang einordnen. Diese Ansätze sollen Möglichkeiten eröffnen, die Zeit wieder ‚in den Griff zu bekommen‘, indem man sich „aus dem gesellschaftlich diktierten Zeitstrom des Alltags“ herauszieht, wodurch das „Wohlbefinden merklich erhöht“ werden könne (Hörning/Gerhard/Michailow 1998: 158). Muße tritt in diesem Kontext als ersehntes Mittel gegen die Zumutungen der Gegenwart auf den Plan, sie erscheint als „Effekt von oder als Gegenreaktion auf Beschleunigungserfahrungen“ (Tauschek 2020: 221). Muße steht für die Suche nach Zeitrhythmen, die den Bedürfnissen des Menschen entsprechen (Drascek 2000: 61), und sie stellt gleichzeitig eine (zumindest lose) Form und einen Begriff zur Verfügung, die diesen Anspruch auf Eigenzeit realisierbar machen sollen. Sie bedient ein „Bedürfnis nach freier und gleichzeitig sinnhaft genutzter Zeit, das mit dem Gefühl von Entfremdung durch Erwerbsarbeit und einem kontinuierlich wachsenden Leistungsdruck einhergeht“ (Tauschek 2020: 221). Mit dem Bedürfnis und der Nachfrage nach Muße als Kompensation negativer Zeiterfahrungen in der Gegenwart geht das Aufkommen eines mittlerweile stark ausdifferenzierten Marktes einher, dessen Angebote und Produkte einen veränderten Umgang mit Zeit versprechen und dabei auf Muße als Konzept zurückgreifen. Ein prägnantes Beispiel dafür sind Kursangebote, in denen Menschen anhand von Techniken wie Meditation oder Waldbaden Muße (wieder) lernen wollen (↗ Achtsamkeit). Die Teilnehmenden sollen zeitliche Strukturen



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und deren Auswirkungen auf den eigenen Alltag erkennen, damit verbundene Gedanken und Gefühle reflektieren und im Kurs einen alternativen Umgang mit Zeit erleben (Wilke 2020). Die Art und Weise, wie die Beziehung von Muße und Zeit gesellschaftlich gegenwärtig beurteilt wird, verdeutlicht, dass gerade in diesem Verhältnis Chancen und Potenziale für ein lebenswertes Leben und positive soziale, kulturelle, politische, ökonomische und ökologische Entwicklungen gesehen werden. Durch eine bestimmte Rahmung, die Muße anhand von z. B. gesellschaftlicher Anerkennung, rechtlichen Regelungen und finanziellen Freiheiten als wertvoll und erstrebenswert markiert, entstehen überhaupt erst die strukturellen Möglichkeiten für Muße. Verfügbare und gestaltbare Zeit spielt hierbei als Ressource für Muße eine wichtige Rolle. Neben Chancen und Potenzialen macht die Analyse des Verhältnisses von Muße und Zeit aber auch gesellschaftliche Ungleichheiten – und damit verbunden eine ungleiche Verteilung von Mußepotenzialen – sichtbar: Muße muss man sich zeitlich und direkt daran geknüpft auch finanziell leisten können. Sie steht nicht jedem Menschen selbstverständlich und in gleichem Maße zur Verfügung, sondern muss vielmehr – durchaus konfliktreich und prekär – ausgehandelt und angeeignet werden. Das bedeutet, dass gesellschaftliche Rahmungen Muße gleichzeitig ermöglichen und ihre Verfügbarkeit für das Individuum reglementieren (↗ Einleitung). Diese Spannung fordert die Analyse dazu heraus, den Blick darauf zu richten, wie Menschen auch unter widrigen Bedingungen handlungsmächtig Zeiträume für Muße nutzen. Muße kann so transgressiv gegen ihre Voraussetzungen wirken und in der Erfahrung der Akteur:innen gerade als Subversion gesellschaftlicher Bestimmungen auftreten. Der Zeit der Muße werden gesellschaftlich ebenso wie analytisch bestimmte Eigenschaften und Potenziale sowie ein bestimmtes Erleben zugeschrieben, die sie – besonders vor dem Hintergrund ihrer Prekarität im Alltag – in hohem Maße ersehnenswert erscheinen lassen (3). Muße wird – v. a. in der Vorstellung, aber auch im Erleben  – als zeitlich begrenzter Ausstieg aus einer als überfordernd wahrgenommenen Alltagswelt gesehen. Sie stellt eine Gegenerfahrung zu gesellschaftlichen Zumutungen dar; in ihr ist der Mensch sich selbst, seinem Körper, seiner Arbeit oder der Natur nicht länger entfremdet. Die Mußezeit verspricht eine Entlastung von Leistungsansprüchen. Sie enthält weniger zielorientiertes Handeln und eröffnet damit einen Möglichkeitsraum für Unbestimmtes, Unerwartetes, Überraschendes. In ihr ist es möglich, einmal ‚aus der Rolle zu fallen‘ und jemand anderes zu sein, was eine entlastende Funktion haben kann (↗ Gesellschaft). Sie wird durch eine Freiheit von (zeitlichen) Zwängen bestimmt und ist durch die Offenheit ihrer Ausfüllung gleichzeitig unbestimmt. Die Mußezeit stellt eine Form von Eigenzeit dar, die nach persönlichen Bedürfnissen und im eigenen Tempo gestaltet werden kann. Sie unterscheidet sich dadurch von der ↗ Freizeit, dass sie weder zeitstrukturell der Arbeit gegenübergestellt noch in der Erlebensdimension durch die Regeneration von Arbeitskraft bestimmt ist.

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Auf die Frage, wie Zeit in Muße wahrgenommen und erlebt wird, kann es keine allgemeingültigen Antworten geben. Muße stellt immer eine Kombination aus Erleben und Erfahren, also aus sinnlich-körperlich-emotionalen Prozessen und deren (retrospektiver) Deutung als Muße, dar. Erleben und Erfahren sind selbst wiederum von kulturellen Mustern und situativen Kontexten geprägt. Bei Muße handelt es sich grundsätzlich um eine spezifische Qualifizierung zeitlicher Erfahrung, die sich besonders aus ihrer „Abgrenzung zu anderen Zeiterfahrungen“ (Tauschek 2020: 222) ergibt. Sie fühlt sich gerade nicht an wie Langeweile oder Zeitdruck, kann aber in diese umschlagen. Das Erleben von Muße hat eine zeitliche Dimension, lässt sich doch fragen und ggf. bestimmen, wann und wie Warten in Muße oder Muße in Langeweile umschlägt und wer wann warum welches Erleben wie benennt. Die Einordnung einer Situation oder Begebenheit als Muße oder mußevoll ist selbst zeitlich bestimmt: Erst wird eine Situation auf eine bestimmte Weise erlebt (z. B. als subjektiv gestaltbare, freie Zeit), dann wird das Erlebte durch Beurteilung und Einordnung verarbeitet und durch die Deutung als Muße in eine ↗ Erfahrung transformiert. Diese Kennzeichnung ist abhängig von den prädikativen Zuschreibungen (z. B. ‚wertvoll‘, ‚erfüllend‘), die diskursiv verfügbar und sozial sinnvoll sind. Bei der Entstehung von Mußeerfahrung muss gefragt werden, welche Differenzkategorien (Alter, Geschlecht, Klasse usw.) hier zum Tragen kommen und die Markierung eines Erlebens als Muße begünstigen oder verhindern. In einigen philosophischen und phänomenologischen Ansätzen wird Muße als „Erfahrungsraum“ verstanden, „in dem das Diktat einer getakteten, drängenden Zeit zumindest vorübergehend aufgehoben ist“ (Gimmel/Keiling 2016: 2; Hervorhebung im Original). Das Verhältnis der Einzelperson zur Zeit verändert sich: Das Nacheinander der Zeit wird in Muße weniger dominant erlebt, Simultaneität und Zeitentlastung treten an die Stelle der Sukzessionserfahrung. Die Zeit drängt dann nicht mehr; die Zwänge der Uhr und des Kalenders verlieren an Bedeutung. Man verweilt, statt planend sich selbst voraus zu sein und fortwährend an das Zukünftige zu denken. Im Verweilen tritt das Nacheinander der Zeit zurück, während der Raum mit seinen Ordnungen des Nebeneinander bestimmend wird (Figal/Hubert/ Klinkert 2016b: 1).

Dieses „freie Verweilen in der Zeit“ (Hasebrink/Riedl 2014a: 3; Hervorhebung im Original) kann Zeitwahrnehmung in Muße einerseits verblassen lassen, sie andererseits auch intensivieren. Das Zeiterleben in Muße kann jenem eines flow-Erlebnisses nahekommen, wenn der tätige Mensch ganz im Hier und Jetzt aufgeht und eine Art Zeitvergessenheit einsetzt; statt der Zeit- verstärkt sich die Raumwahrnehmung (↗ Raumzeitlichkeit). Verschiedene Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs haben sich mit dem Erleben von Zeit in Muße befasst. So fragte ein psychologisches Teilprojekt nach dem Zeiterleben während des Wartens in Mußeräumen (Ehret/Truken-



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brod/Thomaschke 2021) und in Kooperation mit einem forstwissenschaftlichen Teilprojekt nach Zeitwahrnehmung in der Natur (Ehret/Roth/Zimmermann/ Selter/Thomaschke 2020). Ein weiterer Zugang zum Zeiterleben in Muße erfolgte in einem ethnologischen Teilprojekt über die Analyse der Bedeutung von Rhythmus für Mußeerleben im Rahmen einer als potenziell mußevoll erlebten Arbeit (Dobler 2016). Muße wird je nach Kontext durch bestimmte Zuschreibungen und ein bestimmtes Erleben definiert und begrenzt, sie weist aber gleichzeitig durch ihre möglichen Auswirkungen auch über sich hinaus, so dass ihre Grenzen durchlässiger werden – sie ist transgressiv (4). In Muße werden Selbst- und Weltverhältnisse erlebt und erprobt, die (noch) kein selbstverständlicher Teil des Alltags sind. Eine Erforschung von Muße muss immer auch in den Blick nehmen, welche Effekte die Mußezeit auf die Zeit (im doppelten Sinne von Gegenwart und Zeitwahrnehmung), den Alltag, die gewohnten Strukturen und Abläufe außerhalb der Muße haben kann und wie sich diese Effekte fassen lassen. Hier zeigt sich der transgressive Charakter von Muße: Dadurch, dass sie Alltag, Leben und Gesellschaft reflektierbar macht, können in Muße entwickelte, innovativ-kreative Ideen und Erfahrungen (↗ Kreativität) die Grenzen der in Muße verbrachten Zeit überschreiten und außerhalb von dieser Revisionen im Deuten und Handeln anregen. Wie will ich arbeiten? Was ist ‚sinnvoll‘ genutzte Zeit? Wie kann eine Gesellschaft aussehen, deren oberste Maximen nicht Wachstum, Effizienz und Profit sind? Wie verändert sich Muße, wenn sie nicht (mehr) als Reaktion auf Zwänge erlebt wird (Tauschek 2020: 226)? Diese beispielhaft aufgeworfenen Fragen sind eng mit Muße verbunden und weisen gleichzeitig weit über sie hinaus. Es geht in ihnen um gesellschaftliche und persönliche Transformationen, die Antworten auf Problemstellungen und Ideen für eine lebenswerte, ökologisch vertretbare Zukunft liefern sollen. „Wenn ich mal Zeit und Muße habe …“ – Diese alltagssprachliche Wendung bildete den Startpunkt für eine Untersuchung des Verhältnisses von Muße und Zeit, das sich als zugleich intuitiv verständlich und komplex erweist. Muße und Zeit bilden – ähnlich wie Muße und Arbeit – einen eingängigen Konnex. Muße ist mit dem Attribut ‚freie Zeit‘, wie in diesem Beitrag dargelegt, jedoch nur unzureichend bestimmt. So zeigt das ‚und‘ in der Verbindung von Muße und Zeit, dass die beiden Konzepte jeweils eigene theoretische Dimensionen enthalten und andererseits immer in einem Wechselverhältnis stehen. Aufgrund ihrer elementaren Bedeutung sowohl für die Erfahrungsdimension als auch für die gesellschaftliche Relevanz von Muße ist es analytisch wertvoll, Zeit als Dimension in die Beschäftigung mit Muße miteinzubeziehen.

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