Moritz Goldstein "Künden, was geschieht...": Berlin der Weimarer Republik - Feuilletons, Reportagen und Gerichtsberichte 9783110274400, 9783110274332

The Jewish author and journalist Moritz Goldstein (1880–1977) lived in Berlin until he emigrated in 1933. This is the fi

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Moritz Goldstein "Künden, was geschieht...": Berlin der  Weimarer Republik -  Feuilletons, Reportagen und Gerichtsberichte
 9783110274400, 9783110274332

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Stadtbilder. Berliner Reportagen und Feuilletons
Freibad Groß-Berlin
Die aufgerollte Anschlagsäule
Rathenaus Staatsbegräbnis
Straßenbahn-Revolution
Der viermillionste Berliner
Landestrauer
Unter den Kuriositäten der »Passage«
Von morgens bis mitternachts
Blick von der Siegessäule
Lebt das Berliner Schloß noch?
Ein Gefallener
Papier
Rund um die Revuen
Der Abschied vor dem Reichstag
Der Park der Enttäuschten
Der Kampf der Flaggen
Plädoyer für den Kanal
500 Konditoren und keine Konditoreien
Wo lebt die Möwe?
Sonja Nummer zehn
Spanisches Obst
Landpartie
Wettlauf mit dem Tode
Charleston
Mit dem Staubsauger im Grunewald
Contra-Tartüffe
Was will Berlin mit einer Saison?
Titania-Palast
Auf den Stühlen
Tonfilm am Alexanderplatz
Gesinnungsbettelei
Zwist in der Schaubude
Marke Balilla
Näheres beim Portier
Das Spielen der Kinder
Warme Sonne
Der Wald des Mißvergnügens
Bänke am Leipziger Platz
Disziplin am Funkturm
Aufgang nur für Herrschaften
Schilder auf Vorrat
»Schlimmer kann es nicht werden«
Abgebautes Freikonzert
Alte Frau mit Möbeln
Weltflucht in Berlin
Das Streichholz
Gefährliche Zeiten
Landfriedens-Tauben
Spiel im Friedrichshain
Steuerkarte 1933
Frühlingsboten
Wie wir es sehen
»Aus den Berliner Gerichten« Gerichtsfeuilletons über kleine Prozesse
»Schlechte Zeiten« – Kleine Sünder
Frau Warrens Gewerbe
Rechenaufgabe
Der getretene Wurm
Schwere Jungen
Eine unbeglaubigte Frau
Reinhardts Page
Der schlechte Eindruck
Heereslieferungen
Wege der Liebe
Zehn Mark wöchentlich
Hüben und drüben
Der Bruderkuß
Vernehmung
Der schuldige Teil
Enttäuschungen
Der soziale Staat
»So leid es mir tut«
Theater
Kein Scheidungsprozeß
Der Weg des Todes
Das Kind auf dem Papier
Bandendiebstahl
Glücksspiel
Der Dreigroschen-Film
Der Mittelstreckenläufer
Der feldgraue Mantel
Der Relativsatz
Konjunktur in Waffen
Schlechte Zeiten
Die strenge Methode
Leben mit Grundsätzen
Räuberherzen
Der Mann, der es nicht einsehen wollte
Vater Richter
Was heißt »noch«?
Der falsche Verdacht
Die schneidige Methode
Satt werden
Der Sperling auf dem Dache
Das Lied vom braven Mann
Kleinstaaterei
Novembersonntag
Ein deutscher Meister
»Eid bleibt Eid« – Vereidigungen vor Gericht
Offenbarungseid
Ist Dummheit ein Verbrechen?
Eid bleibt Eid
Der weltliche Eid
Reinigungseid
Vier zu drei
Der Name Gottes
Verbrechen aus Mitleid
Der neue Kopf
Der Eid des Kameraden
»Am Rande der Gerechtigkeit« – Justiz
Die Weisheit der Unweisen
Die obere Hälfte
Bewährungsfrist
Der verlassene Sünder
Leidenschaften
Psychoanalyse
Dienstlicher Ausgang
»Führen Sie ihn ab«
Was ist in Tegel los?
Die Milde des Gesetzes
Bitte lauter
Besorgnis der Befangenheit
Genügt das?
Noch nicht!
Am Rande der Gerechtigkeit
Fragen und Erklären
Die Gereiztheit der Leute
Verständigung mit Juristen
Frische Luft in Moabit
Aha!
Der verbotene Abschied
»Elend und Bürgerkrieg« – Politik, Gewalt, Straßenkämpfe
Politik des Kinnhakens
Gespenster
Feinde der Republik
Jäger Runge
Elend und Bürgerkrieg
Der Jurist auf dem Balkon
Schauerliche Zeit
Die angemessene Strafe
Die Zeugin, die gesehen hat
Die Rückkehr aus Rußland
Hungermarsch
Der Adelsbrief
Gerichtsberichte über größere Prozesse
Politik
Im Schutz der Schutzpolizei
Mai-Schnellgericht
Der Jägerhut
Uebungen in der Demokratie
Eden-Hotel
Zuchthausanträge gegen die Röntgentaler Nationalsozialisten
Strenge Begründung – milde Strafe
Prozeß Jorns und kein Ende
Besuch beim Jorns-Prozeß
Die Arbeit der Maulwürfe
Zuchthaus für die Silvester-Bluttat
Hat Hitler »Polizeispitzel« gesagt?
Der Prozeß gegen die vier Abgeordneten
Belastete Belastungszeugen
Justiz
Mein Bekannter, der Vorsitzende
Es gibt keine Verbrecher
Die Würde des Gerichts
Ein Gefängniswärter erzählt
Stehlen oder Betteln
Die Schuldigen, die nicht entdeckt worden sind
Was kostet ein Menschenleben?
Sondergericht
Wer darf schwören?
Die Kaffee-Einladung
Gerichtsberichte über große Prozesse
Zwei Giftmischerinnen vor Gericht. Ein Kriminal- oder ein Sexualfall? (März 1923)
Zwei Giftmischerinnen
Das Urteil gegen die Giftmischerinnen
»George Grosz freigesprochen« Ein Gerichtsfall aus dem Bereich der Kunst-Zensur (1928–1931)
George Grosz freigesprochen
Die berufenen Vertreter
George Grosz freigesprochen
Ringverein »Immertreu«. Ein Gerichtsfall aus dem Milieu der Berliner Unterwelt (Februar 1929)
Sportklub Immertreu 1921
Zweiter Tag des »Immertreu«-Prozesses
»Immertreu« mit Hindernissen
Die Strafanträge gegen »Immertreu«
Mildes Urteil gegen »Immertreu«
Zuletzt: Immertreu
Der Tod des Horst Wessel. Ein politischer Mord oder ein Mord aus Eifersucht? (September 1930)
Wer ist schuld an Wessels Tod?
Leben im Proletariat
Die Braut des Studenten Wessel
Urteilsspruch im Wessel-Prozeß
Der Sklarek-Prozess. Korruption in der Berliner Gesellschaft (März 1931 bis Februar 1932)
»Sekt aus Kübeln«
Leo, Willi und Max
Der Bürgermeister von Köpenick
Die fertig bezogene Korruption
Bilder aus dem deutschen Familienleben
Zeuge Böß
Das Ende eines Mannes
Die Wut der Sklareks
Die Sklareks und die Zangemeisters
Unvereidigt
Schlechte Zensur
Im Sklarek-Prozeß sprechen die Ankläger
Der Skandal
Noch ein Sklarek-Opfer
Graf Helldorf und die Kurfürstendamm-Krawalle. Ein politischer Prozess (September 1931 bis Februar 1932)
»Klamauk« am Kurfürstendamm
Zwei Welten
Landgerichtsdirektor Schmitz abgelehnt
Die unerwünschten Kurfürstendamm-Krawalle
Der Plan der Planlosen
Stolz und aufrecht
Der enthüllte Kurfürstendamm-Plan
Die Plädoyers im Helldorf-Prozeß
Zauberlehrling vom Kurfürstendamm
Zum drittenmal: Kurfürstendamm-Prozeß
Politisches Theater vor Gericht
Graf Helldorf freigesprochen
Personenregister
Literaturverzeichnis
Bildnachweise

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Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung

Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung Band 66 Herausgegeben von Hans Bohrmann und Gabriele Toepser-Ziegert Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund

De Gruyter Saur

Moritz Goldstein »Künden, was geschieht …« Berlin in der Weimarer Republik Feuilletons, Reportagen und Gerichtsberichte

Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Irmtraud Ubbens

De Gruyter Saur

Mit freundlicher Unterstützung durch den Anwalt- und Notarverein Dortmund e. V.

ISBN 978-3-11-027433-2 e-ISBN 978-3-11-027440-0 ISSN 0417-9994 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Vorwort Einleitung

13 17

Stadtbilder Berliner Reportagen und Feuilletons Freibad Groß-Berlin Die aufgerollte Anschlagsäule Rathenaus Staatsbegräbnis Straßenbahn-Revolution Der viermillionste Berliner Landestrauer Unter den Kuriositäten der »Passage« Von morgens bis mitternachts Blick von der Siegessäule Lebt das Berliner Schloß noch? Ein Gefallener Papier Rund um die Revuen Der Abschied vor dem Reichstag Der Park der Enttäuschten Der Kampf der Flaggen Plädoyer für den Kanal 500 Konditoren und keine Konditoreien Wo lebt die Möwe? Sonja Nummer zehn Spanisches Obst

37 39 41 43 44 46 49 56 59 65 69 71 73 77 79 82 84 88 91 92 94

6

Landpartie Wettlauf mit dem Tode Charleston Mit dem Staubsauger im Grunewald Contra-Tartüffe Was will Berlin mit einer Saison? Titania-Palast Auf den Stühlen Tonfilm am Alexanderplatz Gesinnungsbettelei Zwist in der Schaubude Marke Balilla Näheres beim Portier Das Spielen der Kinder … Warme Sonne Der Wald des Mißvergnügens Bänke am Leipziger Platz Disziplin am Funkturm Aufgang nur für Herrschaften Schilder auf Vorrat »Schlimmer kann es nicht werden« Abgebautes Freikonzert Alte Frau mit Möbeln Weltflucht in Berlin Das Streichholz Gefährliche Zeiten Landfriedens-Tauben Spiel im Friedrichshain Steuerkarte 1933 Frühlingsboten Wie wir es sehen

95 96 99 101 104 106 109 113 116 118 120 122 124 127 129 131 134 136 138 139 141 143 144 146 148 150 151 153 155 157 159

7

»Aus den Berliner Gerichten« Gerichtsfeuilletons über kleine Prozesse »Schlechte Zeiten« – Kleine Sünder Frau Warrens Gewerbe Rechenaufgabe Der getretene Wurm Schwere Jungen Eine unbeglaubigte Frau Reinhardts Page Der schlechte Eindruck Heereslieferungen Wege der Liebe Zehn Mark wöchentlich Hüben und drüben Der Bruderkuß Vernehmung Der schuldige Teil Enttäuschungen Der soziale Staat »So leid es mir tut« Theater Kein Scheidungsprozeß Der Weg des Todes Das Kind auf dem Papier Bandendiebstahl Glücksspiel Der Dreigroschen-Film Der Mittelstreckenläufer Der feldgraue Mantel Der Relativsatz Konjunktur in Waffen Schlechte Zeiten Die strenge Methode Leben mit Grundsätzen Räuberherzen Der Mann, der es nicht einsehen wollte

163 165 167 169 173 175 177 178 180 182 184 186 187 189 191 192 195 197 199 201 202 204 206 207 210 212 213 215 216 217 219 221 223

8

Vater Richter Was heißt »noch«? Der falsche Verdacht Die schneidige Methode Satt werden Der Sperling auf dem Dache Das Lied vom braven Mann Kleinstaaterei Novembersonntag Ein deutscher Meister

225 227 228 230 232 233 235 237 239 241

»Eid bleibt Eid« – Vereidigungen vor Gericht Offenbarungseid Ist Dummheit ein Verbrechen? Eid bleibt Eid Der weltliche Eid Reinigungseid Vier zu drei Der Name Gottes Verbrechen aus Mitleid Der neue Kopf Der Eid des Kameraden

243 245 246 248 250 251 253 254 256 257

»Am Rande der Gerechtigkeit« – Justiz Die Weisheit der Unweisen Die obere Hälfte Bewährungsfrist Der verlassene Sünder Leidenschaften Psychoanalyse Dienstlicher Ausgang »Führen Sie ihn ab« Was ist in Tegel los? Die Milde des Gesetzes

259 261 263 264 266 268 270 273 275 277

9

Bitte lauter Besorgnis der Befangenheit Genügt das? Noch nicht! Am Rande der Gerechtigkeit Fragen und Erklären Die Gereiztheit der Leute Verständigung mit Juristen Frische Luft in Moabit Aha! Der verbotene Abschied

278 279 281 283 285 287 289 291 293 294 296

»Elend und Bürgerkrieg« – Politik, Gewalt, Straßenkämpfe Politik des Kinnhakens Gespenster Feinde der Republik Jäger Runge Elend und Bürgerkrieg Der Jurist auf dem Balkon Schauerliche Zeit Die angemessene Strafe Die Zeugin, die gesehen hat Die Rückkehr aus Rußland Hungermarsch Der Adelsbrief

299 301 302 305 308 310 311 313 315 318 320 322

Gerichtsberichte über größere Prozesse Politik Im Schutz der Schutzpolizei Mai-Schnellgericht Der Jägerhut Uebungen in der Demokratie

327 331 333 335

10

Eden-Hotel Zuchthausanträge gegen die Röntgentaler Nationalsozialisten Strenge Begründung – milde Strafe Prozeß Jorns und kein Ende Besuch beim Jorns-Prozeß Die Arbeit der Maulwürfe Zuchthaus für die Silvester-Bluttat Hat Hitler »Polizeispitzel« gesagt? Der Prozeß gegen die vier Abgeordneten Belastete Belastungszeugen

339 343 345 347 350 354 356 359 363 367

Justiz Mein Bekannter, der Vorsitzende Es gibt keine Verbrecher Die Würde des Gerichts Ein Gefängniswärter erzählt Stehlen oder Betteln Die Schuldigen, die nicht entdeckt worden sind Was kostet ein Menschenleben? Sondergericht Wer darf schwören? Die Kaffee-Einladung

371 373 375 377 380 382 384 387 389 391

Gerichtsberichte über große Prozesse Zwei Giftmischerinnen vor Gericht Ein Kriminal- oder ein Sexualfall? (März 1923) Zwei Giftmischerinnen Das Urteil gegen die Giftmischerinnen

397 400

11

»George Grosz freigesprochen« Ein Gerichtsfall aus dem Bereich der Kunst-Zensur (1928–1931) George Grosz freigesprochen Die berufenen Vertreter George Grosz freigesprochen

405 409 411

Ringverein »Immertreu« Ein Gerichtsfall aus dem Milieu der Berliner Unterwelt (Februar 1929) Sportklub Immertreu 1921 Zweiter Tag des »Immertreu«-Prozesses »Immertreu« mit Hindernissen Die Strafanträge gegen »Immertreu« Mildes Urteil gegen »Immertreu« Zuletzt: Immertreu

413 416 419 423 425 428

Der Tod des Horst Wessel Ein politischer Mord oder ein Mord aus Eifersucht? (September 1930) Wer ist schuld an Wessels Tod? Leben im Proletariat Die Braut des Studenten Wessel Urteilsspruch im Wessel-Prozeß

431 434 436 439

Der Sklarek-Prozess Korruption in der Berliner Gesellschaft (März 1931 bis Februar 1932) »Sekt aus Kübeln« Leo, Willi und Max Der Bürgermeister von Köpenick

443 447 450

12

Die fertig bezogene Korruption Bilder aus dem deutschen Familienleben Zeuge Böß Das Ende eines Mannes Die Wut der Sklareks Die Sklareks und die Zangemeisters Unvereidigt Schlechte Zensur Im Sklarek-Prozeß sprechen die Ankläger Der Skandal Noch ein Sklarek-Opfer

453 455 457 459 461 463 465 467 468 470 473

Graf Helldorf und die Kurfürstendamm-Krawalle Ein politischer Prozess (September 1931 bis Februar 1932)

477

»Klamauk« am Kurfürstendamm Zwei Welten Landgerichtsdirektor Schmitz abgelehnt Die unerwünschten Kurfürstendamm-Krawalle Der Plan der Planlosen Stolz und aufrecht Der enthüllte Kurfürstendamm-Plan Die Plädoyers im Helldorf-Prozeß Zauberlehrling vom Kurfürstendamm Zum drittenmal: Kurfürstendamm-Prozeß Politisches Theater vor Gericht Graf Helldorf freigesprochen

478 480 482 484 487 489 491 493 497 499 501 505

Personenregister Literaturverzeichnis Bildnachweise

511 517 519

Vorwort

Gerichtsberichterstattung war bis dahin ohne jeden literarischen Ehrgeiz abgemacht worden. Er zuerst gab ihr Niveau und sogleich das des höchsten Anspruches. Er zuerst zeigte den Angeklagten als einen Menschen nicht nur, sondern als deinen und meinen Mitmenschen. Er zuerst sah und enthüllte das Menschliche auch in den gerichtlichen Amtspersonen. So, während er fortfuhr, Berlin zu schreiben, wuchsen seine Anekdoten zu Enthüllungen der Kreatur, wie sie von einem unerforschlichen Schicksal bald in die Rolle des Gerichteten, bald in die des Richters gedrängt wird. Täglich breitete er seine Moabiter Fälle aus, gelegentlich auch Fälle der Provinz, die abwechselnd Fälle des Sünders oder des Richters oder des Anklägers oder des Verteidigers waren. Niemals bei aller Sachlichkeit begnügte er sich mit dem trockenen Bericht, sondern er durchleuchtete das Stückchen Leben mit Geist oder milderte seine Krassheit, durch Humor, und hielt jeder Schwachheit und Unzulänglichkeit ein menschenfreundliches Verständnis bereit.1

So beschreibt Moritz Goldstein den Schreibstil Paul Schlesingers, der unter dem Pseudonym Sling bei der »Vossischen Zeitung« sein Vorgänger war. Tatsächlich lässt sich so ebenfalls der Stil Goldsteins charakterisieren, dessen Gerichtsberichte und Gerichtsfeuilletons im vorliegenden Band dokumentiert werden. Rückblickend stellte er fest: »Am 25. Juni 1928 schrieb ich meinen ersten Gerichts-Inquit ›Banderolen‹, der am nächsten Tag erschien. Damit begannen die fünf besten Jahre meines Lebens.«2 1 Goldstein, Moritz: Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933. Hg.: Kurt Koszyk. München: Verlag Dokumentation 1977 (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Nr. 25.), S. 122. 2 A. a. O., S. 124.

14

Gabriele Toepser-Ziegert

Als Moritz Goldstein 1948 diese Bilanz zog, war er 68 Jahre alt und hatte noch knapp 30 weitere Lebensjahre vor sich. Er war gerade in die USA emigriert, nachdem er 1933 Deutschland hatte verlassen müssen und über den Umweg Italien und Großbritannien schließlich Europa den Rücken gekehrt hatte. Zeit seines Lebens haderte er mit dem Schicksal, kein bedeutender Dramatiker geworden zu sein, doch aus heutiger Sicht beinhalten die anschaulichen Texte aus den späten 20er Jahren weit mehr Atmosphäre des unruhigen Berlins im politischen Umbruch als jedes Drama. Besonders die Feuilletons lassen ahnen, mit wie viel Empathie und Anteilnahme Goldstein die Akteure vor Gericht betrachtet hat. Seine Erinnerungen wurden 1977 als erster Band einer damals nicht geplanten Trilogie in unserer Schriftenreihe »Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung« veröffentlicht. Sie erschienen Anfang Oktober. Goldstein war bereits am 3. September gestorben, hatte aber noch die Korrekturfahnen in Händen gehabt. Es ist erschütternd, in seinem von ihm selbst wohl geordneten Nachlass (der sich im Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund befindet) nachzulesen, wie sehr er sich im hohen Alter bemühte, von deutschen Verlagen publiziert zu werden, und wie viele Absagen er erhielt. Gleichzeitig erfuhr er moralische Unterstützung von emigrierten Schriftstellern, die er aus seiner Berliner Zeit kannte, wie z. B. Gabriele Tergit, die in England lebte. Irmtraud Ubbens hat 2002 zum ersten Mal sein schriftstellerisches und journalistisches Oeuvre gewürdigt und dokumentiert.3 Mit der Veröffentlichung der nuancierten Gerichtsberichtserstattung von Moritz Goldstein in all ihren amüsanten, aber auch ernüchternden bis traurigen Facetten (»Altern heißt Illusionen einbüßen«, S. 373) kommen die Juwelen nach über 80 Jahren wieder ans Licht der Öffentlichkeit. Sie können strahlen und funkeln im dritten Goldstein-Band der Schriftenreihe im 35. Jahr nach dem Tod des Autors. Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle die Stadtbilder Berlins, die Moritz Goldstein in der Rolle des Spaziergängers, des Flaneurs zeigen, der unspektakuläre Ereignisse und Erlebnisse anschaulich schildert. Er erweckt so das viel beschriebene Berliner Alltagsgeschehen der späten Weimarer Republik wieder zum Leben. Seine Beobachtungen konzentrieren sich auf Kleinigkeiten, Nebensächlichkeiten, die wie durch eine Lupe 3 Ubbens, Irmtraud: »Aus meiner Sprache verbannt …« Moritz Goldstein, ein deutschjüdischer Journalist und Schriftsteller im Exil. München: K. G. Saur 2002 (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Nr. 59).

Vorwort

15

betrachtet werden, allerdings liebevoll und mit einem Lächeln im Gesicht und nicht mit dem gestrengen Blick des Insektenforschers. Mein Dank gilt allen, die zum Zustandekommen des Bandes beigetragen haben: Frau Irmtraud Ubbens für die Auswahl und Kommentierung der Texte, Frau Karen Peter für das professionelle Lektorat und die umsichtige Bearbeitung bis hin zum Personenregister, Frau Heike Geminiani für die ausdauernde und anstrengende Korrekturtätigkeit, die durch die Bleiwüste des Frakturschrift erschwert wurde. Frau Bianca Welzing-Bräutigam vom Landesarchiv Berlin und den Mitarbeiterinnen des dortigen Fotolesesaals danken wir für die freundliche Unterstützung bei der Bildauswahl und -beschaffung. Der Anwalt- und Notarverein Dortmund e. V. hat die Bebilderung mit Fotos aus Berliner Gerichtsverhandlungen, die Leo Rosenthal als Berichterstatter für den »Vorwärts« meist heimlich gemacht hat4, ermöglicht, wofür ich sehr dankbar bin. Seit nunmehr 40 Jahren erscheinen die Bände der Schriftenreihe im Verlag Saur, jetzt de Gruyter Saur. In dieser Zeit haben sich viele gute Arbeitsbeziehungen ergeben, durch die vorprogrammierte Interessenkonflikte pfleglich behandelt und gelöst wurden. Für die langjährige Zusammenarbeit bedanken wir uns und freuen uns auf weitere gemeinsame Projekte. In einer Zeit, in der eine zunehmende Boulevardisierung der Medien zu beobachten ist, wünsche ich den ausgefeilten, mit viel Esprit und subtiler Beobachtungsgabe geschriebenen Texten, in denen auch Partei ergriffen wird, viele Leser. Dortmund, im Januar 2012

Gabriele Toepser-Ziegert

4 Zu Leben und Werk Leo Rosenthals siehe: Leo Rosenthal. Ein Chronist der Weimarer Republik. Fotografien 1926–1933. Hg.: Landesarchiv Berlin und Rechtsanwaltskammer Berlin. München: Schirmer/Mosel 2011.

Einleitung Irmtraud Ubbens

Die junge Metropole Berlin mit ihrer lebendigen kulturellen Szene zog während der Weimarer Republik viele Künstler, Architekten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten in ihren Bann. In ihren Erinnerungen werden die zwanziger Jahre gern als die »goldenen zwanziger Jahre« bezeichnet, und rückblickend wird immer wieder vom »Glanz« jener Jahre geschrieben und von dem »Glück«, das es bedeutete, damals in Berlin gelebt zu haben.1 Oft wird bei einem solchen Blick auf diese Zeit aber vergessen, dass der so hervorgehobene Glanz von kulturellen Außenseitern der Republik herkam und dass im Wesentlichen weiterhin alte Anschauungen und ein konservatives Kulturverständnis erhalten blieben. Wie aber wurden die »goldenen Jahre« von der durchschnittlichen Berliner Bevölkerung erlebt, empfand auch sie es als ein »Glück«, damals in Berlin gelebt zu haben? Wie stellten sich diese Jahre dem nüchternen zeitgenössischen Betrachter dar? Anhand der journalistischen Arbeiten von Moritz Goldstein – einem genauen Kenner Berlins, der fast täglich während der gesamten Zeit der Weimarer Republik als Journalist und Redakteur in verschiedenen Ressorts der »Vossischen Zeitung« schrieb –, soll die Zeit aus seiner subjektiven Sicht lebendig werden. Es ist eine heute fast unbekannte Stimme, die in diesen Reportagen zu hören ist. Vom »Glanz« Berlins, der so oft in den Texten über die »goldenen zwanziger Jahre« beschworen wird, ist bei Goldstein kaum etwas zu entdecken. Moritz Goldstein (1880–1977), »einer der humansten und geistreichsten Journalisten«, »eine repräsentative Figur im alten Berlin«2, wie ihn 1 Vgl.: Eggebrecht, Axel: Der halbe Weg. Reinbek: Rowohlt 1975, S. 205. 2 Kesten, Hermann: Moritz Goldstein 85 Jahre alt. In: N.Y. Staatszeitung und Herold,. 27.3.1965.

18

Irmtraud Ubbens

Hermann Kesten genannt hat, gehört zu den zu Unrecht vergessenen Journalisten der Weimarer Republik. Als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren, hat er bis zu seiner Emigration 1933 ausschließlich in Berlin gelebt.3 In seiner Jugend – geprägt durch negative Erfahrungen seiner Familie mit der Presse – hatte Goldstein es für sich ausgeschlossen, den Journalistenberuf zu ergreifen. Seine eigentliche Bestimmung sah er darin, Dramatiker zu werden. Auf diesem Gebiet blieb ihm allerdings Zeit seines Lebens ein wirklicher Erfolg versagt. Nach Abschluss eines Germanistikstudiums mit der Promotion war Goldstein von 1907 bis 1914 Herausgeber der »Goldenen Klassiker-Bibliothek« im Deutschen Verlagshaus Bong. Doch trotz seiner ablehnenden Haltung zum Journalismus hatte er schon zu dieser Zeit sporadisch Kontakte mit verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. mit dem »Berliner Börsen-Courier«, dem »Grenzboten«, dem »Kunstwart« und der »Schaubühne« geknüpft. Im März 1912 erregte Goldstein mit einem viel diskutierten Aufsatz »Deutsch-jüdischer Parnaß«4, der im »Kunstwart« erschienen war, großes Aufsehen. Hier äußerte er seinen Zweifel an einer endgültigen Integration und Assimilation der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Als besonders empörend wurde Goldsteins These empfunden: »Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Befähigung dazu abspricht.« Für diese These war er als Herausgeber einer deutschen Klassiker-Reihe selber ein Beispiel. Während des Ersten Weltkriegs war Goldstein von 1915 bis 1918 Soldat in Frankreich, wo er aber nicht der kämpfenden Truppe angehörte, sondern das Glück hatte, als Patrouillengänger, als Arbeiter beim Schanzenbau, mit Büroarbeiten und als Dolmetscher Dienst zu tun. Im November 1918 berief Georg Bernhard – damals Verlagsdirektor der Ullstein-Zeitungen – Goldstein in die Redaktion der renommierten liberalen Berliner »Vossischen Zeitung«. Dort blieb er als Redakteur und Journalist während der ganzen Zeit der Weimarer Republik und arbeitete in den Redaktionen Politik, Feuilleton, Lokales und als Gerichtsreporter bis zu seiner Entlassung und Emigration 1933. Als Schriftsteller und Journalist hat Goldstein nicht nur unter seinem eigenen Namen geschrieben, sondern benutzte auch Pseudonyme: Egon Distl (ein Anagramm) und Michael Osten; ein Beitrag erschien in der »Vossischen Zeitung« gezeichnet 3 Ausgenommen ist ein Studien-Semester in München. 4 Goldstein, Moritz: Deutsch-jüdischer Parnaß. In: Der Kunstwart. 1912, Jg. 25, 1. Märzheft, Heft 11, S. 281–294.

Einleitung

19

mit Maximilian Golz und ein anderer mit Gottlieb Mohr; zu Beginn seiner Journalistenlaufbahn zeichnete er auch mit dem Kürzel gol. Vor allem aber hat sich Goldstein mit seinem Pseudonym »Inquit«5 einen bekannten Namen gemacht. Hatte Goldstein seine Tätigkeit an der Zeitung zunächst noch als Brotberuf betrachtet, so erkannte er schon bald das Schöpferische dieses Berufes und schrieb 1919: Man sollte meinen, wenn sich Ereignisse abspielen, zum Beispiel revolutionäre Unruhen, dass sie dann ein für alle Mal geschehen sind. In Wahrheit werden sie aber erst dadurch Ereignis, dass sie von jemandem berichtet und als Bericht festgelegt werden. Und zwar bewirkt dieser Bericht nicht bloß eine bestimmte Form des Ereignisses, sondern er schafft erst das Ereignis. Ohne das Aufnehmen, Auswählen, Verknüpfen und Deuten eines schöpferischen Zeugen bleiben die Vorgänge ein Haufen sinnloser Einzelheiten, die weder erzählt noch überliefert werden können.6

Seine journalistische Arbeit begann Goldstein in der politischen Redaktion der »Vossischen Zeitung«, wohin er seiner Begabung und seinen Interessen nach jedoch nicht gehörte, da ihm – wie er sich selbst charakterisierte – die »politische Ader fehlte«7. Hier blieb er eineinhalb Jahre, wechselte dann aber nach einer dreimonatigen Krankheit im Oktober 1920 in die Feuilletonredaktion, die er vom März bis August 1921 leitete. Es war eine Arbeit, die seinen Interessen entgegen kam und die ihm Freude machte. Doch als er – wahrscheinlich wegen seiner Introvertiertheit und Zurückgezogen5 »Inquit ist lateinisch und heißt ‚sagt er’. Und zwar ist es das in direkte Rede eingeschobene ‚sagt er’.« Moritz Goldstein an eine Leserin. Brief vom 12.1.1967. Goldstein-Nachlass, Geschäftskorrespondenz Bemühungen in den USA, 1962–1968. II AK 85/103-1,3, Nr. 135. »Institut für Zeitungsforschung« in Dortmund. Da die Römer keine Anführungszeichen benutzten, wurde in den Texten das Wort »inquit« eingefügt, um die wörtliche Rede zu kennzeichnen. Vgl. George Fenwick Jones: Of Inquits. In: English Language Notes, Volume XLIII, Number 1, September 2005, S. 77. 6 Goldstein, Moritz: Formulierungen. Goldstein-Nachlass im Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund, II AK 85/192-1-19, 1919, S. 140. 7 Goldstein, Moritz: Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933. Hg.: Kurt Koszyk. München: Verlag Dokumentation 1977 (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Nr. 25).

20

Irmtraud Ubbens

heit – in der Leitung des Feuilletons durch Monty Jacobs8 abgelöst wurde, ließ sich Goldstein enttäuscht beurlauben und arbeitete nur noch als freier Mitarbeiter für die »Vossische Zeitung«. Er schrieb u. a. Filmkritiken, rezensierte Bücher und verfasste Artikel für die Reisebeilage. Im Mai 1922 trat er wieder als fest angestellter Redakteur in die Zeitung ein. Von nun an arbeitete er als Vertreter des Ressortleiters Fritz Goetz9 sechs Jahre lang in der Lokalredaktion. Hier schrieb Goldstein neben der täglichen Redaktionsarbeit Stadtreportagen, manchmal informierend und belehrend, doch weit häufiger feuilletonistisch.

Stadtbilder Literarische Stadtansichten oder Stadtbilder der Metropole waren in der Weimarer Republik ein beliebtes Sujet der Berliner Journalisten. Mit ihren Texten wollten sie nicht nur informieren, aufklären und unterhalten, sondern auch das Bedürfnis der Berliner nach Heimat und Orientierung befriedigen. Zu Beginn der zwanziger Jahre wurde diese Aufgabe besonders wichtig, da am 1. Oktober 1920 durch die Vereinigung Berlins mit den umliegenden Städten Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf, mit 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken die Viermillionenstadt »Groß-Berlin« gegründet worden war. Es war eine sehr uneinheitliche Großstadt voller sozialer und gesellschaftlicher Widersprüche entstanden. Die meisten Berliner wussten nur wenig aus eigener Wahrnehmung über ihre Viermillionenstadt, daher war das Bild, das sie sich von Berlin machten, stark geprägt durch die Berichte in unzähligen Zeitungen, die morgens, mittags und abends erschienen. Es waren vor allem die Lokalredakteure und Feuilletonisten, die die Leser mit ihrer Stadt vertraut machten. Woran wir heute denken, wenn vom Berlin der Weimarer Republik die Rede ist, sind die Bilder der Weltstadt, die prominente Schriftsteller 8 Monty Jacobs (1875–1945), deutscher Journalist und Schriftsteller engl. Herkunft. Ab 1921 Feuilletonchef der »Vossischen Zeitung«, konnte bis 1934 an der Zeitung weiterarbeiten. 1938 Emigration über die Schweiz nach Großbritannien. 9 Fritz Goetz (1876–1957), von 1904 bis 1933 beim Ullstein Verlag, u. a. Leiter der Lokalredaktion der »Vossischen Zeitung«. 1933 kam er ins KZ Dachau, im gleichen Jahr Flucht nach Frankreich, 1938 Emigration nach Palästina, wo er 1957 starb.

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wie Franz Hessel, Siegfried Kracauer, Alfred Polgar, Joseph Roth und Kurt Tucholsky im Feuilleton der großen Berliner Zeitungen malten. Doch sind ihre Texte nur ein kleiner Teil der umfangreichen Literatur, die das Berlin dieser Jahre schildern und die Vielseitigkeit der Stadt widerspiegeln; die meisten Autoren sind heute vergessen. Zu diesen vergessenen Journalisten und Schriftstellern gehörte bisher auch Moritz Goldstein.10 In seinen Stadtreportagen beobachtet und registriert Goldstein nach Art eines Flaneurs das Bekannte und die Veränderungen bei den Menschen, den Dingen und in der Atmosphäre der Stadt. Goldstein, der geborene Berliner, der immer in Berlin gelebt hat, ist ein sehr genauer Kenner der Stadt. Er nimmt deshalb auch das wahr, was meistens unbeachtet blieb. Beispielhaft hierfür ist der Vergleich zweier Texte: Goldsteins »Landpartie«11 und Siegfried Kracauers »Sonntagsausflug«12, in denen es um die Freizeitgewohnheiten der Berliner geht. Schreibt Kracauer: »Trambahnen, Omnibusse und Autos befördern die Schwärme hinaus, die gerne im Freien schwärmen möchten«13, so hat der Leser den Eindruck, wesentlich sei für die Menschen nur der Wunsch, am Wochenende ins Grüne zu fahren, egal, wohin. Goldstein dagegen differenziert, denn er weiß, dass es auch in Bezug auf die Freizeitgestaltung der Berliner feste Regeln und Gewohnheiten gibt. Bei ihm erfährt der Leser: »So wie der Berliner von Geburt an in eine bestimmte Stadtgegend gehört, und der Mann aus der Alexandrinenstraße sich nicht am Stettiner Bahnhof sässig machen wird, so gehört auch zu 10 Joachim Schlör schreibt: »Goldsteins lokale Berichte und Reportagen müssen noch aus den Archiven zusammengestellt werden.« In: Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822-1938. (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Bd.1.) Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 87. Ebenso in: Schlör, Joachim: Der Journalist Goldstein und seine Stadt. In: Presse und Stadt. Zusammenhänge – Diskurse – Thesen. (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum, Bd. 5.) Hg. Susanne Marten-Finnis und Michael Nagel. Bremen: edition lumière 2009, S. 135-151, hier S. 139. 11 Inquit: Landpartie. In: Vossische Zeitung, 27.6.1926. Der Artikel »Landpartie« steht unpaginiert in der »ersten Beilage«, wie fast alle übrigen »Stadtbilder«. Es gibt nur fünf Ausnahmen: 19.1.1923 »Landestrauer«, S. 4; 5.8.1926 »Charleston«, Unterhaltungsblatt; 19.3.1927 »Contra-Tartüffe« [sic!], Unterhaltungsblatt; 17.8.1932 »Gefährliche Zeiten«, Unterhaltungsblatt; 7.4.1933 »Wie wir es sehen«, S. 3. 12 Kracauer, Siegfried: Sonntagsausflug. In: Ders.: Berliner Nebeneinander. Ausgewählte Feuilletons 1930–1933. Zürich: Edition Epoca 1996, S. 43. 13 Ebd.

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jedem Stadtteil ein Ausflugsgebiet.«14 Er ist vertraut mit dem Alltag und der Freizeit der Berliner, er besucht sportliche Großveranstaltungen, Kinos und Revuen, erlebt und nimmt Teil an politischen Ereignissen. Goldstein weiß auch zu erzählen von der Geschichte und Bedeutung prominenter Berliner Gebäude, z. B. der berühmten »Kaiser-Passage«, in der er als Sohn des kaufmännischen Direktors fast zehn Jahre gewohnt hatte. Er beobachtete die Veränderungen des Schlosses unter Kaiser Wilhelm II. und die neue Nutzung des Gebäudes nach seiner Abdankung, er belehrt uns über die Geschichte der Siegessäule und er beschreibt das touristische Treiben auf dem 1926 in Betrieb genommenen Funkturm. Als genauer und humaner Beobachter erlebte Goldstein aber auch das Anwachsen von Arbeitslosigkeit, Not und politischer Gewalt in der Metropole und macht sichtbar, wie sich hierdurch das Gesicht der Stadt veränderte. Durch die Vielseitigkeit seiner Stadtansichten entsteht ein unmittelbares, buntes Kaleidoskop der Reichshauptstadt Berlin. Nur selten beschreibt Goldstein das Sensationelle, das Spektakuläre und den »Glanz« der zwanziger Jahre, eher scheint er dem Berliner Alltag verhaftet zu sein. Es fällt auf, dass er nicht mit den gängigen Topoi arbeitet, die so häufig für das Berlin der Weimarer Republik verwendet werden, statt dessen weist er mit Vorliebe auf das Unauffällige, anscheinend Bedeutungslose in der Metropole hin, das leicht übersehen wird. Er bricht mit dem Klischee, das der Metropole anhaftet und das allgemein das Berlin der zwanziger Jahre gleichsetzt mit Menschenmassen, Tempo, Weltläufigkeit und Flexibilität. Er zeigt dagegen die ganz anderen Seiten der Stadt, nämlich das Kleinbürgerliche, das Beständige, das Eng-Begrenzte und Unflexible. Um das Zufällige, Kaleidoskopartige der Stadtwahrnehmungen Goldsteins zu erhalten, wurden die Texte nicht thematisch, sondern entsprechend der zeitlichen Folge ihrer Veröffentlichung in der »Vossischen Zeitung« zusammengestellt.

14 Inquit: Landpartie. In: Vossische Zeitung, 27.6.1926.

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Der Gerichtsreporter Eine entscheidende berufliche Veränderung ergab sich für Goldstein nach dem plötzlichen Tode des bekannten Gerichtsreporters Paul Schlesinger, »Sling«,15 seinem Freund und Kollegen an der »Vossischen Zeitung«. Obwohl der Tod des Freundes für Goldstein vor allem Trauer bedeutete, führte dieses Ereignis doch zu einer glücklichen Wendung in seiner beruflichen Laufbahn. Goldstein wurde vom Ullstein-Verlag gefragt, ob er nicht dessen Art der Gerichtsberichterstattung fortsetzen wolle. »Sling« hatte die damals noch übliche protokollartige Gerichtsberichterstattung aufgegeben und die feuilletonistische Gerichtsreportage zu einem beliebten neuen Genre gemacht. Der Vorschlag fand Goldsteins Interesse, und nach einer kurzen Bedenkzeit stimmte er zu. Es entsprach seiner nachdenklichen Persönlichkeit, die Gerichts-Prozesse, die er erlebte, zu analysieren und zu interpretieren. Fast täglich erschienen zwischen dem 26.6.1928 und dem 31.3.1933 in der »Ersten Beilage« der »Vossischen Zeitung« Goldsteins Gerichtsreportagen. Es waren die »fünf besten Jahre meines Lebens«16, so erinnerte er sich in der Emigration an diese Zeit. Goldstein schrieb zwei Arten von Gerichtsreportagen, zum einen eher sachliche Berichte über größere und große Prozesse, in denen es um Gerichtsverhandlungen von allgemeinem Interesse oder sogar um spektakuläre Fälle ging; zum andern kurze Gerichts-Feuilletons über kleine alltägliche Fälle, die immer in gleicher Aufmachung unter der Rubrik »Aus den Berliner Gerichten« erschienen, und die alle mit seinem Pseudonym »Inquit« gezeichnet waren. Vor allem mit diesen literarischen Gerichtsfeuilletons machte sich Goldstein einen Namen, und mit ihnen führte er die Form der literarischen Gerichtsreportage Paul Schlesingers in abgewandelter Form fort. 15 Paul Schlesinger (11.5.1878–25.5.1928), Pseudonym »Sling«, Schriftsteller und Journalist. Er gehörte vor dem Ersten Weltkrieg mit Frank Wedekind zum Münchener Kabarett »Die Elf Scharfrichter«. Später war er für den Ullstein-Verlag Korrespondent in Paris, Lugano, Bern und München. Nachdem der Verlag aus finanziellen Gründen sein Korrespondenten-Netz einschränken musste, kam Schlesinger an die »Vossische Zeitung«. Hier begann er, mit kleinen Plaudereien »Berlin zu schreiben«. Allmählich suchte er seine Themen immer häufiger bei den Gerichtsverhandlungen und wurde zum bedeutendsten Gerichtsreporter in den neunzehnhundertzwanziger Jahren. Sling: Richter und Gerichtete. Berlin: Ullstein 1929. 16 Goldstein, Moritz: Berliner Jahre, a. a. O., S. 124.

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Als der Ullstein-Verlag 1969 plante, einen Band mit Goldsteins Gerichtsreportagen zu veröffentlichen, schien es, als sollte sich für ihn ein großer Wunsch erfüllen. Der 89jährige machte dem Verlag gleich Vorschläge für die Herausgabe: Es gibt von mir schätzungsweise 700 Gerichtsberichte. In all den Jahren habe ich an eine Sammlung ihrer immer nur gedacht als eine Auswahl (wie es sich von selbst versteht), aber doch von einigem Umfang, die es möglich macht, die Inquits in Kapitel zu ordnen. Ich denke mir folgende Einteilung (die Überschriften nur als Vorschläge gemeint): 1. Kleine Sünder […]; 2. Große Prozesse […]; 3. Der schleichende Bürgerkrieg […]; 4. Naziführer […]; 5. Kritik am Gericht […].«17

Die Veröffentlichung der Gerichtsreportagen wurde nicht verwirklicht und im Mai 1969 aus wirtschaftlichen Gründen endgültig aufgegeben. Vielleicht kann nach der politischen Wende in Deutschland 1990 und nachdem Berlin wieder Hauptstadt geworden ist, jetzt wieder ein gewachsenes Interesse an den Verhältnissen der Reichshauptstadt während der Weimarer Republik angenommen werden. In Goldsteins unmittelbaren und lebendigen Gerichtsreportagen spiegelt sich die soziale und politische Realität der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre; in ihnen wird »Zeitgeschichte sichtbar«. Denn Goldstein fand vor Gericht das ganze Berlin wieder, da sich in den Prozessen Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur abbilden. Er erweckt für uns die letzten fünf Jahre der Weimarer Republik mit ihren besonderen Problemen wie Arbeitslosigkeit, schwelendem Bürgerkrieg und politischen Prozessen, auch gegen prominente Vertreter der Nationalsozialisten, zum Leben. Aus Goldsteins etwa 700 Gerichtsberichten, die zwischen 1928 und 1933 in der »Vossischen Zeitung« erschienen sind, habe ich 153 Texte ausgewählt, davon 87 Gerichtsfeuilletons der Rubrik »Aus den Berliner Gerichten« und 66 Gerichtsberichte über größere und große Prozesse. Anders als Goldstein, unterscheide ich in meiner Zusammenstellung die Gerichtsberichte und die Gerichtsfeuilletons. Die Gliederungs-Vorschläge Goldsteins habe ich vor allem in meiner Auswahl der Gerichtsfeuilletons aufgegriffen. Diese wurden nach folgenden Themen gegliedert: »Schlechte Zeiten«, »Eid bleibt Eid«, 17 Brief an Jobst Siedler vom 7.2.1969. Goldstein-Nachlass a. a. O., II AK 85/103-1,4-, Nr. 009.

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»Am Rande der Gerechtigkeit«, »Der schleichende Bürgerkrieg«. Innerhalb dieser Themen folgen die Texte der Chronologie. Auswahlkriterien waren: literarische Qualität, Vielseitigkeit der Themen und ihre historische Bedeutung für die heutige Zeit.

»Aus den Berliner Gerichten«. Gerichtsfeuilletons Die Gerichtsfeuilletons »Aus den Berliner Gerichten« lagen Goldstein besonders am Herzen. Das geht aus seinem Brief an Jobst Siedler vom Ullstein-Verlag hervor, als der ein vorwiegendes Interesse an Berichten über politische Prozesse zeigte. Goldstein schrieb: »Es ist schade, dass Inquits, die mit Politik nichts zu tun haben, aber den Gerichtsvorgang von der menschlichen Seite her betrachten, ausgeschaltet werden sollen. Es könnte sehr gut sein, dass sie den wertvolleren Teil meiner Tätigkeit verkörpern.«18 In seinen Gerichtsfeuilletons fragt Goldstein danach, warum Menschen straffällig werden, wie z. B. ökonomische, physische und psychische Not auf Menschen einwirken und dazu führen, dass sie Straftaten begehen. Es sind vor allem Menschen, die Goldsteins Interesse und Mitgefühl wecken, die aus Armut, Not, Krankheit, Unwissenheit, Gedankenlosigkeit, Trunkenheit, Wut oder Eifersucht straffällig werden und die nur sehr selten aus verbrecherischen Neigungen handeln. Durch seine Gerichtsfeuilletons sollten die Leser erfahren, wie nahe »Normalität« und »Verbrechen« beieinander liegen. Für den Germanisten und Dramatiker Moritz Goldstein war aber auch die sprachliche Seite der Gerichtsverhandlung von großer Bedeutung. Er achtet genau darauf, wie durch den Umgang mit der Sprache Machtverhältnisse ausgedrückt werden, wie z. B. ein Richter mit der Sprache Macht ausübt, indem er einem Angeklagten das Wort verbietet, einen anderen anherrscht, einen Dritten durch Ironie verunsichert oder dadurch, dass er in einem für den Laien unverständlichen Juristen-Deutsch spricht. Und Goldstein zeigt auch, wie sich mangelnde Sprachkompetenz – fast immer begründet in Herkunft und niedrigem Bildungsstand – für einen Angeklagten fatal auswirken kann. Der Machtmissbrauch durch Sprache betraf jedoch nicht nur die Angeklagten, denn es geschah immer wieder, dass ein Richter so 18 Moritz Goldstein an W. Elwenspoek, Ullstein-Verlag. Brief vom 13.8.1963. GoldsteinNachlass a. a. O., II AK 85/103-1,3, Nr. 135.

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leise oder so unverständlich sprach, dass sowohl das Publikum als auch die anwesenden Gerichtsreporter von der Verhandlung praktisch ausgeschlossen wurden, so dass die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung nicht mehr gewährleistet war. In Goldsteins Gerichtsfeuilletons wird auch deutlich, dass die große Arbeitslosigkeit am Ende der Weimarer Republik und die hieraus resultierende Armut und Not den Menschen oft gar keine andere Wahl ließen, als mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten. Eine andere gefährliche Folge der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, unter denen die Menschen lebten, war die zunehmende Anziehungskraft, die radikale Parteien, vor allem die Nationalsozialisten, vorzugsweise auf junge Männer ausübten. Die politischen Auseinandersetzungen wurden zunehmend brutalisiert; es kam immer häufiger zu gewalttätigen Straßenkämpfen. Oft aber lagen die Gründe, die einen Menschen kriminalisierten, auch in der Institution des Rechts und in den Gesetzen selbst begründet. Dieser Aspekt wird vor allem in den Gerichtsfeuilletons deutlich, in denen Anklagen wegen Meineids thematisiert werden, durch die nicht selten unbescholtene Bürger zu Straftätern abgestempelt wurden. In der Weimarer Republik wurde geradezu von einer »Meineidsseuche« gesprochen, und sowohl Paul Schlesinger als auch Moritz Goldstein bemühten sich, als Gerichtsreporter die Fragwürdigkeit vieler Meineids-Prozesse aufzudecken. Goldstein stellt die Frage, ob der Staat überhaupt das Recht habe, »wahre Aussagen zu erzwingen«, denn »die Aussage«, auf die sich das Gericht zur Urteilsfindung stützt, »entspringt aus Wahrnehmung und Gedächtnis; weder Wahrnehmung noch Gedächtnis bietet irgendein Maß von Sicherheit«19. In seinen Gerichtsfeuilletons »Aus den Berliner Gerichten«, will Goldstein die individuelle Situation lebendig machen, die sich hinter jedem Gerichtsfall verbirgt. Er beschränkt sich nicht darauf, Tatsachen und Beobachtetes wiederzugeben, sondern er stellt Fragen, reflektiert und moralisiert. Mit solchen inhaltlichen und stilistischen Merkmalen geht Goldstein über die Aufgabe der Reportage mit ihren direkten Fragen, »wer? was? wann? wo? und wie?« hinaus und fragt immer wieder auch »warum?« Daneben war für ihn auch die künstlerische Gestaltung seiner Reportagen von großer Bedeutung. Manchmal erinnern Goldsteins bewusst aufklärerische, belehrende und moralisierende »Gerichts-Inquits« an literarische Kurzformen 19 Inquit: Der Streit um den Eid. In: Vossische Zeitung, 15.4.1931.

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wie die Kalendergeschichte oder die Anekdote, und auch Witz und Humor kommen nicht zu kurz. Kurt Pinthus20 schrieb, dass diese Texte »die weitaus gelesensten und beliebtesten dieser Zeitung waren«, und dass »hier Berichterstattung zur Literatur erhoben war, und nicht nur zur unterhaltenden Literatur, so unterhaltend sich das meist nur kurze Stück las.«21 Vor allem in seinen Gerichtsfeuilletons wird Goldsteins Freude darüber deutlich, dass er – wie er sich im Exil erinnerte – als Gerichtsreporter schreiben durfte, was ihm einfiel. Er durfte »mannigfaltig sein nach Inhalt wie nach Form«22.

Berichte über größere und große Prozesse Hat Goldstein sich in seinen Gerichtsfeuilletons »Aus den Berliner Gerichten« vor allem mit Straftaten aus dem alltäglichen Milieu beschäftigt, die bei der Presse allgemein nur wenig Beachtung fanden, so liegt der Schwerpunkt seiner eher nüchtern-sachlichen Gerichtsberichte über größere Prozesse im politischen oder justizkritischen Bereich. In den politischen Prozessen erkannte Goldstein am Verhalten der Nationalsozialisten und ihrer Führer vor Gericht deren mangelndes Verantwortungsgefühl, Brutalität und inhumane Einstellung. Er warnte seine Leser schon lange vor dem Tag der Machtübergabe an Hitler vor der Gesinnung und vor den Menschen, die mit den Nationalsozialisten an die Macht kommen würden. Ebenso deutlich werden in Goldsteins Gerichtsberichten aber auch die allzu große Milde und das Entgegenkommen der Justiz gegenüber der demokratiefeindlichen politischen Rechten. Von den überwiegend konservativen Richtern wurde die Ablehnung der Republik damit begründet, dass diese auf revolutionärem, d. h. illegalem Wege entstanden sei. Ebenso wurde in großen Teilen der konservativen Kreise – und somit auch der Justiz – die Weimarer Republik als das Werk jüdischer Repräsentanten angesehen; es wurde abschätzig von der »Judenrepublik« gesprochen. Diese Einstellung führte die Richter 20 Kurt Pinthus (29.4.1886–11.7.1975). Schriftsteller und Kritiker, Herausgeber der bedeutendsten expressionistischen Anthologie »Menschheitsdämmerung« (1920). Lebte von 1937–1967 im Exil, seit 1967 wieder in Deutschland. Er arbeitete im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 21 Pinthus, Kurt: Moritz Goldstein (Inquit) – 80 Jahre. In: Aufbau, New York, 1.4.1960. 22 Goldstein, Moritz: Berliner Jahre, a. a. O., S. 106.

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dazu, ihre richterliche Unabhängigkeit zu betonen und nicht »im Namen der Republik«, sondern in ihrem eigenen Sinne Recht zu sprechen. Die Worte »Demokratie« und »Republik« wurden in keinem deutschen Urteil namentlich ausgesprochen.23 Bei den großen Prozessen, die oft mehrere Tage oder Wochen andauerten, beobachtete Goldstein Gerichtsfälle aus den Bereichen der Sexualität, der Kunst, der Welt des Berufsverbrechertums, der Wirtschaft und der Politik. Diese Prozesse erregten großes Aufsehen und wurden von Reportern verschiedener Zeitungen kommentiert. In die hier vorliegende Auswahl wurden Texte aufgenommen, die beispielhaft sind für Prozesse aus den oben genannten gesellschaftlichen Bereichen.24 Nach den Erfahrungen durch Krieg und Revolution, aber auch durch den Verlust der vielen im Krieg gefallenen Soldaten und durch den hohen Frauenüberschuss, hatte sich – neben den noch immer vorhandenen alten Vorstellungen von den Geschlechterrollen – einerseits eine große Verunsicherung in Fragen der Moral, andererseits aber auch eine zunehmende sexuelle Freizügigkeit durchgesetzt, die zur Destabilisierung von Ehe und Familie beitrugen. Der Prozess gegen zwei Giftmischerinnen, die in lesbischer Liebe verbunden waren, kann als ein pointierter Beitrag zur Diskussion über Ehe, sexuelle Freiheit und homoerotische Beziehungen gelten. Goldstein begründet die Ursachen für die verbrecherische Tat des Giftmords an einem der Ehemänner psychosozial und benennt das strenge Vaterhaus, die Brutalität des Ehemannes, Unaufgeklärtheit und Scham als Ursachen für den Mord. Wegen ihrer unkritischen, positiven Haltung zu Militär und Krieg waren auch Kirche und Religion angreifbar geworden und verlangten nach neuen Symbolen. Doch wurde diese Notwendigkeit von der Kirche selbst und von führenden konservativen gesellschaftlichen Kreisen nicht verstanden, wie der Gotteslästerungsprozess gegen George Grosz aus dem Bereich der Kunst 23 Beradt, Martin: Der deutsche Richter. Frankfurt/Main: Rütten u. Löning 1930, S. 209. Martin Beradt (26.8.1881–26.11.1949), Schriftsteller und Jurist; Mitbegründer und Syndikus des »Schutzverbands deutscher Schriftsteller«; 1933 Ausschluss aus der Anwaltskammer; 1939 Emigration über London nach New York. 24 Vgl. Ubbens, Irmtraud: Sein Kampf für Recht, Freiheit und Anstand war notorisch. Moritz Goldstein – Inquit. Journalist und Gerichtsberichterstatter an der Berliner »Vossischen Zeitung« von 1928 bis 1933. Bremen: edition lumière 2009. In meiner Dissertation werden die o. g. großen Prozesse erläutert und mit Gerichtsberichten anderer Zeitungen verglichen.

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und der Zensur-Praxis zeigt. In seinen Gerichtsreportagen über diesen viel beachteten, dreimal wieder aufgenommenen Prozess, bezieht Goldstein klar Stellung und macht keinen Hehl aus seiner Sympathie für George Grosz und dessen Werk. Auch die überlieferten Einstellungen zu Eigentum und Recht waren durch Krieg, Revolution und die große Arbeitslosigkeit erschüttert worden, so dass sich in den Großstädten, vor allem in Berlin, Verlierer der Gesellschaft in den Ringvereinen der Berufsverbrecher eine Gegenwelt schufen, in der sie – neben der materiellen – auch soziale Sicherheit und Anerkennung fanden. Hierfür steht beispielhaft der Prozess gegen Mitglieder des Ringvereins »Immertreu«. Obwohl Goldstein weiß, dass diese Vereine keineswegs harmlos sind, will er doch mit seinen Gerichtsreportagen erklären, um was für Menschen es sich handelt, die sich hier zusammenfinden. Daher führt Goldstein die Leser in einer seiner Reportagen in die Wohngegend um den Schlesischen Bahnhof im Osten Berlins und zeigt ihnen die Bedingungen, unter denen die Menschen hier leben. Doch wurde nicht nur in der Unterwelt betrogen und bestochen, sondern auch in den höheren und höchsten Kreisen Berlins, wie der »SklarekProzess« deutlich zeigt. Durch diesen Prozess wurde offensichtlich, dass die Regierenden, durch die neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse auf verantwortungsvolle Posten aufgestiegen, zum Teil in ihren neuen Rollen überfordert waren. Manche von ihnen – durch alle Parteien hindurch – ließen sich korrumpieren. Goldstein sieht in diesem Prozess die Zeit gespiegelt, die unter dem Druck des vergangenen Krieges, des Zusammenbruchs, der Not und der politischen Neuorientierung die Maßstäbe zu verlieren droht. Anders als die politische Rechte erkennt er aber in diesem Skandal nicht ein charakteristisches Zeichen für das »System« – wie die politische Ordnung der Weimarer Republik von ihren Gegnern verächtlich genannt wurde –, sondern er sieht die Straftaten vor allem in menschlicher Unzulänglichkeit und Verführbarkeit begründet. Der Prozess gegen die Mörder des Nationalsozialisten Horst Wessel25 macht deutlich, wie beide politischen Richtungen, die radikale Rechte 25 Horst Wessel (9.10.1907–23.2.1930), Sohn eines Pfarrers, Jura-Studium, Arbeiter beim U-Bahn-Bau. Seit 1926 Mitglied der NSDAP, seit 1929 Führer des SA-Sturms 5 in Berlin-Friedrichshain. Das Horst-Wessel-Lied »Die Fahne hoch …« wurde zur Parteihymne und im nationalsozialistischen Deutschland immer im Anschluss an die Nationalhymne gesungen.

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ebenso wie die radikale Linke, ihre Mitglieder instrumentalisierten. Beide Seiten nutzten den Tod Horst Wessels, um ihren politischen Einfluss zu stärken. Die Nationalsozialisten – vor allem Joseph Goebbels – versuchten, aus ihm einen Märtyrer zu machen, und verklärten ihn zu einem Mythos, während die Kommunisten vom »Zuhälter« Wessel sprachen. Streitpunkt war, ob für den Überfall auf ihn politische Gründe oder Eifersucht ausschlaggebend gewesen waren. In Goldsteins Gerichtsberichten spielen nicht nur die kommunistischen Täter eine Rolle, sondern auch eine Randfigur, die Zimmerwirtin Horst Wessels. Diese hatte indirekt die Tat ausgelöst, indem sie den politischen Feinden Horst Wessels von Streitigkeiten mit ihm als Mieter erzählte und sie um Hilfe bat. Damit nutzte sie die – ihr bekannte – gegenseitige Feindschaft aus. In den Gerichtsberichten anderer Zeitungen kommt dieses Detail der Verhandlung gar nicht vor. Immer deutlicher wurde am Ende der Weimarer Republik – verstärkt durch die politische Agitation der Nationalsozialisten – der Hass auf alles Jüdische, wie sich in den zunehmend brutalen Übergriffen auf jüdische Mitbürger zeigte. In den Prozessen gegen nationalsozialistische Randalierer auf dem Kurfürstendamm und ihren Anführer Wolf-Heinrich Graf von Helldorf26 wird diese Stimmung sichtbar. Erschreckend ist die Nachsicht der Richter gegenüber den antisemitischen Gewalttätern, die mit geringen Strafen davonkamen; Helldorf als Anführer wurde sogar freigesprochen. In seinem Gerichtsbericht über die Urteilsverkündung gegen Helldorf zitiert Goldstein den vorsitzenden Richter, der behauptet hatte: »Politische Motive scheiden für das Gericht selbstverständlich aus«, während Goldstein der Meinung war, dass gerade der politische Sinn der Vorgänge »den Beobachter bewegt«. Im Laufe der Prozesse hatte Goldstein in seinen Beiträgen immer klarer die politische Befangenheit der Richter aufgezeigt. Sowohl in seinen Gerichtsfeuilletons als auch in seinen Gerichtsberichten über größere und große Prozesse sah Goldstein eine Möglichkeit, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten, sich in das juristische Tagesgeschehen einzumischen und Stellung zu beziehen. Seiner Meinung nach sollten die 26 Wolf-Heinrich Graf von Helldorf (14.10.1896–15.8.1944) gehörte mehreren Freicorps an, 1920 Teilnahme am Kapp-Putsch, ab 1924 NSDAP-Mitglied, Mitglied des Preußischen Landtags, 1932 Mitglied des Reichstags, Führer der SA und der SS in BerlinBrandenburg, 1935 Polizeipräsident in Berlin. Als Hitlers Erfolge nachließen, schloss sich Helldorf der Widerstandsbewegung gegen Hitler an. Nach dem missglückten Attentat auf Hitler im Juli 1944 wurde Helldorf verhaftet und hingerichtet.

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Aufgaben eines Gerichtsreporters weit über die protokollartige Gerichtsberichterstattung hinausgehen. Neben der Aufgabe, zu informieren, wollte Goldstein auch pädagogisch und aufklärerisch wirken. Wie auch andere seiner Kollegen der bürgerlich-liberalen Presse sah er Kriminalität vor allem in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet. Daher können sowohl seine Gerichtsfeuilletons als auch seine Gerichtsreportagen als praktische Gesellschaftskritik verstanden werden. Durch die Vielzahl der Gerichtsreportagen Goldsteins wird heutigen Lesern ein unmittelbares und facettenreiches Bild von den Zuständen der Berliner Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik, von ihren Nöten, ihren Konflikten und ihrer Mentalität vermittelt. Deutlich wird in ihnen auch Goldsteins republikanische Einstellung, denn er kritisierte unmissverständlich und durchaus nicht immer vorsichtig die Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft der Nationalsozialisten sowie die auffällige Parteinahme der Gerichte für rechtsgerichtete Straftäter. Doch war seine Kritik nicht provokativ, sondern konstruktiv und vermittelnd. Sie war geprägt durch die Ideale einer aufgeklärten und humanen Gesellschaft. Außerdem hatte er als fest angestellter Redakteur auch Rücksicht zu nehmen auf die gemäßigte Haltung und den generell moderaten Ton der »Vossischen Zeitung« und auf die von der Zeitung geübte strikte Neutralität in jüdischen Fragen. Vor allem aber darf nicht vergessen werden, dass Goldstein als unmittelbarer Augenzeuge noch gar nicht wissen konnte, bis zu welchem Maße von Unmenschlichkeit und Zerstörung die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in den folgenden Jahren fähig sein würde. Hans Sahl, der die publizistische Stärke Goldsteins erkannt hatte, sagte von ihm, er habe »den Stempel ‚Inquit’ seiner Zeit aufgedrückt«27. Dass trotzdem heute nur wenige seinen Namen kennen, lässt sich durch sein Leben in der Emigration nach 1933 erklären, wo er – »aus seiner Sprache verbannt« – nicht wieder in der Presse Fuß fassen konnte.

27 Hans Sahl an Moritz Goldstein. Brief vom 26.3.1970. Goldstein-Nachlass im Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund. Privatkorrespondenz II AK 85/105-1-, Nr. 051.

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Die Publikation der journalistischen Texte Goldsteins Goldstein verließ Deutschland nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Alter von 53 Jahren und ist nie wieder auf Dauer nach Deutschland zurückgekehrt. Nach 44 Exiljahren in verschiedenen Ländern: Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA, starb Goldstein 1977 im Alter von 97 Jahren in New York.28 Im Exil war es sein größter Wunsch, dass »das Bleibende seiner journalistischen Leistung gerettet und zu neuem Leben erweckt«29 werden würde. Doch erst 1977, wenige Tage nach seinem Tode, wurde Goldsteins Autobiographie »Berliner Jahre. Erinnerungen 1880–1933« mit einem Anhang ausgewählter Texte, Reportagen und Gerichtsreportagen veröffentlicht. Er selbst hat noch die Herausgabe des Buches begleitet, wie aus einem Brief des Herausgebers Kurt Koszyk an Goldstein hervorgeht, in dem es heißt: »Andererseits würde ich den Band gern mit Beiträgen aus Ihrer InquitPeriode ergänzen. Das erfordert einige Arbeit. […] Vielleicht können Sie aus der ›Gruft‹ ihres Koffers mit Belegexemplaren einiges hervorziehen.«30 Fast dreißig Jahre später, 2005, erschien ein Band mit einer Auswahl seiner Gerichtsreportagen unter dem Titel »George Grosz freigesprochen«31, der jedoch – mit Ausnahme von drei Betrachtungen »Vom Tagewerk der Justiz« und zwei Gerichtsberichten zum Giftmord-Prozess von 1923 – nur Texte enthält, die schon zusammen mit der Autobiographie veröffentlicht worden waren. So wurden bisher nur die journalistischen Texte in Buchform veröffentlicht, die sich als Belegexemplare im Goldstein-Nachlass im »Institut für Zeitungsforschung« der Stadt Dortmund befanden.32 Von dem reichen 28 Zu Goldsteins Leben und Arbeiten im Exil s. Ubbens, Irmtraud: »Aus meiner Sprache verbannt …« Moritz Goldstein, ein deutsch-jüdischer Journalist und Schriftsteller im Exil. München: K. G. Saur 2002 (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, Nr. 59). 29 Goldstein, Moritz: Berliner Jahre, a. a. O., S. 130. 30 Kurt Koszyk an Goldstein. Brief vom 7.7.1976. Goldstein-Nachlass II AK 85/104-1-, Nr. 228. 31 Goldstein, Moritz: »George Grosz freigesprochen«. Gerichtsreportagen aus der Weimarer Republik. Hg.: Manfred Voigts und Till Schicketanz. Berlin: Philo 2005. 32 Wie dem Findbuch des Goldstein-Nachlasses zu entnehmen ist, stehen diese ZeitungsAusschnitte der »Vossischen Zeitung« wegen der sehr schlechten Papier-Qualität – bis auf wenige Ausnahmen – nicht mehr zur Verfügung.

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Fundus der fast täglich in der »Vossischen Zeitung« erschienenen Beiträge Goldsteins ist daher bislang nur ein Bruchteil bekannt.33 In der hier vorliegenden Ausgabe gesammelter und ausgewählter BerlinReportagen (52) und Gerichtsreportagen (149) wird erstmals der gesamte Fundus der journalistischen Beiträge von Goldstein berücksichtigt, die während der Weimarer Republik in der »Vossischen Zeitung« erschienen sind.34 Bis auf seltene Ausnahmen wurde darauf verzichtet, solche Texte wieder aufzunehmen, die schon in den oben genannten Ausgaben veröffentlicht worden sind.35 Alle Texte Goldsteins werden in Rechtschreibung und Zeichensetzung getreu ihrer Erstveröffentlichungen zitiert, offensichtliche Schreibfehler stillschweigend korrigiert, größere Abweichungen in eckigen Klammern kenntlich gemacht. Zur Erleichterung des Verständnisses wurden – wo es nötig schien – Anmerkungen und kurze Kommentare hinzugefügt.

33 Spätere, im Exil entstandene Texte aus der »Jüdischen Welt-Rundschau«, der »Pariser Tageszeitung«, dem New Yorker »Aufbau« und der »Neuen Zeitung«, erschienen in einer Auswahl als Anhang »Beiträge aus dem Exil« in: Ubbens, Irmtraud: »Aus meiner Sprache verbannt …« Moritz Goldstein, ein deutsch-jüdischer Journalist und Schriftsteller im Exil, a. a. O., S. 118–259. 34 Zum Journalisten Moritz Goldstein vgl.: Ubbens, Irmtraud: Sein Kampf für Recht, Freiheit und Anstand war notorisch. Moritz Goldstein – Inquit. Journalist und Gerichtsberichterstatter an der Berliner »Vossischen Zeitung«. Bremen: edition lumière 2009. Die dort erwähnten und analysierten Texte Goldsteins werden – ohne die in den o. a. Ausgaben abgedruckten Texte – in der vorliegenden Ausgabe im Volltext abgedruckt und um zahlreiche weitere ergänzt. 35 Zu den Ausnahmen gehören die drei Gerichtsreportagen Goldsteins über den »Gotteslästerungs-Prozess« gegen George Grosz. Dieser Prozess war der Höhepunkt einer Reihe ähnlicher Prozesse zum Problembereich Gotteslästerung und Zensur. Nie zuvor hatten sich so viele Experten aus Justiz, Theologie, Kunst, Politik und Journalistik an der Diskussion um ein einzelnes Kunstwerk beteiligt. Wegen der Brisanz dieses Prozesses war es nicht gut möglich, auf diese drei Gerichtsberichte Goldsteins zu verzichten, obwohl sie schon in den beiden o. g. Werkausgaben enthalten sind.

Stadtbilder Berliner Reportagen und Feuilletons

Berliner Reportagen und Feuilletons

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Stadtbilder Berliner Reportagen und Feuilletons Freibad Groß-Berlin Hitze, Bläue, Menschen, Züge, Dampfer – kurz ein Berliner Sommersonntag. Wohin mit Kind und Kegel? Jede Faser lechzt nach dem Wasser der Oberspree oder der Havelseen. An die staatlich konzessionierten Badeplätze, auf denen jeder Quadratfuß für 16 Stunden von einer mehrköpfigen Familie gepachtet ist, darf man nicht denken. Glücklich jene paar Mitmenschen, denen ein Boot zur Verfügung steht. Aber es wird ja wohl irgend ein grünes Ufer zu erreichen sein, von dem aus, wenn das Verlangen treibt und die Gelegenheit günstig ist, man in die Fluten springen kann. Kind und Kegel werden mit Proviant und Badezeug versehen. Die Eisenbahn trägt aus den Mauern, der Dampfer hinein in den Frieden der märkischen Seen. Die blauen Flächen wimmeln von Seglern und Ruderern, fast auf jedem Boot ist ein kleines Familienbad etabliert. Auch um die grünen Ufer schwärmt es überall von weißen Leibern in knappen Trikots, lagert im Sande, plätschert im Wasser und erfüllt die Luft mit einem festlichen Gesumme. Kläglich nehmen sich in dieser lebendigen Flut die Schranken der eigentlich sogenannten Badeanstalten aus. Hat es je eine Zeit gegeben, wo diese winzigen Institute dem Wasserbedürfnis genügten? Und da liegt man nun auch auf grünem Rasen unter Erlen, träumt in den Himmel, taucht ins Wasser, aalt sich in der Sonne, freut sich über die Nachbarn und Nachbarinnen rechts und links, folgt mit den Augen den weißen Segeln und den taktfesten Ruderbooten und trinkt mit allen Poren Gesundheit. Die Sonne steigt, unmerkbar fließen die Stunden, die Sonne neigt sich schon ein wenig. Wo sind die Sorgen, wo ist die Arbeit, wo ist die Großstadt? O Glück des Sommers! Hinter den Badenden läuft ein Weg, und auf dem Weg kommen harmlos vier Gendarmen auf Rädern, einer hinter dem anderen mit etwas Abstand. Sowie der letzte das Ende des Strandes erreicht hat, sind plötzlich alle vier von den Rädern herunter und zwischen den Ruhenden. Alles, was mit Booten gelandet ist, springt hinein und fährt ab. Ein Teil verschwindet in den Wald, ein Teil ist plötzlich angezogen und lagert nur eben so herum;

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offenbar kennen die meisten das Verfahren. Die Ufer sind wie gefegt. Aber ein Rest wird ertappt und aufgeschrieben. O getrübtes Glück des Sommers! Wo man das Baden nicht ausdrücklich erlaubt hat, ist es verboten: alter preußischer Grundsatz, den wir alle kennen, und der die Stürme der Revolution überdauert hat. Das Baden an verbotener Stelle ist gefährlich; auch das wissen wir alle und lesen mit Bedauern wöchentlich die Liste der Opfer. Aber was da geschieht, von Amts wegen und nach dem Schema, erscheint denn doch wohl vollkommen sinnlos. Gegen eine Uebertretung, die von Hunderttausenden begangen wird, kann man nicht dadurch ankämpfen, daß man einem Dutzend zufällig Herausgegriffener polizeiliche Strafmandate zuschickt. Das Recht ist durchaus auf seiten der Badenden, die sich Erholung verschaffen wollen und in den überfüllten Badeanstalten keinen Platz und wenn Platz, keine Erfrischung finden. Daran, daß die Majestät der Polizeiverordnung aufrecht erhalten werde, besteht kein Interesse. Was, gegenüber solchem Massenwillen, die Gendarmerie zu tun hat, sollte auf der Hand liegen: sie muß die Badenden schützen. Patrouillen? Soviel ihr wollt; aber nicht, um ein paar Uebertreter festzustellen, sondern um zur Hand zu sein, wenn Hilfe nötig wird; um Gefahrstellen zu beseitigen, wo es möglich ist, und wo es nicht möglich ist, durch Tafeln zu bezeichnen. Und alles übrige muß man sich entschließen dem Publikum zu überlassen. Auch darauf, sich in Gefahr zu begeben, hat der mündige Staatsbürger ein Recht. Daran, daß die zugängigen Fluß- und Seeufer rings um Berlin von Volkes Gnaden zu Freibädern ernannt worden sind, wird die Polizei nichts mehr ändern. gol. 8.6.1921

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Die aufgerollte Anschlagsäule Zur »Verschönerung« des Straßenbildes

Die alte ehrliche Litfaßsäule1 ist dem Berliner ein liebes und vertrautes Straßenhindernis. Sie steht an vielen Ecken dem hastigen Großstädter im Wege, aber niemand stößt sich daran. Und wenn man auch nicht mehr, wie zu Großvaters Zeiten vor ihrer kleinen Ahnin, sich aufpflanzt, um sie behäbig als Zeitung zu lesen, so bedient man sich ihrer doch häufig genug als einer stets bereiten Helferin und Antworterin auf tausend Fragen. Man ist ihr auch dankbar, daß sie auf ihrer treuen Wacht, die sie nun wohl schon reichlich ein halbes Jahrhundert hält, all die vielen Zettel, Plakate und Affichen, die in anderen Städten Mauern und Zäune verunstalten, fein säuberlich auf sich gezogen hat. Die Revolution zwar machte das Papier rabiat; aber inzwischen hat es sich von seinen Ausschweifungen auf Häuserfronten zum größten Teil wieder auf die korrekte Anschlagsäule zurückgezogen. Jetzt aber tritt eine Art von Nebenbuhlerin gegen sie auf. Irgendjemand, der in der Zeitung gelesen hat, daß mit Reklame Geld zu verdienen sei, ist auf den Gedanken gekommen, eine Anschlagsäule, vielmehr ein Säulchen, auszurollen, die so entstandene Platte auf zwei Füße zu stellen und einen griechischen Giebel darauf zu setzen, und dieses sinnreiche Gebilde an tausend Stellen auf den Bürgersteig zu pflanzen. Sein Grundgedanke ist offenbar, daß ein Reklameträger die Aufmerksamkeit auf sich ziehen muß. Und dieses erreicht er hier in genialer Weise. Zunächst nämlich steht nur der leere, aber eiserne Rahmen da. Man sieht ihn kaum bei Tage, geschweige denn bei Nacht, und rennt unfehlbar irgendeinmal mit dem Schädel dagegen. Von diesem Augenblick an bleibt einem das Institut im Gedächtnis. 1 »Litfaßsäule«, genannt nach: Ernst Theodor Amandus Litfaß (11.12.1816–27.12.1874), Druckereibesitzer und Erfinder der Litfaß-Säule. 1854 hatte er die Idee, Anschlagsäulen für Werbung und Bekanntmachungen zu benutzen, statt, wie üblich, Hauswände mit Plakaten zu bekleben. Am 1.7.1855 wurden in Berlin die ersten Säulen aufgestellt.

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Dann wird der Rahmen zu einer bunten Tafel ausgefüllt. In dieser Form verdeckt er zunächst dem Ladeninhaber den Ausblick auf die Straße, dem Passanten den Einblick in den Laden. Ferner hindert er den eiligen Fußgänger, den bequemsten Uebergang zu wählen, und zwingt ihn zu einem kleinen Umweg. Wer dreimal das Gerüst verflucht hat, wird es nicht mehr vergessen. Noch einprägsamer wirkt es nach Sonnenuntergang. Nicht jedes Liebespaar hat Zeit, den Schutz des Tiergartens oder Friedrichhains aufzusuchen; die tausend Reklametafeln entziehen an tausend Stellen den zärtlichen Vorgang unberufenen Blicken. Bald wird sich auch in den zuständigen Kreisen herumgesprochen haben, daß sich hinter dieser Deckung sehr gut mit Schlagring und Revolver auf die späten Heimkehrer warten läßt. Wem mitten in der Friedrichstadt ein Wegelagerer hinter der Kulisse hervor in den Weg tritt, wird unter der Wirkung der Ueberraschung gern bereit sein, Uhr und Barschaft auszuliefern, und das Abenteuer noch seinen Enkeln erzählen. Was auf die Tafeln zu stehen kommt, ist daneben ziemlich gleichgültig. Auf einer Berliner Straße, wo niemand Zeit hat, zu verweilen und jeder seine Aufmerksamkeit darauf richten muß, unüberfahren ans Ziel zu gelangen, und wo außer den Anschlagsäulen ja auch Straßenbahnen, Omnibusse, Dachreklamen, Postwagen, Ladenschilder und Schaufenster auf den Wanderer losschreien, wird ohnehin kein Mensch lesen, was diese zweibeinigen Mißgeschöpfe zu ihrer praktischen Wirksamkeit auch noch zu sagen haben. gol. 10.6.1922

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Rathenaus2 Staatsbegräbnis

Vor dem Reichstag

Der Königsplatz3 ist abgesperrt. Im Bogen um das Reichstagsgebäude, längs dem Rande des Tiergartens und der angrenzenden Straßen und bis zur Siegessäule4 umsäumt eine dichte Zuschauermenge das Viereck. Sie hat auch die Stufen und die Säulenhalle des Siegesdenkmals besetzt, und ebenso sieht man Fenster und Dächer der nächsten Gebäude voller Menschen. Von den Türmen des Reichstagsgebäudes wehen die schwarz-rot-goldenen Fahnen auf Halbmast, ebenso auf den Häusern rings um den Platz. Die japanische Botschaft zeigt ihre Flagge, den roten Sonnenball auf weißem Felde. Ankunft und Auffahrt zur Trauerfeier an den beiden Seitenportalen und über die Rampe der Rückfront. Lange Ketten von Automobilen, Wagen mit Kränzen. Die Abgeordneten, die Vertreter der Regierung, das diplomatische Korps. Wenige Minuten nach 12 Uhr fährt der Reichspräsident vor. Auf die große Freitreppe und zwischen die gewaltigen Säulen sind Kübel mit Lorbeerbäumen gestellt. Inmitten der weiten leeren Fläche liegt das Bismarck-Denkmal wie ein Tafelaufsatz. Auf seinen Stufen haben sich Photographen und Kinooperateure angesiedelt und bringen ihre Apparate in Ordnung. Ein großes geschlossenes Auto mit Girlanden behängt fährt vor, manövriert hin und her, rollt schließlich auf die Rampe und hält vor dem Haupt-

2 Walther Rathenau 29.9.1967–24.6.1922. Direktor in der von seinem Vater gegründeten »Allgemeinen Elektrizitäts-Gesellschaft« (AEG). Mitglied der 1918 ins Leben gerufenen Deutschen Demokratischen Partei; 1921 Wiederaufbauminister; 1922 Außenminister. Am 24.6.1922 wurde Rathenau von Mitgliedern der rechtsradikalen, antisemitischen Organisation »Consul« ermordet. 3 Der Königsplatz ist heute der Platz der Republik. 4 Die Siegessäule stand von 1873 bis 1938 auf dem Königsplatz, bevor sie – im Zuge der von Albert Speer geplanten Stadtumgestaltung – auf dem Großen Stern im Tiergarten aufgestellt wurde.

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portal. Es ist bestimmt, den Sarg aufzunehmen. Um ½ 1 Uhr marschiert eine Kompagnie Reichswehr in den Raum zwischen Freitreppe und Bismarckdenkmal, Trommler, Pfeifer und Blechmusik schweigend voran. Sie faßt Tritt, hält, schwenkt ein mit der Front gegen die Freitreppe, nimmt die Gewehre ab und wartet. Ungeduldig versucht, während im großen Sitzungssaale die Trauerfeier ihren Gang nimmt, die Menschenmenge rings um den Platz, den Kordon zu durchbrechen. Bald hier hin, bald dort hin eilen Verstärkungen der Schutzpolizei zu Fuß und beritten, um die Linie an den gefährdeten Stellen aufrechtzuerhalten. Ein Flugzeug, Doppeldecker, mit wehenden Trauerwimpeln, erscheint und zieht über dem Reichstagsgebäude und um die Siegessäule seine langsamen Kreise. Die Fenster des Parlamentes füllen sich mit Menschen; die Feier drinnen hat offenbar ihr Ende erreicht. Zwanzig Minuten nach 1 Uhr tritt die Ehrenkompagnie unters Gewehr und präsentiert, während die Trommeln zu wirbeln beginnen und die Musik einen Trauermarsch anhebt. Die große Mitteltür öffnet sich, der Sarg wird herausgetragen. Ueber die obere Hälfte der Freitreppe trägt man ihn, das wartende Auto nimmt ihn auf und setzt sich langsam, die Rampe abwärts, in Bewegung. Ein paar Autos mit den Angehörigen folgen, in dem ersten erkennt man die ehrwürdige Mutter des Verstorbenen. In diesem Augenblick zerreißt die Kette der Schutzpolizei, und in wenigen Minuten ist der Platz vor dem Reichstagsgebäude, die Freitreppe und die Rampe von Menschen gefüllt. Inzwischen verlassen die Trauergäste das Parlamentsgebäude. Als man den Reichspräsidenten heraustreten und seinen Wagen besteigen sieht, löst sich die Spannung in stürmischen Hochrufen. Während vor der Säulenhalle, von der Menge umdrängt, aber nicht belästigt, auf einen großen schwarzbehängten Wagen die Kranzspenden gehäuft werden, Blumen, Blumen und Blumen, ist der Trauerzug fast unbemerkt im Gewühl verschwunden und fährt den toten Walter Rathenau rasch seiner letzten Ruhestätte entgegen.5 gol 28.6.1922

5 Walther Rathenau hat ein Ehrengrab auf dem Waldfriedhof Oberschönweide im Bezirk Treptow-Köpenick, An der Wuhlheide 131a, Feld I/1.

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Straßenbahn-Revolution

Seit gestern Raucherlaubnis

Es ist bald kein Stein mehr übrig von der Welt, in die wir einst hineingeboren worden sind. In den Zeiten, in denen wir durch nichts so berühmt waren, wie durch unsere aus Vorschriften und Verboten säuberlich zusammengesetzte Ordnung, leuchtete gewissermaßen als Symbol dieses umhegten Zustandes die Große Berliner Straßenbahn. Im Verkehr mit ihr und auf ihr war sozusagen jeder Atemzug polizeilich geregelt. Von dem Fahrschein, der aufzubewahren und auf Verlangen vorzuzeigen war, über das Verbot des Ausspuckens, der Unterhaltung mit dem Wagenführer, des Abspringens, über die Vorschrift, daß man die linke Hand an den Griff legen soll, bis zu der Zahl der Personen im Wagen und auf den Plattformen stand alles wohlformuliert aufgeschrieben und leitete den Fahrgast mit dem Gefühl, daß er in der Obhut seiner Behörden väterlich aufgehoben sei, an das gewünschte Ziel. Namentlich die Regelung der Personenzahl diente damals immer wieder zur Einschärfung der staatlichen Autorität. Wie viele Beamte waren damit beschäftigt, von früh bis spät aufzupassen, ob sich nicht etwa ein Schaffner durch Mitleid sich hatte bewegen lassen, eine Person über die polizeilich gestattete Zahl hinaus mitzunehmen! Faßte ihn der Schutzmann dabei, so hatte der arme Schaffner Strafe zu zahlen. Dafür drängten sich die Leute an den Haltestellen und sahen in den verkehrsreichen Stunden Wagen nach Wagen hoffnungslos besetzt an sich vorüberfahren. In den letzten Jahren vor dem Kriege deutete sich das drohende Weltgewitter zuerst an dieser Stelle leise an: Es wurde gestattet, wenige Personen, zwei oder drei, zuviel mitzunehmen. Sie durften im Innern des Wagens stehen – ein unerhörter Anblick für jeden Berliner von damals. Der verhängnisvolle August 1914 fegte mit vielen anderen auch diese schöne Ordnung hinweg. Plötzlich quollen die überzähligen Fahrgäste aus allen Fugen heraus: man mußte zum Bezirkskommando, zum Gestellungsort, und gegenüber dieser Notwendigkeit hielt keine Polizeiverordnung

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stand. Von nun an war es sogar nicht mehr gefährlich, im Notfall auf dem Trittbrett oder außerhalb des Perrons festgeklammert mitzufahren, und so ist es bis heute geblieben, oder es wäre geblieben, wenn nicht die steigenden Fahrpreise den größten Teil der Fahrgäste verscheucht hätten. Heute nun hat die Mauer der Ordnung ein neues Loch erhalten: man darf im Innern des Wagens rauchen; im Anhänger und vorläufig versuchsweise. Auch das ist eine Sensation für den echten Berliner. Bisher war man gezwungen, wenn es einen raucherte, auf der Plattform stehen zu bleiben, sich von seiner Frau zu trennen, die nicht Lust hatte, sich Wind und Wetter um die Nase wehen zu lassen, und jedesmal kostete es einen schweren inneren Kampf, ob man auf den bequemen und geschützten Sitzplatz verzichten und dafür rauchen, oder es umgekehrt machen sollte. Von jetzt ab sind bei der Straßenbahn Rauchen und Fahren keine Gegensätze mehr. Die Straßenbahn erhofft sich einen neuen Zustrom von Gästen. Und der wird auch nicht ausbleiben; es fragt sich nur, ob der Abstrom von Leuten, die zwar fahren, aber nicht angeraucht sein wollen, den Vorteil nicht wieder aufwiegt. gol. 13.8.1922

Der viermillionste Berliner Auf dem Kassenschein, den die Stadtgemeinde Berlin 1922 herausgegeben hat, ist neben anderen wissenswerten Mitteilungen auch die Einwohnerzahl zu lesen, und zwar mit 3 982 000. Das war im Oktober, und damals befand man sich also der runden und stattlichen Ziffer vier Millionen ziemlich nahe. Bekanntlich hat nun das Statistische Amt die Gepflogenheit, die Veränderungen des Einwohnerstandes mit laufender Numerierung zu buchen. Nach dieser Fortschreibung wohnen in Berlin jetzt schon 4 200 000 Einwohner. Damit ist Deutschlands Hauptstadt, versteht sich: Groß-Berlin, nach New York, Shanghai und London unter die paar Viermillionenstädte der Erde gerückt und hat also immerhin einen Rang erreicht, der den bei-

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den Fischerdörfern an der Spree nicht in der Wiege gesungen worden ist. Selbst wenn man in Anbetracht der Zeitläufte zum Festefeiern keine Lust verspürt, so hätte man doch den Abschluß der vierten Million nicht so ganz klanglos vorüberlassen sollen. Aber wer ist denn nun der viermillionste Berliner? Darauf gibt die Statistik leider keine Auskunft, und es scheint auch sonst unmöglich, den Jubilar einwandfrei festzustellen. Man ist daher auf Vermutungen angewiesen. Es kann ein unschuldiges Kindlein sein, das, seine Würde nicht ahnend, hier geboren worden ist; im gediegenen Bürgerhaus oder bei Schiebers oder kläglich unterm Dachboden oder vor lauter Wohnungsnot möbliert, in der Wohnbaracke oder unter freiem Himmel. Es kann sein, daß die Deutschvölkischen oder die Kommunisten einen Zuwachs erhalten haben. Es kann sein, daß uns ein neuer Reichspräsident, ein neuer Goethe oder ein neuer Klante6 geboren wurde. Vielleicht aber ist der Viermillionste überhaupt nicht geboren worden, sondern zugezogen, von Osten oder Westen, mit polnischer Mark oder Dollars, erwünscht oder lästig. Wer es aber auch sei und was er sei: unsere Huldigung dem viermillionsten Berliner!7 28.12.1922

6 Wahrscheinlich: Max Klante (1882–1950), deutscher Wettbetrüger. Klante hatte im Mai 1920 in Berlin einen Wettkonzern und im Dezember 1920 die »Max Klante & Co. GmbH« gegründet. Seine Kunden waren vor allem Kleinbürger. 1921 wurde er wegen Betrugs zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt. Klante gilt als Paradebeispiel für den kriminellen Emporkömmling der Zwischenkriegszeit. 7 Ungezeichnet. Die Autorschaft Goldsteins ist durch einen Eintrag im Journal II vom 27.12.1922 belegt.

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Landestrauer

Zur Psychologie des Lustbarkeitsverbotes Um die Anwendung des Erlasses des preußischen Ministers des Innern über Einschränkung der öffentlichen Lustbarkeiten auf Groß-Berlin wird gegenwärtig noch gekämpft. Die vorgeschriebene »Fühlungnahme mit den in Frage kommenden Interessenvertretungen« hat den Gastwirten die Möglichkeit gegeben, ihre Bedenken vorzubringen und auf Milderungen hinzuarbeiten. Der Polizeipräsident wird sich den Einwendungen nicht verschließen und das Tanzverbot wahrscheinlich erst am Montag in Kraft treten lassen, so daß die für Sonnabend und Sonntag festgesetzten Bälle mit wohltätigem Zweck nicht Gefahr laufen, ihren Veranstaltern statt des erhofften Gewinnes schwere Verluste zu bereiten. Ferner versuchen die Interessentengruppen, eine Verschiebung der Polizeistunde auf 12 Uhr durchzusetzen, da der Schluß um 11 Uhr für viele Gastwirte den Ruin bedeuten würde. Inzwischen hört man schon von neuen behördlichen Einschränkungen. Es steht eine Verfügung des Ernährungsministers bevor, die den Verbrauch in Hotels und Gastwirtschaften regeln will. Es soll verboten werden, zum Frühstück Eier oder Butter zu servieren; jeder Gast soll zu jeder Mahlzeit nur ein Fleischgericht erhalten; für die Herstellung von Kuchen in Hotels, Bäckereien und Konditoreien soll keine Butter mehr verwendet werden dürfen. Zunächst sind die Vertreter der betroffenen Berufe beim Ernährungsminister vorstellig geworden und haben auf die schweren Gefahren einer solchen neuen Kriegswirtschaft hingewiesen. Eine Beschränkung, für die in den Kreisen der Berliner Hoteliers selbst Stimmung gemacht wird, besteht darin, die Berliner Hotels künftig den Franzosen und Belgiern verschlossen zu halten. Man will damit den Unzuträglichkeiten vorbeugen, die aus dem Zusammenwohnen dieser Fremden mit anderen Gästen sich hier und da schon ergeben haben. Der Verein Berliner Hotels und verwandter Gewerbe wird heute abend hierüber zu entscheiden haben. Hoffentlich übersieht man nicht die politische Tragweite, die ein solcher Beschluß haben kann.

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Vielleicht ist es gut, sich in der Mitte zwischen Erlassen und Beschlüssen und ihrer Ausführung ein wenig zu besinnen. Wahrscheinlich ist sich alle Welt über die Prinzipien einig: das Vaterland ist in Not, zu Uebermut ist kein Anlaß. Die Schamlosigkeit einer ungehemmten Verschwendungssucht und Vergnügungsgier ist erbarmungslos zu bekämpfen. Aber hier stockt man schon. Hat sich nicht in den vielen Jahren, seitdem der neue Reichtum emporwucherte, herausgestellt, daß man ihn mit allen Gesetzen nicht hindern kann, das Geld auf seine Weise loszuwerden? Wenn Familie Raffke ihr Vermögen behält, so wird sie in der nächsten, spätestens in der übernächsten Generation gelernt haben, welcher Gebrauch sich davon machen läßt. Inzwischen wird man weiter erleben, was man schon jetzt täglich erfährt, daß die, die es dazu haben, dem Druck der Behörden immer wieder entwischen und sich bald hier, bald da zu ihrer Art von Amüsiervergnügen zusammenballen. Dabei verfolgt sie der Fluch, daß sie unter sich bleiben und trotz allen Geldes das, was man Gesellschaft nennt, nicht erreichen. Das Vaterland ist in Not, in weiterem Kreise ganz Europa, in engerem Bezirk beinahe jede Familie. Was folgt daraus? Sonderbare Logik, die das patriotische Verhalten mit der Uhr mißt. Wenn es dem Ernst der Zeit nicht widerspricht, bis 11 Uhr im Kino zu sitzen, warum ist es vaterlandslos, wenn der Film bis ½ 12 Uhr läuft? Man darf im Café zusammenhocken, sich Zoten erzählen und vor Lachen wiehern – vor der Polizeistunde; aber man darf nicht, um sich von des Tages Arbeit zu erholen, nach diesem Termin an dem gleichen Tische von ernsten Dingen plaudern. Wer wird schließlich getroffen? Nicht die Unangefochtenen, die ihren Sekt in der Wohnung oder in irgendwelchen Verstecken weitersaufen werden, sondern der überarbeitete Bürgersmann, der nach der Spätarbeit seines Berufs, nach vielstündiger Bahnfahrt oder nach anderen Pflichten, die ihn lange wachhalten, für ein Stündchen bei einer Tasse Kaffee Zuflucht sucht und sich nun obdachlos auf der Straße sieht. Und welch‘ sonderbare Psychologie, die den Menschen in dieser schweren Zeit verbieten will, sich zu entspannen. Während des Krieges äußerten sich bisweilen Stimmen, die darüber zeterten, daß die armen Krieger, aus ihrer Feldexistenz für kurze Wochen heimkehrend, dort elegante Frauen herumflanieren sahen. Aber dann erhoben sich sogleich die Gegenrufe der Urlauber selbst, die um Gottes willen baten, man sollte ihnen doch den Trost solcher Augen- und Herzensweide nicht nehmen. Wir sind alle in schwerer Not. In dieser Not müssen wir nicht nur weiterleben, sondern auch weiterarbeiten; es wird mehr Leistung von uns verlangt, trotz des

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schwereren Druckes. Darf man nicht eine Hygiene der Seele fordern, die uns hilft, das Unerträgliche zu tragen? Ein großer Ball ist für jemanden, der an dergleichen überhaupt noch Geschmack findet, eine der wundervollsten Entspannungen, die es gibt. Eleganz, Musik, Frauen, Gewimmel, Abenteuer – innere Ausweitung, Auffrischung der Nerven, neue Arbeitslust. Heißt das Ausschweifung? Von den vielen Festen, die angekündigt waren, hat man sich vielleicht ein einziges vorgenommen; man hat darauf gespart, man hat sich wochenlang gefreut und würde die heilsamen Folgen wochenlang danach mit sich umhertragen. Das Tanzverbot zertritt dieses zarte Kräutlein Freude. Schließlich ist ja auch seit 1914 eine ganze Reihe von Generationen 16, 17 und 18 Jahre alt geworden. Man wird ja der Jugend nicht verbieten wollen, jung zu sein. Nicht wollen, aber noch viel weniger können. Und wenn die Welt zugrunde geht, auf dem Rauch und den Trümmern seiner Existenz wird junges Volk fröhlich sein und sich den Ausdruck seiner Fröhlichkeit gestatten. Oder hat man etwa davon gehört, daß die jungen Soldaten draußen, zwischen den Schlachten, trübselig waren? Es gab nur immer, damals wie heute, Unbeteiligte, die den anderen den Trübsinn befohlen haben. gol. 19.1.1923

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Unter den Kuriositäten der »Passage« Das Ende des Panoptikums

Heute, morgen und übermorgen wird das gesamte Inventar des Passage-Panoptikums8 versteigert, da das Etablissement aufgelöst worden ist und die Räume eine neue Verwendung finden. Daß ich das noch erleben muß! Eines Tages – ich war ein vierzehnjähriger Junge, und gleich hinter unserm Wohnhaus war Berlin zu Ende, und es begannen Wiesen mit hohem Gras und blinkenden Wasserläufen – empfing mich, als ich aus der Schule heimkehrte, mein Bruder, ohne von seiner Arbeit aufzublicken, mit den Worten: »Da kommt der eine Sohn des Direktors.« Ich hielt das für eine Uzerei, erwiderte nichts, sondern begab mich ins Familienzimmer, um nachzuessen. Aber hier wurde mir eine erschütternde Aufklärung zuteil: man hatte meinem Vater den Posten eines kaufmännischen Direktors des Aktienbauvereins Passage angetragen. Die Entscheidung stand noch aus, und inzwischen faßte meine Mutter die Erfahrungen ihres enttäuschungsreichen Lebens in dem Satz zusammen: Die Braut ist zu schön! Daß ein solcher Posten oder ein ähnlicher der Weg war, auf dem der Himmel eines Tages meine Eltern aus dem gröbsten Kampf ums Dasein herausführen mußte, stand unausgesprochen in unserem kleinen Kreise fest, und ich für mein Teil zweifelte denn auch keinen Augenblick daran, daß der 8 Linden- oder Kaiser-Passage, ursprünglich Kaisergalerie genannt, Ecke Unter den Linden, Friedrichstraße und Behrenstraße. Einweihung am 19.3.1873 im Beisein der kaiserlichen Familie. In der Passage befand sich bis 1888 Castans Panoptikum, Inhaber: Louis und Gustave Castan. 1891 zog das von Richard Neumann gegründete und dem »ActienBauverein Passage« gehörende Passage-Panoptikum in die Räume ein. Der Grundriss der Passage ist noch im später errichteten Hotelkomplex zu erkennen.

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Die Passage mit dem Eingang zum Panopticum, Berlin Ecke Friedrichstraße/ Behrenstraße; um 1903.

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liebe Gott diese Handhabe ergreifen und uns zum Glücke verhelfen würde. Daß es aber gerade die Passage war, machte mir das Herz klopfen. Denn zu ihr bestanden schon seit längerer Zeit Beziehungen: unbegreiflicher Weise besaßen wir ein Passepartout, ein Heft voller Eintrittskarten, das erneuert wurde, so oft es aufgebraucht war. Und wir beiden Brüder beluden uns von Zeit zu Zeit mit einem Freunde und schleppten ihn zu Fuß den weiten Weg von draußen bis Unter die Linden und zeigten ihm stolz unser Panoptikum. Und wenn er sich sattgestaunt hatte und wir mit ihm, so setzten wir ihn zwischen uns noch in den großen Saal vor die podiumartige Bühne und ließen ihn und uns von Akrobaten, Komikern und Chansonetten allerlei vorgaukeln. Leider mußte man viel zu rasch wieder aufbrechen; denn es galt den weiten Heimweg zurückzuwandern, und am nächsten Morgen war Schule! Also wir fühlten uns dort sozusagen heimisch, wenn auch voll prikkelnden Respektes vor den verschiedenartigen Funktionären und Funktionärinnen des berauschenden Instituts. Und als ich erst wußte, um was es sich handelte, verstand ich auch die geheimnisvolle Begrüßung meines Bruders: er hatte sich ausgemalt, wie bei seinem Anblick zwei Saaldiener und zwei Kassiererinnen die Köpfe zusammensteckten und respektvoll einander zuflüsterten: »Da kommt der eine Sohn vom Direktor«, und hatte den Triumph seines Vorbeimarsches mit tiefem Zuge ausgekostet. Ob jemals einer von uns beiden von solchen Worten oder Gedanken begleitet worden ist, weiß ich nicht; aber meine Mutter behielt nicht recht. Dies eine Mal war die Braut nicht zu schön, und eines Tages trat mein Vater das Amt an. Und eines anderen Tages durften wir ihn in seinem Direktionsbüro besuchen und wurden von ihm ins Panoptikum geführt: nicht durch den gewohnten profanen Eingang fürs Publikum, sondern durch eine Geheimtür, die ein Diener aufschloß. Und drinnen erlebten wir, wie mein Vater Anordnungen traf und wie sie flink und beflissen ausgeführt wurden. Und wie man mit dem Kapellmeister und mit dem Komiker sich unterhalten konnte, als wären es auch nur Menschen. Ein paar Wochen danach bezogen wir die Direktionswohnung im Gebäude der Passage: eine Flucht schloßartig hoher Zimmer mit mächtigen Bogenfenstern, die zu säubern keinem Dienstmädchen je zugemutet, sondern der Fensterputzgesellschaft anvertraut wurde. Ein besonderer Besen mit endlosem Stiel mußte konstruiert werden, damit die Decken abgefegt werden konnten. Er lehnte für gewöhnlich in einem schachtartigen Verließ mit Oberlicht, das uns als Badezimmer diente. Ueberhaupt verriet die Behausung, daß sie eigentlich für andere Zwecke gebaut war. Die Mädchen-

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kammer – an Geräumigkeit ein Salon – besaß feuerfesten Fußboden und eisenüberwölbte Decke und wurde an beiden Enden von schweren Stahltüren abgeschlossen; offenbar war sie ursprünglich ein Tresor. Erst allmählich modelten meine Eltern die Wohnung nach ihren Bedürfnissen um und wuchsen in sie hinein, bis beide so gut zueinander paßten, daß sie an die zwanzig Jahre zusammenblieben. Das Panoptikum hatte seinen eigenen artistischen Direktor, aber es wurde von der Gesamtdirektion der Aktiengesellschaft verwaltet. Daher mußte mein Vater mit jenem sich im Aufsichtsdienst abwechseln. Der war am wichtigsten und schwersten bei Massenbesuch, wie ihn die Sonntage brachten. Dann stand mein Vater vom frühen Nachmittage bis zum späten Abend auf seinem Posten in Staub, Lärm und Hitze und dirigierte mit Hilfe bewährter und handfester Untergebener einen dicken Strom von Menschen, der sich ohne Unterbrechung von den Eingängen her durch die engen Gänge ergoß, sich um die Sehenswürdigkeiten staute, auf das Geklingel der Ausrufer hin mit beängstigenden Stößen zu den Attraktionen drängte und überall Wachsfiguren, Glasschränke und Vexierspiegel umzurennen und einzudrücken drohte. Machte mein Vater endlich erschöpft und heiser Feierabend, so war er froh, wenn der Tag mit ein paar festgenommenen Taschendieben und ein paar ohnmächtig hinausgetragenen Frauen hingegangen war, ohne daß es Feuer oder Panik gegeben hatte. Das Panoptikum stand uns zur Verfügung wie ein Teil unserer Wohnung; wir brauchten nur über den Treppenflur zu gehen und aufzuschließen. Es kam denn auch kein Freund zu uns und kein Besuch zu unseren Eltern, der nicht wenigstens einmal an den Sehenswürdigkeiten vorbeigeführt oder für ein Stündchen in den Theatersaal gesetzt wurde. Jahrelang gehörte das zwischen Kaffee und Abendbrot, zwischen Abendbrot und Obst bei uns zum Familienprogramm. Denn war es nicht wirklich sehenswert, ohne daß es Feuer oder Panik gegeben hatte.9 Da stand im großen Fürstensaal unter schwerem Thronhimmel auf Stufen erhöht Kaiser Wilhelm, jung und strack, in Kürassieruniform, den Silberhelm in der Hand. Und um ihn versammelt Vater und Großvater, Bismarck und Moltke, alle Minister, der kleine Menzel und was sich sonst der arglose Staatsbürger, die Zukunft nicht ahnend, stolz und respektvoll 9 Im maschinengeschriebenen Manuskript heißt es: »Denn war es nicht wirklich sehenswert, was wir zu zeigen hatten?« Goldstein-Nachlass im Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmundl, II AK 85/194 -3-.

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betrachtete. Dann gab es die Schreckenskammer, die ich erst spät zu betrachten wagte und deren grausige Bilder mir Nächte lang im Hirne klebten: man sah den Raubmord, Verhaftung des Mörders, Gericht und Vollstrekkung des Todesurteils, alles aus kaltem Dämmerlicht starr und schweigend mit krasser Realistik hervorgrinsend. Noch mehr Entsetzen erregte das anatomische Kabinett, das ich nur ein einziges Mal zu betreten vermochte, mit seinen blutrot enthüllten Geheimnissen des Geburtsvorganges und der Sexualkrankheiten. Aber es gab auch freundlichere Bilder, am freundlichsten eine Haremszene, in deren beleuchteter Mitte blendend eine nackte Frauengestalt sich darbot, die, im Bade stehend, einen Schwamm über ihren vollkommenen Leib ausdrückte. Wir Eingeweihten wußten, daß diese Figur nicht gebildhauert, sondern in Gips vom lebenden Körper abgeformt war, wir kannten die Besitzerin dieses schönen Körpers und auch wieder den Nutznießer dieser Besitzerin. Wir wußten es, aber wir verrieten es nicht. Wachsfiguren waren nicht die einzige Sehenswürdigkeit. Es lag da zum Beispiel in einer Vitrine, durch Dokumente beglaubigt, das Sterbekissen Kaiser Wilhelms I. Wer in aller Welt mag die Reliquie an sich genommen und verkauft haben? Inzwischen ist sie übrigens zurückgegeben worden und muß nun wieder auf ihrem historischen Platz liegen. Dann waren ausgestellt ethnographische Gegenstände und Stücke eines Naturalienkabinetts, auch lebende Schildkröten und Schlangen. Für dergleichen vermutete die Leitung Interesse beim Publikum und beschloß daher, ein riesiges Aquarium aufzustellen. Das Eisengestell setzte man im Hause zusammen, kittete an der Vorderseite eine große dicke Glasscheibe ein und füllte dann das Becken mit Wasser. Die Sachverständigen standen dabei und beobachteten, was nun geschehen würde. Es geschah dies, daß von dem ungeheuren Wasserdruck die Scheibe nach vorne gedrängt und der Kitt herausgepreßt wurde. Kopfschüttelnd sahen die Techniker diesem Vorgang zu – bis die Scheibe den Metallrahmen berührte und dem Druck nicht weiter nachgeben konnte. Da platzte sie, und der Inhalt von ich weiß nicht wieviel Kubikmetern Wasser ergoß sich in den Raum und von da, durch rasch herbeigerufene Scheuerfrauen kommandiert, unsere Treppe hinunter. Ich in meinem Zimmer hörte das Rauschen und Plätschern, das Rufen und Rennen und das stundenlange Wirtschaften; aber ich sah nicht aus dem Fenster und erfuhr erst hinterher die Katastrophe. Denn ich saß fasziniert über einem Buche und las zum erstenmal Ibsens »Nora«. Sensationen brauchte das Panoptikum, und der artistische Direktor, Maler und Bildhauer von Beruf, wurde in die Welt geschickt, um ihre

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Schönheiten heimzubringen. Er fuhr nach Süditalien und brachte zunächst die blaue Grotte von Kapri mit. Die stand denn, ohne Mühe zugänglich, Jahre hindurch Unter den Linden 22, zwei Treppen hoch, eine wirkliche Grotte mit wirklichem Wasser und einem wirklichen Kahn in unwirklich blauem Lichte, während ein versteckter Automat Santa Lucia klimperte. Aber das war noch gar nichts. Im Ecksaal, nach der Behrenstraße, wo zuletzt ein Kabarett untergebracht war, wurde nicht weniger als der Golf von Neapel aufgebaut. Man bestieg ein großes Schiff; von dem man nur das Vorderteil sah, und fuhr los. Das heißt, in Wirklichkeit schaukelte zwar der Boden, aber man blieb an der Stelle, während eine Reihe von Kulissen sich vorüberschoben. Musik spielte, aus Sonnenschein wurde Dunkel, und der Erklärer psalmodierte: »Wir haben eine herrliche Mondnacht.« Das war die größte der künstlichen Sensationen. Aber es gab auch natürliche. Der Riese Machnow, der, wenn er in einer Droschke Reklame fuhr, auf dem Boden sitzen und die Beine rechts und links neben dem Kutschbock nach außen hängen lassen mußte, pflegte im Passagehotel zu logieren, und nicht selten begegneten wir ihm auf der Treppe, indem er sich keuchend und vorsichtig über die viel zu schmalen Stufen abarbeitete. Der Zwerg Atom, auch Gast des Hotels, so oft er sich im Panoptikum sehen ließ, wurde herauf und hinunter getragen. Ein noch nicht zweijähriges Kind, das jede Druckschrift laut vorlas, die man ihm vor die unschuldigen Augen hielt, wurde bisweilen mitten aus der Vorstellung mit fliegender Hast zu uns herübergetragen, weil man bei uns die Kunst, ein Kind vom feuchten in den trockenen Zustand zu bringen, noch nicht völlig verlernt hatte. Aber auch dieses Wunder zog nicht so viele Schaulustige an wie die exotischen Gruppen. Es kamen spanische Zigeuner, Gitanos, und sangen und tanzten den Berlinern ihre temperamentvolle Heimat vor. Es kamen Marokkaner, wahres Gesindel, vom Rande der Wüste aufgelesen, das nur schwer davon abzuhalten war, dem braven Bürgertum der Hauptstadt nordafrikanische Zügellosigkeiten vorzuführen. Es kam des dicken Königs von Dahomé weibliche Leibgarde, kaffeebraun und appetitlich, bekleidet mit einer Handvoll Kaurimuscheln. Viele der Soldatinnen trugen Babys auf dem Rücken oder vor die Brust gebunden, die sie nur von sich legten, wenn sie ihre wohleinexerzierten Tänze und Märsche vorführten. Ein zweijähriges Mädelchen, Titi geheißen, war Gespielin des jüngsten von uns Brüdern und ist mit dieser Freundschaft auf mancher Photographie festgehalten. Die Palmen ihrer Heimat hat sie nicht wiedergesehen: die Truppe zog weiter nach Rußland, und dort ist die kleine Titi von der Auszehrung hinweggerafft worden.

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Am weitesten her waren die Samoaner. Sie kamen gegen eine ungeheure Summe, die à fond perdu hingesandt werden mußte, nach einer Reise von mehreren Monaten von der Südsee direkt ins Passage-Panoptikum: gelbbraune Gestalten, die Männer an Formen des Leibes, Haltung und Gang wahre Modelle, die Frauen kleiner, von breitnasigem Gesichtstypus, aber auch erfreulich für das Auge. Nicht ganz so für die Nase: die Samoaner strömten einen besonders spürbaren öligen Geruch aus. Unter ihren Vorführungen befand sich die Rüstung einer besonderen Feierspeise, die von der Vornehmsten aus allerhand Zutaten unter reichlicher Verwendung von – Pardon! – Spucke bereitet wurde. Für die Berliner bestimmte man zu diesem Ehrenamt nicht die Vornehmste, sondern die Schönste, natürlich nicht nach samoanischem, sondern nach europäischem Geschmack: sie hieß Fay und wurde von ihren Landsleuten bitter angefeindet. Dafür hing aber ihr Bild, von Sichel10 gemalt, in der Großen Berliner Kunstausstellung. Die Besucher strömten – und man beschloß, den Hunderttausendsten nach Gebühren zu feiern. Der artistische Direktor stellte sich am Eingang auf und zählte nicht etwa, sondern faßte jeden Eintretenden prüfend ins Auge. In einem beleibten Provinzialen hatte er endlich seinen Mann gefunden. Der Ahnungslose, der gekommen war, um zu staunen, nicht bestaunt zu werden, sah sich plötzlich zeremoniell begrüßt, unter Tusch auf das Podium geleitet, vor tausend gaffende Blicke gestellt, mit einer goldenen Uhr beschenkt und durch eine Ansprache gefeiert. Man sah ihm an, daß er sich in den Boden schämte und gern entwischt wäre. Aber vermutlich erzählen noch seine Enkel von diesem Ehrentag. So war die gemütliche Zeit des Passage-Panoptikums. Später wurde es an einen Unternehmer verpachtet, der die Sache ins Amerikanische verwandelt[e], allen Nachdruck auf Varieté und Kabarett mit Logen und Weinzwang legte und die Schaustücke in den Winkel verbannte. Es gab Prozesse zwischen ihm und der Aktiengesellschaft, und wir hörten auf, drüben zu Hause zu sein. Die Jahre gingen hin, es kam das große Sterben des Weltkrieges und das kleine Sterben, das die Generationen sachte auslöscht. Und nun ist das Panoptikum, das schon lange aufgehört hatte, unser Panoptikum zu sein, auch gestorben. Zugegeben, daß Wachsfiguren nicht mehr in die Zeit passen. Aber mir tut es leid um diesen Kuriositätenkasten, und wenn ich durch die Passage gehe, fremd wie irgendein anderer der sonder10 Nathaniel Sichel (8.1.1843–4.12.1907), Maler und Buchillustrator.

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baren Passanten, so wundere ich mich, daß sich noch das lange Glasdach über den wimmelnden Durchgang spannt … gol. 22.2.1923

Von morgens bis mitternachts Blick in das Sechstage-Rennen

Berlin schläft. Auch die verlängerte Polizeistunde kann nicht verhindern, daß um 1 Uhr nachts die Straßen ausgestorben sind. Als vereinzelter Spätgänger tappst du durch das Dunkel, bisweilen geblendet vom Strahlenkegel eines vorbeiflitzenden Autos und hinterher nur um so tiefer in Finsternis getaucht. Aber dort hinten lagert Lichtnebel, summt Lärm, brodelt Bewegung. Wie ein riesiger Saugetrichter zieht es von allen Seiten an sich, was noch unterwegs ist. Du leistest keinen Widerstand und stehst vor dem Sportpalast.11 Autos über Autos, in langen leuchtenden Reihen bis tief in die Nebenstraßen. Lungernde Gestalten, halbwüchsige dazwischen, die neugierig und neidisch den Eintretenden nachblicken. Im Vorgarten ein Trupp Schutzpolizei. Die Ankommenden und die Fortgehenden kreuzen sich an den Türen. Umschwärmt die Kassen. Die besten Plätze sind ausverkauft, zu haben noch die billigen, auch ein paar von den mittelguten: du hast die Wahl zwischen 1 500 und 10 000 Mark. Ein schmaler Durchlaß mit doppelter Bewachung, noch eine Kontrolle, immer wieder Kontrollen. Endlich stehst du in einem gekrümmten Gang 11 Der Sportpalast (Potsdamer Straße 172) wurde 1910 gebaut. Hier fanden sportliche und politische Großveranstaltungen statt, seit 1911 auch das jährliche Sechstagerennen. Nach 1933 gab es hier jedoch kaum noch Sportveranstaltungen, da die Nationalsozialisten das Gebäude hauptsächlich für eigene politische Kundgebungen nutzten. 1973 wurde der Sportpalast abgerissen.

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hinter hohen Holzschranken, die hier und da von schmalen Stiegen durchbrochen werden. Offenbar befindest du dich im Rücken irgendeines wilden Vorganges, den du noch nicht siehst, den du aber hörst, ohne ihn deuten zu können. Das Summen einer unzählbaren Menschenmenge schwebt in der Luft, durchquert von nervenerregendem Rollen. Vorbei an Verkäufern von Nachtzeitungen, Bier, Programmen, Würstchen, Zigarren, immer wieder kontrolliert und zurückgewiesen, suchst du irgendwo endlich durchzubrechen. Eine Treppe leitet dich nach oben, und plötzlich schwingt sich dein Blick entfesselt in den Riesenraum. Unter schwebenden Bogenlampen und Scheinwerfern wölbt sich ein schwarzes Oval, schwarz von Menschen, in drei Ringen übereinander getürmt. Menschen Kopf bei Kopf auch unten auf der ebenen Fläche; und zwischen ihnen und den Balkons das schmale leuchtende Band der Rennbahn, für das Auge von oben her infolge seiner Krümmungen phantastisch verzerrt. Und auf ihm in gleichmäßigen Runden das Feld der Fahrer: ein gutes Dutzend bunter, nacktbeiniger Menschen, auf ihre Räder gebückt, eine große Ziffer auf den Rücken genäht. Wie im Spielzeug kreisen sie um die Bahn, entschwinden dem Auge, sind wieder da, in gleichmäßiger Periode von etwa 17 Sekunden, und schleifen das vibrierende Rollen immer mit sich. Plötzlich schwillt dieser Ton in die Höhe und Stärke, und gleichzeitig lodert das Summen über der Masse empor zu Rufen, Johlen, Geschrei, Trampeln und Klatschen – und verebbt. Ein Spurt ist ausgefahren worden um irgendeine Prämie, die sich eine nach der andern mit hellen Lettern auf den dunklen Grund einer hängenden Tafel schreibt samt dem Namen des Stifters: 2 Dollar, 60 000 Mark, 5 Dollar, Hunderttausend Mark. Wieder zieht das Feld seine gleichmäßigen Runden rollend durch die summende Ellipse von Menschen. Ueber eine brückenartige Treppe gelangst du hinunter in den Mittelraum der Bahn. Auf jedem Tisch protzt ein Kühler mit Sekt, Herren mit Anhang, Herren im Smoking, im Cut, im Straßenanzug, auch im Arbeiterkittel, Damen mit Hut, Damen in Rock und Bluse, eine Dame im Abendkleid mit bloßen Armen sitzen, gehen, stehen und spielen Kurplatz. Von hoch oben müht sich eine Kapelle, das Treiben mit Musik zu überstreuen; aber der Raum verschluckt Rhythmus und Klang. Die Liebhaber und Erfahrenen des Sports drängen sich ringsum gegen die Schranke, sitzen darauf, lassen die Beine nach innen oder außen hängen oder haben sich auf den Sprossen hochgestellt. Hier wehen die Fahrer ganz dicht vorüber, und der lebendige Saum von Sachkennern begleitet sie mit leidenschaftlicher Kritik. Dieser

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und jener läßt das Programmbuch nicht aus den Händen und notiert in die vorgedruckten Tabellen Kilometerzahlen und Wertungspunkte. Die Fahrer lassen sich nur mit Hilfe der Rückennummer und Trikotfarbe aus der Liste identifizieren: ihr Menschliches entgleitet dir im Tempo des Wettlaufs. Aber wenn du die besondere Erlaubnis erhältst, darfst du die Schranke überklettern und aus der Mitte der Bahn eine Treppe abwärts steigen. Du gelangst wieder in einen gekrümmten Rundgang, unterhalb der Arena, dessen Ziegelwerk unverputzt zu Tage liegt. Unter der Decke laufen schwarze krustige Heizröhren. Durch Holzverschläge, roh gezimmert, werden Kabinen abgeteilt: in ihnen finden die Fahrer während der sechs Tage ihre Zuflucht. Den einen oder anderen Partner einer Mannschaft, der gerade abgelöst ist, siehst du durch den Türspalt sein Wesen treiben. Er hat da drinnen zu seiner Verfügung eine Lagerstatt mit Wolldecken, einen Gaskocher, Geschirr, das säuberlich an den Wänden hängt; Zivilkleidung, Koffer und Reisetasche ist untergebracht. Er steht oder sitzt, allein oder mit Kollegen, rührt im Topf auf der Flamme, ißt oder trinkt. Er tut alles gelassen und langsam, besonnen und bürgerlich. Von seinem flitzenden Gewerbe hat er nichts an sich, so wenig wie aus dem Wesen eines Lokomotivführers der Rhythmus des Schnellzugs pocht. Ueber die Bahn oben läutet eine Glocke: ein Spurt beginnt. Von hinten her aus der Kolonne ist einer vorgebrochen und an die Spitze gelangt. Den Kopf immer wieder rückwärts gedreht, reißt er das Feld sich nach. Aus Rufen und Klatschen wird empörtes Schreien und Pfeifen. Es ist ein Ausländer, dem man unfaires Manöver vorwirft; vielleicht weil er Ausländer ist? »Hier kommt der Sport in Frage und nicht das Vaterland«, rügt ein Vernünftiger mit Schirmmütze und Halstuch, der verdiente, in den Reichstag geschickt zu werden. Die Wettkämpfer fahren und fahren, nicht in den Raum, der ihnen alle 17 Sekunden wiederkehrt, sondern in die Zeit: noch 140 Stunden[,] verkündet eine Tafel. Das Amphitheater aus Menschenleibern vom Boden bis unter das Dach brodelt, ruft, klatscht, lacht, fiebert. Zehntausend Menschen starren auf ein Dutzend Rennfahrer. »Die Ruhrkinder hungern immer noch«12, sagt, über die Schranke hängend, ein anderer Mann aus dem Volke. gol. 25.2.1923 12 Dieser Ausspruch bezieht sich auf die Besetzung des Ruhrgebietes nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg.

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Blick von der Siegessäule Zu ihrem 50. Geburtstag

Ein halbes Jahrhundert lang steht die geflügelte Riesin mit flatterndem Gewande und erhobenem Arm wie zum Absprung bereit goldschimmernd über dem Werk, zu dessen Ehren sie von unseren Eltern und Großeltern aufgerichtet worden ist. Heute vor 50 Jahren, am 2. September 1873, wurde auf dem Königsplatz13 zu Berlin die Siegessäule eingeweiht, mit militärischen Ehren und allem Pomp, über den der erfolggekrönte Staat damals verfügte. Eine Enthüllung, wie sonst bei Denkmälern, war freilich bei diesem ungeheuren Bauwerk nicht möglich. Allen sichtbar ragte der Säulenschaft und die Figur auf seiner Spitze in das nach alter Hohenzollernscher Tradition strahlende Spätsommerwetter. Verhängt waren nur die Sockelreliefs, die man um ein Haar ebenfalls vergoldet hätte, und die allegorische Darstellung in der Säulenhalle, die damals noch nicht in Mosaik, sondern in Anton von Werners14 gemaltem Entwurf zu sehen war. Rings um das Bauwerk flatterten von girlandenverbundenen Masten Fahnen und Standarten, in einem Zeltbau versammelte sich der Hof. Die nicht wenigen Künstler, die an dem Denkmal mitgewirkt hatten, waren zugegen. Es fehlten nicht Minister, die

13 Die Siegessäule stand ursprünglich auf dem Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik. Im Zuge von Albert Speers Planung einer Neugestaltung Berlins, wurde sie auf den Großen Stern an der heutigen Straße des 17. Juni versetzt und die drei Reihen der Kanonenrohre wurden auf vier vermehrt. 14 Anton Alexander von Werner (9.5.1843–4.1.1915), Maler und Zeichner. Wurde 1871 offizieller Hofmaler des Kaiserhauses. Ab 1875 Direktor der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Werner war berühmt wegen seiner monumentalen Historienbilder, z. B. die »Kaiserproklamation in Versailles«.

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Die Siegessäule auf dem Königsplatz, im Hintergrund der Reichsstag; um 1930.

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Beamtenschaft, Rektor und Dekane der Universität, der Landtagspräsident, Johanniter- und Malteser-Ritter, die Generalität, Deputationen der Armee und der Marine, Invaliden der letzten drei Kriege, sowie die überlebenden Veteranen von 1813–1815. Dem Publikum war der Nordrand des Königsplatzes vorbehalten, auf den übrigen drei Seiten des Quadrats vollzog sich der Aufmarsch des Militärs. Inmitten dieses figurenreichen und buntfarbigen Schauspiels fand »L. P.«15, der berühmte Chronist der »Vossischen Zeitung«, noch Zeit, die Toiletten der Damen des königlichen Hauses sachverständig zu beschreiben. Bismarck zu Pferde. Zu Pferde der alte Kaiser Wilhelm. Trommelwirbel, Kavalleriesignal »zum Gebet«, Choral des Domchors. Der Feldpropst der Armee Dr. Thiele, derselbe, dessen mächtige, salbungsvolle Stimme an den großen Tagen von Versailles vernommen worden war, hielt die Weiherede. Fern von christlicher Demut, ganz und gar nicht angerührt von der Möglichkeit, daß auch dieser Glanz einmal verblassen könnte, schwelgte er in der Herrlichkeit des Siegerdenkmals, »hehr und groß, wie kein zweites im Lande ist und kein anderes Volk ein solches besitzt«. Wieder Trommelwirbel und Fanfaren. Bismarck reitet zum Kaiser, um das Kommando zum Fallenlassen der Denkmalshülle zu erbitten. Der Kaiser gibt das Zeichen mit dem Degen; die Vorhänge sinken. Anschlagen aller Musikkorps, Glockenläuten, Geschützdonner, »Heil dir im Siegerkranz«. Es folgt das Abreiten der Fronten und das Vorbeidefilieren der Truppen, während neben dem Kaiser die Hauptfiguren der Heldenzeit halten: der Kronprinz, Bismarck, Roon, Moltke, Vogel von Falkenstein mit weißem, wallendem Bart, und dazu noch fest im Sattel der alte Wrangel. Abends Galadiner und Festvorstellung im Opernhaus. Die Illumination der Stadt Berlin verregnete. Aber am späten Abend entflammten die Turner einen Holzstoß auf dem Kreuzberg. Dann ergoß sich der Segen von Orden, Auszeichnungen und Beförderungen. Daß es kein Kunstwerk sei, das damals geweiht wurde, wußten schon die Zeitgenossen. Ludwig Pietsch in seiner ausführlichen, reichlich kühlen Würdigung am Vortage der Enthüllung erklärt das ästhetische Mißlingen mit der Entstehungsgeschichte. Denn als man den Bau begann, war nicht annähernd das geplant, was schließlich daraus wurde, weil man die Ereignisse ja nicht voraussehen konnte, die sich seit dem Kriege mit Dänemark 15 L.P. d. i. Ludwig Karl Adolf Pietsch (25.12.1824–27.11.1911), Schriftsteller und Zeichner. Schrieb für die »Berliner Allgemeine Zeitung«, die »Haude und Spenersche« und ab 1864 für das Feuilleton der »Vossischen Zeitung«.

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überstürzten. Der Grundstein war gelegt worden am 18. April 1865, dem ersten Gedenktage des Sturmes auf die Düppeler Schanzen.16 Eine Urkunde wurde hineingeschlossen, in der es heißt: »Wir Wilhelm usw. tun kund und fügen zu wissen, daß Wir beschlossen haben, zum bleibenden Gedächtnis an die Taten Unseres Heeres in dem im verflossenen Jahre geführten Kriege aus den Trophäen dieses Feldzuges ein Monument errichten zu lassen.« Eine zweite, auf den Krieg von 186617 bezügliche Urkunde wurde 1869 in den Grundstein gelegt. Eine dritte endlich im Jahre 1871. Ruckweise mit diesen Ereignissen änderte sich der Plan. Und so war es kein Wunder, daß Stracks18 Bauwerk und Drakes19 Kolossalfigur die Geschmacksrichter nicht befriedigte. Namentlich die vergoldeten Kanonenrohre, rings um den Säulenschaft in drei Reihen übereinander geordnet, weckten Ludwig Pietschs berechtigten Tadel, da diese Symbole, statt ihrer Natur nach gewaltig und drohend zu wirken, durch die Art ihrer Anordnung ins Spielerische hinabgedrückt worden sind. Also man war schon damals auf die Form des Siegerdenkmals nicht übermäßig stolz, wenn man auch nicht voraussah, in welchem Maße dieses Riesenpetschaft, wie von einer barbarischen Faust mitten auf den Königsplatz geknallt[,] durch geschäftskluge Fabrikanten von Thermometern und Zigarrenabschneidern und nicht zuletzt durch den gefährlichen Witz der Berliner banalisiert werden würde. Aber auf Sinn und Inhalt des Werkes waren auch die Skeptischen stolz. Und hätten doch schon damals Grund gehabt, weiter zu denken. Was war da aufgerichtet worden? In Schulfeiern und offiziellen Reden hatte man uns vor dem Kriege gewöhnt, in der Siegessäule das prächtige Symbol der endlich errungenen Reichseinheit zu erblicken. Aber so war es nicht 16 Der Deutsch-Dänische Krieg war die militärische Auseinandersetzung um SchleswigHolstein zwischen dem Deutschen Bund und dem Königreich Dänemark. Am 18.4.1864 wurde Dänemark in der entscheidenden Schlacht bei den Düppeler Schanzen besiegt. Der Krieg endete 1865 mit dem Frieden von Wien. Preußen erhielt das Herzogtum Sachsen-Lauenburg sowie das Herzogtum Schleswig; Holstein fiel an Österreich. 17 1866, der Deutsche Krieg. Auseinandersetzung des Deutschen Bundes unter Führung Österreichs mit Preußen. Grund hierfür war die Besetzung Holsteins durch Preußen, obwohl das Gebiet nach dem Frieden von Wien Österreich zugesprochen worden war. Der Sieg Preußens über den Deutschen Bund hatte die Auflösung des Deutschen Bundes zur Folge. 18 Johann Heinrich Strack (6.7.1805–13.6.1880), Architekt. Ab 1876 Hofarchitekt des Kaisers. Vertreter des Berliner und Potsdamer Spätklassizismus. 19 Johann Friedrich Drake (23.6.1805–6.4.1882), Bildhauer.

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gemeint. Das Denkmal selbst und seine Feier war eine preußische Angelegenheit. »Zu dem Feste, als einem speziell preußischen, konnte eine Einladung an das Präsidium des Reichstages als solches nicht ergehen, auch deshalb nicht, weil der zweite Präsident, Hohenlohe, Bayern angehört«, äußerte sich eine offiziöse Korrespondenz. Deshalb wurde der Reichstagspräsident Simson20 nur persönlich hinzugebeten. Ein »Allerhöchster Erlaß betreffend die Enthüllung des Siegesdenkmals« bestimmt ferner: »Von der Einladung der Gesandten resp. des diplomatischen Korps wird zur Vermeidung von Inkonvenienzen Abstand zu nehmen sein. Auch die Meiner Monarchie angehörenden Fürsten sind nicht besonders anzufordern.« Der neue Rock des geeinigten Deutschlands saß damals offenbar noch nicht bequem. Preußen feierte, es feierte seine preußischen Siege, und tat es mit dem Gefühl, daß es zu viel gesiegt hätte und sich dessen zu laut freute. Seit 50 Jahren blickt die Siegesgöttin von ihrem hohen Postament ins Land. Als Viktoria-Borussia wurde sie klirrend bezeichnet. Seitdem hat sie die Stadt zu ihren Füßen wachsen und das Land ringsumher aufblühen sehen. Aber wenn sie so viel klüger als ein gewöhnlicher Mensch ist, wie sie ihn an Größe übertrifft, so wird sie gewußt haben, daß im Grunde genommen beinahe vom ersten Tage an das Werk zerfiel, das sie krönen sollte. Lärm, Glanz und Fanfaren sind in all den Jahren immer größer geworden. Es kam der Tag, wo ihr Blick die Siegesallee entlang sich an zwei marmornen Dornenhecken blutig reißen mußte. Es kam der Tag, da sie sich gegenüber statt des schlichten alten Wrangelbrunnens den kraftstrotzenden Roland sah. Denkmäler aus Bronze und Marmor stellten sich ihr zur Rechten, Linken und im Rücken auf. Und nur vom »deutschen Volke« über dem Portal des Reichsparlaments durfte nicht die Rede sein.21 Und es kam der Tag, während sie immerfort fortzuschweben schien, da die Begeisterung von 1870 sich wiederholte. Und dann wartete sie, daß auch der Jubeltag des 2. September wiederkehrte. Vielleicht wartete sie nicht ohne Eifersucht; denn wenn der Weltkrieg mit einem preußisch-deutschen 20 Martin Eduard Simson, seit 1888 von Simson (1810–1899), Politiker, Jurist. Von 1867– 1871 und 1871–1874 Reichstagspräsident. 21 1884–1894 wurde das Reichstagsgebäude für das Parlament des Kaiserreichs auf dem Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, gebaut. Architekt war Paul Wallot (26.6.1841–10.8.1912). Der Giebel trägt die Inschrift »Dem Deutschen Volke«. Am 27.2.1933 wurde durch den Reichstagsbrand vor allem der Plenarsaal zerstört. Bei Kämpfen kurz vor Kriegsende brannte das Gebäude dann völlig aus.

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Sedan22 geschlossen hätte: wo sollten die Maße hergenommen werden für das Siegesdenkmal, das dann hätte errichtet werden müssen? Aber dieser Tag kam nicht, sondern nachdem sie vier Jahre lang gewartet und dabei von oben herab etwas gesehen hatte, worauf sie in ihrer Jugend bestimmt nicht gefaßt war, nämlich mitten in Berlin den Hunger, war es auf einmal aus mit Goldglanz und Fanfaren. Die verpönte Inschrift zwar erschien zu ihrer Linken, aber dafür fielen eines Tages vor eben diesem Hause Schüsse von Bürgern auf Bürger, und es lagen da Deutsche in ihrem Blute. Viktoria-Borussia oder die Siegesgöttin kommt sich seitdem vor wie eine leere Hülse. Man klettert noch zu ihr hinauf, für 3 000 Mark, wenn man sich als deutscher Staatsbürger ausweisen kann, für 30 000 Mark, wenn man sich als Ausländer, der Kuriosität halber, die Mühe macht. Ein Invalide sitzt noch immer an der Kasse, einer von den neuen, versteht sich. Die Sonne scheint, und der Wind weht und bauscht ihr erzenes Gewand mit aller Natürlichkeit. Das Gold freilich – und das sieht man deutlich, wenn man oben steht – fängt stark an abzubröckeln, und es zu erneuern, ist bis auf weiteres ja wohl keine Aussicht. Und so wird nichts anderes übrig bleiben, als die vergoldete Riesenpuppe dort oben mit einem neuen Sinn zu erfüllen. Wenn sich unsere Welt von Sieg zu Niederlage gewandelt hat, warum kann sie sich nicht wieder zurückdrehen? Warum soll es nicht wieder einmal preußische Siege geben? Es müssen nicht durchaus Siege der Waffen sein. Die Säule steht wie wir alle neben dem Abgrund. Man wird sie umstürzen oder man wird sie aufs neue weihen; dann nämlich, wenn es uns gelungen sein wird, aus dieser Zeit der Not wieder zum Segen der zukunftsreichen Arbeit zurückzukehren. Viel muß bis dahin anders werden, in Berlin und Preußen, in Deutschland und Europa. Siegessäule und Viktoria-Borussia wird das Denkmal dann nicht mehr heißen, sondern man wird es in aller Stille, aber mit sehr tiefer Empfindung dem Frieden weihen. Moritz Goldstein 2.9.1923

22 Die Schlacht von Sedan 1.9.1870 im Deutsch-Französischen Krieg; sie endete mit der Kapitulation der französischen Truppen und der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. am 2.9.1870.

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Lebt das Berliner Schloß noch?

Wirt und Mieter

Ganz früher konnte man einfach hindurchgehen, vom Schloßplatz nach dem Lustgarten, über den großen Hof, vorbei an dem tapferen St. Georg, der den Drachen erlegt. 1888, kaum daß Kaiser Friedrich ausgelitten hatte, wurden die Tore geschlossen, und es begann hinter den Fenstern, die bis in die Nacht hinein erleuchtet blieben, ein allgemeines Renovieren und Umräumen: Der neue Herr richtete sich ein. Von da an lag der Riesenbau zwischen den beiden Spreearmen inmitten eines immer lauter und prunkvoller anwachsenden kaiserlichen Hoflebens. Standarten wehten über dem Dach. Militärposten standen an allen Eingängen. Fremde warteten, daß der Kaiser ausfuhr oder zurückkehrte. Es gab die glanzvollen Auffahrten der Gratulationscouren und der Hoffeste. Und es flatterten in die Welt jene telegraphischen Befehle zu Audienzen, Vorträgen und Begleitungen, datiert: »Schloß, den soundsovielten.« Unzählige sind im Laufe der langen Regierungszeit Wilhelms II. dort aus- und eingegangen. Für den Bürger und Mann aus dem Volke war das Haus eine Festung. Gezeigt wurden ein paar kalte Prunkräume. Aber auch Wilhelm erlebte einen Tag, da sein Volk ihn zu sehen wünschte und er sich ihm zeigte. Am Nachmittag des 1. Augusts 1914 war der Lustgarten schwarz von Menschen. Burschen hingen an Masten der Kandelaber und taktierten über den Köpfen der Menschenmenge den rhythmischen Zuruf: »Wir wollen den Kaiser sehen!« Und endlich sah man ihn neben seiner Frau auf dem Balkon des ersten Stockwerks über dem Portal und hörte seine Stimme. Die historischen Worte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, wurden nicht an diesem Tage gesprochen, sondern am folgenden vor den Truppen am Tempelhofer Feld. An jenem 1. August auf dem Balkon seines Schlosses drückte er sich sehr viel charakteristischer aus. »Was sie mir auch angetan haben in politischem Kampf – ich verzeihe ihnen alles!« Und dabei machte er mit der Rechten eine weitausholende

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Bewegung des Weglöschens. Damals hielt er sich noch für die Instanz, die zu verzeihen hat. Vier Kriegsjahre war es still um das Schloß und wurde immer stiller. Vor der Lustgartenfront stand eine Reihe eroberter Geschütze. Sie standen solange dort, bis sie zurückgegeben werden mußten. Kurz vorher hatte Wilhelm das Schloß verlassen auf Nimmerwiedersehen. Plötzlich waren die unbetretbaren kaiserlichen Gemächer unbeschützt und offen, und ein zügelloser Haufe gab sich der Wollust hin, hier einzudringen, Schränke und Vitrinen aufzureißen, und mitzunehmen, was brauchbar schien. Besitzer und Besatzungen wechselten. Die letzten mußten mit Granaten vertrieben werden. Bei den Wiederherstellungsarbeiten verschwand der Balkon, von dem aus der Kaiser zum ersten und letzten Male zu seinem Volk gesprochen hatte. * Das ungeheure Gebäudemassiv, seines Inhalts und Sinnes beraubt, lag da wie eine leere Hülse. Aber so konnte es nicht bleiben. Schließlich hat man ja in Berlin keinen Ueberfluß an verwendbaren Häusern. Es kam vor, und kommt immer öfter vor, daß einen der Geschäftsgang zu irgendeiner Behörde überraschenderweise ins Schloß führt. Am Ende fragt man sich: Was ist eigentlich mit dem Schloß los? Führt es noch ein eigenes Leben? Ist es nur ein ungeheures Miet- und Bürohaus? Wird es verwaltet oder sich selbst überlassen? Ist es als Museum einbalsamiert worden? Um es vorweg zu sagen: Von allem trifft etwas zu, und doch nichts ausschließlich und buchstäblich. Das Museum ist da, wie bekannt, und nimmt sogar den größten Teil des Schlosses ein. Ihm gehört die ganze Lustgartenfront vom Keller bis unters Dachgeschoß; aber es greift auch auf die beiden Schmalseiten über. Für das Publikum ist es vor allem Schaustellung der ehemaligen Prunk-, Fest- und Fremdenräume mit Einschluß des Weißen Saales. Als Bürohaus dient das Schloß auch, denn in ihm sind untergebracht: das Fürsorgeamt für die vertriebenen Beamten der Grenzgebiete: eine ausgedehnte Behörde, die fast den ganzen Mitteltrakt einnimmt und auch noch in anderen Gebäudeteilen ihre Ableger hat; die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft; das Psychologische Institut der Universität; die Landesanstalt für Gewässerkunde; die Verwaltung der Kaiser-WilhelmGesellschaft; die Auslandshilfe für Kinderspeisung (Quäker); die Gemeinschaftsküche der Oesterreichischen Freundeshilfe; die Krongutverwaltung.

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Dieser Behörde untersteht das Schloß mit samt seinem Inhalt, solange die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und dem früheren König von Preußen noch nicht beendet ist. Zu den Geschäftsräumen, die nicht zufällig hier untergebracht sind, gehört das Schloßbauamt unter seinem Leiter, Oberhofbaurat Geyer, das Umbau und Erhaltung aller preußischen Schlösser unter sich hat. Neue Arbeit kann es jetzt natürlich nur in ganz geringem Umfange leisten, aber seine Aufgabe war es, u. a. das Berliner Schloß für Menschen von heute bewohnbar zu machen. Erst der Kaiser hat elektrisches Licht, Zentralheizung, Wasserleitung, Bäder, Toiletten in die eigene und in eine große Zahl von Gastwohnungen einbauen lassen. Auch die Schloßbibliothek hat hier von jeher ihre natürliche Stätte. Sie enthält die Gesamtheit der Privatbibliotheken hohenzollernscher Fürsten seit Friedrich dem Großen. Ihr Bibliothekar, Dr. Krieger, der seit 1888 an diesem Posten steht, hat das Verdienst, den Schatz nach der Revolution zusammengehalten und für Zurückführung abgesplitterter Teile und Bereitstellung größerer Räume gesorgt zu haben. Er hegt für ihre Nutzbarmachung eigenartige Pläne, die aber erst verwirklicht werden können, wenn die Eigentumsverhältnisse geklärt sind. Vorläufig sind die Bücher dem öffentlichen Gebrauch noch entzogen. Auch weniger ernste Veranstaltungen, als es Behörden sind, haben ihre Unterkunft im Schloß gefunden. In den Kellern, soweit sie nicht von den übrigen Insassen gebraucht werden, lagern jetzt Lutter u. Wegner ihre Weine; zum Abstellen der Fässer haben sie außerdem die ehemalige Schloßwache gemietet. Aber man wohnt auch ganz einfach im Schlosse. Vertriebene Beamte sind hier einlogiert worden, Junggesellen, da den Quartieren die Küche fehlt. Eine Reihe von Schloßbeamten haben Dienstwohnungen inne, meist bescheiden unterm Dach, etwas stattlicher der Oberinspektor im Parterre des Mittelbaus. Sehr stilvoll wohnt der Generaldirektor der Museen von Falke und sein Schwiegersohn und Kollege Demmler im Apothekenflügel. Und an der Wasserfront gibt es sogar einen richtigen Mieter. All das beherbergt das Schloß, aber es ist den meisten Insassen trotzdem versperrt. Die großen Tore sind sämtlich geschlossen, das Eosandersche Portal23 sogar mit Hilfe recht häßlicher Bretterverschläge, und die Behörden

23 Johann Friedrich Eosander von Göthe (1669–1728), Baumeister. Er löste 1707 Andreas Schlüter als Leiter des Stadtschlossbaus ab.

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und Institute hausen in ihren Flügeln ganz für sich und haben für Bewachung, Reinigung und Verwaltung selbst zu sorgen. Ins eigentliche Schloß führt nur noch ein einziger Zugang, das sogenannte Eishofportal hinter der Schloßapotheke. Nur so gelangt man auf die stillen Höfe, die einen mit der vornehm-mächtigen Raumformung vergangener Jahrhunderte überwältigen und in ein ganz anderes Berlin versetzen, als man zwischen Wedding und Neu-Tempelhof sonst zu erleben gewohnt ist. Hier liegt die komplizierte Baugeschichte fast zutage, an deren völliger, sehr schwieriger Aufhellung Oberbaurat Geyer seit Jahr und Tag arbeitet. Von hier aus nur läßt sich, mit besonderer Erlaubnis, die frühere kaiserliche Wohnung betreten. Sie steht unbenutzt, und ihre Verwendung ist noch nicht entschieden. Vom0 Inventar ist einiges, wie gesagt, während der Revolution abhanden gekommen, manches dem Kaiser nach Doorn nachgeschickt worden. Was geblieben ist, drängt sich mit Möbeln, Bildern und Geräten aus Teilen des Schlosses, die zum Gebrauch für Behörden geräumt werden mußten. Arbeitszimmer, Audienzsaal, Schlafgemächer, dazu die anstoßenden Wohnungen von Logiergästen und Besuchern aller Art lassen immerhin ihr früheres Aussehen und ihre einstige Bestimmung noch erkennen. Ueber Räume und Gegenstände wacht getreulich der treffliche Schloßoberinspektor Digmann, seit 1887 im Dienste des Kaisers, seit 1900 Kastellan, jetzt einziger und oberster Verwalter des Schlosses. Sein Personal hat sich gegen früher natürlich sehr verringert. Mit einigen Portiers und Schloßdienern und einem reichlichen Dutzend Aufräumefrauen muß er das ihm anvertraute Gut hüten. Keine leichte Aufgabe, zumal in Anbetracht der Feuer- und Diebesgefahr. Die Hauptaufgabe der Portiers ist denn auch die Feuerwache, die in ununterbrochenen Patrouillen durch das ganze Gebäude besteht. Daneben kommt der Sicherheitsdienst vielleicht etwas zu kurz, denn durch das Eishofportal geht allerlei aus und ein, und wenn auch dieselben Portiers, in abwechselndem Dienst, dort Kontrolle üben, so scheinen doch die ungeheuren Werte des Schlosses nicht gegen jede Ueberraschung gesichert. Die Polizei sollte sich entschließen, hier Beistand zu leisten. Es handelt sich ja immerhin um Nationaleigentum. * Lebt das Schloß noch? Man sieht: noch nicht in allen seinen Teilen (auch die Kapelle unter der Kuppel steht unbenutzt als eine Art Magazin) und nicht

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überall mit dem gleichen Rhythmus. Aber wenn man über die Treppen und Stiegen, durch Säle und Kammern, über große und kleine Höfe wandelt, so merkt man: dieses Bauwerk hat einen langsamen Takt. Wie es in Jahrhunderten allmählich entstanden ist, so wird es in Jahrhunderten sich weiter entwickeln. Es kann gelassen warten, bis es eines Tages einen neuen Sinn gefunden haben wird.24 gol. 25.11.1923

Ein Gefallener Gestern nachmittag gegen fünf Uhr stürzte Unter den Linden auf der Nordseite gegenüber dem Hotel Bristol ein großer Baum um und legte sich quer über den Fahrdamm. Die Feuerwehr mußte das Verkehrshindernis beseitigen. Menschen sind nicht verletzt worden. Es steht nichts mehr fest in dieser wackligen Welt. Was für einen Grund hat ein alter ehrwürdiger Baum, in Berlins Pracht- und Fremdenstraße irgendeines beliebigen Tages umzufallen? Wodurch unterscheidet sich das Jahr 1924 von den vielen anderen Jahren, die er schon erlebt hat? Wodurch der 9. Mai von anderen Tagen dieses Jahres? Man kann geradezu sagen: an jedem anderen Tage lag ein Grund vor umzufallen, nur nicht heute; denn an jedem anderen Tage dieses Jahres war es windig bis stürmisch und nur gerade heute regte sich kein Lüftchen, und so etwas wie die Sonne schien am Himmel. Es ist kein Auto und auch nicht, was sehr nahe liegt, ein Autoomnibus dagegen gefahren. Der Baum ist vielmehr ohne jeden äußeren Grund umgefallen, man könnte sogar sagen: er ist umgekippt. Vielleicht 24 Das Berliner Schloss wurde – nachdem es im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt worden war – von den Ostberliner Behörden zu einer »nicht mehr aufbauwürdigen Ruine« erklärt und 1950 gesprengt.

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hat sich jemand dagegen gelehnt, und vielleicht war dieser Jemand schwer belastet von Sorgen, über den Wahlausfall oder über die Pleiten. Vielleicht war es ein Deutschnationaler, der die Regierung übernehmen soll und nicht weiß: Wie sage ich’s meinen Wählern? Aber das sind nur Vermutungen. Fest steht, daß dieser Baum, ausgerechnet dieser eine Baum von so vielen Bäumen Unter den Linden aufhörte festzustehen und umfiel. Es ist einer von den aeltesten, und das entschuldigt ihn einigermaßen. Sehr alt sind ja die Bäume Unter den Linden alle nicht. Damals, ich weiß nicht vor wieviel Jahren, als die ursprüngliche und etwas komplizierte, dafür aber gemütliche Einteilung der Linden verbessert wurde in die jetzige übersichtliche und auf ein rasendes Tempo eingestellte, tobte zum ersten Male die Axt unter ihrem Baumbestand. Der jetzt gestürzte Riese ist ohne Zweifel älter als diese Umwandlung. Sehr alt kann auch er nicht sein, denn ursprünglich müssen doch hier Linden gestanden haben. Dieser aber ist eine Kastanie. Man erkennt es an dem bißchen Laub, das noch eben Zeit hatte, sich zu entfalten. Wäre der Baum acht Tage früher gefallen, so wäre er noch kahl gewesen, und man, oder ich, hätte seine botanischen Qualitäten nicht angeben können. Uebrigens hat er sich sehr rücksichtsvoll benommen. Er konnte nach dem Mittelweg zu fallen. Dann hätte er die an seinem Fuße stehende Bank getroffen und die darauf sitzenden Menschen ohne Zweifel erschlagen. Aber er wählte die andere Seite. Der schwere Teil des Stammes fiel über den Reitweg, auf dem aber schon längst niemand mehr reitet und der daher eben jetzt mit einem neuen Eisengitter eingefaßt worden ist. Dieses Gitter zu beschädigen konnte er nicht vermeiden. Aber er reichte über den Damm und bis auf das nördliche Trottoir. Doch weder ein Auto noch einen Fußgänger hat er im Sturz beschädigt. An der Bordschwelle wartete das Dreirad eines Postboten. Der Fahrer war abgestiegen und so hat der Baum sich begnügt, das Fahrzeug selbst ein wenig zu streifen. Die Feuerwehr hat Stamm und Zweige rasch auseinandergesägt und hübsch beiseite geräumt. An der Bruchstelle ist der Stamm durchgefault: es ist das einzige, was sich noch feststellen ließ. gol. 10.5.1924

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Papier Ueber das märkische Land, über die weiten Sumpfniederungen des Spreelaufes, über Werder, Bruch, Luch, Kolk, über wellige Bodenerhebungen und moorige Senkungen hinweg hat sich im Wachstum eines halben Jahrtausends der steinige Panzer der Großstadt gelegt. Wo das asphaltierte Berlin steht, weiß man nichts mehr von der Urform des Bodens, der darunter gefesselt liegt, es sei denn, daß ein geplanter Riesenbau nicht begonnen werden kann, weil die Grundmauern versinken und erst durch Pfahlroste gesichert werden müssen. Aber gleich neben dem Gewirr der ineinander verklammerten Straßen und Häuser, etwa jenseits der Ringbahn, ist noch ein Stückchen unversklavten märkischen Bodens übrig geblieben: in ihrer langhingezogenen Niederung leuchtet die blaue Kette der kleinen, kieferumrahmten Grunewaldseen, mit schilfigen Ufern, wippendem Boden ringsum und Erlengebüsch. Seitdem eine merkwürdig erleuchtete Obrigkeit das freie Baden in allen märkischen Gewässern erlaubt hat, ziehen auch diese Seen an jedem Sommersonntag die Massen der lechzenden und fast verschmachteten Städter an. Wer ernsthaft Wassersport betreibt, wer über Jacht- oder Ruderboot verfügt, wer sich einen feschen Badeanzug besorgt hat, der freilich zieht weiter hinaus, an die Oberspree oder zu den Havelseen. Die schon hier Erholung suchen, sind offenbar die ganz kleinen Leute aus den übervölkertsten Quartieren der Innenstadt, aus luftlosen Massenhäusern mit mehreren Höfen hintereinander. Das hat sich mit Kind und Kegel zur nächsten Stadtbahnstation geschleppt und kann es nicht erwarten, gleich bei dem ersten bißchen Grün die Kleider abzuwerfen, sich im sandigen Boden zu wälzen und ins viel zu laue Wasser zu planschen. Sie sind nicht immer dazu geschaffen oder darauf trainiert, unter freiem Himmel ohne Kleidung gesehen zu werden. Es wabbelt und quabbelt von unbeherrschtem Fleisch, es watschelt auf krummen Beinen, und man würde nicht allen raten, etwa den Beruf des Nackttänzers zu ergreifen. Aber es freut sich doch der freien Bewegung in Luft und Sonne, es schreit und jauchzt und balgt

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sich und hält offenbar den stillschweigenden Comment ein, sich gegenseitig nicht zu genau anzusehen. Ueber dem menschenleeren Walde, still und feierlich, auch so dicht bei Berlin, geht frühmorgens die Sonne auf. Buchfinken, Hänflinge, Eichhörnchen, ein paar weiße und gelbe Falter. Wenig Unterholz, viel Sand. Hier und da die ersten Ausflügler, mit Badezeug und Butterbrotpaketen. Immer mehr Ausflügler, immer mehr Butterbrotpakete. Schließlich sind die Seen umsummt wie von Insekten. Es wimmelt von weißer Wäsche und weißen Leibern. Eine Wolke von Lärm hängt in der Luft. So geht es bis gegen den Abend. Dann schwirrt der Schwarm davon, zurück in die engen Zellen der Stadt. Der Wald mit seinen Seen bleibt einsam. Aber nicht ohne Spuren. Der Schwarm der Menschen ist weg, und die mitgebrachten Eßpakete sind weg, aber das Einwickelpapier ist dageblieben. Weiß, grau, zerknittert, schmutzig schichtet es sich um alle Ufer bis in den Wald hinauf. Von heute, von gestern, von voriger Woche, von vorigem Monat. Viel Zeitungspapier dabei. Verlockende Aufgabe, aus den zurückgelassenen bedruckten Fetzen den Zusammenhang zwischen Partei und Kultur zu studieren! Hat es Zweck, immer wieder sich zu empören, immer wieder dagegen zu eifern? Es hat keinen Zweck. Offenbar erträgt der Berliner die unberührte Natur nicht. Offenbar ist ihm der weiße Sand, das grüne Gras unbehaglich, ein Vorwurf. Er muß seine städtischen Reste darauf zurücklassen. Er würde, wenn er könnte, den ganzen Grunewald in Papier einwickeln. Armer Berliner! gol. 29.7.1924

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Rund um die Revuen

Unbefangene Betrachtungen

Es kann kein Blatt zur Erde fallen, ohne daß die Gesetze des Kosmos mitwirken; es kann keine Revue aufgeführt werden, ohne daß die ganze Kultur der Zeit in das Gewebe verflochten ist. Die Gotik war intereuropäisch, die Renaissance war es, das Barock, das Rokoko; heute sind Fascismus und Bolschewismus intereuropäisch; warum also nicht der Stil der Revuen? Ich schließe das daraus, daß die drei augenblicklich in Berlin gezeigten großen Bühnenschauen Personal, Tricks und Attraktionen sich jenseits der Grenze geholt haben, und sich alle drei dennoch so ähnlich sehen, wie ein faules Ei dem anderen. Sie machen Ihre Sache schlecht, meine Herren Revue-Unternehmer. Auch für den Fall, daß es ein Geschäft sein sollte, was Sie da veranstalten, machen Sie Ihre Sache schlecht. Stoße ich mich an dem Genre? Entrüste ich mich über Decolletés? Will ich Sie zur Kunst verführen? Aber keine Rede. Ich nehme die Gattung hin: leichteste Unterhaltung, keine geistige Belastung des Publikums, Attraktion, Illusion, Sensation – und dennoch schlecht gemacht. Sie sämtlich, meine Herren Revue-Unternehmer, verfügen über eine Bühne. Es ist mir nicht erkennbar, wieso Sie darüber verfügen. Aber Sie wissen mit dem Instrument, das Sie in Händen haben, durchaus nichts anzufangen. Sie kommen mir so vor, als hätten Sie sich in einer gotischen Kirche eine Orgel gekauft und ließen darauf mit einem Finger »Lott’ ist tot« klimpern. Es klänge vielleicht ganz ulkig, und am Ende kämen die Leute, sich das anzuhören; und dennoch wäre nur damit bewiesen, daß weder Spieler noch Publikum eine Ahnung hätten, was das Instrument Orgel bedeutet. Keine Handlung. Dieses Prinzip läßt der eine oder andere von Ihnen ausdrücklich proklamieren. Also Varieté. Das gibts ja, auch ohne Sie. Nur:

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es löscht die Bühne aus. Varieté ist Podium. Alle Möglichkeiten des Theaters werden fallen gelassen. Aber nun haben Sie wieder nicht den Mut zum Varieté. Sie halten die ganze Maschinerie der Bühne fest, und Sie verzichten nicht auf einen Rest von Handlung. Das ist nun zum Lachen. Jeder von Ihnen hat schon einmal eine Hochzeits-Dilettanten-Aufführung gesehen, die Onkel Emil, der berühmte Familiendichter, verfaßt hat. Was ist ihm eingefallen? Die Familie versammelt sich, um zu beraten, was sie zu Hans und Gretes Hochzeitsfest aufführen sollen; jeder macht seine Vorschläge – und das ist nun das Stück; zuletzt singen alle zusammen ein Lied. Alle Dilettanten-Hochzeitsstücke, die Onkel Emil verfaßt, sehen so aus. Und dieser selbe Onkel Emil hat Ihnen dreien für dieses Jahr den Text gedichtet. Wenn Sie sich Attraktionen von Pölzig25 bis Slezak26 kaufen können, warum engagieren Sie sich nicht auch einen Bühnendichter, der sein Handwerk versteht? Fragen Sie doch einmal Georg Kaiser27, ob er Ihnen nicht auf Bestellung eine Revue dichten würde. Er wäre gerade der richtige Mann dazu. Aber Sie brauchen nicht so hoch zu steigen. Nur müssen Sie sich einen nehmen, der weiß, wie das Wort auf der Bühne zu handhaben ist, der mit der Zeit zu wirtschaften versteht, der das Publikum nicht durch einen endlos fortgesponnenen dünnen Faden einschläfert, sondern der anzufangen, einzuteilen, zu steigern, zu verwickeln, zu lösen und – das Wichtigste – aufzuhören vermag. Ihnen, Herr James Klein28, hat unser vortrefflicher Heinrich Zille einen riesigen Prospekt gemalt, der einen echten trübseligen Berliner Hof vorstellt. Dies Stückchen Lokalkolorit von Meisterhand schreit nach dem Lokalstück, das sich davor abspielen soll. Die scheintote Berliner Lokalposse könnte vor dieser hingepinselten Lokaltragödie zum Leben erwachen. Aber bei Ihnen wird nicht ein einziges berlinisches Wort gehört, das lebendig ist. Wenn der Textdichter entbehrt werden soll, so müssen die Schauspieler improvisieren können. Auch damit ließe sich etwas 25 Hans Poelzig (1869–1936), Architekt. Nachdem die National-Theater AG den Friedrichsstadt-Palast 1918 übernommen hatte, wurde er unter der Leitung von Hans Poelzig umgebaut. 26 Walter Slezak (1902–1983), Schauspieler und Schriftsteller. 27 Friedrich Carl Georg Kaiser (25.11.1878– 4.6.1945), Schriftsteller, einer der bekanntesten und meistgespielten Dramatiker der Weimarer Zeit. 28 James Klein (1886–1943) inszenierte Revuen mit Titeln wie: »Sünden der Welt«, »Alles nackt«, »Zieh dich aus«.

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anfangen. Jedoch die Herren und Damen, die jetzt auf der Bühne herumstehen und eingelernte Sprüche aufsagen, haben keinen sprudelnden Quell echter Improvisationsgabe in sich. Wenn Sie sich einen Textdichter engagieren, der seine Sache versteht, so wird er Ihnen wahrscheinlich Dreiteilung vorschlagen. Reden wir nicht von Akten, sondern nennen wir es Aufzüge, im eigentlichen Sinne des Wortes, wie der so oft verstorbene Tieck einen »Aufzug der Romanze« dichtete. Dann also zum Beispiel Finale des ersten Aufzuges: Rausch von Farben, Formen, Licht, Ton. Nicht eine durch vier Stunden fortgeführte Kostümschau, an der man sich überißt wie an zuviel Schlagsahne. Sondern an dieser einen Stelle, geballt und bis zum Aeußersten getrieben. Und dann am selben Abend nicht wieder. Finale des zweiten Aufzuges: Apotheose des Frauenkörpers. Auch dieser Knalleffekt nur einmal, dann aber Fanfare. Und nicht, was Sie daraus machen. Also den Frauenleib zu zeigen ist jetzt erlaubt. Schade, schade, daß es erlaubt ist. Glück der Gewährung ausgewalzt zur bloßen Attraktion. Und dennoch wirkungslos. Denn auch auf diesem Instrument vermögen Sie nicht zu spielen. Früher wachte die Polizei über die Kleiderlänge und fühlte nach, ob sich auch das fleischfarbene Trikot über die Beine spannte. Wenn damals das Chansonettchen die Dessous lüftete, so fingen die Herzen an zu rennen. Heute ist, alles zusammengenommen, so gut wie nichts mehr verhüllt. Der Zuschauer gafft und gafft und wundert sich, daß er ungerührt bleibt. Bei den Wilden weiß man, daß nicht Nacktheit reizt, sondern Verhüllung. Stellt man aber den Leib zur Schau, so muß es das ganz seltene, das mühsam gesuchte und endlich gefundene Wunder der vollkommenen Schönheit sein. Ein solcher Leib nun nicht durch den ganzen Abend geschleppt, bis einem vor soviel Süße die Zähne weh tun, sondern ein einziges Mal, aber vorbereitet, gesteigert und endlich blendend enthüllt. Was bleibt für den dritten Aufzug? Die Handlung muß angesponnen und weitergeführt sein; jetzt tobt sie sich aus mit einer Kanonade von Witzen, Schlag auf Schlag, toll, wirbelnd, ohne Atem bis zum unerwarteten Schluß. Niemals darf Publikum das Ende herbeiwünschen; der Schluß muß überraschen, ein Effekt für sich. Revue bedeutet schon Auflösung des Dramas und damit des Theaters. Jetzt kommt man nun noch mit Auflösung der Revue. Was bleibt? Sie behaupten, meine Herren Revue-Unternehmer, das Publikum ströme Ihnen zu. Mag sein; aber setzen Sie sich ins Publikum, und Sie werden

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feststellen; es langweilt sich. Aus dem ungeheuren Aufwand von Kostümen, Entkleidungen, Tänzern, Akrobaten, von Namen und Nummern aus aller Herren Ländern haftet dem Gedächtnis etwa ein Paar grotesk-komischer Sisters im Lessing-Theater, eine Kinderpuppen-Parade bei James Klein, die Tiller-Girls des Admiral-Palastes; sechzehn Mädchen, die keinen Aufwand treiben, weder an Kostümen noch an Kostümlosigkeit, dafür aber jung und schön sind und ihre Sache können. Das arme Theater, an dem von allen Seiten gezerrt wird, wiederaufzubauen, dazu sind Sie und Ihre Revuen nicht da – werden Sie sagen. Aber Sie helfen für Ihr Teil mit, den einen wichtigen Faktor des Theaters zu ruinieren, nämlich das Theaterpublikum. Uebrigens: ruinieren ist ein falscher Ausdruck; Publikum bleibt sich immer gleich und seine Bedürfnisse ebenso. Glauben Sie doch nicht, daß Sie Ihren Zauber für ein anderes Parterre anzünden, als es Shakespeare, Schiller, Wagner, Ibsen, Wedekind oder Sternheim sich gedacht haben. Publikum ist Publikum und bringt immer dieselben Instinkte vor die Gardine mit. Werden sie nicht befriedigt, so kommt es nicht wieder. Das ernste Theater hat seine Kundschaft schon verloren, teils sich weglocken lassen, teils selbst verjagt. Jetzt strömen die Massen, wie es scheint, zu Ihnen. Wenn es auch dort nicht auf seine Kosten kommt, weil die elementaren Bedingungen der Bühne vernachlässigt werden, wird es aufhören zu strömen. Fingen Sie wieder mit dem guten theatralischen Handwerk an, so könnten Sie das Publikum auch wieder an gutes Handwerk gewöhnen. Hätte das ernste Theater Zulauf, so bekämen die Revue-Unternehmer nicht so viel Konkurrenz. Eines hängt am anderen. Auch die Politik spielt hinein: weil die Leute, die Fridericus Rex sehen wollen, und diejenigen, die Ernst Toller bejubeln, einander mit Handgranaten bedrohen. Darin, das soll nicht geleugnet sein, liegt auch die Schwierigkeit einer packenden Revuehandlung, ja schon eines schlagenden Couplets; worüber die einen Witze reißen, das ist dem anderen tödlicher Ernst. So lächerlich es klingt: Man kann nicht Deutschland aufbauen wollen und die Revue verkommen lassen. Moritz Goldstein 14.9.1924

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Der Abschied vor dem Reichstag Von der Leipziger Straße her, in der Richtung auf die Linden, zwischen dicken Menschenmauern durch die Sperre der Schutzpolizei. Dann auf der mit Trauerfahnen geschmückten Straße, die später der Zug nehmen soll, unbehelligt weiter durch immer neue Kontrollen, an einem dichten Spalier von Mitbürgern vorbei, die es verstanden haben, hier rechtzeitig Posten zu fassen. Je näher dem Reichstagsgebäude, desto dichter stauen sich hinter dem Kordon die Massen, drängen stoßweise gegen die Linien vor und müssen mit immer neuer Anstrengung zurückgehalten werden. Hier und da sinkt einer ohnmächtig zu Boden. Krankenpfleger und Schwestern eilen herbei. Auf Tragbahren sieht man sie hinwegschaffen. In der Wandelhalle des Reichstages unter dem riesigen Kronleuchter versammelt sich der Reichstag um seine Präsidenten Löbe29, dazu Mitglieder der Reichsregierung, des Reichsrats, Vertretungen des Reichswirtschaftsrats und des Preußischen Landtages. Man wartet lange Zeit wie eingeschlossen, folgt in Gedanken dem Sarge des Verstorbenen, der jetzt aus seinem Hause getragen werden muß, jetzt seinen Weg angefangen hat, jetzt sich dem Reichstagsgebäude nähern wird. Getragene Musik einer Bläserkapelle erklingt: man weiß, der Trauerzug umwandelt das Gebäude. Es ist sieben Minuten nach ½ 5 – da öffnen sich die Flügeltüren zu der großen Freitreppe, und die Versammlung tritt auf die Rampe. Geblendet von plötzlicher Helle, die nur durch die bei Tage brennenden umflorten Laternen gedämpft scheint, vermag das Auge nur langsam das ungeheure Bild zu fassen. Einige Stufen abwärts vor dem Portal hält auf seinem Wagen der Sarg, der die irdischen Reste des Reichspräsidenten birgt, mit seiner Standarte überdeckt. Dahinter längs der Rampe mit der Front zum Reichstag grüßen einer neben dem anderen die Mannschaften der Schutzpolizei. Ganz am Fuße 29 Paul Gustav Emil Löbe (14.12.1875–3.8.1967), Präsident bzw. Vizepräsident des Reichstags von 1924–1932.

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der Treppe hat die militärische Ehrenwache des Trauerzuges Halt und Front gemacht. Der Platz um das Denkmal liegt fast leer, rechts und links wehen von zwei riesigen Mastbäumen auf halber Höhe mächtige schwarz-rotgoldene Fahnentücher. Noch weiter die Absperrung. Dahinter aber unübersehbar, Kopf an Kopf, bis ganz drüben vor das Gebäude der Krolloper, in alle Straßen hinein, rechts und links, soweit das Auge reicht, Menschen, Menschen, Menschen: Ein ganzes Volk, das mit entblößten Häuptern seinem toten Staatsoberhaupt die letzte Ehre erweist. Der Reichstagspräsident Löbe tritt vor. Mit seiner hellen, weithin verständlichen Stimme richtet er das Wort an den Toten. Er gedenkt der Umstände, unter denen Friedrich Ebert30 vom Reichskanzler Max von Baden in die kaiserliche Regierung berufen wurde. Er erinnert an den weltgeschichtlichen Augenblick, da Ebert von der Nationalversammlung zum ersten Präsidenten der deutschen Republik gewählt wurde. Und er würdigt seine Leistung in den sechs schweren, unruhevollen, nur langsam befriedeten Jahren seines hohen Amtes. »Nur von ferne«, so apostrophiert er den Toten, »sahst Du den Morgen einer besseren Zeit dämmern«, und er nimmt Abschied mit den Worten: »Als Vorbild republikanischer Pflichttreue entbiete ich Dir den letzten Gruß des deutschen Volkes.« Bei diesen Worten wird der Kranz des Reichstages auf den Sarg gelegt, ein mächtiges Gewinde aus Lorbeer, mit einer Schleife in den Reichsfarben geschmückt. Das Lied »Ich hatt’ einen Kameraden« erklingt. Lang hingezogen dumpf wirbeln die Trommeln. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, vorbei an den grüßenden Ehrenwachen, vorbei an den studentischen Korps, die ihre Fahnen gesenkt halten. Unterhalb der Rampe bleiben die sechs schwarzverhängten Pferde, die den Sarg ziehen, noch einmal stehen. Es gilt, die militärische Ehrenwache wieder an die Spitze des Zuges zu lassen. Infanterie, Marine, Maschinengewehre, Geschütze. Dann ist der Zug neu formiert und bahnt sich seinen Weg weiter durch das Meer von Menschen. Das Trauergeleit zu Fuß und in Wagen, Korporationen mit Bannern und Fahnen schließen sich an. In das Gewimmel hinter den Absperrungslinien kommt Bewegung.31 5.3.1925 30 Friedrich Ebert (4.2.1871–28.2.1925), Reichspräsident von 1919 bis zu seinem Tode 1925. 31 Ein Eintrag im »Journal II« vom 5.3.1925, Goldstein-Nachlass II AK 85/106-2 im Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund bestätigt Goldsteins Autorschaft.

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Der Park der Enttäuschten

Wünsche an den neuen Tiergarten-Direktor Seit dem 1. April amtiert der neue Tiergartendirektor Pimm, nachdem sein Vorgänger aus einer vieljährigen Tätigkeit an dieser Stelle ausgeschieden ist. Wer möchte nicht Tiergartendirektor sein? Herr über das grüne Paradies von Berlin, über seine schnurgeraden Alleen und verschlungenen Schattenwege, über seine Wässerlein und Seelein, über Bäume und Büsche, über Vögel, Eichhörnchen und Feldmäuse, über spazierengehende Erwachsene und herumtollende Kinder. Auch über strenge Wächter mit der Blechmarke auf der Brust und über gemütliche Gärtnerfrauen mit Besen und Korb? Beide Arten sind nicht mehr anzutreffen, so wenig wie Hirsche und Rehe; sie sind also entweder ausgestorben oder haben sich in das tiefste Dickicht zurückgezogen. Es muß ein Genuß sein, über all das gebieten zu dürfen. Freilich, man wundert sich immer wieder, wie wenig der Berliner von dieser seiner Herrlichkeit Gebrauch macht. Die Zeiten, wo es im Tiergarten von Menschen wimmelte, wo bei Tage auf den Wegen die feinen Spaziergänger sich grüßten, die Spielplätze durch geworfene Bälle und getriebene Reifen gefährlich waren, und wo bei Nacht die Pärchen vergebens nach einer unbenutzten Bank umherstreiften, sind längst vorüber. Ein paar kostümierte Nurses hinter lackierten Kinderwagen, ein paar Drei- bis Sechsjährige an der Hand gelangweilter oder herzloser Bonnen, und auf den Wegen und Bänken ein paar müde Gestalten in vernachlässigtem Anzug: das ist der wichtigste Teil der Besucherschaft. Freilich wird auch geritten, Roß und Reiter oder Reiterin wie aus dem Film. Aber wer reitet heutzutage? Das müßte erst noch festgestellt werden. Ach, der Tiergarten ist ein Park der Enttäuschten geworden, derer, die aus dem Gewühl der großen Stadt ihre Melancholie hinwegtragen wollen. Die schleppen sich dann auf den schmalen Wegen dahin und hängen freud-

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los auf den Bänken. Aber was es hier zu holen gibt, das ist vielleicht ein bißchen Erquickung, aber keine Ablenkung. Wenn der Tiergarten je auf dem Wege war, ein Hydepark oder Bois de Boulogne zu werden, geworden ist er es nicht. Weiß der Teufel, woran es liegt. Zum Teil gewiß an Berlin und an den Berlinern. Auch ein bißchen an dem Tiergartendirektor? Jetzt, da ein neuer Herr eingezogen ist, werden allerlei Wünsche wach. Vielleicht hat er ein Ohr, sie anzuhören, und den Willen und die Macht, sie auszuführen. Woran fehlt’s im Tiergarten? Er ist in Gefahr, kein Garten mehr zu sein, sondern vom Verkehr gefressen zu werden. Die Charlottenburger Chaussee32, früher eine chaussierte Avenue, reißt jetzt mit ihrem schmerzlichen Asphalt, mit Schienensträngen und unablässigem Geräusch und Geruch das Parkrevier mitten entzwei. Von der schmalen Nordhälfte zu dem breiten Südteil zu gelangen, ist schon nicht mehr ohne äußerste Vorsicht möglich. Fast ebenso schmerzhaft schneiden die Hofjägerallee und die Siegesallee in der Querrichtung, und dazu noch die Bellevue-Allee in der Diagonale. Man entgeht dem Wagengetriebe nicht, es gibt kaum ein Plätzchen, an dem man vor dem Großstadtlärm geschützt wäre. Von Norden her ist der Park überhaupt schwer zu erreichen, von Osten und Süden aber nur über wahrhaft gefährliche Uebergänge hinweg. Kann der neue Tiergartendirektor diese Entwicklung rückgängig machen? Wahrscheinlich reicht seine Macht nicht so weit. Aber wenigstens sei er sich der Gefahr bewußt und stämme sich bei den zuständigen Behörden und in öffentlicher Aufklärungsarbeit dagegen. Keine neue Straßenbahn und keine neue Autobuslinie zwischen den Bäumen! Ueberhaupt kein Fahrzeug, das ebensogut einen anderen Weg nehmen könnte. Drum herum, nicht mitten durch, sei die Losung, deren Befolgung weniger von der Einsicht der Behörden als von dem guten Willen der Bevölkerung abhängen wird. Ehemals war der Tiergarten grün durch seine Blätter; seit dem Wirken des letzten Hohenzollern ist er weiß von Marmor. Läßt sich die steinerne Dornenhecke vor dem Brandenburger Tor niederhauen? Läßt sich das Puppenmagazin33 in der Siegesallee in Kisten packen? Ein Tiergartendirektor, der erklärte: »Das gehört nicht in meinen Park, weg damit!« und beharrlich dabei bliebe, hätte vielleicht doch Aussicht auf Erfolg. Wenigstens aber 32 Heute »Straße des 17. Juni«. 33 Marmorskulpturen brandenburgischer und preußischer Herrscher.

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sorge er dafür, daß das viele geschmacklose Weiß nicht gepflegt und mit Gewalt weiß erhalten wird. Er lasse der Natur Zeit. Sie wird schon mit den Jahren die unverdaulichen Brocken bewältigen, sie mit sanftem Grau zudekken, mit Rissen und Sprüngen an ihnen arbeiten und die vollkommene Unnatur langsam in Natur auflösen. Darauf sollte man nicht warten vor dem scheußlichen Machwerk, das die Umgebung der Königin Luise entstellt, jener marmornen Panoptikumbank, welche ihren Namen nicht daher trägt, daß man auf ihr sitzen könnte oder wollte, sondern lediglich daher, daß sie die großen Jahre 1870 und 1871 in läppischen Inschriften und kindischen Bildnisköpfen profaniert: die Stiftung eines närrisch gewordenen Patrioten. Warum soll es nicht auch solche Käuze geben? Aber daß man in unseren sogenannten Glanzzeiten mit vorgebundenem Patriotismus erreichen konnte, daß solche Aufdringlichkeiten angenommen wurden, dafür fehlt uns heute die Erklärung. Weg endlich mit dem Machwerk! Abreißen und auf den Schutthaufen werfen! Oder wenn der Tiergartendirektor meint, daß ihm die Kompetenz dazu fehlt, dann pflanze er eine Hecke davor oder überziehe den mißhandelten Stein mit warmherzigem Efeu. Was dagegen die Löwengruppe von Wolff34 betrifft, so sehe der Tiergartendirektor einmal nach dem Rechten. Sie erinnert zwar lebhaft an die Vogelwelt, aber von der unerfreulichen Seite. Vor Renovierung des Bildwerkes sei ausdrücklich gewarnt, und die ehrwürdige Alterskruste ihm respektvoll gegönnt. Aber wenigstens soviel Schmutz sollte man entfernen, wie eine tüchtige Scheuerfrau mit einem nassen Lappen herunterbekommt. Daß die Bänke zum Teil im Zustand des Verfalls sind, wird der neue Direktor bei seinem ersten Gang durchs Revier gewiß bemerken. Ihm wird dabei auch auffallen, daß es zwei Arten von Bänken gibt: aus Stäben zusammengesetzte, der Form des Körpers angepaßte, bequeme, und aus zwei Bohlen gezimmerte, sehr unbequeme, mehr Schragen als Bänke. Wenn sie wirklich dastehen, damit man auf ihnen sitzen soll, so vertausche man sie schleunigst gegen solche, auf denen es angenehm ist, zu sitzen. Böse sieht es mit den Kinderspielplätzen aus. Der Sand hat sich in eine Art Müll verwandelt. Nicht nur die Bänke vermodern, sondern auch die niedrigen Sandspieltische. Auch die Schutzhallen. Und ließe sich nicht wieder, wie früher, der Verkauf von Milch einrichten? 34 Friedrich Wilhelm Wolff (1816–1887), Tierbildhauer. Seine Löwengruppe »Die sterbende Löwin« (Bronze) wurde 1876 im Tiergarten aufgestellt.

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Die Wasserläufe sehen jetzt aus, als wären die Spiegel frisch geputzt. Vielleicht ist das schon eine Folge des neuen Regiments. Sonst ist ihr Anblick nicht immer eine Freude. Die Tiergartengewässer machen ja leider alle den Eindruck, als ob sie stagnierten, vielleicht tun sie es auch. Möge sich doch der Tiergartendirektor einmal mit Wasseringenieuren darüber beraten, ob ihr Gefälle nicht verstärkt werden kann. Was das Botanische und das davon abhängige Zoologische angeht, so wollen wir dem Fachmann nicht hineinreden. Der Laie jedenfalls wundert sich, daß so wenig Rasen das Auge erquickt. Andererseits legt er keinen besonderen Wert auf den pompösen Rosengarten, der nicht hierher paßt. Dieser Laie hat nur die eine Furcht: daß reguliert, erschlossen, modernisiert, den Zeitverhältnissen angepaßt werden könnte; und er hat nur den einen Wunsch: daß dieses liebgewordene Stückchen Natur und Historie geschont, behütet, gehegt und gepflegt und wenigstens so grün und so unberührt erhalten wird, wie es sich, in den tosenden Verkehr geklemmt, bis heute noch gerade hat behaupten können. Inquit 21.4.1925

Der Kampf der Flaggen Schwarz-Rot-Gold dringt vor

Es waren die Parteien der Rechten, die sogenannten »nationalen« Parteien, die jeden passenden oder unpassenden Anlaß an den Haaren herbeizerrten, um schwarz-weiß-rote Propaganda zu treiben. »Fahnen heraus!« hieß es dann in allen ihren Blättern, und die Straßen Berlins gewannen das Aussehen wie weiland bei Kaisers Geburtstag. Etwa ein Jahr lang haben sie es so getrieben, und wenn man sie es ungestört hätte weiter treiben lassen, so wäre der Eindruck entstanden, als lebten in der Hauptstadt der Deutschen Republik nur Anhänger der Monarchie. Den reichstreuen Parteien blieb nichts übrig, als ebenfalls ihre Flagge zu zeigen. Schwarz-Rot-Gold gegen Schwarz-Weiß-Rot. Die Parole wurde aus-

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gegeben – und zunächst sehr spärlich befolgt. Fehlte es an Republikanern? Keineswegs: so wußten wir es schon längst, so wissen wir es zahlenmäßig gesichert seit dem ersten Präsidentenwahlgang. Woher also das Zögern? An schwarz-rot-goldenen Fahnen fehlte es. Man hatte sie nicht im Hause und mußte sie erst beschaffen. Man konnte sie nicht ohne weiteres beschaffen, selbst wenn man die Kosten nicht scheute; denn die Geschäfte waren darauf nicht eingerichtet, nicht einmal die Fabriken. Es dauerte eine Weile, bis die Nachfrage bis zu der Stätte der Produktion gedrungen war und bis von daher das begehrte Produkt zu den Käufern zurückfließen konnte. Von Mal zu Mal ließ sich beobachten, wie das Vakuum langsam aufgefüllt wurde. Gefüllt ist es immer noch nicht. Die Nachfrage nach schwarz-rot-goldenen Fahnen übersteigt auch heute noch bei weitem die Anzahl der zur Verfügung gestellten Ware. Aber der Wille, nicht nur zur Abwehr von Schwarz-Weiß-Rot, sondern zum Sieg von Schwarz-Rot-Gold ist da. Diesmal so stark wie nie zuvor. Ein Gang durch die Straßen verrät es jedem Auge. In jedem Stadtviertel, in jeder Straße Schwarz-Rot-Gold. In manchen Straßen nichts anderes als Schwarz-Rot-Gold. Schwarz-Weiß-Rot in die Verteidigung gedrängt. Mit ungeheuren Tüchern, so groß, daß man das ganze Haus einwickeln könnte, versuchen ein paar Unternehmungen, die es sich leisten können, die eigene Unsicherheit zu überschreien. Der Kampf an den Häuserfronten zittert in den Menschen, die durch die Straßen gehen, sichtbar und hörbar nach. Gruppen, Debatten, Rufe und Bemerkungen überall. Hoffnung und Sorgen des nahen Entscheidungstages wehen über die Stadt. Noch tobt der Kampf. Schwarz-Rot-Gold dringt vor, ist im Begriff, sich durchzuringen.35 25.4.1925

35 Ungeszeichneter Artikel; durch einen Eintrag im »Journal II« vom 24.4.1925, GoldsteinNachlass, a. a. O. wird Goldsteins Autorschaft bestätigt.

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Plädoyer für den Kanal Die geplante Zuschüttung

In der Stadtverwaltung wird, wie berichtet, der Plan erwogen, den Luisenstädtischen Kanal zuzuschütten.36 Wasser, das zugeschüttet werden soll, schreit; man muß nur die Ohren dafür haben. Oder es rächt sich, indem es seine Umgebung verpestet, wie jahrelang der Wilmersdorfer See, als man ihn meuchlings umgebracht hatte. Noch heute raunt es in der Luft vom Königsgraben, den es einmal gegeben haben soll. Sehen wir uns wenigstens nach dem jüngsten Delinquenten noch einmal um, ehe es zu spät ist. Luisenstädtischer Kanal, wo ist das? In der wasser- und brückenreichen Stadt Berlin kennt sich nicht jeder aus, und nicht alle Berliner werden mit Sicherheit angeben können, wenn sie über ein Wasser kommen, ob es der Landwehr-Kanal oder der Spandauer Schiffahrtskanal, die Panke oder die königliche Spree selber ist. Wenn man der Karte trauen darf, so erstreckt sich der Luisenstädtische Kanal vom Urbanhafen in gerader Richtung bis zum Michaelkirchplatz und dann im Halbkreis bis zur Schillingsbrücke, wo er in die Spree mündet. Da entlangzugehen, ist ein Weg von einer knappen halben Stunde. Auf also zu dieser Expedition. Dem Urbanhafen merkt man gleich an, daß er lebt. Es liegen im Becken Zillen37 verankert, beladen und entladen, der Kran ist in Tätigkeit, und an den Kais stapeln sich große Mengen von Ziegelsteinen, die wer weiß welche Reise hinter sich haben. Mit einem schlanken Bogen der beiden Ufer zweigt sich der Luisenstädtische Kanal ab, durchaus nicht breit, mit senkrecht abfallenden alten Ziegelufern. Ein altmodisches Eisengitter behütet den 36 Der Luisenstädtische Kanal entstand 1850 als Kernstück einer von Peter Josef Lenné konzipierten Grünanlage. 1926 wurde er zugeschüttet. 37 Aus dem Slawischen: Flußschiffe.

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Bürgersmann vor dem Hineinfallen, und gemütliche Lindenbäume reihen sich daran hin. Die eine Seite trägt den schönen Namen Luisenufer, die andere den nicht weniger poetischen Elisabethufer. Die Häuser hüben und drüben weder neu noch hübsch, aber nicht ungemütlich. Das ganze hat Charakter, sogar Kleinstadtcharakter, und wenn man jemanden mit verbundenen Augen in der Welt umherfahren ließe, ihn dann hierher stellte und ihm die Binde abnähme, er würde nicht unbedingt auf Berlin raten. Etwas weiter abwärts freilich enthüllt sich Berlin in Gestalt der Hochbahn, die den Kanal kreuzt. Aber gleich darunter oder daneben ist eine alte Eisenbahndrehbrücke. Die Schienen liegen auch noch da, für den Fall, daß ein Zug hier entlang fahren wollte. Wahrscheinlich war das einmal eine fabelhaft großstädtische Einrichtung, bestimmt, die Kohlen für die Gasanstalt unmittelbar vom Görlitzer Bahnhof heranzuführen. Der Kanal erweitert sich zu einem hübschen kleinen Waschbecken; das hier nennt man ja wohl das Wassertor. Dann kommt etwas entsetzliches: Oranienplatz. Ein wildgewordener Stil tobt sich auf ungeheuren Steinpilastern aus und wirft sich auch mit überflüssigem Lärm als Monumentalbrücke über das Wässerlein. Aber wenn man sich auf diese wahnsinnige Brücke stellt und abwärts blickt, so entschwebt man aufs neue und mit großem Entzücken aus Berlin: die Michaelkirche mit ihren großgedachten edlen Formen baut sich auf. Woran erinnert das? Sagen wir: an Florenz. Es zieht einen näher dort hin, und dann steht man vor einem der schönsten Städtebilder – Berlins? Nein, Deutschlands. Wasser in großer Fläche, Grün von Bäumen und Beeten. Ein gewaltiger Platz von besten Verhältnissen, und mitten darin, zu Häupten des Wassers, von ihm gespiegelt, der freie harmonische Bau der Kuppelkirche. Vom Engelbecken biegt der Kanal nach rechts zum Halbkreis ab: Engelufer, Bethanienufer, Mariannenufer. Ein Glashüttenwerk, ein Krankenhaus, noch eine Kirche von überraschendem Adel, die Thomaskirche. So wie die Michaelkirche für den Blick über das Engelbecken hinweg, so ist die Thomaskirche gedacht als Point de vue von der Köpenicker Brücke her. Jenseits der Köpenicker Straße geht es rasch zu Ende: eine lächerlich schmale Schleuse, eine Doppelbrücke mit lächerlich schmalen Durchfahrten zur Spree. Aus. Der glühendste Verehrer dieser Wasserstraße muß eingestehen, Schiffsverkehr ist nicht auf ihr. Die Expedition traf auf ihrem Wege ein Boot, in dem ein Mann stand und, wie es schien, Blätter fischte, eine Ente, und kurz

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Das Engelbecken mit der Sankt-Michael-Kirche im Hintergrund; 1892.

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vor dem Ende einen wirklichen Spreekahn, der in seiner Einsamkeit wirkte wie ein Ozeanschiff. Aber warum kein Schiffsverkehr? Wenn schon nicht gedampft und gefrachtet, warum nicht wenigstens gerudert? Warum wird das Engelbecken nicht zum Mittelpunkt eines fröhlichen Bootsverkehrs gemacht, im Anschluß an ein entzückendes Wasserlokal, dessen Terrassen ein smarter Unternehmer gewiß sehr verlockend ausstatten und bewirtschaften wird? Der Magistrat, der zuschütten will, verspricht statt dessen der Gegend und ihren Bewohnern einen breiten Promenadenweg. Damit lockt man keinen Hund vom Ofen. Wer erquickt sich von Herzen und Lunge in der Gneisenau-, Yorck-, Bülow-, Kleist-, Tauentzienstraße? Ein Wasserlauf mitten in der Stadt ist schon Erquickung, mindestens für das Auge. Und wenn der Magistrat ein übriges tun will, so begleite er ihn auf beiden Seiten mit üppigen Grünanlagen. Die Fahrdämme, als Einbahnen, dürfen ruhig etwas schmäler sein als jetzt. Aber diese Lockung mit der Promenadenstraße ist ja nur Ausrede. Es gibt für die Zuschüttung praktische Gründe. Gesetzt selbst, daß diese Gründe wirklich praktisch sind: ist denn eine Sache damit entschieden? Es wäre auch praktisch, daß die schwerleidende Tante Anna nicht länger der Familie zur Last fiele; wird man sie deswegen umbringen? Es wäre auch praktisch, daß man sich nicht in das blonde Elschen verliebte, das kein Vermögen hat; wird man sich deswegen nicht verlieben? Man wird es sogar heiraten, gegen alle Vernunft. Aber den Luisenstädtischen Kanal wird man, als Resultat langwieriger und vielköpfiger Erwägungen, zuschütten; denn es ist praktisch. Inquit 1.5.1925

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500 Konditoren und keine Konditoreien Vom Pfefferküchler zum Großcafetier

Die Berliner Konditoren-Innung begeht heute, morgen und übermorgen das Fest ihres 200jährigen Bestehens. Das Jubiläum ist mit einer Fensterschau verknüpft. Ursprünglich hießen sie Pfefferküchler. Als solche erhielten sie vor 200 Jahren, genau am 5. September 1725, privilegierte Statuten. Als erster Berliner Meister dieses Gewerbes wird Michael Oßdorff genannt. Die Innung zählte bei ihrer Gründung sechs Pfefferküchlermeister. Später gab es dann in Berlin Konditoreien nach Schweizer Vorbild, und in der Biedermeierzeit entwikkelten sie sich zu den berühmten und oft beschriebenen Mittelpunkten des gesellschaftlichen, literarischen und politischen Lebens. Ihrer Ausläufer erinnern sich noch die Aeltesten unter uns, und der eine oder andere viel genannte Firmenname, wie Kranzler und Josty, bestehen noch fort, wenn auch mit verändertem Charakter. Denn wenn die Innung der Konditoren in Berlin heute 500 Mitglieder zählt, so beweist das zwar einen ungeheuren Aufschwung des Gewerbes, aber Sinn und Ziel seiner Arbeit hat sich vollkommen geändert. Noch leben alte Berliner, die sich erinnern, daß es für schick galt, in eine Konditorei zu treten und dort ein Glas Zuckerwasser zu nehmen, was die Nerven beruhigte. Man litt also auch schon damals an den Nerven, aber arg kann es nicht gewesen sein, wenn ein so harmloses Getränk schon heilend wirkte. Heute findet man in den Konditoreien, oder vielmehr in den Lokalen, die an ihre Stelle getreten sind, keine Nervenberuhigung mehr, eher das Gegenteil. Denn die Konditorei ist verdrängt und beinahe völlig ausgerottet worden durch das Café (wenn auch der Name jetzt wiederzukehren scheint) [:] Riesenraum mit grellem Licht und rauschender Musik, oder raffinierte Innendekoration unter magischen Zauberlampen und prickelnden Tanzweisen. Auf jeden Fall aber Betrieb, Betrieb, Betrieb. Zugleich ist

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etwas Unstetes in die Caféhäuser gefahren: Sie werden mit Hallo begründet, alle Welt läuft hin, die Blüte dauert ein paar Jahre, dann ist es vorbei, an einer anderen Stelle beginnt der Wettlauf von neuem. Sie ziehen sich dorthin, wo der Wellenschlag des Großstadt-Amüsements am höchsten geht. Was vor 20 Jahren die Friedrichstadt bedeutete, das wird jetzt der Kurfürstendamm. Auf der Strecke von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bis zur Wilmersdorfer und Brandenburgischen Straße zählt der gewissenhafte Statistiker nicht weniger als 20 Cafés, verhältnismäßig alte, ganz neue und noch in der Ausstattung begriffene. Natürlich können wir uns sehen lassen. Die Architekten brillieren mit Begabung und Können. Es gibt keine klimpernden Pianisten und kratzenden Violinisten mehr, sondern wo den Gästen Musik geboten wird, da ist sie fast überall von künstlerischem Rang. Und es gibt wieder, was lange vernachlässigt war, Cafés, die ihren Ehrgeiz darein setzen, an Eß- und Trinkbarem beste Ware zu liefern. Wir wollen also keineswegs jammern und die laute Gegenwart zugunsten einer gemütlichen Vergangenheit herabsetzen. Aber es darf doch wohl bei dieser Gelegenheit auf einiges hingewiesen werden, was fehlt, damit es, wenn möglich, bei fortschreitender Entwicklung nachgeholt wird. Cafés über Cafés, große und kleine, helle und dunkle, laute und leise. Aber, Hand aufs Herz: hat man eigentlich Freude an ihnen? Es geht freilich nicht jeder hinein, um Freude zu haben. Die Benutzungsart ist so verschieden, wie die Menschen. Der Geschäftsmann springt rasch hinüber, um in die nervenabspannende Hast seines Tageslaufs eine kleine Erquickung einzuschieben. Er nimmt sich kaum Zeit, zu bestellen und das Bestellte zu genießen, vielleicht noch einen Blick in die Zeitung zu werfen, und rennt schon wieder von dannen, seinem Geschäft nach. Die berufstätige Frau treibt es nicht viel anders. Die Schar der Atelier- und Federmenschen, die im Caféhaus eigentlich gedeihen, in Berlin niemals so stark wie in manchen anderen großen Städten, ist noch weiter zusammengeschmolzen. Und wenn man sich abends, nach getanem Tagewerk, ins Café setzt? Um sich her sieht man dann die Pärchen, die seit Erschaffung der Welt keine andere Möglichkeit des Zusammenseins haben, und dazwischen ballen sich um viel zu kleine Tische viel zu große Familien, und alle zusammen sitzen so eng, haben ein solches Gewühl um sich her und an sich vorbei, daß kaum von Behagen, ganz und gar nicht von Ausruhen und Sammlung die Rede ist.

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Das aber war doch einmal und wäre noch heute die beste Aufgabe der Zunft [derer], die sich Konditoren nennen, Stätten zu schaffen, wo der gehetzte Großstädter von heute sich behagt und sich sammelt. Zugegeben, daß die Menschen nicht danach sind. Sie wollen den Lärm und den Betrieb. Aber doch nicht alle. Und viele doch vielleicht nur, weil das andere, das Bessere nicht zu haben ist. Der Name tut ja nichts zur Sache, Konditorei oder Café: die Gaststätte ist in Berlin nicht mehr zu finden, in der, sobald man eingetreten ist, einen die Ruhe und Geschütztheit umfängt, die derjenigen einer gepflegten Häuslichkeit ähnelt. In der man auf eine Unterhaltung rechnen kann. In der man, wenn man selbst allein sitzt und schweigt, an guten Köpfen oder eleganten Kleidern etwas zu sehen bekommt. In der einem eine Lektüre geboten wird, die über das hinausgeht, was man sich in jeder Straßenbahn zuführen kann. Es ist nicht mehr möglich, in einem Café allein zu sein; denn die Augen langweilen sich zu Tode. Es ist nicht mehr möglich, in einem Café Anschluß zu finden; denn weil die Unterhaltung zwischen Gleichstehenden unwahrscheinlich ist, hat der Versuch alle Harmlosigkeit eingebüßt. Es ist nicht mehr möglich, im Café mit schon Bekannten sich zu treffen; denn man versteht sein eigenes Wort nicht und sitzt in der primitivsten Studentenbude gemütlicher. Daß trotzdem alle Cafés übervoll sind, bedeutet ebenso sehr Problem wie Tragödie. Einen neuen Ansatz zu öffentlicher Geselligkeit oder geselliger Oeffentlichkeit möchten die Vestibüle der großen Hotels bedeuten. Da ihre Bewirtschaftung auch unter der Mitwirkung der Konditoren steht, so darf ihrer bei Gelegenheit des Innungsjubiläums wohl gedacht werden. Denn überhaupt, wenn es auch die Konditoreien und was an ihnen das Beste war, leider nicht mehr gibt, so heißt das nicht, daß es an guten Konditoren fehlt. Sie haben ja noch andere Aufgaben als nur die, eine gewisse Art von Gastwirtschaft zu betreiben. Sie backen uns den Alltags- und Sonntagskuchen. Und wenn man sieht, wie sich vor manchen renommierten Ladentischen am Sonntag vormittag die Kundschaft drängt und mit appetitlichen Papptabletts und weißen Paketen freudig und erwartungsvoll heimwandert, so weiß man zugleich, daß die Konditoreninnung in Berlin nicht umsonst 200 Jahre bestanden hat und gewiß noch weitere 200 Jahre in Ehren bestehen wird. Inquit 6.10.1925

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Wo lebt die Möwe? In Berlin haben die Stände, die Parteien, die Nationen, die Berufe ihre bestimmten Wohnviertel; nicht unverbrüchlich, aber im großen und ganzen. Die Deutschnationalen wohnen in Steglitz, die Kommunisten in Lichtenberg; die Russen im Bayerischen Viertel, die Chinesen zwischen Jannowitzbrücke und Schlesischem Bahnhof; Antiquitätsläden gibt es in der unteren Wilhelmstraße, Konfektion um den Hausvogteiplatz. Möwen nicht weit davon, um den schmalen Spreelauf zwischen Wallstraße und Friedrichsgracht, zwischen Gertraudtenbrücke und Grünstraßen-Brücke. Wundert man sich, daß es überhaupt Möwen in Berlin gibt? Aber schon seit einer Reihe von Jahren hat man sie hier beobachtet. Ob das zusammenhängt mit dem Großschiffahrtsweg, das heißt also mit dem Plan, Berlin zu einer Seestadt zu machen? Genug, sie kommen mit Beginn des Winters, man trifft sie hier und da, aber als ihr Hauptquartier hat sich allmählich jener Winkel Altberlins herausgebildet. Offenbar werden es von Jahr zu Jahr mehr. Diesmal sieht man sie schon in dichten Schwärmen. Hoch oben auf Dächern und Türmen sitzt es dicht beieinander; man könnte meinen, es seien Tauben. In großen Schwärmen kreist es über den Häusern; man könnte meinen, es seien Schwalben. Aber es flattert auch zutraulich nahe, tief über dem Spreelauf, schwimmt auf dem Wasser, hebt sich und flitzt dicht an den Leuten vorbei, die am Geländer stehen und Brotkrumen in die Luft werfen; und siehe da, es sind Möwen. Glatt und rund der schlanke Leib, glatt die schmalen Flügel, denen Nässe nichts anhaben kann; vor dem klugen Köpfchen der lange gebogene Schnabel; der Schwanz wie ein Fächer gesträubt; darunter die roten Füßchen. Offenbar hat es sich unter ihnen herumgesprochen, daß es sich hier gut leben läßt, auch in der knappen Jahreszeit. Wenn die großen Betriebe längs den Ufern Mittagspause haben, so öffnet sich bald hier, bald da ein Fenster, und ein mitleidiger, tierliebender Großstädter teilt sein Frühstück mit den fremden Gästen. Auch die Chauffeure, die neben ihren Wagen warten, kleine Mädchen aus den Geschäften, Schüler, Austräger und was

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sonst um die Mittagsstunde an der Spree entlang schlendert, versucht, mit den Meervögeln Freundschaft zu schließen. Nicht jeder Brocken wird aufgeschnappt. Man muß sich auf die Möwen einstellen, den Bissen hoch in die Luft werfen, damit er Zeit hat zu fliegen und zu fallen. Dann paßt gewiß ein Vogel die Gelegenheit ab, hascht den Brocken mit dem Schnabel und gleitet befriedigt auf seinen Flügeln davon. In der kalten Mittagssonne sieht man sie fliegen, sitzen und schwimmen. Aber wo mögen sie wohnen? Sie müssen doch ihre Quartiere haben und sich wohl fühlen, trotz Wohnungsnot und Großstadtverkehr, die phantastischen Boten der Ferne und der Freiheit mitten unter uns Sklaven des Berufes. Die Spatzen sterben aus, zusammen mit dem Droschkengaul. Wollen die Möwen das neue Wahrzeichen Berlins werden? Sie seien willkommen! Inquit 20.11.1925

Sonja Nummer zehn

Der Ball der Mode im Sportpalast Also Sonja ist es, mit der Kennummer 10, von der Firma Heß. Sonja, schlank, rank, jung, keß, mit dunkel glattem Bubenkopf, hat vor fast hundert Mitbewerberinnen den Thron der Königin der Mode besteigen dürfen. Als ihr Sieg entschieden war, wurde ihr ein Huldigungsgedicht aufgesagt, das Ludwig Fulda verfaßt hatte und Tilla Durieux sprechen sollte, aber infolge Abwesenheit nicht selber sprach. Dann wurde ihr eine Krone auf das glückliche Haupt gedrückt und ein Hermelinmantel um die jungfräulichen Schultern gelegt, und mit Musik, inmitten einer Eskorte von Grenadieren aus dem Märchen, zog sie durch den Saal und über die Treppe zu ihrem Thronsessel unter blumengeschmücktem Baldachin. Aber es litt sie nicht lange in der kalten Pracht des Hofes. Ueber ein kleines, so legte sie Krone und Mantel von sich und mischte sich leutselig unter ihr Volk. Wenn übrigens der Huldigungsdichter sagt, es habe sie ihr Volk »erkoren in freier, gleicher Wahl«, so kann ihn zu dieser Behauptung nur die Reimnot

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gezwungen haben. Denn staatsrechtlich lag die Sache ganz anders. Das Volk stand in Haufen rings um das Podium, auf dem der Wettkampf ausgetragen wurde, und durfte seiner Stimmung Ausdruck geben. Aber es hatte ganz und gar keinen Einfluß auf die Entscheidung, die vielmehr in den Händen von einem Dutzend ernster, würdiger, schwer arbeitender Schiedsrichter lag. Und auch diese Schiedsrichter entstammten nicht der Wahl, sondern sie hatten die Macht aus eigenem Recht ergriffen, ein Entschluß, der zu loben ist, der aber nicht, wie Fulda uns glauben machen möchte, Demokratie, sondern ausgesprochen Diktatur bedeutet. Wieso gerade dieses Hundert von Bewerberinnen dazu kam, sich zu stellen, soll nicht untersucht werden. Sie traten aufs Podium, eine nach der anderen, in das Licht der Oeffentlichkeit, und vor die vierundzwanzig Augen ihrer Richter, hielten die Kennummer hoch, schritten, wanden die Arme, schwenkten Schultern und Hüften, lächelten und verschwanden. Das Publikum klatschte Beifall oder schwieg oder lachte und applaudierte mit grausamer Ironie. Gerührt stellt der Chronist fest, wie viele Frauen in ihrem Spiegel lesen, sie seien schöner als alle anderen Frauen … Nach der großen Schau kam die engere Wahl, schließlich drehte es sich noch um drei oder vier, und dann wurde der Sieg der Nummer 10 verkündet, der von Parteigängern längst gefordert worden war. Eine gute Entscheidung, ein verdienter Sieg. Mit einem bißchen Glück dabei, wie es sich gehört: Nummer 10 merkt sich leicht und ruft sich gut zu den Richtern empor. Ein paar andere waren nahe daran, und wenn die Nummern getauscht worden wären, hätte vielleicht auch die Krone gewechselt. Immerhin, wir Volk sind zufrieden. In einem ungeheuer gelehrten Buche lese ich gerade: »Jeder gesunde Körpertypus findet bald heute, bald morgen seine … Konjunktur.« Der Typus Sonja hat seine Konjunktur heute gefunden. Um Sonjas Zukunft braucht niemand sich Sorgen zu machen. Der ganze Akt, vom Aufzug der Mannequins bis zur Thronbesteigung Sonjas, nahm etwa drei Stunden in Anspruch. So lange war der Ball unterbrochen: etwas viel für alle jene Frauen, die gekommen waren, nicht damit eine andere den Schönheitspreis gewänne, sondern um selber schön zu sein. Inquit 15.12.1925

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Spanisches Obst Man kann nicht den Saturn gegen den Uranus prallen lassen, ohne daß es hier auf Erden zu merken wäre. Man kann nicht von den sieben Hügeln her gegen Deutschland theaterdonnern, ohne daß es in Berlin bei den Apfelsinenhändlern seine Folgen hätte. In der Farblosigkeit unseres Winterklimas pflegt uns das lodernde Gelb zu erfreuen, das die südlichen Früchte auf ihrer Außenseite mit sich tragen. Wo sich ein fliegender Obsthändler etabliert hat, da zieht die leuchtende Pyramide den Blick auf sich. Jeder Nordländer fühlt: diese Glut der Farbe ist nicht diesseits der Alpen gereift, sie ist ein Geschenk der heißeren Sonne rings um das Mittelmeer. »Messina-Apfelsinen« pflegt der kluge Händler mit Kreide auf eine Latte quer über seinen Wagen zu schreiben, im Vertrauen auf die Suggestivkraft dieses italienischen Klanges, im Vertrauen auch darauf, daß niemand kontrollieren wird, ob die Früchte wirklich rund um Messina geerntet worden sind. Plötzlich liest man über den Obstkarren nichts mehr von MessinaApfelsinen. Im Gegenteil, schon die Frucht ist verdächtig. Der Händler, der sie aufgekauft hat, steht im Verdacht, ein Parteigänger Mussolinis zu sein. »Spanisches Obst«, schreibt er jetzt mit Kreide, und daneben »Amerikanische Apfelsinen« … Inquit 10.2.1926

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Landpartie Feine Leute »machen« Sonntags nicht ins Freie. Feine Leute bleiben zu Hause, gehen allenfalls in Familie oder empfangen Familie. Oder, wenn feine Leute den Sonntag außerhalb Berlins verbringen wollen, so haben sie eine Villa oder eine Segeljacht oder gehören einem Sportklub an, der seinerseits über pompöse Räumlichkeiten mit Restaurationsbetrieb an einem der grünen Spree- oder Havelufer verfügt. Wer aber nicht fein ist, und dazu gehört vorläufig noch immer die Mehrzahl der Berliner, der verabredet für Sonntag eine Landpartie. Namentlich heranwachsende Kinder bestehen darauf und setzen ihren Willen so lange durch, bis sie flügge werden und ihre eigenen Verabredungen treffen. Wohin? Das ist die erste Frage. So wie der Berliner von Geburt an in eine gewisse Stadtgegend gehört, und der Mann aus der Alexandrinenstraße sich nicht am Stettiner Bahnhof sässig machen wird, so gehört auch zu jedem Stadtteil ein Ausflugsgebiet. Die Südöstlichen strömen nach der Oberspree, nach der Müggel, nach der Dahme und nach den großen Seen in Richtung auf den Spreewald. Die Nördlichen fließen von selbst an der Stettiner Bahn entlang bis Lehnitz. Die Nordwestlichen gelangen nach Jungfernheide und Tegeler See. Die Westlichen werden von der Havel gelockt. Am Sonntag krabbelt allerlei ans Licht, was alltags in kümmerlichen Hinterhöfen, feuchten Kellerwohnungen, überfüllten Dachgeschossen haust. Beklagenswert diejenigen, für die bereits am Brandenburger Tor das Land beginnt. Auch die sind noch nicht zu beneiden, die rings um Grunewald und Hundekehlensee Natur suchen. Vor Menschen, Staub und Stullenpapier finden sie nicht viel davon. Der Kluge fährt gleich von Anfang an weit hinaus. Die Ausfallmöglichkeiten, früher auf überlastete Vorortbahnen beschränkt, haben sich im letzten Jahr erfreulich vermehrt. Der Autobus beginnt, als Zubringer für märkische Landschaft den übrigen Verkehrsmitteln scharfe Konkurrenz zu machen. Er schlägt auch Bresche in jahrzehntealte Landpartiegewohnheiten, die sich an die Eisenbahnlinien klammerten, und erschließt neues, fast noch unberührtes Gelände.

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So weit die Verkehrsmittel reichen, so weit herrscht Staub und Ueberfülle. Aber der Kluge fängt nun erst an, seine Füße zu gebrauchen. Und siehe da: alsbald hat er die ausgetretenen Straßen und den lauten Schwarm der Mitmenschen hinter sich und wandelt einsam oder fast allein auf dem immer wieder entzückend schönen Saum zwischen märkischem Wald und märkischem Wasser. Statt der Autohupen Amselsang und Lerchenschlag. Wenn er Glück hat und ein Vogelkenner ist, vernimmt er die Wachtel und die Rohrdommel. In der Bläue (vorausgesetzt, daß der Tag blau ist) schwimmen weiße Segel, blitzen silberne Ruder. Am Ufer hier und da haben sich Pärchen im Badetrikot ein Zeltlager aufgerichtet. Der Kluge macht es ihnen nach, liegt im Gras und vergißt die Großstadt. Die Heimfahrt, in Vorkriegsjahren ein Schrecken, vollzieht sich jetzt meist ohne Katastrophen, wenn auch begreiflicherweise in dichter Nachbarschaft mit anderen Wandergenossen. Früher hatte der Berliner für diese Situation seinen Humor als Helfer. Je weiter wir uns von den Schreckensjahren entfernen, desto mehr wird davon wieder zum Vorschein kommen. Man schimpft ein bißchen auf das Gedränge, man fällt müde ins Bett, man überlegt sich vor dem Einschlafen, wohin am nächsten Sonntag. Inquit 27.6.1926

Wettlauf mit dem Tode Eine halbe Stunde vor Beginn des Rennens hebt jenes wilde, nervenzerreißende Gedröhn an, das bis zum Schluß, mehr als drei Stunden lang, nicht mehr aus der Luft weicht: Die Rennwagen, klein, gedrungen, niedergeduckt, mit der Physiognomie der rohen Kraft, haben ihre Rundfahrt über die Avus38 begonnen; zur Schau, vorbei an den erst halbgefüllten Tribünen und den schon wimmelnden Stehplätzen. 38 Avus = Automobil-Verkehrs- und Übungss-Sraße, wurde 1913 bis 1921 angelegt und diente ursprünglich nur sportlichen Zwecken. 1939 wurde sie an das Autobahnnetz angebunden.

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Punkt 2 Uhr fliegt die erste Gruppe vom Start, dicht neben- und hintereinander, schon sich überholend, jeden Augenblick in Gefahr, zu karambolieren. Das Rennen hat begonnen. Zwei Minuten darauf die zweite Gruppe, zwei Minuten darauf die dritte Gruppe. Die Jagd geht auf Nikolassee zu, von der Nordschleife nach der Südschleife. Schon dröhnen die ersten wieder vorbei, auf dem Rückweg von der Südschleife nach der Nordschleife. Man hat das Programmbuch in der Hand und vergleicht die Nummer, die jedes Auto trägt, mit der Tabelle, die den dazugehörigen Fahrer, den Mitfahrer, die Automarke, die Fabrik nennt. Erst sieht man nichts als immer das gleiche Auto vorüberflitzen, dann beobachtet man die Ueberholungen, Rad an Rad, dann beginnt man allmählich zu unterscheiden und die Bewerber und ihre Chancen abzuschätzen. Eine Nummer prägt sich ein, man wartet, ob sie wieder vorbeiwettert. Man holt die Taschenuhr hervor und kontrolliert nach dem Sekundenzeiger die Geschwindigkeit. Eine Stunde ist vergangen. Auf den Tribünen sitzt oder vielmehr steht es Kopf an Kopf, einfaches Bürgerpublikum, Sporthabitues, das, was man Gesellschaft nennt, junge, schöne, elegante Frauen. Die Zuschauermenge hat ihren Favoriten gefunden: Auto Nr. 19, Mercedes, Fahrer Rosenberger aus Pforzheim. Er fährt wie der Teufel, er hat alle Chancen für sich. Er hört auch nicht auf, wie der Teufel zu fahren, nachdem es angefangen hat zu regnen und sogar zu gießen. Auf der schmalen Bahn stehen die Pfützen und öligen Lachen. Jeder fühlt, daß die Gefahr sich verzehnfacht hat. Wird die Rennleitung nicht eingreifen? Dicht beim Ziel steht neben der Bahn ein mächtiges Eisengerüst, die Zeittafel, von der Größe einer Hausfront, behängt mit riesigen, weißen Ziffern auf schwarzem Grund; ihr zu Füßen ein langgestreckter Holzschuppen, Arbeits- und Unterkunftsraum für Funktionäre. Leute stehen dort herum, stehen auch auf der Plattform in halber Höhe des Gerüstes, Aufpasser und Zeitnehmer, die beobachten und die Zifferansage bedienen. Auto Nr. 19 kommt von der Nordkurve hergejagt, der begünstigte Mercedes-Wagen. Alle Blicke hängen an ihm. Gerade vor dem Zeitansager gerät das Fahrzeug ins Schleudern, dreht sich um sich selbst, schlägt mit ungeheurer Wucht gegen das Gerüst. Holz splittert, Eisenteile stürzen, Menschen stürzen. Das Auto hängt, umgeworfen und aufgerissen, im Gestänge.

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Sanitäter kommen von allen Seiten gerannt. Aus den Trümmern werden Menschen gehoben, beiseite getragen, auf den Rasen gelegt.39 Stockt das Rennen? Halten die anderen Fahrer an, von Entsetzen oder einem menschlichen Gefühl bewegt? Während die Sanitäter sich abmühen, während einer der Verletzten nicht aufhört zu schreien, während man nach Decken rennt, um einen Toten zu verhüllen, geht dicht daneben die wilde Jagd weiter. Ein Kinooperateur stellt seinen Apparat gerade vor die günstige Gelegenheit. Ihn wenigstens aber vertreibt die laute Empörung des Publikums. Auf Bahren werden die Opfer weggetragen. Das Rennen nimmt seinen Fortgang. Kaum eine halbe Stunde später, fast an derselben Stelle, nur auf der Gegenseite, wird wieder ein Auto aus der Bahn geschleudert. Es stößt gegen einen Wagen, der dort vorschriftsmäßig hält, wird dadurch in seinem entfesselten Lauf – wer weiß wohin – aufgehalten, stürzt um und bleibt im Grase liegen. Diesmal ist es nicht ganz so schlimm abgelaufen. Das Megaphon ruft seine Mitteilungen über die Bahn: Aufenthalte, Ausscheidungen, Unglücksfälle. Der Regen hat aufgehört, die Bahn trocknet langsam. Das Rennen wickelt sich ab, Stunde um Stunde. Die letzten Runden nahen. Spannung hält die Leute im Fieber. Sieger gehen durchs Ziel. Während ein Krankenwagen sich langsam vorschiebt, schleift eine Handvoll Rennwagen zum letzten Male das freche Gedröhn ringsum die Bahn, bekränzt, beklatscht, umjubelt. Die Sieger winkend, grüßend, lächelnd, fahren ihre Ehrenrunde. Inquit 13.7.1926

39 Adolf Rosenberger (1900–1967) und sein Beifahrer überlebten verletzt den Unfall, drei Menschen fanden den Tod. 1936 emigrierte Rosenberger als Jude in die USA.

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Charleston Mein Freund Zacharias, Zacharias aus dem wilden Wald, und daher immer in Gefahr, aus unserem prunkvollen Kulturrahmen zu fallen, ließ sich von mir in ein Tanzcafé führen. Zum ersten Male in seinem abenteuerreichen Leben sah er dort den Charleston tanzen. Er saß neben mir an einem Marmortischchen, den Kaffee vor sich, und beobachtete, von Gewühl und Gedränge unabgelenkt, mit seinem zupackenden Blick, den er sich im Umgang mit der Natur erworben hat. »Was fehlt diesen Leuten?« fragte er endlich. »Was soll ihnen fehlen?« antwortete ich. »Sie tanzen Charleston.« Er beobachtete schweigend weiter. Dann, mit Kopfschütteln: »Den Leuten fehlt etwas.« »Es wird ihnen schon allerlei fehlen«, warf ich hin. »Geld, Erziehung, Geschmack, was weiß ich.« »Sie sind krank«, sagte er. »Unsinn«, sagte ich. »Kannst du gut sehen?« sagte er. »Ihre Beine und Füße machen Bewegungen wilder Ekstase. Sie verraten äußerste Erregung und Verlust des seelischen Gleichgewichts. Siehst du das?« »Natürlich«, sagte ich. »Aber ihr Oberkörper verrät nichts davon. Er befindet sich in vollkommener Ruhe. Siehst du das?« »Jawohl. Das ist der Charleston.« Er beobachtete wieder. Dann: »Sieh dir die Gesichter an. Siehst du etwas?« »Wie eben Gesichter sind. Nichtssagend.« »Falsch. Die Gesichter reden ganz laut. Sie äußern vollkommene Gelassenheit. Sie haben die Ruhe, sich ein bißchen im Saal umzusehen. Sie sprechen mitten im Tanz irgendeine Gleichgültigkeit. Manche langweilen sich geradezu. Es fehlt nur noch, daß sie gähnen.« »Ich glaube schon, daß sie sich langweilen, leer wie sie sind.« Er schlug mit der schweren Hand auf die Marmorplatte, die Gäste um uns her wurden aufmerksam. »Das ist ja entsetzlich«, schrie er.

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»Benimm dich«, sagte ich. »Es ist doch höchstens komisch.« »Komisch? Wenn du Schritte im Zimmer hörst, aber nichts siehst, oder wenn du eine Hand auf deinem Anzug siehst, aber nichts fühlst, so ist das unheimlich. Das hier ist auch unheimlich.« »Mach‘ dich nicht lächerlich.« »Die Beine und das Gesicht stimmen nicht zusammen. Man sieht, daß sie demselben Menschen gehören, aber sie können doch nicht demselben Menschen gehören.« »Warum können sie nicht?« Er wandte sich von den Tanzenden ab und mir zu. »Hast du schon einmal Neger tanzen sehen, was man Urvölker nennt oder Wilde? Die machen ungefähr solche Verrenkungen, wenn es über sie kommt. Aber sie halbieren sich nicht. Was in ihnen unten vorgeht, spielt sich auch oben ab. Sie blecken die Zähne, sie atmen Sturm, sie sprühen Feuer. Es bricht aus ihnen hervor mit Gekreisch und Gejohle. Und die Ekstase [ver]läßt sie nicht früher, als bis sie vor Ermattung umfallen. Die hier sind mitten entzwei gebrochen. Welcher Hälfte soll ich glauben, den wildgewordenen Beinen oder den gleichmütigen Köpfen?« Ich lächelte. »Das ist es ja gerade, worauf es ankommt beim Charleston.« »So? Charleston nennt ihr das? Aber wenn nun eine von diesen Mädchen mir zuflüsterte, daß sie mich liebte, oder wenn nun einer von diesen Männern mir versicherte, daß er mir helfen würde, so könnte ich ihnen doch ebensowenig glauben.« Ich geriet in Zorn. »Ich bin mit dir in ein Tanzcafé gegangen. Ich will mich amüsieren. Ich hatte gehofft, du würdest dich auch amüsieren. Jetzt ist doch nicht Zeit, ethische Probleme zu erörtern.« Er schwieg vor sich hin, schüttelte den Kopf, schüttelte und schwieg. Nach langer Pause, gewichtig: »Es gibt Menschen, die aus der Handschrift den Charakter lesen können. Es gibt Menschen, denen die Sterne das Schicksal verraten.« »Was hat das hier zu tun?« fragte ich gereizt. »Ich zum Beispiel schließe aus eurem Charleston, daß ich recht daran tue, in meinem wilden Walde zu bleiben.« Er stand auf und ging. Er ließ mich einfach sitzen. Hoffentlich bleibt mein Freund Zacharias jetzt für längere Zeit in seinem wilden Walde. Man hat nur Aerger mit ihm. Moritz Goldstein 5.8.1926

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Mit dem Staubsauger im Grunewald Die »Morgenpost« läßt aufräumen

Das ist natürlich ein bißchen übertrieben. Mit dem Staubsauger wird nicht gearbeitet. Es wäre auch unpraktisch; denn die Absicht geht nicht dahin, im Grunewald Staub zu wischen. Soweit sind wir noch lange nicht. Man will dieses Stückchen Berliner Natur vielmehr zunächst aus dem Gröbsten herausbringen und den Schmutz wegschaffen, der überall dort herumliegt, wo in jedem anderen Walde Gras und Blumen wachsen würden. Bekanntlich ist es eine alte Berliner Volkstradition aus der Zeit der Quitzows40 her, nach dem Grunewald mit Kind und Kegel Landpartien zu machen, sich unter den Kieferstämmen zu lagern, die mitgebrachten Butterbrote, auf Berlinisch »Stullen«, auszupacken und aufzuessen und das gesamte Einwickelmaterial, vom Zeitungsblatt bis zur Blechbüchse, liegen zu lassen. Nachdem die Berliner ein paar Jahrhunderte lang dieser Sitte gefrönt haben, ist natürlich das ganze Gebiet, von diesseits der Seenkette bis an die Havel, mit den stummen, aber häßlichen Zeugen berlinischer Gemütlichkeit bedeckt, und man muß sich wundern, daß immer noch die Kiefern aus dieser Müllschicht herausragen: ein überwältigender Maßstab ihrer Höhe. Angefochten worden ist diese Berliner Sitte, manche sagen Unsitte, in gesprochenem und geschriebenem Wort oft genug. Gehört haben die Berliner nicht darauf. Einmal vor dem Kriege ist man zu praktischen Maßnahmen geschritten und hat auf der berühmten Völkerwanderungsstraße vom Bahnhof Grunewald nach Schildhorn Abfallbehälter verteilt in Gestalt von tonnenartigen Gefäßen, die an Baumstämme gebunden wurden und mit ihrer weißen Farbe weithin riefen: Hierher mit allen Frühstücksresten! Soviel konnte man tun, aber man konnte die Berliner nicht zwingen, ihre Büchsen, Papiere, Bindfäden, Kalbsknochen und Eierschalen dort hinein zu 40 Die Brüder Dietrich von Quitzow (1366–1417) und Johann von Quitzow (1370–1437), Raubritter und Gutsherren. Ihnen gehörten mehrere Dörfer, Städte, Schlösser und Burgen rund um Berlin. Sie bedrohten Handel, Wirtschaft und Leben der Bürger durch Zölle, Viehdiebstahl und räuberische Überfälle.

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tun. Im Laufe der Jahre verfielen diese Behälter und waren fortan selbst ein Teil des Grunewald-Mülls. Jetzt hat die »Berliner Morgenpost«41 die Sache bei einem anderen Ende angefangen. Im Zeitalter der Psychologie hat sie sich folgendes gesagt: Warum werfen die Berliner Abfälle in den Grunewald? Weil schon Abfälle da liegen. Wenn der Grunewald sauber wäre, würden die Berliner ihn so wenig verschmutzen, wie sie es mit dem Tiergarten, dem Friedrichshain, dem Park von Sanssouci tun. Man muß also den Grunewald säubern. Gesagt, getan. Die »Berliner Morgenpost« engagierte durch Vermittlung des Arbeitsnachweises 70 Arbeitslose auf eine Woche. Sie haben den Auftrag, allen Unrat im Grunewald aufzusammeln. Lastwagen stehen bereit, die den Müll auf einen der Berliner Abladeplätze befördern, wo der brennbare Teil sogleich durch Feuer vernichtet wird. Sehen wir ein bißchen zu, wie sie im Grunewald reinemachen. Tatsächlich, er steht auch wochentags an seinem Platz und sieht sogar viel sonntäglicher aus als an Sonntagen. Gelassen spiegeln die stillen Seen zwischen ihren Schilfufern abwechselnd blauen Himmel und graue Wolkenschatten. Es ist einsam zwischen den Stämmen, aber nicht ganz menschenleer. Eine Mädchenschule macht Ausflug und spielt eine Stunde lang mit gedämpftem Uebermut, bis sie weiterwandert. Ein paar Damen führen ihre Luxushunde spazieren. Ein Professor mit wehendem Graubart fährt Rad. Ein Herr mit Brille denkt nach. Ein paar Unentwegte baden. Seit dem frühen Morgen sind die Arbeitslosen am Werk. Sie sind von der Sammelstelle aus mit Lastautos hinausgefahren worden. Nun treten sie in drei Kolonnen zu vier Gliedern an, verstehen das Kommando »Rechts um« und marschieren nach der Arbeitsstelle, die für jeden Tag neu zugewiesen wird. Sie müssen ein ziemlich weites Ende laufen und vertreiben sich die Zeit mit Singen. Die »Internationale« steigt, noch ein paar andere revolutionäre Lieder. Aber der Vorrat ist begrenzt. Sie wollen auch nicht immer dasselbe singen. Andererseits, es müssen Lieder sein, die jeder kennt. Also schließlich: »Ich hab mich ergeben …« Dann ist die Kolonne an ihrem Platz angelangt und beginnt. Jeder trägt an einem Band, das von der rechten Schulter nach der linken Hüfte läuft, eine Art vergrößerten Brotbeutel; dazu in der Hand einen Stecken mit eiserner Nadel am unteren Ende. Die Leute schwärmen mit weitem 41 Die »Berliner Morgenpost« war wie die »Vossische Zeitung« eine Zeitung des UllsteinVerlags.

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Abstand aus, spießen alles, was nicht gewachsen ist, auf ihre Spitze und tun es von da in den Sammelbeutel. Meistens ist es Papier, aber auch Schuhe, Tücher, Kleidungsstücke, dazu viele Konservenbüchsen. Wo sie vorübergegangen sind, liegt blitzsauber der Waldboden zu Tage, und man kann mit eigenen Augen sehen, ob Gras auf ihm wächst. Wo sie erst anfangen, liegt vor ihnen der Unrat gehäuft, und man glaubt kaum, daß sie zu Rande kommen werden. Zur Frühstückspause sammeln sich die Kolonnen. Die Lastautos stehen bereit, um den Inhalt der Säcke aufzunehmen. Die Leute legen sich auf den Boden, essen das Frühstück, das ihnen als Extragabe geliefert wird, und stellen ihre Betrachtungen an. Arbeitslos ist arbeitslos. Die eine Woche Verdienst kann sie nicht retten. Aber es ist doch besser als gar nichts. Diese Aufgabe ist ihnen wie vom Himmel in den Schoß gefallen. Die Arbeit ist auch nicht schwer, verglichen mit anderen Arbeiten, zu denen Kräfte angefordert werden. Die Bezahlung ist nicht schlechter als anderswo, sogar etwas besser. Dazu gibt es einen täglichen Imbiß als Geschenk. Sie sollten eigentlich zufrieden und für diese Woche der Arbeit in guter Luft einigermaßen vergnügt sein. Manche sind es auch. Andere haben mehr Blick für die Unvollkommenheiten menschlicher Einrichtungen und schimpfen auf alles, was ihrer Meinung nach besser gemacht werden könnte. Aber noch niemand hat sein Amt niedergelegt. Und bei ihrem Werk sind sie mit demjenigen Eifer, den das Bewußtsein hervorruft, eine nützliche und dem Gemeinwohl dienende Arbeit zu verrichten. Auch stehen sie alle unter dem angenehmen Gefühl, Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu sein: Wer ihnen begegnet, der hat schon von der Aktion gehört und sieht wohlwollend ein Weilchen zu. Die Schule auf ihrem Ausflug hat ausdrücklich von ihren Lehrern die Weisung empfangen, kein Stückchen Papier liegen zu lassen. Bis zum Sonnabend wird das Unternehmen fortgesetzt. Am Sonntag werden sich die Berliner überzeugen können, was inzwischen aus ihrem Grunewald geworden ist. Und dann wird sich auch herausstellen, ob die psychologische Berechnung richtig war. Man kann nicht jedem Berliner, der eine Landpartie macht, einen Schutzmann mitgeben, damit er ihn aufschreibt, wenn er seine Abfälle im Grünen umherwirft. Die Berliner müssen am Ende doch lernen, selbst Disziplin zu halten und müssen einer auf den anderen aufpassen. Sonst wird das Großreinemachen im Grunewald nicht lange geholfen haben. Inquit 27.8.1926

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Contra-Tartüffe Schrecklich mit diesen Weibern, sagte ich. Und dabei ist alles geheuchelt, sagte er. Nicht wahr? Sagte ich. Die Fassade ist leidlich imstande. Aber dahinter nichts als Verderbnis, Sittenlosigkeit, Laster. Es gibt keine tugendhaften Frauen mehr. Ach so. Du bist noch naiv, du glaubst noch … An Tugend? Natürlich. Das tugendhafte Weib … Quatsch. Du bist noch naiv und glaubst noch an Laster. Was soll das heißen? Sie sind ja gar nicht lasterhaft. Du gibst doch selbst zu, es ist alles geheuchelt. Dummkopf! Sie heucheln Lasterhaftigkeit. Sie tragen eine Maske der Verruchtheit. Aber dahinter sitzen sie in ihrer wirklichen Gestalt, so tugendhaft wie zu Großmutters Zeiten, und stricken Strümpfe. Unsinn! Symbolische Strümpfe natürlich. Ich falle nicht mehr darauf hinein. Du weißt nicht, was du redest. Sorge dich nicht um mich. Ich habe die Frage studiert. Ein Dutzend Fälle. Sie färben sich die Lippen, umrändern sich die Augen, erweitern sich die Pupille, übertünchen sich das Gesicht. Marke Grande Cocotte. Aber nimm das einmal für bare Münze. Der Rächer ihrer Ehre wartet schon im Hinterhalt und bittet dich hinaus. Welch ein frivoles Spiel mit den entblößten Knien! Was meint sie damit? Solange die Welt steht, hat das denselben eindeutigen Sinn gehabt. Aber sei einmal der Tölpel, es wörtlich so zu verstehen, wie du es gelernt hast. Sie dreht sich beleidigt um und sieht dich nicht mehr an. Du tanzest mit ihr und hast durch das bißchen Crèpe Georgette hindurch einfach ihren Leib im Arm. Darfst du es bemerken? Mitten unter dem Kronleuchter lässt sie dich stehen. Was für Worte nimmt sie in den Mund! Die ganze Terminologie der Sexualwissenschaft ist ihr geläufig. Schließest du aber aus ihrer unbefangenen Beherrschung des Wortschatzes auf Kenntnis der Sache, so rennst du dir eine Beule in den Schädel.

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Lieber Freund, du weißt nicht, wie komisch du wirkst! Irgendwo bist du nicht zum Ziele gelangt, und das ärgert dich. Aber das ist noch kein Grund, deinen Sonderfall zu verallgemeinern. Kohl! Es ist kein Sonderfall. Es ist ein Typus und ein häufiger. Zu einer gewissen Zeit war die Welt voll von Tartüffes. Offenbar ist die Gegenwart wieder der Tartüfferie günstig, nur einer Tartüfferie mit umgekehrtem Vorzeichen. Der alte Tartüffe war ein Mann, heute sind es Weiber. Der alte Tartüffe heuchelte Tugend, heute heuchelt man Laster. Natürlich steckt ein seelischer Kern in diesem Kostüm. Wir durchschauen heute ja auch die Unzulänglichkeit von Molières Gestalt. Molière dachte sich die Sache noch so, daß jemand ein Schurke ist, seine Schurkenhaftigkeit kennt und, um zum Ziele zu gelangen, den Biedermann spielt, wie ein Schauspieler eine Rolle mimt. Wir wissen heute, daß es so in den Menschen nicht aussieht, und daß jemand, der seine angeborene Schurkerei kostümiert, diese Maskerade zunächst vor sich selber treibt. Also ein lebendiger Tartüffe würde irgendwo in seinem Herzen die Tugendhaftigkeit empfinden, die er heuchelt, es würde ihm nur an Kraft fehlen, sie zu bewähren. Das ist Theorie. Mit Theorien macht man sich die Wirklichkeit plausibel. Also du willst behaupten, daß deine Tugendhaften verrucht sein möchten, und es nur nicht zustande bringen? Ausgezeichnet. Es ist etwas nicht da. Es fehlt ihnen an irgendwas, an Mut, an Kraft, an Ueberschwang, an echtem Gefühl. Weißt du, was? Dir fehlt es an Phantasie. Das Spiel mit dem Feuer ist eines der reizvollsten. Wenn ich das schon höre! Damit das Spiel mit dem Feuer reizvoll sei, muß man in Gefahr geraten, sich zu verbrennen oder gar in Flammen aufzugehen. Aber in diesen Weibern brennt nichts. Sie möchten einem freilich einreden, was sie treiben, sei ein Spiel mit dem Feuer. Aber ich für meine Person habe es nun heraus: Sie verfügen nicht über Flammen, sondern bloß über eine Kombination von elektrischen Birnen an ihrer Außenseite, die sie ein- und ausschalten. Es soll wie Spiel mit dem Feuer aussehen, und vielleicht halten sie es selbst dafür. Aber es ist doch bloß eine wirkungsvolle Lichtreklame. Moritz Goldstein 19.3.1927

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Was will Berlin mit einer Saison? In Berlin wird die Schaffung einer »Saison« geplant, um den Fremdenstrom, namentlich aus Amerika, nach Deutschland zu ziehen. Ein engerer Ausschuß hat jetzt als Termin die Zeit vom 12. Mai bis 15. Juni gewählt.42 In dieser Zeit sollen Spitzenleistungen auf dem Gebiete der Kunst und des Sports gezeigt werden. Es genügt nicht, eine Sache zu machen; man muß sie auch richtig machen. In Bezug auf den von der »Vossischen Zeitung« angeregten Plan einer Saison ist alles noch im Fluß. Man darf also wohl jetzt denjenigen Personen und Instanzen, bei denen die Beschlußfassung und die Durchführung liegt, ein paar Fragen vorlegen, die hier nicht beantwortet werden sollen, die aber beantwortet werden müssen, ehe man zur Tat schreitet. Was soll erreicht werden? Daß die Fremden, die Deutschland aufsuchen, nach Berlin gehen, statt nach München, Stuttgart, Frankfurt, Köln, oder wie die Städte und Provinzen heißen mögen, die auf die Reichshauptstadt schlecht zu sprechen sind, weil sie sich zu sehr in den Vordergrund drängt? Keineswegs kann dies die Absicht sein; vielmehr umgekehrt: wenn Berlin sich bemüht, Fremde anzusaugen, so verfolgt es das Ziel, sie weiter zu pumpen in das übrige sehenswerte Deutschland, das jenseits der Grenzen noch immer in wesentlichen Teilen so gut wie unbekannt ist. Es ist also keine Berliner, sondern eine allgemein deutsche Angelegenheit, die zur Verhandlung steht, und es fragt sich, ob man Vertreter des übrigen Deutschlands zu den Beratungen nicht hinzuziehen soll. Womit zieht man die Fremden herbei? Mit Sehenswürdigkeiten und Spitzenleistungen, lautet die selbstverständliche Antwort. Und die naheliegende Forderung: also muß man beides schaffen. Darauf scheinen ja die ersten Beschlüsse hinauszulaufen. 42 In einer anderen Ausgabe der Vossischen Zeitung wird als Termin „vom 12. Mai bis 15.  Juli“ angegeben.

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Indessen hier tauchen die Zweifel schon auf. Muß man denn die Spitzenleistungen erst schaffen? Gibt es die nicht schon? Nehmen wir zum Beispiel das Theater: immerhin wirken ja in Berlin Bühnenleiter von internationalem Ruf, haben von Berlin ihren Aufstieg genommen, wirken persönlich oder durch Tradition lebendig fort. Reinhardt43 und Jeßner44 mit ihrem Stab begabter und bahnbrechender Regisseure, mit ihrem Kranz unvergleichlicher Darsteller. Vielleicht gibt es nirgends in Deutschland, vielleicht nirgends in der Welt ein Theaterleben, das sich an Höhe der schauspielerischen Durchschnittsleistungen, an Wagemut der Inszenierung, an Fülle des Spielplans mit dem von Berlin messen kann. Nehmen wir ferner Oper und Musik: die großen Dirigenten Walter45, Blech46, Furtwängler47, Kleiber48,

43 Max Reinhardt – eigentlich Max Goldmann – (9.9.1873–30.10.1943), Regisseur, Schauspieler, Theaterleiter. Er gründete 1901 das Kabarett »Schall und Rauch«, 1902 das Kleine Theater Unter den Linden, erwarb 1903 das Neue Theater am Schiffbauerdamm; ab 1905 führte er in den Kammerspielen glanzvolle Klassiker-Aufführungen auf. Zwischen 1920 und 1924 hielt er sich in Wien auf. Nach seiner Rückkehr nach Berlin baute er die Komödie am Kurfürstendamm auf und inszenierte wieder am Deutschen Theater. 1933 Emigration, zuerst nach Österreich, 1938 in die USA. 44 So im Original, aber richtig: Leopold Jessner (3.3.1878–30.10.1945), Regisseur, Schauspieler, Theaterleiter. 1919 wurde er Intendant des zum Staatstheater umgewandelten Königlichen Schauspielhauses, wo er dem Illusionstheater einen sachlichen, klaren Darstellungsstil entgegensetzte, der die Theater-Stücke politisierte und aktualisierte. 1933 Emigration: England, Palästina, USA. 45 Bruno Walter – eigentlich Bruno Walter Schlesinger – (15.9.1876–17.2.1962), Bruder des Gerichtsreporters an der »Vossischen Zeitung«, Paul Schlesinger (»Sling«), Dirigent. Schüler von Gustav Mahler. 1929–1933 Kapellmeister des Leipziger GewandhausOrchesters. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten Emigration: Österreich, Frankreich, USA. 1946 amerikanische Staatsangehörigkeit. 1947–1949 Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker. 46 Leo Blech (22.4.1871–25.8.1958), Dirigent und Komponist, Schüler von E. Humperdinck. Verließ 1937 Berlin und emigrierte über Riga nach Stockholm. 1949 kehrte er nach Berlin zurück. 47 Wilhelm Furtwängler (25.1.1886–30.11.1954), Dirigent und Komponist. 1920 wurde er an der Staatsoper Berlin Nachfolger von Richard Strauß und gleichzeitig Leiter der Berliner Philharmoniker. Im nationalsozialistischen Deutschland war Furtwängler Vizepräsident der Reichsmusikkammer. 1947 wieder Dirigent der Berliner Philharmoniker, die ihn 1952 zu ihrem »Dirigenten auf Lebenszeit« wählten. 48 Erich Kleiber (5.8.1890–27.1.1956), Dirigent. Von 1923–1935 war er Generalmusikdirektor an der Staatsoper Berlin. 1935 Emigration nach Buenos Aires. Nach 1945 häufig als Gastdirigent in Berlin.

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Klemperer49 sind hier vereinigt, der Intendant Tietjen50 entfaltet seine weitreichende Wirksamkeit, Siegfried Ochs51 ist am Werke, Aufführungen und Konzerte von unvergleichlichem Rang folgen einander. Wenn diese Leistungen nicht vermögen, Fremde herbeizuziehen, so ist es sehr fraglich, mit welchen andern Anstrengungen das Ziel erreicht werden könnte. Nur freilich bilden die Anstrengungen an sich noch kein Propagandamittel. Werben können sie erst, wenn sie bekanntgemacht werden. Und offenbar fehlt es daran ganz und gar. Was weiß denn das Ausland von einem Berliner Musik- und Theaterwinter? Man stelle sich vor, dass jenseits der Grenzen und jenseits des Ozeans das Programm eines solchen Winters in Werbeschriften mit geschicktem Text und geschickten Bilder verbreitet würde: welche bessere Propaganda für Berlin könnte es geben? Einen Schritt weiter: ist denn Berlin nur um seiner Veranstaltungen willen sehenswert? Ist es nicht sehenswert um seiner selbst willen, als Hauptstadt des Deutschen Reiches, als Viermillionen-Stadt, als Stadt der Sauberkeit und Ordnung, als Stadt der Technik und Hygiene, als Stadt des Aufschwungs und des neuen Aufbaues nach beispiellosem Niederbruch? Aber auch hier: was weiß die Welt von Berlin? Gedankenlos werden von Fremdenführern, die auf angelsächsische Seelen eingestellt sind, ein paar historische Sehenswürdigkeiten von einer Reisegesellschaft zur anderen überliefert. Was eigentlich in Berlin zu sehen ist, das weiß man kaum in Deutschland, geschweige denn im Ausland. Aufgabe der Propagandisten ist es, das unbekannte Berlin der Welt ins Bewußtsein zu hämmern, bis der Wunsch lebendig wird, es selbst zu erleben. Dieses schon längst sehenswerte Berlin aber ist keineswegs an irgendeine »Saison« gebunden. Den größten Teil des Jahres, mindestens von Mitte September bis Mitte Mai sind die Theater und Opernhäuser in vollem Betrieb. Der eigentliche Winter mit seinen öffentlichen Bällen könnte für Fremde

49 Otto Klemperer (14.5.1885–6.7.1973), Dirigent und Opernregisseur. Ab 1928 Dirigent der Kroll-Oper und nach ihrer Auflösung 1931 an der Lindenoper. 1933 wurde er von den Nationalsozialisten aus »rassischen Gründen« entlassen, emigrierte nach Los Angeles. 50 Heinz Tietjen (24.6.1881–30.11.1967). Dirigent, Regisseur, Theaterleiter. 1927–1930 Leiter der Staatsoper Berlin, 1927–1945 zusätzlich Generalintendant aller Preußischen Staatstheater, seit 1931 leitete er die Bayreuther Festspiele; 1956–1959 Intendant der Hamburger Staatsoper. 51 Siegfried Ochs (19.4.1858–6.2.1929), Dirigent und Komponist. Gründer des »Siegfried Ochs’schen Gesangvereins«, aus dem der »Philharmonische Chor« hervorging.

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einen besonderen Reiz abgeben, den Karneval-Veranstaltungen mancher vielgenannten Stadt vergleichbar. Im eigentlichen Sommer wiederum öffnet sich die ganz und gar unbekannte und ungenannte Umgebung Berlins, die der Fremde nur als Hetzfahrt in die Potsdamer Schlösser kennenlernt. Aber die blauen Seen zwischen grünen Ufern mit ihrem unvergleichlichen Leben am Strand und auf dem Wasser hat außer den ansässigen Berlinern überhaupt noch kaum ein Mensch gesehen. Propaganda für das, was schon ist, heißt die Losung. Vielleicht hat sie den Erfolg, den man von besonderen Veranstaltungen erwartet. Wenn sie Erfolg hat, besser noch ehe sie Erfolg hat, sollten die zuständigen Stellen sich überzeugen, ob an den Bahnhöfen, in den Straßen, an allen Stellen des öffentlichen Verkehrs alles so ist, wie es der Fremde erwarten kann und von seiner Heimat oder aus anderen Großstädten gewöhnt ist. Und auch die Berechnung ist anzustellen, wieviel Fremde Berlin denn jetzt in seinen Hotels unterzubringen vermag, über die Zahl hinaus, die schon ohne besondere Propaganda jahraus, jahrein nach Berlin kommen. Inquit 28.10.1927

Titania-Palast

Eröffnung des Steglitz-Friedenauer Groß-Kinos Es schwindelt einen – aber seit gestern haben wir nun wieder ein neues modernes Riesenkino; nicht nur ein Kino, sondern zugleich damit eine Bar und ein Café, und wenn die Leiter wollen, ein Konzerthaus und ein Varietéoder Revue-Theater; denn, so wird versichert, der Raum hinter dem Vorhang ist mit allen Erfordernissen einer Vollbühne ausgestattet. Das Bauwerk liegt gerade auf der Grenze von Friedenau und Steglitz, auf einem Gelände zu Seiten der Rheinstraße, das bis zum Baubeginn einen Rummelplatz abgeben mußte und dessen angrenzender größerer Teil weiter als offener Markt benutzt wird. Dies Nebeneinander des kleinbürgerlichen Markttreibens und des mondänen Neubaus ist nicht ohne Reiz. Die National-Film A.-G. als Bauherrin hat das Theater mit glücklichem Einfall Titania-Palast getauft.

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Kinosaal des Titania-Palastes in Steglitz; vermutlich 1928.

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Der gelungene Bau, ein Werk der Düsseldorfer Architekten Schöffler, Schlönbach und Jacobi, beherrscht die große und zukunftreiche südwestliche Ausfallstraße als ein Gefüge von rhythmisch gegliederten kubischen Massen. Die längere Front nach dem Markt, die kürzere nach der Rheinstraße stellen sich dar als zweigeschossige ornamentlose Betonwände, nur durch die schmalen, schmucklosen Fenster und Türen gegliedert. Zwischen beiden erhebt sich ein wuchtiges, vierkantiges Turm-Massiv, das wieder durch ein Gefüge horizontaler Linien umschlungen und überragt wird. Diese Linien entfalten ihren Sinn und ihre Pracht erst bei Dunkelheit, wo sie sich als wirksame und weithinstrahlende Leuchtkörper enthüllen. Gestern abend, als das Haus sich einem geladenen Publikum öffnete, beschien das Licht eine fast undurchdringliche Masse Wißbegieriger, die den Ehrentag ihres Stadtviertels wenigstens von draußen mit erleben wollten und durch die sich Anfahrt und Zustrom nur mit Mühe Bahn brachen. Nicht ganz so glücklich sind die Aufgaben des Innern gelöst worden. Der übersichtliche, in die Breite, Tiefe und Höhe mächtige Zuschauerraum enthält nach bekanntem Schema nur einen einzigen Rang, der sich hoch über das hintere Drittel des Parketts spannt. Ein Oval schwebt inmitten der Decke, einfache Voluten steigen von der Rangbrüstung zur Bühne abwärts – alles, wie sich später herausstellt, Träger verdeckter Lichtquellen. Die Farben Mattgold und Burgunderrot herrschen vor, die Wände zeigen eine wenig überzeugende Bemusterung von der Art, wie man sie heutzutage auf Schals malt. Kanzelartige Ausbauchungen des Balkons, spielerische Profile der Türausschnitte und ähnliches beeinträchtigen ein wenig die Führung der großen Linien. Wendet man den Blick nun nach vorn, so ist man versucht, »ah« zu rufen, halb aufrichtig und halb ironisch. Ueber den blauleuchtenden Vorhang wölben sich vier parabolische Bogen, die zugleich die Pfeifen einer Riesenorgel umrahmen; nicht gotisch, aber doch an gotische Domarchitekturen erinnernd, eine seltsame, und wenn man will sogar peinliche Mischung von Feierlichkeit und Bluff. Beides wird noch gesteigert, wenn zu Klängen der Orgel die verdeckten Lichtquellen zu spielen beginnen und das Haus mit wechselnden Farben übergießen. Der Effekt ist ohne Zweifel überraschend; wie weit er sich in den Dienst der Kunst, irgendeiner neuen Kunst, stellen lässt, muß abgewartet werden. Abgewartet werden muß auch die Entwicklung des reich besetzten Orchesters, das gestern unter seinem Dirigenten Dransmann die Eröffnung des Hauses eröffnete. Geigensolo (Eva Staar), zwei Goethische Gedichte,

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in zeitgenössischer Vertonung von Carl Clewing vorgetragen, ein Prolog, den Roellinghoff verfaßt hatte und statt des angekündigten Dieterle52 ein Vertreter sprach. Und dann der Film: »Der Sprung ins Glück«.53 Wieder einmal die Geschichte vom Sohne des reichen Mannes, der das arme Mädchen erst behalten darf, nachdem der Vater selbst auf ahnungslosen Amüsierfahrten sie kennen, lieben und achten gelernt hat. Carmen Boni als dieses Mädchen [ist] nicht wandlungsfähig genug, aber in den entscheidenden Szenen ausdrucksvoll und sympathisch. Ihr diskreter Partner André Roanne. Lustig Hermann Valentin als strenger und zugleich lebensfroher Vater, Hans Junkermann in der bewährten Rolle des alten Schwerenöters. Rosa Valetti kommt leider nicht zur Entfaltung. Ein paar hübsche Szenen fließen aus dem Einfall, daß die Umkämpfte Angestellte eines Maniküresalons ist. Roellinghoffs Zwischentitel helfen dem manchmal stockenden Ablauf launig nach. Und so haben wir den freundlich harmlosen Anfang eines Filmtheaters erlebt, das sich mit ernsthaften Taten seinen Platz erst noch erobern muß. Moritz Goldstein 28.1.1928

52 Wilhelm (William) Dieterle (1883–1972), erfolgreicher Regisseur, der 1930 von Warner Bros. in Hollywood unter Vertrag genommen wurde. Er kehrte nach dem Krieg nach Europa zurück. 53 »Der Sprung ins Glück«, 1927/28. Film von Augusto Genina (1892–1957), NeroFilmgesellschaft G. m. b. H.

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Auf den Stühlen Da sitze ich wieder, angeborener Faulheit hingegeben, und warte auf die Sonne, die mich bescheinen soll. Es fröstelt mich noch ein wenig, und ich bin fast allein. Aber die Stühle sind wieder da, unter den Linden auf der Mittelpromenade, zwischen den vorbeitosenden Verkehrsströmen, dort, wo die Aussichtswagen auf die Fremden warten, die sich Sightseeing leisten wollen. Im Winter standen die Stühle nicht auf der Mittelpromenade, man hatte sie weggeholt und vermutlich eingemottet. Jetzt sind sie ausgepackt und ins Freie gestellt worden, zum Zeichen, daß der Frühling naht. Nicht weil die Schwalben wiedergekommen, nicht weil es Veilchen und Schneeglöckchen zu kaufen gibt, glaube ich an den Frühling; sondern weil die Stühle wieder da sind. Noch lange nicht alle, erst knapp die Hälfte, aber frisch gestrichen. Auch die Aufschrift »Benutzung 5 Pfennig« ist erneuert worden. An dieser Aufschrift erkenne ich nicht nur den Frühling, sondern auch mein Berlin. Ich weiß nicht, ob es das auch sonstwo in der Welt gibt. Freilich, auch in den öffentlichen Anlagen von Paris habe ich Stühle gesehen; ja, es ist mir dort erst aufgegangen, wodurch sich ein Stuhl im Freien von einer Bank im Freien unterscheidet. Dadurch nämlich: eine Bank steht ihrem Wesen nach fest, einen Stuhl kann man dorthin rücken, wo man ihn braucht. In Paris holen sich die Leute den Stuhl an den Teich, wenn sie aufs Wasser blicken wollen, oder an die Wiese, wenn es ihnen gefällt, den Rasenspielen zuzusehen, oder an den Saum der Allee, wenn es sich lohnt, die Promenade zu beobachten. Sie stellen sich auch Stühle vor eine Bank und sitzen dann als Familie oder als Bekanntschaft im Kreise. Und daß man dafür bezahlen sollte, fällt niemandem ein. Bei uns hingegen werden die Stühle längs der Mittelpromenade durch eine Kette an ihren Platz gebunden. Man kann sie nicht vom Flecke rücken, sondern muß nebeneinander aufgereiht sitzen. Die Stühle haben bei uns die Funktion von Bänken, nur daß man für ihre Benutzung 5 Pfennig bezahlen muß. Wie also kann es jemandem, z. B. mir, einfallen, einen gebührenpflichtigen Stuhl zu wählen statt einer gebührenfreien Bank? Nun, das hat

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Unter den Linden - Leihstühle; um 1910.

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die Stadt Berlin sehr schlau gemacht. Es stehen nur ganz wenige Bänke Unter den Linden, so daß auf ihnen, wenn das Wetter danach ist, kein Plätzchen frei bleibt. Und es sitzt sich außerdem sehr unbequem auf den Bänken, da die Stadt in ihrer Weisheit die Rückenlehnen weggelassen hat. Wenn man also erstens überhaupt und zweitens angelehnt sitzen will, so bleibt einem nichts übrig, als den Sechser zu opfern. Wegen des Sechsers sind Billette gedruckt worden und es sind zwei Leute angestellt, die ihn einkassieren, ein Männlein und ein Weiblein. Sie lösen sich ab. Ob sie sonst noch Beziehungen zueinander haben, weiß ich nicht. Sie könnten ganz gut ein Ehepaar sein, denn sie sind durchaus entgegengesetzte Charaktere. Die Frau hängt an den Gütern dieser Welt. Auch wenn es noch so voll ist, entgeht ihr nicht leicht ein neuer Kunde, der sich niedergesetzt hat. Wie ein Habicht stürzt sie auf ihn zu, bietet ihm ihr Billett an und nimmt das Geld in Empfang. Immer scheint sie in Sorge zu sein, es könnte jemand umsonst sitzen wollen. Ihre Ablösung hingegen, der Mann, ist ein Träumer. Er hat einmal höher hinaus gewollt und will es noch immer. Trotzdem es ihm schlecht geht – denn bei dem Vermieten der Stühle läßt sich offenbar keine Seide spinnen – glaubt er an die Menschheit. Deshalb geschieht es ihm nicht selten, daß ihm ein Kunde entwischt. Wenn er schwankt, ob er schon kassiert habe oder nicht, so entscheidet er sich gewiß dafür, vorüber zu gehen. Auf Grund des bezahlten Sechsers und des gekauften Billetts darf ich also nun hier sitzen wie in einem Theater und das Schauspiel Großstadt mitansehen, das sich nicht nur auf den Fahrdämmen, und nicht nur dicht vor mir auf der Mittelpromenade abspielt, sondern auch rechts und links von mir und gegenüber auf den Stühlen. Elegante Fremde nehmen Platz, die auf der Wanderung von einer Sehenswürdigkeit zur andern einen Augenblick verschnaufen müssen. Verstaubte Agenten, die ihren Musterkoffer niedersetzen und ihr Frühstück aus der Tasche ziehen. Elegante Damen, die ihre Beine zur Schau stellen und die Blicke wie Angeln auswerfen. Sie können nicht verhindern, daß Routiniers sich die Plätze ihnen gegenüber aussuchen, und den Anblick umsonst genießen. Und dann sitzen da die Gestalten, die auf dem Grunde einer großen Stadt treiben und deren Herkunft, Gewerbe und Ziel sich nicht bestimmen lassen. Unsichtbare Fäden gehen von einem zum andern, es werden Besuche gemacht, es wird getuschelt, und es scheinen sich geheimnisvolle Unternehmungen anzuspinnen. So ist es, wenn die warme Jahreszeit sich voll entfaltet hat. Vorläufig, wie gesagt, sitze ich noch fröstelnd und fast allein. Aber von nun an werde ich

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jeden Tag mit der Hoffnung beginnen, daß ich der Hetze des Berufes eine halbe Stunde für die Stühle abgewinnen kann. Sie sind wieder da, und das Schlimmste ist wieder einmal überstanden. Inquit 3.4.1929

Tonfilm am Alexanderplatz Eine halbe Stunde, um die Mittagszeit, am Alexanderplatz. Mit dem Rücken gegen einen Bauzaun, mitten unter Händlern, Ausrufern, Verkäufern. Ueber hölzerne Bohlen weg, an Abgründen vorbei, von einem Engpaß in den anderen ergießen sich polternd und hupend die Ströme der Fuhrwerke, stoppen vor den kreuzenden Strömen der Fußgänger und werden von neuem entfesselt. Maschinen surren, Hämmer dröhnen, Mauerwerk prasselt. Wirbelnder Staub, weißer Dampf, beizender Benzinduft. Im Gewühl bietet der alkoholfreie Ausschank eine Zuflucht; ein kleiner Laden auf Rädern, aus lauter Fenstern gefügt, von gestreiftem Sonnendach beschattet. Die Leute, die sich einer dicht hinter dem anderen vorüberschieben, scheinen es sehr eilig zu haben. Dennoch bleiben immer wieder welche stehen, verlangen Milch, Zitronenwasser, Würstchen und nehmen sich die Zeit, ihren Appetit in aller Ruhe zu stillen. Eine alte Zeitungshändlerin bezieht ihren Stand. Er besteht aus einem Klappsessel, unter dem eine alte Blechkanne aufgestellt worden ist. Sie sitzt, gegen das Aprilwetter warm verpackt, mit den Zeitungen auf dem Schoß, und könnte zu verkaufen beginnen. Aber es fehlt noch etwas. Ein alter Mann, auch Zeitungshändler, wahrscheinlich ihr Mann, geht und hebt einen schweren Stein auf, einen von jenen Pflastersteinen, die bei dem Wühlen und Graben auf dem Alexanderplatz von ihrer Stelle gerückt worden sind. Er legt ihn vor der Alten nieder, sie setzt ihre müden Füße darauf. So, jetzt sitzt sie richtig. »Die echte Solinger Rasierklinge, Garantie für jedes Stück«, ruft einer unermüdlich.

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Ein Krüppel in fahrbarem Krankenstuhl verkauft Streichhölzer. Ein Herr mit Aktentasche bleibt stehen und will kaufen. Er hat nur ein Fünfmarkstück, der Händler vermag nicht zu wechseln. Er hält einen Jungen an, irgendeinen, der gerade vorbeikommt. »Du, lauf mal rüber in die Kneipe und wechsle mal.« Der Junge nimmt das Geldstück und rennt. »Kennen Sie denn den?« fragt der Herr mit der Aktentasche. Nein, der Krüppel kennt ihn nicht. »Wenn er nun nicht wiederkommt?« ängstigt sich der Herr mit der Aktentasche. Aber der Krüppel kennt die Welt besser. »Der kommt schon wieder.« Und richtig, da ist der Junge schon, liefert das Wechselgeld ab und geht seiner Wege, ohne ein Wort und ohne Belohnung. Ein junger Mensch mit einer Kiepe stellt sich auf und fängt sofort an zu rufen, mit einer Stimme, die alle Konkurrenten übertönt: »Schöne, reife, goldgelbe Bananen. Alle goldgelb, alle reif, alle schön. Heute nur 10 Pfennig das Stück.« Der Ruf läßt sich nicht überhören, die Ware lockt, der Preis erscheint angemessen. Sofort setzt der Verkauf ein. Die Leute bilden schon einen Kreis um ihn. Es wird nicht eine Stunde dauern, so hat er seinen Kram abgesetzt. Lärm, Gewühl, Bewegung, Arbeit und Müßiggang. Kleine Leute, kümmerliche Menschen, aus Massenquartieren, aus Fabriken, aus Baugruben, aus Läden und Warenhäusern, um die Mittagsstunde über den Platz geweht. Wohl jeder hat seine Sorgen. Trotzdem macht keiner einen sorgenvollen oder auch nur einen ernsten Eindruck. Es sieht alles wie ein Spiel aus. Aber da bewegt sich eine Frau, bleibt stehen, geht weiter. In ihrem Gesicht ist keine Spur von Heiterkeit. Bisweilen, wenn sie steht, ruft sie über eine Barriere hinweg mit angestrengter Stimme, die von dem Getöse verschlungen wird: »Krebsjauche!« Sie wandelt auf dem großen Platze hin und her und ruft immer wieder das seltsame Wort in die Luft. Es klingt unappetitlich, aber sie meint offenbar etwas ganz Harmloses. Nämlich sie ergänzt den Ruf mit den Worten: »Morgen um 8 Uhr«, oder auch: »Ich fahre nach Krebsjauche.« Es gibt einen Ort an der Oder, der so heißt. Sie wünscht also anzukündigen, daß sie morgen um 8 Uhr nach Krebsjauche fährt. Aus ihrer Art, sich gegen die Schranke zu lehnen und vor sich niederzublicken, läßt sich schließen, daß sie glaubt, am Flusse zu stehen. Wohin laufen die vielen Menschen? Wahrscheinlich wissen sie es selber nicht und wahrscheinlich ist es ihnen gleichgültig. Nur diese eine Frau glaubt es zu wissen, und nur sie nimmt die Sache ernst. Morgen früh 8 Uhr nach Krebsjauche. Inquit 8.4.1930

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Gesinnungsbettelei Der Weg führt mich durch die Siegesallee. Im Vorbeischreiten sträube ich mich nicht, meine Blicke von jedem einzelnen der steinernen Markgrafen und Kurfürsten zu sich emporziehen zu lassen. »Die können uns auch nicht mehr helfen!« Es ist ein schlichter grauhaariger Mann, der zu mir spricht, breit und untersetzt, Typus des guten Berliner Handwerkers. Ich gebe ihm recht, obenhin, ohne in meinem raschen Gang zu zögern. Er hält neben mir Schritt. »War da eben bei Kroll54. Wollte einen Ingenieur treffen. Hatte was mit ihm zu besprechen. Haben uns aber verfehlt. Sind Sie auch Ingenieur?« Nein, ich bin nicht Ingenieur. Was will er eigentlich? »Ja, die Hohenzollern. Die haben doch Disziplin gehalten. Da sollten wir uns ein Beispiel nehmen und die Zügel straff ziehen. Zuerst die Pazifisten und die Kommunisten und das ganze schlappe Gesindel an die Laterne. Sie sind doch aus Bayern?« Nein, ich bin nicht aus Bayern. »Schwere Zeiten hier in Deutschland. Geht uns schlecht. Ist ja auch kein Wunder, nach dem Friedensdiktat von Versailles. Der Herr sind wohl Ausländer?« Nein, ich bin nicht Ausländer. »Da hat man sich nun fürs Vaterland vier Jahre draußen rumgetrieben, und jetzt weiß man nicht, wovon man leben soll. Ich bin nämlich arbeitslos. Waren Sie im Felde?« Jawohl, ich war im Felde. 54 Kroll-Oper, 1842–1844 am Königsplatz (heute Platz der Republik) gebaut. In den Festsälen fanden Konzerte und Bälle statt. Nach einem Brand wurde das Gebäude 1851 wieder aufgebaut und wandelte sich 1898 zum »Neuen Königlichen Opernhaus«. Ab dem 27.2.1933, nach dem Reichstagsbrand, diente die Kroll-Oper dem Reichstag als provisorischer Sitzungssaal.

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»Verstehe, der Herr sind Offizier gewesen.« Nein, ich bin nicht Offizier gewesen. »Na ja, wir brauchen uns ja nichts vorzumachen. Wie die gelebt haben. Und wir mußten Kohlrüben fressen. Sind Sie Kaufmann?« Nein, ich bin nicht Kaufmann. »Sehen Sie, wenn man bloß wüßte, wie man was verdienen könnte. Meine Frau ist krank, schon seit Jahren, kann nicht arbeiten, kleine Kinder habe ich auch noch zu Hause.« Ja, die Zeiten sind böse. Es ist mir schon klar geworden, daß es auf Bettelei hinausläuft. Nur, daß er mich bei meiner Gesinnung packen will, macht mich harthörig. »Die Republik ist auch viel zu nachsichtig. Die dürfte sich das gar nicht gefallen lassen, das Geschimpfe auf die Minister und die Schießerei immerfort. Die Republik muß sich durchsetzen, eher wird es nicht besser bei uns.« Ich kann nicht anders als ihm beistimmen. Er schöpft neue Hoffnung. »Sie glauben gar nicht, lieber Herr, wie schlecht es uns geht. Keine Arbeit und keine Arbeit. Ein Glück, daß wenigstens meine Frau manchmal eine Unterstützung bekommt, von der jüdischen Gemeinde. Ich habe nämlich eine jüdische Frau …« Er sieht mich mit angstvoller Spannung an, dann bleibt er zurück. Er hat die ganze Skala durchlaufen. Was für Gesinnungen soll es sonst noch geben? Wahrscheinlich hält er mich für einen Menschen ohne Gesinnung. Inquit 27.6.1930

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Zwist in der Schaubude Uns wird gemeldet, auf einem Rummelplatz werde eine »Kriminalschau« gezeigt. Kriminalschau, strafjuristische Belehrung fürs Volk, das reizt unsere Wißbegier, das grenzt an unsere Berufspflicht. Wo befindet sich dieser Rummelplatz? Die Meldung besagt: am Plötzensee. Es ist nicht in der Nachbarschaft, aber es ist auch nicht aus der Welt. Begeben wir uns nach Plötzensee. Da ist der Rummelplatz, da ist fröhlicher Abendbetrieb, aber da ist keine Kriminalschau. Erkundigung bei den Schaubuden-Vorständen. Ja, ja, die Kriminalschau war hier, sie ist weggezogen, heute können wir sie noch sehen; auf einem Rummelplatz in Friedrichshain. Man soll sich keine Mühe verdrießen lassen und man soll die Kosten nicht scheuen, wenn man Aussicht hat, eine Belehrung davonzutragen. Auf von Plötzensee nach dem Friedrichshain! Auch dieser Rummelplatz ist da, die Buden sind grell beleuchtet und im Gange, Geschrei von Ausrufern, Musik, Betrieb, Gedränge und Gelächter. Und da ist auch die Kriminalschau. Weithin ruft das Schild die verlockende Ankündigung. Aber der Eingang ist verhängt. Zwei gekreuzte Balken betonen noch zum Ueberfluß die Sperre. Keine Beleuchtung, kein Ausrufer: geschlossen. Sollen wir umsonst gekommen sein und uns damit zufrieden geben? Ein Aufseher weiß Bescheid: Die Leute sind hinter dem Zelt in ihrem Wagen. Sie wollen heute nicht aufmachen. Aber wenn wir mit ihnen reden und sie darum angehen, vielleicht machen sie doch auf. Hinter dem Zelt steht der Wohnwagen. Eine alte Frau öffnet. Drinnen ist es kein Wagen mehr, sondern einfach eine kleine Wohnung. Wir seien gekommen, von weit her, nur um die Kriminalschau zu sehen. Ob sie nicht aufmachen möchte. Nein, sie möchte nicht aufmachen. Schön sieht die Dame nicht aus, und gut sieht sie auch nicht aus. Die Nachtjacke verbessert ihre Erscheinung nicht. Sie denkt nicht daran, aufzumachen. Soll doch der Mann aufmachen. Wo befindet sich der Mann? Im Nebenzimmer.

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Im Nebenzimmer liegt der Mann im Bett. Mit dem Gesicht zur Wand. Aufmachen? Er denkt nicht daran. Soll doch die Frau aufmachen. Er nicht. Der Aufseher mischt sich freundschaftlich ein. Sie sollten sich doch nicht so töricht benehmen, sie hätten doch selbst den Schaden davon. Das Wetter sei günstig, der Besuch stark, sie könnten doch verdienen. Der Mann bleibt dabei: er macht nicht auf; soll doch die Frau aufmachen. Die Frau bleibt auch dabei: sie macht nicht auf; soll doch der Mann aufmachen. Der Aufseher gibt uns ein Zeichen: es empfehle sich, das Paar allein zu lassen, hier sei nichts zu machen. Wir stehen wieder enttäuscht vor der verhängten Front, lesen die Inschriften, die uns die Bekanntschaft mit den größten Verbrechern und ihren Taten verheißen, und begucken uns die Bilder, z. B. »Bestrafung einer Ehebrecherin im Mittelalter«. Das ist draußen zu sehen; was wird es erst drinnen geben. Immer wieder machen Schaulustige Halt, die sich angelockt fühlen, und nicht glauben wollen, daß sie ausgesperrt sind. Wissen denn die Eheleute nicht, daß sie sich selber schaden? Ohne Zweifel wissen sie es nur zu gut. Sie leben von der Kriminalschau, sie kennen die Tücken des Wetters und haben sicher oft nachgerechnet, was der Verlust eines günstigen Abends bedeutet. Aber daß es ihnen schadet, und daß der Schaden empfindlich zu spüren sein wird, darauf kommt es ihnen grade an. Beide wissen es, die Frau in der Nachtjacke und der Mann im Bett. Jeder von ihnen ist bereit, den Verlust zu tragen, um nicht nachzugeben. So viel ist jedem von ihnen der Ehezwist wert. Aber der andre, der andre soll platzen. Es ist nicht die Belehrung, die wir gesucht haben; aber es ist auch eine wertvolle Belehrung. Inquit 10.8.1930

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Marke Balilla An den Säulen tobt ein Riesenplakat. Ein kleines Hakenkreuz lockt in der Mitte, ein großes Hakenkreuz teilt die Fläche in vier Felder. In einem davon steht zu lesen: »Jeder deutsch Empfindende raucht nur diese Zigaretten, denn dadurch kämpft er mit gegen die internationale Finanzversklavung.« Du empfindest doch hoffentlich deutsch? Wer weiß, mein Lieber. Du möchtest doch gewiß mit gegen die internationale Finanzversklavung kämpfen? Vielleicht; wenn du nur wüßtest, was du dir darunter vorzustellen hast. Es gibt mancherlei, was international ist, und anderes, was international sein sollte. Aber internationale Finanzversklavung? Heißt das, die Nationen sind wechselweise untereinander versklavt? Oder alle Nationen sind einer übernationalen Macht versklavt? Heißt es: die Versklavung unter die internationale Finanz? Heißt es: unsere Versklavung infolge des verlorenen Krieges und des Versailler Friedens? Am Ende ist es so gemeint. Du darfst nämlich von jedem Deutschen verlangen, daß er deutsch empfindet, aber du darfst nicht verlangen, daß er die deutsche Sprache beherrscht. Also, falls es sich um die Kriegslasten handeln sollte: möchtest du nicht dagegen ankämpfen? Du möchtest es, und du tust es schon längst, indem du die Völker zu versöhnen strebst, den Haß dämpfst, die Vernunft stärkst und mit Fleiß und Geduld eine bessere Zukunft vorbereitest. Aber, mein Freund, das ist ein langer Weg. Du vertraust dich ihm an, weil du nicht deutsch empfindest. Für diejenigen, die deutsch empfinden, zeigt das HakenkreuzPlakat den rechten Weg: du mußt diese Zigaretten rauchen. Welch einleuchtendes, welch erfolgverheißendes, welch echt deutsches Kampfmittel! Uebrigens: diese Zigaretten. Auf einem der Felder des Plakats siehst du – zwar nicht die Zigaretten, aber die Packungen abgebildet. Du findest, es sind Zigarettenschachteln wie andere Zigarettenschachteln auch. Aber das wird dir bloß so vorkommen, weil du nicht genügend deutsch empfindest. Du stellst weiter fest, es gibt drei Sorten. Die billigste heißt Balilla. Balilla? Du kramst in deinem deutschen Wortschatz: was heißt nur Balilla? Richtig, richtig, es ist zwar nicht deutsch, aber – es ist italienisch. Die faschistischen

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Jugendorganisationen nennen sich so. Warum Balilla? Nach wem Balilla? Richtig, richtig, das war doch jener italienische Knabe, ein kleiner Genueser, der den ersten Stein gegen die österreichische Garnison warf und damit den Aufstand von 1846 entfesselte. Einen Aufstand der Italiener gegen die Oesterreicher. Sind eigentlich die Oesterreicher nicht deutsch? Ist der italienische Nationalheld gegen die Oesterreicher eigentlich unser Held? Ach, es fällt dir bisweilen schwer, deutsch zu empfinden. Schließlich siehst du dich nach der Zigarrenfabrik um. Aber da gibt es keineswegs so etwas Undeutsches und Internationales wie eine Zigarettenfabrik. Was es gibt, das ist eine »Reichszeugmeisterei, Abteilung Sturm, Dresden-A.«. Du betrachtest die Unterschrift, um ein Haar hättest du gesagt: die Firma. Und du denkst: es ist doch nur eine Zigarettenfabrik, und sie will doch nur Geschäfte machen, genau wie die internationale Finanz. Aber die internationale Finanz ist klug und macht es mit der Güte des Tabaks. Ihr dagegen seid dumm und wollt es mit der eleganten Packung, mit der Bombenreklame, mit den pompösen Worten und mit der nationalen Gesinnung machen. Aber weder »Balilla« noch Reichszeugmeisterei werden euch nützen. Wißt ihr, was euch geschehen wird, ihr wackeren Meister des Reichszeuges? Ihr werdet pleite gehen. Das Wort ist nicht hübsch, und die Sache ist nicht hübsch. Aber das Gesetz der Rentabilität kennt keine Parteien. Die Kunden werden wegbleiben, das Geld wird verwirtschaftet werden, der Gerichtsvollzieher wird zu euch kommen. Der Gerichtsvollzieher, den nicht die internationalen Finanzdiktatoren geschickt haben werden, sondern eure armen deutsch empfindenden Gläubiger. Inquit 17.12.1930

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Näheres beim Portier »Totalausverkauf«. »Liquidationsausverkauf«. »Ausverkauf wegen Aufgabe des Geschäfts«. Zu vermieten: Läden, Geschäftslokale, Büroräume, Großwohnungen, mittlere Wohnungen, bis herab zu Vier-Zimmer-Wohnungen. Bescheidene Mietszettel kündigen es an, grelle Plakate schreien sich heiser, die Vermittler haben ihre gedruckten Aufrufe an die Scheiben geklebt und auf Tafeln geheftet. Manchmal bemühen ihrer drei oder vier sich um ein einziges Objekt und suchen einander den Rang abzulaufen. Andere Wirte hoffen, die Provision sparen zu können: »Näheres beim Portier.« Beim Portier kann man allerlei erfahren. Der Portier hat gewußt, was vorging, als die prunkende Fassade noch keine Löcher aufwies. Er hat die Schicksale mit erlebt all der ehemals wohlhabenden und sorglos genießenden, dann bedrängten, dann von Untervermietung mühsam erhaltenen, dann in Verkauf und Verpfändung ausgepowerten, schließlich hungernden und frierenden Familien, die den Uebergang aus der alten Zeit in die neue nicht gefunden haben. Er hat den Kampf mitgekämpft um die Miete, um den rapid anschwellenden Rückstand der Miete. Jetzt sind die Opfer gefallen: die Wohnungen stehen leer. Näheres beim Portier. Von ihm kann man sich erzählen lassen, daß trotz der Zettel und Plakate niemand kommt, den luxuriösen, komfortablen, über allen Bedarf weiträumigen Vorrat zu mieten. Oder wenn schon einer fragen kommt, daß er vor den unerschwinglichen Preisen die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Die Wohnungen, die jetzt leerstehen oder freiwerden: das sind die behäbigen alten aus der unbesorgten Zeit vor dem Kriege. Die Geschäftslokale: darunter sind viele, die erst in den letzten Jahren bereitgestellt worden sind, in der kurzen Epoche blendender Scheinkonjunktur. Damals sah es so aus, als könnte es nicht genug Raum zum Geschäftemachen geben. Läden, Reihen von Läden wurden erbaut. Kluge Leute schüttelten voll Sorgen den Kopf. Jetzt steht die Hälfte, mehr als die Hälfte leer.

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Andere sind nie vermietet gewesen. Als die Zwangswirtschaft für Geschäftslokale aufgehoben wurde, wußten die Hausbesitzer nicht, wie schnell sie die Gelegenheit ausnutzen sollten. In den Straßenzügen, die sie für gut gelegen hielten, kassierten sie Wohnungen, wo sie konnten, ließen das Parterre ausbrechen und in mächtige Verkaufsräume aus Glas und Eisen verwandeln. Die oberen Geschosse, die so altmodisch geblieben sind, scheinen über den fortgeräumten Wänden und Stützen frei zu schweben. Das Werk der Architekten ist längst fertig, aber die Konjunktur hat sich inzwischen verflüchtigt. Die Wirte mit ihrem Umbau sitzen da. Hätten sie aus den Großwohnungen lieber Kleinwohnungen gemacht. So geht es nicht. Der Weg war falsch. Vielleicht hätte man es voraussehen können. Jetzt sind wir alle sehend geworden, die wir zwischen leeren Läden, leeren Büros, leeren Wohnungen trübselig unseres Weges ziehen. Wir haben unsere Mittel überschätzt und drauflosgewirtschaftet. Dann kam die Not. Jetzt sieht man sie. Es ist wie bei den Menschen. Eine Weile halten noch die guten Anzüge. Dann läßt es sich nicht mehr verbergen, und sie laufen abgerissen herum. Jetzt wird sich die Stadt besinnen müssen. Jetzt wird hoffentlich Schluß sein mit dem großmäuligen Verdienenwollen. Jetzt haben wir uns darauf einzustellen, mit redlicher Mühe und zäher Arbeit den zu weit gemessenen Raum geduldig zu füllen. Bis die Büros wieder gebraucht werden, die Läden vermietet, die Wohnungen bezogen. Bis die trostlosen und verzweifelten Plakate verschwinden. Näheres beim Portier. Inquit 13.1.1931

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Der Herkulesbrunnen am Lützowplatz; um 1930.

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Das Spielen der Kinder …

Amtsunfug auf dem Lützowplatz

Ohne Zweifel kennen Sie das steinerne Getobe, das inmitten unseres großflächigen Lützowplatzes unter dem Namen Herkulesbrunnen vollführt wird. Es wächst felsig aus einem vieleckig gezackten Becken, prunkt mit gemeißelten Allegorien und hebt einen unbekleideten jungen Herrn hoch in die Luft. Vielleicht gefällt Ihnen das Spektakel, und Sie halten es für eine Sehenswürdigkeit; vielleicht finden Sie es mißraten und wünschen sich ein kleines Erdbeben, dem es zum Opfer fallen möchte; vielleicht haben Sie sich daran gewöhnt und sind bereit, es stehenzulassen, weil es nun einmal steht. In der guten Jahreszeit springen rings um den toten Koloß die lebendigen Wasser, steigen in die Höhe und plätschern kaskadisch hernieder, und solange das bewegte Rauschen währt, dürfen Sie im Vorbeigehen Ohr und Auge weiden. Leider währt es auch in der guten Jahreszeit nicht lange, sondern wird unter dem Druck der Not auf wenige Tagesstunden beschränkt. Indessen, ob die Quellen springen oder nicht: das Becken läuft voll und bleibt voll und bietet die ganze gute Jahreszeit hindurch eine gefahrlose Wasserfläche, die zu den schönsten Spielen anregt. Und die Kinder der Gegend, die armen Großstadtkinder, denen kein Bach durch grüne Wiesen murmelt, hören den Lockruf und kommen in Haufen, barfuß, mit aufgekrempelten Hosen oder im Badetrikot, bringen ihre Schiffchen mit und lassen sie schwimmen, Segler, Ruderboote, Schraubendampfer. Ihre Phantasie verzaubert das flache Becken in den Ozean, die steinerne Umrandung in tropische Küsten, den felsigen Aufbau in Südsee-Inseln. Sie veranstalten Wettfahrten, sie probieren ihre Konstruktionen, sie stellen die Pracht ihrer Flotten zur Schau. Ihr Gejauchze hängt in der Luft wie sommerliches Bienensummen. Inmitten der trübseligen Stadt ein täglich erneuertes Fest des Uebermutes und der Sorglosigkeit. Wer sich die Mühe nimmt, stehenzubleiben und zuzusehen, der darf ein bißchen Erquickung und Ermutigung mit sich davontragen. Und wen könnte das Treiben stören?

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Langsam, langsam! Es gibt das Bezirksamt. Noch stecken wir mitten im Winter. Aber das Bezirksamt ist dessen eingedenk, daß es einmal eine gute Jahreszeit gegeben hat, und daß es vielleicht wieder eine gute Jahreszeit geben wird. Es sorgt vor. Ueber Nacht hat es zwei Tafeln neben den Herkulesbrunnen gestellt, eine rechts, eine links. Darauf steht: »Das Spielen der Kinder im Wasser und das Betreten des trockenen Beckens ist zur Vermeidung von Beschädigungen des Brunnens verboten. Bezirksamt Tiergarten.«

Die illustrierten Journale zeigen uns in Bildern Filmstars, Sportchampions, Staatsmänner, Raubmörder, Schönheitsköniginnen. Wir haben uns schon satt daran gesehen. Wir verlangen nach neuen Köpfen. Wie einer aussieht, der dieses bezirksamtliche Deutsch hervorbringt (Kinder dürfen im Wasser nicht gespielt werden!), das möchten wir wissen. Wie einer aussieht, der sich Gedanken macht, ob diese felsige Unverwüstlichkeit nicht etwa von Kinderhänden zerschrammt werden könnte, das möchten wir wissen. Und wie einer aussieht, der des Sommers an buntem Treiben und ausgelassenem Spiel Anstoß nimmt, auch das möchten wir wissen. Es werden erbauliche Köpfe sein, sinnbildliche Köpfe, im bösesten Sinne zeitgenössische Köpfe. Her damit! Und wenn erst die gute Jahreszeit wieder da ist, dann wünschen wir den Herkulesbrunnen selbst abgebildet zu sehen, einsam in seiner steinernen Unberührtheit, behütet von einem Schutzmann, der dorthin kommandiert worden ist, um die Kinder, die etwa ahnungslos mit ihren Schiffchen kommen und es dort schwimmen lassen wollen, von Amts wegen zu verscheuchen. Weil wir doch sonst keine Sorgen haben. Vielleicht aber gibt es einen Menschen, einen unvertrockneten Menschen in einer der Behörden, die dem Bezirksamt Tiergarten übergeordnet sind. Vielleicht verfügt er, daß die Tafeln ohne Aufschub beseitigt werden, und daß die Kinder im Wasser spielen dürfen, wie es ihnen gefällt. Wenn es einen solchen Menschen gibt, dann wünschen wir auch ihn abgebildet zu sehen, zu seiner Ehre und zur Wiederherstellung der Ehre dieses traurigen Zeitalters. Inquit 17.2.1931

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Warme Sonne Die Cafés haben schon Tische und Stühle ins Freie gestellt, für Gäste, die etwa den Mut haben sollten, sich im Freien niederzulassen. Tagelang half es nichts, der Wind blies kalt aus Nordosten, die Schneehaufen am Rande des Bürgersteigs und die vergletscherten Rinnsteine wollten nicht schmelzen. Aber mit einem Male zeigt sich, daß die Sonne am wolkenlosen Himmel schon Kraft hat. Im Schatten hockt noch die Winterkühle; aber in der prallen Sonne läßt sich schon der Frühling spüren. Und mit einem Male sind Tische und Stühle vor den Cafés, die auf der Sonnenseite liegen, besetzt. Ein paar Wochen weiter, so wird man sie meiden und die Cafés auf der Schattenseite bevorzugen. Aber jetzt haben die auf der Sonnenseite ihre gute Zeit. Nicht ein paar abgehärtete Sonderlinge sitzen da, sondern beinahe alle Tische sind besetzt von Leuten, die es sich leisten können und die Zeit dazu haben. Seltsam, wie viele Leute Zeit haben, wenn noch die Sonne scheint, und es sich leisten können, mitten in der allgemeinen Not. Auch auf den Promenaden stehen schon die Stühle, auf denen man nur gegen Entree Platz nehmen darf. 10 Pfennig kostet es in den feinen Gegenden, 5 Pfennig in den weniger feinen. Tagelang standen sie da unbenutzt. Mit einem Male sind sie besetzt. Es macht Spaß, nach dem unbarmherzig langen Winter stille zu sitzen und die Sonne auf sich scheinen zu lassen. Man bezahlt gern dafür 5 oder 10 Pfennig. Man genießt die Sonne wie eine Delikatesse. Denn an sich könnte man auch sitzen und die Sonne auf sich scheinen lassen, ohne dafür zu bezahlen. Bänke genug gibt es. Sie sind nicht wegen des nahenden Frühlings hierher gestellt worden, sie stehen immer da, Winter und Sommer. Deshalb sitzen auch nur Menschen darauf, die im Sitzen sozusagen ihr Tagewerk erledigen, Mütter, die einen Kinderwagen ausfahren, alte Männer, die ihre Invalidenrente verzehren und nichts anderes zu tun haben, als Pfeife rauchend in den Anlagen zu sitzen. Aber auch ihnen tut die warme Sonne wohl. Von dem gepflegten und baumreichen Zentrum hinweg in die Quartiere der Arbeit wird es immer nüchterner und steiniger. Es gibt weder Anlagen

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noch Bänke noch gar Stühle. Geschäfte und Fabriken halten Mittagspause, Arbeiter und Arbeiterinnen drängen ins Freie. Aber auch sie wollen die ungewohnte Wärme genießen. Sie setzen sich einfach auf die Stufen oder an die Bordschwelle, packen ihr Brot aus, falten ein Zeitungsblatt auseinander und saugen mit allen Gliedern das lange entbehrte Glück der Sonne. Für eine halbe Stunde. Bis die Arbeit sie wieder hineinruft. Noch weiter draußen, hinter Gasanstalten, Kohlenplätzen, Baracken, was für ein großes ziegelrotes Bauwerk? Giebel und Türmchen vermögen nicht, die Trostlosigkeit zu überwinden. Ueber dem Torweg die Inschrift: Städtisches Obdach. Es steht da als Obdach für die Nacht. Für die, die sonst nichts haben, nicht einmal ein Obdach. Gegen Abend wird es geöffnet. Tausende – man weiß das, man hat davon gelesen – suchen alsdann hier Zuflucht. Morgens um 6 – auch darüber hat man sich belehren lassen – jagt das trostlose Bauwerk seine Insassen wieder auf die Straße. Tagsüber steht es leer. Vermutlich steht es auch jetzt leer, an diesem schönen Märztage, an dem die Sonne so sommerlich warm scheint. Vermutlich wird es gegen Abend seine Gäste in Scharen wieder an sich locken. Aber ein paar von ihnen, vielleicht ein Dutzend, sind auch jetzt schon zu sehen. Vielleicht dürfen sie sich da nicht aufhalten. Wenigstens ist keine Vorkehrung getroffen, kein Stuhl, keine Bank, nur ein eiserner Zaun auf dem Steinsockel. Aber zur Not kann man auch auf dem Steinsockel sitzen. Diese paar Menschen sitzen da auf dem Steinsockel, ein altes Weib, sonst lauter Männer, alte, aber auch junge. Sie haben nichts, nicht einmal ein Obdach. Die andern, die Tausende sind in die Stadt geströmt, um eine Gelegenheitsarbeit zu erwischen, um zu betteln, um das Leben an irgendeinem armseligen Zipfelchen zu packen. Diese hier haben es der Mühe nicht für wert gehalten. Sie sind gleich dicht beim Städtischen Obdach geblieben und warten auf nichts anderes, als daß der Zutritt freigegeben wird und sie sich hineinverkriechen dürfen. Sie sitzen. Einer liest in einem zerblätterten Schmöker. Wenigstens brauchen sie nicht zu frieren. Sie lassen die Sonne auf sich scheinen, die helle warme, von keiner Wirtschaftskrise und von keinem kapitalistischen System ungerecht verteilte, die allen gemeinsame, zu allen gleich gütige Sonne. Sie haben nichts, sie erwarten nichts. Welch eine Armut! Aber heute wenigstens, für ein paar Stunden, genießen sie durch ihre zerlumpten Kleider hindurch mit ihren ausgehungerten Leibern das Glück der Sonne. Welch ein Reichtum! Inquit 21.3.1931

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Der Wald des Mißvergnügens

Man sieht die Bäume vor lauter Verbotstafeln nicht Gehen Sie manchmal im Grunewald spazieren? Tun Sie es lieber nicht. Sie ärgern sich bloß. Wie ist doch das mit der Lunge von Berlin? Die Großstadt braucht sie. Wo käme die Großstadt hin, wenn sie ihre grüne Enklave verlöre, das Freiluft-Reservoir des Westens? Es gehört zu den unerläßlichen Pflichten der verantwortlichen Instanzen, den Berlinern ihren Grunewald zu erhalten. Haben wir geträumt oder sind diese vortrefflichen Grundsätze öffentlich verkündet worden? Wenn wir uns recht erinnern, so gab es weitausgreifende Pläne über vernunftgemäße Stadtentwicklung mit abgewogener Verteilung der Bauzonen und der Freiflächen, und bei jeder neuen Erörterung wurde die Unantastbarkeit des Grunewalds verkündet. Das war schon vor dem Kriege so, als der Wald noch dem preußischen Staate gehörte. Dann ging er in den Besitz der Stadt Berlin über. Und was der Staat zugesagt hatte, das versprach die Stadt zu erfüllen. Denn es war ja ihre eigene Sache, und es handelte sich um ihr eigenes Wohl. Wenn wir uns recht erinnern, so liefen neben den schönen Worten die unschönen Taten munter einher. Es wurde das betrieben, was man Aufschließung nennt. Der Grunewald sollte erhalten bleiben, jawohl, versteht sich. Aber das hinderte nicht, daß immer neue Stücke Wald eingeschlagen und in bebaute Wohnviertel umgewandelt wurden. Wir Berliner schrien zetermordio. Die Verwaltung beruhigte uns und gab uns recht. Aber sie hörte nicht auf, Bäume zu fällen und Häuser zu bauen. Auch das ging schon vor dem Kriege so. Und nun, bitte, machen Sie sich die Mühe und fahren Sie jetzt in den Grunewald. Fahren Sie nicht hin, um Erholung zu suchen und Natur zu genießen. Fahren Sie hin als Forscher, um festzustellen, wie es da aussieht und was da los ist, jetzt, wo es eine Republik gibt, wo keine Rücksichten auf höfische Passionen und autokratische Launen zu nehmen sind, wo der Grunewald uns Berlinern gehört und niemandem sonst. Lassen Sie alle

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Gefühle zu Hause und beschränken Sie sich darauf, zu sehen und zu registrieren. Ob Sie von der Stadtbahn oder von der Untergrundbahn her einbrechen, Sie werden empfangen von der trostlosen Häßlichkeit der Bauplätze, der Einzäunungen, der Zweckanlagen und der Verbotstafeln. Ehe Sie den ersten Baum erreichen, haben Sie sich müde gelaufen, und wenn Sie nicht über viel Zeit und viel Ausdauer verfügen, so kehren Sie um, ohne einen Fleck Erde erreicht zu haben, der den Namen Wald verdient. Immer tiefer fressen sich die Wohnviertel, die Autostraßen, die Sportplätze in die wehrlose Heide. Wenn Sie heute die Verwüstung festgestellt haben, und Sie sehen in sechs Wochen noch einmal nach, so finden Sie neue Wohnviertel, neue Autostraßen, neue Sportplätze in Angriff genommen. Sie können mit dem kleinen Einmaleins ausrechnen, wann Berlin bis zur Havel durchgewachsen ist und den Grunewald verschluckt hat. Hin und wieder finden Sie ein wucherndes Stückchen Wald – es ist eingezäunt. Wie die Zimmerfliege gegen die Fensterscheiben, so prallen Sie verzweifelt gegen Zäune. So groß der Mangel an freiem Wachstum ist, so groß ist der Ueberfluß an behördlichen Vorschriften. Es wimmelt von weißen Tafeln, die sich Ihnen aufdrängen mit der Inschrift: »Privatweg. Benutzung nur Fußgängern auf eigene Gefahr widerruflich gestattet. Forstverwaltung Berlin«

Wieso Privatweg? Wer macht hier Privatrechte geltend? Wieso auf eigene Gefahr? Welche Gefahren drohen hier? Sie bekommen Angst, diese Privatwege zu betreten. Denn der Widerruf könnte erfolgen, während Sie sich mitten auf einem Privatweg befinden. Und was wird dann aus Ihnen? Jetzt ist eine neue Art behördlicher Tafeln hinzugekommen, auch en gros eingekauft und an die Baumstämme genagelt. Darauf wird kundgetan, es bestehe Leinenzwang für alle Hunde auf allen Wegen. Das grenzt ja nun allmählich ans Lächerliche. Dafür, daß Hunde an der Leine geführt werden müssen, halten wir uns den Tiergarten und ein paar andere Parks mit gepflegtem Rasen. Um auch nur wieder Hunde an der Leine zu führen, brauchen wir keinen Grunewald. Wir wollen unsere Meinung nicht verschweigen. Die Forstverwaltung ist drauf und dran, den Forst, von dem man fast nichts mehr merkt, in ein Verwaltungslokal umzuwandeln. Die Berliner sind aber nicht gesonnen, sich

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den Grunewald wegnehmen zu lassen. Dagegen würden sie ohne Bedauern auf eine Forstverwaltung verzichten, die keine Art von Zerstörung, Verwüstung und Entstellung zu hindern vermag, und die sich aufdringlich bemerkbar macht durch nichts als Absperrungen, Anordnungen und Verbote. Wir haben aber, ehe sich diese Forstverwaltung aus der Oeffentlichkeit zurückzieht, noch ein paar Wünsche an sie zu richten. Wir möchten erfahren: Wer macht eigentlich Geschäfte mit dem Grunewald? Wer spekuliert mit unserem, in Geld nicht bezahlbaren, unersetzlichen Grund und Boden? Und ferner: Wo wird endlich die Abholzung und Aufschließung ihr Ende finden? Vielleicht bekommen wir einmal eine Karte vorgelegt, auf der unzweideutig zu erkennen ist, welcher Teil des Grunewalds endgültig und unwiderruflich als Wald erhalten bleiben soll. Wenn es einen solchen Teil noch gibt, und wenn wir uns darüber geeinigt haben, so wird die Forstverwaltung der Stadt Berlin wohl daran tun, sich nicht auf Schritt und Tritt mit voller Firma aufzudrängen, sondern unterzutauchen, im stillen zu wirken und dafür zu sorgen, daß den Kiefern gestattet ist zu wachsen und daß Menschen und Hunde frei herumlaufen dürfen. Inquit 27.3.1931

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Bänke am Leipziger Platz Sind Sie Berliner? Wenn Sie es nicht sind, so leben Sie gewiß schon so lange in Berlin, daß Sie sich für einen Berliner halten dürfen. Wie oft haben Sie in Ihrer Berliner Zeit den Leipziger Platz überquert? Ungezählte und unzählbare Male. Ist Ihnen dabei aufgefallen, daß am Leipziger Platz auf beiden Seiten der Straße je ein bronzenes Standbild steht? Das Wort »aufgefallen« drückt den Grad Ihrer Anteilnahme vielleicht übertrieben aus; aber Sie kennen die Tatsache. Wissen Sie auch, wem zu Ehren die Denkmäler dastehen?55 Sie wissen es nicht. Damit enthüllen Sie sich als echten Berliner. Wissen Sie ferner, daß hinter den Denkmälern im Halbkreis Bänke angeordnet sind? Ohne Zweifel wissen Sie das, obwohl Sie nicht darauf zu achten pflegen. Aber haben Sie je auf einer dieser Bänke gesessen? Es ist zu wetten, daß Sie es niemals getan haben, und wenn Sie seit 50 Jahren in Berlin leben. Indessen, Sie sollten nicht versäumen, sich einmal dort hinzusetzen. Es sitzt sich gut dort. Das Denkmal deckt Sie gegen Sicht, niemand kümmert sich um Sie, die Großstadt tobt in Doppelströmen an Ihnen vorüber. Sie brauchen bloß zu beobachten. Wer pflegt dort zu sitzen? Niemand, der gesehen werden will. Man stellt sich nicht zur Schau in dieser Nische am Rande des Verkehrs. Aber viele sitzen dort, die gewöhnt sind, nicht gesehen zu werden. Auch mancher, der Wert darauf legt, daß er nicht gesehen wird. Niemand verweilt lange auf der Bank hinter dem Denkmal. Manche lassen sich nur verlocken, ihren Weg zu unterbrechen und ein paar Minuten zu verweilen. Aber manche steuern zielbewußt auf den Ruhesitz zu als auf ein Asyl. 55 Die Denkmäler, die kurz vor der Jahrhundertwende auf dem Leipziger Platz aufgestellt wurden, stellen dar: den preußischen Ministerpräsidenten Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (24.1.1792–6.11.1850), Sohn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. aus dessen morganatischer Ehe mit Gräfin Sophie von Dönhoff; den Feldmarschall Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel (13.4.1784–1.11.1877).

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Es fehlt nicht an Herren und Damen. Der da, der einen Blick zum Denkmal emporwirft, ist fremd in der Stadt. Er setzt sich, weil er vom Besichtigen müde ist, und ahnt nicht, wo er sich setzt. Dieses fesche Girl, das sich sogleich in ein Buch versenkt und die Welt um sich her vergißt, liest einen verbotenen Schmöker. Es will unbeobachtet sein und hat den richtigen Instinkt, daß es im Gewühl der tausend Fußgänger weniger beobachtet wird als etwa auf den stillen Bänken des Tiergartens. Die meisten, die hier sitzen, sehen nicht aus wie Herren und Damen. Es sind Männer und Frauen, die schwer an der Bürde des Lebens tragen. Ein Agent stellt seinen Musterkoffer ab, um zu verschnaufen. Einer, der Zeitung liest, tut nur sorglos; er hat keine Arbeit. Auch die hat keine Arbeit, die den Bleistift hervorkramt, um ein Kreuzworträtsel zu lösen. Was soll sie mit dem Ueberfluß an Zeit anfangen? Ein Bursche holt aus seiner Ledertasche Bananen, Butterbrote und Thermosflasche und hält eine ausgiebige Mahlzeit. Er hat sich verproviantiert wie für eine weite Wanderung und scheint auch auf der Wanderung zu sein. Auch jener Graukopf sieht aus wie auf einer Wanderung oder auf der Pilgerfahrt, mit Brille, Tabakpfeife und Aktentasche ein praktischer Philosoph des Lebens. Ein Straßenhändler unterbricht sein stehendes Gewerbe und frühstückt mit Gelassenheit. Das Butterbrotpapier glättet er sorgsam, faltet es und steckt es in die Tasche. Dann stellt er sich wieder an den Weg. Noch andere Händler müssen sich hier zu Hause fühlen, Händler, die nicht zu sehen sind. Aber sie haben ihren Kram hier gelassen, unbeaufsichtigt, im Vertrauen darauf, daß die Unehrlichen vorbeilaufen und daß die Verweilenden ehrlich sind. Ein Handwagen steht da. Innerhalb der eisernen Umzäunung des Denkmals lehnt der Aushang eines Zeitungshändlers, wirkungsvoll zusammengeklammert aus vielen Plakaten. Am Gitter hängen, rührend in ihrer Unschuld, zwei Regenschirme und ein leerer Rucksack. Sie hängen da und warten auf ihren Herrn wie gehorsame Hunde. Setzen Sie sich ruhig auf ein halbes Stündchen dorthin und beobachten Sie. Aber wenn Sie von weitem einen Bekannten kommen sehen, so werden Sie gewiß aufspringen und sich davonmachen. Es wäre Ihnen peinlich, wenn er Sie dort fände. Sie würden sich vorkommen wie ertappt. Dabei haben Sie gar nichts anderes getan, als sich am Leipziger Platz niederzulassen, hinter einem der Denkmäler, dort, wo seit Urzeiten die Bänke stehen. Aber deswegen sind Sie mit Stolz Berliner, um zu wissen, daß es unschicklich ist, auf den Bänken am Leipziger Platz zu sitzen. Inquit 19.5.1931

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Disziplin am Funkturm Oben auf dem Funkturm56 gibt es Reiseandenken zu kaufen; der Funkturm als Briefbeschwerer, der Funkturm als Aschenbecher, der Funkturm als Brosche, der Funkturm als Stocknagel. Hierher offenbar kommen die Fremden, wahrscheinlich häufiger als die Berliner; denn die Berliner kennen ihr Berlin, und wenn sie es sich beschauen wollen, klettern sie nach alter Ueberlieferung auf den Kreuzberg. Die Fremden aber werden auf den Funkturm geführt. Sie fahren mit dem Lift bis auf die obere Plattform, lassen ihre Blicke schweifen, bewundern bei Tage die waldige Ueppigkeit zwischen Havel und Müggel und entzücken sich abends an den Lichtern der Großstadt zu ihren Füßen. Wenn sie aber zu Hause, jenseits des Ozeans, ihre Reiseandenken auspacken, so erzählen sie gewiß auch von der Lektion, die ihnen bei dieser Gelegenheit erteilt worden ist. Preußischen Geist werden sie schon früher haben rühmen hören. Aber was das bedeutet, das lernen sie nirgends so gut wie beim Besuch des Funkturms. Oben steht man 120 Meter über dem Erdboden; tiefer, immer noch 50 Meter hoch, wird bekanntlich ein Restaurant betrieben. Es gibt in einer Reisegesellschaft Leute, die durchaus oben hinauf wollen; aber es gibt andere, denen das Restaurant genügt. Gut also; die einen werden schon immer einen Tisch belegen und dort warten, bis die anderen zu ihnen stoßen. Gefehlt. Am Sockel des Turmes verkündet ein Plakat, der Fahrstuhl halte bei der Auffahrt nicht im Restaurant, nur bei der Abfahrt. Nanu? denken die Leute auf englisch oder französisch oder italienisch, einige auch auf deutsch. Da zeigt sich auch schon ein uniformierter Turmwächter, von ihm wird Auskunft über die seltsame Maßregel zu holen sein. Aber der hat ganz andere Sorgen. »Hinten anstellen. Sie da, verstehen Sie nicht? Da ist nicht hinten. Dort ist hinten.« Die Leute würden gerne stramm stehen, wenn sie wüßten, wie man das macht. 56 Baubeginn des 138 Meter hohen Funkturms 1924, in Betrieb genommen wurde er 1926.

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Also wie ist das mit der Verordnung? »Das ist deswegen, damit vom Restaurant niemand nach oben fährt.« Ja, warum soll denn vom Restaurant niemand nach oben fahren? »Das ist Vorschrift.« Der Wächter des Turmes und der Vorschrift behandelt den törichten Frager mit unverhohlener Geringschätzung. Aber es könnte doch, wer will, im Restaurant aussteigen, und so viel wie ausgestiegen sind, könnten einsteigen? So macht man es doch in jedem Warenhaus? Dröhnend erfolgt der Bescheid: »Das ist hier kein Warenhaus. Das hat mit Warenhaus nichts zu tun. Das ist der Funkturm.« Aha. Soso. Daran liegts. Das leuchtet schon beinahe ein. Inzwischen sind Karten mit Nummern verteilt worden. Der Fahrstuhl landet, eine Nummer wird ausgerufen, wer die richtige hat, darf einsteigen. Drinnen ein neues Plakat: Wenn man im Restaurant auszusteigen wünscht, möge man sich rechtzeitig beim Fahrstuhlführer melden. Nanu? denken die Leute wieder in ihren verschiedenen Sprachen. Doch bei der Auffahrt? Jawohl, bei der Auffahrt. Der Fahrstuhl hält, die nicht mit nach oben wollen, steigen aus. Die unerwartete Vereinfachung hat sie so überrascht, daß sie vor Dankbarkeit ein Trinkgeld geben. Die andern fahren weiter. Herrlich, aber stürmisch. Ein paar sind dabei, die halten es nicht lange aus. Der Fahrstuhl taucht auf, sie möchten gleich wieder mit hinunter. Halt! Sie sind noch nicht an der Reihe. Andere können sich nicht sattsehen, sie möchten noch obenbleiben. Hilft nichts, sie haben die Nummer. Einsteigen, abfahren! Ja, erzählen die Leute zu Hause, so machen sie das in Preußen. Alles ist durch Verordnungen geregelt. Und wenn eine Verordnung sich als unzweckmäßig erweist, so gibt es gleich daneben eine andere Verordnung, die die erste Verordnung aufhebt. Und die eine weiß von der andern nichts. Inquit 23.7.1931

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Aufgang nur für Herrschaften So was gibt’s noch! Es geht ja wohl nicht an, daß wir die strenge Vorrichtung einfach übersehen. Sie bewacht den Hauseingang und verlangt, daß wir uns mit ihr auseinandersetzen. »Aufgang nur für Herrschaften.« Falls wir etwa keine Herrschaften sein sollten, dürfen wir hier nicht hinaufgehen. Wir fühlen uns sogar getrieben, diese Einschränkung zu billigen; denn wir müssen anerkennen, daß nur Herrschaften der Vornehmheit des Aufgangs würdig sind. Die Flügeltür ist verschlossen. Sie wird sich erst auf unser heischendes Klingeln öffnen, infolge einer geheimnisvollen Vorrichtung, die der Portier in Tätigkeit setzen kann. Er wird sie aber nur in Tätigkeit setzen, wenn er will, und er wird nur wollen, wenn er uns durch ein Guckfenster geprüft und für herrschaftlich befunden hat. Inzwischen lugen wir durch die hohen Glasscheiben der verschlossenen Flügeltür und gewahren nicht ohne Ehrfurcht, daß dahinter eine marmorne Freitreppe beginnt, die mit roten Plüschläufern belegt ist. In der Tat ein Aufgang für Herrschaften. Ferne sei es von uns, daß wir uns etwa auflehnten. Andererseits möchten wir nicht abgewiesen werden. Ueberlegen wir daher selbst, ob wir uns zu den Herrschaften rechnen dürfen. Was sind Herrschaften? Woran erkennt man sie? Wer entscheidet über den Rang? Früher, noch bis zum Kriege, gab es da keine Schwierigkeiten. »Die Herrschaften sind nicht zu Hause«, sagte das wohlerzogene Stubenmädchen. Das waren die »Herrschaften«, sie aber »diente«. Dann bestand da der Gegensatz von Vorderhaus und Hinterhaus. Niemand aus dem Hinterhaus wagte sich über die herrschaftliche Vordertreppe. Ferner wurden die Leute unterschieden nach Kragen und Schürze. Den Herren ohne Kragen und den Damen mit Schürze rief der Portier aus seinem Fensterchen böse zu: »Hintenrum.« Und sie gingen ohne Widerrede hintenrum. Inzwischen sind unsere schönen Einteilungen durcheinander geraten. Oben und unten, arm und reich, vorn und hinten, rechts und links: es findet sich kein Mensch mehr zurecht. Heute in der Acht-Zimmerwohnung

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mit Personal und Auto, morgen pleite und exmittiert; heute Arbeitgeber, morgen Wohlfahrtsempfänger; heute berühmt, fotografiert und umworben, morgen unbekannt, übersehen und gemieden; heute auf dem Sessel des Aufsichtsratsvorsitzenden, morgen auf der Anklagebank – es ist ein Wirbel zum schwindlig werden. Sollten mit den Monarchien, mit der stabilen Goldwährung und mit der bürgerlichen Unangefochtenheit nicht auch die Herrschaften verschwunden sein? Aber sie müssen ja wohl noch leben; sonst stünde da nicht zu lesen: »Aufgang nur für Herrschaften.« Also wohin mit uns? Der Portier läßt niemanden ein außer Herrschaften. Aber um herauszubekommen, ob wir Herrschaften sind oder nicht, scheint es wiederum kein anderes Mittel zu geben, als daß wir experimentell zu erforschen versuchen, ob der Portier uns einläßt. Weichen wir der Wahrheit nicht aus. Stellen wir das Experiment an, das so leicht auszuführen ist, und so viel entscheidet. Drücken wir furchtlos auf den Klingelknopf. Einen Augenblick Geduld. Gleich werden wir wissen, was wir heute noch wert sind. Inquit 24.10.1931

Schilder auf Vorrat Es gibt Läden für allerlei menschliche Bedürfnisse, warum nicht auch Läden für Schilder? Wenn du in deinem Machtbereich das Verbot anbringen willst »Kein Eintritt« oder den Befehl »Füße reinigen«, so brauchst du deswegen nicht, wie du vielleicht denkst, herumzulaufen nach einem Mitmenschen, der so freundlich ist, dergleichen auf Blech oder auf Holz oder auf Glas zu schreiben, und auch die Geschicklichkeit dazu besitzt. Keineswegs; sondern das alles gibt es schon. Andere haben sich deinen Kopf zerbrochen und jeden nur möglichen Fall, der sich zwischen einem Befugten und einem Unbefugten von Rechts wegen zutragen kann, ausgedacht, ausgemalt und ins Schaufenster gestellt. Da magst du es dir ansehen und aussuchen, was du brauchst. Es wimmelt von Befehlen und Verboten, wobei die Verbote überwiegen. »Das

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Spielen der Kinder auf Treppen und Fluren sowie das Umherstehen vor der Haustür ist verboten. Der Wirt.« Verboten ist das Betreten einer Reihe von Räumen mit Licht; mit offenem Licht; auch ohne Licht. Verboten ist das eigenmächtige Oeffnen gewisser Türen; das Werfen von Müll an gewisse Orte; das Benutzen gewisser Fahrstühle ohne Begleitung des Fahrstuhlführers. Verboten ist das Rauchen; das Ausspucken; das Betteln, Hausieren und Musizieren. Befohlen wird dagegen das Aufräumen der Waschküche nach Benutzung; das Abschließen des Bodens und des Kellers; das Hereintreten ohne anzuklopfen. Einiges findest du weder verboten noch befohlen, sondern gestattet, zum Beispiel das Teppichklopfen an gewissen Tagen. Ein Schild des Inhalts »Zum Arzt«, wobei es deiner Entscheidung überlassen bleibt, ob du von diesem Hinweis Gebrauch machen willst oder nicht, wirkt auf dich schon als ungewohnte Freundlichkeit. Wenn nach 2000 Jahren die Archäologen unsere Kultur ausgraben, werden sie sich ein treffendes Bild von unseren Zuständen machen können. Auch von unseren seelischen Zuständen. Gewiß wird ihnen auffallen, wie selten das Wort »bitte« gebraucht wird. Sie werden daraus schließen, daß es bei uns für fein gegolten hat, zu befehlen oder zu verbieten, für unfein aber, zu bitten. Wie schön ist es, in einem geordneten Staatswesen zu leben! Jeder weiß in jeder Lage, was er zu tun und zu lassen hat. Aber sind wirklich alle Fälle berücksichtigt worden? Findest du unter den Vorratsschildern was du brauchst? Läßt sich die Industrie nicht ausbauen? Die Reichsleitung der Nationalsozialisten erklärt immer wieder, sie könne nicht verantwortlich gemacht werden für alle Ungezogenheiten, die von diesem oder jenem ihrer Mitglieder begangen werden. Vielleicht sollte also in den Gauleitungs-, Sturm- und Verkehrslokalen ein Schild hängen mit der Inschrift: »Mitglieder müssen an der Leine geführt werden.« Der Bedarf würde die Anfertigung auf Vorrat lohnen. Wie terrorisieren nationalsozialistische Studenten einen mißliebigen Professor? Sie machen Krach in seinem Kolleg. Die Studenten allein schaffen es bekanntlich nicht; sie brauchen Verstärkung von draußen. Aber trauen sich denn die Nichtstudenten hinein? Vor die Hörsäle gehört die Mitteilung: »Unbefugten ist der Zutritt gestattet.« Andererseits ließe sich die Ueberfüllung unserer Hochschulen eindämmen, wenn die jungen Leute erführen, daß sie gar nichts zu lernen brauchen, um auf wichtige Posten zu gelangen. Was haben wir nicht allein bei den städtischen Gesellschaften für Aufsichtsräte kennengelernt, die von dem, was sie beaufsichtigen sollen, keine Ahnung hatten. Zu schweigen von Erziehern, die nicht erziehen können, und von Fürsorgern, die für nichts zu sorgen vermögen. Es muß nur

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an den Rathäusern, Verwaltungsgebäuden und Regierungsstellen zu lesen stehen: »Sachkenntnis und Eignung nicht erforderlich.« Die Mittelparteien schrumpfen zusammen. Kein Wunder, da es doch das notwendige Plakat nicht zu kaufen gibt: »Austritt verboten.« Ohne Zweifel würde mancher Geschäftsmann seinen Absatz zu heben suchen durch die Ankündigung: »Bei zahlungsfähigen Kunden wird nach Partei, Religion und Rasse nicht gefragt.« Sollten die Ringvereine, verstärkt durch Spekulanten, Veruntreuer und Betrüger aus besten Kreisen, nicht Verwendung haben für Serien von Tafeln: »Nächster Weg ins Ausland?« Das sind ein paar Anregungen für Vorratsschilder zur Verwendung im öffentlichen Leben. Inzwischen sitzest du zu Hause, möchtest deine Ruhe haben, sorgst dich um die Zukunft und weißt nicht, was werden soll. Und kein Schaufenster bietet dir das Schild an, das du an die Wohnungstür nageln kannst: »Mitbürger, schonet meine Anlagen.« Inquit 28.11.1931

»Schlimmer kann es nicht werden« Mein unvermeidlicher Bekannter, der mir über jeden Weg läuft, der nichts erreicht hat und sich doch immer obenauf fühlt, der alles weiß und alles begutachtet, mit einem Wort: Herr Kluggeschwätz hält mich auf der Straße an und begehrt von mir zu wissen, was ich über die Lage denke. Mir entgeht nicht: er stellt sich nur so, als begehrte er von mir zu wissen. Er begehrt gar nichts zu wissen, er will nur seine eigene Meinung an den Mann bringen, die er so fertig, wie er sie aufgeschnappt hat, mit sich herumträgt. Indessen, seine unernste Frage rührt an die Hoffnungen und Befürchtungen, die mich wie jeden anderen in Spannung halten und die nur darauf warten, in Worten hervorzubrechen. Und so gerate ich unwillkürlich ins Antworten und erhitze mich über den Versuch, ihn zu überzeugen: was geschehen müsse und was nicht geschehen dürfe, was von den Parteien zu fordern sei und was die Regierung zu tun habe, damit – hoffentlich, hoffentlich – das Schlimmste abgewendet wird.

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Aber er wiegt geringschätzig den dicken Schädel, gräbt die Hände tief in die Manteltaschen, er verkriecht sich sozusagen in seine korpulente Selbstzufriedenheit und seine hohnlächelnde Unangefochtenheit und äußert wichtig: »Regen Sie sich doch nicht auf. Lassen Sie doch ruhig kommen, was kommt, den Faschismus oder den Bolschewismus. Schlimmer, als es schon ist, kann es nicht werden.« Was geht mich Herr Kluggeschwätz an? Dennoch erschrecke ich. Was er als seine Meinung von sich gibt, ist nicht seine Meinung, sondern die Meinung vieler; wer weiß wie vieler. »Sagen Sie das im Ernst?« versuche ich zu protestieren; aber er ist nicht gesonnen, zu hören. »Nein, nein, Verehrtester«, winkt er ab. »Es kann nicht schlimmer werden. Finden Sie es etwa schön so, wie es ist? Sollen sie es doch mal anders herum versuchen. Mir ist es gleich, was kommt. Ich mache mir keine Sorgen. Machen Sie sich auch keine Sorgen.« Klopft mir auf die Schulter – ohne das tut es Herr Kluggeschwätz nicht – rückt an seinem Hut und stapft von dannen, die qualmende Zigarre im Mundwinkel. Was bleibt mir übrig? Ich kann nicht hinter ihm her schreien; ich muß mich begnügen, hinter ihm her zu denken. Ich denke: Nein, ich finde es nicht schön, so wie es ist. Welch eine Unterstellung! Es darf so nicht bleiben, ohne Zweifel; es muß besser werden, um jeden Preis. Aber wie Schlimmes wir auch erleben, es steht doch noch nicht ganz schlimm. Es ist doch noch nicht alles verloren. Es gibt Arbeitslosigkeit, aber es gibt auch noch Arbeit. Es gibt Not, aber es gibt auch Bekämpfung der Not. Es gibt Unordnung, aber es gibt noch Schutz der Ordnung. Das Leben geht seinen Gang, der Motor läuft, die Maschine ist nicht entzweigeschlagen. Schlimmer kann es nicht werden? Welch eine niederträchtige, welch eine feige, welch eine leichtfertige Formel, um sich der Verantwortung zu entziehen und der Pflicht zum Widerstand auszuweichen. Mag Herr Kluggeschwätz und mögen jene, von denen er seine gedankenlosen Wort bezogen hat, nie am eigenen Leibe erfahren, um wieviel schlimmer es noch werden kann! Inquit 9.12.1931

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Abgebautes Freikonzert Bei den Zelten57, am Rande des Tiergartens, gab es bis vor kurzem eine menschenfreundliche Veranstaltung. Schon von weitem wurdest du gelockt von heiter schmetternden oder wehmütig schmachtenden Klängen. Kamst du näher, so fandest du dich umwogt von einem abwechslungsreichen Mittagskonzert wie auf der Kurpromenade. Die Ouvertüre zur Diebischen Elster ließ sich unterscheiden, Carmen fehlte nicht – Auf in den Kampf, Torreh-hehe-hero! – der tote Caruso auferstand aus den Platten, der lebende Richard Tauber spendete seinem dankbaren Volke. Kein Zweifel, die Musik kam aus den Vorgärten der Zelten. Aber dort konnte die Musik nicht spielen, denn die Tische standen zusammengerückt, die Stühle umgelegt, es war Winter, kein Mensch trank sein Bier im Freien. Natürlich wußtest du sofort Bescheid, ein Lautsprecher sandte seine tönenden Wellen, du hörtest das Programm des Berliner Senders. Und auf Grund deiner technischen Neugier entdecktest du das Gehäuse oberhalb des Portals. Bald hattest du auch heraus, daß zwei Lokale weiter noch ein Lautsprecher betrieben wurde. Sie störten einander nicht, denn sie sangen beide dasselbe Lied. Du hattest deine Freude an dem unerwarteten Geschenk. Denn es war ja doch ein Geschenk. Vielleicht stak irgendeine Absicht schnöden Eigennutzes dahinter, vielleicht sollte für die Restauration Reklame gemacht werden. Aber dann ging sie auf lange Sicht; im Augenblick gab es keine Zuhörer als außerhalb des Zaunes, am Rande des Tiergartens. Dort fehlte es nicht an dankbaren Empfängern. Mütter fuhren ihre Kinderwagen herbei, genossen die Musik und schmeichelten sich mit dem Wahn, auch der Säugling werde einigen musikalischen Nutzen davontragen. Spaziergänger fanden sich ein, Arbeitslose, abgehärtet wie sie notwendigerweise sind, setzten sich auf die Bänke und lauschten diesem bißchen Wohlbehagen und Zeitvertreib. Austräger stellten ihre Last ab, Schofföre 57 »In den Zelten«, Straße im Berliner Tiergarten.

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schalteten [in einen] langsamen Gang oder hielten, um ein, zwei Nummern mitzunehmen. Jeder ließ für ein Weilchen seinen Groll oder seinen Kummer fahren und ergab sich dem süßen Zauber der Melodien. Und jetzt sind die Lautsprecher verstummt. Abgebaut. Aus. Warum nur, warum? Die Zelten werden ja nicht den Empfang ganz eingestellt haben, etwa weil sie die zwei Mark monatliche Rundfunkgebühren nicht mehr aufbringen können. Aber, du zweifelst nicht, es wird schon ein Gesetz oder eine Polizeiverordnung geben, wonach der freiwillige Ausschank von Musik verboten ist. Schade, schade. Bei den Zelten, am Rande des Tiergartens, ist es nun ebenso nüchtern und kummervoll wie überall sonst in diesem sorgenreichen Winter. Wir haben offenbar kein Talent zur Lebensfreude. Inquit 12.2.1932

Alte Frau mit Möbeln Die Wohnung läßt sich nicht länger halten. Bisher ging es mit dem Untermieten, jetzt geht es nicht mehr. Die Konjunktur hat sich gedreht. Die alte Dame zieht aus. Die Sorge, wo sie die Miete hernehmen soll, drückt sie nicht länger. Um sich selbst ängstigt sie sich nicht. Was braucht sie schon? Ein Obdach und das bißchen Essen. Aber da sind noch die Möbel. Die Möbel einer wohleingerichteten SechsZimmer-Wohnung. Vierzig Jahre alte Möbel. Ein Haufen von Möbeln. Verkaufen? Es zahlt niemand dafür. Verschenken? Um Gottes willen! Was mutet man der alten Dame zu? Die Möbel soll sie aufgeben? Aber an die Möbel, an das palastartige Büfett, an das säulenreiche Sofa, an die gepolsterten Sessel, an die geschnitzten, gedrechselten, messingbeschlagenen, furnierten und polierten Schränke, Truhen, Vertikos und Kredenzen hat sie ihr vereinsamtes Herz gehängt. Als sie heiratete, war die komplette Sechs-Zimmer-Einrichtung ihr Stolz, zugleich der Rahmen ihres häuslichen Glücks und ihrer gesellschaftlichen Geltung, aber auch

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ihr besessenes Eigentum und damit Grundlage und Ausdruck bürgerlicher Wohlhabenheit. In der Feuer- und in der Einbruchsversicherung wurde der Besitz mit einer stattlichen Summe anerkannt. Durch die ganze Ehe hielt sie ihn in hausfraulicher Hut, mehrte ihn mit zäher Sparsamkeit. Als der Mann starb, blieb die Einrichtung als sicheres Unterpfand. Dann mußte sie fremde Leute in die geschonten Zimmer lassen, und damit begann sie einen Verzweiflungskampf gegen die zerstörerische Unbekümmertheit ihrer Mieter. Sie blieb Siegerin: unzerbrochen, gepolstert, furniert und poliert blieben die Möbel in der viel zu großen Wohnung übrig. Wohin jetzt damit? Und erst mit dem Inhalt der Schränke, Truhen, Laden und Schübe? Wohin mit Kleidern, Wäsche, Porzellan, Glas, mit Silberzeug und Büchern[,] mit Haufen von Briefen, mit Bündeln von Stoffen, Resten und Bändern, mit Gerät und Gerümpel? Auf den Speicher! Dort stehen jetzt die Möbel, dort stehen übereinandergetürmt Kisten und Kasten. Die alte Dame ist mit ein paar Kleidern, mit einem bißchen Wäsche untergeschlüpft. Aber ihr Leben hat seinen Sinn behalten: die Sorge um die Möbel. Sie muß sich um sie kümmern, sie muß nach ihnen sehen, sie muß sie vor Staub schützen und gegen Motten verteidigen. Und vor allem: sie muß die Speichergebühr bezahlen. Ohne die Speichergebühr könnte sie sich satt essen. Für beides reicht es nicht; es reicht nur entweder für sie oder für die Möbel. Und sie entscheidet sich ohne Zaudern: für die Möbel. Arme alte Frau! Inquit 17.2.1932

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Weltflucht in Berlin Wenn Sie allein sein wollen, mit Ihren Freuden, mit Ihren Sorgen, mit Ihren Hoffnungen, mit Ihren Befürchtungen: treten Sie einfach von den Linden durch das Hauptportal der Staatsbibliothek. Schenken Sie sich die Mühe, bis in den grasbewachsenen Ehrenhof vorzudringen – Sie finden dort weder eine Gelegenheit zum Ruhen, noch Platz, sich zu bewegen, auch hat der Springbrunnen inmitten eines Gestrüpps von Suppengrün noch nicht angefangen zu springen. Verweilen Sie vielmehr in der weitgewölbten Eingangshalle. Setzen Sie sich auf eine der bescheidenen Steinbänke, entweder neben die Tür zur Preußischen Akademie der Wissenschaften oder neben die Pforte zur Generalverwaltung der Staatsbibliothek. Sie werden sich dort ungestört sehen; denn weder die Akademiker, noch die Generalverwalter strömen in Massen. Von der Straße zur Bibliothek freilich herrscht ein lebhaftes Aus und Ein. Aber das sind alles stille Leute, die zu den Büchern streben oder von ihnen kommen und geräuschlos und in sich gekehrt ihres Weges ziehen. Sie auf Ihrem Bänkchen sind vom Trubel der Fußgänger und Autos durch ein solides Eisengitter getrennt. Sie dürfen zwischen Pfeilern auf den besonnten Hof blicken und können sich nach Herzenslust Ihrem Innenleben hingeben. Wenn Sie allein sein wollen, suchen Sie das friedliche Gehege rings um die Nationalgalerie auf. Zwar unter den Säulen rund herum zu promenieren, ist immer noch nicht möglich. Dazu müßten erst die Bretterverschläge weggenommen werden. Es gibt Berliner, schon bei Jahren, die seit ihrer Geburt darauf warten. Wenn Sie Glück haben, erleben Sie es noch. Inzwischen müssen Sie sich mit dem Raum innerhalb des Säulenumgangs begnügen. Bleiben Sie nicht vor dem Eingang zum Museum; dort parken die Autos der Fremden, die zu den Kunstwerken geführt werden. Versuchen Sie auch nicht, den pompösen Doppelschwung der Freitreppe emporzuklimmen; sie ist gesperrt, wie es sich für die Freitreppe eines öffentlichen Gebäudes ziemt. Halten Sie sich rechter Hand und schreiten Sie so weit voran, bis Sie durch zwei Schilder »Betreten des Bauplatzes verboten« und

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»Zugang zur Museumsbibliothek« zugleich abgestoßen und angelockt werden. Verlieren Sie Ihre Zeit nicht mit der Bemühung, diese Erlaubnis mit dem Verbot in Einklang zu bringen. Begnügen Sie sich mit der Stelle, an der Sie stehen. Sie befriedigt alle Ihre Ansprüche an Einsamkeit. Zwischen dem ragenden Bauwerk und der vernagelten Säulenhalle haben Sie Platz, sich auf breiten, menschenleeren Wegen zu ergehen. Früher stand[en] hier noch ein Bogenspanner und ein Hunne herum. Aber auch sie sind weggeräumt worden; ihre leeren Sockel verstärken in glücklicher Weise die Stimmung der Abgeschiedenheit. Wenn Sie allein sein wollen, betreten Sie die offene Frontarchitektur des Domes. Sollten Sie sich bewogen fühlen, den Blick nach oben zu richten, so werden Sie entdecken, daß der Bau noch immer nicht vollendet ist: über Ihnen wölbt sich die nackte Ziegelkonstruktion, von keinem Mosaik verkleidet. Zwischen kolossalen Tragepfeilern bietet sich Ihnen eine Wandelbahn, auf Stufen über den Lustgarten erhöht, in der Sie stundenlang wandeln werden, ohne je einer Menschenseele zu begegnen. Das ist vor dem Dom. Hinter dem Dom geht es Stufen abwärts bis zu einem Fußsteig, der sich längs dem Geländer des Spreeufers hinzieht und so einsam zu sein pflegt, daß einer, der da langginge, bei hellem Tage das Gruseln bekäme. Früher durfte man da langgehen. Inzwischen hat eine fürsorgliche Verwaltung den Zugang zu dieser ausschweifenden Einöde mit Eisentüren gesperrt. Sie müssen sich also mit der Einrichtung vor dem Dom behelfen. Aber sie genügt ja wohl. Dies alles bietet Ihnen die Stadt der 4 Millionen Einwohner, bequem und kostenlos, wenn Sie allein sein wollen. Inquit 29.4.1932

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Das Streichholz Wenn du es dir leisten kannst, wenn du Zeit und Lust hast, so setzest du dich in ein Café. Du gestattest dir den Luxus bisweilen, trotz der Nöte und Sorgen, der Spannungen und Unsicherheiten. Da es Sommer geworden ist, so wählst du deinen Platz vor dem Café, auf der Straße, in der Reihe von Tischen, die gegen die Fußgänger durch ein niedriges Holzgestell mit Blattpflanzen kaum geschützt sind. Da sitzest du bei deinem Kännchen Kaffee und wunderst dich, daß die erwartete Behaglichkeit ausbleibt. Was ist das, was du empfindest? Schlechtes Gewissen etwa? Du sitzest da im hellen Vormittag – eine ausgesprochen lasterhafte Art des Kaffeehaus-Sitzens. Jenseits der Schranke treiben im Strom der gemächlich Spazierenden und der geschäftig Eilenden auch Arme und Elende vorüber, verhüllt und unverhüllt. Sie sehen dich sitzen, sie sehen es voller Neid; denn sie denken, du seiest frei von Sorgen, du leidest keine Not, dir gehe es gut. Freilich geht es dir gut, verglichen mit den Arbeitslosen, die sich an den Tischen entlangdrücken; aber vielleicht nicht so gut, wie sie denken müssen. Vielleicht gönnst du dir nur eine kurze Rast, erschöpft von der Hetzjagd nach dem bißchen Verdienst. Vielleicht sitzest du hier, um eine wichtige Zusammenkunft herbeizuführen. Vielleicht ergibst du dich keineswegs der Muße, wie es den Anschein hat, sondern du arbeitest angestrengt mit der Füllfeder auf dem Notizblock oder mit den Gedanken im Kopf. Du brauchtest kein böses Gewissen zu haben; aber du spürst Vorwurf und Feindseligkeit derer, die sich die Stunde im Café nicht leisten können. Da streift schon einer vorbei, ungepflegt und abgerissen, mißt dich mit herausforderndem Blick und ruft über die Gäste hin: »Aufhängen müßte man euch alle zusammen!« Ruft’s und trabt seines Weges weiter, ohne dir oder sonst jemandem etwas Böses zu tun. Er möchte wohl, er spielt mit dem Gedanken. Ach, es ist ein törichter Gedanke! Wenn er ihn verwirklichen dürfte, es ginge ihm deswegen nicht um ein Haar besser. Andere kommen, die über die Blattpflanzen hinweg betteln. Manche sehen aus wie Bettler. Manche stecken noch in leidlich geschonter Kleidung.

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Sie nähern sich, als wollten sie sich hierhersetzen, und überraschen dich mit der ausgestreckten Hand. Du gibst ihnen bereitwillig, übrigens verstohlen, damit es der Kellner nicht merkt. Und dann kommt einer, dem es gewiß auch schlecht geht. Man sieht es ihm an. Dennoch kommt er schlendernd daher, ohne Bekümmertheit oder Verbissenheit. Er macht den Eindruck, als sei er mit seinem Lose zufrieden; mehr noch: als genösse er den blauen Vormittag. Zwischen den Lippen hält er einen zerzausten Zigarrenrest. Vielleicht hat er ihn vom Pflaster aufgelesen. Das einzige, was ihm noch fehlt, ist Feuer. Die Tische vor dem Café tragen jeder einen Aschbecher mit Streichhölzern, bestimmt für den Gebrauch der Gäste, die ihre Zeche machen. Der zufriedene Mann bleibt stehen, greift über das Gestell auf deinen Tisch, entnimmt ein Streichholz, reibt es an dem Ständer auf deinem Tisch, hält das Flämmchen schützend zwischen beide Hände und setzt den Stummel in Brand. Du siehst es, die Nachbarn sehen es, der Kellner sieht es. Jeder weiß, hier geschieht etwas Unerlaubtes, eine widerrechtliche Aneignung; aber niemand greift ein. Dieser Mann, begreifst du, ist nicht dein Feind. Unter so vielen Widersachern findet er sich damit ab, daß du im Café sitzen darfst, und er draußen bleiben muß. Er begnügt sich mit dem bißchen Lebensglück, das ihm beschieden ist. Er nimmt die Sommersonne hin, da sie heute scheint. Er nimmt den Zigarrenstummel auf, den jemand weggeworfen hat. Und er zögert nicht, das fremde Streichholz zu nehmen, das er erreichen kann, indem er nur einfach über die Blattpflanzen greift. Er hat sich umständlich bedient und setzt seinen Schlendergang paffend fort. Dankbar blickst du ihm nach. Du fühlst: dir ist verziehen. Endlich kommt über dich die Behaglichkeit, auf die du gewartet hast. Inquit 17.6.1932

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Gefährliche Zeiten Wenn du diesen Sommer nicht verreisen kannst – und wie nahe liegt es, daß du diesen Sommer nicht verreisen kannst – mußt du dann auf das Glück verzichten, dich ins Gras zu werfen, die Glieder zu entspannen, weich und duftig gebettet zu schlafen oder zu träumen? Du brauchst nicht, sofern du nur die Mittel aufbringst für die Fahrt von zu Hause ins Freie und vom Freien nach Hause, es gibt genug duftende Schönheit rings um Berlin. Wenn es aber auch dazu nicht reicht – und wie nahe liegt es, daß es auch dazu nicht reicht – was dann? Dann wirst du dich wohl begnügen müssen, durch steinerne Straßen zu traben, irgendwo in einen Park einzubiegen und deine Naturfreude entweder von kiesbestreuten Wegen bändigen zu lassen oder dich auf tugendhafte Bänke zu setzen. Denn zwar fehlt es auch in Berlin nicht an Flächen wohlgepflegten strotzenden Grüns, und zwar fühlst du eine prickelnde Verlockung, über die niedrige Umzäunung zu steigen und längelang ins Gras zu sinken. Aber wird dir dergleichen einfallen? Nein, dergleichen wird dir nicht einfallen. Wenn du selbst gar nichts gelernt hättest, so hast du doch gelernt, daß man nicht auf den Rasen treten darf. Und wenn du selbst bereit wärest, alle Schranken der Sitte und des Gesetzes zu brechen, so hat doch keine revolutionäre Propaganda dich so tief revolutioniert, daß du dich getraust, die Unbetretbarkeit des Rasens anzuzweifeln. Als Kind – du erinnerst dich – begegnete es dir wohl, daß dein Ball auf den Rasen rollte. Eine Katastrophe! Er mußte zurückgeholt werden, und das ging nicht, ohne den Rasen zu betreten. Welch ein Mut gehörte dazu! Wäre nicht die Angst vor dem Verlust des Balles und seinen Folgen gewesen, du hättest es nicht gewagt. Lange standest du bebend und nach allen Seiten witternd. Endlich stürztest du dich kopfüber in die Gefahr, – Gott sei Dank, du kamst noch einmal davon. Das steckt dir in den Gliedern, du wirst es nie vergessen. Wenn du nichts mehr für heilig hältst, der Rasen ist dir heilig. Und eines Tages führte dich der Weg durch den Kleinen Tiergarten, jenen schmalen Grüngürtel inmitten des wimmelnden Stadtteils Moabit.

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Läßt es das Wetter nur irgend zu, so triffst du dort, artig auf Bänken oder Stühlen sitzend oder auf Wegen spazierend, arme, alte Männer, ausgediente Wirtschaftsveteranen, dazu arme junge Männer, arbeitslos, dazu alte und junge Frauen, und Kinder über Kinder. Sie begnügen sich mit dem zugemessenen und vorgeschriebenen Raum rings um die gepflegten Rasenflächen. Das Gras betreten sie nicht, so gern sie möchten. Aber diesen einen Tag, was heißt das? Die Schranke ist gefallen, es liegt auf dem Rasen, in praller Sonne oder im Schatten der Bäume, Kinder, Frauen und Männer, allein, zu zweit, in Familien, in Gruppen von Familien. Revolution? Revolution der Revolution? Keine Bange! Da hängt schon das Schild, das den Exzeß legitimiert: »Die Rasenfläche ist Mittwoch und Sonnabend von 8 bis 20 Uhr zum Lagern freigegeben.« Zum Lagern, nicht zu irgendwelchem Gebrauch. Mittwoch und Sonnabend, nicht an jedem beliebigen Tage. Vor acht darf man noch nicht und nach 20 darf man nicht mehr. Was schreiben wir für einen Tag? Richtig: Sonnabend, ein Uhr mittags. Es ist alles in Ordnung. Inquit 17.8.1932

Landfriedens-Tauben Der Blick von der Charlottenstraße her, zwischen Deutschem Dom und Schauspielhaus hindurch, nach dem Gendarmenmarkt fällt auf einen Auflauf. Was ist los? Soll man hinzutreten und sich durch den Augenschein überzeugen? Ist es nicht gefährlich? »Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht, so wird jeder, der an dieser Zusammenrottung teilnimmt, wegen Landfriedensbruchs – bestraft.« Und wie bestraft! Manch einer, der vor die Sondergerichte gestellt worden ist, mag nichts weiter getan haben, als daß er im Vorbeigehen nur mal nachsehen wollte, was los ist.

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Schließlich siegen Berufsneugier und Berichterstatterpflicht: man tritt näher. Neben dem Schauspielhaus ist ein großes Polizei-Mannschaftsauto aufgefahren. Ueberfallkommando? Also doch Landfriedensbruch? Unter dem Schillerdenkmal stehen die Leute im Kreise. Sie umstehen etwas. Inmitten des Kreises muß sich dasjenige abspielen, was los ist. Inmitten des Kreises hält eine Musikkapelle. Uniformierte Schupo, Revolver am Koppel, aber beruhigenderweise Mütze auf dem Kopf. Sie hält da mit ihren blanken Instrumenten, kolossalen Baßtuben, schlanken Posaunen, zierlichen Klarinetten, baumförmigen Fagotts. Zwei Pauken stehen da, die große Trommel, die kleine Trommel. Die Leute im Kreis warten, daß es wieder losgeht. Es geht los. Faustwalzer. Aus der Oper Margarete. Von Gounod. Von Gounod? War Gounod nicht Franzose? Das scheint ja hier ungewöhnlich friedfertig zuzugehen, ohne jede erzieherische Absicht, am Ende gar mit keiner andern Absicht als der, den Leuten im Kreise eine frohe Stunde zu bereiten? Während der Walzer sich in den blauen Septemberhimmel schwingt, dreht man sich um – und erlebt eine Ueberraschung. Die große breite Freitreppe des Schauspielhauses, sonst, wie alle Freitreppen öffentlicher Gebäude in Berlin, unbenutzt und überflüssig, hat plötzlich eine Bestimmung gefunden: sie ist zum Zuschauerraum umgewandelt. Wie auf den steinernen Stufen des antiken Theaters sitzt es Kopf an Kopf in andachtsvoller Aufmerksamkeit, allein und zu zweien, Arbeitslose, Geschäftsboten mit umgehängter Tasche oder abgestellter Last, Mütter mit Kindern, Liebespaare zärtlich Hand in Hand, abgerissene Bettler, mühselige Straßenhändler, lauter Volk, das nicht viel Freude zu erleben gewöhnt ist. Es sitzt da auf der Freitreppe im Schatten über dem sonnenbeschienenen Gendarmenmarkt, fühlt sich wie im Konzert und hört hingerissen mit an, was ihm seine Polizei da Unpolizeiliches vorzuspielen die Freundlichkeit hat. Das Stück ist zu Ende, Beifall bricht prasselnd los, der Kapellmeister, Hand am Mützenschild, verbeugt sich nach allen Seiten. Nichts von Landfriedensbruch. Hier an dieser Stelle, bei dieser Gelegenheit vertragen sie sich aufs beste, Volk und Polizei, Volk von rechts, Volk von links, Volk in der Mitte. Zwischen den Kuppeln der beiden Dome kreisen in dichten Schwärmen die Tauben. Soll man sie am Ende für Friedenstauben halten? Inquit 27.9.1932

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Spiel im Friedrichshain »Die Benutzung der Bänke zum Kartenspielen ist verboten«, steht am Eingang zum Park. Aber ein paar Schritt hinein häufen sich schon Menschen um eine Bank. Da wird doch sicher gespielt. Richtig, es wird gespielt, und zwar Schach. Von Arbeitslosen im Friedrichshain. Sieh einer an. Aber es können ja nicht alle Arbeitslosen Schach spielen. Und irgendwomit müssen sie sich ja die überflüssige Zeit vertreiben. Wenn sie nun mit Hilfe der Bänke nicht Karten spielen dürfen, wie sollen sie sonst Karten spielen? Oder spielen sie infolge des Verbotes gar nicht Karten? Sie spielen Karten, und sie respektieren das Verbot. Und so machen sie das: Zwei spannen mit den Händen ein Zeitungsblatt zwischen sich; im Stehen. Das ist der Spieltisch. Der Dritte hält die Bank, auch im Stehen. Er operiert mit drei Karten, Caro, Coeur und Pik. Die roten verlieren die schwarze gewinnt. Er legt die Karten aufgedeckt nebeneinander, dann dreht er sie um, die Rückseite nach oben. Noch weiß jeder, welches die schwarze ist. Aber jetzt beginnt er, flink ihre Lage zu verändern, sie gegeneinander auszutauschen. Ebenso flink geht seine Zunge. »Passen Sie auf, meine Herrschaften. Weiter ist nichts nötig, als aufzupassen. Folgen Sie mir genau. Nur den Augen vertrauen, bitte schön. Wer den Augen vertraut, hat nicht auf Sand gebaut. Wo die Schwarze fällt, da gibt es Geld. Welches ist die schwarze Karte? Wenn Sie aufgepaßt haben, meine Herrschaften, müssen Sie wissen, wo sie liegt. Sie können Ihr Geld verdoppeln. Für eine Mark zwei Mark, für zwanzig Mark vierzig Mark. Höher darf nicht gesetzt werden. Keine Angst, ich zahle anstandslos aus. Jeder kann sich überzeugen, daß der Gewinn sofort bar ausgezahlt wird.« Zwanzig Mark setzt niemand; aber eine Mark, zwei Mark, drei Mark werden ohne Zögern gewagt. Schließlich dreht der Bankhalter die Karten wieder um, das Bild nach oben. Die Einsätze auf rot gehören ihm, die Einsätze auf schwarz haben gewonnen und werden verdoppelt. In der Tat, er zahlt anstandslos aus. Schon legt er ein neues Spiel auf, schon fliegen die Geldstücke auf das Zeitungsblatt. Es geht flott vorwärts. Die Verlockung,

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seinen Besitz zu verdoppeln, ist groß: Mit Aufmerksamkeit, scheint es, muß man gewinnen. Man sieht auch, wie gewonnen, freilich auch, wie verloren wird. Dafür ist es ein Spiel. Es ist ein Spiel, und sogar ein berühmtes oder berüchtigtes. Sie spielen, im Stehen um das Zeitungsblatt gruppiert, das uralte und unverwüstliche Kümmelblättchen.58 Es ist verboten, die Polizei fahndet danach, eben deswegen hat man den Kartenspielern die Bänke entzogen. Aber sie sind noch schlauer. Wenn sich Polizei von weitem blicken läßt, sind ein Zeitungsblatt und drei Karten leicht verschwunden. Aber warum ist Kümmelblättchen verboten. Es sieht doch so harmlos aus, es macht doch den Leuten so viel Spaß. Wie ich hinzutrete, beginnt der Bankhalter seine muntere Ansprache auf mich zu münzen. Die Karten liegen, ich soll setzen. Ich lehne ab. Schön; ich muß erst Mut fassen. Aber inzwischen soll ich wenigstens raten, wo die Karte liegt. Ich rate richtig. Darauf wünscht er mir zwei Mark auszuhändigen, als hätte ich den Mindestbeitrag gesetzt. Ich schlage das Geschenk aus. Gut, gut, nur Geduld, ich soll nur aufpassen, dann werde ich schon dahinterkommen. Ich passe auf und rate wieder richtig. Aber ich weigere mich beharrlich mitzuspielen. Nur langsam, der Herr wird’s schon kapieren. Der Bankhalter vertauscht die Karten, und man müßte schon sehr unaufmerksam sein, wenn man die schwarze nicht herausfände. Trotzdem wird neben mir gesetzt und verloren. Meine Halsstarrigkeit beginnt Unwillen zu erregen, ich mache mich unauffällig davon. Denn so ist das mit dem Kümmelblättchen: Es sieht aus wie ein Spiel der Aufmerksamkeit, und es ist doch ein Spiel des Zufalls, den noch dazu die Geschicklichkeit des Bankhalters zu seinem Vorteil korrigiert. Dazu braucht er Helfer, außer den beiden, die das Zeitungsblatt halten: er läßt gewinnen, damit die Leute denken, sie werden auch gewinnen. In meinem Falle hat er sie verlieren lassen, damit ich nicht merken sollte, daß er es mir kinderleicht machte. Er denkt eben: einen Herrn mit intellektueller Aktenmappe im Friedrichshain kann man gar nicht dumm genug einschätzen. Vielleicht wäre ich auch hineingefallen, wenn nicht gewisse Verhandlungen im Moabiter Kriminalgericht mich aufgeklärt hätten. 58 Kümmelblättchen, eigentlich Gimelblättchen (vom hebr. Buchstaben Gimel, der die Dreizahl bedeutet). Ein berüchtigtes, verbreitetes Kartenspiel, das zum Betrug an Unerfahrenen benutzt wurde, da es gute Möglichkeiten bot, beim Mischen, Abheben und Abziehen der Karten zu täuschen. Es ähnelt dem heutigen Hütchen-Spiel.

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Ueberall inmitten der raschelnden Blätter unter der fahlen Herbstsonne stehen Gruppen von Spielern. »Die Benutzung der Bänke zum Kartenspielen ist verboten.« Aber Kümmelblättchen ist stärker. Inquit 30.10.1932

Steuerkarte 1933 In unseren musterhaft geordneten Verhältnissen brauchen Sie als der schlichte Angestellte, der Sie sind, für jedes Jahr eine neue Steuerkarte. Die Steuerkarte bestimmt die Abzüge vom Gehalt, die Ihr Arbeitgeber einbehält. Ohne Steuerkarte werden Ihnen erbarmungslos elf Prozent abgezogen, auch wenn Sie ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt haben. Die Ermäßigungen der Abzüge kommen Ihnen nur zugute, wenn Sie eine Steuerkarte vorweisen. In unseren musterhaft geordneten Verhältnissen sind Sie gewöhnt, daß Ihnen die Steuerkarte ins Haus geschickt wird. Wenn sie Ihnen dieses Jahr nun etwa nicht zugeschickt worden ist und der Tag der ersten Gehaltszahlung rückt heran? Um Gottes willen! Sie wissen sich schon so vor immer höheren Abzügen nicht zu retten. Wer denkt auch gleich an die Steuerkarte! Dabei fällt Ihnen ein, warum es dieses Jahr mit der Steuerkarte nicht geklappt hat: weil Sie umgezogen sind. Wer heißt Sie auch das Wagnis eines Umzugs auf sich nehmen! Aber jetzt keine Zeit verlieren. Nicht erst lange schreiben, lieber gleich selber laufen und die Karte einfach abholen. Wohin werden Sie laufen wegen der Steuerkarte? Sie, wie 99 von 100 Ihrer Mitbürger, zum Finanzamt Ihres neuen Wohnbezirkes. Drei Treppen hoch. Finanzämter kennen nicht die ausschweifende Einrichtung eines Fahrstuhls, dafür hausen sie gern unterm Dach. Ergebnis: Nicht hier, sondern beim Städtischen Steueramt. Wo mag nur das Städtische Steueramt in dieser unerforschten Gegend liegen? Aber Ihrem Finderglück gelingt es, diese Behörde nach einigen Irrfahrten zu entdecken. Bescheid: Nicht hier, sondern beim Steueramt Ihres früheren Wohnbezirkes.

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Dessen Sitz bewahren Sie noch im Gedächtnis. Also hin, wieder drei Stockwerke hoch, ohne Fahrstuhl von Stufe zu Stufe. Und richtig: da liegt sie, Ihre Steuerkarte, auf Ihren Namen fein säuberlich ausgefüllt. Sie halten das köstliche Dokument in Händen und lesen am oberen Rande mit Bleistift eingetragen die schüchterne Bemerkung: »Verzogen«. Sie könnten Ihrer Wege gehen. Aber es treibt Sie zu der wißbegierigen Frage: warum Ihnen die Steuerkarte nicht in die neue Wohnung nachgesandt worden sei. Und nun dürfen Sie wieder einmal die musterhafte Ordnung unserer Verhältnisse bewundern. Nämlich: da gibt es eine Bestimmung. Dachten Sie, es würde keine Bestimmung geben? Doch, doch, grade für diesen Fall gibt es eine. Sie lautet: Wenn der Steuerpflichtige verzogen ist, geht die Steuerkarte an das Steueramt zurück. Sie haben sich nicht dem Wahne hingegeben: wenn Sie umziehen, werde sich alles von selbst regeln. Sie haben Ihre gewissenhaften Vorkehrungen getroffen, haben sich abgemeldet und angemeldet und haben vor allen Dingen bei der Post Ihre Adresse hinterlegt. Und Sie sind auch dahin verwöhnt, daß Sie allerlei Sendungen, die in die alte Wohnung adressiert waren, in die neue Wohnung zugestellt bekommen. Nur die Steuerkarte darf von diesem Vorteil keinen Gebrauch machen, sie geht zum Städtischen Steueramt zurück. Dort aber trifft sie auf eine zweite Bestimmung des Magistrats: Steuerkarten, die zurückgehen, sollen liegenbleiben, solange sie nicht abgerufen werden. Und infolgedessen liegt Ihre Steuerkarte da und würde liegen, bis sie schwarz geworden ist, wenn Sie nicht unter Aufopferung eines ganzen Vormittags das arme Wesen befreit hätten. Wollen wir es nicht einmal ganz ohne Behörden versuchen? Inquit 28.1.1933

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Frühlingsboten Die Blumenfrauen am Leipziger Platz bieten kleine Büschel Schneeglöckchen an und rufen dazu: »Die ersten Frühlingsboten 10 Pfennig – een Groschen die ersten Frühlingsboten«. Die Welt sieht grau und winterlich aus, man wagt kaum zu hoffen, daß es jemals wieder Frühling werden könnte. Wenn es nun trotzdem die ersten Boten dieses neuen Frühlings zu kaufen gibt, so muß der Preis von einem Groschen oder zehn Pfennigen als niedrig bezeichnet werden. Eine andere Frage ist, ob man ihrer Botschaft trauen darf. Früher zwar las man die Jahreszeit an den Blumenfrauen ab. Man konnte sich darauf verlassen, daß der Mai gekommen war, wenn sie Flieder anboten, und daß der Sommer regierte, wenn sie Rosen verkauften. Aber über so zurückgebliebene Produktionsverhältnisse sind die Blumenfrauen am Leipziger Platz längst hinausgewachsen. Heutzutage halten sie alle Blumen zu allen Jahreszeiten feil; und also locken und leuchten aus ihren Körben neben den ersten Frühlingsboten in bunter Fülle: Osterblumen, Maiglöckchen, Tulpen, Nelken, Rosen und Flieder. Die Blumenfrauen selbst sehen bodenständig und unverdorben aus, sie pflegen ihren munteren Berliner Dialekt und ihren frischen Berliner Witz in treuer Anhänglichkeit, und man möchte sich jede einzelne von ihnen vorstellen, wie sie frühmorgens in ihrem Gärtchen hinterm Haus die Blumen schneidet, die dort wachsen, je nach der Jahreszeit. Indessen der Augenschein lehrt, daß sie offenbar weitreichende Handelsverbindungen unterhalten zu mancherlei Himmelsstrichen, und daß sie aus ihnen die Blumen beziehen, die zwar dort schon blühen, aber unserem Berliner Klima weit vorauseilen. Wenn es also jetzt, im frühen März, Schneeglöckchen zu kaufen gibt, so braucht daraus nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß der Frühling naht. Was kann überhaupt mit Sicherheit geschlossen werden? Es ändert sich vieles, und wir, die wir heute leben und nicht in der ersten Jugend stehen, haben manchen Umschwung erlebt. Nur eins haben wir nicht erlebt: daß die Blumenfrauen am Leipziger Platz nicht auf ihrem Posten gewesen wären.

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Blumenfrau am Leipziger Platz; ca. 1929.

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Man hat sie nur von ihrem alten Standort am Potsdamer Tor ein bißchen gegen die Leipziger Straße hin verschoben. Aber gestanden haben sie da schon in den ahnungslosen Zeiten vor 1914. Der Krieg brach aus, und sie standen da. Der Krieg zog sich hin, Not und Hunger machten sich breit, und sie standen da. Der Krieg ging verloren, die Revolution tobte durch die Straßen; aber die Blumenfrauen standen und verkauften ihre Ware. Sie überstanden die Inflation und die Deflation. Sie stehen heute noch rüstig und unangefochten, und so werden sie hoffentlich weiter stehen, über die gärende Gegenwart hinweg in eine beruhigte Zukunft. Solange die Blumenfrauen am Leipziger Platz nicht untergehen, wird auch die Welt nicht untergehen. Leisten wir uns getrost ein Büschel Schneeglöckchen für zehn Pfennige. Nicht nur wegen des niedrigen Preises, sondern auch im Vertrauen auf die Frühlingsbotschaft. Inquit 9.3.1933

Wie wir es sehen »Nationaler Kitsch«

Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Dr. Goebbels hat, wie berichtet, in einem Erlaß Einspruch erhoben gegen die geschmacklose Verarbeitung oder gar geschäftliche Ausnutzung der nationalen Symbole. Die nationale Revolution dürfe unter keinen Umständen von nationalem Kitsch überwuchert werden. Diese Ermahnung tut dringend not. Der Kitsch hat schon längst eine Konjunktur zu wittern geglaubt, und sich aus Schlupfwinkeln hervorgewagt, in die ihn der jahrzehntelange Kampf ernster Volkserzieher zurückgescheucht hatte. Längst schon lockten Geschäftemacher das Publikum anspruchsloser Filmtheater mit den Gestalten der alten Armee, nicht wie es sie wirklich gab, sondern wie sie sich in Possen und Witzblattfiguren einem freundlichen Gelächter darboten. Was da gezeigt wurde, war nichts als eine kitschige Maskerade.

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Der Kitsch, den Minister Goebbels gebrandmarkt hat, macht sich auch breit auf den Bilderplakaten der Anschlagsäulen. Man hätte es nicht für möglich gehalten, daß diese angeblich deutschen Herolde, Landsknechte, Trompetenbläser und Fahnenschwenker, die auf Kostümfesten der achtziger Jahre beliebt waren, im Jahre 1933 sich wieder würden ans Licht wagen dürfen. Die Industrie der kleinen Gebrauchsgegenstände möchte nicht zurückbleiben. Zigarrenabschneider, Nähkästen, Bilderrahmen, Trinkgläser, und was es sonst an zierenden Gegenständen des Hausbedarfs gibt, wird fingerfertig mit den Zeichen und Gestalten der großen Umwälzung ausgestattet, auf eine geistlose, unverständige, gänzlich verstaubte Art. Nach den Köpfen der neuen Männer ist begreiflicherweise lebhafte Nachfrage. Ansichtskarten und Kunstblätter aller Art liegen in den Schaufenstern aus. Aber auch hier stellt man mit Befremden fest, daß zum Teil angebliche Künstler ihre Aufgabe darin erblicken, charakteristische Züge zu verwässern. Der Kitsch wälzt sich heran wie eine Flut von Schlamm. Sie droht, die wahre Kunst und den wahren Geschmack zu ersticken. Nicht früh genug können Gegenkräfte aufgerufen werden.59 7.4.1933

59 Goldsteins Autorschaft wird durch den Eintrag vom 7.4. 1933 in seinem »Journal IV«, Goldstein-Nachlass a.a.O. bestätigt.

»Aus den Berliner Gerichten« Gerichtsfeuilletons über kleine Prozesse

»Schlechte Zeiten« – Kleine Sünder

Frau Warrens Gewerbe Frau Warren1 vermietet Zimmer. Sie ist verheiratet und hat eine FünfZimmer-Wohnung. Aber ihr Mann wurde eingesperrt, auf vier Jahre, und es ging ihr schlecht. Deswegen entschloß sie sich, einen Teil ihrer Wohnung zu vermieten. Ihr Mann ist nicht mehr eingesperrt, und vielleicht geht es ihr nicht mehr schlecht; aber die Gewohnheit des Zimmervermietens hat sie beibehalten. Sie selbst hat sich drei Zimmer vorbehalten, die nach hinten liegen. Dort haust sie und beschäftigt sich mit Kochen. Die beiden Vorderzimmer hat sie abgegeben, eins an einen Herrn und eins an eine Dame, in allen Ehren, und was ihre Mieter treiben, das weiß sie nicht. So behauptet sie vor den Richtern. Aber der Vorsitzende glaubte ihr nicht. Mindestens in bezug auf die Dame glaubte er nicht, daß die Wirtin nicht wüßte, was sie triebe. Er hielt ihr vor, daß sie in jüngeren Jahren selbst sich in der Lage derjenigen Mädchen befunden habe, die auf das Mieten von Zimmern angewiesen sind. Als sie gesetzter geworden und davon abgekommen sei, habe sie sich keineswegs zur Ruhe gesetzt, sondern sich auf 1 »Frau Warrens Gewerbe« ist ein gesellschaftskritisches Theaterstück von George Bernard Shaw (26.7.1856–2.11.1950). Das Stück wurde 1898 veröffentlicht und erschien 1904 in deutscher Sprache. Wahrscheinlich ist der von Goldstein gewählte Titel für seine Gerichtsreportage eine Anspielung auf das Theaterstück, in welchem die Titelfigur Bordellbetreiberin ist.

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»Aus den Berliner Gerichten«

das Vermieten von Zimmern verlegt. Oder, wie der Vorsitzende sich unverblümt ausdrückte, sie betriebe gewerbsmäßige Kuppelei. Nun ist das mit der Kuppelei eine alte Schwierigkeit, mit der in aller Welt die Staaten nicht recht fertig werden. Die Sache ist keineswegs verboten. Es gibt sogar Stimmen, z. B. ärztliche Stimmen, die die Sache selbst für notwendig halten. Verboten ist dagegen, Räume zur Ausübung der Sache zur Verfügung zu stellen. Da die Sache sich aber nicht bloß in der Zeit, sondern gleichzeitig irgendwo im Raume abspielen muß, so pflegt die Polizei gegen die Zimmervermieterinnen eine gewisse Duldung. Sie kennt sie ganz gut, aber sie läßt sie gewähren. Gleichfalls eine alte Gewohnheit der Staatskunst, die bis auf Macchiavell zurückgehen soll, ist es aber, daß die Polizei böse wird, sobald irgend jemand, sei es aus Konkurrenzneid, sei es aus Rachsucht, die Zimmervermieterin zur Anzeige bringt. Alsdann wird Anklage wegen Kuppelei erhoben. Und so war es auch der Frau Warren ergangen, nicht zum ersten Male, sondern zum achtzehnten Male. Die siebzehn anderen Male war sie bestraft worden. Diesmal war es so gegangen, daß auf die Anzeige hin die Polizei unerwartet in die Fünf-Zimmer-Wohnung eindrang und bei der Dame, die ein Zimmer gemietet hatte, einen Herrn fand, der nicht gemietet hatte. Beide sollten nun vor Gericht über Frau Warrens Gewerbe Zeugnis ablegen. Die bessere Figur machte dabei die Dame. Aber vielleicht würde kein Herr, in dieser Frage ertappt und vor Gericht zitiert, die Rolle eines Helden spielen. Die Dame jedenfalls stellte ihrer Wirtin das beste Zeugnis aus und bescheinigte ihr vor allen Dingen, daß sie im Gegensatz zu vielen anderen Zimmervermieterinnen sich anständig benehme. Sie begnüge sich mit 60  Mark Monatsmiete und einem bescheidenen Anteil an den Einnahmen der Mieterin, dessen Höhe sie ihr überließ, ohne sie im geringsten zu kontrollieren; wofür sie noch die vollständige Verpflegung liefere. Der Staatsanwalt beantragte mit derjenigen Entrüstung, die sich für sein Amt ziemt, Gefängnis wegen Kuppelei. Der Verteidiger indessen erhob sich, und man sah ihm sogleich an, daß er eine Ueberraschung im Sinne hatte. Er, der schon vielen Zimmervermieterinnen in ihrer schweren Stunde beigestanden, bereitete vor den Augen des Gerichtes, der Zeugen und der Zuhörer diese Ueberraschung vor wie ein Koch eine delikate Speise mischt oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, wie ein Feuerwerker mit Papphülsen, Feuer und Zündschnur einen Knalleffekt in Szene setzt. Und dann trug er das appetitliche Gericht auf oder brannte die strahlende Sonne ab. Die Zeiten nämlich haben sich geändert, und mit ihnen hat sich auch das Recht

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geändert. Dem berühmten Kuppelei-Paragraphen ist ein Absatz 3 zugefügt worden des Inhalts, daß das bloße gewerbsmäßige Zimmervermieten an sich nicht strafbar ist, wenn der Vermieterin nicht Ausbeutung ihrer Mieterinnen nachgewiesen wird. Daß aber von Ausbeutung bei Frau Warren keine Rede sein kann, hatte die Mieterin selbst soeben unter Eid bezeugt. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück, kam wieder und sprach Frau Warren frei. Alle Anwesenden gönnten dem wackeren Verteidiger die Freude. Und dem Laien bleibt nur die Frage, warum bei so klarem Wortlaut des Gesetzes überhaupt Anklage erhoben wird. Die Verhandlung war zu Ende, die Angeklagten, der Verteidiger und die Zeugen gingen von dannen, der Herr an der Seite der Dame, in deren Zimmer die Polizei ihn gefunden hatte. Inquit 28.6.1928

Rechenaufgabe Das Schöffengericht Berlin-Mitte, Abteilung 208, rechnet mit einem Angeklagten Schnieders, einem jungen Menschen mit hübschem und intelligentem Gesicht, gegen den sich von außen nur einwenden läßt, daß er statt des Kragens ein geknüpftes Halstuch trägt. Daß er hier steht, hat ihm seine Frau eingebrockt, deren Lebenswandel viel zu wünschen übrig läßt, die ihn dabei mit Eifersucht quält, die ihn ausschilt, wenn er nichts verdient, von der er sich ein paar mal getrennt hat, um sich schließlich immer wieder mit ihr zu versöhnen. Eines Tages nach einem Zank ist sie zur Polizei gerannt und hat bekundet, ihr Mann zwinge sie durch Drohungen und Schläge zu ihrem Lebenswandel, er sei der Trunksucht ergeben und habe sie mit dem Messer bedroht. Jetzt vor Gericht nimmt sie alles zurück. Ob sie damals gelogen hat oder jetzt lügt oder ob beides Schwindel ist, läßt sich nicht entscheiden. Das Gericht vernimmt Zeugen, die in Uebereinstimmung mit der Frau günstig für den Angeklagten aussagen. Drei Eide werden geschworen. Im Urteil

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aber erklärt das Gericht, daß es weder die Aussagen der Frau noch die Aussagen der Zeugen verwertet habe und sich lediglich auf die Aussagen des Angeklagten stütze. Und eben mit Hilfe dieser seiner Aussagen rechnet es ihm folgendermaßen vor: Er ist arbeitslos und bezieht Unterstützung von 12 bis 15 Mark in der Woche. Diese ganze Summe hat er seiner Frau gegeben, und sie hat davon seinen Lebensunterhalt bezahlt, nämlich Miete und Essen, und hat ihm auch geringe Barbeträge gegeben für kleine tägliche Ausgaben wie Zigaretten und Zeitungen. Das reicht aber für seinen Lebensunterhalt nicht aus. Und also hat sie von ihrem eigenen Verdienst hinzugeben müssen. Ihr Verdienst aber stammte von der Straße, und also hat er sich der Zuhälterei schuldig gemacht. Daß er als Arbeitsloser nicht für sie zu sorgen vermochte, bestreitet der Angeklagte nicht. Wie weit das zusammengelegte Geld für sie, wie weit für ihn verbraucht werden mußte, läßt sich nicht ohne weiteres feststellen; denn das Leben der beiden spielt sich nicht so ab, wie etwa das Leben eines gutgestellten Ehepaares in einer Hotelpension, in der es für eine Person soviel und für zwei Personen das Doppelte kostet. Antrag des Staatsanwalts, mit Rücksicht darauf, daß er schon zweimal wegen desselben Deliktes bestraft worden ist: zwei Jahre Gefängnis. Der Angeklagte hat keinen Verteidiger. Er versteht nicht, die Behauptung rhetorisch zur Geltung zu bringen, daß er vom Wohlfahrtsamt dauernd auch mit Verpflegung unterstützt worden sei. Der Staatsanwalt hat diese Behauptung einfach für unglaubwürdig erklärt. Kein Verteidiger setzt durch, daß das Wohlfahrtsamt darüber vernommen, am besten einfach telephonisch befragt wird. Auch die Erklärung des Angeklagten fällt unter den Tisch, daß er nicht von der Unterstützung allein gelebt, sondern sich Arbeit gesucht habe, wo sie zu finden gewesen, daß er z. B. singen gegangen sei. Eine seiner Zimmerwirtinnen meldet sich noch einmal zu Worte, um zu bekunden, daß er für sie Teppiche geklopft habe und dafür bezahlt worden sei. Sie meint es symptomatisch, als Anzeichen dafür, daß er sich vor Arbeit nicht scheue. Aber der Vorsitzende hört nicht auf zu rechnen: Wie oft hat er Teppiche geklopft? Wieviel hat er dafür bekommen? Antwort: Zwei mal zu zwei Mark. Macht zusammen vier Mark; was an der Generalrechnung nichts ändert. Urteil: vierzehn Monate Gefängnis, unter Anrechnung von sechs Wochen Untersuchungshaft, und Kosten des Verfahrens. Die Frau bricht in hysterisches Schreien aus: »Was habe ich getan!«

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Dieser Angeklagte kann diese Art von Gerichtsverfahren unmöglich begreifen. Er kann nichts anderes erleben, als daß er in schwerer Not ist und daß die anderen die Macht haben, ihn noch tiefer in die schwere Not hinabzustoßen. Denn wenn er seine Strafe verbüßt hat, wird er vielleicht wieder keine Arbeit finden, und seine Frau wird vielleicht immer noch nicht Stenotypistin geworden sein, sie werden vielleicht wieder zusammenziehen und aufs neue versuchen müssen, mit seiner Unterstützung und ihrem Verdienst sich durchzuschlagen. Dieser junge Mensch machte keinen verstockten Eindruck. Er kämpfte, während er auf das Urteil wartete, tapfer mit den Tränen, und er hatte, als der Spruch verkündet wurde, zu seiner Frau hin eine ritterliche Geste, die besagte: Mach dir nichts draus! Was wissen die von der Not des Lebens! Und vermutlich wird er im Gefängnis vergeblich die Rechenaufgabe zu lösen suchen, wie man als Arbeitsloser mit 15 Mark Unterstützung auskommt, ohne einen Teil des Verdienstes seiner Frau mit zu verbrauchen. Inquit 30.6.1928

Der getretene Wurm In der schönen Literatur namentlich auf der Bühne, gilt es für dilettantisch, handelnde Personen sich selbst charakterisieren zu lassen. Kein Dichter, der auf sich hält, würde sich dieses plumpen Mittels bedienen. Aber im Leben, das ja fast nur aus Abweichungen besteht, kommt es in aller Gemütsruhe vor. »Ich bin eine Seele von Mensch; man kann mich um den Finger wickeln«, sagte der Angeklagte. Er stammt aus Oberbayern, hat ein Technikum besucht und betreibt in Berlin eine Werkstatt für Reparaturen. Aber Klempnermeister darf er sich nicht nennen. Ihm wird vorgeworfen, einen Kollegen oder Konkurrenten erstens beleidigt, zweitens öffentlich beleidigt, drittens geohrfeigt und viertens mit Totschlag bedroht zu haben. Der so schwer Gekränkte, ein echter Klempnermeister, aber auch kein echter

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Berliner, sondern gebürtiger Ostpreuße, hat es also offenbar nicht verstanden, den Oberbayern um den Finger zu wickeln. Darüber darf sich niemand wundern. Denn der Klempnermeister aus Ostpreußen ist ein sehr dünner und sehr ruhiger Mann. Man sieht es ihm an, daß es nicht seine Art ist, Leute um den Finger zu wickeln. Der Reparierer aus Oberbayern hingegen hat zwar das runde blauäugige Gesicht der seelenhaften Menschen, aber er ist aufgeregt und zwei Köpfe größer als der Klempnermeister, dazu viermal so breit, ein Hüne. Die Stelle, die er mit der bloßen Hand trifft, wird wohl anschwellen, wie der Klempnermeister es sich hat ärztlich bescheinigen lassen, und die Beleidigungen, die er auf oberbayrisch losläßt, werden es in sich haben. Der Vorsitzende, der sich pflichtgemäß um einen Vergleich bemüht, redet dem Oberbayern ins Gewissen, daß er sich doch etwas zu viel herausgenommen habe. »Herr Amtsgerichtsrat«, erwidert der Hüne treuherzig mit dröhnender Stimme, »der Wurm, der getreten wird, krümmt sich.« Nämlich auf folgende Weise ist der kolossale Oberbayer von dem schmächtigen Ostpreußen getreten worden: Er führte für einen Hauswirt Reparaturen aus, mit denen der Besteller nicht zufrieden war. Ein Prozeß ist darüber im Gange, in dessen Verlauf der Ostpreuße über die Arbeit des Oberbayern, ein ungünstiges Urteil abgegeben hat. Später erschien er im ehrenamtlichen Auftrage der Berliner Handwerkskammer in dessen Werkstatt, um sie nach den Bestimmungen zu kontrollieren. Er wurde nicht hereingelassen, mußte sich erst mit der Polizei Zutritt verschaffen und erstattete an die Handwerkskammer Bericht. Deshalb nannte ihn der Oberbayer auf der Straße, bevor er ihn ohrfeigte, einen Denunzianten. Das ist die öffentliche Beleidigung. Sie wird bezeugt durch eine alte Frau. Die Ohrfeige wird bezeugt durch einen jungen Mann, der dem prügelnden Oberbayern in den Arm gefallen ist und der schon damals seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben hat, daß der Geprügelte nicht zurückschlug, und der sich jetzt vor Gericht von neuem darüber wundert. Die Bedrohung mit Totschlag wird darin erblickt, daß auf einer Innungsversammlung der Oberbayer dem Ostpreußen zugerufen haben soll: »Ziehen Sie sich morgen einen Stahlpanzer an.« Der Vertreter des Bedrohten meint, das könne nichts anderes bedeuten, als daß der Bedroher am nächsten Tage auf ihn habe schießen wollen. Der Angeklagte freilich behauptet, er habe seinen Feind (nach der Beleidigung und nach der Ohrfeige) nur habe sprechen wollen, der sei aber zum Vorstandstisch geflohen, und da habe er ihm geraten, einen Stahlpanzer anzuziehen, wenn er sich vor ihm fürchte.

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Uebrigens erhebt der Angeklagte Gegenklage. Denn vor dem Schlichter soll der Kläger seine Arbeit als Schwindelarbeit bezeichnet haben, während jener durch einen Zeugen erhärten läßt, daß er von Murksarbeit geredet habe. Das Gericht spricht den Kläger von der Widerklage frei; denn »Schwindelarbeit« sei nicht erwiesen, und »Murksarbeit« sei keine Beleidigung. Den Angeklagten spricht es von der Totschlagsdrohung frei und verurteilt ihn wegen der anderen drei Vergehen zu 100 Mark Geldstrafe und drei Viertel der Kosten. Uebrigens ist da noch ein Brief des Angeklagten, der den ersten Punkt der Anklage, die Beleidigung, enthält. Darin verhöhnt der Oberbayer den Ostpreußen wegen seiner deutschnationalen Gesinnung und wegen seines Rechtsbeistandes, der Sozialist und Jude sei. Hierauf legt dieser Rechtsbeistand zwar kein Gewicht, aber er unterläßt nicht festzustellen, daß er weder das eine noch das andere sei, vielmehr früherer preußischer Stabsoffizier. Hingegen bekennt der Rechtsbeistand des gigantischen Oberbayern, daß er sowohl das eine wie auch das andere sei. Wie gesagt, das Leben besteht aus Abweichungen. Inquit 15.7.1928

Schwere Jungen Vor dem Schöffengericht Charlottenburg steht eine Kolonne von Einbrechern, von denen einige schon allerlei in ihrem Strafregister stehen haben. Es sind vier Brüder August, Hellmuth2, Herbert und Erich, dazu Augusts Verlobte, ein hübsches Mädchen in punktiertem Sommerkleid, das sich sein Brot verdient, indem es in Berliner Bars angestellt ist. Diesmal handelt es sich um eine ganze Liste von Einbrüchen, merkwürdigerweise meist in optischen Geschäften, wo Ferngläser und photographische Apparate erbeutet wurden. Der Führer dabei war offenbar der Aelteste, August. Die Brüder 2 Im Original hier Hellmuth, im Folgenden aber immer Helmuth.

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Das alte Kriminalgericht in Moabit (Ecke Alt Moabit/Rathenower Straße); um 1928.

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stehen stark unter seinem Einfluß und haben, zum Teil ohne Zweifel aus Angst vor ihm, bisweilen bei den Einbrüchen mitgewirkt, zum Teil das gestohlene Gut versetzen oder verkaufen helfen. August hat bei der polizeilichen Vernehmung jede Aussage verweigert; wie er behauptet, weil er ungebührlich behandelt worden sei. Uebrigens beklagt sich auch die Braut über das schonungslose Benehmen des Kriminalkommissars. Jetzt vor Gericht gesteht August seine Taten ohne Umstände ein, die Verhandlung geht deshalb rasch von statten, das Urteil lautet auf sechs Jahre Gefängnis und fünf Jahre Ehrverlust für August und in Stufen abwärts bis zu sechs Wochen Gefängnis mit Bewährungsfrist für Augusts Verlobte. Das alles ist menschlich und kriminell nichts Besonderes und verdiente nicht mehr, als einfach verzeichnet zu werden. Indessen es enthüllt sich während der Verhandlung ein Verhältnis der fünf Angeklagten zueinander und zur Welt, das nicht einfach auf eine Formel gebracht werden kann und das uns brave Bürgersleute mindestens stutzig machen sollte. Das Verhältnis zur Welt: man denkt sich immer, der Verbrecher lebe im Krieg mit der Gesellschaft, erkenne ihre Gesetze nicht an und stelle sich außerhalb ihrer. Aber da sind Menschen, die mit Sorgfalt gekleidet sind (mit Ausnahme von Erich, der gezwungen ist, in Gefängnistracht zu erscheinen; es ist zugleich derjenige, dem eine gewisse Beschränktheit zugeschrieben wird). Da spielt ein möbliertes Zimmer eine Rolle, das zwei Brüder inne haben und dessen Miete fällig wird. Da wissen sich alle fünf gut zu benehmen (bis auf eine Neigung des temperamentvollen August, in die Aussagen der anderen ohne Erlaubnis einzugreifen). Sie vermögen sich zusammenhängend und fließend auszudrücken und beherrschen die deutsche Sprache fast fehlerfrei. Es wird abends ausgegangen, ein Kino wird besucht, der neu erbaute Titania-Palast wird besichtigt, die Anschläge der Scala werden studiert, die Braut wird von der Arbeitsstätte abgeholt – es geht bürgerlich und beinahe philiströs zu, und nur das bißchen Einbruch kommt dann und wann dazwischen. Doch das alles bedeutet nichts, verglichen mit dem Verhältnis zueinander. August und seine Brüder sind zwar geständig, aber sie geben nicht einfach zu, was ihnen die Anklage vorwirft und was in den polizeilichen Vernehmungsprotokollen steht. Es kommt zu erregten Auseinandersetzungen – und die drehen sich darum, daß August seinen Brüdern vorwirft, sie bezichtigten sich selbst, um ihn zu entlasten, bisweilen auch aus Gründen, die ihm nicht klar sind. Immer wieder springt er auf und ruft dazwischen: »Mein Bruder lügt. Diesen Diebstahl habe ich allein begangen.« Verge-

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bens weist der Vorsitzende ihn zur Ruhe; die Suggestion hat schon gewirkt, Helmuth oder Herbert biegen sachte ihre Aussagen ab, bis sie dem Willen des ältesten Bruders entsprechen. Offenbar haben sie zuerst aus Verehrung für ihn, vielleicht auch einfach aus Angst vor ihm zu seinen Gunsten ausgesagt oder auszusagen gedacht. Jetzt, wo es ernst wird, entspinnt sich ein wahrer Wettstreit des Edelmuts zwischen den Brüdern. Komödie kann das nicht sein; es geht mit seelischer Erschütterung und nicht ohne Tränen vor sich. Leicht sind ja die Anteile der Brüder an den Straftaten nicht auseinanderzuwickeln. Bei einem Einbruch etwa ist eine fremde Invalidenkarte abhanden gekommen. Später wird diese Karte in Helmuths Brieftasche entdeckt. Helmuth selbst, von einem Kriminalbeamten nach seiner Legitimation befragt, findet sie da zu seiner Ueberraschung; aber er hat die Geistesgegenwart, den Namen dieser fremden Karte sich sofort beizulegen. Später stellt sich heraus, daß sein Bruder Herbert sie in Helmuths Brieftasche praktiziert hat. Herbert seinerseits aber behauptet, daß die Karte nicht aus einem Einbruch stamme, wie die Anklage will, sondern daß er sie gefunden habe. Da der Einbruch mitsamt der Beute zugegeben wird, so ist nicht einzusehen, warum gerade die Entwendung der Invalidenkarte abgestritten werden sollte. Am heftigsten entbrennt der Wettstreit des Edelmuts zwischen August und seiner Verlobten: ob sie von zwei goldenen Lorgnons gewußt hat, daß sie von August gestohlen sind. Sie sagt, sie habe es gewußt; er sagt, sie habe es nicht gewußt. Der Vorsitzende fragt, was für einen Grund sie denn haben könne, sich selbst zu bezichtigen. Sie erwidert, der Bruder Franz sei daran schuld, welcher gedroht habe, er werde dafür sorgen, daß sie auch etwas abbekomme. Der Vorsitzende fragt, warum denn, wenn der Bruder Franz sie ins Gefängnis bringen wolle, sie sich fälschlich eines Verbrechens, nämlich der Hehlerei, bezichtige, für das sie tatsächlich mit Gefängnis bestraft werden müßte. Und August gibt die bezeichnende Erklärung ab: »Vielleicht will sie ins Gefängnis, damit ich weiß, daß sie mir treu bleibt.« Der Vorsitzende: »Wie lange sind sie miteinander verlobt?« – »Seit sechs Jahren.« – »Werden Sie ihn denn heiraten? Vermutlich wird er doch auf längere Zeit ins Gefängnis kommen.« Und die Braut unter Tränen: »Ich liebe diesen Mann und ich werde ihn trotzdem heiraten.« Bruder Franz ist der einzig anständige unter den Brüdern. Er betreibt sein ehrliches Handwerk und tritt nur in einer kurzen Rolle als Zeuge auf. Aber es wird viel von ihm gesprochen: seine vier Brüder und das Mädchen sprechen nur mit Haß von ihm. Sie halten ihn für einen schlechten Charakter.

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Zwischen der Anklagebank und dem Zuschauerraum geht es mit Blicken, Winken und Flüstern hin und her. Nicht weniger als drei Polizeibeamte zwischen und neben den Angeklagten passen auf. Die vier Brüder, wenn sie nicht von den Erregungen der Verhandlung gepackt werden, tragen eine fröhliche Sicherheit zur Schau. Bald der eine, bald der andere bittet um die Erlaubnis, hinausgeführt zu werden, und erhält sie zugebilligt. Sie genießen alle Ehren der schweren Jungen. Inquit 16.8.1928

Eine unbeglaubigte Frau Wenn man der Baronin glauben darf, so ist es ihr folgendermaßen ergangen: Geboren ist sie in der alten österreichischen Monarchie, in einem Ort, der jetzt zur Tschechoslowakei gehört. Gelernt hat sie Zahnheilkunde. Kurz vor dem Kriege ist sie von einem russischen Baron geheiratet und damit Russin geworden. Der Kriegsausbruch überraschte sie, sie nahm Wohnung in Breslau, praktizierte dort und siedelte später nach Berlin über. Kurz vor der Revolution wurde sie auf die Polizei geladen, und zwar auf das Polizeirevier am Michaelskirchplatz, und nach ihren Papieren gefragt. Sie wies einen zaristischen Paß und die Heiratsurkunde vor. Die Polizei behauptete, dieser Paß gelte jetzt nicht mehr; sie möge ihn dalassen, man würde ihr die richtigen Papiere zustellen. Dann hörte sie von ihrer Angelegenheit nichts mehr bis 1925. Wieder forderte die Polizei ihre Papiere ein; sie berief sich darauf, daß sie ihr von der Polizei abgenommen worden seien, es stellte sich heraus, daß die damals abgenommenen Papiere ins Polizeipräsidium geschafft und dort in den Revolutionstagen verlorengegangen waren. So erzählt die Baronin. Nunmehr wurde ihr auferlegt, sich neue Papiere zu beschaffen, und sie wandte sich an alle erreichbaren Stellen. Ihre Heimatbehörde lehnte ab, weil sie durch Heirat Russin geworden sei. Die Flüchtlingsstelle erklärte sich für unzuständig, weil sie schon vor dem Kriege in Deutschland gewesen sei. Die russische Botschaft tat für die Baronin und Emigrantin erst recht nichts. Und so noch ein paar andere Stellen.

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Schließlich wurde Anzeige erstattet, und die Baronin stand vor dem Schöffengericht Berlin-Wedding wegen Paßvergehens. Da sie aber ihre Bemühungen um einen Personalausweis nachweisen konnte, so wurde sie freigesprochen. Der Staatsanwalt legte Berufung ein, und die Ferienstrafkammer des Landgerichts III verurteilte sie. Sie verurteilte milde, nämlich zu 50 Mark Geldstrafe, zahlbar in Raten von einem gewissen Zeitpunkt ab, von dem an sie voraussichtlich wieder Beschäftigung als Zahntechnikerin haben wird. Indes bei aller Schonung ist sie doch für den Mangel an Papieren, die sie sich nicht beschaffen kann, bestraft worden. Die Baronin gab sich vor dem Berufungsgericht die größte Mühe, zu beweisen, daß sie es an Versuchen, zu gesetzmäßigen Papieren zu gelangen, nicht hatte fehlen lassen. In gleichem Maße gab sich der Vorsitzende Mühe, ihr klarzumachen, daß es darauf nicht ankomme, daß es vielmehr nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts genüge, wenn eine Ausländerin keine ordnungsgemäßen Papiere habe und dennoch in Deutschland verbleibe. Die Baronin sei zugegebenermaßen Ausländerin, habe keine Papiere und weile noch immer in Deutschland; sie sei folglich zu bestrafen. Sehr schön. Bleibt nur noch die Frage, was jetzt weiter geschehen soll. Ihre Lage ist nämlich nicht nur so, daß sie sich keine Papiere beschaffen kann, sie darf auch Deutschland nicht verlassen. Denn an welcher Stelle sie Deutschland auch verlassen wollte, sie käme immer in einen anderen Staat, der ebenfalls Papiere von ihr verlangte und sie ohne Ausweis nicht hineinließe. Sie müßte sich gerade in ein Boot setzen und künftig auf dem Meere herumtreiben. Sie wird also weiter in Deutschland bleiben und weiter keine Papiere haben. Wird sie also immer weiter bestraft werden? Oder gilt die jetzt verhängte Strafe ein für allemal? Freilich behauptet die Polizei, die Baronin wäre nie verheiratet gewesen und folglich auch keine Russin. Wahr ist, daß sie einmal wegen Betruges mit Gefängnis bestraft wurde. Wenn man der Baronin glauben darf, so ist diese Verurteilung die Folge eines beklagenswerten Mißverständnisses, wie sie denn überhaupt, nach ihren Erzählungen, von Unglücksfällen, falschen Verdächtigungen und unschuldig erlittenen Strafen förmlich verfolgt wird. Wahr ist auch, daß sie einmal nach langer Untersuchungshaft von einer Anklage wegen Betruges freigesprochen wurde. Entweder die Baronin ist eine hysterische Betrügerin oder eine verfolgte und verkannte Unschuld, eines von beiden. Vielleicht also hat sie tatsächlich den Baron nicht geheiratet und vielleicht ist diese Geschichte ebenso Schwindel wie die Geschichte von dem

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verlorenen großen Vermögen, von der gestohlenen dreifachen Perlenkette und dem ebenfalls gestohlenen Pelzmantel. Vielleicht. Aber dann soll die Polizei diese Frage zur Entscheidung bringen und die Folgen daraus ziehen. Aber sie deswegen bestrafen, weil die Behörden mit ihrem Fall nicht fertig werden – dafür hat der zuschauende Staatsbürger kein Verständnis. Inquit 18.8.1928

Reinhardts Page Gedenken Sie, Max Reinhardt3, bisweilen noch Ihrer direktorialen Anfänge? Mit Schall und Rauch in einem Theater Unter den Linden, das eigentlich gar kein Theater war, sondern ein Saal für Hochzeiten?4 Was ist inzwischen aus Ihnen geworden?! Professor und Schloßherr, von dem Weltruhm ganz zu schweigen. Und erinnern Sie sich auch noch, daß vor Ihrem Theaterchen ein Page gestanden hat, mit Schnüren auf der Brust, namens Willy? Wahrscheinlich erinnern Sie sich seiner nicht mehr. Denn er war nur kurze Zeit Ihr Page, wenn auch Ihr erster. Er entdeckte nämlich, daß die Leute zu Ihnen strömten, und dachte sich, er könnte mehr verdienen, wenn er mit Billetts handelte. Und so etablierte er sich im Laden nebenan. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist? Gar nichts weiter. Er ist Billetthändler geblieben. Ein ordentlicher und braver Billetthändler, der den Beamten höflich entgegentritt und sich niemals unterfängt, ihnen Widerstand zu leisten. Nur während des Krieges unterbrach er seine Tätigkeit, zog ins Feld, wurde verwundet, war aber zu feinfühlig, um Renten zu beanspruchen. Jetzt ist er 25 Jahre lang selbständig. Er stellt es mit Stolz fest, aber auch mit Bekümmernis. Denn seine Selbständigkeit hat einen Haken: es ist ver3 Zu Max Reinhardt siehe Fußnote auf Seite 107. 4 1901 gründete Max Reinhardt das Kabarett »Schall und Rauch«, das in Armins Festsälen im Victoria-Hotel, Unter den Linden 44, auftrat.

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boten, mit Billetts zu handeln. Es wird zwar überall mit Billetts gehandelt, in großen Warenhäusern und kleinen Läden. Aber ohne Warenhaus oder Laden nur einfach vor den Theatern mit Billetts zu handeln, das ist streng verboten. Der ehemalige Page Willy begreift nicht, warum es verboten ist. In anderen Städten, zum Beispiel in Köln, Hamburg und Leipzig, so behauptet er, ist der Billetthandel konzessioniert. Außerdem fühlt er sich im Dienste einer kulturellen Mission. Denn, so stellt sich ihm die Sache dar, beschäftigte Direktoren oder Anwälte oder Aerzte können nicht stundenlang an der Kasse warten, sie können auch nicht über ihre Zeit acht Tage voraus disponieren. Sie wollen dahergefahren kommen, wenige Minuten vor Beginn, und ihre Billetts nehmen. Und sie bezahlen gern ein bißchen mehr, wenn ihnen dafür alle Umstände erspart bleiben. Weil es aber verboten ist, so hat Willy im Laufe der Jahre zwanzigmal Strafe zahlen oder Haft abbüßen müssen. Zuletzt ist er vor der Scala erwischt worden, und das soll ihn 300 Mark Strafe kosten. Das hat Willy denn doch ein bißchen happig gefunden und Berufung eingelegt. Der Vorsitzende befindet sich in nicht geringer Verlegenheit. Er möchte dem Manne gerecht werden, aber auch dem Paragraphen genüge tun. Ob Willy denn nicht eine andere Arbeit finden könne. Aber Willy findet keine andere Arbeit. Er hat die Wassersucht, und solche Sachen, wie Sand karren beim Bau der Untergrundbahn, scheiden ganz aus. Kontrolleur oder Hausdiener würde er gerne werden, aber wo er sich bewirbt, wird ihm vorgeworfen, er sei 25 Jahre selbständig gewesen und werde sich nichts sagen lassen wollen. Auf Unterstützung hat er keinen Anspruch. Und nach einer jener Städte auswandern, in denen es die Billetthändler besser haben, will er auch nicht, da er doch nun einmal Berliner ist. »Was sollen wir denn mit Ihnen machen?« fragt der Vorsitzende. »Sagen Sie doch selbst. Wir müssen Sie doch bestrafen.« Willy sieht das ein, aber er bittet um Milde. Der Staatsanwalt erhebt sich und führt mit Strenge aus: »Das geht nicht, daß der Angeklagte immer wieder mit Billetts handelt und die Strafen einfach einkalkuliert. Ich halte eine Geldstrafe von 300 Mark für angemessen und beantrage, die Berufung zu verwerfen.« Das Gericht berät und kehrt zurück. Wuchtig beginnt der Vorsitzende: »Der Billetthandel muß unterbunden werden.« Jeder einzelne im Saal hat die Empfindung, daß es die göttliche sowohl wie die menschliche Weltordnung so verlangt, trotzdem wohl niemand zu sagen wüßte, warum durchaus der Billetthandel unterbunden werden muß. »Aber«, fährt der Vorsitzende

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sanfter fort, »das Gericht verkennt nicht …« Und kurz und gut, die Strafe wird auf 75 Mark herabgesetzt. Willy bedankt sich und verläßt den Saal, indem er übermütig mit den Armen schlenkert. Offenbar hat er die 75 Mark schon einkalkuliert. Inquit 30.8.1928

Der schlechte Eindruck Er macht keinen guten Eindruck, dieser Angeklagte mit dem östlich gefärbten Deutsch und den lebhaften Handbewegungen. Sein dürftiges Körperchen scheint nicht einem erwachsenen Manne zu gehören, sondern einem unterernährten Kinde. Er hat kein Recht, sich hier aufzuhalten, und kehrt doch immer wieder hierher zurück. Leider lockt ihn in die Großstadt nur die Möglichkeit, unterzutauchen, und die Leichtigkeit, den Nebenmenschen zu begaunern. Freilich, vor der Gefahr, ergriffen zu werden, ist er auch hier nicht geschützt. Sein Register enthält eine lange Reihe von Vorstrafen, und sie verbessern nicht den schlechten Eindruck. Diesmal handelt es sich um Einbruchsdiebstahl. Bei der Schilderung des Tatortes bedient er sich der Wendung: »Es sah aus wie ein Schlachtfeld im Kriege.« Der Vorsitzende, mit der ironischen Ueberlegenheit des wohlgeratenen Staatsbürgers, der seine Verdienste hat und von sich weiß, daß er einen guten Eindruck macht, fragt: »Waren Sie denn im Kriege?« Und der kleine Mann aus dem Osten erwidert: »Der Krieg war bei uns.« Auch er spricht es mit ironischer Ueberlegenheit, mit seiner Art von Ueberlegenheit, indem er die Schultern hoch zieht, den Kopf neigt und lächelt. Dies aber will er dem Richter in der achtunggebietenden Robe zu verstehen geben: Ja ich war im Kriege, wenn auch nicht als Soldat. Aber es ging mir schlechter als den Soldaten. Denn ihr habt den Krieg zu uns gebracht, die wir den Frieden wollten und vom Glanz der Waffen uns nicht blenden

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ließen. Zwischen eurem Heer und dem russischen Heer habt ihr uns eingeklemmt, seid über uns hinweggestampft, hin, her, wieder hin, wieder her und noch einmal hin. Unsere Wohnstätten habt ihr verwüstet, unsere Existenzen zertreten, unsere Familien ausgerottet. Als es losging, war ich ein Knabe von vierzehn Jahren und träumte noch die Spiele meiner Jugend. Furchtbar weckte der Krieg mich auf. So enthüllte sich mir Europa und die Welt jenseits meiner Welt. Du darfst mich richten. Aber was weißt du schließlich vom Leben? Am Ende ist es nicht nur meine Schuld, daß du heute einen guten Eindruck machst und ich einen schlechten. Inquit 28.12.1928

Heereslieferungen Letztes Kriegsjahr. Etappe. Deutsches Generalgouvernement Warschau. Kleine Festung Modlin mit Proviantamt. An der Spitze dieses Amtes, mit dem Titel Inspektor, seit 1917 der Mann, der sich jetzt wegen schwerer Urkundenfälschung vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts BerlinMitte zu verantworten hat. Ein Proviantamtsinspektor im Kriege war nicht irgendeiner. Die Macht über das Eßbare umgab ihn mit einem Nimbus. Er beaufsichtigte eine Schar von Untergebenen. Und natürlich, er hatte seine Vorgesetzten. Vorgesetzt war ihm die Intendantur in Warschau. Diese hohe Behörde verkörperte sich für das Proviantamt Modlin in der Person eines gewissen Oberintendantursekretärs. Der hatte natürlich auch wieder seine Vorgesetzten. Aber praktisch hing Klappen und Blasen von ihm ab. Er schmiß die Sache. Der Oberintendantursekretär ist tot. Nichts Schlechtes über ihn! Indessen der Vorgänger des Angeklagten in der Leitung des Modliner Proviantamtes sagt von dem Verstorbenen aus, daß er nicht immer korrekt verfahren sei. Er befahl z. B. telephonisch, das Proviantamt hätte sechs Kisten Tee nach Warschau zu liefern. Es geschah, wurde gebucht und quittiert. Aber

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dann wusste die Intendantur nichts mehr davon. Der Tee blieb unverrechnet, bis auf den heutigen Tag. Vielleicht war dieser Oberintendantursekretär nicht nur der Vorgesetzte des Angeklagten; vielleicht haben sie sich auch sonst ganz gut verstanden. Genug, der Krieg war längst vorbei, Revolution und Inflation überwunden, der Angeklagte saß friedlich und bescheiden in seiner Heimatstadt Erlangen als Versicherungsagent, als er eines Tages zu dem Oberintendantursekretär nach Berlin eingeladen wurde. Für den war die Vergangenheit noch nicht ganz vorbei. Er saß vielmehr noch immer im Amte und wickelte ab. Dem Angeklagten kam die Einladung nicht ungelegen. Er wollte sowieso schon längst einmal nach Berlin und dort ein gewisses Wiedersehen feiern. Und kurz, er fuhr hin und ging zu seinem ehemaligen Vorgesetzten. Der erzählte ihm nun, es gäbe da bedauernswerte Polen, die im Kriege an die Deutsche Heeresleitung Waren geliefert hätten, denen das Reich aber noch Beträge schuldig geblieben wäre. Damit diese Leute zu ihrem Rechte kämen, brauchten sie den Nachweis der erfolgten Lieferung. Und also möchte der ehemalige Inspektor doch freundlichst schreiben, was der ehemalige Vorgesetzte ihm jetzt diktieren würde. Und er diktierte eine Bescheinigung über gelieferte 36 000 Kilogramm Nudeln, 10 000 Kilogramm Heringe, 5 000 Kilogramm Kaffee und 13 000 Stück Jutesäcke. Datum Modlin, den 12. November 1918. Gestempelt und unterschrieben mit dem Namen des Angeklagten und seinem früheren Titel als Proviantamtsinspektor. Auf Grund dieser und einer Reihe anderer falscher Bescheinigungen setzten die angeblichen Polen vor dem deutsch-polnischen Schiedsgericht in Paris ihre Ansprüche durch, und das Deutsche Reich mußte ihnen eine Summe von 150 000 Goldmark zahlen. Später kam man dahinter, daß da ein Konsortium darauf ausgegangen war, das Deutsche Reich zu prellen. Die Urheber werden im Ausland abgeurteilt werden. Aber den früheren Inspektor konnte sich das Vaterland selber langen und in Untersuchungshaft stecken. Daß die Bescheinigung nicht 1918 in Modlin, sondern 1924 in Berlin geschrieben worden ist, hat er inzwischen zugegeben. Daß dieser Haufen von eßbaren und damals ungeheuer seltenen Waren nach dem kleinen Etappenort geliefert worden sei, das will er seinem Vorgesetzten auf die noch nicht vergessene Autorität hin geglaubt haben. Und eine Bezahlung oder Belohnung seiner Gefälligkeit streitet er ab. Der Oberintendantursekretär hat vor seinem Tode die Rechtmäßigkeit der Ansprüche der Polen, die, wie man jetzt weiß, gar keine Polen sind, mit

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Enthusiasmus verteidigt und das Reich, das nicht zahlen wollte, mit Entrüstung gescholten. Aber er ist gestorben und kann zur Aufklärung nichts mehr beitragen. Und so begnügt sich das Gericht, dasjenige als bewiesen anzusehen, was nicht bestritten werden kann, und verurteilt den früheren Inspektor wegen einfacher Urkundenfälschung zu sechs Monaten Gefängnis, die durch die Untersuchungshaft verbüßt sind. Er darf gleich nach Erlangen abreisen. Mit Augen, die vor Verwunderung kugelrund erscheinen, hat er Anklage, Verhandlung und Urteil über sich ergehen lassen. Kennen denn diese Menschen den Krieg nicht? Sind sie nie in der Etappe gewesen? Man befahl, man gehorchte, man verstand sich, man schob, man bescheinigte, man verschleierte – und mit einem Male, 11 Jahre nach Kriegsende, soll das alles unerlaubt und strafwürdig sein? Wo es doch der Vorgesetzte, der Oberintendantursekretär, ebenso gemacht hat? Der arme Mann, der da nach Hause fährt, versteht die Welt nicht mehr. Inquit 9.5.1929

Wege der Liebe Bigamie hört sich verrucht an. Aber diese Sünde ist reizlos. Man hat von ihr viel Aerger und gar keinen Genuß. Wie könnte es auch anders sein, da sie sich im Grunde nur auf dem Papier abspielt? Ein paar Akten, ein paar Eintragungen, und die Sünde wäre nicht begangen worden. Ein Mann zog in den Krieg. Seine Frau wollte nicht dahinter bleiben und meldete sich zum Roten Kreuz. Während die Verlustlisten sich mit unzählbar vielen Namen füllten, betreute sie in Saarbrücken verwundete Soldaten. Sie ließ ihnen die Pflege ihrer Hände zuteil werden, solange sie darniederlagen, und wenn sie wieder zu Kräften kamen, und bis sie aus dem Lazarett entlassen wurden, wandte sie ihnen die Liebe ihres Herzens zu. Ohne Zweifel spendete sie viel Glück in den Jahren des großen Unglücks. Kameraden berichteten dem Manne, auf welche Weise seine Frau dem Vaterlande diente. Wer konnte den Wunsch haben, der schönen Samariterin

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Ungelegenheiten zu bereiten? Gewiß nicht solche, die Grund hatten, sich der freundlichen Schwester zu erinnern; sondern jene, bei denen sie sich auf die vorgeschriebene Krankenpflege beschränkt hatte. Der aufgescheuchte Ehemann sandte ihr einen Brief voller Vorwürfe und Ermahnungen, erhielt aber keine Antwort. Er schrieb noch ein paarmal; da sie aber hartnäckig schwieg, so nahm er das für ein Geständnis ihrer Schuld und schwieg auch seinerseits. Fortan hörten sie nichts mehr voneinander. Bis die Frau und frühere Krankenschwester, lange nach dem Ende des Krieges, ihn zu suchen begann, und da er verschollen blieb, ihn von Amts wegen für tot erklärt haben wollte. Da forschte man ernsthaft nach und stellte fest, daß er 1919 wegen eines Eigentumsvergehens bestraft worden war, daß er also mindestens den Krieg überlebt hatte. Und schließlich fand man ihn, in fester ehrlicher Arbeit und als Gatten einer Kriegerwitwe, die er 1924 geheiratet hatte. Ein Kind war auch schon da. Warum er sich von der ersten Frau, nachdem er ihre Untreue erfahren, nicht regulär hatte scheiden lassen, wollte der Vorsitzende wissen. Der Angeklagte meinte, daran wäre der Krieg schuld, der einen mit dem Verstand heruntergebracht hätte. Ob denn die erste Frau mit ihren Nachforschungen nicht verriete, daß sie sich nach ihm sehnte, wurde er weiter gefragt. Aber er behauptete, ihr käme es nur auf die Rente an. Das Gericht war überzeugt, daß er nicht aus verbrecherischer Neigung, sondern aus Unbedachtsamkeit gehandelt hatte. Es begnügte sich mit der Mindeststrafe von sechs Monaten Gefängnis, die er nicht zu verbüßen braucht, wenn er sich zwei Jahre lang gut führt. Er darf also in seinem Hause und bei seiner Arbeit bleiben. Wenn er freilich die erste Frau endgültig los sein will und die zweite Frau nach dem Gesetz zu heiraten gedenkt, so wird es ihn noch einige Mühe kosten. Aber er wird sie sich nicht verdrießen lassen, da kein Zweifel besteht, daß er diese zweite Frau, eine gute, runde Frau, mit Leidenschaft liebt. Denn warum sonst hätte er ihr die Geschichte mit der ersten Frau so töricht verschwiegen, wenn nicht aus Angst, sie würde ihn dann nicht nehmen? Liebe geht eben seltsame Wege. Inquit 13.7.1929

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Zehn Mark wöchentlich Der Margot geht es so: Sie ist nachtblind und schwachsichtig, über kurz oder lang wird sie das Augenlicht völlig verlieren. Sie hat ein Kind, das ihre Eltern großziehen; dafür ist sie selbst hinausgeworfen worden. Keine Möglichkeit, durch Arbeit etwas zu verdienen. Die Wohlfahrt unterstützt sie denn auch. Und zwar mit wieviel? Mit zehn Mark die Woche. Glücklicherweise steht sie nicht ganz allein, sondern sie hat einen Bräutigam. Einer, der wegen Diebstahls vielfach vorbestraft ist. Aber auf einen Grafen kann sie ja nicht warten. Leider vermag auch der Bräutigam nicht, ihr zu helfen. Er hat selber nichts. Aber eines Tages, als sie miteinander durch die Straßen schlenderten und über Margots Notlage sprachen, da fanden sie auf einer Bank sitzend einen Jugendfreund, und auch ihm erzählten sie von der Not. Und siehe da, der Jugendfreund wußte Rat. Er selbst arbeitete nur gelegentlich; denn er hatte sein leidliches Auskommen dadurch, daß er die Wohlfahrtspfleger besuchte und ihnen etwas vorschwindelte, worauf er dann eine größere oder kleinere Summe geschenkt bekam. Er beherrschte die Personalien und kannte die Eigentümlichkeiten der zuständigen Herren und riet Margot, zunächst den Wohlfahrtspfleger von Mariendorf anzugehen. Margot machte sich auf den Weg, während der Bräutigam und der Jugendfreund warteten. Als sie wiederkam, brachte sie 5 Mark mit, wovon sie 1 Mark dem Jugendfreund als Provision abgab. Alle waren sich einig, daß mit dem Rest von 4 Mark nichts anzufangen wäre, und daß Margot versuchen müßte, mehr zu bekommen. Der Jugendfreund schlug Südende vor. Aber der dortige Pfleger wäre so komisch, er verlangte was Schriftliches. Also mußte man was Schriftliches beschaffen. Der Bräutigam spendierte 10 Pfg. und holte aus dem nächsten Laden einen Briefbogen. Auf den schrieb der erfahrene Jugendfreund eine Bescheinigung, aus der hervorzugehen schien, daß Margot bei dem erfundenen Unterzeichner zur Miete wohnte und bis zur nächsten Lohnzahlung einen Vorschuß brauchte. Margot ging zum zweiten Mal, und die beiden Männer gingen gleich mit und warteten unten auf den Erfolg. Aber der Pfleger von Südende

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hatte schlechte Erfahrungen gemacht und schickte seine Frau recherchieren. Margot entfernte sich darauf zwar eilig; aber als die Frau zurückkehrte und ihrem Mann berichtete, den Unterzeichner der Bescheinigung gäbe es gar nicht, da lief er ihr nach, holte sie ein und ließ sie festnehmen. Der Freund und der Bräutigam gingen nun noch bis zur Polizeiwache mit, und dort wurden sie auch gleich festgenommen. Die Anklage lautete auf Betrug, gemeinsamen versuchten Betrug und Urkundenfälschung. Goldene Worte fielen in der Verhandlung. Der Jugendfreund äußerte: »Was soll ich machen? Auf mein ehrliches Gesicht hin gibt mir niemand was.« Margot berief sich darauf, daß der erste Pfleger, der ihr ohne Nachprüfung 5 Mark gegeben hatte, leichtsinnig verfahren wäre. Hätte er geprüft, so wäre ihr die Verwerflichkeit zum Bewußtsein gekommen, und sie hätte die zweite Sache nicht versucht. Der Bräutigam endlich bekannte: »Wenn das mit der Margot weiter so gegangen wäre, so hätte ich wieder gestohlen, um ihr zu helfen.« Urteil: zehn Monate Gefängnis, drei Jahre Ehrverlust für den Jugendfreund, je zwei Monate und zwei Wochen Gefängnis für Margot und ihren Bräutigam. Betrügerische Ausbeutung der Wohlfahrtspflege ist niederträchtig und muß mit allen Mitteln unterdrückt werden. Darüber sind wir uns einig, nicht wahr? Aber wie stellen wir uns dazu, daß Margot, die nichts hat und nichts verdient, von 10 Mark wöchentlich leben soll, während schon die Zimmermiete mindestens die Hälfte verschlingt? Und wenn es also unmöglich ist, davon zu leben, was soll sie machen? Und wer ist schließlich schuld an dem Betrug? Inquit 14.8.1929

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Hüben und drüben Weißenberg5 heißt der göttliche Meister, der von sich behauptet, oder von dem seine Anhänger behaupten, daß er Wunder tut, Tote aufweckt, Kranke heilt, der sich nicht scheut, für Rußland die Pest und für England den Untergang zu prophezeien, und der sich dadurch nicht beirren läßt, daß allem Anschein nach das russische Volk gesund weiterlebt und daß die englische Insel keineswegs von den Fluten verschlungen worden ist. Kursowsky hingegen heißt seine rechte Hand oder welche Funktion er sonst innerhalb der »evangelisch-johannischen Kirche nach der Offenbarung Johannis« ausüben mag. Im bürgerlichen Leben stellt sich die Sache etwas schlichter dar; er ist von Beruf, wie er angibt, Heilmagnetiseur, ferner Vorsitzender des Vorstandes der Johannischen Kirche, die auf Erden als Eingetragener Verein lebt, und endlich ehrenhalber Chefredakteur einer Wochenschrift, die von der Sekte herausgegeben wird unter dem Titel »Der weiße Berg«. Und eben als Chefredakteur hat er sich eine Anklage zugezogen, begangen durch zwei Aufsätze, in denen der Superintendent in Forst beleidigt wird, und deshalb stand er vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Berlin-Lichterfelde. In Forst in der Lausitz muß Meister Weißenberg, aus dem Inhalt der Aufsätze zu schließen, höchst tatkräftige Anhänger haben. Es muß dort zwischen der Sekte und der evangelischen Kirche zu einem Streit um die Benutzung des Gotteshauses gekommen sein und es müssen die Kirchenwahlen zum Austritt der Sektierer geführt haben. Es muß ferner im Verlaufe dieses Kampfes der dortige Superintendent einen Bericht haben erscheinen lassen über eine Protestversammlung gegen die Weißenberg-Sekte, der mit der Behauptung schloß, die Aerzte der Irrenanstalt Doldorf könnten bezeugen, daß Kranke aufgenommen worden seien, die durch Weißenbergs 5 Joseph Weißenberg (24.8.1855–6.3.1941) gründete 1926 in Berlin die Sekte »Evangelisch-Johannische Kirche der Offenbarung St. Johanni«. 1935 wurde die Sekte verboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in Deutschland zwei Zentren, das »St. MichaelsHeim« in West-Berlin und die Siedlung »Waldfrieden« in Blankensee, DDR.

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Einfluß ihren Verstand eingebüßt hätten. Es müssen dann ferner – dies alles ergibt sich aus den beiliegenden Aufsätzen – von den Weißenbergern in Forst Anstrengungen gemacht worden sein, den Superintendenten zum Wahrheitsbeweis oder zur Rücknahme seiner Behauptung zu veranlassen, und sie müssen damit keinen anderen Erfolg gehabt haben, als daß der Superintendent schwieg. Dieser Affäre nahm der Chefredakteur Kursowsky in seinem Blatte sich an und stellte sie dar mit Ausdrücken, die ohne Zweifel Beleidigung an Beleidigung reihen. Gefragt, ob er sich des beleidigenden Charakters seiner Worte bewußt wäre, erklärte er, nein, denn das wäre die richtige Antwort auf das Verhalten des Superintendenten. Und da er somit die Verfasserschaft zugab, durfte das Gericht auf eine Beweisaufnahme verzichten und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 500 Mark. Wir verstehen Herrn Weißenberg nicht. Wir verstehen seine Sekte nicht, die an Wunder glaubt, und gerade an Weißenbergs Wunder. Wir verstehen auch den Angeklagten Kursowsky nicht, der einen ruhigen und ehrenfesten Eindruck macht und nur von Verehrung für seinen Meister und für seine Sekte besessen ist. Es wirkt ein wenig beunruhigend, daß dergleichen sich hier und heute abspielt, und daß wir nichts davon verstehen. Aber wir dürfen davon überzeugt sein: der Angeklagte Kursowsky versteht uns und unser Treiben ebensowenig. Der Superintendent hatte behauptet, Weißenberg brächte die Leute ins Irrenhaus, und hat sich nicht die Mühe gegeben, es zu beweisen. Er war zwar auf dem Gericht anwesend, aber er wurde gar nicht gefragt. Und der Angeklagte wurde zwar allerlei gefragt und dringend ermuntert zu reden, aber nicht nach dem, was ihm am Herzen lag, nämlich der unbewiesenen Verdächtigung des Superintendenten. Kein Zweifel: unsere Welt, von jenen aus betrachtet, sieht nicht um Haar vernünftiger aus als ihre Welt, von uns aus betrachtet. Inquit 7.9.1929

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Der Bruderkuß Der Angeklagte, von Beruf Kanalarbeiter, hat die Neigung, wenn er in Streit gerät, zu beißen. Er nennt dieses Kampfmittel einen Bruderkuß. Dem letzten Gegner biß er ein Stück Ohr ab. Das Schöffengericht Charlottenburg bestrafte ihn dafür mit 6 Monaten Gefängnis, wegen schwerer Körperverletzung, bei Zubilligung mildernder Umstände. Abstoßend die Körperverletzung, bemerkenswert dagegen die mildernden Umstände. Nämlich mit dem Beschädigten, einem Arbeiter und Vereinsbruder, hatte er schon früher Streit. Damals drehte er, stämmig und muskelstark wie er ist, dem hageren und schwächlichen Kameraden den Daumen um. Eines Abends jedoch kam er, durch Alkohol heiter gestimmt und auch sonst zu Frieden geneigt, in das Stammlokal und fand im Vereinszimmer unter anderen Brüdern und Schwestern auf dem Sofa sitzend den alten Widersacher. Der Reihe nach tauschte er Begrüßungen und streckte auch jenem die Hand hin. Aber der wollte nicht. Erst als die Tischgesellschaft ihm zuredete, entschloß er sich, in die dargebotene Hand einzuschlagen. Sogleich aber riß er seine Hand zurück; denn, so behauptete er vor Gericht, der Kanalarbeiter packte mit kräftigem Drucke zu und suchte eine seiner schmerzhaften Liebkosungen anzubringen. Vielleicht indessen war es nur die Furcht vor den Muskeln des anderen, die ihm vorgaukelte, er befände sich schon mitten in der Gefahr. Der Kanalarbeiter jedenfalls bestritt vor Gericht, daß er etwas anderes gewollt und vollzogen hätte als ein herzhaftes Händeschütteln zur Bestätigung des Friedensschlusses. Er verließ das Zimmer und stellte sich an den Schanktisch. Und dort offenbar begann die erlittene Abweisung in ihm zu wühlen und zu bohren, und als er zu den anderen zurückkehrte, da hatte der Zorn über die vergebliche Werbung sein Herz übermannt, und aus dem Wunsche nach Aussöhnung war neue Streitlust geworden. Er packte den blonden Schwächling, zog ihn vom Sofa und begann mit ihm jene Prügelei, in deren Verlauf er ihn so entstellend verletzte. Gewalttätig nennt ihn das Urteil und seine Tat roh. Beides mit Recht. Aber das heißt nicht, daß es ihm, mit Kleist zu reden, an den »lieblichen

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Gefühlen« fehlt. Sie leben in ihm, so gut wie in einem lyrischen Poeten, und er ist an dieser Stelle offenbar besonders schmerzempfindlich. Seine Enttäuschungen explodieren in Gewalttaten. Aber wenn er von ihnen als von Bruderküssen zu reden liebt, so ist das vielleicht nur zum Teil Hohn, zum Teil mögen sich unerfüllte Wünsche verraten. Sind doch die gewalttätigen Menschen nicht leichter zu durchschauen als die Menschen überhaupt. Inquit 12.9.1929

Vernehmung Vorsitzender: Was wissen Sie zur Sache? Zeuge: Offen gestanden, Herr Vorsitzender, ich weiß fast gar nichts. Vorsitzender: Fast gar nichts – also wissen Sie doch etwas. Es handelt sich hier um den Einbruch im Februar 1928, bei dem ein großer Posten Uhren erbeutet wurde. Erzählen Sie mal, was Sie an diesem Tage erlebt haben. Zeuge: Ich habe mir mit Frau Sodka einen Bierabend gestattet. Vorsitzender: Woher kannten Sie Frau Sodka? Zeuge: Das kommt daher, daß ich Malermeister bin. Ich habe ihre Wohnung neu gestrichen. Seitdem bin ich mit ihr befreundet. Vorsitzender: Wie kam es zu diesem Ausgang? Zeuge: Wenn ich offen sein soll, Herr Vorsitzender, es kam daher, daß meine Frau von der Leiter gefallen war und ins Krankenhaus geschafft werden mußte. Und weil ich darüber ganz kopflos war, ging ich zu Frau Sodka und blieb eine Stunde bei ihr. Und dann schlug ich vor, zusammen einen Bierabend zu machen. Vorsitzender: Haben Sie bei Frau Sodka an jenem Abend den Angeklagten getroffen? Zeuge: Möglich ist es. Vorsitzender: Wieso ist es möglich? Haben Sie ihn gesehen? Zeuge: Nein, gesehen habe ich ihn nicht.

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Vorsitzender: Haben Sie ihn gehört? Zeuge: Nein, gehört habe ich ihn auch nicht. Vorsitzender: Hat Frau Sodka Ihnen erzählt, daß der Angeklagte sich bei ihr befinde? Zeuge: Nein, erzählt hat sie mir auch nichts. Vorsitzender: Wie kommen Sie darauf, zu sagen, es sei möglich, daß der Angeklagte sich dort befunden habe? Zeuge: Man kann doch so was nicht genau wissen. Vorsitzender: Wie groß ist denn die Wohnung? Zeuge: Ein Zimmer. Vorsitzender: Gibt es noch andere Räume außer diesem einen Zimmer? Zeuge: Nein, es ist bloß dieses eine Zimmer. Vorsitzender: Wenn Sie ihn also in diesem einen Zimmer nicht gesehen und nicht gehört haben, und Ihnen von Frau Sodka auch nichts gesagt worden ist, wieso kann er dann doch da gewesen sein? Zeuge: Vielleicht ist er nicht dagewesen. Vorsitzender: Sie haben aber doch vorhin auf meine Frage, ob er dagewesen sei, geantwortet, es sei möglich? Zeuge: Möglich ist es ja. Man kann so etwas nicht genau wissen. Vorsitzender: Ja, mein Gott, glauben Sie denn, er hat im Bett gelegen? Zeuge: Herr Vorsitzender, das weiß ich nicht. Vorsitzender: Halten Sie es denn für möglich? Zeuge: Möglich ist es ja. Vorsitzender: War denn das Bett aufgedeckt? Zeuge: Das Bett ist immer zugedeckt. Vorsitzender: Glauben Sie denn, daß der Angeklagte in dem Bett gelegen und sich die Decke über den Kopf gezogen haben kann? Zeuge: Herr Vorsitzender, das weiß ich nicht. Vorsitzender: Halten Sie es denn für möglich? Zeuge: Möglich ist es ja … Inquit 13.9.1929

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Der schuldige Teil Ehescheidungskammer. Gewimmel im Hintergrund, herzloser Betrieb vor dem Tisch der Richter. Eine Ehe nach der andern rollt heran wie auf dem laufenden Band, wird mit wenigen juristischen Handgriffen bearbeitet und rollt wieder von dannen. Jede dieser Ehen ist in Hoffnung und Liebe geschlossen worden; nun geht sie in Haß und Enttäuschung unter. Was sich zwischen den Gatten in unbeobachteten Tagen und Nächten abgespielt hat, das läßt sich mit dem groben Werkzeug der Juristerei nicht fassen. Das geheimnisvolle Flechtwerk aus Glück und Schmerz wird zerstampft zu der plumpen Frage nach dem schuldigen Teil. Denn der Schuldige muß zahlen.6 Ein alter Mann tritt als Beklagter neben seinen Anwalt. Hinter ihrem Anwalt steht als Klägerin die jüngere Frau. Der beklagte Mann lacht. Eine Matrone von über 70 Jahren soll als Zeugin darüber aussagen, ob sie mit dem Manne Arm in Arm gesehen worden sein kann. Sie bestreitet, sie kennt ihn gar nicht. Eine Nachbarin, plump und fett, wird darüber vernommen, ob sie den Mann mit dieser Frau gesehen habe. Sie behauptet ihn gesehen zu haben, aber sie weiß nicht, ob es diese Frau war. Die Sache wird vertagt. Der Mann lacht, die Frau steht hilflos. Ein solides Ehepaar, noch nicht alt, aber längst nicht mehr jung, tritt an die Pulte des Klägers und des Beklagten. Der Mann legt eine Karte vor, in der jemand an seine Frau geschrieben hat mit der Anrede »Liebe Tante« und der Unterschrift »Es grüßt Dich herzlich«, worin er um ein Telefonat ersucht. Der Mann hält das Dokument für einen Beweis ehebrecherischer Beziehungen seiner Frau. Die Frau klärt die Karte dahin auf, daß der Schreiber ihr Zögling gewesen sei, als sie bei seinen Eltern in Stellung war, 6 Im Ehescheidungsrecht (§ 1565–1567 BGB 1900) galt das Verschuldungsprinzip. Scheidungsgründe waren: Ehebruch, Vernachlässigung, bösliches Verlassen. Der Zerrüttungsgedanke war im Scheidungsrecht auch schon vorhanden, doch auch hier wurden schwere Verletzungen ehelicher Pflichten oder ehrloses und unsittliches Verhalten vorausgesetzt (§ 1568 BGB 1900).

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und daß er die kindliche Anhänglichkeit in seine erwachsenen Jahre mitgenommen habe. Die Sache wird vertagt, die Eheleute gehen, ohne einen Blick für einander. Ein blonder junger Mann tritt auf, Arbeiter, mit Sorgfalt gekleidet, das weiße Tuch in der linken Brusttasche. Er steht zwischen den Anwälten der Parteien, die Eheleute selbst, deren Sache verhandelt wird, sind nicht zur Stelle. Er soll auf die Frage antworten, ob er unerlaubte Beziehungen zu der Ehefrau unterhalten hat. Er verweigert die Aussage. Erkannt und verkündet: Die Ehe – der Abwesenden – wird geschieden. Schuldiger Teil ist die Frau. Ein junges Ehepaar, er und sie mit ihren Anwälten. Ein Zeuge bekundet, er sei mit ihr ausgegangen, habe sich mit ihr geduzt und sie auch geküßt. Die Ehefrau wird gefragt, ob es sich so verhalte, sie verweigert die Aussage. Aber der Mann, fügt sie hinzu, hat von den Beziehungen gewußt und mitangesehen, wie sie vom Zeugen geküßt worden sei. Er habe dasselbe mit einem Mädchen getrieben, er habe auch die Billetts besorgt, auf die hin sie mit ihrem Freunde und er mit seiner Freundin ins Theater gegangen seien. Die Freundin wird hereingerufen. Sie verweigert die Aussage. Der Mann erweitert die Klage auf Ehebruch der Frau. Die Frau ruft unbesonnen dazwischen: »Er hat es ja ebenso gemacht.« Erkannt und verkündet: die Ehe wird geschieden. Beide Teile sind schuldig. Die Kosten werden gegeneinander aufgewogen. Zahlen müssen, das heißt hier Sieg; nicht zu zahlen brauchen, das bedeutet Niederlage. Das Band, das zwei Menschen fürs Leben verknüpfen sollte, zerreißt wie Zunder. Kein Gefühl wird mehr angerührt. Hoffnung und Liebe sind abgestorben. Inquit 18.9.1929

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Enttäuschungen Schon auf dem Korridor erregt der Mann Aufsehen, und zwar durch seinen Turban. Es ist nicht eigentlich ein Turban, was er da auf dem Kopfe trägt, es ist eine turbanartige Bedeckung aus einem pelzähnlichen Stoff, jedoch nicht gewickelt wie echte Turbane, sondern genäht. Es ist ein Kleidungsstück, das sich zu einem echten Turban verhält wie eine konfektionierte Krawatte zu einer gebundenen Krawatte. Unter dem seltsamen Requisit aus Tausendundeinernacht wird ein kleines, mageres Männlein sichtbar, mit den verwirrten Augen eines Fanatikers, und einem dünnen Schnurrbart, wie man ihn bei Völkerschaften sieht, die mit den Mongolen verwandt sind, übrigens in europäischer Kleidung. Man könnte ihn etwa für einen Kirgisen oder Tungusen oder Kalmücken halten, wenn es dergleichen gibt. Was mag mit ihm sein? Da wird eine neue Sache aufgerufen. Im Schwarm betritt er den Saal, und siehe da, er nimmt auf der Anklagebank Platz. Er ist selbst der Angeklagte, neben einem anderen Angeklagten. Dieser andere ist von Beruf Filmschauspieler. Was wird also erst der rätselhafte Mann mit dem Turban sein! Erste Enttäuschung: Der rätselhafte Mann mit dem Turban heißt Müller. Zweite Enttäuschung: Herr Müller spricht berlinisch. Dritte Enttäuschung: Herr Müller ist verheiratet und Vater von Kindern, denen er, wenn sie Hunger haben, ein paar Stullen abschneidet. Vierte Enttäuschung: Herr Müller verfügt über ein Vertiko, in dem seine Papiere aufbewahrt werden, und zwar sein Mietskontrakt und die polizeiliche Anmeldung. Auf ungeklärte Weise sind sie daraus verschwunden und in die Hände des mitangeklagten Filmschauspielers gelangt, der sie zu einem Schwindel mit Fahrrädern benutzt hat. Daraufhin ist Herr Müller mit unter Anklage gestellt worden. Fünfte Enttäuschung: Der seltsame Mann, der auf dem Korridor so aussah wie ein Sendbote Asiens, vor dem die Völker Europas ihre heiligsten Güter wahren müßten, wird freigesprochen.

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Sechste Enttäuschung: Der Turban ist gar kein Turban, sondern ein Schutz gegen Kopfverletzungen bei plötzlichem Hinschlagen. Der Mann hat nämlich aus schwerer Verschüttung im Felde die Epilepsie zurückbehalten. Der Turban ist ein Fallhütchen. So herumlaufen müssen, sogar als Angeklagter vor Gericht, das Ding auf dem Kopf behalten dürfen – am Ende ist das noch seltsamer, als wirklich aus Asien stammen und zu den mongolischen Völkerschaften gehören. Inquit 22.9.1929

Der soziale Staat »Wir halten unsere Proben ab. Wenn uns jemand haben will, dann spielen wir auf; wenn nicht, dann bleiben wir zu Hause.« So äußert sich vor der Strafkammer des Landgerichts I ein behäbiger Mann, der im Dienste der edlen Frau Musica steht. Er hat gut reden; denn nicht nur, daß er sein Instrument meistert, er betreibt auch eine Gastwirtschaft und ist nicht darauf angewiesen, daß jemand ihn zum Aufspielen haben will. Aber nicht allen Musikanten geht es so gut. Andere spielen um des lieben Brotes willen, und wenn sie nicht spielen dürfen, so verdienen sie nichts und müssen stempeln gehen oder hungern. Es sind schlechte Zeiten, auch unter den Musikern herrscht Arbeitslosigkeit. Freilich haben vorsorgliche Menschen Arbeitsvermittlungen eingerichtet, bei der Stadt und bei den Verbänden. Aber das Angebot übersteigt bei weitem die Nachfrage, dazu kommt gerade bei den Musikern eine unselige Zersplitterung, die bewirkt, daß Vakanzen nicht an eine Zentrale gemeldet werden, sondern an viele Stellen, die voneinander nichts wissen. Und kurz, wer Glück hat, bekommt beim Arbeitsnachweis einen Posten zugewiesen. Rechnen kann man nicht darauf. Gott sei Dank, daß die Musiker, auch wenn sie keiner Organisation angehören, ihren Zusammenhalt haben. Sie treffen sich in einem Lokal,

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und zwar nach der Ueberlieferung im »Alten Dessauer«. Der ist ein paarmal umgezogen, jetzt haust er in der Kleinen Hamburger Straße. Auf einem Schilde werden mit dem Worte »Musikerverkehr« die Interessenten aufmerksam gemacht, und damit sie wissen, daß der neue Wirt die Erbschaft des bekannten Treffpunktes angetreten hat, so steht ferner zu lesen: »Original Alter Dessauer.« Diese Maßnahmen haben denn auch bewirkt, daß die Musiker kommen, ihrer hundert oder hundertfünfzig täglich, der Restaurationsbetrieb ist im Schwunge, aber Geld wird nicht gescheffelt; denn nicht wenige der arbeitslosen Musikanten begnügen sich mit einer Tasse Kaffee, und wenn einer gar nichts verzehrt, so muß sich der Wirt auch zufrieden geben. Die Gäste untereinander tauschen ihre Sorgen aus, helfen sich mit Rat, dann und wann auch mit der Tat, und bisweilen erhält einer so im persönlichen Verkehr mit den Kollegen Arbeit. Es kommt vor, daß einer ein Engagement abschließt für eine Kapelle von sechs Mann. Er selbst spielt etwa Klavier. Die anderen Instrumente sucht er sich im Alten Dessauer zusammen, auf Grund seiner Bekanntschaften oder auch auf Grund von Empfehlungen. Er braucht nicht einmal hinzugehen; es genügt, daß er telefoniert. Meist meldet sich der Wirt. Er hört: »Ist vielleicht Herr Schulze da?« Nein, Herr Schulze ist nicht da. »Ist vielleicht ein Posaunenbläser da?« Der Wirt ruft die Frage ins Lokal, der Posaunenbläser, wenn einer da ist, geht an den Apparat und verhandelt. Manchmal schließt er ab. Strafrechtlich gesprochen: Unerlaubte, gewerbsmäßige Stellenvermittlung. Anklage gegen den Wirt. In erster Instanz: Freispruch. Berufung der Staatsanwaltschaft. Neue Verhandlung. Der Wirt sagt: er stelle das Lokal zur Verfügung, er stelle gegen übliche Gebühr das Telefon zur Verfügung; er wisse, daß Musiker bei ihm verkehren, er suche sie herbeizuziehen; er vermute, daß einer dem anderen Vakanzen mitteile. Aber im übrigen gehe es ihn nichts an, was seine Gäste reden und verhandeln. Wie könne er es ihnen verbieten? Er müßte ihnen geradezu das Telefon sperren und sie aus dem Lokal weisen. Die Musiker sagen: Sie hätten dort ihr Wesen miteinander, sie besetzen dort ihre freien Posten oder suchen Arbeit, weil die offiziellen Vermittlungen nicht ausreichen. Das Arbeitsamt aber sagt, durch drei Vertreter, einer immer dem anderen übergeordnet, voll Empörung und Würde: Es sei dazu da, um darüber zu wachen, daß es keine illegalen Stellenvermittlungen gebe. Die konzessionierten werden noch geduldet bis 1930. Dann schlage auch ihnen das letzte

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Halle im alten Kriminalgericht Moabit; 1932.

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Stündlein. Von da ab werde es nur noch die Vermittlungen der Behörde und der Verbände geben. Von dem Alten Dessauer sei dem Arbeitsamt bekannt, daß Musiker dort Stellungen finden. Das sei strafbar. Wer müsse bestraft werden? Der Wirt. Den Wirt spricht auch die Berufungsinstanz frei. Die Funktionäre des Arbeitsamts gehen von dannen einer hinter dem anderen, nach dem Range. Sie denken über den Fall nach und scheinen sich geschlagen zu fühlen. Vielleicht sagen sie sich: Der Staat ist zu loben, der dafür sorgt, daß seinen Bürgern Arbeit vermittelt wird. Der Staat hat gewisse Erfahrungen gesammelt, auf Grund deren er nicht mehr gestattet, daß die Arbeit im freien oder konzessionspflichtigen Gewerbe vermittelt wird, sondern die Sache selbst in die Hand nimmt. So gehört es sich für einen sozial gesonnenen Staat. Man muß ihn darin unterstützen. Vielleicht sagen die drei Funktionäre sich das. Vielleicht aber müßten sie sich außerdem noch sagen: Jede Organisation läuft Gefahr, Selbstzweck zu werden. Daß die staatliche Arbeitsvermittlung funktioniert, darauf pfeifen die armen Musikanten. Sie wünschen Arbeit zu finden, und es ist ihnen gleichgültig, wo und durch wen. Inquit 8.11.1929

»So leid es mir tut« Bei dem frommen, verehrungswürdigen und hochangesehenen Rabbiner war eingebrochen worden, von Genossen seines Glaubens, am hohen Feiertage. Weder die Heiligkeit des Festes noch die Glaubensgenossenschaft hatte ihn geschützt; im Gegenteil, der Täter, oder die Täter, hatten Kenntnis des Tages und seiner Bräuche dazu benutzt, um in Abwesenheit aller Hausbewohner den Diebstahl ungestört auszuführen. Sofern der Einbruchsdiebstahl von einem einzigen Halunken ausgeführt worden ist, hat er seine Sühne gefunden. Dieser eine, mit Vornamen Josef, ist ergriffen und verurteilt worden und büßt gerade seine Strafe ab. Als er selbst als Angeklagter vor Gericht stand, behauptete er, einen Komplicen zu haben. Den Namen verschwieg er. Man konnte ihm damals nachweisen,

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daß der Einbruch so, wie er es darstellte, jedenfalls nicht vor sich gegangen sein konnte. Aber aus dem Gefängnis richtete er an die Staatsanwaltschaft einen Brief, in dem er behauptete, er hätte erfahren, sein Komplice hielte sich jetzt in Berlin auf, und er wollte daher seinen Namen nennen. Er hieße mit Vornamen Süskind. Er fügte Einzelheiten hinzu, durch die seine Anzeige bewiesen werden sollte. Süskind befand sich in der Tat in Berlin. Er saß im Zuchthaus wegen schweren Einbruchsdiebstahls, den er seinerseits mit einem Komplicen ausgeführt hatte. Wegen des Einbruchs, dessen ihn Josef bezichtigte, mußte er sich nun gestern verantworten. Allein dieses Verbrechen leugnete er glattweg. Er müßte das Opfer eines Racheaktes sein, weil er »draußen« in dem Rufe stünde, der Polizei Spitzeldienst zu leisten. Man holte also aus der Haft den Briefschreiber selbst herbei. Und siehe da, in seiner Eigenschaft als Zeuge gab er zu, den Angeklagten falsch bezichtigt zu haben, aus Rache, weil auch er ihn für einen Spitzel gehalten hätte. Man holte noch einen dritten Bekannten aus dem Gefängnis, und von ihm erfuhr man, wie der Klatsch von den Spitzeldiensten durch einen Genossen, der inzwischen über die Grenze abgeschoben worden ist, aufgebracht und seinen Weg bis zum Josef gefunden hat. Das Gericht hielt danach für erwiesen, daß der Angeklagte für den Einbruch, den der Josef bei dem Rabbiner ausgeführt hatte, nicht verantwortlich gemacht werden könnte, und sprach ihn auf Kosten des Verleumders frei. Schon der Staatsanwalt hatte Freisprechung beantragt, nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern nur aus Mangel an Beweisen. Aber er machte in seinem Plädoyer eine seltsame Einschränkung. Er schickte nämlich dem Antrag auf Freisprechung die Bemerkung voran: »So leid es mir tut«. Inquit 28.11.1929

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Theater Von vorne gesehen treiben im Großen Schauspielhaus die drei Musketiere ihr romantisches Wesen, umringt von kriegerischen Männern und schönen Frauen, von pompösen Aufzügen, strahlenden Lichteffekten und jubilierender Musik, spielen, trinken und lieben, und stehen dabei treu zu ihrer Königin. Von hinten gesehen tun die Angestellten des Direktors Charell7 ihre abendliche Pflicht, die Prominenten mit den hohen Gagen und ausgehandelten Kontrakten, und die Kleinen, die von Tag zu Tag entlassen werden können und von der Gunst des Personalchefs abhängen. Von vorne gesehen zieht ein Trupp Landsknechte über die Bühne, in Brustpanzer und Beinschienen, das Schwert zur Seite, angeführt von einem Trompeter. Von hinten gesehen sind es gar keine Landsknechte, sondern Leute aus der Komparserie, die ihr bescheidenes Brot verdienen. Und auch der anführende Trompeter ist weder Anführer noch Trompeter, sondern ein schmächtiger junger Mann, der schon ein paar Krankheiten durchgemacht hat. Von hinten gesehen erwartet er mit den Seinigen auf einer Treppe, die zur Bühne hinunterführt, das Stichwort. Denn wenn er den rechten Augenblick verpaßt, so wird, wie der Bühnenarbeiter sich ausdrückt, »das Bild versaut«. Von hinten gesehen tritt er aber mit seinem Stichwort nicht an, sondern zögert, und zwar deshalb, weil der Gazevorhang nicht hochgehen will. Und als er schließlich funktioniert, gibt der Mann, der die Verantwortung für das exakte Arbeiten der umständlichen Maschinerie trägt und den Titel Bühnenregisseur führt, ihm mit dem Fuß einen Schubs und ruft: »Los,

7 Erik Charell – eigentlich Erich Karl Löwenberg – (8.4.1894–18.7.1974), Tänzer, Choreograph, Regisseur. 1924 übertrug ihm Max Reinhardt die Leitung des Großen Schauspielhauses  – später Friedrichstadtpalast. Dort inszenierte Charell sehr beliebte Ausstattungsrevuen. Nachdem sich das Genre überlebt hatte, wechselte er zu RevueOperetten und zum neuen Tonfilm. Unter seiner Regie traten u. a. Marlene Dietrich und Hans Albers auf. Nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten emigrierte Charell in die USA, nach Kriegsende kehrte er wieder nach Deutschland zurück.

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los!« Und der Trompeter führt eine schimmernde und rasselnde Abteilung über die Bühne. Der Anblick ist zum Entzücken, von vorne gesehen. Von hinten gesehen aber erklärt der Trompeter gleich nach seinem Auftritt, er könne nicht mehr; denn von dem Schubs mit dem Fuße sei er in die Knie geknickt und habe sich den Knauf seines Schwertes in den Leib gebohrt. Mit Mühe läßt er sich überreden, wenigstens seinen nächsten Auftritt noch mitzumachen, der ganz auf seinen Schultern ruht, weil er nämlich das Signal zu blasen hat. Dann aber fährt er fort zu lamentieren, bis der Portier, der Bühnenregisseur und der Direktor persönlich herbeiläuft. Man schafft ihn in die Charité; aber dort kann nichts anderes festgestellt werden, als daß er Schmerzen zu haben behauptet. Und auch alle künftigen ärztlichen Gutachten verzeichnen seine angeblichen Schmerzen, ohne aber einen Grund dafür finden zu können. Der Trompeter jedenfalls bleibt dabei, daß er infolge des Schubses an seiner Gesundheit geschädigt worden sei, und zeigt den Bühnenregisseur wegen Körperverletzung an. Der Einzelrichter beim Amtsgericht BerlinMitte spricht ihn frei, indem er sich darauf beruft, daß nach dem Zeugnis der Aerzte der Trompeter keinen Schaden davongetragen habe, und daß andererseits der Bühnenregisseur so verfahren sei, wie er verfahren mußte, um den Trompeter mit seinem Trupp zum sofortigen Antreten zu bewegen. Der schöne Schein und die rauhe Wirklichkeit. Aber bisweilen ist gerade das, was sich nicht vor Zuschauern abspielt, Theater. Inquit 20.2.1930

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Kein Scheidungsprozeß Es klingelte. Wer klingelte? Der Geldbriefträger? Ein Lieferant? Ein Gläubiger? Die Polizei? Nichts von alledem hatte die Dame am Vormittag in ihrer Wohnung zu erwarten. Es konnte nur der harmloseste Besuch sein, wahrscheinlich eine liebe Nachbarin aus dem Hause. Infolgedessen flüsterte sie erschrocken: »Nicht öffnen.« »Warum denn nicht?« fragte erstaunt der Herr, der sich bei ihr befand. »Nein, nein«, bat sie verzweifelt, »sie kennen diese Leute nicht mit ihrer Klatschsucht.« »Aber hier gibt es doch gar nichts zu klatschen. Sie lassen den Besuch ein, stellen mich vor, und alles ist in Ordnung.« »Um Gotteswillen nicht. Das glaubt mir kein Mensch. Man darf Sie nicht in der Wohnung finden.« Inzwischen hörte es nicht auf zu klingeln. Es schienen auch Leute sich vor der Tür anzusammeln. Die Dame aber fuhr fort, sich in Ausdrücken der Angst und der Ratlosigkeit zu ergehen, und schließlich ließ der Herr sich durch ihr Flehen bewegen, auf Zehenspitzen zur Hintertür hinauszuschleichen. Er fand sich auf einer steilen Wendeltreppe, fühlte sich höchst unbehaglich, schlich vorsichtig abwärts und sah sich, als er den Hof betrat, zwei robusten Männern gegenüber, die mit dem Rufe: »Da haben wir ja den Halunken!« auf ihn eindrangen. Nun wurde ihm die Sache zu bunt, er schlug um sich, riß sich los und lief davon. Aus diesem Abenteuer entsprangen zwei Prozesse. Zunächst mußte der Herr sich verantworten wegen der Ohrfeigen, die er ausgeteilt hatte, als die beiden Männer ihn stellen wollten. Das Gericht begnügte sich mit einer Geldstrafe von 20 Mark, indem es bedachte, daß er zu einer Gewalttat aufs höchste gereizt worden war. Ferner wurde der Mann angeklagt, der geklingelt hatte. Es ist nämlich sein Beruf, zu klingeln und dadurch festzustellen,

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ob die Bewohner sich zu Hause befinden. Als nicht geöffnet wurde, hielt er die Wohnung für unbewacht, und fuhr zunächst, vorsichtshalber, fort zu klingeln. Zu seinem Pech fiel der Unterbewohnerin auf, daß nicht geöffnet wurde, trotzdem sie Schritte über ihrem Haupte gehört hatte. Sie alarmierte die Nachbarn, und nachdem erst irrtümlich der Besucher für den Klingelfahrer gehalten worden war, erwischten sie am Ende den Richtigen. Er wurde wegen versuchten Einbruchdiebstahls mit drei Monaten Gefängnis bestraft. Nicht entwickelt hat sich, dem verdächtigen Besuch zum Trotz, die Scheidungsklage des Ehemannes gegen seine Frau. Er erklärte, zu jenen beiden Verhandlungen als Zeuge vernommen, daß er an der Harmlosigkeit des Besuches und an der Unschuld seiner Frau nicht zweifle. Der Herr, sein guter Freund, habe sich in geschäftlichen und persönlichen Schwierigkeiten befunden und sei berechtigt gewesen, sich mit der Frau seines Freundes zu besprechen. Er, der Ehemann, sei weit entfernt von so schmutzigen Verdächtigungen, wie seine Frau sie bei den Nachbarn voraussetzte. Sie hätte also, als es klingelte, ruhig öffnen sollen. Es war ein schwerer Fehler, nicht zu öffnen, und sie ist recht töricht verfahren. Dafür hat sich der Mann als ungewöhnlich klug erwiesen. Und wahrscheinlich genügt es für das Glück der Ehe, daß einer von beiden klug ist. Inquit 15.3.1930

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Der Weg des Todes »Es ist der Weg des Todes, den wir treten«, sagt Goethes Orest. Der Weg des Todes, wie mag er aussehen? Ganz anders, als Sie ihn sich vorstellen. Ein kleiner Büroangestellter in Wittenberge verheiratete sich auf die friedlichste Weise. Was könnte ein kleiner Büroangestellter in Wittenberge auch anderes tun? Und wenn Sie daran zweifeln sollten: jetzt, nach der Tragödie, leben er und seine Frau einträchtig beieinander. Der Pastor, der sie getraut hat, bestätigt es. Aber als er verlobt war, trat eine Krankenschwester in sein Leben, eine mit der Leidenschaft des Liebens. Ihr Reiz muß stark gewesen sein, da mehrere Männer über das Hemmnis eines leichten Hüftfehlers hinwegkamen. Von dem Büroangestellten ließ sie nicht mehr, trotzdem er verlobt war. Auch nicht, als er heiratete. Setzte im Gegenteil ihre Werbung fort, bis sie ihn dorthin gebracht hatte, wohin sie ihn haben wollte: zum Entschluß des gemeinsamen Sterbens. Sie fuhren von Wittenberge nach Berlin, unter Vorwänden, sie am Sonnabend, er am Sonntag, und bereiteten den Selbstmord mit gelassener Umsicht vor. Den Revolver brachte er mit. Für den Fall, daß die Schüsse nicht tödlich sein würden, steckte er eine Rasierklinge zu sich, sie zwei Operationsmesser. Zum Ueberfluß hatte sie noch Sublimat bei sich. Am Dienstag fuhren sie in den Grunewald, bei eintretender Dämmerung fanden sie die Einsamkeit, die sie brauchten. Sie legten sich ins Gras, er setzte ihr die Waffe an die Schläfe und drückte ab. Der Schuß tötete auf der Stelle. Dann versuchte er es bei sich, schoß und zerschoß sich nur den Sehnerv des rechten Auges. Als er nicht einmal das Bewußtsein verlor, kramte er ihre Messer aus der Tasche, sie erwiesen sich als ungeeignet. Daher griff er nach seiner Rasierklinge, schnitt sich den Puls auf und erreichte nun wenigstens, daß er bewußtlos wurde. Am Morgen weckte ihn eine Schulklasse, die lärmend dahergezogen kam. Er tastete im Grase um sich nach einer Patrone, lud, setzte an, der kleine Büroangestellte aus Wittenberge, – aber jetzt endlich war die Verzauberung gebrochen. Er setzte wieder ab. Ein Polizist fand ihn.

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Das rechte Auge ist hin, die Ehe nach Verzeihung und Versöhnung, unversehrt. Bleibt noch das gerichtliche Nachspiel. Da die Umstände nicht zweideutig sind, heißt das Vergehen nicht, wie sonst oft in solchen Fällen, Totschlag, sondern Tötung auf Verlangen. Eins muß noch in der Vernehmung geklärt werden. Auf Montag war die Tat angesetzt. Womit brachten sie den Sonntag hin? Womit würden Sie den Sonntag hinbringen, wenn Sie entschlossen wären, am Montag zu sterben? Nun, diese beiden, der Büroangestellte und die Krankenschwester, gingen ins Theater, zu den »Drei Musketieren« ins Große Schauspielhaus. Aber warum begingen sie die Tat nicht am Montag, sondern verschoben sie auf Dienstag? Aus diesem Grunde: die Krankenschwester wünschte noch den Film »Die Frau im Mond« zu sehen. Daher ließen sie die Sache am Montag noch bleiben, auf einen Tag kam es schließlich nicht an, gingen ins Kino, sahen »Die Frau im Mond« und schossen erst am Dienstag. So sieht der Weg des Todes aus, den sie gegangen ist, vor dem ihn nur ein Zufall bewahrt hat. Inquit 3.6.1930

Das Kind auf dem Papier Der bedauernswerte Kriegsinvalide erschien am 31. Oktober auf dem Standesamt und meldete, ihm sei von seiner Ehefrau ein Kind beschert worden, ein Knäblein. Der arme Invalide ist durch seine schweren Verwundungen der Fähigkeit beraubt, mit Arbeit sein Brot zu verdienen. Er bezieht Rente und Wohlfahrtsunterstützung, zusammen 62 Mark und 25 Pfennig im Monat. Es ist nicht viel, es schützt knapp vor dem Hunger, es reicht nicht, wenn auch noch Arzt und Apotheker bezahlt werden sollen. Arzt und Apotheker aber kann er nicht entbehren; denn über den traurigen und schmerzensreichen Erlebnissen hat er sich an Morphium gewöhnt, sein Wille ist geschwächt, und eine Freude muß der Mensch doch haben. Er beantragte Erhöhung

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seiner Bezüge. Wofür? Für Morphium? Die zuständigen Stellen lehnten ab. Für Morphium, auch eines Morphinisten, können und dürfen sie kein Geld übrig haben. Nun ist wenigstens das Kind da. Es gibt dafür eine Zulage von 7 Mark monatlich, auch das nicht viel, aber besser als gar nichts. Das Kind, das Knäblein, wäre heute, im Jahre 1930, fünf Jahre alt. Es würde das freudlose Heim des Invaliden mit seinem Lachen und Plaudern erfüllen, es würde den vom Kriege zerbrochenen, den nutzlos gewordenen Mann in seine Spiele ziehen, und es würde ihn mit seiner kindlichen Ehrfurcht verklären. Nächstes Jahr käme es zur Schule, es begänne schon im Haushalt zu helfen, mit Botengängen und kleinen Dienstleistungen sich nützlich zu machen. Noch ein paar Jahre – wie schnell vergeht die Zeit! – da träte es schon in die Lehre. Die Welt stünde ihm offen. Hat man nicht gehört von wunderbaren Aufstiegen aus lichtloser Enge zu Macht und Reichtum? Freilich gibt es auch verlorene Söhne, die ihren Eltern nicht Ehre, sondern Schande bereiten. Aber das wäre ein entarteter Vater, der nicht hoffte, sein Sohn werde mehr erreichen und es besser haben als er selbst. Und wenn der Sohn des Kriegsinvaliden also emporstiege, so wäre auch ausgesorgt für ihn selbst, der Gesundheit, Lebensglück und Menschenwürde dem Vaterland geopfert hat. Mit alledem ist es nun nichts. Warum ist es nichts? Hat ein erbarmungsloser Tod die zarte Blüte geknickt, bevor sie sich entfalten konnte? Mitnichten. Sondern dieses Kind ist gar nicht geboren worden; es steht nur auf dem Papier. Er hat es beim Standesamt angemeldet, aber er hat sich die Mühe geschenkt, es hervorzubringen. Er wollte gar nicht das Kind, vielleicht war es hygienisch und sozial klug gedacht, es nicht zu wollen. Er wollte nur die Kinderzulage. Fünf Jahre lang hat er sie unangefochten bezogen, alles in allem mehr als 400 Mark. Nach dem Strafgesetzbuch heißt die Tat: schwere Urkundenfälschung und Betrug. Er gibt sie ohne Beschönigung zu. Er zahlt auch schon zurück, 20 Mark werden ihm monatlich abgezogen. Das Gericht sieht die Sache so mild wie möglich an. Kriegsinvalide, Morphinist, unbestraft; drei Wochen Gefängnis. Es tut noch ein übriges und setzt die Verbüßung der Strafe auf drei Jahre aus: dieser Mann wird nie wieder auf diese Weise ein Kind zu kriegen versuchen. Inquit 14.9.1930

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Bandendiebstahl Fünf Mädchen aus Neukölln, 16- und 17jährig, stehen vor dem erweiterten Jugendgericht, angeklagt des fortgesetzten Bandendiebstahls. Das Jugendgericht, segensreiche Errungenschaft unsrer Tage, verhandelt unter Ausschluß der Oeffentlichkeit, zur Schonung der Jugendlichen. Auch die Presse, als Organ der Oeffentlichkeit, hat nichts dabei zu suchen. Einzelne Vertreter der Presse dürfen auf ihren Antrag zugelassen werden. Diesmal sind sie zugelassen, unter der verständigen Auflage, weder Namen zu nennen, noch zu zeichnen oder zu fotografieren. Sie hätten sich nicht beworben, wenn die Anregung nicht vom Gericht ausgegangen wäre. Der vorsitzende Amtsgerichtsrat, von pädagogischer Leidenschaft beseelt, wünscht eine Lektion zu geben. Wem? Der Oeffentlichkeit. Eine Diebesbande junger Mädchen: was mag sich dahinter verbergen? Romantik der verbrecherischen Kameradschaft, der zügellosen Auflehnung, des verruchten Geheimnisses – denkt die Oeffentlichkeit. Und wie sieht diese Romantik aus, betrachtet im nüchternen Licht einer Gerichtsverhandlung? Mädchen von 16 und 17 Jahren können schon beängstigend erwachsen sein – diese fünf sind Kinder; die dürftige Körperlichkeit verrät es. Arbeiterinnen nennen sich alle, gelernt hat keine etwas. Fast allen war schon die Gemeindeschule zu schwer. Warum? Sie wurden wegen Kränklichkeit verschickt, konnten das Versäumte nicht nachholen, mußten auf die Hilfsschule gegeben werden, erreichten auch da nicht die erste Klasse. »Ich war zu dumm«, bekennt eine ohne Verlegenheit. Der Vorsitzende prüft ihre Intelligenz. Es stellt sich heraus: sie ist, in Neukölln geboren und aufgewachsen, noch nie in der Innenstadt gewesen. Nur eine hat ihre Kindheit unter der Obhut beider Eltern verbracht. Zwei Väter haben die Familie verlassen und sich nicht mehr um sie gekümmert. Ein Vater ist gefallen, eine hat ihre Mutter an Krebs zugrunde gehen sehen, ein Schicksal, das für ihr kleines Herz zu schwer gewesen ist. Gestohlen wurde gemeinsam; aber nicht, wie es in Romanen steht, indem ein mutiges und willensstarkes Mädchen die Anführerin abgab und

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die andern gehorchen mußten. Sondern sie gingen spazieren, bummelten durch die Warenhäuser, zu Zweien und Dreien, eine gestand, sie habe schon »genommen«, die andre versuchte es auch: es ging. Wie verführerisch die Erfahrung, daß man nehmen kann, was man haben möchte und sich nicht zu kaufen vermag. Wie lustig das Erlebnis, daß die strengen Aufpasser es nicht merken. Wie prickelnd der Reiz, zu tun, was verboten ist und wovon man weiß, daß es verboten ist. Sie nahmen Kämme, wertlose Ringe, Gummibändchen, Bälle, Parfüms; auch Schuhe, Mäntel, Schlüpfer, Strümpfe. Ein Kleid, weil eine es haben wollte und sich nicht traute, es selbst zu nehmen. Sie bat unter Tränen, bis zwei andre den Griff wagten, und es ihr für fünf Mark verkauften. Diese, es ist die »Dumme«, war auch sonst die Anstifterin. Sie bat so rührend, daß die andern es immer wieder für sie taten. Was von dem gestohlenen Gut brauchbar war, das brauchten sie selbst. Eine Tischdecke bekam die Kusine geschenkt, die Verlobung feierte. Das Brautpaar staunte. Sechs silberne Löffel erhielt die Mutter zu Ostern, angeblich aus gespartem und geborgtem Gelde. Die war stolz auf ihre gute Tochter. Eine stahl oder ließ stehlen, um den Zorn ihrer Mutter abzuwenden, wenn sie sich abends zu lange herumgetrieben hatte. Vor dem Richter stehen sie voll Reue und beteuern, sie werden nie wieder nehmen, was ihnen nicht gehört. Die Mütter bitten um Milde. Es gibt viel Tränen. Da ist nichts von Verruchtheit, Trotz, Geheimnis. Da sind nur ein paar törichte, nach Tand und Schmuck begehrliche, vielleicht auch nach Reiz lüsterne Backfische. Drei werden zu Gefängnis verurteilt; die Strafe brauchen sie nicht zu verbüßen, wenn sie sich drei Jahre lang einwandfrei führen. Zwei werden freigesprochen, weil es ihnen an Einsicht und Willenskraft gefehlt hat; für sie soll das Vormundschaftsgericht Erziehungsmaßnahmen anordnen. So ist das mit den fünf Mädchen und ihrem Bandendiebstahl. Möge die Oeffentlichkeit aus der nützlichen Lektion die Erkenntnis schöpfen: Verbrecherromantik gibt es im Film, vielleicht auch im amerikanischen wilden Westen. In Neukölln gibt es bedrückte und verkümmerte Menschengewächse und dann und wann einen unzulänglichen Versuch, dem Fluch der Armut und der Freudlosigkeit zu entrinnen. Inquit 19.9.1930

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Glücksspiel Vor dem Einzelrichter sechs Angeklagte. Sie haben einen Strafbefehl erhalten: wegen öffentlichen Glücksspiels einen Monat Gefängnis und zwanzig Mark Geldstrafe einer wie der andere. Sie wollen es sich nicht gefallen lassen und verlangen richterliche Entscheidung. Soll man öffentlich Glück spielen? Spielen artige Kinder öffentlich Glück? Nein doch, pfui Teufel. Vater Staat schickt seinen uniformierten Schutzmann, und der schreibt die bösen Buben auf, die öffentlich Glück spielen. Die sechs Angeklagten wissen das sehr gut. Sie entblöden sich zwar nicht, öffentlich glückzuspielen, aber wenn sie einen Schutzmann kommen sehen, stecken sie rasch die Karten weg. Meistens also merkt Vater Staat nichts. Diesmal hat der Schutzmann sie erwischt. Sie stehen vor Gericht und schämen sich, weniger weil sie öffentlich glückgespielt haben, als weil sie dabei ertappt worden sind. Uebrigens machen sie keine Umstände und geben die Ungezogenheit zu. Nur darüber entsteht ein bißchen Streit, ob sie nur mitgespielt oder ob sie die Bank gehalten haben. Der Schutzmann sagt, sie haben alle die Bank gehalten. Von den Angeklagten bekennt einer mit stolzem Selbstgefühl, daß er der Bankhalter gewesen sei; denn er treibe sein eigenes Gewerbe und habe es nicht nötig. Alle andern behaupten, sie hätten höchstens den Bankhalter vertreten. Sie selbst könnten gar nicht die Bank halten, es fehle ihnen an Geld. Sie sind nämlich arbeitslos. Wovon lebt man, wenn man arbeitslos ist, wie hilft man sich durch, wie hält man sich aufrecht? Das ist die Frage. Aber wie bringt man die Zeit hin, den ganzen lieben, langen Tag, unzählbar viele Tage, jeder einzelne endlos lang und gar nicht im geringsten lieb? Das ist die andre Frage. Wenigstens ein Stündchen des Tages kann man damit hinbringen, daß man in einen öffentlichen Park geht, in den Friedrichshain zum Beispiel, und sich auf eine Bank setzt. Da sitzen schon andre, denen es ebenso geht.

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Man kann ein bißchen klagen. Man kann ein bißchen Erfahrungen austauschen. Man kann schließlich ein Paket Karten aus der Tasche langen, schmutzig und abgegriffen, und ein Spielchen machen. Wer beherrscht gleich Skat und Sechsundsechzig? Wer hat die Ruhe zu überlegen, aufzuschreiben, zu berechnen? Besser, einer hält die Bank, die andern stehen herum und setzen, einen Sechser, einen Groschen, fünfzehn Pfennig. Es geht rascher, und es erzeugt ein bißchen Reiz. Einen Monat Gefängnis, weil der Schutzmann ein paar Arbeitslose im Friedrichshain erwischt hat, wie sie mit dem Geld, von dem sie zu wenig haben, die Zeit zu vertreiben suchten, von der sie zuviel haben – ist es nicht zu hart, für arme Schlucker, die sämtlich unbestraft sind? Was meinen Sie, Herr Staatsanwalt? Herr Staatsanwalt meint: er habe seine Anweisungen, er müsse das Gemeinwohl vor Schaden bewahren. Er bleibt bei einem Monat Gefängnis und 20 M Geldstrafe. Bewährung will er zugestehen. Der Einzelrichter sieht die Sache von der milderen Seite an: 5 M Geldstrafe und eine Woche Gefängnis. Sie braucht nicht verbüßt zu werden, wenn sie sich zwei Jahre lang bewähren. Soll man öffentlich Glück spielen? Tun das artige Kinder? Aber soll Vater Staat seine Kinder arbeitslos herumlaufen lassen? Tut das ein guter Vater? Inquit 11.10.1930

Der Dreigroschen-Film Viele von uns haben die Dreigroschen-Oper des Dichters Brecht und des Komponisten Weill gesehen. Wenige von uns kennen das zugrunde liegende englische Original, betitelt »The beggars opera«. Und niemand von uns ist bisher zugelassen worden, den Tonfilm kennzulernen, den die Nero Film A. G. jetzt gerade dreht, und von dem nicht ohne weiters feststeht, ob ihm das englische Original oder die Brecht-Weillsche Bearbeitung zugrunde liegt. Insofern die alte Bettler-Oper verfilmt wird, brauchen die Autoren Brecht

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Putzfrauen in einem Verhandlungssaal; 1932 (Felseneck-Prozeß).

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und Weill gar nicht gefragt zu werden, da Text und Musik jener englischen Vorlage vor jedem Urheberrecht entstanden und gänzlich frei sind. Insofern die Filmgesellschaft aber den großen Erfolg der Dreigroschen-Oper auszunutzen beabsichtigt, stößt sie auf den Widerspruch der urheberrechtlich geschützten Autoren Brecht und Weill. Es ist ein verwickelter Rechtsstreit, der vor der Sonderkammer für Urheberrecht beim Landgericht I ausgetragen wird. Übrigens scheinen auch die beiden Verfasser untereinander nicht einig zu sein. Wenigstens beantragen die Rechtsbeistände des Herrn Weill, seinen Anteil an dem Prozeß abzutrennen und zu vertagen; worauf das Gericht nach einigem Widerstreben sich auch einläßt. Bleibt also für heute der Fall Brecht übrig, und auch er wird noch nicht entschieden. Die Bemühungen um einen Vergleich, die der Vorsitzende mit ernstem Nachdruck unternimmt, unterstützen die Vertreter der Filmgesellschaft mit der schlichten Frage, ob 25 000 Mark hinreichen würden, Herrn Brecht von weiterem Widerstand abzuhalten. Aber da verkennen sie ganz und gar den Ernst des Dichters Brecht. Keineswegs, so legt er ruhig und besonnen dar, handelt es sich für ihn um Erlangung materieller Vorteile, da er doch im Gegenteil darauf gefaßt ist, sich Schaden zufügen zu lassen. Er will nur nicht, daß der Tonfilm hergestellt wird ohne seine maßgebliche Mitwirkung, weil er fürchtet, daß dann der Stil der »Dreigroschen-Oper« nicht gewahrt wird. Seiner Meinung nach hat die »Dreigroschen-Oper« mit der »Bettler-Oper« kaum etwas gemeinsam. Er hat alles umgeändert, die Grundelemente und die Figuren. Der Bettlerkönig z. B., so belehrt er das Gericht zur allgemeinen Erheiterung, hat im Original den Beruf eines Rechtsanwalts. Was die NeroFilmgesellschaft da dreht, nennt er eine Verballhornung. Und kurzum, Bert Brecht verteidigt sein Werk gegen die Willkür und Verständnislosigkeit der Filmgesellschaft und hält es für seine Pflicht, dies zu tun. Wer wäre nicht bereit, ihm beizustimmen? Wer hätte nicht schon von dem Unrecht gehört, das die Filmgesellschaften den Autoren antun? Aber auch die Gegner sind nicht auf den Mund gefallen. Sie wissen zu erzählen von langwierigen und kostspieligen Bemühungen, sich mit dem Dichter zu verständigen; von der Reise eines ganzen Stabes von Mitarbeitern zu Bert Brecht, der sich zu seiner Erholung in Südfrankreich aufhielt; von widerspenstiger und unfreundlicher Behandlung, die ihnen der berühmte Mann zuteil werden ließ. Und sie können vor allen Dingen verweisen auf einen Vertrag, der das Recht der Verfilmung der Dreigroschen-Oper, jeder Art der Verfilmung in der ganzen Welt, der Nero-Filmgesellschaft überträgt.

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Der Rechtsstreit läuft also auf Auslegung dieses Vertrages hinaus. Und soviel scheint jedenfalls festzustehen, daß auch Herr Brecht, der ehrfürchtigen Schätzung seines Werkes zum Trotz, eine Verfilmung nicht verboten, sondern ausdrücklich gestattet hat. Wer aber sein Kind so liebt, wie offenbar Bert Brecht seine Dreigroschen-Oper, vielleicht sollte der es gar nicht erst den Gefahren einer Verfilmung aussetzen.8 Inquit 18.10.1930

Der Mittelstreckenläufer Der Angeklagte hat auf eine Frau geschossen; ohne Schaden anzurichten und ohne sie allzusehr zu gefährden. Denn wenigstens das erste Geschoß im Lauf war eine Platzpatrone. Ein paar Tage danach aber hat der Angeklagte ihr einen Brief geschrieben und ihr darin unter Drohungen befohlen, aus Deutschland zu verschwinden. Nach dem Strafgesetzbuch: versuchte Nötigung. Es kommt zu keiner Beweisaufnahme. Denn vor der Zeugenvernehmung gibt der psychiatrische Sachverständige sein Gutachten dahin ab, daß der Angeklagte bei hoher Intelligenz, guter Bildung und ausgebreiteter Belesenheit von einer solchen seelischen Konstitution sei, daß an seiner Zurechnungsfähigkeit bei Begehung der Tat gezweifelt werden müsse. Es erfolgt daher Freisprechung auf Grund des Paragraphen 51. Der Schuß und die versuchte Nötigung bilden den Abschluß seiner Bemühungen, sich dem Einfluß der Frau zu entziehen. Diesen Einfluß empfand er selbst zugleich als unentrinnbar und als verderblich. Und ein paar schwere Zusammenbrüche beweisen, daß er die Wirkung jedenfalls 8 Bertolt Brecht hat diesen Prozess als ein »soziologisches Experiment« bezeichnet, bei dem es ihm darum ging, die Unmöglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Industriefilm aufzuzeigen. Am 19. Dezember 1930 verzichtete er allerdings auf »die Wahrung seiner Interessen« gegen eine Zahlung von den oben erwähnten 25 000 Mark. Der Film – produziert von der Nero-Filmgesellschaft – wurde im Februar 1931 uraufgeführt.

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nicht überschätzte. Wie der Einfluß wirklich gewesen ist, darüber liegt nur seine Aussage vor, während sie selbst keine Möglichkeit mehr findet, Zeugnis abzulegen. Wir wollen daher die Einzelheiten dieser, zwischen Liebe und Haß pendelnden, Leidenschaft nicht preisgeben. Soviel steht fest, daß er dem Erlebnis nicht gewachsen war. In der Tat sieht er nicht nach großen Kräften aus. Er ist schmächtig, spricht leise, wird von seinen Angehörigen als sensibel geschildert und gilt für verschlossen. Es ist also kein Wunder, daß er durch die Aufregungen und Erschütterungen in Gefahr kam, zugrunde gerichtet zu werden. Aber etwas anderes ist ein Wunder. Dieser Mann war jahrelang einer der besten Mittelstreckenläufer Deutschlands. Er hat eine Reihe von Siegen davongetragen und den deutschen Sport im Ausland auf das rühmlichste vertreten. Und dies nicht nur ohne körperliche Kräfte, sondern auch ohne Training. Was ihn zu Leistungen befähigte, waren aufgestaute Energien, die in den paar Minuten des Laufs über die 400-Meter-Strecke sich entluden. Wenn man aber fragt, woher es kam, daß die Energien bis zur Explosion sich in ihm häuften, so lautet die Antwort: weil er verschlossen war. Weil er sich nicht auszusprechen vermochte, lief er schneller als die andern, und weil er sich nicht auszusprechen vermochte, schoß er. Woraus zu entnehmen, wie seltsam verflochten Leib und Seele sind und wie nahe verwandt Leistung und Verbrechen. Inquit 11.11.1930

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Der feldgraue Mantel Vor den Schranken zeigt sich ein alter Soldatenmantel. Wie wimmelte es von feldgrauen Mänteln, leicht ins Bürgerliche umgearbeitet, durch unser Leben in den ersten Jahren nach dem Kriege! Seither sind sie wieder verschwunden, abgetragen, zerschlissen und aueinandergefallen. Auch das beste Militärtuch würde in zwölf Jahren zuschanden werden. Und wir hatten ja wohl nicht mehr vom besten. Seltsam, daß dieser feldgraue Mantel sich gehalten hat. Denn sein Träger, der Angeklagte, ist schon 1915 seinem Truppenteil davongelaufen. Man erwischte ihn und verurteilte ihn wegen Desertion zu vier Jahren Zuchthaus. Dazu kam eine Zuchthausstrafe wegen Betruges. Bis 1923 saß er hinter Schloß und Riegel. Als er frei kam, ging er aufs Land. Dort lernte er eine Frau kennen und heiratete sie. Seitdem ist er ein ordentlicher Mensch, der sich mit redlicher Arbeit ernährt. Das ganze Verdienst an seiner Besserung schreibt er der Frau zu. Leider ist die Ehe selbst ein neues Verbrechen. Er hat schon eine Frau. 1915 kam er verwundet ins Lazarett. Verliebte sich in die Krankenschwester. Wurde zu seinem Truppenteil entlassen, kehrte mit Urlaub zurück, um sie zu heiraten. Blieb zwei Tage, reiste ab und sah sie niemals wieder. Jetzt, nach so langer Zeit, fiel es der früheren Krankenschwester ein, sich scheiden zu lassen. Dabei kam heraus, daß er sich neu verheiratet hatte, ohne daß die alte Ehe gelöst war. Bigamie. Das Gesetz droht mit Zuchthaus. Die Richter nehmen die Sache von der mildesten Seite: sechs Monate Gefängnis mit Bewährungsfrist. Warum hat er sie gleich wieder verlassen? Er weiß es nicht mehr. Warum hat er sie überhaupt geheiratet? Er wird es noch weniger wissen. Es war eben Krieg. Die Zeit vergeht, Wunden heilen, Leiden werden vergessen, Menschen sterben. Der feldgraue Mantel lebt noch und wandelt wie ein Gespenst. Die alte Eintragung im Standesamtsregister lebt auch noch und wirkt fort wie

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eine Zauberformel. Und sie wird nicht aufhören zu wirken, bis er oder sie gestorben ist oder bis eine neue papierene Zauberformel, genannt Scheidungsurteil, sie unwirksam gemacht hat. Inquit 12.11.1930

Der Relativsatz Folgender Vergleich wird vorgeschlagen: der Privatbeklagte soll erklären: »Ich habe niemals diese oder eine ähnliche Aeußerung über die Ehefrau des Klägers getan. Ich habe niemals Anlaß gehabt, mich über die Ehefrau des Klägers zu äußern. Wenn ich aber Anlaß gehabt hätte, so hätte ich mich doch niemals so äußern können, wie die Klage behauptet, da ich die Ehefrau des Klägers nicht privat, sondern nur als geschätzte Künstlerin kenne.« Diesen Vergleich trägt im Namen des Privatbeklagten sein bedeutender Anwalt vor. Der Beklagte selbst ist nämlich nicht zur Stelle. Er war schon wiederholt nicht zur Stelle, zur Entrüstung des Gerichts, das den Fall nicht erledigen konnte und schließlich Vorführungsbefehl erließ. Aber auch der Vorführungsbefehl hat nichts genützt; der Beklagte ist wieder nicht zur Stelle, immerhin aber als sein Vertreter der bedeutende Anwalt. Der versichert: sein Mandant habe triftige Gründe, nicht zu erscheinen und auch sich nicht vorführen zu lassen; ferner, einwandfreie Mitbürger könnten bestätigen, daß sein Mandant ein grundanständiger Mensch sei; und endlich, sein Mandant bestreite entschieden, diese Aeußerung getan und mit dieser Sache auch nur das geringste zu tun zu haben. Im Gegensatz zum Beklagten hat der Kläger sich eingefunden. Der Vergleich ist schon im Begriff zu gelingen. Aber auch der Kläger hat einen Rechtsbeistand an seiner Seite, und auch er ist ein bedeutender Anwalt. Dieser bedeutende Anwalt hegt Bedenken. Er wünscht, daß der Beklagte noch ein übriges tue und sein Bedauern ausspreche, und der Richter schlägt vor, für den Beklagten zu formulieren: »Ich hoffe, daß dieser Vorfall, den

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ich selbst sehr bedauere, hiermit eine, auch für die Ehefrau des Klägers angemessene Erledigung gefunden hat.« Das Bedauern ist da, aber der bedeutende Anwalt stößt sich an der Tatsache, daß es durch einen Relativsatz ausgedrückt werde. Man könne der beleidigten Ehefrau nicht zumuten, einen Relativsatz als ausreichende Genugtuung für die ihr widerfahrene Kränkung zu betrachten. Der Vergleich scheint aufs neue gefährdet zu werden. Nur den gemeinsamen Bemühungen des Richters und des andern bedeutenden Anwalts gelingt es schließlich, zu verhüten, daß der gute Wille an der Grammatik scheitert. Es ist lobenswerter Brauch, die Namen der Prozeßbeteiligten nicht ohne Not preiszugeben. Indessen diese Regel erleidet Ausnahmen, z. B. wenn die beleidigte Ehefrau im Wortlaut des Vergleichs selbst als geschätzte Künstlerin bezeichnet wird. Dann muß sie sich gefallen lassen, dem beifallsfrohen Publikum vorgeführt zu werden. Es ist keine Geringere als unsere Marlene Dietrich.9 Nun müßte noch berichtet werden, was der geheimnisvolle Beklagte über die fern weilende Marlene eigentlich Beleidigendes gesagt hat. Aber nachdem der Vergleich, trotz des Relativsatzes, von beiden Seiten angenommen worden ist, dürfte es sich empfehlen, die Beleidigung zu verschweigen. Es könnte sonst neue Zwistigkeiten geben, die mit keinem Relativsatz beizulegen wären. Inquit 7.12.1930

9 Kläger war der Regie-Assistent Rudolf Sieber (1897–1976), mit dem Marlene Dietrich seit 1923 verheiratet war.

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Konjunktur in Waffen Man kann Gesetze brechen, aber nur Gesetze, die der Staat sich ausgedacht hat. Naturgesetze kann man scheint’s nicht brechen und erst recht nicht Wirtschaftsgesetze. Man kann sich gegen die Gesellschaft auflehnen, aber die Konjunktur muß man achten. Stehlen ist leicht, aber das gestohlene Gut unterbringen ist schwer. Dazu braucht man einen Hehler, der es einem abnimmt. Der Hehler aber nimmt die Ware nur ab, wenn er Aussicht hat, sie weiter zu verkaufen. Was ein tüchtiger Einbrecher ist, der fragt deshalb vorher beim Hehler nach, was er etwa brauchen könnte, und bricht dort ein, wo die brauchbare Beute zu holen ist. Der Angeklagte behauptet, er habe den Tip von einem gewissen Werkzeugmacher erhalten. Der Werkzeugmacher tritt als Zeuge auf und erweist sich als ein solide aussehendes verwachsenes Männchen. Er leugnet nicht, daß er Werkzeuge macht. Werkzeuge kann man zu allem möglichen benutzen, zum Guten und zum Bösen, und wenn einer will, kann er damit einbrechen. Der Werkzeugmacher behauptet, das gehe ihn nichts an. Er leugnet auch nicht, daß unter den von ihm fabrizierten Werkzeugen sich Dietriche befinden. Aber er verficht die Anschauung, daß dies nicht gegen ihn spreche, da niemand gehindert werde, mit den Dietrichen Türen zu öffnen, die er befugt sei, zu öffnen. Er leugnet auch nicht, trotzdem es ihm sehr peinlich ist, davon zu sprechen, daß er zu gewissen Zeiten nicht über seine Freiheit verfügt hat, und daß er bei einer solchen Gelegenheit mit dem Angeklagten bekanntgeworden ist. Wohl aber leugnet er durchaus, daß der Tip von ihm stamme und daß er die Einbruchswerkzeuge mitsamt den Dietrichen beigesteuert habe. Was soll man also glauben? Dem Gericht bleibt nichts anderes übrig, als ihn unbeeidigt zu lassen. Woher nun auch der Tip stammen möge, er lautet auf Waffen, genauer auf Pistolen und Revolver. Die sind in der Konjunktur. Der Vorsitzende erläutert: Man kann sie an eine radikale Partei leicht und mit Nutzen absetzen. Der Bedarf ist groß, die Möglichkeit der Beschaffung immerhin noch begrenzt.

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Der Angeklagte also, mit diesem Tip ausgerüstet, nahm sich einen Komplicen mit und brach in ein Waffengeschäft ein. Was an Pistolen und Revolvern auf Lager war, packten sie in einen Rucksack und in eine Aktentasche, die sie beide zu diesem Zweck ebenfalls stahlen. Auch die passende Munition ließen sie nicht liegen. Ein paar von den Waffen luden sie und steckten sie in die Manteltaschen. Dann schoben sie die Jalousie hoch und wollten entwischen. Aber da wurden sie gesehen und verfolgt. Sie retteten sich in ein Haus und flohen bis aufs Dach. Dort mußte die Polizei einen Schreckschuß abgeben, ehe sie sich fassen ließen. Urteil für jeden von ihnen zwei Jahre drei Monate und eine Woche Zuchthaus, fünf Jahre Ehrverlust. Der Streich ist mißlungen, aber der Tip war gut: Waffen. Der Aufmerksamkeit des Instituts für Konjunkturforschung empfohlen. Inquit 30.12.1930

Schlechte Zeiten Der junge Mann, der Angeklagte, betrieb in München einen Filmverleih. Das Geschäft ging nicht, die Zeiten sind eben schlecht. Er reiste nach Berlin, um neue und leichter verleihbare Filme zu erwerben. Während er sich umsah und verhandelte, hörte er aus dem Munde eines Bekannten, mit dem Filmverleih sei nicht viel zu machen; wenn er auf einen grünen Zweig kommen wolle, müsse er selbst Filme herstellen. Der Bekannte, so erzählt der Angeklagte dem Gericht, sei auch bereit gewesen, 18 000 M für den ersten Film herzugeben. Auch über ein Drehbuch will er schon verfügt haben, der Dichter hieß Funke. Auf dieser Grundlage mietete der junge Mann in Schöneberg ein Büro. Ferner stellte er eine Sekretärin an. Und endlich veröffentlichte er eine Anzeige des Inhalts: es würden 200 bis 300 hübsche Tänzerinnen für den Film gesucht, Anfängerschaft störe nicht, Bild und Lebenslauf seien einzusenden. Die Zeiten sind schlecht, es gibt keine Arbeit, Tänzerin ist ein weiter Begriff, und sich für hübsch zu halten, kann keinem Mädchen verwehrt

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werden. Warum sollte man nicht beim Film anfangen? Es regnete also ins Büro des jungen Mannes Bewerbungen mit Bild und Lebenslauf. Er seinerseits antwortete auf vorgedruckter Karte und bat um Besuch. Daraufhin setzte denn der Besuch ein. Der junge Mann eröffnete den jungen Damen, daß der Film in Frankfurt am Main gedreht werden sollte, und daß ihnen nicht nur Hin- und Rückfahrt, sondern auch der Aufenthalt dort vergütet werden würde. Und dann verlangte er einen Kostenzuschuß von 4 Mark. 300 mal 4 Mark gleich 1 200 Mark, das hätte sich schon fast gelohnt. Indessen, hier hatte die Rechnung ein Loch. Ein oder zwei Mädchen bezahlten 4 Mark, einige nur 3 oder 2 oder 1 Mark, die meisten aber bezahlten gar nichts und verzichteten lieber auf die Anfängerschaft beim Film; denn sie hatten überhaupt kein Geld. Der junge Mann beobachtete drei Tage lang, dann begriff er die Marktlage. Infolgedessen verschwand er, und nicht nur die Damen waren ihren Kostenzuschuß los, sondern auch die Sekretärin blieb ohne Gehalt sitzen. Das Gericht zieht in Betracht, daß der junge Mann selbst in Bedrängnis gewesen ist. Andererseits zweifelt es nicht daran, daß er es auf einen großen Beutezug abgesehen hatte. Urteil: zwei Monate Gefängnis. Was nützt einem der böse Wille? Sogar zum Betrug sind die Zeiten zu schlecht. Inquit 3.1.1931

Die strenge Methode Fünf Jahre Gefängnis beantragt der Staatsanwalt gegen den Angeklagten, der sein dreijähriges Söhnchen schwer mißhandelt hat. Vorsitzender: »Angeklagter, Sie haben den Antrag gehört. Wollen Sie selbst etwas dazu sagen?« Angeklagter: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Aber nehmen Sie mir den Jungen nicht weg.« Er bittet unter Tränen, es ist keine Schauspielerei.

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Sondern es ist die echte Liebe eines Vaters zu seinem Kinde, dem eigenen Fleisch und Blut, dem lieblichen Spielzeug. Aber er weiß nicht, wie man Liebe zeigt oder gewinnt. Der Knabe sollte tun, was der Vater wollte, und sich benehmen, wie es der Vater wünschte; nicht so, wie ihn seine eigene dreijährige Lebhaftigkeit und Unberechenbarkeit trieb. Er kannte nur Befehl und Verbot, und wenn nicht gehorcht wurde, Prügel. Er nahm das Kind auf den Schoß, um mit ihm zu spielen; aber das Kind hatte Angst vor dem Vater und begann zu weinen. Er verbot das Weinen, vergrößerte nur die Angst, sperrte das Kind in einen Verschlag und prügelte. Immer mißlang der Versuch zu spielen, und nie begriff er, warum er mißlang. Aber mit der Angst des Kindes wuchs der Zorn des Vaters. Er glaubte ja auch, er sei der Erzieher und habe die Pflicht, zu erziehen. Vielleicht wäre es gegangen, wenn das Kind seine Natur hätte. Es hat aber die Natur der Mutter: zart, weich, empfindlich, verletzbar. Kam er denn nun mit der Mutter aus? Erst recht nicht. Die Ehe wurde zerrüttet von Streitigkeiten, meist um die Erziehung des Kindes. Er fand, sie sei zu nachgiebig; sie fand, er sei zu roh. Dann schlug er vor, das Kind ins Waisenhaus zu geben, um den Zankapfel aus dem Weg zu räumen. Bis dahin sieht das Gericht noch keine strafbare Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes. Aber eines Tages kam eine schwere Mißhandlung vor. Er habe sich hinreißen lassen, rechtfertigt er sich, infolge der Ueberreizung seiner Nerven durch den ununterbrochenen häuslichen Zwist. Jetzt griff die Frau seinen Plan auf und machte sich bereit, das Kind dem zuständigen Fürsorgearzt zu zeigen, um es mit seiner Hilfe der väterlichen Gewalt zu entziehen. »Dann soll der Arzt auch ordentlich was zu sehen kriegen«, äußerte er zynisch und gab dem Jungen eine Ohrfeige, deren Spuren der Arzt noch feststellen konnte, zusammen mit den Striemen der vorhergegangenen Mißhandlung. Der Angeklagte, ein kleiner, dumpfer, harter Mann, vielfach vorbestraft wegen aller möglichen Vergehen, verliert immer wieder die Fassung. Er bricht in Tränen aus, gerät in Wut, sucht davonzulaufen und muß unter dem Schutz zweier Justizwachtmeister auf seinen Platz zurückgebracht werden. Er bekundet Reue, aber er fühlt sich selbst verfolgt, bedroht und mißhandelt. Das Urteil ergeht auf drei Monate Gefängnis. Inzwischen ist die Scheidung eingeleitet worden. Wenn er das Gefängnis verläßt, wird man ihm seine Bitte nicht erfüllen und ihm das Kind nicht zurückgeben. Denn das steht ja wohl fest, daß er mit ihm nicht umzugehen weiß. Er kennt

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nichts anderes als Verbot, Züchtigung, Strafe und immer härtere Strafe. So nämlich ist die Gesellschaft mit ihm selbst verfahren. Woher also sollte er wissen, daß es auch eine ganz andere Art der Erziehung gibt? Freilich hätte er gegen die strenge Methode längst mißtrauisch werden können; denn ihn selbst haben die vielen Strafen nicht gebessert. Aber vielleicht ist es zuviel verlangt, daß seine Einsicht so weit reichen solle. Inquit 10.1.1931

Leben mit Grundsätzen Der Angeklagte, ein blonder, gutartig aussehender Mensch von 25 Jahren, hat versucht, sich mit Gas zu vergiften und seine beiden kleinen Kinder mit in den Tod zu nehmen. Das heißt juristisch korrekt, aber menschlich unzulänglich: versuchter Mord. Vor Gericht freilich behauptet er, es sei ihm nicht ernst gewesen, er habe nur seiner Frau einen Denkzettel geben wollen. In der Tat, es ist niemand daran gestorben. Die Frau kam hinzu und riß die Fenster auf; aber er konnte nicht voraussehen, daß sie so rasch hinzu kommen würde. Auch mußte das eine der beiden Kinder mit einer Gasvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden; aber es hat keinen Schaden davongetragen. Vielleicht war es also doch ernst gemeint. Andererseits kennt man Fälle, wo jemand seinen Selbstmord nicht ernst gemeint hat und doch dabei zu Tode gekommen ist. Vielleicht glaubt er heute, er habe es nicht ernst gemeint. Und im übrigen wird über die Ernsthaftigkeit des Vorsatzes das Gericht entscheiden. Was ihn betrifft, so stammt er aus einer sehr achtbaren Familie. Trotzdem gelangte er nicht dazu, etwas Rechtes zu lernen, und begann daher als Laufbursche. Als ihn ein Berliner Warenhaus in eine Pagenuniform steckte, fühlte er sich mit den blitzenden Knöpfen fast glücklich. Später gab es eine Zeit, in der er sein Brot als Wursthändler verdiente. Die weiße Schürze, die weiße Mütze, der blanke Kessel, dazu das Recht, seine Ware an die Herren Polizisten der Wache am Brandenburger Tor und an die Herren Studenten Unter den Linden zu verkaufen, machte ihn aufs neue fast glücklich.

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Vorher war er mit dem »Wandervogel« in die Welt gezogen und hatte dabei den Mädchen abgeschworen. Mit dem Ergebnis, daß er sich in ein 16jähriges Mädchen verliebte. Indessen als ein Mann von Grundsätzen gab er sich diesem Gefühl nicht einfach hin, sondern prüfte erst, ob es auch die richtige Liebe sei. Als er sich überzeugt hatte, daß er diese Frage bejahen dürfe, war auch bald ein Kind unterwegs. Nun befahlen ihm seine Grundsätze, das Mädchen zu heiraten. Das Kind wurde geboren, und jetzt erst stellte sich heraus, daß er nicht der Vater war. Dennoch lief die Ehe im Anfang gut und wäre vielleicht weiter gut gelaufen, wenn sie nicht auf einem Maskenball einen Maschinisten kennengelernt hätte. Von jetzt ab nahmen die Zwistigkeiten kein Ende, aber sie wechselten immer wieder mit Versöhnungen ab. Inzwischen waren beide arbeitslos geworden. Als er eines Tages beobachtete, daß sie nicht stempeln ging, wie sie ihm vorgeredet hatte, sondern ihren Maschinisten besuchte, gab es neue Auseinandersetzungen. Und als sie ihm auf seine Vorhaltungen, daß sie die Kinder vernachlässige, roh erwiderte: »Was geht das dich an? Es ist ja nicht dein Kind«, schlug er sie. Und dann schloß er sich mit seinen Kindern in der Wohnung ein und öffnete den Gashahn. Es wird berichtet, daß seine Kameraden ihn den »Mann mit der Weltauffassung« nannten. Er hatte eben seine eigene Auffassung von der Welt. Er verlangte vom Leben Ordnung, von den Frauen Treue, von den Mitmenschen Rechtschaffenheit, von sich selbst Sauberkeit und von seinem Hause Frieden. Und da er von allem das Gegenteil vorfand, so versuchte er es zuletzt mit dem Denkzettel und hatte es früher einmal mit eine Schreckschußpistole versucht und einmal mit einem Selbstmord auf eigene Faust, indem er sich vor einen Eisenbahnzug werfen wollte und wahrscheinlich geworfen hätte, wenn er nicht zurückgerissen worden wäre. Der psychiatrische Sachverständige stellt ihm das beste Zeugnis aus und bezeichnet seine seelische Verfassung als kindlich. Und in der Tat sind es ja die kindlichen Gemüter, denen das Leben die bitterste Tragik zu bereiten pflegt. Inquit 7.1931

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Räuberherzen In dem Prozeß gegen eine der gefährlichsten Berliner Räuberbanden, die u. a. den Raubüberfall auf die Kasse des Untergrundbahnhofs Onkel Toms Hütte verübt hat, verurteilte das Schöffengericht Berlin Mitte den Hauptangeklagten zu acht Jahren Zuchthaus, sechs Mitangeklagte zu Gefängnisstrafen von einem Jahr bis zu vier Jahren. Allen Verurteilten wurden die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von fünf Jahren aberkannt. » … Als aber der ehrliche Räuber vor seinen Richtern stand, da machte er keinen Versuch, die Wahrheit zu verschleiern; sondern er räumte seine Taten ein, ungeachtet der schweren Strafen, die ihn erwarteten. Und so erzählte er auch, wie er und seine Spießgesellen den braven Polizisten, der sie festnehmen wollte, mit vorgehaltenen Revolvern bedrohten und um ein Haar erschossen hätten; wie sie aber von ihm abließen, als er bat, sein Leben zu schonen, da er doch Weib und Kind zu Hause hätte. Als aber der Räuber in seinem Bericht dieser Begegnung gedachte, und wie um ein Haar die arme Frau Witwe und das arme Kind Waise geworden wäre, da weinte er bitterlich.« Welch ein Kitsch! Stil der Hintertreppenromane. Wenn man es aber dort läse, würde man zugleich über die unmögliche Erfindung lachen. Indessen, es ist nicht erfunden. Diese Tränen hat einer der acht Angeklagten vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte wirklich geweint. Es sind gefährliche Angeklagte, sie haben ein paar der verwegensten Raubüberfälle dieses Jahres auf dem Gewissen. Das Gericht hat daher Grund, sich zu fragen, ob die Tränen des Räubers echt sind oder ob er nur Theater spielt. Aber sein Verteidiger weiß zu berichten, daß er den Verbrecher wiederholt von seinem Gefühl übermannt gesehen habe. Und als kurz nach dem Anfall von Rührung der Vorsitzende in seiner munteren Weise sich nicht versagen kann, einen Witz anzubringen, da bricht der Räuber ebenso herzlich und unverstellt in Lachen aus wie vorher in Weinen. Man muß ihm die Tränen doch wohl glauben.

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Es ist aber nicht das einzige Mal, daß er Herz bewiesen hat. Bei einem der Ueberfälle, als die Bande schon 13 000 Mark in Händen hielt, verlangte einer der Räuber von dem überfallenen Hausverwalter auch noch die Brieftasche. Seine Frau jammerte: »Nehmen Sie doch meinem Mann sein bißchen Geld nicht weg. Wovon sollen wir denn leben?« Da mischte sich der Räuber mit dem Herzen ein: »Laß die Leute in Ruhe, Fritz!« Auch diese Hochherzigkeit kommt im Prozeß zur Sprache. Aber siehe da, ein zweiter Angeklagter nimmt die gute Tat für sich in Anspruch. Die beiden fangen an, sich in Gegenwart ihrer Richter zu streiten, wer von ihnen beiden derjenige gewesen sei, auf dessen Gemüt die Klage der Frau damals Eindruck gemacht hat. Aber auch damit ist der Vorrat an Herz in dieser Räuberbande noch nicht erschöpft. Einmal lag Geld, das sie stahlen, auf einem Zahlbrett. Eben dort aber hatte die Kassiererin ihre Ringe abgelegt. Die verwandelten sich damit in Beute, und sie wurden ebenso wie das Geld unter die Kumpane verteilt. Kurz vor der Verhandlung nun erhielt die Kassiererin von einem der Angeklagten einen Brief, in dem er ihr ankündigte, er würde das Seinige tun, um ihren persönlichen Schaden gutzumachen. Sein Verteidiger, der den Brief zur Sprache bringt, während die Kassiererin als Zeugin vernommen wird, weiß noch mehr zu berichten: Einer der Ringe sei zur Stelle und könne der Eigentümerin zurückgegeben werden. In der Tat greift der Angeklagte in die Tasche und holt einen Ring hervor. Der Verteidiger hält ihn der Zeugin hin, und sie erkennt ihr Eigentum wieder. Daß er ihr einfach ausgehändigt werde, verhindert der Vorsitzende, der vielmehr darauf besteht, das Kleinod selbst in Empfang zu nehmen, und es sofort dienstlich an die Staatsanwaltschaft weiterreicht. Wie er von dort in den Besitz der Kassiererin zurückkehren kann, darüber wird es hoffentlich eindeutige Vorschriften geben. Wie steht es also mit den Verbrechern? Offenbar kann jemand ein gefährlicher Verbrecher sein und doch ein weiches Herz haben. Es läßt sich auch umgekehrt formulieren: Offenbar kann jemand ein weiches Herz haben und doch ein gefährlicher Verbrecher sein. Ob man aber einen Menschen nach seinem Herzen oder nach seinen Verbrechen beurteilen will, das, offenbar, ist Temperamentssache. Inquit 25.7.1931

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Der Mann, der es nicht einsehen wollte Du kannst weit hinausfahren, mitten in die märkische Landschaft aus Kiefernwald, blauem See und weichem Wiesengrün – und es ist immer noch Berlin. Es ist Berlin, trotz unverdorbener Luft und ungestörter Stille, weil die Menschen, die hier wohnen oder siedeln, mit ihrer Arbeit wie mit starken Seilen an Berlin gebunden sind. Morgens hinein, abends heraus; wenn nicht die ganze Familie, so doch wenigstens der Mann; Einkäufe, Besuche, Zerstreuungen: es geht alles von Berlin aus oder auf Berlin zu. Die Grundlage der Existenz ist das großstädtische Verkehrsnetz, der Vororttarif. Aber an irgendeiner Stelle, manchmal gar nicht sehr weit draußen, reißen die Fäden ab. Da sitzen plötzlich Landleute, die ihr Feld bestellen; und Förster, Gendarm, Arzt, Pastor, die dazugehören. Da ist plötzlich Dorf. Berlin, mit dem Fahrrad in einer Stunde erreichbar, liegt jenseits des Horizonts. Es ist vorhanden, man weiß von ihm, man verkauft auch dorthin oder kauft von dort; aber man hat keinen Zusammenhang mit dieser Welt. Aus der Gegend jenseits der unsichtbaren Grenze kam ein schlichter Landmann eines Tages nach Berlin. Er kam, weil er Geschäfte hatte. Er kam auf seinem Fahrrad. Als der Großstadtverkehr um ihn zu brausen anhub, begann er sich unsicher zu fühlen, stieg ab und führte das Rad. Und als er immer weiter in die lebensgefährlichen Strudel hineingeriet, flüchtete er vom Damm auf den Bürgersteig und führte sein Rad dort oben, wo es verboten ist, Fahrräder zu führen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Uebertretung der Straßenordnung von einem Schutzmann entdeckt wurde. Er lief hinter dem Uebertreter her, er mußte rennen, um ihn einzuholen, und langte atemlos an. Infolge der Atemlosigkeit oder auch im Eifer, die Fortsetzung einer Uebertretung zu verhüten, geriet seine Aufforderung, den Bürgersteig zu verlassen und sich mit dem Rad auf den Fahrdamm zu scheren, ziemlich grob. Vielleicht war es gar nicht grob gemeint, vielleicht empfand der Landmann die Zurechtweisung nur als Grobheit. Jedenfalls erwiderte er:

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»Das könnten Sie mir ja auch freundlicher sagen.« »Wenn Sie nicht im Guten hören wollen, können Sie’s auch anders haben«, erwiderte der Schutzmann gekränkt. Anders, damit meinte er: mit Hilfe des Staates. Und er schrieb ihn auf und zeigte ihn an. Es erfolgte polizeilicher Strafbefehl; aber damit gab sich der Landmann nicht zufrieden, sondern verlangte richterliche Entscheidung. Außer dem angeklagten Landmann sind drei Zeugen zur Stelle, darunter der Polizist. Der Angeklagte leugnet nicht. Jawohl, er habe das Rad auf dem Bürgersteig geführt. Jawohl, er sei der Aufforderung des Schutzmanns nicht einfach gefolgt, sondern habe den groben Ton gerügt. Der Schutzmann wird vernommen. Warum er bei so geringfügigem Anlaß eine Anzeige erstattet habe. Darauf der Schutzmann mit dem Nachdruck der Ueberzeugung: »Weil er sein Unrecht nicht einsehen wollte.« O du geheimnisvolle Seele eines Schutzmannes, wer mißt deine Tiefen! Wenn der Landmann sein Unrecht eingesehen hätte, wäre er nicht angezeigt worden. Weil er es aber nicht eingesehen hat, soll er seine Strafe haben. Höchst einfacher, höchst menschlicher, höchst nachahmenswerter Grundsatz der Rechtspflege! Die Leute werden verfolgt und angeklagt, bestraft oder freigesprochen, ohne daß jemand fragt, ob sie ihr Unrecht einsehen. So ist es bei uns, aber so sollte es nicht sein. Was erreichen wir schon mit unserer Justiz? Was wollen wir erreichen? Es gibt viele Theorien über den Zweck der Strafe. Alle sind unzulänglich. Man mag streiten und sich den Kopf zerbrechen, im Grunde gibt es nur ein Ziel: Der Rechtsbrecher soll sein Unrecht einsehen! Wenn er sein Unrecht einsieht, dann hat er Frieden mit uns geschlossen, dann dürfen wir auch Frieden mit ihm schließen. O du rechtsphilosophischer Instinkt eines Schutzmannes! Das Gericht verzichtet auf die beiden anderen Zeugen. Es mag dem Landmann nichts anhaben, es darf ihn aber auch nicht freisprechen. Es tut dem Buchstaben und dem Geist Genüge, indem es das Urteil verkündet: eine Reichsmark Geldstrafe. Inquit 9.9.1931

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Vater Richter Der Angeklagte geht grade auf den Richtertisch los und legt einen schönen großen rotbäckigen Apfel nieder. »Hier, Herr Richter. Nu essen Sie man. Und dann machen Sie’s nich so grob mit mir.« Der Vorsitzende stellt fest, daß der Angeklagte nicht weniger als 32mal vorbestraft ist. »Daran hat wohl am meisten die Flasche schuld, wie?« »Na ja, Vater Richter, du weest ja, wie det so is.« Zu einem Justizwachtmeister, der ihn auf den Platz des Angeklagten verweisen will: »Ick spreche hier mit Pappa.« Und spricht zum Richter: »Ick bin der Schlechteste och nich. Nu eß mal hier den Appel.« Der Vorsitzende macht vergebliche Anstrengungen, die Gabe zurückzuweisen. Der Apfel bleibt auf dem Richtertisch liegen und leuchtet in seiner appetitlichen Rundheit durch die ganze Verhandlung. »Nu hab ick mir die Wohnküche gemietet und wollte mit’s Gericht nischt mehr zu tun hab’n, und nu muß mir det hier passieren.« Passiert ist ihm, daß er in demselben Moabiter Kriminalgericht Krach geschlagen, den Beamten, die ihn hinausbefördern wollten, Widerstand geleistet und sie mit Schimpfworten beleidigt hat. »Ick streite det jarnich ab. Wenn Sie det sagen, Herr Richter, denn wird det wohl so jewesen sein.« Vorsitzender: »Warum haben Sie sich so ungehörig und widerspenstig benommen?« »Da werd’ ick mir wohl geärgert haben. Een Freund von mir hatte Termin. Da dacht’ ick, den werd’n sie bestrafen, und da wollt’ ick rin. Nu hab’n sie mir aber vorher was injeplumpt, und da hab ick eben Krach jeschlagen. Een juter Mensch bin ick aber doch. Nu mach’s man hallwege mit mir, Vater Richter.« Er rückt ihm den Apfel noch näher. Ein Justizwachtmeister als Zeuge schildert, wie der Angeklagte aus dem Gebäude gewiesen wurde, wie er immer wieder hereinkam und schließlich mit einem Taschenmesser drohte, das ihm gewaltsam entwunden werden mußte. Das Toben dauerte an, bis sein Freund ihn in einer Autodroschke

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wegschaffte. Der Staatsanwalt beantragt eine Gefängnisstrafe von drei Monaten und einer Woche. Vorsitzender: »Angeklagter, was sagen Sie dazu?« Angeklagter: »Wenn ick ins Gefängnis komme, davon werd’ ich bloß schlechter, nich besser. Nu bitt ick um eene milde Strafe. Hier, Vater Richter, iß man den Appel. Und denn tut mir mal den eenzigen Gefallen und gebt mir een kleenet bißchen Bewährungsfrist.« Während das Gericht berät, kommt von draußen einer hereingestürmt, offenbar sein Freund, und wirft ihm ein Schlüsselbund hin. »Hier, du Lump«, ruft er ihm zu, »wenn ick gewußt hätte, det du vorbestraft bist, denn hätt’ ick nie mit dir angefangen. Pfui, schäme dir wat.« Und er stürmt entrüstet wieder hinaus. Der Angeklagte hat Zeit, sich im Saal umzusehen. Er schiebt einen Priem hinter die Zähne und spricht zu den Zeugen hinüber: »Wer hat mir denn nu angezeigt? Warst du det, Kleener?« Er meint den Justizwachtmeister. »Warum hast du nich gesagt: laß doch den ollen Kerl laufen! So hätt’ ick det gemacht. Nu paß mal uff, wat hier rauskommen tut. Guten Menschen geht es immer schlecht. Aber denn nehm’ ick mir det Leben, und denn hast du mir aufs Gewissen.« Das Gericht erscheint wieder. Der Angeklagte ist zu zwei Monaten und einer Woche Gefängnis verurteilt; das Taschenmesser wird eingezogen; der Präsident des Landgerichts erhält die Befugnis, das Urteil durch Aushang auf Kosten des Angeklagten zu publizieren. Und dann zeigt sich der Richter wirklich wie ein Vater: er verkündet den Beschluß, daß die Strafvollstrekkung ausgesetzt wird, unter der Bedingung, daß der Angeklagte sich der Schutzaufsicht des Wohlfahrtsamtes unterstellt und sich durch eine Kur den Alkohol entziehen lässt. Der Angeklagte weint beinahe vor Rührung. »Verlaß dir druff, Vater Richter, ick trinke nie mehr eenen Troppen.« Er besteht darauf, dem Vorsitzenden die Hand drücken zu dürfen. Der Freund kommt wieder hereingestürmt, küßt den Begnadigten schallend auf den Mund und führt ihn hinaus. Fünf Minuten später sieht man die beiden eng umschlungen in die nächste Kneipe verschwinden. Inquit 22.10.1931

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Was heißt »noch«? »Ich sage noch zu meinem Mann: nimm deinen Regenschirm mit.« Dieses »noch« erklingt häufig genug in den Rechtfertigungen der Angeklagten und in den Aussagen der Zeugen. Es hat längst meine Aufmerksamkeit angezogen, und ich bin seit Jahren bemüht, seinen Sinn zu erforschen. Ich darf verraten, daß ich eine Art von Studium daraus gemacht habe. Hier das Ergebnis. Auf das erste Hinhören sieht die Sache sehr einfach aus. Was ich noch sagen wollte, oder: Uebrigens, dabei fällt mir noch ein. Ist es so gemeint? Manchmal ohne Zweifel ist es so gemeint; aber das gehört zu den Ausnahmen. »Ich sitze noch und nähe mir einen Knopf an« – soll heißen: Eben noch geht das Leben seinen unscheinbaren Gang, ich treibe mein friedfertiges Wesen, ich denke an gar nichts, da ereignet sich dasjenige, weswegen jetzt diese Gerichtsverhandlung stattfindet. Auch das kann es bedeuten; aber auch das ist nicht das eigentliche »Gerichts-noch«. »Wir sind noch an der Ecke stehengeblieben und haben uns was erzählt« – dem Angeklagten kommt es nicht auf die Zeitfolge an. Er will nicht sagen: bevor das geschah, über das hier verhandelt wird, fand noch eine harmlose und ahnungslose Plauderei statt. Er will ganz etwas anderes sagen. Zunächst will er ablenken. Er will die Aufmerksamkeit von der Straftat weg auf einen Nebenpunkt dirigieren. Ferner will er sich für seine Rechtfertigung, von der er fühlt, daß sie ihm nicht geglaubt wird, Glauben sichern, indem er eine glaubwürdige Einzelheit anführt; eine, die mit der Hauptsache nichts zu tun hat und die grade darum unverfänglich erscheint. Und endlich will er sich dem Wohlwollen seiner Richter empfehlen. »Ich denke noch, wirst dir mal ein Glas Wein leisten.« So spricht der Angeklagte; aber auch der Zeuge, dem nicht geglaubt wird oder der im Verdacht steht, an der Straftat beteiligt zu sein. Um die Gunst des Gerichts wirbt er mit seinem »noch«. Blickt auf mich, meine Herren Richter, will er sagen. Auch ich bin ein Mensch; nur ein Mensch, aber doch ein Mensch

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wie ihr. Ich habe meine kleinen Schwächen wie jeder andere Mensch. Aber sind sie nicht verzeihlich? Und werde ich nicht grade dadurch liebenswert? Warum soll mich nicht das Gelüst anwandeln, ein Glas Wein zu trinken? Wen hat dergleichen nicht schon angewandelt? Und wer möchte es mir verdenken, wenn ich ihm nachgebe? Sehen Sie, meine Herren Richter, so einer bin ich. Es hat mit der Sache nichts zu tun, aber es wirft doch ein Licht auf mich. Ich selbst bin es, der diese Laterne anzündet und mir damit ins Gesicht leuchtet. Nun bedienen Sie sich der unvermuteten Helligkeit und schauen Sie her zu mir. Ecce homo! Das meint er, wenn er »noch« sagt. Er kann freilich nicht ausdrücken, was er meint. Dazu fehlt es ihm an Gewandtheit der Rede. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, was er meint. Dazu fehlt es ihm an Klarheit des Denkens. Er fühlt nur seine bedrohte Lage inmitten eines gefährlichen Justizvorganges und nimmt instinktiv seine Zuflucht zu der Genialität der Sprache, die ihm mit einem unscheinbaren Wörtchen zur Verfügung stellt, was er an diesem Ort braucht: Waffe, Schild, Maske und Schmuck. Das heißt »noch«. Inquit 6.12.1931

Der falsche Verdacht Mehr als fünf Jahre liegt die Straftat zurück, über deren Aburteilung durch das Schöffengericht Schöneberg im Abendblatt berichtet worden ist. Um des Zusammenhanges willen sei es erlaubt, den Sachverhalt kurz zu wiederholen. Damals faßte der Angeklagte, arbeitslos und notleidend, Ende Dezember den Entschluß, eine alte Frau zu berauben, die allein in ihrer Wohnbaracke auf dem Laubengelände von Lichtenrade hauste. Sie hatte ihn gelegentlich mit Gartenarbeiten beschäftigt; daher wußte er über ihre Umstände Bescheid. Mit einer schwarzen Binde maskiert klopfte er in tiefer Dunkelheit an ihr Fenster, mit dem Ruf: »Mach auf, Tante«, so daß sie glauben

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mußte, ihr Neffe komme sie besuchen. Sie trat ihm mit einer Petroleumlampe entgegen, die er ihr aus der Hand schlug. Er forderte Geld, und sie gab ihm, was sie hatte. Es war nicht viel mehr als eine Mark. Hätte sie ihre städtische Unterstützung schon abgehoben, so wären ihm 50 Mark in die Hände gefallen. Er blieb unentdeckt. Damals war er noch unbescholten. Später zog er sich eine Reihe von Strafen zu, und im Gefängnis bekannte er einem Mitgefangenen den Raubüberfall. So kommt es jetzt erst zur Verhandlung. Das Urteil, wie gemeldet, ergeht auf 3 Jahre Gefängnis und 3 Jahre Ehrverlust wegen schwerer räuberischer Erpressung. Zu dem Geständnis hatte er sich dadurch bewogen gefühlt, daß in seiner Gegenwart erzählt wurde, wegen jenes Verbrechens sei ein anderer verhaftet worden. Und um des anderen willen verdient der Fall, über den Moabiter Tagesbetrieb erhoben zu werden. Die alte Frau nämlich hatte über den maskierten Räuber nichts anderes auszusagen gewußt, als daß ihr seine roten Hände aufgefallen wären. Rote Hände aber, fügte sie gleich hinzu, habe der Kutscher einer Samenhandlung, der ihr das Futter für ihr Geflügel zu bringen pflegte. Sie ergänzte ihre Angabe noch dahin, er müsse gewußt haben, daß sie um den Ersten herum ihr Unterstützungsgeld empfing. Man verhörte den Kutscher. Er leugnete und gab zu seiner Entlastung an, er sei über die Feiertage in der Heimat gewesen. Man prüfte nach, und siehe da: das Alibi erwies sich als falsch. Er war zwar nach Hause gereist; aber zur Zeit der Tat befand er sich schon wieder an seiner Arbeitsstätte. Daraufhin nahm man ihn in Untersuchungshaft. Es kam zur Hauptverhandlung. Die strikte Beteuerung seiner Unschuld stand gegen die ungewisse Aussage der alten Frau, die außer dem Indiz der roten Hände nichts Ueberzeugendes gegen ihn vorzubringen vermochte. Man durfte ihn auf Grund so lückenhafter Belastung nicht für überführt halten. Er wurde freigesprochen »aus Mangel an Beweisen«, wie es in der Urteilsbegründung hieß, mit dem ausdrücklichen Zusatz: »wenn auch der schwere Verdacht der Täterschaft an ihm haftenbleibt.« Die Lehre, die niemals auszulernen ist: Verdacht, dringender Verdacht, unwiderleglicher Verdacht kann entstehen trotz völliger Unschuld. Die falsche, die nachweisbar erlogene Rechtfertigung braucht nicht ein böses Gewissen zu verraten; die Wucht des Vorwurfs, die Wehrlosigkeit vor dem Schein der Schuld reicht aus, um den Verdächtigen aus der Fassung zu bringen. Indizien sind noch keine Wegweiser, bisweilen vielmehr Irrlichter; nicht immer werden sie erkannt, oft genug führen sie ins Verderben.

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Hoffentlich hält der Staat sich für verpflichtet, dem Kutscher mit den roten Händen zu bescheinigen, daß auch nicht eine Spur von Verdacht mehr an ihm haftengeblieben ist. Inquit 18.3.1932

Die schneidige Methode Die Mutter, Professorenwitwe, und die Tochter, geschiedene Frau eines praktischen Arztes, stehen wegen desselben Vergehens vor Gericht. Sie geben die Straftat zu. Mehr noch: sie erklären ihre Entschlossenheit, sie immer wieder zu begehen. Sie haben gemeinsam zu verhindern gewußt, daß der Sohn der Arztfrau, jetzt 11 Jahre alt, dem geschiedenen Mann, seinem Vater, überantwortet werde, wie das Gesetz es vorschreibt.10 Die Ehe zwischen dem Arzt und seiner Frau ist geschieden worden nach einem langwierigen Prozeß, den die Parteien bis zum Reichsgericht trieben. Die Schuld wurde auf beide Ehegatten gleichmäßig verteilt. Die Frau hält dieses Urteil für ungerecht. Man wird es ihr nicht einfach glauben können. Man wird auch voraussetzen, daß das Bild des Mannes, das sie dem Gericht entwirft, von Haß entstellt ist. Immerhin bietet sie Zeugen an für die Tatsache, daß er schon während der Ehe seinen Vaterpflichten nicht nachgekommen sei, und daß er sich zu Mißhandlungen habe hinreißen lassen. Er 10 Im Kindschaftsrecht dominierte auch noch in der Weimarer Republik der Vater, dem die elterliche Gewalt zustand. (§1627 BGB 1900) Die Mutter hatte während der Dauer der Ehe nur das Recht und die Pflicht, für das Kind zu sorgen. Sie konnte das Kind aber nicht vertreten und musste sich bei Meinungsverschiedenheiten zur Erziehung des Kindes dem Willen des Ehemannes unterordnen. (§1634 BGB 1900) Im Falle einer Scheidung bei beiderseitigem Verschulden, erhielt die Mutter das Sorgerecht für Töchter und für Söhne unter sechs Jahren, der Vater für ältere Söhne. Das Recht des Vaters zur gesetzlichen Vertretung war selbst bei alleinigem Verschulden an der Scheidung nicht berührt. (§ 1635, Abs. 2, BGB 1900) Obwohl die Reichsverfassung von Weimar die Gleichberechtigung der Geschlechter forderte, kam es nicht zu entsprechenden Änderungen des BGB.

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selbst gibt zu, daß die Verhandlungen um das Kind, die nach der Scheidung geführt wurden, an der Frage des Unterhalts gescheitert sind. Auch der vom Vormundschaftsgericht eingesetzte Pfleger sagt aus, es habe Mühe gekostet, den Vater zu Zahlungen zu bewegen. Während des Scheidungsprozesses blieb der Knabe bei der Mutter. Als das Urteil rechtskräftig geworden war, hatte er sein 6. Lebensjahr überschritten. Nach dem Gesetz gehörte er von nun an unter die Aufsicht des Vaters. Keiner Mutter wird es leicht werden, ihr Kind, noch dazu ihr einziges, aus ihrer Obhut zu geben. Dieser Mutter darf geglaubt werden, daß sie fürchtete, ihr Söhnchen schweren seelischen und körperlichen Gefahren auszusetzen, wenn es gezwungen war, im Hause dieses Vaters aufzuwachsen. Der Knabe selbst hatte Angst davor. Jeder Besuch beim Vater verband sich bei ihm mit der Furcht, er werde nicht wieder fortgelassen werden. Als er tatsächlich eines Tages gezwungen werden sollte, dort zu bleiben, floh er durch einen Sprung aus dem Fenster. Gesehen hat diesen Sprung niemand, aber der Arzt bescheinigt eine leichte Gehirnerschütterung und ein verstauchtes Fußgelenk. Inzwischen geht der Streit, wem das Kind gehören soll, weiter. Das Vormundschaftsgericht verfügte, daß es vorläufig bei der Mutter bleiben dürfe. Der Mann legte Beschwerde ein, das Landgericht änderte die Verfügung dahin ab, daß die vorläufige Regelung bis zum Mai dieses Jahres gelten solle. Die letzte Entscheidung steht noch aus, inzwischen darf das Kind rechtmäßig bei der Mutter leben. Jedermann begreift, daß hier nicht ein Verbrechen begangen worden ist, und daß nicht ein verbrecherisches Weib vor seinen Richtern steht – außer dem Staatsanwalt. Der Staatsanwalt, trotz seiner jungen Jahre ein Vertreter der alten Schule, die wieder die allerneueste Schule zu werden droht, hebt an mit dem Pathos tiefster Entrüstung. »Vorsätzlich und schuldhaft« nennt er die Handlungsweise der Mutter. »Selbst wenn alles richtig sein sollte, was die Angeklagte über ihren Mann hier vorgetragen hat, so ist sie damit doch nicht entlastet. Wohin sollte es führen, wenn etwa ein Schuldner sich weigere, eine Vermögenssumme herauszugeben, weil er den Anspruch bestreitet und fürchtet, der Gegner könne bis zur Entscheidung seinem Vermögen Schaden zufügen.« Der Herr Anklagevertreter bemerkt also nicht den Unterschied zwischen der Gefährdung einer Geldsumme und eines Menschenkindes. »Der Staatsbürger hat sich den behördlichen Anordnungen zu fügen«, schmettert er weiter. Und dann kommt der köstliche Satz: »Mag immerhin die Mutter aus einer gewissen Liebe zu ihrem

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Kinde gehandelt haben …« Aus einer gewissen Liebe! Für strafschärfend hält er die Tatsache, daß sie ihre Tat »nicht bereut«. Er meint denn auch, daß eine Geldstrafe hier keineswegs ausreiche, und beantragt eine Gefängnisstrafe von je einem Monat, wenn auch mit Bewährungsfrist. Das Gericht beweist mehr Menschlichkeit und Lebenserfahrung. Es erkennt sehr wohl, daß die Entscheidung, die hier zu treffen ist, dem Vormundschaftsrichter gebührt, der sorgfältig nachzuforschen hat, was der Vater und was die Mutter für Menschen sind, und der danach entscheiden wird, unter wessen Obhut das Kind am besten gedeihen kann. Für die Vorenthaltung des Kindes begnügt es sich mit einer geringen Geldstrafe, mehr um dem Gesetz zu genügen, als um ein Vergehen zu sühnen. Was aber den Staatsanwalt betrifft, so möchte es sich empfehlen, die schneidige Methode, die schon beinahe für abgeschafft gelten konnte, nicht wieder einzuführen. Inquit 19.6.1932

Satt werden Einer sollte sechs Monate absitzen, wegen Körperverletzung. Er dient der edlen Frau Musica, grade stand er in Brot und Lohn, in diesen Notzeiten eine Seltenheit für einen Klarinettisten. Durfte er die schöne Stelle fahren lassen, um der dummen sechs Monate willen? Und wenn er heraus kam, was dann? Dann konnte er wieder stempeln gehen. Zum Glück traf er seinen Freund Emil. Emil stammt vom Lande, hatte dort seine Arbeit verloren, war nach Berlin gewandert, blieb auch hier arbeitslos, bekam aber wenigstens Unterstützung. Acht Mark und zehn Pfennige die Woche, zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Emil ließ sich das Mißgeschick seines Freundes Max erzählen und wußte sogleich Rat. Warum konnte er nicht die sechs Monate abmachen? Dann würde er sechs Monate lang seine Unterbringung haben, sein regelmäßiges Essen und seinen Seelenfrieden. Zugleich war dem Freunde Max geholfen, und der Staat hatte auch seinen Willen.

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Er ließ sich also die Papiere geben und bezog als Musiker Max das Zellengefängnis. Drei Monate ging die Sache gut, dann kam der Schwindel heraus. Nun steht er selbst vor Gericht. Was ist das, was er getan hat, juristisch? Erstens Begünstigung: er hat den Musiker seiner Bestrafung entziehen wollen. Zweitens intellektuelle Urkundenfälschung: er hat veranlaßt, daß er unter falschem Namen in die amtlichen Listen des Gefängnisses eingetragen wurde. »Jetzt müssen wir Sie also einsperren«, bedauert der Vorsitzende. Ja, das sieht Emil ein. Es tut ihm selber leid; denn im Grunde seines Herzens fühlt er keinen Hang zum Gefängnis. Sein Wusch ist, ehrlich zu bleiben. Wenn nur die bittere Not nicht wäre, die bewirkt, daß einem die Ehrlichkeit so schwer fällt. Im übrigen braucht der Herr Richter sich keine Sorgen zu machen: es ist nicht so schlimm mit dem Eingesperrtwerden. Er wenigstens hat sich im Gefängnis ganz wohl gefühlt. Das feste Dach über’m Kopf, die Regelmäßigkeit, die Behandlung: er kann sich nicht beklagen. Was aber das Wichtigste ist: das Essen hat ihm geschmeckt, und er ist satt geworden. »Nicht so laut!« ruft der Vorsitzende erschrocken, »sonst wollen noch mehr rein.« Urteil: 3 Monate Gefängnis. Inquit 25.6.1932

Der Sperling auf dem Dache In eine Schankwirtschaft trat ein Mann und verlangte eine Molle. Während ihm eingeschänkt wurde, flatterte etwas aus ihm, aus seiner Hand oder aus seiner Tasche, flog ängstlich zwischen den Wänden umher und setzte sich schließlich auf das Sims des Büfetts. Und siehe da, es war ein Spatz. Jedermann schaute zu dem liebenswürdigen Vögelchen empor, der Mann bat um eine Leiter, damit er sich seinen Sperling wiederholen könnte. Es wurde ihm gewährt, das Tierchen ließ sich auch willig greifen; als er aber

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wieder herunterkam, bemerkte die Wirtin, daß er von da oben zugleich eine Flasche Likör mitgenommen hatte. Sie schlug Lärm und holte die Polizei. Der Mann steht vor Gericht. Er entpuppt sich als ein Mensch mit ungewöhnlich vielen Vorstrafen. Die Absicht des Diebstahls leugnet er, aber das Gericht hält ihn für überführt und verurteilt ihn zu drei Monaten Gefängnis. Die Sache wäre somit erledigt, sie muß aber in einem wichtigen Punkt als ungeklärt gelten. Die Wirtin hat nämlich eine Zeugenaussage dahin gemacht, der Spatz sei auf diese Art von Diebstahl dressiert gewesen. Wenn sie damit recht hätte, und wenn es sich also nicht um einen Zufall, sondern um einen Gaunertrick handelte, so wäre es ein genialer Trick. Vielleicht hat der Mann auf diese Weise schon viele Flaschen Likör unbemerkt heruntergeholt, bis er von einer tüchtigen Wirtin ertappt worden ist. Die Frage, ob der Spatz dressiert war oder nicht, müßte vom Gericht beantwortet werden. Vom Ergebnis der Prüfung hinge ohne Zweifel das Strafmaß ab. Die Richter könnten sich einfach das Experiment vorführen lassen. Nur müßte dazu der Sperling zur Stelle sein. Er ist aber nicht zur Stelle, und er läßt sich auch nicht herbeischaffen. Denn als die Polizei den Dieb festnahm, ließ sie zugleich den Sperling laufen, vielmehr fliegen. Der Staatsbürger, in seinen Rechten so vielfach angefochten, fragt sich besorgt: Wie kommt die Polizei dazu? Das Vögelchen gehörte dem Dieb, er hatte darüber zu verfügen. Wenn es aber abgerichtet war und dadurch ein Werkzeug des Diebstahls bildete, so mußte es beschlagnahmt und für die Verhandlung sichergestellt werden. Statt dessen pfeift es jetzt mit anderen Spatzen von den Dächern. Der Sperling in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dache, sagt das Sprichwort. Der Dieb wird sich vermutlich gesagt haben: Die Schnapsflasche in der Hand ist besser als der Sperling auf dem Dache. Vielleicht darf man sogar sagen: Der Dieb in der Hand, nämlich der Polizei, ist besser als die Flasche auf dem Dache, nämlich des Büfetts. Auch wird jeder, der ein Herz hat, dem armen dressierten Tierchen seine Freiheit gönnen. Das ändert aber nichts daran, daß der Spatz zu den Akten gehört hätte – wenn anders wir Deutschen noch in einem Rechtsstaat leben. Inquit 9.8.1932

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Das Lied vom braven Mann »Strafmildernd ist in Betracht gezogen worden, daß der Beklagte sich bei Begehung der Tat in einer gewissen Notlage befunden hat.« Es ist in Betracht gezogen worden, und es ist gut, daß es in Betracht gezogen worden ist. Vielleicht versteht es sich heutzutage von selbst. Die Zeiten sind vorbei, da die Gerichte sich den Teufel darum scherten, wie einer lebt, wer daran schuld ist, daß er so lebt, und was er anstellen soll, um mit den Seinen nicht zu hungern und am Ende gar zu verhungern, wenn er doch nun einmal so lebt. Heutzutage scheren sich die Gerichte um diese Voraussetzungen, sie sind dazu erzogen worden, so weit wenigstens haben wir es glücklicherweise gebracht. Kein neuer Kurs wird hoffentlich daran rütteln. Die Not ist groß, die Straffälligkeit ist groß, aber decken Straffälligkeit und Not einander? Werden alle straffällig, die in Not geraten? Nein, nein, behüte Gott! Leuten geht es schlecht, sie befinden sich nicht nur »in einer gewissen Notlage«, sondern in bitterster Not. Und doch werden sie nicht straffällig. Und doch bleiben sie ehrlich. Die armen Rechtsbrecher, die aus Not, nur aus Not zu Rechtsbrechern geworden sind, die unbescholten geblieben wären, wenn die Not sie nicht erreicht hätte, sie verdienen die Milde der Gerichte, das Mitleid der Oeffentlichkeit, die Fürsorge des Staates. Und die andern? Wer spricht von den andern? Wer denkt an sie? Wer kümmert sich um sie? Und dabei sind es doch Helden, nichts Geringeres als Helden. Die karg besoldeten Beamten, die schlecht bezahlten Angestellten, kinderreiche Familien, die sich noch immer verpflichtet fühlen, Niveau zu wahren, in denen die Frau das Gehalt des Mannes einteilen muß bis auf den Pfennig, in denen die Straßenbahnfahrten abgezählt sind, das abendliche Glas Bier einmal die Woche, Besuch des Kinos einmal im Jahre. Die mühseligen Agenten, die sich die Füße müde traben, die immer weniger absetzen, von Tag zu Tag weniger. Die Händler, die auf der Straße stehen und ihre Ware ausrufen, Männer und Frauen, viele von ihnen alt, manche von ihnen krank,

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Gerichtsschreiberei; o. J.

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unermüdlich, bei jedem Wetter. Und schließlich die Arbeitslosen, denen zugemutet wird, von einem bißchen Unterstützung ihr Leben zu fristen. So viele, die sich abrackern und abhasten, jahraus, jahrein – vielleicht verlieren sie den Mut, vielleicht geben sie den Kampf auf, vielleicht flüchten sie in der Verzweiflung zum Selbstmord; aber den ehrlichen Namen geben sie nicht preis. »Strafmildernd« – – »in einer gewissen Notlage« – – gut, gut! Aber darüber sollen jene nicht unbesungen bleiben, die, trotz aller Not, keiner richterlichen Milde je bedürfen. Inquit 21.8.1932

Kleinstaaterei Mit dem Doktortitel läßt sich fast gefahrlos Schwindel treiben. Wer sich auf der Visitenkarte, an der Wohnungstür, bei der polizeilichen Anmeldung als Doktor bezeichnet, den fragt keine Behörde nach den Dokumenten, aus denen er seine Berechtigung herleitet. Er müßte denn denunziert worden sein. Einer wird denunziert. Man schickt ihm einen Strafbefehl über 30 Mark zu. Er will sich’s nicht gefallen lassen und beantragt richterliche Entscheidung. Und so steht er als Angeklagter vor dem Einzelrichter. Man hat ihn, aber man hat den falschen. Denn dieser Doktor trägt seinen Titel zu Recht. Alle Dokumente liegen vor, des Abituriums, dreier Staatsprüfungen, der Dissertation und des »Rigorosums« an der Universität Wien. Der österreichische Herr Doktor, Vorstandsmitglied eines kaufmännischen Unternehmens, hat seinen Wohnsitz in Sachsen. Als er acht Jahre dort gesessen hatte, machte ihn seine Stadtverwaltung darauf aufmerksam, daß er als Ausländer nicht befugt sei, einfach seinen heimischen Doktortitel zu führen, daß dazu vielmehr eine Erlaubnis der Regierung notwendig sei. Welcher Regierung? Versteht sich: der sächsischen. Der Herr Doktor stellte seinen Antrag, legte seine Papiere vor, und bekam die Erlaubnis. Kostete an Gebühren 65 Mark. »Für den Freistaat Sachsen«, stand zu lesen. Sollte er das etwa so verstehen, daß die Erlaubnis nur in Sachsen gilt, daß also, wenn

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er die sächsische Grenze überschritt und z. B. ins Preußische geriet, er sich einer anderen Visitenkarte bedienen müsse, ohne Doktortitel? Er geriet ins Preußische, da er als Vertreter seiner Firma in einem zivilen Rechtsstreit vor dem Kammergericht auftreten mußte. Nach den Personalien gefragt, gab er seinen Namen an, unter Hinzufügung des Doktortitels. »Sie haben hier unter Ihrem Eid eine falsche Aussage gemacht«, warf der gegnerische Anwalt ihm vor; »Sie sind gar nicht Doktor.« Und erstattete Strafanzeige wegen Meineids und Führung eines falschen Titels. Mit dem Meineid hatte er kein Glück; aber wegen des Doktortitels erfolgte der Strafbefehl. Es gibt eine alte königlich preußische Verordnung aus dem Jahre 1897, die den Ausländern auch in Preußen untersagt, ohne besondere Erlaubnis ausländische Titel zu führen. Der angeklagte Doktor wendet ein, er habe sie nicht gekannt. Er wendet weiter ein, er sei nicht auf den Gedanken verfallen, er müsse nun in allen 17 deutschen Bundesstaaten besonders um die Erlaubnis einkommen, nachdem ein Bundesstaat sie gewährt hatte, zumal, da er ja seinen Wohnsitz dort behielt und nach Preußen nur zum Termin herübergereist kam. Hätte er denn auch die Gebühren 17mal zahlen sollen? Der Richter wagt nicht, aus dem Handgelenk zu entscheiden. Er muß die schwierige Rechtslage erst studieren und setzt für das Urteil Verkündungstermin an. Und an solchem Kleinkram muß das Gericht Zeit und Kraft verschwenden. Und über solchem Plunder darf das ganze Elend deutscher Kleinstaaterei wieder auferstehen? Inquit 14.10.1932

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Novembersonntag Das kümmerliche bißchen Mensch auf der Anklagebank, ein Mann von 52  Jahren, steht allein in der Welt. Seine Frau ist tot. Seine Kinder sind verheiratet, es geht ihnen selber schlecht, er hört nichts mehr von ihnen. Gelernt hat er das Dreherhandwerk. Früher, es sind 20 Jahre seitdem vergangen, ist er ein bißchen gegen das Strafgesetz angerannt. Mit dem Kriege zog er ins Feld, dann kehrte er zu seinem Handwerk zurück und hatte Arbeit bis 1928. Da traf der Abbau auch ihn – er flog auf die Straße. Solange die Frau lebte, ging es leidlich. Er versuchte es mit dem Zeitungshandel, während er zugleich in einem eigenen Zimmer wohnte – es ist eine Zeit, nach der er sich heute zurücksehnt. Aber die Miete fraß den Verdienst. Schließlich fand er Zuflucht in einer der Arbeitersiedlungen des Pastors Bodelschwingh,11 da hatte er, was er brauchte: Arbeit, Obdach und Brot. Aber er ist nicht der einzige, der in Not ist, auch andere wollen einmal drankommen, und kurz, er mußte Platz machen. Mit 60 Pfennig Zehrgeld zog er davon, Autos überholten ihn, er durfte aufsitzen, und so gelangte er nach Berlin, an einem Sonntag im November, frühmorgens um acht. Was macht man in Berlin, allein, ohne Geld, an einem Novembersonntag? Wohlfahrt? »Es ist nicht so leicht ranzukommen, es sind zu viele.« Er wird wohl seine Erfahrungen haben. Er kommt am Postmuseum vorbei, sieht Leute hineingehen. Kostet das was? Nein, es kostet nichts. Also geht auch er hinein. Drinnen ist es trocken, warm, man darf sich setzen; aber zu essen gibt es nichts. Da liegt unter den Schaugegenständen ein Stück Holz, er denkt, vielleicht ist es »ein Altertum«, und steckt es zu sich. Nun 11 Friedrich von Bodelschwingh (6.3.1831–2.4.1910), ev. Theologe, führend in der Inneren Mission. Er leitete und baute eine Anstalt für Epilepsiekranke (Bethel bei Bielefeld) aus und gründete Arbeiterkolonien zunächst in Ostwestfalen, 1905 gründete er den »Verein Hoffnung für die Obdachlosen der Stadt Berlin e. V.«. 1906 entstand die Arbeitersiedlung »Lobetal« ca. 15 km nordöstlich von Berlin, wo Obdachlose – für eine bestimmte Zeit – gegen Arbeit Unterkunft und zu Essen bekamen.

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empfiehlt es sich, hier nicht länger zu bleiben. Er gelangt zum VölkerkundeMuseum. Auch da kostet es nichts, es ist trocken und warm, man darf sitzen; aber zu essen gibt es nichts. Auf Sockeln stehen, an den Wänden hängen, unter Glas liegen die seltsamen Gegenstände, die hier gesammelt werden, von Wert wahrscheinlich in irgendwelchen Zusammenhängen außerhalb seiner Welt. Da ist auch eine Rolle, leicht erreichbar, er nimmt sie ab, steckt sie in die Tasche, geht. Was nun? Er läuft ein paar Stunden in den Straßen umher, sucht dann ein Polizeirevier auf, zeigt das Holz und die Rolle, gesteht, er habe sie gestohlen. Will den Beamten noch einreden, er habe die Dinge einigen Antiquitätenhändlern angeboten, sei aber hinausgeworfen worden. Schlecht ausgedacht! Es ist Sonntag nachmittag, kein Händler erreichbar. Aber er fürchtet offenbar, die Polizei könnte merken, daß es ihm nur auf das Obdach ankommt, und könnte ihn wieder auf die Straße setzen. »Die an sich frevelhafte Tat muß bestraft werden«, begründet der Vorsitzende. Zwar ist das Stück Holz kein »Altertum« sondern nur ein Stück Holz, an dem gewisse Veränderungen des Materials demonstriert werden sollen. Dafür aber enthält die Rolle eine altchinesische Urkunde, nach der Schätzung der Gelehrten 5000 Mark wert. Urteil: drei Monate Gefängnis. Auf drei Monate wird er es trocken und warm haben und noch obendrein zu essen bekommen. Sieben Tage Untersuchungshaft werden freilich abgezogen. Und dann? Dann will er sich bemühen, zu Bodelschwingh zurückzukommen. Und der Vorsitzende verspricht, ihm dabei zu helfen. Das Stück Holz liegt wieder an seinem Platz im Postmuseum. Die chinesische Urkunde hängt wieder an der Wand des Völkerkunde-Museums. Das kümmerliche bißchen Mensch ist vorläufig untergebracht. Die Not geht weiter. Inquit 30.11.1932

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Ein deutscher Meister Der Angeklagte war in einer Verchromanstalt beschäftigt. Er arbeitete in der Schleiferei und stellte Ringe für Fahrradlampen her. Nicht er allein. Es gab Kollegen, die dasselbe verrichteten. Aus den Händen der Arbeiter gingen die Ringe in die Hände des Meisters. Der prüfte, ob alles sauber und richtig ausgeführt war. Was den Anforderungen nicht entsprach, das mußte noch einmal gemacht werden. Eines Tages bekam der Angeklagte einen Satz Ringe zurück. Der Kollege, der sie ihm überbrachte, noch dazu sein politischer Gegner, richtete die Bestellung mit der Ueberheblichkeit eines Vorgesetzten aus, warf ihm die Ringe sozusagen vor die Füße, fügte ein paar Grobheiten hinzu. Der Arbeiter brauste auf, er empfand die ganze Rückgabe als eine bloße Schikane, die Grobheiten als Beleidigung, er meinte, das alles ginge vom Meister aus, lief hin und schlug ihm mit seinem Holzpantoffel über den Schädel. Der Meister stürzte zu Boden, wurde bewußtlos ins Krankenhaus geschafft, lag lange an einer Gehirnerschütterung danieder. Der Arbeiter sollte seine Gewalttat, billig genug, mit zwei Monaten Gefängnis büßen, die ihm durch Strafbefehl auferlegt wurden. Er erhob aber Einspruch. Daher muß vor dem Schöffengericht verhandelt werden. Der Vorsitzende rät ihm, den Einspruch zurückzunehmen. Noch gelinder wegzukommen, könne er ja wohl nicht erwarten; vielleicht aber werde er strenger bestraft werden. Allein der Angeklagte beharrt auf der Verhandlung. Er sei nach jener Tat entlassen worden, seitdem arbeitslos, neue Beschäftigung stehe endlich in Aussicht, durch zwei Monate Gefängnis würde er sich alles verderben. Der Vorsitzende redet ihm gut zu, der Angeklagte bleibt bei seiner Bitte, und so entschließt sich das Gericht, wenigstens den Verletzten zu hören. Der Meister wird aufgerufen, ein schlichter Mann, aus dem Badischen gebürtig. Ob er Folgen zurückbehalten habe. Nein, er sei wieder hergestellt. Ob er wünsche, daß der Angeklagte bestraft werde. Nein, das wünsche er ganz und gar nicht.

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Mit der Verchromerei, führt er in seinem treuherzigen Dialekt aus, ist das eine heikle Sache. Das Verfahren steckt noch in den Kinderschuhen. Man muß sehr sorgfältig mit dem Metall umgehen, es darf keine Spur Feuchtigkeit daran haften, sonst mißlingt die Verchromung. Er selbst trug die Verantwortung vor der Werksleitung. Was nicht tadellos ausfiel, durfte er nicht durchlassen. Aber er wollte den Angeklagten, dem er die Ringe zurücksandte, nicht tadeln. Er wußte ja gar nicht, ob die Arbeit von ihm oder von einem andern verfehlt worden war. Wenn es dem Angeklagten so ausgerichtet wurde, als hätte er selber schuld, so muß der Kollege die Verschärfung aus eigenem hinzugefügt haben. Auch die groben Worte. Auch die hochfahrende Art, ihm die Ringe vor die Füße zu werfen. Vielleicht, vermutet der Meister, spielte die politische Gegnerschaft dabei eine Rolle. Aber, fügt der Meister hinzu, er wundert sich nicht, daß der Angeklagte das Ganze für eine Schikane hielt und darüber in Erregung geriet. Es herrschte kein angenehmer Ton in dem Werk, die Leitung ließ zu wünschen übrig. Er begreift auch, daß der Angeklagte glaubte, die schlechte Behandlung gehe auf den Meister zurück, und daß er seine Wut an dem Meister ausließ. »Ich kann mich in seine Lage versetzen und verstehe ihn sehr gut. Inzwischen bin ich auch entlassen worden und arbeitslos wie er. Es sind eben die schweren Zeiten, es geht uns allen gleich schlecht. Von mir aus braucht er nicht bestraft zu werden.« Wenn nicht einmal der Verletzte Strafe verlangt, darf auch das Gericht Milde walten lassen. Es setzt die Strafe auf zwei Wochen Gefängnis herab und gibt ihm dafür eine Bewährungsfrist. Hoffentlich gibt es noch mehr solcher Meister in Deutschland. Inquit 28.2.1933

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Vereidigungen vor Gericht

Offenbarungseid Eid bleibt Eid, sowohl nach seiner Wichtigkeit, als auch nach seiner Gefährlichkeit. Da war ein Fischgroßhändler in Zahlungsschwierigkeiten geraten und von seinem Schuldner zum Offenbarungseid geladen worden. Er ging nicht hin und wurde schließlich zur Ableistung des Eides verhaftet. Dann wurde auch noch nicht gleich geschworen, sondern er setzte sich, zusammen mit dem Gerichtsvollzieher, in ein Lokal und fertigte auf einem Briefbogen, den er sich vom Kellner hatte geben lassen, eine Aufstellung seines Vermögens, wozu sämtliche Besitzstücke und sämtliche Forderungen gehören. Er setzte also auf seine Liste ein paar Anzüge, einen Smoking, ein Dutzend Oberhemden und dergleichen mehr. Er schrieb, der Gerichtsvollzieher saß dabei, und sie verständigten sich durch gelegentliche Fragen und Antworten. »Ihren Spazierstock«, sagte der Gerichtsvollzieher, »müssen Sie auch aufschreiben. Sie tragen einen Trauring. Der gehört ebenfalls auf die Liste.« Der Fischhändler verschwieg ferner nicht eine Lebensversicherung und eine künftige Erbschaft. Von dem Anteil an einem Grundstück, der irgendwie schon weiter zediert war, meinte der Gerichtsvollzieher, der brauchte nicht

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aufgeschrieben werden, aber der Fischgroßhändler entgegnete, er wolle korrekt sein, und schrieb ihn dazu. Auf diese Liste leistete er seinen Eid – und hatte einen fahrlässigen Falscheid geschworen, für den er sich vor dem Schöffengericht Berlin-Wedding verantworten mußte. Denn, sagte die Anklage, du warst Geschäftsführer einer G. m. b. H. und hattest als solcher Einkommen. Warum hast du es nicht mit angegeben? Der Fischhändler erwiderte zweierlei zu seiner Verteidigung. Erstens: er hätte nicht gewußt, daß das Einkommen zu den Vermögenswerten gehöre. Niemand hätte ihm davon etwas gesagt, und wäre das geschehen, zum Beispiel durch den Gerichtsvollzieher beim Aufstellen der Liste, so hätte er sein Einkommen nicht verschwiegen. Zweitens aber: er hätte gar kein Einkommen gehabt. Tatsächlich verhielt sich das mit dem Einkommen sehr sonderbar. Er hatte einmal eine Fischhandelsgesellschaft m. b. H. gegründet, aber weil die Inflation darüber kam, so war sie nicht in Wirksamkeit getreten. Nachdem er mit seinem neuen Geschäft pleite gegangen war, hatte er diese alte G m. b. H. auf Gold umgestellt, in der Absicht, aus dem Gewinn seine Gläubiger zu befriedigen. Seine eigenen Anteile trat er dem Hauptgläubiger ab, der nun, zusammen mit einer Gläubigerin, Teilhaber war, während der Fischhändler als Geschäftsführer fungierte. Ein Gehalt war ihm nicht ausgesetzt worden, kleine Beträge, soviel er zur Fristung des Lebens brauchte, etwa 30 Mark wöchentlich, entnahm er der Kasse mit stillschweigender Einwilligung der Teilhaber. Und was die Gesellschaft verdiente, das wurde zur Tilgung der Schulden verwendet. Aber, wandte das Gericht ein, dieser zur Tilgung der Schulden verwendete Gewinn war Einkommen des Angeklagten, mit dem er seinen Vermögensstand verbesserte, indem er seine Schulden verminderte. Was der Angeklagte nicht begreifen wollte, da nicht er, sondern ein anderer das Geld bekam. Das Gericht erkannte anstelle einer verwirkten Gefängnisstrafe von zwei Wochen auf eine Geldstrafe von 100 Mark. Es nahm die Sache von der milden Seite, aber es konnte nicht darüber hinwegsehen, daß hier etwas beschworen worden war, was nicht ganz stimmte. Der Eid bleibt eben eine gefährliche Sache. Inquit 15.8.1928

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Ist Dummheit ein Verbrechen? Was ist besser, klug oder dumm? Klug, ohne Zweifel. Nur verhindert Klugheit, wenn sie nicht sehr groß ist, zu begreifen, daß Leute dumm sein können, oder wie dumm Leute sein können. Die psychiatrischen Sachverständigen dagegen wissen es. Sie sagen über den Angeklagten aus, daß er keineswegs schwachsinnig sei und daß die Segnungen des § 51 auf ihn nicht zutreffen; daß er aber einen schwerfälligen und langsamen Verstand habe. Er reichte ganz gut aus für treue Dienste, die er seinem Vaterland leistete, erst als Soldat, dann bei der Steuerbehörde. Aber weiter reichte er nicht. Indessen, es begab sich, daß er in einem Alimentenprozeß als Zeuge vernommen werden sollte. Auf der Ladung fand er als Beweisthema angegeben: festzustellen, ob die Klägerin in der Zeit vom soundsovielten bis zum soundsovielten Beziehungen zu einer Reihe von Männern unterhalten hätte. Darunter las er auch seinen eigenen Namen. Und als der schwerfällige und langsame Mensch, der er ist, bereitete er sich für den aufregenden Termin vor, indem er sich seine Antwort zurechtlegte, nämlich: nein; zu jener Zeit stand er mit der Klägerin nicht mehr in Beziehung. Auf dem Zivilgericht sah er sich inmitten eines Trubels und Wirbels, den zu bewältigen sein langsamer und schwerfälliger Verstand nicht geschaffen war. Ehe er begriff, was vorging, wurde er aufgerufen, vereidigt, mit Fragen überschüttet und barsch angefahren. Dem gegenüber wußte er sich nicht anders zu helfen, als sein vorbereitetes Sprüchlein aufzusagen und es hartnäckig zu wiederholen; bis er sehr unfreundlich aus dem Saale gewiesen wurde, weil die nächste Sache an die Reihe kam. Vor der Tür aber fiel ihm schwer auf die Seele, ob er nicht unter seinem Eide falsch ausgesagt hätte. Er vertraute sich einem Justizwachtmeister an, der ihm riet, den Sachverhalt sofort schriftlich dem Gericht mitzuteilen und um neue Vernehmung zu bitten. Das tat er denn auch. Und hatte eine Anklage wegen Meineids auf dem Halse. Denn während er gewillt war, auszusagen, er hätte zu der angegebenen Zeit keine

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Beziehungen zu der Kindsmutter unterhalten, war er außerdem gefragt worden, ob jemals dergleichen bestanden hätte, und auch das hatte er verneint. Vom Schwurgericht des Landgerichts I wurde er deswegen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Denn – so überlegten die klugen Richter – er war von seiner Frau geschieden worden, wobei sie als der allein schuldige Teil galt. Wären die Beziehungen zu jener Klägerin bekannt gewesen, so hätte das Scheidungsurteil für ihn weniger günstig gelautet. Nun war zwar dieses Urteil vier Tage vor seiner beschworenen falschen Aussage rechtskräftig geworden. Aber noch stand die Möglichkeit der Revision bevor. Und um sich vor einer Verschlechterung des Scheidungsurteils zu schützen, – so schlossen die klugen Richter –, hätte er mit Absicht falsch geschworen und sich erst hinterher auf seine Pflicht besonnen. Glücklicherweise konnte das Verfahren auf dem Wege über die Gutachten der Sachverständigen wiederaufgenommen werden. Diesmal sprach das Schwurgericht des Landgerichts I ihn von der Anklage des Meineids frei. Denn diesmal waren die Richter so klug, einzusehen, daß es möglich ist, aus Dummheit falsch zu schwören, namentlich vor einem ungeschickt fragenden Vorsitzenden, daß aber Dummheit kein Verbrechen ist, das mit Gefängnis bestraft werden dürfte. Inquit 15.10.1929

Eid bleibt Eid Auch das Berufungsgericht kann an der strafbaren Handlung eines fahrlässigen Falscheides nichts mehr ändern. Es kann nur die zwei Monate der ersten Instanz, an deren Stelle 300 Mark Geldstrafe treten sollten, auf einen Monat Gefängnis oder 100 Mark Geldstrafe herabsetzen. Denn der fahrlässige Falscheid ist geleistet worden. Es handelte sich um das Verfahren gegen einen Kaufmann wegen schwerer Urkundenfälschung und Betruges, der u. a. die Hallesche Stadtbank geschädigt hatte. Er ist inzwischen vom Halleschen Gericht zu hoher Strafe verurteilt worden. Als noch das Vorver-

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fahren schwebte, wurde seine frühere Buchhalterin, die in seiner Berliner Filiale tätig gewesen war, auf Ersuchen des Hallenser Untersuchungsrichters in Berlin vernommen. Der Berliner Vernehmungsrichter legte ihr 26 Fragen vor und fertigte über Fragen und Antworten ein ausführliches Protokoll an. Eine dieser Fragen ging dahin, welche Bücher in der Berliner Filiale geführt worden seien und wo sie sich befänden. Worauf sie die Bücher aufzählte und hinzufügte: »Als ich eintrat, waren überhaupt keine Bücher vorhanden. Alle Bücher sind erst auf meine Anregung und von mir angelegt worden und wurden von mir geführt.« An dieser Antwort ist dem Sinne nach so viel richtig, daß die Buchführung nicht in Ordnung war und erst von ihr in Ordnung gebracht wurde. Objektiv aber ist sie unrichtig. Denn erstens gab es mehr Bücher, als sie aufgeführt hatte, und zweitens waren die Bücher nicht von ihr, sondern vor ihrem Eintritt bei der Gründung des Geschäftes angelegt worden. Warum also drückt sie sich bei ihrer Vernehmung so unrichtig aus? Dazu muß man die Frauen kennen. Der Punkt ist auch in der Berufungsinstanz nicht völlig aufgeklärt worden. Aber so viel scheint doch festzustehen, daß sie einmal etwas mit ihrem Chef, dem inzwischen verurteilten Betrüger, gehabt hat. Und vielleicht, weil die Sache nicht so weiter ging, wie sie es sich wünschte, war sie auf ihn geladen. Und aus enttäuschter Leidenschaft sagte sie über einen so schwunglosen Gegenstand, wie es Geschäftsbücher sind, ein wenig schwungvoll aus, nämlich zu gut für sich und zu schlecht für ihn. Und so steht es nun im Protokoll. Das hätte ihr noch keineswegs zu schaden brauchen. Denn die Hauptverhandlung gegen den Schwindler kam erst noch. Und tatsächlich stellte sie vor dem Schöffengericht in Halle als Zeugin unter ihrem Eid die Sache im wesentlichen richtig. Aber man muß auch die Männer kennen. Sie halten sich, im Gegensatz zu den Frauen, für gewissenhaft und zuverlässig. Trotzdem hatte der Vernehmungsrichter, dessen Auftrag nur dahin lautete, sie uneidlich zu vernehmen, sie vereidigt. Und nun muß man außerdem noch das Gesetz kennen. Eid bleibt Eid, auch wenn er unberechtigt abgenommen worden ist. Und es gibt zwar einen Paragraphen, wonach ein fahrlässiger Falscheid Straflosigkeit erwirkt, wenn er freiwillig berichtigt wird, und das hatte sie vor dem Gericht in Halle auch im wesentlichen getan. Aber inzwischen war eine Voraussetzung der Straflosigkeit fortgefallen: ihr Chef, der Betrüger, hatte gegen sie bereits Anzeige erstattet. Somit kann nichts in der Welt sie vor Strafe retten. Sie hat sich in den Drähten der Justizmaschinerie verfangen.

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Wissenswert bleibt, wie dem Vernehmungsrichter zumute sein mag, der durch einen unnötig abgenommenen Eid einen unbescholtenen Menschen straffällig gemacht hat. Inquit 23.1.1930

Der weltliche Eid »Ich bitte festzustellen, ob einer der Herren Schöffen der Kommunistischen Partei angehört. Ich würde ihn dann ablehnen, weil ich befürchten müßte, daß er seine Direktiven aus Moskau erhält.« Es ist der Verteidiger des Angeklagten Dr. Weber, der sich so vernehmen läßt, und es ist der erste Tag der Berufungsverhandlung im Tscherwonzen-Fälschungsprozeß, der sich abspielt. Die alten Bekannten sind nur zum Teil zur Stelle, das Haupt der sogenannten georgischen Bewegung, Herr Karumidze, fehlt. Der Vorsitzende erwidert dem Anwalt, es stehe ihm zu einer solchen Feststellung keine gesetzliche Handhabe zur Verfügung. Dann lehne er den Schöffen wegen Befangenheit ab, erklärt der Anwalt. Den Schöffen? Welchen? Der Anwalt gibt seiner Stimme den Trompetenklang sittlicher Entrüstung, weist mit ausgestreckter Hand auf den Schöffen zur Rechten der Berufsrichter und verkündet schmetternd: »Den, der den Eid in weltlicher Form geleistet hat.«1 Der Vorsitzende richtet an diesen Schöffen die Frage, ob er sich befangen fühle. Und der schlichte Mann, schon bei Jahren, erklärt bescheiden, nein, er fühle sich nicht befangen, im Gegenteil, er gehöre der S. P. D. an. Alles atmet erleichtert auf, die Verhandlung kann beginnen. Der Anwalt aber hat den Gefühlen eines erheblichen Teiles der deutschen Bevölkerung Ausdruck verliehen. Wer – denkt dieser Teil – leistet den 1 Durch die Weimarer Verfassung war es möglich geworden, zwischen der ursprünglich religiösen Form und der weltlichen Form des Eides zu wählen.

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Eid in weltlicher Form? Welches Vertrauen – denkt dieser Teil – kann ein Mensch verdienen, der seinen Eid in weltlicher Form leistet? Bekanntlich schreibt die Strafprozeßordnung, § 63, noch immer vor, daß der Eid zu beginnen habe mit den Worten: »Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden«, und daß er schließen solle mit den Worten: »So wahr mir Gott helfe«. So steht es da, im Gesetz, ohne Einschränkung. Das Recht, die religiöse Formel wegzulassen und einfach nur zu bekräftigen mit den Worten: »Ich schwöre«, steht an einer ganz anderen Stelle, nämlich in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Man hat es dem Richter nicht ganz leicht gemacht, die Verfassung und die Strafprozeßordnung miteinander in Einklang zu bringen. Und da die bindende Vorschrift fehlt, so hat die Persönlichkeit des Vorsitzenden Spielraum, sich zu entfalten. Der eine fragt die Zeugen, ob sie den Eid religiös oder weltlich ablegen wollen. Gewöhnlich antworten sie darauf, es sei ihnen gleich. Andere Vorsitzende unterscheiden die »alte« und die »neue« Form, womit sie einem ängstlichen Gemüte nahelegen, bei dem bewährten Alten zu bleiben. Manche fragen, ob der Eid »mit Gott« oder »ohne Gott« geleistet werden soll. »Ohne Gott« – das klingt schon geradezu ruchlos. Und es soll sogar einen Vorsitzenden geben, der dem Zeugen die Entscheidung dadurch erleichtert, daß er die eine Form »religiös« nennt, die andere »profan«. Wer wird an einem so ehrwürdigen Ort wie einem Gericht auf profane Weise schwören wollen? In der Tat haben Zeugen leicht das Gefühl, daß sie einen schlechten Eindruck machen, wenn sie ohne Anrufung Gottes schwören. Polizeibeamte, die man sehr oft schwören hört, bedienen sich immer der religiösen Formel. Ueberhaupt alle Leute, die sich für etwas halten, oder die wünschen, für etwas gehalten zu werden. Um in der weltlichen Form zu schwören, dazu muß einer schon auftrumpfen wollen. Oder, wenn er das nicht will, so muß er sich einen nicht unerheblichen Ruck geben, um seiner Ueberzeugung bei dieser Gelegenheit zum Ausdruck zu verhelfen. Wie räsonniert Mephisto in Goethes »Faust«? »Die Mädels sind doch sehr interessiert, Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch!«

Das gilt noch heute, und nicht nur für Mädels.

Inquit 12.6.1930

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Reinigungseid Wieder eine Frau unter Meineidsanklage. Wieder die falsche Aussage beschworen im Ehescheidungsprozeß als sogenannter Reinigungseid2. Die Frau aber, die sich damit vom Vorwurf des Ehebruchs hat reinigen wollen, eine Matrone von 60 Jahren. Grauer Bubenkopf. Willensstarkes Gesicht, in das ein schicksalsvolles Leben seine scharfen Züge gegraben hat. Erste Ehe mit einem Landarbeiter. Er enthüllt sich als Trinker. Sieben Kinder, aber nach zwölf Jahren Scheidung. Zweite Ehe mit einem um 13 Jahre jüngeren Mann. Sehr glücklich. Er fällt im Kriege. Dritte Ehe. Er ist um 24 Jahre jünger als sie. Trotzdem ein zärtliches Idyll, bis er sich von anderen Frauen angezogen fühlt. Von da ab Zank. Scheidungsklage. Spruch der ersten Instanz: geschieden, beide Parteien schuldig. Berufung. Spruch des Kammergerichts: ihr wird der Reinigungseid auferlegt. Sie leistet ihn. Die Scheidung erfolgt nicht. Er erstattet Anzeige wegen Meineides. Der Mann, mit dem sie die Ehe gebrochen haben soll, zählt 65 Jahre. Auf dem Friedhof lernten sie sich kennen, wo er das Grab seiner Frau betreute, sie ihren gefallenen zweiten Mann besuchte. Trostbedürfnis und Trostbereitschaft half das Bündnis stiften und festigen. Sie besuchte ihn in seiner Wohnung, gelockt, wie sie behauptet, von dem vortrefflichen Gulasch, das er zu bereiten wußte; brachte auch gelegentlich eine ihrer Töchter mit. Auf der Straße spielten derweil ihre Enkelkinder. Nach ihren Erzählungen hielt er sie für eine Kriegerwitwe. So saßen sie beieinander und unterhielten sich. Weiter gar nichts. Behauptet sie. Vielleicht hätte er sie geheiratet. Aber nach 2 Der Reinigungseid galt im mittelalterlichen Prozess als Beweismittel und wurde meist von Eideshelfern unterstützt. Es handelt sich um die eidesstattliche Versicherung des Beklagten, dass er unschuldig sei.

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14 Tagen kam er dahinter, daß sie selbst verheiratet war. Da zog er sich zurück. Er, der Fünfundsechzigjährige, ist ein Mann, der gern mit seinen Erfolgen bei Frauen renommiert. Inzwischen hat er sich wieder verheiratet. In seiner Eigenschaft als Zeuge im Scheidungsprozeß verweigerte er die Aussage. Jetzt entdeckt das Gericht, daß er sie ja damals für unverheiratet gehalten hat, daß er also nicht in Gefahr ist, sich durch seine Aussage selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen. Jetzt sagt er aus. Urteil: wegen Meineids 1 Jahr Zuchthaus, 2 Jahre Ehrverlust. Wann endlich wird man aufhören, Frauen unter Eid zu befragen in einer Lage, in der ihnen etwas ganz anderes am Herzen liegt als die Wahrheit? Inquit 25.10.1930

Vier zu drei Um diese Sache zu entscheiden, wird zweimal vertagt. Die dritte Verhandlung nimmt drei Stunden in Anspruch. Am Schluß der Beweisaufnahme sind neun Eide geleistet worden. Zwei davon bedeuten nichts; denn die Zeugen erinnern sich nicht. Bleiben sieben Eide. Von ihnen behaupten vier: ja – drei: nein. Es sind also drei Meineide geschworen, wenn die vier recht haben, und vier Meineide, wenn die drei richtig sind. Das alles um die Frage, ob ein paar Polizisten im Dienste mit dem Angeklagten Bier getrunken haben oder nicht. Der Angeklagte hat das behauptet auf der Polizeiwache, an einem Junimorgen um 5 Uhr. Er randalierte, wurde zur Ruhe gewiesen und suchte die Situation für sich zu retten mit der Bemerkung: »Gib nicht so viel an, du hast mit mir schon mehr als eine Molle Bier im Tschako getrunken.« Im Tschako, das heißt: im Dienst. Das Recht, den Polizeibeamten zu duzen, leitet er davon her, daß er selbst früher Polizeibeamter gewesen ist. Inzwischen hat er sich auf die Boxerei geworfen.

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In der Rolle des Angeklagten befindet er sich jetzt, weil die Polizei wegen dieser üblen Nachrede Strafantrag gestellt hat. Er muß also den Wahrheitsbeweis erbringen. Er behauptet: »Einmal haben die Beamten mit mir getrunken in einem Wärterhäuschen an der Stettiner Bahn. Wir waren zu fünf, ich selbst habe fünf Flaschen Bier eingekauft. Ein andermal traf ich ein paar Bekannte auf der Straße und lud sie in ein Lokal. Dort drin fanden wir zwei Polizisten. Sie standen und tranken Bier.« Er nennt auch die Namen der Polizisten. Drei Polizisten erklären unter Eid: niemals. Der vierte Polizist, der gar nicht beschuldigt worden ist, gibt zu, daß er damals im Bahnwärterhaus mitgetrunken hat; er kann aber seinen Kameraden nicht mehr nennen. Den Kameraden erkennt dafür der Bahnwärter. Zwei Polizisten leugnen die Szene in dem Lokal; aber drei Polizisten erinnern sich. Der Einzelrichter spricht frei. Er begründet: Eide stehen gegen Eide. Dies und jenes ist verdächtig, aber als unglaubwürdig können weder die einen noch die andern bezeichnet werden. Das Gericht vermag sonach den Wahrheitsbeweis des Angeklagten nicht als widerlegt zu betrachten. Soll man sich also entrüsten über den Aufwand an Zeit, an Mühe und an Eiden um eine solche Belanglosigkeit? Im Gegenteil, man soll dem Einzelrichter ein Loblied singen. Welch eine Gewissenhaftigkeit! Und welch eine Unbestechlichkeit! Denn um es endlich zu verraten: Der Angeklagte, der sich diese nicht widerlegte Beleidigung erlaubt hat, gehört nicht zu den Menschen, die für sich einnehmen. Schwatzhaft, wichtigtuerisch, zudringlich, vollgestopft mit Klatsch und Tratsch. In jener Juninacht war er zunächst um 2 Uhr auf die Wache gebracht worden wegen einer Schlägerei. Um 4 Uhr kam er schon wieder. Er hatte sich in einem Lokal mißliebig gemacht, war hinausgesetzt worden und forderte einen Beamten zu seinem Schutz. Ein Polizist ging auch wirklich mit ihm, ließ sich den Wirt rufen, fand keinen Grund zum Einschreiten. Der Hinausgeworfene begann zu toben, rannte noch einmal zur Wache, forderte Maßregelung des Beamten, fuhr mit einer Autodroschke zu der vorgesetzten Dienststelle, erreichte nichts und drohte, diese Polizeiwache »hochgehen« zu lassen. Ein Denkzettel hätte ihm wohlgetan. Der Einzelrichter verfährt nicht so. Er ist auf der Hut vor seinem Gefühl. Er läßt den Angeklagten schwatzen, er läßt ihn sich wichtig tun, er wägt Für und Wider leidenschaftslos ab und spricht ihn frei. Inquit 22.11.1930

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Der Name Gottes Das Tagewerk der Justiz geht seinen Gang, ein Angeklagter nach dem anderen tritt vor den Richter, ein Kriminalfall nach dem anderen wird auseinandergebreitet. Die Kette der Zeugen reißt nicht ab, sie leisten den Eid, es ist eine Formalität; eine wichtige, manchmal verhängnisvoll nachwirkende Formalität, aber die Prozeßbeteiligten sind daran gewöhnt, sie empfinden nichts dabei, sie machen es geschäftsmäßig und eilig ab. »So wahr mir Gott helfe.« Ein Greis, ehrwürdig in weißwallendem Barte, hat Zeugnis abgelegt, in der harten fremdartigen Sprechweise des Ostens. Zwei armselige Diebe werden abgeurteilt. »Können Sie Ihre Aussage beschwören?« schließt der Vorsitzende die Vernehmung. Der Greis erschrickt. »Schwören soll ich? Ich soll schwören? Wegen solch einer Unwichtigkeit soll ich den heiligen Namen Gottes anrufen? Das tue ich nicht.« Der Vorsitzende belehrt: »Ich muß Ihnen den Eid abnehmen. Das Gesetz verlangt es so.« Der Zeuge klammert sich mit ratlosen Blicken an ihn. »Es steht geschrieben: Du sollst den Namen Gottes nicht leichtfertig aussprechen.« Der Vorsitzende fährt geduldig fort, ihn über die gesetzliche Notwendigkeit aufzuklären. Der Greis kann sich nicht fassen. »Siebzig Jahre bin ich alt geworden, ohne zu schwören. Und jetzt soll ich noch schwören? Auf meine alten Tage soll ich den Namen Gottes mißbrauchen?« Es gehe nicht anders, es liege nicht in der Macht des Gerichts, ihn zu befreien. Die Stimme des Greises schwillt drohend. »Herr Richter, den Namen Gottes leichtfertig anzurufen, ist Sünde. Die Sünde kommt auf Ihr Haupt, wenn Sie mich dazu zwingen.« Der Vorsitzende redet ihm gut zu. Er müsse auf dem Eid bestehen. Schlimmstenfalls könne er ihn erzwingen.

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»Aus den Berliner Gerichten«

Der Greis zuckt die Achseln. Kleinlaut, mit gesenkter Stirn, erklärt er sich bereit. Wenn es sein muß, so wolle er schwören. Aber er tue es nur, weil der Staat ihn zwinge. Er weiche der Gewalt. Das Gericht erhebt sich, mit ihm die Zeugen und die Zuhörer. Der Greis bedeckt sich das Haupt, wie es ihm seine Religion vorschreibt. Schauer der geweihten Handlung wehen durch den Saal. Die abgebrauchte Formel hat ihren Glanz wiedergewonnen, sie strahlt mit feuriger Kraft. Wie rollendes Gewitter dröhnen die inhaltschweren Worte über die Versammlung. »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden…« Inquit 13.3.1931

Verbrechen aus Mitleid Für Meineid ohne einen der gesetzlich festgelegten mildernden Umstände ein Jahr Zuchthaus. Das Schwurgericht selbst nennt diesen Spruch zu hart und kündigt an, es werde beim Justizminister ein Gnadengesuch für den Angeklagten einreichen. Was beweist dieser Fall? Er beweist, daß unser Strafgesetz mit dem Unfug der festgelegten Mindeststrafen veraltet ist. Er beweist nichts gegen den Eid. Man kann nicht behaupten, er sei leichtfertig oder unnötig abgenommen worden. Der Angeklagte wußte, daß er falsch schwor, und wollte falsch schwören. Er hatte seine Gründe dafür. Grade um diese Verlockung auszuschalten, droht das Gesetz so schwere Strafen an. Und dennoch ist die Strafe zu schwer. Der Angeklagte ist von Beruf Musiker. Erst spielte er beim Militär; aber da ihm der Betrieb nicht musikalisch genug war, so nahm er seinen Abschied. Er wollte zur Oper. Es gelang nicht, und heute spielt er im Orchester der Ufa. Sein Instrument ist das bescheidene, männliche und ehrenfeste Fagott. Wählt ein Musiker sein Instrument nach Zufällen? Es muß, sollte man wenigstens glauben, eine Uebereinstimmung der Charaktere stattfinden. Aber hier scheint eine Ausnahme vorzuliegen. Das Wesen dieses Mannes ist

»Eid bleibt Eid«

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Ueberschwang. Auch Ueberschwang des Mitleids. Und aus Mitleid hat er sein Verbrechen begangen. Zugunsten einer Frau. Einer Frau, die ihn nichts anging, außer daß sie ihm das Leid ihrer Ehe klagte. Ihr Mann mißhandele und betrüge sie. Eines Tages war er in der Wohnung des andern Zeuge eines Telefongesprächs, das dieser mit seiner Geliebten führte. Unerwartet kehrte die Ehefrau heim. Der Musiker rief seinem Bekannten zu, er möge das Gespräch abbrechen, um die Frau nicht zu kränken. Aber der kümmerte sich nicht darum. Die Frau geriet in Wut und überschüttete die Geliebte sowohl wie ihren Mann mit Schimpfworten. Kurz darauf erfuhr der Musiker von seinem Bekannten, die Geliebte gedenke mit einer Beleidigungsklage gegen seine Frau vorzugehen und werde ihn als Zeugen angeben. »Ich will nichts mit dem Gericht zu tun haben, ich weiß von nichts«, wehrte er sich. Aber es half ihm nichts, er bekam seine Vorladung. Damals befand er sich in Ahlbeck, als Mitglied eines Kurorchesters. Dort wurde er kommissarisch vernommen. Tagelang rang er mit sich, ob er durch seine Aussage dem gewissenlosen Mann behilflich sein sollte, seine Frau loszuwerden, oder ob er der Wahrheit die Ehre geben müsse. Vor dem vernehmenden Richter sagte er dann, er erinnere sich nicht, und beschwor diese Aussage. Wie konnte jemand ihm nachweisen, daß er sich doch erinnerte? Er selbst erzählte es seinen Ahlbecker Wirtsleuten, die gaben es an einen Mann weiter, der seinerseits ein Jugendbekannter des Ehemanns war, und so bekam der Ehemann eine Handhabe, den Musiker wegen Meineids anzuzeigen. Nicht um ihm zu schaden, sondern um gleichzeitig seine Frau wegen Anstiftung zum Meineid zu belangen. Dies wenigstens ist ihm nicht gelungen; auch nicht die Ehescheidung. Die Schurkerei eines Menschen aber, der seine Frau verderben will, um sie los zu werden, und dem es auf diesem Wege nicht darauf ankommt, auch noch einen Unbeteiligten zu verderben, ist mit dem Strafgesetz nicht zu fassen. Inquit 1.9.1931

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»Aus den Berliner Gerichten«

Der neue Kopf Den nächsten Zeugen hat der Angeklagte selbst benannt; es ist also anzunehmen, daß er als Entlastungszeuge auftreten soll. »Haben Sie die beleidigenden Aeußerungen gehört?« »Nischt hab’ ick jehört.« »Waren Sie denn dabei?« »Wo wer’ ick nich bei jewesen sind. Mitten mang bin ick jewesen.« »Hätten Sie die Beleidigungen hören müssen, wenn sie gefallen wären?« »Na jewiß doch.« »Ihrer Meinung nach hat also der Angeklagte sich keiner Beleidigung schuldig gemacht?« »Keene Ahnung.« »Herr Zeuge, Sie müssen Ihre Aussage beschwören. Wollen Sie den Eid in religiöser oder in weltlicher Form leisten?« »Ick will jakeenen Eid leisten.« »Das steht nicht in Ihrem Belieben. Sie müssen den Eid leisten.« »Ick nich. Ick habe ’n neuen Kopp jekrigt.« »Was haben Sie?« »’n neuen Kopp hab’ ick jekrigt. Ick derf keenen Eid leisten.« »Ich verstehe Ihre Ausdrucksweise nicht. Wollen Sie vielleicht sagen, Sie sind wegen Meineids vorbestraft und daher eidesunfähig?« »Nu machen Se man hallwege.« »Kennen Sie denn den Angeklagten?« »Sojar sehr jut kenn’ ick ihn.« »Woher kennen Sie ihn?« »Weeß ick nich mehr.« »Haben Sie ihn vielleicht im Gefängnis kennengelernt?« »Det jehört nich hierher.« »Es kommt vor, daß zwei, die zusammen eine Strafe verbüßt haben, aus Gefälligkeit vor Gericht sich gegenseitig entlasten. Sind Sie überhaupt vorbestraft?«

»Eid bleibt Eid«

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»Vorbestraft bin ick. Da find’ ick nischt bei.« »Weswegen sind Sie bestraft?« »Herr Richter, nu will ick Ihnen ’n juten Rat jeben: lassen Se det und kommen Se lieber zur Sache.« »Leiten Sie die Verhandlung oder leite ich sie?« »Ick hab’ ’n neuen Kopp jekrigt. Weiter jeht mir nischt an.« »Von wem haben Sie denn den neuen Kopf bekommen?« »Von ’n Sanitätsrat. Der hat jesagt, nu kann keener von mir verlangen, det ick schwöre. Hier haben Se ’t Attest, wenn Se wollen’t janz jenau wissen.« »Ah, Sie waren in der Irrenanstalt.« Mit Einwilligung aller Prozeßbeteiligten wird auf den Zeugen verzichtet. Inquit 14.8.1932

Der Eid des Kameraden Zwei Hakenkreuz-Knaben, zehn- bis zwölfjährig, sehen einen Drei-PfeileKnaben3, ebenso alt, Zettel verteilen. Da sie in der Ueberzahl sind, fallen sie über ihn her und wollen ihm das Paket entreißen. Ein Erwachsener tritt dazwischen, befreit den Ueberfallenen, droht den Angreifern. Die wissen sich zu helfen; sie stürmen in das nächste S. A.-Lokal und schlagen Lärm. Ein S. A.-Mann tritt hinaus, läßt sich den Erwachsenen zeigen, ohrfeigt ihn. Er steht jetzt vor dem Schnellschöffengericht. Seine Verteidigung: Ich bin es nicht gewesen. Als Belastungszeuge der Geschlagene. Der Verteidiger forsch: »Wenn Sie beschwören, daß der Angeklagte es gewesen ist, von dem Sie geschlagen worden sind, so wird sich herausstellen, daß Sie einen Meineid geleistet haben.« Der Vorsitzende mahnt: »Lassen Sie sich nicht einschüchtern«, und der Zeuge sagt aus: die theoretische Möglichkeit des 3 Drei schräggestellte Pfeile wurden in der 2. Hälfte der Weimarer Republik von der SPD und deren Kampforganisation auf Plakaten in Wahlkämpfen verwendet.

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»Aus den Berliner Gerichten«

Irrtums vorbehalten, erkenne er in dem Angeklagten denjenigen wieder, der ihn vor dem S. A.-Lokal geschlagen habe. Aber der Verteidiger hält einen Entlastungszeugen bereit, und zwar wen? Den Sturmführer des angeklagten S. A.-Mannes. Der leistet den Zeugeneid und erklärt: Der Angeklagte könne es nicht gewesen sein; denn er, der Zeuge, wisse, wer wirklich geschlagen habe. Also möge er ihn nennen. Der Sturmführer weigert sich. Ihm wird seine Eidespflicht entgegengehalten »… daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde …« Indessen er beharrt: »Ueber die Eidespflicht geht die Pflicht der Kameradschaft.« Das Gericht verzichtet auf ein Zeugnis-Zwangsverfahren. Es findet auch so sein Urteil: zwei Monate Gefängnis. Die überlegene Begründung des Vorsitzenden – es ist Landgerichtsdirektor Steinhaus – lautet: Das Gericht hält die Schuld des Angeklagten für erwiesen grade mit Rücksicht auf die Kameradschaft, die der Sturmführer so laut in Anspruch nimmt. Denn wäre ein anderer schuldig, so hätte er sich gewiß freiwillig gemeldet, aus Kameradschaft. Diese Begründung wird sich kaum erschüttern lassen, vorausgesetzt freilich, daß die Kameradschaft ernst gemeint ist und nicht nur als Mittel benutzt wird, das Gericht irre zu führen und den Schuldigen seiner Strafe zu entziehen. Was aber die Rangordnung von Kameradschaft und Eidespflicht angeht, die hier einer, der Bescheid wissen muß, unbedachtsam ausgeplaudert hat, so mögen die Gerichte sie sich merken für alle Fälle, in denen sie zu verurteilen oder freizusprechen haben auf Grund beschworener Aussagen von S. A.-Kameraden. Inquit 19.11.1932

»Am Rande der Gerechtigkeit«

Justiz

Die Weisheit der Unweisen Der Staatsanwalt beantragt fünf Monate Gefängnis. Das letzte Wort hat der Angeklagte. »Was meinen Sie dazu? Sie sollen 5 Monate eingesperrt werden«, fragt munter der Vorsitzende, der sich von Formen nicht beengen läßt. Und der Angeklagte in seinem Holzkäfig erwidert: »Das sagt sich leichter, als es sich absitzt.« Er ist im Kopfe nicht ganz richtig, dieser Angeklagte. »Ich fühle mich zeitweise krank«, so drückt er selbst es aus. Zeitweise ist er schon in einer Anstalt untergebracht worden, und am liebsten würde er sich wieder in einer Anstalt unterbringen lassen, nicht für immer, aber zeitweise. Vor Gericht steht er, weil er zwei junge Damen um ihre Ersparnisse betrogen hat, auf niederträchtige Weise, durch Heiratsversprechen. Fünf Monate Gefängnis wäre keine zu hohe Strafe für ihn, er mag den Schwindel nun mit der gesunden oder mit der kranken Hälfte seines Geistes begangen haben. Es soll auch unentschieden bleiben, ob er als geistig gesunder oder als geistig kranker Mensch geantwortet hat. Sein allgemeiner Satz jedenfalls spricht in tiefsinniger Kürze das Urteil über das Strafgericht, das wir ausüben oder erleiden, und führt die langwierigen Debatten und Kontroversen der Fachleute auf ihren schlichten Kern zurück. Fünf Monate, fünf Jahre, zehn Jahre, lebenslänglich: es sagt sich leichter, als es sich absitzt. Kommis-

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»Aus den Berliner Gerichten«

Das Gericht thront – hier die Richter des Sklarek-Prozesses; 1931.

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sionen erwägen die Strafe, Parlamente erheben sie zum Gesetz, Staatsanwälte beantragen sie, Richter verhängen sie. Aber wer kennt sie? Wer von den Wohlgeratenen hat sie ausgekostet? Wer vermag sie sich vorzustellen? Der Angeklagte, geistig ein bißchen minderwertig, sittlich ein bißchen angefault, hört den Antrag des Staatsanwalts und durchlebt mit der Phantasie in einem Augenblick fünf Monate Einsamkeit, fünf Monate Unfreiheit, fünf Monate Abhängigkeit. Er durchlebt sie und erschrickt davor. Mag er erschrecken und mag er die Strafe verbüßen, der Betrüger. Aber seine Antwort sollte gemeißelt über den Gerichten stehen, den Staatsanwälten sollte sie vor den Augen flammen und den Richtern im Herzen brennen. »Es sagt sich leichter, als es sich absitzt.« Inquit 3.3.1929

Die obere Hälfte Das Gericht »thront«. Es ist eine beliebte Floskel, man kann sie häufig lesen. Sie soll den Eindruck machtvoller Würde wiedergeben, den das Gericht von sich strahlt. In der Tat: auch der bescheidenste Einzelrichter sitzt nicht etwa wie irgendein Beamter hinter seinem Tisch, um Leute abzufertigen. Auf seltsame Weise scheint er emporgehoben. Gar das Schwurgericht im Hintergrunde einer feierlichen, manchmal effektvoll gesteigerten Architektur, etwa wenn es sich zur Abnahme des Eides erhebt, droht bisweilen den schüchternen Zeugen mit der Wucht seiner Würde zu erdrücken. Woran liegt es? An der Robe? Sie hebt ohne Zweifel die Erscheinung. Manch ein Landgerichtsdirektor, der mit Talar und silbergesäumtem Barett als verehrungswürdiger Diener der Gerechtigkeit Achtung erzwingt, enthüllt sich als alltäglicher Zeitgenosse, wenn man ihn ohne Robe durch die Korridore hasten sieht oder gar ihn in Hut und Mantel auf der Straße trifft. Aber die Robe allein kann es nicht machen. Denn auch der Anwalt trägt sie, und wenn sein Name auch in den Sensationsprozessen genannt wird und

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wenn er auch im Bewußtsein des Ruhmes die Stimme erhebt und gestikuliert und die Verhandlung streckenweise an sich reißt: er hört fast niemals auf, ein bloßer Zeitgenosse zu sein, und er bleibt weit unter der thronenden Würde des Gerichts. Woran also liegt es? Ein verschmitzter Regietrick wird hier angewandt, nicht heut und gestern erfunden, sondern aus grauer Urzeit überkommen. Der Tisch, hinter dem das Gericht sitzt, ist an der Vorderseite mit Holz oder Tuch verkleidet. Man sieht von den Gerichtspersonen Kopf und Oberkörper, man sieht nicht den Unterleib, nicht die Beine und vor allem nicht die Füße. Bei den Zeugen auf ihren freistehenden Bänken, bei den Sachverständigen im schlichten Rock des Bürgers, bei den Anwälten in feierlicher Robe sieht man das alles. Man sieht die Hose – ein Kleidungsstück ohne Talent zur Würde mit viel Anlage zur Komik. Man sieht die Schuhe, mit Schaft oder ohne Schaft, schwarz oder braun, und die Strümpfe, grau oder farbig, grob oder fein. Man sieht die Menschen von unten her, man sieht sie in ihrer Blöße. Kragen und Schlips mögen korrekt sein, Schuhe und Strümpfe enthüllen den Träger. Sie verraten, wer auf sich hält, und wer in der Sorgfalt für seinen Körper bis zur Lächerlichkeit geht; andererseits wer mit dem Pfennig spart, und wer sogar die Appetitlichkeit außer acht läßt. Beine und Füße verraten noch mehr. Man weiß schon allerhand von einem Menschen, wenn man sieht, daß er im Sitzen die Zehen gegeneinander kehrt oder den Fuß, statt ihn mit der Sohle aufzusetzen, auf die Seite legt, sodaß er wie abgebrochen aussieht; ob er die Beine übereinander schlägt und ob er die Knöchel mit der Hand umfaßt. Eiserne Ruhe? Oben mag es so aussehen – aber vielleicht vibriert unten die Fußspitze, vielleicht zappeln die Beine ungeduldig hin und her, vielleicht, wenn die Faust nicht wagt, auf den Tisch zu klopfen, tun sich die Knie keinen Zwang an und schlagen unbeherrscht gegeneinander. Der Mann, der zuerst die Richter so gesetzt hat, daß nur ihre obere Hälfte sichtbar wird, muß ein kluger Menschenkenner gewesen sein und ein kluger Regisseur. Bis heute hat niemand ein besseres Mittel gefunden, um das Gericht thronen zu lassen. Fragt sich nur, ob das Gericht bis ans Ende der Tage thronen soll, und ob die Richter nicht eines Tages so sitzen dürfen, daß sie ohne Schaden für die Justiz ihre untere Hälfte den Blicken preisgeben können. Inquit 27.3.1929

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Bewährungsfrist »Es wird folgender Beschluß verkündet: die Strafvollstreckung wird auf drei Jahre ausgesetzt.« »Angeklagte,« wendet sich der Vorsitzende an die kleine blonde Frau, die zitternd in dem hölzernen Kasten hinter ihrem Verteidiger steht, »haben Sie verstanden? Sie brauchen die Strafe nicht gleich abzubüßen. Es wird Ihnen drei Jahre Zeit gelassen. Wenn Sie sich einwandfrei führen, können Sie begnadigt werden.« Sie hat es verstanden. »Es sind aber ein paar Bedingungen zu erfüllen. Passen Sie genau auf. Sie müssen jeden Wechsel Ihres Aufenthalts dem Gerichte anzeigen.« Es soll geschehen. »Jetzt kommt aber die Hauptbedingung. Die Beziehung zu dem Nachbarn, der Ihnen so viel Unglück gebracht hat, darf nicht wieder aufgenommen werden. Sie muß ganz und gar aufhören. Da Ihr Ehemann wieder eingesperrt worden ist, liegt die Versuchung sehr nahe. Aber Sie müssen beweisen, daß Sie sich bessern wollen. Sie werden beobachtet werden.« Die kleine blonde Frau erwidert unter Tränen, daß sie nicht wieder anknüpfen werde. Sie hat auch Grund dazu: von diesem bösen Nachbarn ist sie nicht nur zum Ehebruch verführt, sondern auch in einen Meineid gehetzt worden. »Sie dürfen aber auch in Abwesenheit Ihres Mannes keine Vergnügungen aufsuchen. Es wird aufgepaßt werden.« An Vergnügungen sei gar nicht zu denken. »Sie dürfen sich natürlich auch nicht mit anderen Männern einlassen. Verstanden? Wir werden Sie nicht aus dem Auge verlieren. Und wenn wir irgend etwas Anstößiges erfahren, wird die Strafe unnachsichtlich vollstreckt.« Die kleine blonde Frau versichert schluchzend, daß es ihr ernst sei mit dem sittlichen Lebenswandel. Sie darf gehen. Die Sitzung ist beendet. Der Betrachter aber bleibt mit Kopfschütteln zurück. Zwar er braucht das Gericht nicht zu schelten; für den Meineid, in den sie durch eigenen

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Leichtsinn, durch anderer Menschen Schlechtigkeit und vielleicht auch durch Ungeschicklichkeit des Zivilrichters verstrickt worden ist, hat es alle erreichbaren Milderungen herbeigezogen und ihr zugute kommen lassen. Aber wie ist das mit der Bewährungsfrist? Darf eine Strafe ausgesetzt und womöglich erlassen werden unter anderen Bedingungen, als daß der Verurteilte in der auferlegten Frist die Strafgesetze nicht wieder bricht? Darf auch der tugendhafte Lebenswandel gefordert werden? Wenn das Gericht diese Forderungen stellt: Wer soll entscheiden? Wird der milde und menschenkundige Vorsitzende selbst sich die Mühe machen, nach dem Rechten zu sehen? Oder wird er sich auf Unterorgane stützen? Und werden diese Unterorgane selber prüfen? Und wenn ja, was werden sie noch für erlaubt und was schon für verboten halten? Oder werden sie bei den Hausgenossen, Nachbarn und Verwandten horchen und deren klatschsüchtige und übelwollende Nachrede ihrem Urteil zugrundelegen? Welche Zerstreuung ist der einsamen Frau noch erlaubt, und wo fängt das Vergnügen an, das sie der Begnadigung unwürdig macht? Was heißt: keine Beziehung zu anderen Männern? Was ist eine Beziehung, und wie weit hängen Beziehungen von unserem Willen ab? Wir danken der Republik für die großherzige und segenspendende Gabe der Bewährungsfrist. Aber der Richter, der von ihr Gebrauch macht, möge ihr die Größe und den Segen lassen und möge sie nicht zum Instrument einer kleinlichen Tugendaufsicht und einer unwürdigen Zwangserziehung erniedrigen. Inquit 17.5.1929

Der verlassene Sünder Der arme Angeklagte in seinem Holzkäfig jammert nach dem Verteidiger. Der ist ihm um 10 Uhr davongelaufen, »auf einen Augenblick«. Jetzt zeigt die Uhr 11, er hat sich noch immer nicht eingefunden. Nur seine Robe liegt auf dem verlassenen Stuhl, als Unterpfand der Wiederkunft. Inzwischen nimmt die Verhandlung ihren erbarmungslosen Fortgang.

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Stände der Verteidiger dem Angeklagten zur Seite, so brauchte niemand ihn zu bedauern. Denn er hat es in sich. Er betreibt den Schwindel und die Fälschungen im großen. Erst vor wenigen Tagen ist er zu einem Jahr sechs Monaten Zuchthaus verurteilt worden, weil er verstanden hat, auf der Leitung eines anderen zu telefonieren und Gas und elektrischen Strom zu verbrauchen, ohne daß seine Zähler es anzeigten. Eine Zuchthausstrafe wegen Lebensmittelvergehens hat er bereits auf dem Halse. Einmal brannte ihm seine Schokoladenfabrik in der Wallstraße ab. Es tauchte der Verdacht auf, er hätte das Feuer selbst angelegt. Aber das konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Jetzt steht er hier wegen schwerer Urkundenfälschungen. Er soll, um Pfändungen abzuwenden, Einstellungsbeschlüsse gefälscht haben. Er soll im Handelsregister das Datum einer Eintragung geändert haben, um die Verantwortung für nichtbezahlte Kassenbeiträge von sich abzuwälzen. Als diese Fälschung entdeckt worden war, nahm die Kriminalpolizei Photographien des Blattes auf. Sie sind zur Stelle. Auch der betroffene Band des Handelsregisters ist zur Stelle – die Fälschung aber hat jemand mit dem Radiermesser wieder beseitigt. Wer? Die dazu angehörigen Tabellen und Akten, aus denen damals die Fälschung nachgewiesen werden konnte, sind inzwischen verschwunden. Durch wen? Die Uhr zeigt halb 12. Der Angeklagte fordert seinen Verteidiger. Der Vorsitzende zuckt die Achseln: »Das müssen Sie mit ihm selber abmachen.« Es ist eine Offizial-Verteidigung. Sie bringt nicht viel ein an Geld und Ehren. Aber niemand, dem Zeit und Lust dazu fehlt, ist gezwungen, sie zu übernehmen. Inzwischen müht der Angeklagte sich selbst um seine Verteidigung ab. Er hat eine ganze Bank vor sich mit Akten bedeckt, in denen er wichtig herumblättert. Dumm sieht er nicht aus, mit scharfen Zügen, Hornbrille, bartlos und dichtem braunen Scheitel, der eine Perücke sein kann; auch nicht unelegant, in dunklem Anzug, mit dem Tuchzipfel, der aus der Brusttasche lugt. Es werden Briefe verlesen, mit denen er aus der Haft die Aussagen der Zeugen zu lenken versucht. Sie sind mit der Maschine geschrieben, seiner eigenen, die er sich in die Zelle mitgenommen hat. »Sie erinnern sich doch …«, schreibt er. Aber niemand erinnert sich, nicht einmal seine Braut. 12 Uhr. Der Angeklagte fühlt sich verraten, er will nicht mehr. Der Vorsitzende wagt nicht länger, die Abwesenheit des Verteidigers zu übersehen, und unterbricht die Verhandlung. Der Angeklagte wird die Pause benutzen,

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um im Untersuchungsgefängnis sein Mittagessen einzunehmen. Um ¾ 1 soll fortgefahren werden. Um ¾ 1 ist alles zur Stelle, Gericht, Angeklagter, Zeugen. Nur der Verteidiger fehlt. Man wartet. Kurz vor 1 Uhr kommt er den Korridor entlang gestoben, stürzt sich in seine Robe, nimmt Platz. Kann die Verhandlung fortgesetzt werden? Nein; denn nun muß ihn der Vorsitzende erst über die Vorgänge der letzten Stunden unterrichten. Man hat schon Prozesse erlebt, die Tage, Wochen und Monate währten und in denen die Angeklagten in der Obhut ihrer Verteidiger geborgen ruhten wie in Abrahams Schoß. Lag es an denVerteidigern, oder lag es an den Angeklagten? Inquit 10.10.1929

Leidenschaften Zwei sehr verschiedene Charaktere stehen einander gegenüber, der eine als Vorsitzender des Erweiterten Schöffengerichts Berlin-Schöneberg, der andere als Angeklagter. So verschieden sind sie, daß sie kaum die Möglichkeit haben, sich zu verständigen. Aber für die paar Stunden der Prozeßdauer müssen sie sich doch verständigen. Denn wie sollte der Vorsitzende sonst zu seinem Urteil kommen, auf das der Angeklagte ein Recht hat? Den Vorsitzenden nämlich erfüllt ein leidenschaftlicher Hang zur Pädagogik. Vor seiner Seele steht offenbar das Ideal eines tugendhaften, arbeitsamen, durch Laster nicht gefährdeten Lebenswandels, der auf geradem Wege zum Ziel wohlverdienter bürgerlicher Solidität führt. Ein erstrebenswertes, von allen Redlichen gebilligtes Ziel, und also ein vorbildliches Ideal. Die Angeklagten, über die er richten soll, pflegen von diesem Ideal weit abzuweichen, und so läßt er keine Verhandlung vorübergehen, ohne durch unablässige Ermahnungen und schließlich durch ein wohlerwogenes, auf Besserung bedachtes Urteil erzieherisch einzuwirken.

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Dieser Angeklagte erweist sich als ungewöhnlich dankbares Objekt für pädagogische Einwirkungen; denn er schlägt dem Ideal der Besonnenheit und Tugend mit der Faust ins Gesicht. Er ist noch jung, Anfang zwanzig, Sohn ordentlicher Eltern, die bisher das Menschenmögliche aufgeboten haben, um ihn zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft heranzubilden. Er macht auch als Glied der Gesellschaft seine Sache nicht schlecht, nämlich bei der Arbeit, nach dem Zeugnis eines früheren Brotherrn. Er könnte also dem Ideal des Vorsitzenden durchaus entsprechen, wenn nicht auch er von einer Leidenschaft besessen wäre. Diese Leidenschaft ist Autofahren. Ob es ihm mehr auf das Steuern ankommt, oder mehr darauf, beim Steuern gesehen zu werden und Freunde mitnehmen zu dürfen, bleibe dahingestellt. Jedenfalls macht er weiter keine Umstände. Wenn er ein Auto stehen sieht, das ihn lockt, so steigt er ein und fährt los. Irgendwo steigt er aus, läßt das Auto im Stich und geht seiner Wege – oder steigt in ein neues Auto. Sechs Fälle werden ihm vorgeworfen. Einmal holte er sich aus einem Schuppen ein Motorrad, sah draußen ein schwereres Rad, ließ das erste stehen und fuhr mit dem zweiten davon. Einmal steuerte er einen Opelwagen in Gesellschaft von Freunden bis in die späte Nacht, indem er mit ihnen zwischendurch Lokale besuchte, schließlich, im Begriff nach Hause zu gelangen, fuhr er das Auto entzwei, brach eine Garage auf, holte sich ein Motorrad und fuhr mit dem nach Hause, schlief wenige Stunden und fuhr am Morgen auf ihm in die Stadt, aber nicht zur Arbeit, sondern zu einem Mädchen, traf es nicht, wartete, fuhr schließlich allein los und so lange kreuz und quer, bis es anfing zu regnen. Da ließ er das Rad stehen und kehrte mit der Straßenbahn heim. Bei alledem hatte er Pech, wurde wiederholt verfolgt und gestellt. Einmal war die Polizei hinter ihm her, er versuchte rechts einzubiegen, nahm den Bogen zu kurz und rasselte gegen einen Baum, sprang aus dem Wagen, flüchtete und versteckte sich im Vorgarten. Er wurde aber gefaßt und vor das Jugendgericht gestellt, das Milde walten ließ. Des Vorsitzenden hat sich angesichts dieses ungeordneten Lebenswandels längst heftige Empörung bemächtigt. Er versucht es immer aufs neue mit Pädagogik. Mit Bezug auf den Versuch des Angeklagten, sich vor den Verfolgern hinter einen Busch zu retten: »Ist Ihnen das Unwürdige der Situation nicht zum Bewußtsein gekommen?« Mit Bezug auf die Erzählung, er habe sich, aus dem Lokal kommend, ans Steuer gesetzt: »Kennen Sie nicht die Grundregel Ihres Berufes, daß der Schofför nüchtern ins Auto

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steigen soll?« Mit Bezug auf den Einbruch in der Garage: »Noch nicht nach Hause? Dabei wäre es doch Zeit gewesen, nach Hause zu gehen.« Mit Bezug auf jenen Morgen, als er sein Mädchen abholen wollte: »Wer wiederholt nicht pünktlich zur Arbeit kommt, setzt seine Stellung aufs Spiel.« Urteil: sechs Monate Gefängnis, damit er endlich erzogen wird, nachdem weder die Milde des Jugendgerichts noch die Nachsicht des Vaters geholfen hat. Für die zweite Hälfte der Strafe immerhin Bewährungsfrist, mit der Verpflichtung, sich einen Monat nach der Entlassung aus dem Gefängnis einem abstinenten Verein anzuschließen. Zwischen der menschenfreundlichen Leidenschaft, arme Sünder zu erziehen, und der menschenärgernden Leidenschaft, mit fremden Autos davonzufahren: welch ein Unterschied! Aber, wer weiß? Vielleicht glauben nur wir kurzsichtigen Menschen, daß hier ein Unterschied bestehe. Vielleicht ist vor Gottes Angesicht eine Leidenschaft nicht besser und nicht schlechter als die andere. Inquit 23.2.1930

Psychoanalyse Einem Postaushelfer, der sich Geld aus eingeschriebenen Briefen angeeignet hatte und der deswegen vom Schöffengericht zu einem Jahr und einer Woche Zuchthaus verurteilt worden war, hat die Berufungs-Instanz die Strafe auf sechs Monate Gefängnis, unter Anrechnung von drei Monaten und zwei Wochen Untersuchungshaft, herabgesetzt. Damit ist es der Meisterschaft des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Tolk, gelungen, einen Spruch, den die Menschlichkeit verlangt, und den die erste Instanz nur durch den Vorschlag der Begnadigung zu verwirklichen wußte, juristisch zu rechtfertigen. Auch Menschlichkeit war in diesem Falle nicht dasjenige, was das Gericht eigentlich brauchte. Es stand vielmehr, wie so oft, ratlos vor dem Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches, das bekanntlich die Strafe ausschließt, wenn der Täter in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter

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Störung der Geistestätigkeit gehandelt hat, durch den seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde. Drei Sachverständige liehen dem Gericht ihren Rat, ein praktischer Arzt, ein Gerichtspsychiater und ein Psychoanalytiker. Keiner von ihnen nahm den Paragraphen 51 für den Postaushelfer in Anspruch, obwohl jeder an der geistigen Gesundheit des Angeklagten gewisse Zweifel hegte. Der Psychoanalytiker aber vermochte die Schwierigkeit zu bezeichnen, die dem Gericht zu schaffen machte: daß nämlich der Paragraph 51 unzulänglich formuliert sei, da zu der Zeit, als er seine Fassung erhielt, noch alle Kenntnis und Erkenntnisse fehlten, die inzwischen die Psychoanalyse gefunden hat. Selten klopft die Psychoanalyse an das Tor der Gerichte. Wenn es geschieht, so trifft sie, wie es nicht anders sein kann, auf Zweifel und Vorsicht. Denn zunächst macht sie die Dinge nicht einfacher, sondern verwickelter. Einfach sieht der Fall des Postaushelfers vom Standpunkt des sogenannten gesunden Menschenverstandes aus, mit dem sich alle Welt in bezug auf Menschenseelen vor Freud beholfen hat. Dann ist in einer bürgerlich soliden und wohlhabenden Familien eines der fünf Geschwister aus der Art geschlagen und auf die schiefe Ebene geraten. Die Familie hat ein bewährtes Rezept dafür zur Hand: sie will von ihm nichts mehr wissen. Eindrucksvoller Vorfall: Einer der wohlgeratenen Söhne steht in der unerschütterten Zeit vor dem Kriege als Posten am Palais des Prinzen Albrecht. Sein Bruder, der verlorene Sohn, bei einem Buchbinder in der Lehre, schiebt einen Handwagen vorbei. Er grüßt den uniformierten waffentragenden Bruder, und der grüßt nicht zurück, sondern wendet sich ab. Dergleichen hat sich oft ereignet und ist bisher immer in der gleichen Weise verlaufen. Aber jetzt betrachtet der Psychoanalytiker das Schicksal des Bruders mit seinen geschulten Augen. Der Angeklagte selbst ist es, trägt er dem Gericht vor, der aus der sozialen Schicht des Elternhauses in die Tiefe strebt. Denn er ist wahrscheinlich allen Geschwistern an Intelligenz überlegen. Aber eines Tages, zu der Zeit, da das Geschlecht in ihm erwacht, fängt er an, sich in der Schule zu vernachlässigen und bleibt schließlich sitzen. Der strenge Vater nimmt ihn heraus und stellt ihn vor die Wahl: Presse oder Handwerk. Entschiede er sich für die Presse, so bliebe er wahrscheinlich in seiner Schicht. Er aber entscheidet sich für das Handwerk. Noch einmal wird ihm ein Halt geboten: der Vater nimmt ihn in sein eigenes Geschäft auf. Eines Abends verspätet er sich beim Ausgang, übernachtet infolgedessen im Hotel und verlangt am nächsten Tage seine Papiere. Der

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Vater macht ihm keineswegs Vorwürfe, sucht ihn vielmehr zu halten; aber der Sohn bleibt halsstarrig und geht. Und damit ist sein Absturz vollzogen. Während die Geschwister auch nach dem Tode ihres Vaters auf ihrer Ebene der bürgerlichen Wohlhabenheit bleiben, schlägt er sich als Straßenbahnschaffner, Gelegenheitsarbeiter, Postaushelfer durchs Leben. Und unterliegt immer wieder der Versuchung, zu nehmen. Aber doch aus erkennbaren Motiven, um seines Nutzens willen, wandte der Vorsitzende ein. Und der Psychoanalytiker sucht ihn zu belehren: der Anteil der bewußten Motive an unserem Handeln wird von uns allen überschätzt. Unser Handeln ist durch Triebe bestimmt, und bei diesem Angeklagten noch mehr als bei dem gesunden Menschen. Was ist also zu machen? Strafe, meinte der Psychoanalytiker, wird ihn nicht bessern, aber auch nicht Straflosigkeit. Was nottut, wäre Behandlung. Die Psychoanalyse klopft an das Tor des Gerichts. Mit Zweifel und Vorsicht hören es die Richter. Sie droht ihnen das Recht des Richtens aus den Händen zu schlagen. Noch wird ihr keine Macht eingeräumt. Aber daß sie den Weg weist, wer wollte es bezweifeln? Inquit 19.3.1930

Dienstlicher Ausgang Wer ist ein netter Mann, wer ist ein zuverlässiger Mann, wer ist ein wohlhabender Mann, wer ist ein Mann, dessen Umgang begehrenswert erscheint? Die Antworten werden verschieden lauten, je nachdem, ob der Fragende ein Generaldirektor oder, sagen wir: ein Gefangenenwärter ist. Der Gefangenenwärter, amtlich betitelt Strafanstaltswachtmeister oder Strafanstaltsoberwachtmeister, ist selbst ein Gefangener. Er ist es wegen seines kümmerlichen Gehaltes, das nur bei genauester Berechnung und äußerster Sparsamkeit dazu reicht, sich mit Frau und Kindern zu erhalten, das aber kaum einen Pfennig übrig läßt für kleine Abwechslungen und noch so bescheidene Genüsse. Er ist es aber auch durch seinen Dienst,

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der sich hinter Schloß und Riegel abspielt und durch strenge Vorschriften in Schranken gehalten wird. Das meiste ist verboten, nur weniges, genau Bezeichnetes erlaubt. Freilich hängen die Gefangenen von ihm ab, aber ebenso und noch mehr hängt er von den Gefangenen ab. Es gibt schwierige Gefangene, die ihren Aufsehern nichts als Mühe und Arbeit und dazu noch Aerger bereiten. Und es gibt fügsame Gefangene, mit denen die Wärter sich keine Umstände zu machen brauchen. Es gibt auch unter den Gefangenen, wie unter allen Menschen, unausstehliche Kerle, langweilige Gesellen und reizende Unterhalter. Es gibt solche, die aus der Tiefe stammen und auf die der Aufseher mitleidig herabblickt, und solche, die von oben kommen und etwas vom Duft und Glanz ihres gehobenen Lebens in die Einförmigkeit des Gefängnisses mitbringen. Es gibt, unabhängig von der Straftat und der Strafe, arme Teufel und Großverdiener. Es gibt Neulinge, mit denen das Gefängnispersonal sich noch nicht auskennt, und alte Bekannte, bei denen jeder weiß, woran er ist. Die alten Bekannten sind selten im Untersuchungsgefängnis Moabit, dessen Belegschaft rasch wechselt. Aber da sitzt einer seit dem August 1928, bald zwei Jahre. Der hat zwar auf mannigfache Art betrogen, aber er gehört als Kaufmann zu den »besseren« Leuten, und er erfreut sich innerhalb des Gefängnisses einer gewissen Beliebtheit, die von den höheren Beamten bis zu den einfachen Wachtmeistern reicht. Mancherlei Erleichterungen werden ihm gewährt, er hat vier Wochen Urlaub unbeaufsichtigt außerhalb der Anstalt verbracht und ist pünktlich in die Haft wieder zurückgekehrt, und es geht über ihn das Gerücht, daß er noch einmal Urlaub erhalten werde, falls es ihm nämlich gelingt, eine Kaution zu beschaffen. Und für die Bemühungen darum werden ihm Ausgänge bewilligt. Ausgänge haben zu erfolgen in Gesellschaft von zwei Strafanstaltsoberwachtmeistern. Es ist eine Vergünstigung, auch für die Wachtmeister, man muß in einer besonderen Liste stehen, um dazu kommandiert zu werden. Wer in der schönen Zeit des alten preußischen Militärs gedient hat, der weiß, was es für die Gefängnisaufseher bedeuten mag, einen ausgehenden Gefangenen begleiten zu dürfen. Es kamen beim alten preußischen Militär Fälle vor, in denen Unteroffiziere zusammen mit Einjährigen dienstlich von dannen geschickt wurden, quer durch die Stadt zum Schießplatz, oder vom Schießplatz in die Stadt. Was für ein herrlicher Dienst! Niemand konnte einem was, es war eben Dienst. Die Zeit ließ sich nicht kontrollieren. Man setzte sich zunächst mal in eine Kneipe, bestellte Bier und Essen und kloppte einen Skat. Und der Einjährige, versteht sich, bezahlte.

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Asservatenkammer; o. J.

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Vier Strafanstaltsoberwachtmeister stehen vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte unter Anklage, weil sie mit jenem beliebten und seit langem bekannten Gefangenen in die Stadt gingen, weil sie in Lokalen zusammensaßen, und weil er sich inzwischen nach Gutdünken bewegen durfte. Der Gefangene ist mitangeklagt, dazu noch ein Gefangener, dem wieder andere Gefälligkeiten eingeräumt wurden. Gewiß, die Dienstvorschriften sind verletzt, es hat Unkorrektheiten gegeben, die Aufseher, die es ein ganz klein wenig besser haben wollten, haben es auch den Gefangenen ein bißchen besser gehen lassen. Es soll nicht sein, und es muß ja wohl Strafen dafür geben. Vielleicht hätte sich die Sache disziplinarisch ohne Heranziehung des Strafgesetzes erledigen lassen. Und im ganzen scheint die Angelegenheit einigermaßen aufgebauscht worden zu sein. Deswegen brauchen im Moabiter Untersuchungsgefängnis noch lange keine »Zustände« zu herrschen. Und wenn man dort reformieren will, so gibt es dringende Aufgaben genug, nicht zuletzt die Vorbildung, die Auswahl und die Bezahlung des Gefängnispersonals. Inquit 17.4.1930

»Führen Sie ihn ab« Die Richter haben sich zur Beratung zurückgezogen. Beklommen wartet der Angeklagte auf seinen Spruch. Schwere Strafe muß er voraussehen, nach der Roheit der Tat, die aus ihm hervorgebrochen ist, und nach ihren schlimmen Folgen. Ein Mann, schon bei Jahren, groß und breit, Werkzeugmacher von Beruf, bisher unbescholten, im Kriege erprobt, zum Ehrenamt des Schöffen zugelassen, ein kleiner Bürger der unverdrossenen redlichen Handarbeit – bis zu einem verhängnisvollen Abend. An jenem Abend bekam er Streit mit einer fremden Frau, schlug sie, warf sie zu Boden, hackte mit dem Stiefel nach ihr und zertrümmerte ihr den Schenkelknochen. Das Bein bis zur Hüfte mußte abgenommen werden.

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Noch liegt sie darnieder; falls sie mit dem Leben davonkommt, ist sie ein Krüppel. Die Tat, ohne Zusammenhang mit dem bisherigen Dasein des Angeklagten, bleibt auch nach ihrem Anlaß ungeklärt. Zwar saß er, als der Streit begann, beim Kartenspiel in der Kneipe mit dem Bruder jener Frau, der seinerseits mit der Schwester verfeindet ist. Hat der seinen Bekannten aufgehetzt? Der Bruder gibt das Zerwürfnis mit der Schwester zu, leugnet die Anstiftung. Der Protokollführer wird ins Beratungszimmer gerufen, verweilt darin, zeigt sich wieder. Er flüstert mit den Justizwachtmeistern, eine geschäftige Unruhe beginnt, ein Formular wird hin- und hergetragen. Die Eingeweihten wissen, was das bedeutet. Das Gericht erscheint, der Vorsitzende verkündet das Urteil: Zwei Jahre Gefängnis. Nur die Unbescholtenheit des Angeklagten und die Erwägung, daß er von der Frau zum Zorn gereizt sein mag, hat ihn vor Zuchthaus bewahrt. Der Justizwachtmeister, den Gummiknüppel an der Seite, schreitet nach vorn und stellt sich zwischen Angeklagten und Richtertisch. Er hat die Erfahrung: bei dem, was jetzt folgt, sind Ausbrüche zu erwarten. Der Vorsitzende verliest den Beschluß: Der Angeklagte ist in Haft zu nehmen, da wegen der Höhe der Strafe Fluchtverdacht gegeben ist. Der Angeklagte, stehend, groß und breit, hört den Beschluß mit an und schweigt. Diesmal bricht nichts aus ihm. »Führen Sie ihn ab«, befiehlt der Vorsitzende. Der Angeklagte folgt dem Justizwachtmeister, quer durch den Saal, zwei Beamte des Gefängnisses nehmen ihn in Empfang. Schaudernd sehen Zeugen und Zeuginnen, die Gefährten seines Lebens in Freiheit, die Tür sich hinter ihm schließen. Auf zwei Jahre. Inquit 17.6.1930

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Was ist in Tegel los? Einer, der in Strafhaft sitzt, nicht zum ersten Male, steht vor dem Schöffengericht unter der Anklage der Körperverletzung, des Widerstandes und der Beleidigung. Er ist, wie der Gefängnisarzt zugibt, reizbar. Vor Gericht benimmt er sich ruhig und freundlich, in Freiheit betreibt er den Handel mit »Produkten«, den Krieg hat er als Obermatrose bei der Marine mitgemacht. Im Tegeler Gefängnis kam eines Tages ein Aufseher zu ihm und sagte: »Vom Untersuchungsgefängnis Moabit ist über Sie eine Arreststrafe von 14 Tagen verhängt worden. Sie sollen Sie jetzt abbüßen. Kommen Sie mit.« Der Gefangene wollte wissen, warum, der Aufseher wußte es nicht. Der Gefangene verlangte zum Direktor geführt zu werden, der war nicht zu sprechen. Der Gefangene wurde ins Büro des Vorstehers gebracht, stellte abermals seine Frage nach dem Grund der Disziplinarstrafe und bekam wieder keinen Bescheid, wohl aber eine Antwort, ungefähr des Inhaltes: Die Strafe ist verhängt worden, ich eröffne es Ihnen, das genügt. Den Gefangenen packte die Wut, er schlug mit einem Schimpfwort dem Vorsteher ins Gesicht, Beamte warfen sich auf ihn und überwältigten ihn nach schwerem Widerstand. Urteil des Schöffengerichts: neun Monate Gefängnis. Dagegen ist nichts zu sagen, wohin kämen die Strafanstaltsbeamten, wenn sie dergleichen durchgehen ließen, sie haben einen schweren Dienst, und Gefangene sind nicht immer leicht zu behandeln, dieser gewiß auch nicht; trotzdem er in einem neuen Gebäude unter einem neuen Vorsteher – nach dessen Zeugnis – sich bisher einwandfrei geführt hat. Aber der Gefangene, über den eine Disziplinarstrafe verhängt worden ist, hat am Ende Anspruch darauf, daß ihm die Strafe samt den Gründen in aller Form mitgeteilt wird, und zwar rechtzeitig, nicht in dem Augenblick, da er sie abbüßen soll. Im übrigen behauptet der Angeklagte, er habe die Fassung verloren, weil im Tegeler Gefängnis Disziplinarstrafe verbunden sei mit Prügelstrafe. Man habe ihm gleich bei der Einlieferung zugeraunt: »Hier regiert der Punktroller«, womit der Gummiknüppel gemeint sei. Es gäbe ein »Rollkommando« und einen »Vorsteher des Rollkommandos«, womit

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diejenigen Beamten bezeichnet werden, die sich Mißhandlungen zuschulden kommen lassen. Wer wird dem Angeklagten, dem reizbaren Strafgefangenen, einfach glauben? Er hat ein Heer von Zeugen aufbieten lassen, alles Mitgefangene, die beweisen sollen, daß es in Tegel so zugeht, wie er sagt. Sie kommen nicht recht zu Wort, da der Vorsitzende der Meinung ist, daß ihre Aussagen erst von Wichtigkeit sein werden in einem bevorstehenden Prozeß gegen die Tegeler Gefängnisbeamten. Der Angeklagte hat nämlich Strafanzeige wegen Mißhandlung erstattet. Man wird also noch einen Blick hinter die Gefängnistore tun können. Man wird dann nicht nur ausführlich die Strafgefangenen, sondern auch die Gefängnisbeamten hören. Die Gefängnisbeamten aber hat man aber schon jetzt gehört, und es ist doch nicht unerheblich, wie sie aussagen. Der Angeklagte behauptet, er sei zu seiner Arreststrafe aus dem Kartoffelkeller geholt worden. Mitgefangene bestätigen es. Nur der Beamte selbst sagt aus, er habe ihn aus seiner Zelle geholt, und bleibt dabei. Ein Beamter sagt aus, er sei derjenige, der dem zu Boden geschlagenen Vorsteher den Knauf eines Tintenlöschers aus dem Munde genommen habe; sonst wäre er erstickt. Von diesem Tintenlöscher hat außer dem Beamten niemand etwas gesehen, am allerwenigsten der Vorsteher selbst, dem er aus dem Munde geholt worden sein soll. Der Beamte: »Der Herr Vorsteher war eben ohnmächtig und wußte nicht, was vorging.« Der Vorsteher: »Ich war nicht ohnmächtig, und so schlimm war die Sache nicht.« Der Anstaltsarzt, erzählt der Angeklagte, sei zu ihm gekommen, als er in seiner Arrestzelle bei Wasser und Brot saß, und habe zu seiner Begleitung geäußert: »Der lebt ja wie ein Fürst.« Der Anstaltsarzt »weiß nichts davon«. Die Gefangenen werden nicht immer die Wahrheit sagen, sie werden sich manches einreden, es wird Gefangene geben, die mit dem Aufsichtspersonal gut auskommen. Aber wenn dergleichen erzählt und von anderen Gefangenen bestätigt wird, sollte dann im Tegeler Gefängnis alles in Ordnung sein? Die Strafvollzugsbehörden und das Justizministerium wohnen ja nicht sehr weit ab. Vielleicht hätten sie Anlaß, mit Vorsicht und Geschicklichkeit selbst nach dem Rechten zu sehen. Inquit 25.6.1930

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Die Milde des Gesetzes Die Mitglieder der dreiköpfigen Kolonne nennen sich untereinander und in ihrem Kreise: Stürmer, Dränger und Ueberall. Es sind sozusagen ihre Künstlernamen. Nicht unwitzige Namen, wie man zugeben wird, Namen, die auf Köpfe schließen lassen, der Kunst angemessen, die sie betreiben. Es ist die schwere Kunst des Taschendiebstahls, zu dessen Ausübung bekanntlich der simple Mangel an Ehrlichkeit nicht ausreicht. Vielmehr wird angeborene Begabung und gründliche Lehre vorausgesetzt. Die Herren Stürmer, Dränger und Ueberall, das Kleeblatt, haben gelegentlich auch Betriebsunfälle erlitten, wie sie ihr Beruf mit sich bringt, und wie sie daher in das Risiko von vornherein einkalkuliert werden: sie sind abgefaßt, vor den Richter gestellt und bestraft worden. Und da die Stätte ihrer Wirksamkeit der Potsdamer Bahnhof gewesen ist, so hat man ihnen das Betreten dieser Baulichkeit verboten. Sie haben sich aber an das Verbot nicht gekehrt und sind wieder abgefaßt worden. Vor Gericht erklären sie, ihre Absicht sei nur gewesen, ein ehrliches Glas Milch zu trinken. In der Tat kann man ihnen einen Diebstahl oder die Absicht eines Diebstahls nicht nachweisen. Aber auch die Uebertretung des Verbots ist strafbar: sie haben damit den Hausfrieden gebrochen. Der Staatsanwalt sieht den Tatbestand des einfachen Hausfriedensbruchs als erfüllt an und beantragt für jeden drei Monate Gefängnis. Ob die Angeklagten selbst noch etwas zu bemerken haben, fragt der Vorsitzende nach der Strafprozeßordnung. Jawohl. Der dritte Angeklagte hat etwas zu bemerken. Es ist der Herr Ueberall. Er möchte nur seiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß der Herr Staatsanwalt gleich die Höchststrafe beantragt. Vorsitzender: »Drei Monate die Höchststrafe? Wir können Ihnen zehn Jahre geben.« Angeklagter Ueberall: »O nein, Herr Vorsitzender. Die Höchststrafe für einfachen Hausfriedensbruch beträgt drei Monate Gefängnis. Bitte, sehen Sie im Gesetz nach.«

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Der Vorsitzende sieht im Gesetz nach und überzeugt sich, daß der Angeklagte die einschlägigen Paragraphen besser im Kopf hat als er. Mit der lächelnden Höflichkeit der Fachleute wird die Uebereinstimmung hergestellt. Das Urteil ergeht nach dem Antrag. Der Vorfall hat seinen Humor; er hat auch seinen Ernst. Wären dem Angeklagten ohne das Gesetz 10 Jahre aufgebrummt worden? Gewiß nicht; aber vielleicht drei Jahre, oder ein Jahr, oder sechs Monate. Denjenigen zu freundlicher Beachtung, die aus justizkritischem Uebereifer immer nur das Gesetz angreifen und immer nur gegen die Härte des Gesetzes wettern. Aber es gibt auch eine Milde des Gesetzes, und es gibt Fälle, in denen der Angeklagte keinen Schutz fände, wenn nicht im Gesetz. Inquit 22.8.1930

Bitte lauter Vorn wird ein Verkehrsunfall verhandelt. Man versteht kein Wort. Dem Gericht gegenüber, hinter der Holzschranke, sitzt das Publikum. Der Prozeß geht in einem der kleinen Sitzungszimmer vonstatten, mit wenig Plätzen für die Zuhörer, ihrer zwanzig reichen schon hin, um den Raum zu füllen. Aber diese zwanzig haben sich eingefunden zufällig von der Straße her, oder als planvolle Beobachter des Gerichts, oder auch als Bekannte und Angehörige der Prozeßbeteiligten. Zu sagen hat keiner von ihnen etwas. Sie dürfen dabei sein und müssen sich ruhig verhalten. Indessen sie sind doch da auf Grund eines staatsbürgerlichen Rechtes. Sie bilden die Oeffentlichkeit, die das Gesetz vorschreibt. Kein Gerichtsbeschluß hat die Oeffentlichkeit aufgehoben; es gäbe auch keinen Grund dafür. Als Vertreter der Oeffentlichkeit haben sie aber nicht nur das Recht da zu sein und still zu sitzen, sie haben auch das Recht, zuzuhören. Dazu müßten sie verstehen können, was gesprochen wird. Aber es ist kein Wort zu verstehen. Was da vorn verhandelt wird, scheint durchaus eine Privatangelegenheit zu sein und sogar eine vertrauliche. Alles raunt mit verhaltener Stimme. Es sieht aus, als ob sie die Köpfe zusammensteckten.

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Woher kommt das? An wem liegt es? Es liegt am Vorsitzenden. Dem beliebt es, leise zu sprechen. Und kraft der Autorität seines Amtes breitet sich das Beispiel aus. Plötzlich sprechen auch alle anderen leise, der Angeklagte, der Staatsanwalt, der Verteidiger, die Zeugen. Manch einer von ihnen verfügt über ein kräftiges Organ; aber keiner von ihnen traut sich mit der Stimme heraus. Weil der Vorsitzende flüstert, flüstern alle. Vielleicht, wahrscheinlich tut er es nicht mit Wissen, wahrscheinlich hegt er nicht die Absicht, das Recht auf Oeffentlichkeit zu kränken. Trotzdem auch das gelegentlich vorkommen mag. Es gibt hie und da Verhandlungsleiter, die nicht einsehen, warum sie von Leuten, die ihrer Meinung nach nicht dazu gehören, sich kontrollieren lassen sollen, und die sich daher nicht die Mühe nehmen, ihr Organ anzustrengen. Aber mit oder ohne Absicht: das Ergebnis ist die nicht formelle, aber tatsächliche Aufhebung der Oeffentlichkeit. Die Zuhörer im Hintergrund, vielleicht Menschen ohne Belang, aber Menschen mit Staatsbürgerrechten werden um ihr Recht geprellt. Der Wille des Gesetzgebers ist vereitelt. Was wollen [sic] die Leute dahinten, die dabei sitzen und nichts verstehen, zu ihrem Schutze tun? Wehe, wenn einer sich herausnähme, »Bitte lauter!« zu rufen. Man wiese ihn sofort aus dem Saal, wenn er sich nicht gar gefallen lassen müßte, vorgeführt und wegen Ungebühr in Strafe genommen zu werden. Vielleicht gehen die Herren einmal mit sich zu Rate. Vielleicht bitten sie einen Freund, sie vom Zuhörerraum zu beobachten, und ihnen freundschaftlich zu melden, ob man sie versteht. Und vielleicht treffen sie danach ihre Maßnahmen. Inquit 13.11.1930

Besorgnis der Befangenheit Ein junger Bursche betritt eine Gastwirtschaft, verlangt Bier, es wird ihm, da er betrunken ist, verweigert, er besteht auf seiner Forderung, droht; der Wirt: »Vor dir fürchte ich mich noch lange nicht«, der Bursche: »Du wirst

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dich schon fürchten«; Pistole, zwei Schüsse, einer verletzt den Wirt am Bein. Versuchter Totschlag. Schwurgericht. Drei Richter und sechs Geschworene sollen entscheiden. Vor Beginn der Verhandlung lehnt der Verteidiger im Namen des Angeklagten zwei von den Geschworenen ab, wegen Besorgnis der Befangenheit, mit der Begründung, sie seien Gastwirte wie der Verletzte, noch dazu in demselben Stadtviertel, der Angeklagte habe sich durch wiederholte Ausschreitungen in Wirtschaften mißliebig gemacht, es bestehe die Besorgnis, die beiden Geschworenen könnten den Wunsch haben, sich und ihren Berufskollegen einen Dienst zu erweisen, indem sie den lästigen Gast möglichst lange unschädlich machen. Ueber diesen Antrag haben die drei Berufsrichter zu entscheiden. Beschluß: der Antrag wird abgelehnt. Die Tatsache allein, heißt es in der Begründung, daß die Geschworenen denselben Beruf haben wie der Verletzte, genügt nicht, um die Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen. Die Verhandlung wird durchgeführt. Es ergibt sich, daß die Frage, wer zu richten hat, in diesem Falle beinahe gleichgültig ist: Der medizinische Sachverständige erkennt dem Angeklagten die Zurechnungsfähigkeit ab, und so muß aus § 51 Freisprechung erfolgen. Nur wegen unbefugten Besitzes der Schußwaffe wird er mit zwei Monaten Gefängnis bestraft. Aber wie steht es mit der Besorgnis, die beiden Gastwirte könnten ihr Amt als Geschworene nicht unbefangen ausüben? Die Gleichheit des Berufes mit den Verletzten genügt nicht? Ja, wenn man es so ausdrückt! Stimmt es denn nicht, daß sie Gastwirte sind, daß sie ihre Lokale in derselben Gegend betreiben, daß der Angeklagte in den Kneipen nicht gern gesehen ist? Doch; das wird nicht bestritten. Verlangt denn das Gesetz, daß die Befangenheit des Richters sich beweisen läßt? Keineswegs; sondern es genügt, daß der Angeklagte Grund hat zur »Besorgnis der Befangenheit.« Und muß er nicht besorgen, die beiden Geschworenen als Gastwirte aus seiner Gegend werden auf ihn »eine Wut« haben? Bewilligung des Ablehnungsantrages würde bedeuten: Herbeischaffung neuer Geschworener, also Verspätung, vielleicht Vertagung. Kein Gericht läßt sich gern darauf ein. Aber ist das ein Grund? Zugegeben: das Rechtsmittel der Ablehnung kann leicht mißbraucht werden, wenn der Angeklagte die Besorgnis der Befangenheit aus der politischen Partei oder aus dem Religionsbekenntnis herleitet. Solchen Mißbrauch muß die Spruchkammer zu verhüten wissen. Zugegeben: solange es Menschen sind, die das Richteramt ausüben, gibt es für die Besorgnis, ein Mensch könnte nicht unbefangen richten, keine Grenzen. Diese Grenzen

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hat die Spruchkammer zu finden. Aber keine noch so kluge Begründung wird das schlicht Gefühl wegräsonnieren können: Ich habe mit Gastwirten Krach gehabt, ich habe einen Gastwirt angeschossen, ich will nicht von Gastwirten abgeurteilt werden. Der Richter, den ein Ablehnungsantrag trifft, pflegt einen roten Kopf zu bekommen. Warum? Soll sein guter Wille zur Gerechtigkeit angezweifelt werden? Niemand denkt daran. Es wird nur in Betracht gezogen, daß auch er ein Mensch ist, mit den Regungen eines Menschen. Vielleicht handelten die Gerichte klug, wenn sie solchen Besorgnissen der Angeklagten etwas weniger Widerstand entgegensetzten, als es jetzt üblich ist. Es wäre ein Zeichen mehr für die Unbefangenheit unserer Richter. Inquit 23.11.1930

Genügt das? Der Angeklagte vor dem Schwurgericht des Landgerichts II beginnt sein Leben zu erzählen. Dies ist der Brauch, sooft es sich um schwerwiegende Entscheidungen handelt. Die Tat soll nicht herausgelöst, sie soll, soweit es geht, aus dem Zusammenhang begriffen werden. Der Angeklagte erzählt, der Vorsitzende sucht ihn mit Fragen zu leiten. Er weiß es vielleicht selber nicht, aber wir, die wir diesen Vorsitzenden kennen, wissen, daß er mit seinem kalten, scharfen und geärgerten Ton die Angeklagten entweder einschüchtert oder reizt. Diesen hier reizt er. Es bleibt denn auch nicht aus, daß auch seine Antwort gereizt wird. Vorsitzender: »Glauben Sie vielleicht, daß Sie mit dieser schnodderigen Bemerkung Ihre Lage bessern?« Mit Verlaub! Es gibt keine Lage des Angeklagten, die durch Aeußerlichkeiten wie geschicktes oder ungeschicktes Benehmen gebessert oder verschlechtert werden könnte. Wenigstens sollte es dergleichen nicht geben. Es gibt Tatbestände, die festgestellt werden müssen und aus denen das Urteil zu schöpfen ist. Der Angeklagte hat daher vielleicht nicht unrecht, wenn

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er mit einer neuen Schnoddrigkeit erwidert: »Nach meiner Meinung ist an meiner Lage nichts mehr zu verderben.« Er bedient sich dabei eines unflätigen Ausdrucks. Jedenfalls wird er verstockt. Mühselig holt der Vorsitzende noch ein paar wortkarge Antworten heraus. Dabei ermahnt er ihn unausgesetzt in seinem kalten, scharfen und geärgerten Ton, er möge laut sprechen. Schließlich explodiert der Angeklagte. Er schlägt auf die Brüstung und schreit: »Lassen Sie mich zufrieden mit Ihren Ermahnungen. Ich bin doch kein Lautsprecher. Ich spreche so laut ich kann. Das Gesindel dahinten« – er meint das Publikum – »braucht nichts zu verstehen«. Ohne Zweifel, er benimmt sich von neuem ungehörig. Die Vernehmung wird abgebrochen. Man läßt den Kriminalkommissar hereinkommen, der die ersten Verhöre geleitet hat und vor dem der Angeklagte aus sich herausgegangen ist. Es handelt sich um einen niederträchtigen Ueberfall auf zwei Damen am 18. Januar in Lankwitz. Der Angeklagte, oft vorbestraft, folgte ihnen in die menschenleere Vorortstraße, bedrohte sie mit dem Revolver, schoß, verletzte die eine schwer und rannte mit ihrer Handtasche davon. Die Anklage lautet auf versuchten Mord. Niemand wird Einspruch erheben, wenn das Gesetz in seiner Strenge Anwendung findet. Aber dazu muß das Gericht wissen. Es muß erfahren, in aller Ausführlichkeit, wer der Täter ist und was er getan hat. Ein Vorsitzender, der den Angeklagten stumm macht, statt daß er ihn aufschließt, eignet sich nicht für sein hohes Amt. Am Tage nach der Tat stellte der Verbrecher sich der Polizei. Warum er sich gestellt habe, will der Vorsitzende wissen. Er fragt das so, wie nach unserer schaudernden Erinnerung vor langen Jahren in der Schule gewisse menschenfeindliche Lehrer uns zu fragen pflegten, warum wir unsere Schularbeiten nicht gemacht hätten. Der Angeklagte überlegt einen Augenblick, dann ruft er schnodderig: »Warum ich mich gestellt habe? Weil ich ein Esel war. So, nun wissen Sie es.« Der Vorsitzende mit höhnisch-beifälligem Kopfnicken: »Das genügt ja.« So hätten jene gewissen Lehrer auch gesprochen. Aber wieso genügt es? Das einzig Wichtige, warum der Täter sich gestellt hat, erfährt der Vorsitzende nicht. Er muß erst den Kriminalkommissar fragen. Der nämlich hat es erfahren. Will der Vorsitzende etwa sagen, daß der Angeklagte die Quittung für seine freche, aber auch törichte Antwort

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im Urteil empfangen werde? Aber die Tatsache der freiwilligen Gestellung läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Nein, das genügt durchaus nicht. Es genügt auch nicht, daß vor Beginn des Justizjahres gewisse Landgerichtsdirektoren zu Vorsitzenden der Schwurgerichte ernannt werden. Es wäre vielmehr nötig, sie bei ihrer Verhandlungsleitung aufmerksam zu beobachten und danach eine wohlerwogene Auswahl zu treffen. Inquit 4.3.1931

Noch nicht! Vorsitzender: »Sie sind noch nicht vorbestraft, Angeklagter?« Noch nicht? Man sagt: Er ist noch nicht geimpft, er ist noch nicht eingesegnet, er ist noch nicht volljährig. Denn man erwartet, daß jemand geimpft, eingesegnet und volljährig wird. Es gehört zum normalen Verlauf seines Lebens, er braucht nur in die Jahre zu kommen, dann werden sich diese Ereignisse an ihm vollziehen. Es entspricht dem Ueblichen, er müßte denn gerade in gänzlich unerwarteter und höchst unwillkommener Weise vom gemeinen Brauch abirren. Er müßte etwa, verhüt’ es Gott, vorzeitig sterben. Man hat also Grund, ihm zu wünschen, er möchte geimpft, eingesegnet, volljährig werden, zu seiner Zeit, für den Fall, daß er es noch nicht ist. Aber vorbestraft? Gehört das auch zu den Dingen, die man erwartet? Zum Normalen und zum Hergebrachten? Zu den Ereignissen, die eintreten, wenn man in die Jahre kommt? Zur Regel und nicht etwa zur Ausnahme? Viel zu viele Menschen werden in Deutschland bestraft, die Statistiker haben es ausgerechnet, die Hüter des Volkswohls bedauern es, die Juristen zucken die Achseln. Meint das der Vorsitzende mit seiner Frage? Oder will er sagen: »Sie machen mir ganz den Eindruck, als ob Sie bestraft werden müßten. Ich sehe es Ihnen an, Sie können nicht dauernd unbestraft herumlaufen. Vielleicht sind Sie noch nicht vorbestraft. Aber eines Tages werden Sie vorbestraft sein. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

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Oder will er sagen: »Sollten Sie, Angeklagter, noch nicht vorbestraft sein, nun, dafür sind Sie ja jetzt angeklagt. Sie stehen sozusagen vor der richtigen Schmiede. Bisher, 40 Jahre lang, 50 Jahre lang, 60 Jahre lang, sind Sie unbestraft geblieben. Aber warten Sie nur. Ueber ein kleines, wenn die Verhandlung vorüber ist, in einer Stunde etwa, werden Sie Ihre Strafe weghaben, und das bedeutet, daß Sie von da an bis an Ihres Lebens Ende vorbestraft sein werden.« Vielleicht meint es der Vorsitzende so, trotzdem er ja nicht wissen kann, ob der Angeklagte mit Recht angeklagt ist und ob er durch die Verhandlung als schuldig oder als unschuldig erkannt werden wird. Oder meint er vielleicht gar nichts? Sagt er das »noch nicht vorbestraft« nur so hin, in Gedanken, ohne Gedanken? Aber wenn er sich auch nichts dabei denkt, so dürfen wir uns doch allerlei dabei denken. Etwas verrät die unwillkürliche Wendung, eine Gesinnung, die der Strafe günstig ist. Bereitschaft, wo Widerstand empfunden werden sollte. Es wäre besser, er vermiede die Frage: »Sie sind noch nicht vorbestraft?« In diesem Zusammenhang, an diesem Ort, aus diesem Munde hört niemand gern: »noch nicht«. Inquit 8.5.1931

Am Rande der Gerechtigkeit Vorsitzender: »Machte der Angeklagte auf Sie einen ruhigen oder einen aufgeregten Eindruck?« – Zeuge: »Er rauchte eine Zigarette.« – Vors.: »Wollen Sie sagen: er war so ruhig, daß er eine Zigarette rauchte?« – Zeuge: »Ja.« – Vors.: »Aber man kann auch eine Zigarette rauchen, weil man aufgeregt ist, nämlich, um sich zu beruhigen.« – Zeuge: »Ja.« – Vors.: »Warum also hat der Angeklagte geraucht?« – Zeuge: »Ich weiß nicht.« – Vors.: »Sie meinen, es kann beides bedeuten, Ruhe und Aufregung. Sie werden wohl recht haben.« Von der Zigarette läßt sich nicht auf die Seelenlage schließen. Die Einsicht ist zu loben. Aber vielleicht gilt das für alle Indizien. *

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Vors.: »Dann sind Sie entlassen worden.« – Angekl.: »Nein, ich bin nicht entlassen worden. Ich habe krank gefeiert.« – Vors.: »Was haben Sie?« – Angekl.: »Krank gefeiert.« – Vors.: »Was ist das: krank feiern?« – Angekl.: »Ich habe mich krank schreiben lassen. Man nennt das so.« Krank feiern, so nennen sie das, die Galeerensklaven der unerbittlich schweren Arbeit. Sie kennen nicht den vierwöchigen Sommerurlaub, nicht die Reise ins Gebirge oder an die See, auf der man die Sorgen hinter sich wirft. Sie kennen nur den Zwang der Arbeit oder das Unglück der Arbeitslosigkeit. Wenn sie einmal pausieren wollen, mit gutem Gewissen, ohne Angst vor dem Hunger, so müssen sie das Glück haben, vom Arzt krank geschrieben zu werden. Dann dürfen sie »krank feiern«. * »Die erkannte Strafe erschien daher als angemessene und ausreichende Sühne«: häufig gebrauchter Satz der Urteilsbegründung. Angemessen, das heißt: nicht zu viel; ausreichend, das heißt: nicht zu wenig. Weder zu viel noch zu wenig, sondern auf das Gramm so bemessen, daß die Strafe das Verbrechen aufwiegt. So soll es sein. Im Beratungszimmer haben die Richter, Juristen und Laien, es ausgerechnet. Haben bedacht die Schwere der Tat, die Opfer, den Schaden, die Gefährlichkeit des Täters; andererseits seine Jugend, seine Unbestraftheit, seine Notlage. Folglich: neun Monate Gefängnis, oder drei Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust. Sowohl angemessen als auch ausreichend. An der Rechtskenntnis der Richter sind keine Zweifel erlaubt, auch nicht an ihrem guten Willen, auch nicht an ihrer Gewissenhaftigkeit. Zweifel sind allenfalls erlaubt an den Maßstäben. Woher wissen die Richter, wie hart oder wie milde neun Monate Gefängnis wirken, oder drei Jahre Zuchthaus, oder fünf Jahre Ehrverlust. Aus eigener Erfahrung? Gewiß nicht. Aus der Befragung Verurteilter? Aber wenn der eine sich leidlich mit seinen mehreren Jahren abgefunden hat, wie schwer mögen dem andern seine paar Wochen fallen! Aus dem Vergleich mit Strafen für andere Taten? Aber wenn für einen Einbruch aus Not ein Jahr Gefängnis als angemessen und ausreichend gilt, wieviel ist dann angemessen und ausreichend für die Millionenunterschlagung eines Bankkassierers ohne Not? Nach welcher Regel kann das berechnet werden?

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Angemessen und ausreichend: am Ende reden sich das die Gerichte nur ein. Am Ende wollen sie es nur den Verurteilten einreden. * Staatsanwalt: »Wir können hier nicht nach dem Grundsatz verfahren: alles verstehen heißt alles verzeihen.« Nein, das können wir nicht. Wohin kämen wir sonst. Wenn wir alles verzeihen müßten, so dürften wir überhaupt nicht mehr strafen, und die Gerichte stünden leer. Es ist gefährlich, zu viel zu verstehen. Also schützen wir uns vor dem Uebermaß des Verstehens. Wir lassen die Wissenschaft in die Gerichtssäle, aber nicht zu viel Wissenschaft. Wir hören Sachverständige an, aber nicht zu sachverständige Sachverständige. Wir halten uns mit unserer Einsicht in den Grenzen, die notwendig sind, damit die Justiz noch gedeihen kann. Denn wir fühlen uns nicht reif dazu, auf Justiz zu verzichten. Vielleicht wird eine künftige Menschheit bereit sein, alles zu verzeihen. Wir sind nicht bereit zu verzeihen. Wir sind entschlossen zu strafen. Inquit 16.5.1931

Fragen und Erklären Vorsitzender: »Angeklagter, Sie wollten an den Zeugen eine Frage richten. Bitte.« Angeklagter: »Ich bin mit dem Zeugen früher befreundet gewesen. Aber wegen einer Frau haben wir uns verfeindet. Und da …« Vorsitzender: »Das ist keine Frage. Sie dürfen an den Zeugen eine Frage stellen weiter nichts.« Angeklagter: »Aber es muß doch aufgeklärt werden …« Vorsitzender: »Was Sie zu sagen haben, können Sie in Ihrem Schlußwort sagen. Haben Sie an den Zeugen eine Frage zu richten? Der nächste Zeuge.«

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Der Angeklagte setzt sich hilflos nieder. Er fühlt, daß ihm Unrecht geschieht. In der Tat, es geschieht ihm Unrecht. Aber wie er sich dagegen wehren soll, weiß er nicht. Er hat ja nicht die Rechte studiert. Der Vorsitzende hat die Rechte studiert. Er ist aus vielen Hauptverhandlungen gewöhnt, das Strafgesetz anzuwenden, und macht es doch falsch. Dieser hier und nicht wenige mit ihm. Der Verteidiger soll die Zeugen befragen und weiter nichts, ebenso der Sachverständige. Worauf ihre Frage abzielt, wie sie die Antwort ausgelegt haben wollen, was sie daraus folgern, das gehört bei Staatsanwalt und Verteidiger ins Plädoyer, beim Sachverständigen ins Gutachten. »Herr Rechtsanwalt, Sie plädieren«, ist ein Vorwurf und ein berechtigter dazu. Daß der Angeklagte während der Beweisaufnahme nichts tun dürfe als Fragen stellen, davon steht nichts im Gesetz. »Nach der Vernehmung eines jeden Zeugen, Sachverständigen oder Mitangeklagten sowie nach der Verlesung eines jeden Schriftstücks soll der Angeklagte befragt werden, ob er etwas zu erklären habe.« So und nicht anders lautet der § 257 der Strafprozeßordnung. Die Strafprozeßordnung, nach mehr als 50 Jahren Geltung reformbedürftig wie alles Menschenwerk, ist dennoch ein Buch voller Weisheit. Der Wille, dem Angeklagten als dem Schwächeren gegenüber den Richtern als den Stärkeren zur Seite zu stehen, ist in ihr auf Grund der Erfahrungen vieler Generationen niedergelegt. Fragen? Dazu gehört Ruhe des Geistes, Klarheit und Gewandtheit. Der Angeklagte in seiner Lage verfügt gewöhnlich nicht darüber, würde auch ohne diese Lage im täglichen Leben meist nicht darüber verfügen. Der Gesetzgeber mutet ihm nicht zu, daß er mit geschickten und berechneten Fragen die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu erschüttern weiß; aber er gestattet ihm, sich sofort nach jeder Aussage zu erklären. Er soll sagen dürfen: »Der Zeuge lügt.« Er soll sagen dürfen: »Der Zeuge irrt sich aus den und den Gründen.« Er soll sagen dürfen: »Die Zeugen haben sich gegen mich verabredet.« Er soll nicht warten müssen bis zu seinem Schlußwort. Sofort darf er es sagen, den Zeugen ins Gesicht. So steht es in der Strafprozeßordnung. Seltsam, wie viele Richter sich des Wortlauts und des Sinnes des § 257 nicht bewußt sind, wie viele Richter daher in jeder ihrer Sitzungen dagegen verstoßen. Es könnte nichts schaden, wenn einmal von oben her eine kleine Auffrischung des Gedächtnisses vorgenommen würde. Inquit 10.7.1931

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Die Gereiztheit der Leute »In diesen Notzeiten …«, erinnert der Richter zur Begründung der von ihm verhängten empfindlichen Geldstrafe. Die Leute sind eben gereizt. Gott, wie sind die Leute gereizt! Auch der Einzelrichter beim Amtsgericht Wedding ist gereizt. Die Angeklagte, eine Frau von 63 Jahren, die zwölf Kindern das Leben geschenkt hat, unbescholten bisher, erhält das letzte Wort. »Das Wohnungsamt durfte nicht …«, regt sie sich auf und pocht zur Bekräftigung auf den Gerichtstisch. »Unterlassen Sie das Klopfen«, herrscht der Richter sie an. Sie unterläßt es erschrocken und wendet sich ihren dringenden Ausführungen zu. »Das muß ja der Maier selber zugeben …« – »Sie meinen wohl: Herr Maier«, dröhnt es ihr entgegen. Jawohl, sie meint: Herr Maier. Wenn der Einzelrichter gereizt ist, warum soll die alte Frau nicht gereizt sein dürfen? Diese Notzeiten gelten auch für sie. Zwar besitzt sie in Berlin N. ein Miethaus; aber man mag sich vorstellen, welche Sorgen und Plagen damit verbunden sind. Eine Stube in ihrem Hause stand leer. Früher hatten zwei ihrer Söhne darin gewohnt. Sie wollten auch wieder darin wohnen. Inzwischen aber legte das Wohnungsamt die Hand darauf. Das dürfte es nicht, behauptete die Hauswirtin; denn das Zimmer enthalte keine Kochstelle. Da ließ das Wohnungsamt Gas hineinlegen. Sie prozessiert seit langem mit dem Wohnungsamt um diese Stube. Vorläufig hat sie verloren. Eines Tages wurde eine Mieterin, ein älteres Fräulein, »eingewiesen«, wie der amtliche Ausdruck lautet. Das Fräulein ließ ihre Habe anfahren, einen Korb und eine eiserne Bettstelle. Beamte des Wohnungsamts kamen mit, gingen zur Hauswirtin und verlangten den Schlüssel. Die weigerte sich. Die Beamten holten einen Schlosser; der wollte nicht. Da öffneten sie selbst mit Hilfe eines Dietrichs, und Korb und Bettstelle wurden hineingeschafft. Das aber war der Tropfen, der die Hauswirtin zum Ueberlaufen brachte. Sie kam zeternd heraufgestürzt, stieß den Korb mit einem Fußtritt aus dem Zimmer, schaffte die Bettstelle auf den Treppenflur, hob die Fensterflügel aus, riß ein Gasrohr von der Wand, bedrohte das ältere Fräulein und

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Drei Geschworene im Gerichtsflur des Neuen Kriminalgerichts; o. J.

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ihren Anhang, fluchte und schimpfte und erreichte, daß die eingewiesene Mieterin von dannen zog. Das Zimmer steht leer, bis auf diesen Tag. Anklage gegen die Hauswirtin und Urteil: wegen Nötigung 100 Mark, wegen Bedrohung und Beleidigung 50 Mark, wegen Sachbeschädigung 20 Mark Geldstrafe; dazu die Kosten des Verfahrens. »Ich werde Berufung …« will die Verurteilt anheben. »Schweigen Sie«, schreit der Richter. »Sie haben hier nichts mehr zu sagen. Noch ein Wort, und ich nehme Sie in Ordnungsstrafe wegen Ungebühr vor Gericht«. Die Leute sind eben gereizt, die Gerechten ebenso wie die Sünder. Kein Wunder, in diesen Notzeiten. Inquit 18.7.1931

Verständigung mit Juristen Vor dem Einzelrichter. Eine Frau, jetzt Angeklagte, hat einer andern Frau, jetzt Zeugin, ihren Laden samt Inhalt verkauft. Sie soll dabei verschwiegen haben, daß ein Teil des Inventars gepfändet war. Vorsitzender: »Hat Ihnen, Frau Zeugin, die Angeklagte bei Abschluß des Vertrages von den Pfändungen Mitteilung gemacht?« Zeugin: »Nein, nichts hat sie mir gesagt.« Vorsitzender: »Sie haben also den Vertrag geschlossen unter der Voraussetzung, daß mit dem Kauf des Ladens der gesamte Inhalt in Ihr unangefochtenes Eigentum übergeht?« Zeugin: »Wie?« Vorsitzender (freundlich): »Sie haben nichts davon gewußt, daß Teile der Einrichtung gepfändet worden waren?« Zeugin: »Nein, das habe ich nicht gewußt.« Vorsitzender: »Die Angeklagte hat Ihnen nichts davon gesagt?« Zeugin: »Nein, sie hat mir nichts gesagt. Sonst hätte ich doch den Laden nicht gekauft.«

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Vorsitzender (verständigungsbereit): »Wollen Sie sagen: wenn Ihnen bekannt gewesen wäre, daß ein Teil der Einrichtung gepfändet worden war, dann hätten Sie den Vertrag nicht abgeschlossen?« Zeugin: »Ich hätte den Laden nicht gekauft.« Vorsitzender: »Diese zweite Behauptung stellen Sie auf, um damit Ihre erste Behauptung glaubhaft zu machen?« Zeugin: »Wie?« Vorsitzender (friedfertig): »Sie wußten nicht, daß gepfändet worden war?« Zeugin: »Nein.« Vorsitzender: »Wenn Sie es gewußt hätten, würden Sie auf den Kaufvertrag nicht eingegangen sein?« Zeugin: »Ich habe es nicht gewußt. Sie hat mir nichts gesagt.« Vorsitzender: »Schön. Sie haben es nicht gewußt. Das ist eine Behauptung von Ihnen, die im Widerspruch steht zur Behauptung der Angeklagten.« Zeugin: »Es ist nicht wahr, daß sie es mir gesagt hat.« Vorsitzender (voll gütigen Nachdrucks): »Gut, Sie behaupten, es sei Ihnen nicht gesagt worden. Und Ihre zweite Behauptung, daß Sie sonst den Vertrag nicht abgeschlossen hätten, bringen Sie vor, um damit Ihre erste Behauptung, es sei Ihnen von der Pfändung nichts gesagt worden, zu bekräftigen.« Zeugin: »Wie?« Vorsitzender (ohne die Geduld zu verlieren): »Es sind zwei Behauptungen, die Sie aufstellen, und die wir voneinander trennen wollen. Sie behaupten erstens, es sei Ihnen von den Pfändungen nichts gesagt worden.« Zeugin: »Es ist mir nichts gesagt worden.« Vorsitzender: »Zweitens behaupten Sie: Wenn es Ihnen gesagt worden wäre, dann hätten Sie den Vertrag nicht abgeschlossen.« Zeugin: »Ich hätte den Laden nicht gekauft, wenn ich das mit den Pfändungen gewußt hätte.« Vorsitzender (freudig): »Also, jetzt passen Sie auf. Mit der zweiten Behauptung hoffen Sie, ein Argument beizubringen für die Richtigkeit der ersten Behauptung. Verstehen Sie mich?« Zeugin: »Nein.« Die Sitzung wird vertagt. Der Vorsitzende trocknet sich die Stirn. Inquit 22.7.1931

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Frische Luft in Moabit Die Verhandlung zieht sich hin. Betrug und Urkundenfälschung. Der Angeklagte in seinem Holzkäfig, aus der Untersuchungshaft vorgeführt, schon einigermaßen bei Jahren, beruft sich auf die schweren Zeiten, die ihn gegen seinen Willen in die kleinen Unredlichkeiten hineingetrieben haben, bis daraus die große Strafsache geworden ist. Zeuge auf Zeuge wird vernommen. Die Luft im Saal, von den vielen Menschen verbraucht, durch die Heizungsröhren überwärmt, läßt sich kaum noch atmen. Der Staatsanwalt plädiert, der Verteidiger. Der Angeklagte erhält das Schlußwort und bittet um seine Freisprechung. Man merkt, er hegt keine Hoffnung. »Das Gericht wird beraten.« Der Vorsitzende verläßt seinen Sitz und schreitet durch die Tür. Hinter ihm der Beisitzer. Dahinter die Schöffen. Der Staatsanwalt entfernt sich, im Vertrauen darauf, daß er zur Urteilsverkündung herbeigerufen wird. Der Verteidiger begibt sich auf den Korridor und zündet sich eine Zigarette an. Die Justizwachtmeister stürzen sich auf die Fenster und reißen die Flügel weit auf. Frische Luft, die fast winterlich kalte Märzluft, bricht in dicken Schwaden herein. Die Tür zum Korridor steht weit offen. Sorgfältig wacht ein Justizbeamter darüber, daß nicht irgendein Unbefugter sie schließt. Es weht beinahe pfeifend von der Straße zum Korridor und über die Treppen durch das ganze Gebäude. Trotzdem rührt sich niemand aus dem Zuschauerraum. Sie wollen das schwer erkaufte Recht, hier zu sitzen und dem Schauspiel zu folgen, nicht wegen des bißchen Zugluft aufgeben und lassen es getrost auf einen Schnupfen ankommen. Außerdem sind sie in ihrer Straßenkleidung, sie können es allenfalls ertragen. Auch die Zeugen rühren sich nicht vom Platz. Sie sind mit den Moabiter Sitten nicht genügend vertraut und fürchten, sie könnten nachher von der Urteilsverkündung ausgeschlossen werden, wenn sie jetzt hinausgehen. Der Angeklagte in seinem dünnen Jackett darf nicht hinausgehen. Er darf auch nicht bitten, daß der Zug abgestellt werde. Uebrigens würde man

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nicht auf ihn hören. Wahrscheinlich ist er mit seinem Schicksal beschäftigt und denkt nicht an Hygiene. Wenn ihm abwechselnd heiß und kalt wird, so führt er seine Zustände gewiß nicht auf die Zimmertemperatur zurück. Der Zugwind bläst munter. Die Korridore, auf denen Leute stundenlang warten müssen, sind ohnehin viel zu schwach durchwärmt. Die Verwaltung spart offenbar mit Kohlen. Es ist höchst ungemütlich in Moabit. Der Staatsanwalt wird herbeigerufen. Der Verteidiger nimmt seinen Platz ein. Justizwachtmeister schließen die Fenster. Die Temperatur im Saale ist auf etwa fünf Grad gesunken. Das Gericht erscheint. Endlich darf auch die Tür geschlossen werden. Im Namen des Volkes: wegen Betruges und schwerer Urkundenfälschung sechs Monate Gefängnis. Ausführliche Begründung. Gegen dieses Urteil steht dem Angeklagten binnen einer Woche das Rechtsmittel der Berufung zu. Der Angeklagte verschwindet durch die schmale Pforte. Die Oeffentlichkeit wird nie erfahren, ob er sich außer der Gefängnisstrafe nicht auch noch eine schwere Grippe zugezogen hat. »Die nächste Sache!« Die Temperatur im Saale beginnt zu steigen. Es wird nicht lange vorhalten mit der frischen Luft. Inquit 27.3.1932

Aha! Der Herr Angeklagte legt umständlich dar, warum gewisse Maßnahmen von ihm getroffen worden sind, während er gleichzeitig gewisse andere Maßnahmen zu treffen unterlassen hat. Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Aha! Der Herr Angeklagte (gereizt): Was soll das heißen: aha? Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Aha heißt aha. Der Herr Angeklagte: Aha heißt nicht einfach aha. Wenn die Gegenseite aha sagt, so soll das wohl dahin verstanden werden, daß sie meine Darlegungen für ein Geständnis hält und daß sie glaubt, mich auf einer bedenklichen Handlungsweise ertappt zu haben. Aber mir kommt gerade

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die Handlungsweise der Gegenseite bedenklich vor. Sie braucht hier gar nicht aha zu sagen. Umgekehrt, ich sage aha. Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Es muß mir schon überlassen bleiben, selbst zu bestimmen, wann ich aha sagen will. Ich halte die Ausführungen des Herrn Angeklagten in der Tat für bedenklich. Ich wiederhole daher: Aha! Der Herr Angeklagte (sehr erregt): Hier gibt es für die Gegenseite gar keinen Grund, aha zu sagen. Wenn hier jemand aha sagen darf, so bin ich das, und zwar nicht erst seit heute, sondern seit Jahren. Die bedenklichen Handlungen des Nebenklägers reißen überhaupt nicht ab. Aha? Jawohl: aha. Aber bei mir, bei mir. Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Damit, daß der Herr Angeklagte aha sagt, und sogar daß er wiederholt aha sagt, wird er die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß er die Dinge begangen hat, derentwegen er angeklagt ist. Wir werden im Laufe der Verhandlung noch oft Gelegenheit haben, aha zu sagen. Und wenn wir es nicht sagen, so werden wir es denken. Der Herr Angeklagte (in höchstem Maße erregt): Denken können Sie, was Sie wollen, das ist mir ganz gleichgültig. Ich denke mir auch mein Teil, und wenn die Gegenseite wüßte, was ich denke, würde sie sich wahrscheinlich sehr wundern. Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Es ist ganz unwichtig, wer jetzt aha sagt. Es kommt allein darauf an, wer zuletzt aha sagt. Ich fürchte, das werden wir sein. Der Herr Angeklagte (fassungslos): Und ich hoffe, das werden wir sein. Ich weiß es sogar bestimmt. Aber Ihnen ist zuzutrauen, daß Sie auch nach dem Urteil noch nicht wissen, wer aha zu sagen hat. Der Vertreter des Herrn Nebenklägers: Aha! Der Herr Angeklagte (schreit): Aha! Aha! Aha! Der Verteidiger: Hohes Gericht! Wir haben eine Erklärung abzugeben. Wir sind bisher darauf ausgegangen, die Verhandlung sachlich unter Vermeidung aller überflüssigen Schärfen zu führen. An diesem Bestreben halten wir fest und werden uns darin durch die Gegenseite nicht irre machen lassen. An der Austragung dieses Streites, der durch einen Zwischenruf des Herrn Vertreters des Herrn Nebenklägers unnötigerweise hervorgerufen worden ist, hat die Verteidigung bei aller Wahrung der Rechte ihres Herrn Mandanten im gegenwärtigen Zeitpunkt kein Interesse. Der Vorsitzende: Aha! Inquit 3.7.1932

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Der verbotene Abschied Der Angeklagte wird aus dem Zuchthaus vorgeführt, wo er wegen Einbruchsdiebstahls im Rückfall zwei Jahre abzubüßen hat. Er zählt erst 30  Jahre, aber es ist schon seine 14. Strafe. Der Vater, 54jährig, hat sein Leben völlig unbescholten geführt. Auf die Frage, wie es denn komme, daß der Sohn aus der Art geschlagen sei, gibt er die Erklärung: »Er ist eben dämlich.« Oder wie die Psychiater es nennen: geistig minderwertig. Zu den zwei Jahren Zuchthaus sind ihm noch zwei Monate Gefängnis auferlegt worden, weil er nach der Urteilsverkündung Gericht und Staatsanwalt bedroht und gegen die Justizwachtmeister Widerstand geleistet haben soll. Die Bedrohung läßt sich nicht nachweisen, er hat etwas gesagt, es ist nicht genau verstanden worden. Dagegen steht von dem Widerstand so viel fest, daß zwei Justizwachtmeister auf ihn eingeschlagen haben und mit ihren Gummiknüppeln hinter ihm hergejagt sind, bis im Untersuchungsgefängnis ein Beamter mit erhobenen Händen dazwischen trat und mit dem Ruf: »Nun ist’s aber genug!« der Szene ein Ende bereitete. Der Arzt stellte blaue Flecke am ganzen Körper fest. Da die Prügel sich nicht mehr rückgängig machen lassen, so könnten ihm nach den zwei Jahren Zuchthaus die zwei Monate Gefängnis, die ihm durch Strafbefehl auferlegt worden sind, beinahe gleichgültig sein. Aber er empfindet diese zwei Monate als ungerecht und hat richterliche Entscheidung beantragt. Und so steht er jetzt vor dem Einzelrichter, und die Teilnehmer jenes Einbruchsprozesses treten als Zeugen auf. Die beiden Justizwachtmeister, so wird festgestellt, sind als ruhige Leute bewährt, und ihre behagliche Körperlichkeit scheint auch dafür zu sprechen. Warum also haben sie damals so wild auf ihn eingeschlagen? Wahrscheinlich deshalb, weil der Vorsitzende sie vor der Urteilsverkündung dahin instruiert hatte, es würde wohl etwas geben, sie möchten sich neben dem Angeklagten bereitstellen. Der Vorsitzende aber hatte diese Maßregel getroffen, weil er, wie er jetzt als Zeuge aussagt, den »Eindruck« gewann, der Angeklagte würde das Urteil nicht ruhig hinnehmen. Und diesen »Eindruck« gewann er

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vielleicht daher, daß vor der Verhandlung beim Gericht ein anonymer Brief eingegangen war, in dem Gewalttätigkeiten des Angeklagten vorausgesagt wurden. Nun war zwar der Angeklagte in jener Verhandlung ohne Zweifel aufgeregt; denn die Beschuldigung des Einbruchs beruhte auf bloßen Indizien, und der Angeklagte behauptete, es seien falsche Indizien, und er sei unschuldig. Dennoch wäre es zu keinem Ausbruch gekommen, wenn nicht der Vorsitzende zu der schweren Strafe noch eine Unfreundlichkeit gefügt hätte. Der Verurteilte bat nämlich, seinem Vater zum Abschied die Hand reichen zu dürfen. Aber der Vorsitzende, statt die Bitte zu gewähren, erteilte den Befehl: »Abführen!« Da riß dem Sohne die Geduld. Der Einzelrichter sieht den Widerstand milder und ermäßigt die zwei Monate auf drei Wochen. Wenn die zwei Jahre Zuchthaus einmal abgebüßt sind, wird man nachprüfen, ob für diese drei Wochen vielleicht Bewährungsfrist einzuräumen ist. Die Begründung stellt ausdrücklich fest, es sei unbillig gewesen, den Abschied vom Vater zu versagen. Der Mann im Käfig der Anklagebank ist zufrieden. Aber nun möchte er nachholen, was er damals nicht hat erledigen dürfen: Er bittet um die Erlaubnis, sich von seinem Vater zu verabschieden. Diesmal wird es ihm nicht versagt. Und siehe da: Die Begegnung verläuft in vollem Frieden. Vater und Sohn treten zu einander, der Vater weint, der Sohn weint, der Vater küßt den Sohn auf beide Backen; dann läßt sich der Sohn ins Zuchthaus zurückführen. So harmlos hätte die Sache gleich verlaufen können. Aber wir wissen ja längst, wie oft das Böse geschieht, nur weil die Leute fürchten, es könnte geschehen, und ihre Maßnahmen dagegen treffen. Inquit 28.10.1932

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Saal im Preußischen Landtag nach einer Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten; o. J.

»Elend und Bürgerkrieg« Politik, Gewalt, Straßenkämpfe

Politik des Kinnhakens Der Schuldige ist tot. Es ziemt sich, mit Zurückhaltung von ihm und seinem selbstverschuldeten Ende zu sprechen. Die Roten Frontkämpfer von Spandau hatten demonstriert. Ein paar von ihnen, in ihrer Vereinsuniform, setzten sich in ein Lokal. Dort stöberte sie ein Bursche namens Sommerfeld auf, inmitten einer Gruppe von Kameraden, die im Gegensatz zu den Frontkämpfern rechts eingestellt waren. Sommerfeld ließ sich vernehmen: »Hier ist’s ja richtig, hier ist ja die rote Brut«, und fing denn auch sogleich Krach an, was ihm nicht ganz leicht fiel, weil die Roten sich durchaus nicht provozieren lassen wollten. Immerhin gelang es ihm, einem der Frontkämpfer einen Kinnhaken zu versetzen, worauf er das Lokal verließ. Nun begab er sich, noch immer inmitten seiner Kameraden, in das Lokal von Kuchenbäcker, und auch hier fand er Rote Frontkämpfer vor. Die Kameraden von der rechten Seite stimmten das Ehrhardt-Lied an »Hakenkreuz am Stahlhelm«, und einer von den Roten, wie ein Zeuge sich ausdrückte, »sang dagegen«. Der Wirt wies die Rechtsleute aus dem Lokal, und Sommerfeld hatte gerade noch Zeit, einem Bekannten von den Roten ins Ohr zu flüstern, er sei ja selbst Kommunist und wolle die anderen bloß ärgern. Draußen bekam er Krach mit seinen eigenen Kameraden, er und ein paar andere wurden festgenommen, aber bis auf einen wieder freigelassen.

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Sie kehrten denn sofort in das Lokal von Kuchenbäcker zurück, und es gab aufs neue Streit. Inzwischen war derjenige, der in dem anderen Lokal von Sommerfeld den Kinnhaken bekommen hatte, herübergekommen und hatte seine Kameraden in Kenntnis gesetzt. Die allgemeine Wut kehrte sich gegen den Täter, man fragte nach ihm, und es war einer von denen von rechts, der auf Sommerfeld weisend laut rief: »Da läuft er«. Er lief tatsächlich, und zwar zusammen mit einem anderen, mit dem er sich eben geprügelt hatte, und die Roten Frontkämpfer liefen in hellem Haufen hinterher. Die meisten kehrten um, aber zwei liefen weiter, es waren die jungen Burschen Klutz und Kegel. Nach der Darstellung von Klutz lief Kegel voran, holte den Sommerfeld ein und schlug ihn so, daß er taumelte. Dann erreichte ihn Klutz und versetzte ihm ein paar Schläge mit seiner Koppel, und zwar derart, daß er ihn mit dem metallenen Schloß am Rücken und am Halse traf. Dann schlug Kegel noch einmal, und Sommerfeld fiel hin. Die beiden liefen weg, der Verwundete wurde ins Krankenhaus geschafft, starb aber schon auf dem Transport. Klutz und Kegel aber standen gestern unter der Anklage der Körperverletzung mit tödlichem Ausgang vor dem Schwurgericht des Landgerichts III. Daß Sommerfeld sich die Mißhandlungen in hohem Maße selber zugezogen hatte, darüber besteht kein Zweifel; aber auch darüber nicht, daß er von den beiden schwer geschlagen worden war. Und woran ist er gestorben? Die Sachverständigen sagen: an einer Blutung zwischen den Gehirnhäuten. Die Blutung ist wahrscheinlich die Folge des Platzens eines Blutgefäßes, und davon wiederum ist die Ursache wahrscheinlich ein Schlag. Dieser Schlag braucht nicht schwer gewesen zu sein und ist sicher nicht mit einem spitzen Werkzeug geführt worden. Es läßt sich auch nicht mit Gewißheit sagen, daß eben die Schläge der beiden, Klutz und Kegel, das Platzen des Blutgefäßes hervorgerufen haben; es kann vielmehr schon bei einer der früheren Prügeleien erfolgt sein, da die Wirkung einer solchen gelinden Blutung im Gehirn erst nach einiger Zeit auftritt. Das Urteil lautete auf sechs Monate Gefängnis für Klutz, auf zehn Monate Gefängnis für Kegel wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung. Zwei Monate Gefängnis wurden beiden angerechnet. Klutz, der geständig war und unvorbestraft ist, erhielt ferner Strafaussetzung zugebilligt. Inquit 16.11.1928

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Gespenster Zwei liefen weg, und vier liefen hinterher. Von den Verfolgern schlug einer auf einen der Verfolgten los und zwar mit einem Koppel und traf ihn mit dem Schloß gegen den Kopf. Er hatte sich deshalb vor dem Schöffengericht des Amtsgerichts Tempelhof wegen Landfriedensbruches zu verantworten. In Tempelhof nämlich war die Jagd vorgefallen, am 11. August. Nach Bruch des Friedens aber sah die Sache deshalb aus, weil die Verfolger und die Verfolgten politisch organisiert waren, und zwar in entgegengesetzten Verbindungen. Die vier rechneten sich zur Nationalsozialistischen Arbeiterpartei, die zwei zum Roten Frontkämpferbund. Es liegt also eine Welt zwischen ihnen. Von außen läßt der Unterschied sich ihnen nicht anmerken. Es sind alles junge Leute aus der schlichten und arbeitsamen Gegend im Süden Berlins, und sie üben alle irgendeinen ehrsamen Beruf aus, wie den eines Schlächters oder Schlossers oder Zimmermanns oder Schofförs. Sie haben dieselbe Haarfarbe und sprechen dieselbe Sprache, und man begreift nicht, warum die einen sich auf diese Seite geschlagen haben und die anderen auf jene. Es könnte auch umgekehrt sein. Auch ist es unmöglich, sie auseinanderzuhalten, außer wenn sie Abzeichen tragen. Nun pflegte der Angeklagte, der mit dem Koppelschloß geschlagen hat, unentwegt Abzeichen zu tragen und machte sich damit bei sämtlichen RotFront-Kämpfern so verhaßt, daß sie beschlossen, ihm eins auszuwischen. So wenigstens sieht er selbst seine Lage an. Und er schilderte dem Gericht, wie an jenem 11. August Kommunisten von überall her, aus Neukölln, aus Lichtenrade, aus den nördlichen Stadtvierteln in Tempelhof zusammengezogen wurden, wie die Hauptstraße besetzt war, und wie er von Freunden Warnungen zugerufen bekam. Aber nach den Aussagen der Zeugen zu urteilen, vollzog sich dieser bedrohliche Aufmarsch nur in seiner Phantasie. Und wenn er stolz darauf ist, daß er mit dem unentwegt gezeigten Abzeichen sich die Todfeindschaft der Gegenpartei zugezogen hat, so scheint es, daß er damit nur seine eigene

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Furcht in die Wirklichkeit projiziert. Es gab keinen Aufmarsch und es gab keine Verabredung gegen ihn, sondern es gingen bloß ein paar Leute harmlos spazieren oder ins Kino. Aber als der Angeklagte im Glauben, das Ziel eines roten Handstreichs zu sein, an einem Bauzaun vorbeiging, sah er einen Haufen Rot-FrontKämpfer herausstürzen. Daß ihm etwas von ihnen geschehen wäre, behauptete er selbst nicht. Seine Freunde, denen die gleiche Furcht die gleichen Wahnvorstellungen eingab, fanden sich »umzingelt« und »abgeriegelt«; aber auch ihnen wurde kein Härchen gekrümmt. Warum also plötzlich vier Nationalsozialisten hinter zwei Rot-Front-Kämpfern herliefen, ist ungeklärt. Jedenfalls gab es ein Getümmel, Polizei schritt ein, und noch vor Gericht waren die Nationalsozialisten aus ihrer Gespenstervision nicht erwacht. Das Urteil erging auf 50 Mark Geldstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Der junge Mann aber kann weiter seine Abzeichen in Tempelhof spazieren tragen und sich weiter einbilden, erstens, daß er damit seinen Mut beweist, zweitens, daß alle Gegner ihm dabei zusehen. Inquit 30.1.1929

Feinde der Republik Herr Fahrenhorst1, Geschäftsführer der Deutsch-völkischen Freiheitsbewegung, ein aufrechter Mann und Monarchist, den nach seinen eigenen Worten »niemand, auch nicht seine Majestät der Kaiser, von seinem Treueid entbinden kann«, hat bisher mit der Republik unwahrscheinliches Glück gehabt. Dreimal hat er sie öffentlich beschimpft, dreimal ist er dafür verurteilt worden, und dreimal bewahrte ihn die Amnestie vor Verbüßung der Strafe. Gestern stand er zum viertenmal wegen desselben Vergehens vor 1 Karl Fahrenhorst (1882–1945), Journalist und völkisch-nationalsozialistischer Politiker. Er wechselte 1930 von der Deutsch-völkischen Freiheitspartei (DVFP), die nach 1925 zur Deutsch-völkischen Freiheitsbewegung wurde, zu den Nationalsozialisten über.

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dem Schöffengericht des Amtsgerichts Charlottenburg, von der Feindschaft dieser Republik nicht gebrochen, aber auch von ihrer Milde nicht versöhnt. Am 6. November des vorigen Jahres veranstaltete die Deutsch-völkische Freiheitsbewegung in den Hohenzollernsälen zu Charlottenburg einen sogenannten Deutschen Abend, zur Erinnerung an den 9. November. Ein Deutscher Abend, das heißt: Militärmärsche, Ansprache des Majors Henning, ein Theaterstück »Der alte Fritz«, Aufmarsch der Fahnen und Tanz. Eintritt 50 Pfennig. Herr Fahrenhorst war auch da, etwas grippekrank, und trotzdem er nicht als Redner vorgesehen war, lag ihm der Leiter des Abends, Herr Stapel, auch ein Geschäftsführer, in den Ohren, er möchte das Wort ergreifen. Schließlich tat er es; wie er es darstellt, um eine Geldkollekte für die Musikkapelle einzuleiten, wie andere es darstellen, um für die Bewegung selbst Geldspenden anzuregen. Er sprach nur wenige Sätze, aber sie hatten es in sich. Unter anderem äußerte er sich wörtlich so: »Mit dieser in alle Ewigkeit verfluchten Republik, die auf Meineid und Verrat aufgebaut ist, werden wir Völkischen uns niemals abfinden.« Herr Fahrenhorst, wie gesagt, ist ein aufrechter Mann. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er diese Worte nicht für eine Beschimpfung der Republik halte, antwortete er schlicht: Nein. Er habe nicht die Republik beschimpfen wollen, sondern die Revolution. Das aber könne ihm niemand verbieten, nachdem ein Republikaner wie Kardinal Faulhaber2 vor sechs Jahren ungestraft habe sagen dürfen: »Die Revolution war Meineid und Hochverrat und bleibt in der Geschichte ewiglich belastet und gezeichnet mit dem Kainsmal.« Er habe auch ausdrücklich hinzugefügt: »Nach den Worten des Kardinals Faulhaber«. Auch sei es gar keine öffentliche Versammlung gewesen, sondern ein geselliges Beisammensein von Freunden und Gesinnungsgenossen. Zwar hätten sich drei Kriminalbeamte eingeschlichen, aber unbefugterweise und nur, um ihn zu bespitzeln. So weit der aufrechte Herr Fahrenhorst, der das Eiserne Kreuz trägt, weil er vom ersten bis zum letzten Kriegstage im Felde gestanden hat, und zwar als Leiter der Soldatenheime an der Ostfront. Die Kriminalbeamten als Zeugen sagten einer nach dem andern folgendes aus: Sie waren nicht gekommen, um ihn zu bespitzeln, schon deshalb nicht, weil sie nicht damit hatten rechnen können, daß er das Wort ergreifen 2 Michael von Faulhaber (1869–1952) war von 1910–1915 Bischof von Speyer, danach bis zu seinem Tode Erzbischof von München und Freising.

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würde. Gekommen waren sie vielmehr mit dem Auftrag, die Veranstaltung der Deutsch-völkischen Freiheitsbewegung zu schützen vor Ueberfällen durch die Nationalsozialistische Arbeiterpartei, die im selben Lokal tagte. Hineingelangt waren sie ohne Einladung und ohne Kontrolle, indem sie einfach an der Kasse 50 Pfennig bezahlten, wofür ihnen das Programm ausgehändigt wurde, das zugleich als Eintrittskarte galt. Den Zusatz »nach den Worten des Kardinals Faulhaber« hatten sie nicht gehört; das Fehlen war vielmehr einem der Beamten aufgefallen, weil er aus Erfahrung wußte, daß völkische Redner bei diesem Zitat sich ausdrücklich auf den Kardinal zu berufen pflegen. Nach den Kriminalbeamten gaben einige Anhänger der Deutsch-völkischen Freiheitsbewegung ihr Zeugnis ab; ein weißhaariger Hauptmann außer Diensten, eine Oberstleutnantswitwe, die es sich nicht nehmen ließ, daß »Deutsche Tageblatt« auf den Zeugentisch niederzulegen, ein Kaufmann, ein Pfarrer aus Tempelhof und jener andere Geschäftsführer Stapel, der unter seinem Eide rasch einen der Kriminalbeamten verdächtigte, seine Behauptung freilich sogleich erheblich einschränkte und Beweise nicht abzugeben wußte. Allesamt erklärten sie den Deutschen Abend vom 6. November für eine geschlossene Veranstaltung, einige hatten sogar von einer Kasse, an der Karten verkauft wurden, nichts bemerkt. Dafür wiederum bekundeten sie alle sofort, daß der Redner den Kardinal ausdrücklich genannt hätte. Das Gericht war der Meinung, daß die Frage, ob er sich auf den Kardinal berufen habe oder nicht, gleichgültig sei, da auf jeden Fall der Kardinal etwas ganz anderes gesagt habe als Herr Fahrenhorst. Jener nämlich habe ausdrücklich von der Revolution gesprochen, dieser aber von der Republik. Das Gericht hielt auch für erwiesen, daß die Veranstaltung öffentlich gewesen war. Es verurteilte den Beschimpfer der Republik zu drei Monaten Gefängnis und den Kosten des Verfahrens. Bewährungsfrist wurde ihm ausdrücklich nicht zugebilligt. Der Vorsitzende gab sich die größte Mühe, den Verurteilten von der Gerechtigkeit des Spruches, des Strafmaßes und der versagten Bewährungsfrist zu überzeugen. Es wird ihm nicht gelungen sein. Als dem Angeklagten das letzte Wort verstattet wurde, erklangen aus seinem Munde im Tonfall des berufsmäßigen Vereinsredners die pathetischen Worte: »Gott der Herr wird richten, über Sie, Herr Staatsanwalt, und über mich. Und ich hoffe, er wird mir gnädig sein.« So rief er, und seine Anhänger nickten gerührten Beifall. Sie gehören zusammen, dieser aufrechte und monarchistische Herr

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Fahrenhorst und seine sitzengebliebenen Anhänger. Was sollten sie zusammen treiben, wenn sie nicht mehr mit ihren unflätigen Phrasen gegen die Republik losziehn dürfen? Inquit 2.2.1929

Jäger Runge Können Sie sich eine Vorstellung machen vom Hunnenkönig Attila? Vom Dreißigjährigen Krieg und seinen Landsknechten? Vom Uebergang über die Beresina? Oder auch nur vom Leben in den Schützengräben während des Weltkrieges vier Jahre lang unter dem Feuer der Granaten und Minen? Sie können es nicht. Sie können sich auch nicht mehr vorstellen, wie es in Berlin nach dem Zusammenbruch aussah, trotzdem sie es miterlebt haben. Und für das Bild etwa der Mörder Liebknechts und der Rosa Luxemburg bleiben Sie auf Ihre Phantasie angewiesen, selbst wenn Sie die Täter mit Augen sehen. Einer von ihnen, der Jäger Runge3, steht wieder einmal als Zeuge vor Gericht, im zweiten Beleidigungsprozeß des Reichsanwalts Jorns4 gegen 3 Otto Runge (1875–1945) wurde 15 Jahre nach dem Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vom nationalsozialistischen Regime wegen seiner Tat mit einer Geldspende geehrt. 4 Paul Jorns (14.12.1871–5.2.1942), Jurist. Von 1900–1919 preußischer Kriegsgerichtsrat; führte 1919 die Untersuchung gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht; ihm wurde im »Tagebuch« Begünstigung der Mörder vorgeworfen; 1923 wurde er Oberstaatsanwalt, 1925 Reichsanwalt. 1933 trat er in die NSDAP ein; 1934 Staatsanwalt am Volksgerichtshof; 1936 Oberreichsanwalt; 1937 Ruhestand; 1939–1941 erneut Reichsanwalt am Volksgerichtshof.

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Otto Runge als Zeuge vor Gericht, 1930.

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den Redakteur Bornstein5.6 Ihn hat das Kriegsgericht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Jahre 1919 zu zwei Jahren Gefängnis, zwei Wochen Haft, vier Jahren Ehrverlust und Entfernung aus dem Heer verurteilt, wegen Wachtvergehens im Felde, versuchten Totschlags, Mißbrauchs der Waffe und einiger anderer Delikte. Abgebüßt hat er die Strafe nur zum Teil. Dafür ist eine nicht durch Urteil verhängte Strafe an ihm vollstreckt worden: zwei Jahre später wurde er auf dem Arbeitsnachweis erkannt und schwer mißhandelt. Er ist, wie man heute wohl als erwiesen annehmen darf, derjenige, der als Posten vor dem Edenhotel die festgenommene Rosa Luxemburg, als sie abtransportiert wurde, mit dem Kolben über den Schädel gehauen hat. Und so wird er mit seinem Namen in der Geschichte fortleben. Wie sieht er aus, der Soldat Runge im Zweiten Jägerregiment zu Pferde, der er damals war? Die Uniform, in der er gewiß stattlich und kriegerisch prunkte, trägt er längst nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie in Fetzen zerfallen. Er hat keine Waffe in der Hand, mit der er einmal Macht ausüben und Schrecken verbreiten konnte. Seine Glanzzeit ist vorüber. Ganz und gar vorüber. Heute steht er da vor den Richtern in unscheinbarem schwarzem Mantel ein gealterter Mann, zwar groß gewachsen, aber abgemagert und von der schlechten Haltung der Unterernährten. Das Haar ist angegraut, der kahle Schädel wächst schon hindurch. Vor den kleinen Augen in tiefen Höhlen trägt er auf der langen Vogelnase einen randlosen Kneifer. Das bißchen gestutzter Schnurrbart reicht auch nicht hin, um seine Erscheinung zu heben. Er spricht kein falsches Deutsch, aber berlinischen Dialekt. Man würde ihn für einen kleinen Angestellten halten, der Pakete verschnürt oder Gelder zur Bank trägt. 5 Josef Bornstein (1899–1952), Journalist und Mitherausgeber der Zeitschrift »Das Tagebuch«. Im »Tagebuch« v. 24.3.1928 erschien der anonyme Artikel »Kollege Jorns« (Autor war Berthold Jacob), in dem Paul Jorns vorgeworfen wurde, er hätte die Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs begünstigt, weshalb ihm die Fähigkeit abgesprochen wurde, am obersten deutschen Gericht als Reichsanwalt zu fungieren. Jorns klagte und im April 1929 verhandelte das Gericht gegen den verantwortlichen Redakteur des »Tagebuchs« Josef Bornstein zum ersten Mal wegen Beleidigung und Verleumdung des Rechtsanwalts. Weitere Prozesse folgten Anfang 1930 und Ende 1930/Anfang 1931. Letztendlich musste Bornstein 500 Mark Strafe zahlen. 1933 emigrierte er nach Frankreich. Hier arbeitete er am »Neuen Tagebuch«. 6 Zu dem Prozess siehe auch Seite 339 ff. (Eden-Hotel) und Seite 347 ff. (Prozeß Jorns und kein Ende; Besuch beim Jorns-Prozeß).

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Aber er tut nichts dergleichen. Es nützt ihm nichts, daß er das Metallgewerbe erlernt hat. Es nützt ihm auch nichts, daß ihm damals von seinen Vorgesetzten hohe Belohnungen und ein sorgenfreies Leben versprochen worden sind. Er hat keine Arbeit. Er geht stempeln. Er macht nicht den Eindruck, als ob er viel begriffe. Aber am wenigsten wird er begreifen, wie er einmal dazu gekommen ist, eine historische Rolle zu spielen und gar im blutigen Kostüm des Mörders. Inquit 6.2.1930

Elend und Bürgerkrieg In ein Lokal der Nationalsozialisten wurde von außen hineingeschossen. Die Gäste alarmierten das Ueberfallkommando und machten die Polizisten auf eine Gruppe aufmerksam, die sich im Dunkeln verborgen hielt. Vier Burschen wurden festgenommen, ein Revolver wurde gefunden, aus dem versucht worden war, zu schießen. Diese vier Burschen stehen unter der Anklage des versuchten Mordes vor Gericht. Sie leugnen sowohl die Schüsse in das Lokal als auch die versuchten Schüsse auf die Polizisten. Das Gericht wird mit Hilfe eines großen Zeugenapparats festzustellen suchen, was sich wirklich zugetragen hat. Der Fall, einer aus der langen Reihe ähnlicher Fälle, enthüllt wieder einmal, wie sie dort unten, am Rande des Elends, den Bürgerkrieg führen müssen, den sie nicht suchen, den andere, Wortemacher und Verführer, über sie verhängt haben. Alle vier Angeklagte sind arbeitslos. Vom Stempeln her kennen sie sich. Wie bringen sie ihre Tage hin? Einer erzählt’s. Man hockt – es ist März – den Tag über in der Wärmehalle, weil man das eigene Zimmer nicht heizen kann. Um 8 Uhr abends wird man auf die Straße gesetzt. Dann schlendert man noch ein Weilchen auf dem Rummelplatz umher. Um 10 Uhr kriecht man ins Bett. In dieses freudlose Dasein fiel ein Strahl Freude: Einer bekam von seiner Mutter, Försterswitwe in Westpreußen, ein Paket Kuchen und etwas Geld. Er sollte sich, zur Feier ihres Geburtstages, einen vergnügten Tag machen. Bei ihm selbst ließ sich das Fest nicht veranstalten; aber in der Wohnung

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eines Bekannten. Einige brachten ihre Bräute mit, einer auch die Mutter seiner Braut, die Zimmerwirtin wurde hinzugebeten, im Ganzen waren neun Personen beisammen. Man kochte Kaffee und aß dazu den aus Westpreußen geschickten Kuchen. Es wurde vorgeschlagen, Wein zu holen, einer lief und brachte einen sogenannten Malaga, die Flasche zu 90 Pfennig; erst zwei Flaschen, dann noch mal zwei Flaschen. Als das Geld aus Westpreußen nicht reichte, wurden die Unterstützungsgelder zusammengelegt. Um ½ 12 erklären die Angeklagten übereinstimmend, sei man aufgebrochen, habe nur noch ein Glas Bier trinken wollen und sei dabei unschuldig in den Handel hineingezogen worden. Zwei von den Angeklagten gaben zu, daß sie in dem Lokal der Nationalsozialisten gewesen sind. Sie wollen nicht gewußt haben, daß es sich um ein Nazilokal handelte. Tatsächlich war es erst vier Tage vorher zum Range eines Parteilokals der Nationalsozialisten erhoben worden; vom Wirt aus gesehen eine geschäftliche Spekulation, die gut oder schlecht ausschlagen kann. Aber damit ist der Inhaber Kriegspartei geworden. Die Angeklagten werden am schwersten belastet durch jene Zimmerwirtin. Sie sagt aus und hat schon bei einem ersten Termin ausgesagt: einer der Angeklagten, nämlich derjenige, der die Sendung aus Westpreußen erhalten hatte, sei noch einmal heraufgekommen, um nach der Schußwaffe zu suchen. Kurz nach ihm sei ihr Mieter auch heraufgekommen, habe nicht erst gesucht, sondern mit einem Griff den Revolver aus dem Versteck genommen. Die Wirtin, die ihren Mieter und dessen Bekannte so schwer belastet, sollte eigentlich zu deren Partei gehören. Sie ist früher bei der Internationalen Arbeiterhilfe tätig gewesen. Warum sagt sie jetzt gegen ihre Genossen aus? Die Angeklagten erzählen: weil sie Unterschlagungen begangen und von der Internationalen Arbeiterhilfe entlassen worden ist. Daher, behaupten die Angeklagten, stamme ihre Einstellung gegen die Arbeiterschaft. Wahr ist, daß ihr Zeugnis von einem Nationalsozialisten aufgestöbert worden ist. Nach ihrer Aussage vor dem Gericht erster Instanz wurde sie, so behauptet sie, von den Kommunisten bedroht. Daher suchte sie dort Schutz, wo allein sie ihn erwarten konnte, bei den Nationalsozialisten. Von den Angeklagten aus betrachtet: sie ist offen zum Feind übergegangen. So schwelt der Brand des Bürgerkriegs, dort unten, am Rande des Elends. Mit dem Elend ist es nicht getan, sie haben noch den Bürgerkrieg dazu. Sie können sich dem einen so wenig entziehen wie dem andern. Inquit 2.6.1931

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Der Jurist auf dem Balkon Der Angeklagte ist Student. Er steht vor Gericht wegen eines Studentenstreiches. Es muß schon ein toller Streich gewesen sein; denn die Berliner Universität hat ihn dafür relegiert7. Jetzt soll auch noch der Strafrichter sprechen. Am 19. Januar fanden die Asta-Wahlen statt, Wahlen zum Allgemeinen Studentenausschuß. Der Ausschuß wird von den Behörden nicht anerkannt; aber das Ereignis verursacht in der Universität einen gewissen Rummel. Kurz nach 11 Uhr vormittags, als grade die Pause angefangen hatte und der große Vorhof nach den Linden voll war von Studenten, zeigte sich auf dem Balkon über dem Haupteingang ein junger Mensch, hängte ein Fahnentuch mit Hakenkreuz über die Brüstung und hielt eine Ansprache, in der er die Kommilitonen aufforderte, nationalsozialistisch zu wählen. Er konnte seine Demonstration nur wenige Minuten fortsetzen: Pedelle erschienen, er brach die Rede ab und warf die Fahne seinen Parteigenossen hinunter. Der Angeklagte gibt den Streich zu. Er gibt nicht nur die Ausführung zu, sondern auch den Plan und die Vorbereitung, da er ja das Fahnentuch mitbringen mußte. Auf den Balkon gelangte er nicht durch die Tür, die verschlossen war, sondern durchs Fenster. Dagegen bestreitet er, das Unternehmen mit anderen verabredet zu haben. Soweit steht also der Vorgang fest. Aber die strafrechtliche Einordnung bereitet Schwierigkeiten. Die Anklage wirft vor: erstens unbefugtes Abhalten einer Versammlung, zweitens Tragen eines verbotenen Abzeichens, drittens groben Unfug. Der Staatsanwalt beantragt demgemäß drei Monate Gefängnis. Das Gericht berät lange und verkündet dann: wegen groben Unfugs 50 Mark Geldstrafe. Eine herausgehängte Fahne sei kein getragenes Abzeichen. Eine versammelte Menschenmenge braucht noch keine Versammlung darzustellen. 7 Relegation: Verweisung von der Hochschule.

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Der Verurteilte studiert die Rechte. Acht Semester liegen hinter ihm, seine nächste Aufgabe wird sein, sich zum Referendarexamen zu melden. Nach acht Semestern muß er gewußt haben, daß der Streich, den er plante, nicht straflos bleiben würde. Er hat nicht in blinder Leidenschaft gehandelt, sondern mit ruhigem Vorbedacht. Da er den Streich gewollt hat, muß er die Folgen mitgewollt haben. Drei Minuten lang stand er über einer dicht gedrängten Menge von Kommilitonen, redete über sie hin, zeigte ihnen die Hakenkreuz-Fahne und hörte ihren Zuruf »Deutschland erwache!« Dafür Relegation und 50 Mark Geldstrafe. Es muß sich ihm doch gelohnt haben. Inquit 13.3.1932

Schauerliche Zeit Am Schwindel erkennt man die Konjunktur. Gibt es dieses Sprichwort schon? Man sollt es in Gebrauch nehmen. Da wir die nationalsozialistische Konjunktur haben, so müßte es seltsam zugehen, wenn nicht welche auf den Schwindel mit dem Nationalsozialismus verfallen sollten. Der Angeklagte vor dem Schnellschöffengericht, Landwirt aus Mecklenburg, hat ihn in Gang gesetzt. Er treibt auch sonst allerlei Schwindel. So ist er in Güstrow eingesperrt gewesen, will aber nicht sagen, weshalb. Der N. S. D. A. P. gehörte er sieben Jahre lang an; dann »schied er aus«, wie er es nennt. »Wegen Machenschaften« – deutlicher erklärt er sich nicht. Der neue Schwindel bestand darin, daß er zu Geschäftsleuten ging und sie für die Partei warb. Nicht nur für die Partei, sondern noch dazu für den »Opferring«. Die Kandidaten mußten die schriftliche Erklärung abgeben: »Ich bin Deutscher und gehöre keiner Freimaurerloge an.« Dann nahm er ihnen Gebühren ab: Aufnahmegebühr, Mitgliedsbeitrag, Werbegebühr, Wahlbeitrag. Als Gegenleistung versprach er die Kundschaft des »Opferrings« der zuständigen Sektion.

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Daß er 15 Geschäftsleute zu Beitritt und Zahlung bewogen habe, gibt er zu; auch daß er zur Entgegennahme der Beitrittserklärungen und der Zahlungen nicht berechtigt sei. Der sechzehnte schöpfte Verdacht und ließ ihn festnehmen. Urteil: Wegen fortgesetzten Betruges vier Monate Gefängnis. So weit verläuft der Fall nach der Schablone. Die glückliche Eigenart erweist sich erst bei der Auswahl der Geschäftsleute. Er wandte sich nämlich an Beerdigungsinstitute und Sargfabrikanten, und die Kundschaft, die er in Aussicht stellte, waren die Sterbefälle des Bezirks. Die Inhaber, soweit sie dem Schwindler auf den Leim gingen, hofften, durch den Beitritt zur N. S. D. A. P. ihren Absatz zu heben, und das braucht ihnen nicht übelgenommen zu werden. Damit ihnen aber das Anerbieten des Agenten einleuchtete, mußten sie ihre Zeit verstehen. Der Haß geht unter uns um. Der politische Gegner, das ist der Feind. Wenn man nicht übereinander herfällt, so meidet man sich gegenseitig wie die Pest. Man verkehrt nicht untereinander, man redet nicht miteinander, man kauft nicht voneinander. So sieht es unter den Lebenden aus. Wenn aber ein Parteigenosse stirbt, so machen seine Nächsten die traurigen Notwendigkeiten nicht in Frieden ab, indem sie das Zeitliche aus ihrem Herzen verbannen und wenigstens, bis der Verstorbene unter der Erde ruht, sich mit Gedanken der Ewigkeit erfüllen. Sondern sie fragen auch noch, ob der Mann, der den Sarg liefert, und der Mann, der die Bestattung übernimmt, zur Partei gehört. Daß es so sei, mußten die Geschäftsleute voraussetzen, wenn sie auf den Handel eingingen. Früher wurde gelehrt: Alle Menschen sind im Tode gleich; wenigstens im Tode sind alle Menschen gleich. Vorbei! Ein Parteigenosse, der stirbt, ist kein toter Parteigenosse mehr; er ist ein parteigenössischer Toter. Welch eine schauerliche Zeit, in der auch die Sargfabrikanten und die Bestattungsinstitute nicht wagen, sich von dem Zwiespalt fernzuhalten. Inquit 18.6.1932

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Die angemessene Strafe Am Tage vor der großen Berliner Stahlhelmparade8 zeigte sich in der Reinickendorfer Straße ein Stahlhelmmann in voller Uniform. Er wurde umringt und soll niedergeschlagen worden sein. Kameraden brachten ihn weg, er ist nicht ermittelt worden, man kennt ihn bis zum heutigen Tage nicht. Dagegen wurde aus der Menge ein Bursche von der Polizei festgenommen, einer, der mit der kommunistischen Partei »sympathisiert« und der schon wegen politischer Vergehen bestraft ist. Frauen boten sich zu seiner Entlastung als Zeuginnen an, wurden aber von der Polizei vertrieben. Der Bursche hat sich vor dem Sondergericht, zweite Kammer, zu verantworten. Er selbst sagt: er sei vom Einholen gekommen, dem Haufen, der den Stahlhelmmann umringte, entgegen. Der Stahlhelmmann sei geflüchtet und habe ihn umgerannt. Beweis: eine blutunterlaufene Stelle am Schienbein. Er beantragt, man möge sie durch einen Arzt untersuchen lassen. Der Antrag wird abgelehnt; das Gericht unterstellt als wahr, daß sich an seinem Schienbein eine blutunterlaufene Stelle befindet. Er beantragt, die Verhandlung zu vertagen, damit der Stahlhelmmann ausfindig gemacht werde. Abgelehnt: denn der Stahlhelmmann ist nicht ausfindig gemacht worden, also kann er nicht ausfindig gemacht werden. Der Angeklagte beantragt ferner, man möge ihn aus der Haft entlassen, um selber die Entlastungszeuginnen herbeizuschaffen. Abgelehnt. Ein Polizist, wegen jenes Vorfalls zur Rede gestellt, erwidert: »Ihre Entlastungszeuginnen kenn’ ich schon.« Der Angeklagte bittet, diese Aeußerung zu protokollieren. Abgelehnt. Ein zweiter Vorfall hat sich auf dem Polizeipräsidium ereignet. Der Angeklagte soll die Polizisten »bedroht« haben. Es wird die Aeußerung überliefert: »Wenn ich rauskomme, brech’ ich Sie mitten durch wie ’ne 8 Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten 1918–1933. Wehrverband mit eindeutig oppositioneller Einstellung gegen die Weimarer Republik. Ging nach 1933 in die SA ein.

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Bohnenstange.« Man kann diese Großsprecherei eines waffenlosen Festgenommenen inmitten bewaffneter Polizeibeamter ernst nehmen oder überhören. Die Polizei hat sie ernst genommen. Der Staatsanwalt: Der Angeklagte ist im Sinne der Anklage für überführt zu erachten. Er hat sich unter den Angreifern, umgeben von einer Menschenmenge, befunden. Antrag: ein Jahr Zuchthaus wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung, einen Monat Gefängnis wegen Bedrohung, zusammengezogen in ein Jahr und sechs Tage Zuchthaus. Der Verteidiger: Der Stahlhelmmann, der sich am Berliner Wedding in voller Uniform bewegte, mußte wissen, daß er hier auf die erbitterte Feindschaft der Arbeiterbevölkerung stieß und daß es zu Zwischenfällen kommen konnte. Wäre ihm ernsthaft etwas zuleide geschehen oder hätte er sich gegenüber der Arbeiterbevölkerung des Weddings im Recht gefühlt, so wäre er nicht unauffindbar geblieben, sondern hätte sich gemeldet. Dem Angeklagten ist nicht widerlegt worden, daß der Stahlhelmer ihn umgerannt hat. Vielleicht ist es im Anschluß daran zu einer Prügelei gekommen. Aber dann hätte der Angeklagte in berechtigter Abwehr gehandelt. Antrag: Freisprechung. Urteil, über den Staatsanwalt weit hinausgehend: ein Jahr und sieben Monate Zuchthaus. Der Vorsitzende sagt nicht viel über die Gründe. Aber das sagt er, daß dem Gericht die erkannte Strafe «angemessen« erschienen ist. Am Sonnabend hat, wie berichtet, das Sondergericht, erste Kammer, zwei S. A.-Leute, die über einen Nachtwächter hergefallen waren, und gegen die der Staatsanwalt je ein Jahr Zuchthaus beantragt hatte, mit zwei Wochen Gefängnis davonkommen lassen. Auch diese Strafe war dem Gericht »angemessen« erschienen. Inquit 13.9.1932

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Die Zeugin, die gesehen hat Von den neun Angeklagten, die sich wegen der Schießerei in der Röntgenstraße9 verantworten müssen, kämpfen vier um ihr Leben. »Seien Sie sich Ihrer Verantwortung bewußt und sprechen Sie die Wahrheit!« – so werden die entscheidenden Zeugen vom Vorsitzenden, so werden sie vom Verteidiger ermahnt. Die Angeklagten gehören zur kommunistischen Partei – folglich sind nach der Bürgerkriegs-Psychose die Belastungszeugen nationalsozialistisch gesonnen. Ein Zeuge hat einen bestimmten Angeklagten belastet und seine Festnahme bewirkt. In der Verhandlung stellt sich heraus, daß er aus eigener Wahrnehmung nichts weiß, sondern nur etwas gehört hat. Von wem gehört? Von dem und dem. Warum also hat grade er Anzeige erstattet? Antwort: Jener, der selbst gesehen haben will, weigerte sich, zur Polizei zu gehen und auszusagen. »Es war niemand da, der ihn belasten wollte; da habe ich ihn belastet.« Und damit erreicht, muß man verstehen, daß der also Belastete jetzt auf der Anklagebank sitzt. Eine Zeugin, mit polnischem Geburtsnamen und polnisch gefärbter Aussage des Deutschen, Inhaberin eines Ladens nahe dem Ort des blutigen Zusammenstoßes, unpolitisch, wie sie behauptet, aber Ehefrau eines Mannes, der »kaum« Nationalsozialist ist, früher jedoch der Partei angehört hat. Nach ihrer eigenen Unterscheidung steht sie mit den Hinterhäusern nicht gut, mit den Vorderhäusern dagegen sehr gut. Man weiß also in der Gegend, daß die Inhaber dieses Ladens mit den Nationalsozialisten sympathisieren. 9 Am 29. August 1932 war es in Berlin in der Röntgenstraße zu einer Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und SA-Männern gekommen, bei der ein SA-Mann verstorben war, zwei verletzt worden waren. Verhandelt wurde vor einem aufgrund der am 9. August 1932 erlassenen »Notverordnung gegen politischen Terror« eingerichteten Sondergericht (siehe auch Seite 387, Fußnote 1). Am Ende des Prozesses wurden die kommunistischen Angeklagten, die von Hans Litten (1904–1938) verteidigt wurden, freigesprochen.

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Die Angeklagten im Röntgenstraßen-Prozess mit Verteidiger Hans Litten; 1932.

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Daß ihr manche Unfreundlichkeit zugerufen oder zugefügt worden ist, darf man voraussetzen und braucht nicht zu bezweifeln, daß sie sich bedroht fühlt, vielleicht über die tatsächlich drohende Gefahr hinaus. Sie nun ist in der Lage, ganz bestimmte und für die Angeklagten außerordentlich gefährliche Angaben zu machen. Der da hat geschossen. Der und der ist in der Gruppe gewesen, aus der geschossen worden ist. Der da hat sich auch in der Menge aufgehalten. Sie weiß es, sie erkennt jeden einzelnen wieder. Irrtum ist ausgeschlossen. Verdient sie Glauben? Sie weiß das alles so genau, weil sie sich in Abwesenheit ihres Mannes, als die Kommunisten an ihrem Hause vorbei kamen, dem Zuge angeschlossen hat. Zunächst ist sie dadurch der Teilnahme am Landfriedensbruch verdächtig – als so gefährlich erweist es sich heutzutage, mit einem Zuge zu laufen. Warum hat sie das getan? Weil ihr Mann ihr Anweisung gegeben hatte: »Wenn du Massen siehst, beteilige dich an nichts, aber merke dir, wer dabei war.« Eine gute, für den Gegner ungeheuer gefährliche Anweisung. Denn nun war sie dabei, unbeteiligt als Beobachterin, und nun hatte sie sich gemerkt, wer dabei war. Wenigstens behauptet sie es. Und man könnte es ihr nicht widerlegen, wenn sie [nicht] selbst unerwarteterweise ihre Glaubwürdigkeit erschütterte. Nämlich einen Tag nach den Ereignissen in der Röntgenstraße ließ sie zwei junge Leute, über deren politisch gefärbte Aeußerungen sie sich geärgert hatte, durch einen Schutzmann festnehmen, unter der Behauptung, sie erkenne in ihnen zwei von denen, die bei der Schießerei dabei gewesen waren. Die Festgenommenen konnten auf der Polizei nachweisen, daß sie unbeteiligt sind, und wurden entlassen. Sie befinden sich also nicht unter den neun Angeklagten. Plötzlich erklärt die temperamentvolle Zeugin, durch Fragen der Verteidigung ein wenig in Harnisch gebracht: »Diese beiden Angeklagten da, das sind diejenigen, die ich am Tage nach dem Vorfall habe verhaften lassen; es sind also auch dieselben, die ich als Teilnehmer des Landfriedensbruches damals erkannt habe und heute noch erkenne.« Allgemeine Verblüffung. Denn jedermann weiß, daß diese beiden Angeklagten unter ganz anderen Umständen festgenommen worden sind, während die auf ihre Veranlassung Festgenommenen sich nicht unter den Angeklagten befinden. Sie hat also ihren Aerger über unbequeme Fragen der Verteidigung sofort in eine Beschuldigung umgesetzt, und es liegt die Vermutung nahe, daß die Behauptung gegenüber dem Schutzmann: »Diese

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beiden sind gestern mit dabei gewesen«, auch nur aus ihrer Entrüstung über deren politische Aeußerungen stammte. Schöne Aussichten, daß jeder, der sich über seinen Nebenmenschen ärgert, zur Polizei läuft und behauptet, er habe den anderen inmitten eines Landfriedensbruch verübenden Haufen gesehen! Wer will es ihm widerlegen? Nicht immer wird das Alibi glücken wie in diesem Falle. Wobei am gefährlichsten nicht die bewußte Lüge ist, sondern die unbewußte Suggestion. »Geh mit und merke dir, wer dabei war«, hat der Ehemann sie gelehrt. Es fällt schwer, sich Menschen zu merken, auch wenn man sie sich merken will. Aber es macht keinerlei Schwierigkeiten, sich einzubilden, man habe sie sich gemerkt, und diese Einbildung auf seinen Eid zu nehmen. Die Sondergerichte werden gut daran tun, sich den Fall dieser Zeugin zur Warnung dienen zu lassen. Inquit 23.9.1932

Die Rückkehr aus Rußland Die politischen Kriminalprozesse wegen Totschlags, schwerer Körperverletzung, Aufruhrs, Landfriedensbruchs, und wie die Delikte alle heißen mögen, haben wir oft, viel zu oft erlebt. Die Anklage gegen den Arbeiter Guhl vor dem Schwurgericht beim Landgericht II, auch ein politischer Prozeß, lautet auf Mord. Die Straftat selbst ist in großem Maßstab schon einmal verhandelt worden. Mitten in Neukölln, das heißt: mitten in einer linksorientierten Arbeiterbevölkerung, wurde ein Verkehrslokal der Nationalsozialisten eingerichtet. Eines Tages, am 15. Oktober 1931, in der Abendstunde, zog ein Trupp Kommunisten an dem Lokal vorüber. Dabei, vielleicht aus der Mitte des Zuges, wurde geschossen, eine ganze Salve von Schüssen. Mehrere Personen trugen Verletzungen davon, der Wirt starb an seiner Verwundung. Es scheint, daß der Angriff vorbereitet worden ist. In dem ersten Prozeß

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verhängte das Gericht neben mehreren Freisprüchen auch eine Reihe von Strafen. Aber keiner von den 22 Angeklagten konnte als Schütze erkannt werden. Einer, auf den sich der Verdacht zu lenken schien, war nicht mitangeklagt, er hielt sich verborgen, er entkam schließlich mit falschem Paß nach Rußland. Erst nach seiner Rückkehr griff man ihn und stellte ihn vor Gericht; es ist der Angeklagte Guhl. Der Verdacht, er sei einer von denen, die in das Lokal geschossen haben, ist sehr groß. Er stützt sich auf Aussagen früherer Angeklagter, seiner Parteigenossen, Guhl habe sich ihnen gegenüber der Tat gerühmt. Er stützt sich ferner darauf, daß er an jenem Abend im Kreise der Kameraden eine Waffe zeigte und daß sich dabei ein Schuß löste. Das gibt er selber zu. Aber nach Aussagen von Kameraden soll er erschrocken ausgerufen haben: »Nanu? Ich habe doch keine Kugel mehr drin gehabt!« Diese Aeußerung leugnet er. Er leugnet auch, sich der Tat gerühmt zu haben, oder es müßte eine Renommage in der Trunkenheit gewesen sein. Er leugnet endlich, geschossen oder überhaupt an der Demonstration teilgenommen zu haben. Die belastenden Aussagen der Genossen? Vielleicht, sagt er, haben sie, um sich selbst zu entlasten, mich belastet, weil sie dachten, ich bin weg. Vielleicht, sagt er, wollen sie mich belasten. Jedenfalls, sagt er, bin ich nach meiner Rückkehr aus Rußland bedroht worden. Und jedenfalls, so scheint es, wird er von seinen Genossen nicht mehr als zugehörig betrachtet. Seine Sache steht schlecht, es geht um seinen Kopf. Aber er brauchte nicht hier zu stehen. Er war schon jenseits der russischen Grenze, in Sicherheit. Man hatte ihn drüben in Empfang genommen, man hatte ihn eingereiht, er arbeitete schon, zweieinhalb Tagereisen südlich von Moskau, in Stalingrad, bei der Rüstungsindustrie. Er hätte dort bleiben können. Statt dessen verkaufte er seine Habseligkeiten und fuhr, zusammen mit fünf anderen deutschen Arbeitern, nach Moskau, erbat die Hilfe des deutschen Konsuls und kehrte nach Deutschland zurück. Warum tat er das? Weil er sich unschuldig fühlte? Aber wenn er selbst unschuldig sein sollte, so fürchtete er doch, daß er durch den unfreiwilligen Schuß am Abend nach der Tat sich verdächtig gemacht hatte, und mußte wissen, daß der Verdacht durch seine Flucht verstärkt worden war. Er sah die Mordanklage voraus, und kehrte dennoch zurück. Warum? Es ist nicht viel aus ihm herauszubringen. Schwierigkeiten mit der Sprache, allgemeine Enttäuschung, Schwierigkeiten mit der Ernährung, soviel räumt er ein. Aber dann heißt es gleich: »Darüber möchte ich nicht sprechen.« Es gibt einen Brief von ihm, aus der Untersuchungshaft, an seine

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Braut: »Ich habe wenigstens mein Essen, das hatte ich in Rußland nicht. Nur Du fehlst mir und die Freiheit.« Was er drüben erlebt und gesehen hat, er will es nicht sagen. Nur soviel sagt er noch: seiner Meinung nach sind es die früheren Gesinnungsfreunde gewesen, die ihn »verpfiffen« haben. Aus Rache wofür? Vielleicht dafür, daß er die Wahrheit sah und den Mut hatte, sie auszusprechen? Das war drüben. Hier ringt er, der intelligente, aber schwerblütige Mensch, mit sich selbst, ob er schweigen oder sprechen soll. Er kämpft um seinen Kopf. Und niemand kann ihm raten, was günstiger für ihn ist: zu sprechen oder zu schweigen. Inquit 14.1.1933

Hungermarsch Eines Tages in diesem Winter der schweren Not, am 19. Dezember, erscheint ein Trupp Jugendlicher vor dem Verwaltungsgebäude der Aschingergesellschaft, etwa zwanzig Teilnehmer, und begehrt Einlaß. Die Vertrauensleute werden zur Direktion geführt und bringen ihre Forderungen an: ein Lebensmittelpaket für jeden Demonstranten, bestehend aus einem Laib Brot, einem Pfund Schmalz und einer Wurst. Ihnen wird geantwortet, sie möchten einen schriftlichen Antrag einreichen; danach werde man sich entscheiden. Die Vertrauensleute entfernen sich, nicht, ohne daß einer von ihnen, an Jahren den Genossen weit voran, mit Gewalttätigkeiten droht. Der Trupp zieht weiter zur Aschinger-Filiale am Alexanderplatz. Dort verlangt man den Geschäftsführer zu sprechen und fordert ein Mittagessen für jeden Teilnehmer des Zuges. Hier wird erklärt, ohne Bescheinigung könne kein Essen verabfolgt werden. Wieder bequemen sie sich zum Rückzug; vorher aber ergreift der Anführer das Wort, um den Gästen eine Rede zu halten: eine herzergreifende Rede über die bitteren Gefühle der Hungernden, die zusehen müssen, wie die anderen sich vor ihren Augen sättigen dürfen. Weitermarsch zu einem Buttergeschäft und einer Fleischwarenhandlung, die

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beide als nicht geeignet unbehelligt gelassen werden. Schließlich gewaltsamer Einbruch in die Bolle-Filiale der Alten Schönhauser Straße. Hier wird regelrecht geplündert, dann zerstreut sich der Haufen in alle Winde. Ein paar aber werden gefaßt und hinter Schloß und Riegel gesetzt, Siebzehnjährige, Sechzehnjährige, Fünfzehnjährige. Man erkennt sofort, daß diese Burschen nur verführt sein können, und will von ihnen die Verführer wissen. Ein paar Tage halten sie dicht; dann, um frei zu kommen, nennen sie die Namen zweier Arbeitsloser, der eine 21, der andere 24 Jahre alt. Sie stehen jetzt unter schwerer Anklage vor dem Schnellschöffengericht. Berliner Jungen, die vom Hunger getrieben, durch die Straßen ziehen und in die Lebensmittelgeschäfte einbrechen – welch ein schauerliches Zeichen der Not! Wenn künftige Historiker den Winter 1932 auf 1933 darstellen wollen, so werden sie sich die krasse Schilderung dieses Zuges und vieler ähnlicher Züge nicht entgehen lassen. Wirklich? Aber die Gerichtsverhandlung ergibt: der Zug ist arrangiert worden. Die Arrangeure setzten dort an, wo der leichteste Erfolg winkte: bei den Jugendlichen des Arbeitsamtes Gormannstraße. In ihrem Warteraum entfalten seit jeher die Radikalen beider Richtungen ihre Werbetätigkeit. Vor jenem 19. Dezember wurde schon auf Handzetteln zum »Hungermarsch« eingeladen. Am Tage selbst holte man sie in ein Lokal, setzte ihnen auseinander: »Ihr habt doch alle Hunger«, und gab ihnen das Programm bekannt. Wer Lust habe, möge folgen. Wie sollten junge Burschen, um ihren leeren Tag auszufüllen, nicht Lust haben, zu folgen? Einige von ihnen sind als Zeugen zur Stelle. Hatten sie denn Hunger? Nach ihrer eigenen Aussage: nicht ein einziger. Einer, der bei der Plünderung ein paar Büchsen Sardinen erwischt hatte, verkaufte sie für 50 Pfennig. Was machte er mit dem Gelde? Kaufte er sich Brot? Nein, Zigaretten. Die Polizei kümmerte sich um die Eltern. Sie fand keine behaglichen, aber doch immerhin geordnete Verhältnisse, die Väter waren sehr wenig erbaut von den Streichen ihrer Söhne, einer hat dem seinen die verdiente Tracht Prügel umgehend verabfolgt. Gibt es etwa keinen Hunger in Berlin? Nur zu viel. Aber diese politischen Drahtzieher, die man hier einmal erwischt hat und die selbst wieder ohne Zweifel von anderen gezogen werden, bringen es unter dem Schein der Helfer in der Not dahin, daß die Gebefreudigkeit irregeleitet, das Mitleid abgestumpft, und die Hilfe, die möglich wäre, zunichte gemacht wird. Inquit 17.1.1933

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Der Adelsbrief Es klingelt. Ein Bettler? Ja, aber diesmal einer, der nicht für sich bettelt, sondern für eine Idee. Er kommt von der Partei, wandert mit seinen Listen von Haus zu Haus, so wie andere auf der Straße stehen und die Büchse schütteln. Ob du gibst, ob du nicht gibst, das hängt davon ab, ob du die Partei billigst oder nicht. Dem Sendboten des politischen Gegners wirst du die Tür vor der Nase zumachen. Für die Bekenner deiner eigenen Richtung wirst du ein Scherflein übrig haben. Die beiden Angeklagten, junge Burschen, schon vorbestraft, der eine wiederholt und schwer, suchten sich die Quartiere der kleinen Leute im Norden Berlins. Es war vor der letzten Wahl, und sie kamen von der N. S. D. A. P., reichten ihre Listen hin, fanden Spender genug, erhielten Beträge bis zu 3 und 5 Mark. Manche übten die Vorsicht, nach dem Ausweis zu fragen; aber auch der war in Ordnung. Kein schlechtes Geschäft, als sie die ersammelten Gelder nicht abführten, sondern für sich behielten. So gut ging das Geschäft, daß sie bei einem Drucker Listen in Auftrag gaben, um die Sammlung im Großen zu betreiben. Dabei wurden sie erwischt. Wer wird sich über den Schwindel wundern? Not der Arbeitslosigkeit, Suggestion der Massenpartei – es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn nicht auch die Haltlosen angezogen würden. Wundern aber muß man sich darüber, daß Vertrauensämter, wie es das Sammeln auf Listen darstellt, nicht Menschen anvertraut werden, die des Vertrauens würdig sind. Wie kamen die beiden denn zu ihren Listen und Ausweisen? Der eine war schon eingeschriebenes Mitglied der N. S. D. A. P., bevor er den Betrug anzettelte. Der andere war es noch nicht, er kam erst auf den Einfall, als er die Listen bei dem Freunde sah. Woher beschaffte er sich den Ausweis? Nichts leichter als das: ein dritter Bekannter stellte seine Papiere zur Verfügung, weil er inzwischen von der Partei andere Papiere rechtens erhalten hatte. »Du kannst es gelegentlich brauchen«, meinte er unbefangen. Derjenige, der noch nicht Mitglied der Partei war, wollte es werden. Er bewarb sich schriftlich, und zwar gleich im Münchner Braunen Hause.

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Bescheid aus Berlin: Er sei aufgenommen, er solle sich melden, er werde beim Sammeln Beschäftigung finden. Wenn man seinem Lebenswandel nachgegangen wäre, so hätte man festgestellt, daß er die schwerste Strafe in seinem Register ein Jahr vorher grade wegen betrügerischen Sammelns erlitten hatte. Urteil: 1 Jahr 1 Monat Gefängnis und drei Jahre Ehrverlust für ihn, 6 Wochen Gefängnis für den Komplicen. Retter des Vaterlandes, Retter der Sittlichkeit und der Ehre des deutschen Volkes – und jeder gehört dazu, der da will? Nach seiner Herkunft wird nicht gefragt, seine Eignung wird nicht geprüft? Das Lippenbekenntnis genügt? So wohlfeil ist dieser Adel? Inquit 4.2.1933

Gerichtsberichte über größere Prozesse

Politik

Im Schutz der Schutzpolizei Inflationsnachklänge

Hat man es noch im Gedächtnis? Das war damals vor anderthalb Jahren, wir befanden uns mitten in der katastrophal ansteigenden Inflation. Die Verzweiflung der Volksmassen suchte nach einem Ausweg, eine unterirdische, überaus wirksame Agitation lenkte die Leidenschaften in eine bestimmte Richtung. Damals wurde es nur geflüstert, heute darf man es als bekannt voraussetzen: Berlin stand vor einem Judenpogrom1, das nach Absicht der Veranstalter hinter russischen Vorbildern nicht zurückgeblieben wäre. Es kam nicht voll zur Entfaltung; aber an dem Tage, an dem der Dollar seinen höchsten Stand erreicht hatte, ging ein Ungewitter über jenen Teil Berlins

1 Am 5.11.1923 kam es in Berlin zu brutalen antisemitischen Ausschreitungen. Nach der Ankündigung einer Brotpreis-Erhöhung versammelte sich eine große Menge Arbeitsloser vor dem Arbeitsamt in der Gormannstraße, um ihre Unterstützungsgelder abzuholen. Als es jedoch bald darauf hieß, es seien keine Gelder mehr vorhanden, wurde das absurde Gerücht verbreitet, die Juden hätten die Unterstützungsgelder aufgekauft. Nun kam es zu brutalen Übergriffen und Plünderungen, wobei die angegriffenen Juden keine Hilfe von der Polizei erhielten.

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Gerichtsberichte über größere Prozesse

nieder, der in dem Rufe steht, von zugezogenen östlichen Juden bevorzugt zu werden. Gegen Plünderungen und Mißhandlungen reichte der polizeiliche Schutz nicht aus. Es war der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten2, der sich der bedrohten Quartiere annahm und mit Gefahr des Lebens und einer Handvoll Leuten wenigstens das Aeußerste abzuwenden suchte. Diese Ordnungspatrouillen, von ein paar zufällig des Weges kommenden jüdischen Frontkämpfern unterstützt, gerieten in die größte Gefahr, von der Masse überwältigt zu werden. Im kritischen Augenblick fuhr Schutzpolizei mit einem Mannschaftsauto heran, nahm die Bedrängten in sogen. Schutzhaft, und nun wurden die festgenommenen Schützer der Ordnung von der Polizei beim Einsteigen ins Auto, auf dem Auto, im Hof der Alexanderkaserne und auf der Wache beschimpft, mißhandelt und bestohlen. Eine kleine Zahl von Polizeibeamten ist deswegen vor einiger Zeit zu geringfügigen Strafen verurteilt worden. Von beiden Seiten wurde Berufung eingelegt und die Berufungsverhandlung vor dem Landgericht I fand gestern ihren Abschluß. Die Berufungsstrafkammer bestätigte das Urteil gegen Schreiber in Höhe von sechs Monaten Gefängnis sowie das gegen Dumei wegen Beleidigung in Höhe von 200 Mark Geldstrafe. Dagegen wurde das Urteil des Schöffengerichts, das Funke zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte, als nicht ausreichend angesehen, und auf sechs Monate erhöht. Mankiewitz, der freigesprochen worden war, wurde diesmal wegen Körperverletzung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Aemter wurde ihm auf drei Jahre abgesprochen. Die Freisprechung des Polizeihauptmanns Dubbe von der Anklage der Beleidigung wurde bestätigt. Die Fälle, die zur Verhandlung standen, und um deren Aufklärung das Gericht pflichtgemäß und mit Sorgfalt bemüht war, sind von geringem öffentlichen Interesse; die Frage nämlich, ob gerade diese vier herausgegriffenen Schutzpolizisten diesen Schlag geführt oder jenes Schimpfwort gebraucht haben. Was aber jeden von uns angeht, das sind die Vorgänge, die sich damals zwischen der Polizei und ihren Schutzbefohlenen abgespielt haben, und das ist die Art, wie diese Vorgänge sich im Gericht widerspie2 Der am 8.2.1919 gegründete »Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten« hob den jüdischen Anteil der Kriegsanstrengungen im Ersten Weltkrieg hervor, kümmerte sich um die Kriegsopfer und pflegte eine patriotische und nationale Gesinnung. Er wurde 1938 aufgelöst.

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geln. Ueber beides herrschte so gut wie gar keine Meinungsverschiedenheit zwischen den Parteien. Selten war man sich über rechtswidrige Ereignisse und über ihre Bewertung so einig wie in diesem Prozeß. Auch die Verteidiger der Angeklagten bestritten nicht, daß die Mißhandlungen und Beleidigungen vorgekommen seien, und sie hätten gar nicht zu plädieren brauchen, wenn nicht die Frage strittig gewesen wäre, wer mißhandelt und wer beleidigt hat. Diese Uebereinstimmung wurde erzielt, trotzdem sämtliche Angehörigen der Schutzpolizei, die da uniformiert in Massen zur Stelle waren, unter ihrem Eid ausgesagt hatten, daß sie von Mißhandlungen nichts gesehen und von Beleidigungen nichts gehört hätten. Der Staatsanwalt, dem man es glauben konnte, daß er nicht gern gegen Angehörige einer Behörde vorging, die er gewöhnt war, zu seiner Unterstützung zu benutzen, suchte nach psychologischen Gründen für dieses seltsame Versagen des Beobachtungsvermögens. Sonst, so drückte er sich wörtlich aus, würde er annehmen, daß hier ein Meineid nach dem anderen geschworen sei. Er scheute sich auch nicht, das, was auf dem Hofe der Alexanderkaserne vorging, wo die Festgenommenen der Rücksichtslosigkeit der Beamten und zugleich einem ungebändigt herumtobenden Schwarm von Zivilpersonen ausgeliefert waren, als »Schweinerei« zu bezeichnen. Und er ließ durchblicken, daß die damals betriebene Hetze gegen eine gewisse Klasse deutscher Mitbürger auch unter der Schutzpolizei wirksam gewesen sei. Einer der Verteidiger der Angeklagten formuliert den prinzipiellen Streitfall so, als handelte es sich um einen Kampf des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten gegen die Schutzpolizei. Das ist eine sehr schiefe Formulierung. Der Vertreter der mißhandelten beleidigten Nebenkläger, Justizrat Davidsohn, hatte schon vor ihm in seinem Plädoyer den wirklichen Kampf beim Namen genannt, daß es sich nämlich um einen Kampf des Rechts und der Gerechtigkeit gegen Unrecht und Willkür handelt. Er stellte unzweideutig fest: Wenn die Polizei damals im Scheunenviertel3 hätte schützen wollen, so hätte sie schützen können. Und für den Geist, der noch heute bei gewissen Beamten herrscht, erwähnte er einen seltsamen Vorfall, der 3 Scheunenviertel: ein Gebiet im Berliner Osten zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Der Name stammt von den Scheunen, die hier im 17. Jahrhundert gebaut wurden und der Lagerung von Heu dienten. Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich in diesem Gebiet viele Juden nieder, die vor den Pogromen in Russland und Polen geflohen waren.

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sich am vorigen Verhandlungstag auf dem Korridor abgespielt hatte: Der als Zeuge vernommene Polizeimajor Rank hatte während einer Pause einem der jüdischen Nebenkläger das Ehrhardt-Lied4 provokatorisch ins Gesicht gesungen oder gepfiffen. Vom Vorsitzenden zur Rede gestellt, mußte er die Tatsache zugeben, wollte sich aber dabei »nichts Böses gedacht haben«. Diejenigen, die für Geist und Tätigkeit der Schutzpolizei verantwortlich sind, obgleich sie im Gerichtssaal nicht zur Stelle waren, werden aber den Bericht über die Verhandlung mit ganz besonderer Aufmerksamkeit in sich aufnehmen und ihre Folgerungen daraus zu ziehen haben.5 21.6.1925

4 Hermann Ehrhardt (1881–1971), Korvettenkapitän. Gründer des Freicorps »Marinebrigade Ehrhardt. 1920 Teilnehmer am Kapp-Putsch; nach Verhaftung und Flucht Gründer und Kommandeur des rechtsradikalen Geheimbundes »Consul«. Das Ehrhardt-Lied beginnt: »Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band. Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.« 5 Ungezeichnet; Goldsteins Autorschaft ist durch einen Eintrag im Journal II, GoldsteinNachlass, a. a. O. vom 20.6.1925 belegt.

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Mai-Schnellgericht Vier jugendliche Personen aus der großen Zahl derjenigen, die bei den Mai-Unruhen6 festgenommen worden sind, wurden gestern vom Schöffengericht des Amtsgerichts Berlin-Mitte im Schnellverfahren abgeurteilt und mit Gefängnis von 6 bis 8 Monaten bestraft. In einem Falle erfolgte Freisprechung wegen Mangels an Beweisen.

Schnellgericht? Nun das gibt es ja bekanntlich seit der Emmingerschen Justizreform.7 Unter gewissen Umständen wird es durch den Einzelrichter ausgeübt, der gleich im Polizeipräsidium seinen Sitz hat. Schnellgericht vor dem Schöffengericht ist in Berlin noch nie vorgekommen; aber es wird durch denselben Paragraphen 212 zugelassen; zum Beispiel »wenn der Beschuldigte … infolge einer vorläufigen Festnahme dem Gericht vorgeführt wird«. Das trifft für die Festgenommenen der Mai-Unruhen zu. Schnell geht es, weil nicht erst schriftlich Anklage erhoben und nicht erst über die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen werden muß. Das Gericht sitzt, der Staatsanwalt läßt vorführen und sagt mündlich, was er gegen den Festgenommenen hat, und dann kann die Hauptverhandlung beginnen. Schnelligkeit natürlich ist zum Wohle der Festgenommenen erwünscht. Die Gefängnisse sitzen voll von ihnen, meist sind es arbeitsfähige Männer, es hat keinen Sinn, sie vor der Strafe auch noch lange in Untersuchungs-

6 Als die KPD trotz des Demonstrationsverbotes für den 1. Mai 1929 zu Kundgebungen aufrief, kam es zu blutigen Unruhen. Die Polizei ging mit unverhältnismäßiger Härte gegen die Demonstranten vor. Unter Demonstranten sowie Unbeteiligten gab es zahlreiche Verletzte und Tote. 7 Erich Emminger (1880–1951), Reichsjustizminister von 1923–1924. Die am 4.1.1924 in Kraft getretene »Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege«, die sog. »Lex Emminger«, veränderte die Zusammensetzung der Schwurgerichte und wirkte sich auf § 212 StPO aus. RGBl. 1924, Teil I, Nr. 2 v. 7. Jan. 1924 , S. 15–22.

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haft zu halten. Aber garantiert nicht die Verfassung, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf? Und hat bei diesem Verfahren der Angeklagte noch die Sicherheiten des ordentlichen Gerichts? Einen Offizialverteidiger anzufordern, ist ihm keine Gelegenheit gegeben, da er ja keine Anklage zugestellt bekommt. Neben dem Richter fungieren zwei Schöffen. Auch sie, wie bei dem normalen Gericht, bestimmt das Los. Aber es wird selten so viel davon abhängen wie hier, ob die Schöffen kommunistisch oder nationalistisch gesonnen sind. Und es ist in jedem Falle nicht gleichgültig, ob der Gerichtete das Gericht als das ihm zustehende ansehen muß oder nicht. Was hat sich begeben in den ersten Maitagen? Kampf der Entrechteten für das Recht? Oder großer Rummel der Radaulustigen, die von unbekannten Regisseuren auf die Straße gehetzt waren und nicht wußten, worum es ging und welche Gefahr sie liefen? Wenn es ein Kampf ums Recht war, so mußten diejenigen, die dem Staat in die Hände gefallen sind, hintreten und sprechen: Ja, wir haben es getan, wir haben es aus Gründen getan, und wir werden es solange wieder tun, bis wir unseren Willen durchgesetzt haben. Von den vieren, die gestern vor Gericht standen, sprach kein einziger so oder auch nur ähnlich. Keiner bezeichnete sich als Kommunist, jeder behauptete, er sei politisch nicht organisiert, jeder wollte nur zufällig und harmlos mit dabei gewesen sein und mindestens das nicht getan haben, was der Staatsanwalt und die Zeugen gegen ihn behaupteten. Einer hat nicht mit Steinen geworfen, trotzdem er von einem Wachtmeister dabei beobachtet worden ist. Einer ist nicht als Rädelsführer aufgetreten, trotzdem er gestikulierend inmitten von Ansammlungen immer wieder gesehen worden ist. Einer hat sich nichts gedacht, trotzdem er ein Stuhlbein auf dem Rücken verbarg, als man ihn festnahm. Einer von diesen vieren scheint wirklich unschuldigerweise Prügel mit dem Gummiknüppel bekommen zu haben. Die Polizei war hinter einem her, der durch seine Knickerbocker auffiel. Aber er lief schneller und entwischte. Gerade das war der Grund, warum die Polizei ihn nun durchaus haben wollte. Und als er ihr wieder über den Weg lief, kenntlich an den Knickerbockers, da griff sie ihn sich. Aber das Gericht hielt Knickerbocker nicht für ein sicheres Beweismittel der Identität und sprach ihn frei, trotzdem man in seiner Tasche immerhin einen Schlagring gefunden hatte. Ein hübsches Bild bot ein Student der Rechte, der als Zeuge auftrat. Er wohnt keineswegs am Bülowplatz oder in der Nähe des Bülowplatzes. Trotzdem hatte er sich am 1. Mai dorthin begeben, um sich die Sache aus

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der Nähe zu besehen. Er hielt es für seine staatsbürgerliche Pflicht, eine Polizeistreife anzuhalten und in ein Haus zu schicken. Daraufhin hielten es die Versammelten des Bülowplatzes für ihr gutes Recht, ihm nachzusetzen und ihn zu verprügeln. Er erreichte mit geschwollenem Gesicht und zerrissenen Kleidern die Polizeiwache und legt noch heute Wert darauf, daß seine Adresse nicht bekannt wird. Die Toten sind tot. Die Verwundeten werden hoffentlich genesen. Die Festgenommenen aber wird niemand davor bewahren, auf viele Monate eingesperrt zu werden. Schuldig oder nicht, es ist der Zufall, der sie in die Hände der Polizei und damit vor den Richter gebracht hat. Die Richtigen sind nicht gefaßt worden und nicht zu fassen. Mögen sie und die Hineingefallenen es untereinander abmachen. Inquit 14.5.1929

Der Jägerhut

Die Pankower Bluttat

Rechtsradikal – linksradikal: das gibt es auch in Pankow. Und es gibt daher dort auch zwischen rechts und links den blinden Haß, der aus gegenseitigem Hetzen und Verdächtigen schließlich entstehen muß, und die phantastische Furcht, die in der Angst vor Ueberfällen immer neue Ueberfälle herbeizwingt. Wer gehört zu denen von rechts, wer zu denen von links? Wie überall, so entscheidet auch in Pankow über diese Gesinnungsfrage bisweilen der Zufall. Der Hauptangeklagte zum Beispiel, der 25 Jahre alte ungelernte Arbeiter Schultz, wurde erst von der nationalsozialistischen Organisation Olympia eingefangen. Später trat er zum Rotfrontbund über, weil er sich sagte, ein Arbeiter gehöre zu den Kommunisten. Der Uebertritt zog ihm die Feindschaft der Leute vom Stahlhelm zu, die ihn eines Tages überfielen. Von da ab trug er einen Revolver bei sich. Inzwischen hat er sich auch von der kommunistischen Organisation wieder gelöst. Warum? Weil das Menschliche stärker ist als das Politische. Er war nämlich verlobt, der Rotfrontbund

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nahm mit Sitzungen und Ausflügen seine Zeit in Anspruch, er wäre lieber mit der Braut zusammen gewesen, darüber kam es zu Konflikten, und so trennte er sich von der Organisation. Aber alle seine Affekte behielt er. Auch sein Mitangeklagter, der 19jährige Bäckergeselle Röber, hat sich von der kommunistischen Jugend getrennt, und auch er aus menschlichen, nicht aus politischen Gründen. Er hatte nämlich sein Abzeichen verloren und verlangte ein neues; aber man wollte es ihm nicht geben. Adieu, Rotfrontbund! Im kommunistischen Jugendheim hatte er daraufhin nichts mehr zu suchen. Aber auch er behielt seine Gesinnung bei, und ebenso die Freundschaft zu dem Mitangeklagten. Menschlich ist alles ganz einfach, harmlos und friedfertig. An einem Februar-Abend fuhren sie miteinander spazieren. Der junge Röber nämlich hatte am Rade seines Freundes Schultz eine neue Achse eingesetzt, und sie wollten die Maschine ausprobieren. Sie fuhren in den Pankower Straßen hin und her. Zwischendurch erscholl Feueralarm, sie folgten der rasselnden Wehr und sahen sich voller Teilnahme unter sachkundigen Gesprächen den Brand an. Dann fuhren sie miteinander weiter durch das abendliche Pankow. Plötzlich war der Zusammenstoß mit Stahlhelmleuten geschehen, und einer von ihnen, der Primaner Kleier, totgeschossen. Nach dem Zeugnis der jungen Stahlhelmer kamen sie aus einer Zusammenkunft und gingen selbvier nach Hause. Einer von ihnen war in Stahlhelm-Uniform, einer trug einen Jägerhut, die anderen begnügten sich mit der Tracht des Bürgers. Von der Pankower Kirche ab fühlten sie sich von zwei Radfahrern verfolgt. Am Clausthaler Platz erscholl der Ruf »Mütze ab«, der offenbar dem Uniformierten galt. Gleich darauf sahen sie den größeren Radfahrer – das war Schultz – abspringen, auf den in der Stahlhelmuniform einschlagen und einen Schuß auf den Primaner Kleier abfeuern, der, wie die Obduktion ergab, ihm beide Lungen durchbohrte. Von den Angeklagten behauptet Röber, daß er gar nichts gewußt habe und auf die Bluttat in keiner Weise vorbereitet gewesen sei. Schultz erklärt, daß auch er keinen Ueberfall geplant habe, daß er aber durch den Mann mit dem Jägerhut gereizt worden sei, weil einige Wochen vorher ein Stahlhelmer mit Jägerhut einen seiner Bekannten überfallen habe. Daher sei er den vieren gefolgt, in der Absicht, den mit dem Jägerhut der Polizei zu übergeben. Von da an will er sich an nichts mehr erinnern. Die Bluttat liegt schwer auf ihm, im Polizeigefängnis hat er sich das Leben nehmen wollen. Selbstmord ist schon früher von ihm versucht

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worden, aus Verzweiflung über einen unüberwindlichen Wandertrieb. Er schreibt sich unbewußte Handlungen zu, z. B. zwei Diebstähle, derentwegen er bestraft worden ist. Auch Zusammenstöße hat er sich schon früher zuschulden kommen lassen. Er selbst hält sein Leben für verpfuscht, und ohne Zweifel gehört er zu jenen Unlenkbaren und Unberechenbaren, die man Psychopathen nennt. Es ist hier offenbar wieder, wie es schon oft gewesen ist. Die Kühlen und Berechnenden säen den Haß. Ein Hitziger und Unverantwortlicher schießt mit dem Revolver um sich. Ein Mensch, seine Freunde sagen: der Ruhigste von ihnen, liegt im Blute. Inquit 3.7.1929

Uebungen in der Demokratie

Abgeordnetenpflicht vor Staatsbürgerpflicht

Der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete, Gregor Strasser8, der vom Schöffengericht Oranienburg – man wird sich erinnern – im Sommer nach Aufhebung seiner Immunität wegen Beleidigung und Vergehens gegen das Republikschutzgesetz9 zu sechs Monaten Gefängnis und 350 Mark Geldstrafe verurteilt worden war, sollte sich gestern vormittag vor der Großen Strafkammer des Landgerichts III noch einmal verantworten, da er nicht verfehlt hatte, Berufung einzulegen. Er war auch zur Stelle, samt seinem 8 Gregor Strasser (31.5.1892–30.6.1934). Er war Offizier im Ersten Weltkrieg, trat 1921 in die NSDAP ein, nahm 1923 am Hitler-Putsch teil, wurde – trotz sozialrevolutionärer Ideen, die im Gegensatz zum Hitler-Flügel der Partei standen – von 1926–1930 zum Propagandaleiter und 1927 zum Reichsorganisationsleiter. Sein Versuch, die Partei zu spalten, führte zu seinem Rücktritt am 8.12.1932. Strasser wurde im Zuge der RöhmAffäre ermordet. 9 Am 21.7.1922 wurde – nach der Ermordung Walter Rathenaus – das Gesetz zum Schutz der Republik erlassen, um diese vor gewalttätigen und propagandistischen Angriffen zu schützen. 1927 wurde es um fünf Jahre verlängert, 1930 neu gefasst.

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Gerichtsberichte über größere Prozesse

Verteidiger, dazu vier Anwälte der von ihm beleidigten Parteien. Dazu wenige Zeugen, zu denen Polizeivizepräsident Weiß10 noch herbeigerufen werden sollte. Es kam aber zu keiner Verhandlung. Denn Strassers Anwalt beantragte gleich zu Beginn Vertagung, weil gestern im Reichstag eine Abstimmung von unabsehbarer Tragweite vor sich ginge. Sein Mandant sei stellvertretender Vorsitzender der nationalsozialistischen Reichtagsfraktion. Wenn auch seine Immunität aufgehoben worden sei, so dürfe dieser Akt doch nicht dahin ausgelegt werden, daß er an der Abstimmung gehindert werde. Strasser selbst ergänzte seinen Anwalt dahin, daß die Entscheidung der nationalsozialistischen Fraktion im wesentlichen von seiner Entscheidung abhänge. Zum Glück war noch ein Reichstagsabgeordneter zur Stelle, nämlich Rechtsanwalt Landsberg als Vertreter des preußischen Ministerpräsidenten Braun. Er konnte das Gericht darüber belehren, daß gestern nur die Aussprache, nicht aber die Abstimmung stattfinden sollte. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Siegert11; schlug vermittelnd vor, daß Abgeordneter Strasser um ein Uhr der Abstimmung beiwohnen könnte. Worauf wiederum Rechtsanwalt und Abgeordneter Landsberg zu bemerken wußte, um ein Uhr beginne erst die Reichstagssitzung, bis zur Abstimmung habe es also noch gute Weile Da indessen die Partei Strassers widersprach, so blieb dem Gericht nichts anderes übrig, als über die Vertagung zu beraten. Es kam zu dem Beschluß, dem Antrag stattzugeben. Denn, so begründete ihn der Vorsitzende, der Angeklagte befinde sich in einem Konflikt zwischen der Pflicht des Staats10 Bernhard Weiß (30.7.1880–29.7.1951), Politiker, Mitglied der SPD. Ab 1927 PolizeiVizepräsident von Berlin. Durch sein scharfes Durchgreifen gegen kommunistische und nationalsozialistische Gewalttäter machte er sich links wie rechts Feinde. Er war für die Nationalsozialisten, vor allem für Joseph Goebbels in dessen Hausblatt »Der Angriff«, Feindbild und Symbolfigur für das verhasste »System«. Immer wieder wurde versucht, Namen und Ansehen des Polizei-Vizepräsidenten Weiß zu verleumden und ihn als den »Juden Weiß« oder »Isidor Weiß« zu diffamieren. 1932 verlor er sein Amt, 1933 emigrierte er über Prag nach London, wo er bis zu seinem Tod lebte. 11 Julius Siegert, »ist kein […] Richter, dem am Beifall der Journale gelegen wäre, wohl aber die stärkste und charaktervollste Persönlichkeit in Moabit, ein überlegener Jurist zudem, dessen Entscheidungen immer stichfest sind.« (Carl von Ossietzky in der »Weltbühne«, I, 1930, S. 337.) Nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten wurde Siegert als Freund des »Kulturbolschewismus« aus dem Amt entlassen. (Süddeutsche Zeitung Nr. 46 v. 24/25.2.2007, S. 17.)

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bürgers, der sich vor Gericht verantworten soll, und der Pflicht des Abgeordneten, der seine Stimme abzugeben hat. Die Gerichtsverhandlung lasse sich wiederholen, die Abstimmung nicht; also verdiene die Abgeordnetenpflicht den Vorrang. Ein weiser Beschluß und eine weise Begründung, die beide nur den einen Fehler haben, daß gestern im Reichstag überhaupt nicht abgestimmt wurde, ja daß die Sitzung überhaupt erst um 3 Uhr begann, was man, wenn man Herrn Landsberg nicht glauben wollte, durch telefonische Anfrage hätte feststellen können. Damit ist aber die Bedeutung der kurzen Gerichtssitzung noch nicht erschöpft. Vielmehr benutzte der Nationalsozialist Strasser und sein gesinnungsnaher Verteidiger die Gelegenheit, um öffentlich die Ideale der Demokratie zu verkünden. Es widerspreche, so ließen die Herren sich vernehmen, durchaus den Grundsätzen der Demokratie, einen Abgeordneten an der Abgabe seiner Stimme zu verhindern. Und wie steht es mit der Verfassung von Weimar? Nun, so klang es aus dem Munde der beiden aufrechten Nationalsozialisten, die Freiheit der Abstimmung gehörte zu den verfassungsmäßig garantierten Rechten, und sie nehmen dieses Recht mit allem Nachdruck für sich in Anspruch. Sieh doch, sieh doch! Was für gelehrige Schüler! Welche lobenswerten Fortschritte! Jetzt brauchen sie nur noch zu begreifen, daß Demokratie für mich auch Demokratie für die anderen heißt, und daß Verfassung zu meinen Gunsten Verfassung bleibt, auch wenn sie zu meinen Ungunsten angewandt werden muß. Aber Geduld, Gregor Strasser, sein Anwalt und seine Parteigenossen sind ja allesamt noch sehr jung. Am Ende werden sie das Klassenziel doch noch erreichen. Inquit 14.12.1929

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Paul Jorns vor Gericht; 1932.

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Eden-Hotel

Der zweite Prozeß Jorns

Der Fremde, der heute das Eden-Hotel12 betritt, findet eine lautlos funktionierende, durch Teppiche gedämpfte, mit vielen technischen Bequemlichkeiten ausgestattetet und von geschultem Personal bediente Unterkunft. Oder, wenn ihn die Gasträume anlocken, so findet er beinahe zu jeder Stunde des Tages und der Nacht eine wechselnde Schar wohlgekleideter und sorgloser oder sorglos scheinender Herren und Damen, um Tische gereiht, auf gepflegte Art bewirtet, von Musik gewiegt, deren sie sich auch, unter phantastischen Lichtern, zum Zwecke des Tanzes bedienen dürfen. Von dem Eden-Hotel, wie es im Januar 1919 aussah, könnte der Fremde sich keinen Begriff mehr bilden. Daß die Räume seitdem umgebaut worden sind, macht noch die geringste Veränderung aus. Aber die Zeit ist versunken, und es ist uns kaum noch möglich, sie in der Phantasie heraufzubeschwören. Denn damals, im Januar 1919, gab es zwar auch Gäste im Eden-Hotel. Der Betrieb funktionierte mit den bescheidenen Mitteln, die zur Verfügung standen, vom Direktor bis zum Liftboy. Aber außerdem waren ein paar Räume ein bißchen »requiriert« worden, vom Stabe der Garde-KavallerieSchützen-Division, der eben frisch unter dem Befehl des Generalleutnants Hoffmann13 aus Dahlem hierher übergesiedelt war. Außer dem Portier, der dort seinen Dienst tat, standen vor dem Portal militärische Posten mit geladenem Gewehr, Drahtverhaue und spanische Reiter sicherten die Zugänge, 12 Hotel Eden, Luxushotel in Berlin Tiergarten, Budapester Straße 35, vormals Kurfürstendamm 246/247. Das Hotel wurde 1911/1912 gebaut, Architekt war Moritz Ernst Lesser. Nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg wurde es 1951–1958 abgerissen. 13 Richtig: Hofmann. Heinrich von Hofmann (6.4.1863–17.7.1921).

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und die Gäste verschwanden im Schwarm der ab und zu gehenden Offiziere und Ordonnanzen. Ins Eden-Hotel wurden denn auch die in Wilmersdorf ausgehobenen Spartakisten-Führer gebracht, darunter Wilhelm Liebknecht14 und Rosa Luxemburg, nicht weil es ein Hotel war, sondern weil hier der Stab der Division lag. Von hier wurden sie abtransportiert, angeblich ins Gefängnis, jeder für sich, in Begleitung von Offizieren, die den Dienst von Mannschaften taten. Es ging nur das Stückchen Straße entlang, das heute Budapester Straße heißt, über die Cornelius-Brücke und links herum nach dem Tiergarten. Dort bekam Liebknecht ein paar Schüsse in den Rücken. Rosa Luxemburg war schon vorher mit dem Kolben über den Schädel gehauen worden; zwischen Cornelius- und Lichtenstein-Brücke warf man sie in den Landwehr-Kanal. In das Eden-Hotel übersiedelte nun auch der Kriegsgerichtsrat Jorns15, der mit der Untersuchung des Falles beauftragt war; auch er nicht, weil es ein Hotel war, sondern weil hier der Stab der Division lag. Da wohnte er mit dem Gerichtsherrn unter einem Dach, unter einem Dache auch, wie man heute weiß, mit den Mördern, und wahrscheinlich auch mit denen, die den Mord befohlen hatten. Die Umgebung war dem Kriegsgerichtsrat Jorns nicht fremd, er fühlte sich keineswegs unsicher im Umgang mit Generälen und inmitten des Getriebes eines Stabes. Denn vorher hatte er seinen Dienst im Großen Hauptquartier getan und saß in Berlin nur in Erwartung des Großen Hauptquartiers, das aber nicht kam. Er kannte den Betrieb, er kannte die Offiziere, er kannte den Geist, und er kannte seine Aufgabe. Freilich kannte er auch das Gesetz und seine Pflicht als Führer der gerichtlichen Untersuchung. Wie hätte er sich einfallen lassen sollen, etwas zu tun, was mit Gesetz und Pflicht im Widerspruch stand? Aber der 9. November war ihm über den Hals gekommen, er hatte seine Zuneigungen und Abneigungen in bezug auf die neuen Machthaber, und was die verängstigten Bürgerkreise über die radikalen Führer dachten, das dachte auch er und von sich aus. Weil ihm in einem Aufsatz der Zeitschrift »Das Tagebuch« Verschleppung der Untersuchung und Begünstigung der Täter vorgeworfen worden war, stand er schon einmal vor Gericht, der Form nach als Kläger gegen den ver14 Richtig: Karl Liebknecht. 15 Zu den Personen siehe Kommentare auf Seite 305 ff.

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antwortlichen Redakteur Bornstein, in Wahrheit als Angeklagter, gegen den Bornsteins Verteidiger, der Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete Levi16, seine vehementen Anklagen entlud. Gegen die Freisprechung Bornsteins, die seine eigene Verurteilung bedeutet, hat nun die Berufungsverhandlung begonnen, in der die Schuldfrage mit noch vergrößerter Gründlichkeit erörtert werden soll. Auch der Kläger Jorns hat jetzt seinen Rechtsbeistand, den Justizrat Löwenstein, der ihn in Wahrheit zu verteidigen haben wird. Der damalige Kriegsgerichtsrat Jorns, heute Reichsanwalt, bietet wieder, wie schon in der ersten Verhandlung, das Bild der mittelmäßigen Wohlgeratenheit: korrekte Erscheinung, angegrauter blonder Scheitel, kleiner Schnurrbart im runden Gesicht, Schmisse auf Stirn und Wange, Hornbrille vor den Augen. Auch seine Sprache ist die des korrekten Beamten. Mit auffälliger Vorliebe benutzt er den Titel Exzellenz. Die Standesgenossen heißen »die Herren«. Er teilt nicht mit, er »hält Vortrag«. Er rügt nicht, er »nimmt Gelegenheit zu rügen«. Man braucht den Mann nur zu sehen und zu hören, man braucht ihn sich bloß in die ehrenvolle Umgebung des Großen Hauptquartiers und dann in den Wirrwarr der Berliner Revolutionszeit hineinzudenken, und man weiß Bescheid. Und viel mehr, als man schon weiß, wird auch diese neue Verhandlung nicht ans Licht bringen. Inquit 28.1.1930

16 Paul Levi (11.3.1883–9.2.1930), Rechtsanwalt und Politiker. Im November 1918 Mitglied der Führung des Spartakusbundes und der Redaktion der »Roten Fahne«. 1918/1919 Mitbegründer der KPD, die er nach der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg (sie war Levis Geliebte) leitete. 1920 Mitglied des Reichstags. Anfang 1921 trat er als Vorsitzender der KPD zurück. 1924 wurde er Reichstagsabgeordneter der SPD. Starb 1930 nach einer Grippe.

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Die Angeklagten im Röntgental-Prozess; 1930.

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Zuchthausanträge gegen die Röntgentaler Nationalsozialisten Die lachenden Angeklagten In dem Prozeß gegen achtzehn Nationalsozialisten wegen Feuerüberfalls auf Angehörige des Reichsbanners in Röntgental stellte die Staatsanwaltschaft gestern ihre Anträge. Sie beantragte gegen die Hauptangeklagten Markwardt und Wuttke eine Strafe von acht und fünf Jahren Zuchthaus, gegen den Angeklagten Pankrandt als Rädelsführer eine Strafe von vier Jahren Zuchthaus. Des weiteren beantragte die Staatsanwaltschaft wegen schweren Landfriedensbruchs und Körperverletzung mit Todeserfolg sowie Raufhandels gegen sechs Angeklagte, die sämtlich volljährig sind, je vier Jahre Gefängnis, gegen den Angeklagten Schindler, der geständig war, 3 ½ Jahre Gefängnis, gegen fünf minderjährige Angeklagte eine Gefängnisstrafe von je drei Jahren und gegen die beiden jugendlichen Angeklagten eine Gefängnisstrafe von je zwei Jahren. Außerdem wurde Haftbefehl gegen die noch nicht inhaftierten Angeklagten beantragt. Im Anschluß an die Plädoyers der Staatsanwaltschaft gab die Verteidigung die Erklärung ab, daß sie durch die Anklage auf Totschlag völlig überrumpelt worden sei, so daß sie um einen Tag Aussetzung bitten müsse, um sich in ganz anderem Maße auf die Plädoyers vorbereiten zu können, als dies ursprünglich in Aussicht genommen war. Die Verhandlung wurde daraufhin bis Donnerstag ausgesetzt. Unter diesen Umständen ist mit einer Urteilsverkündung kaum vor Anfang nächster Woche zu rechnen. * Nach einer Beweisaufnahme von vier Wochen ist das Schwurgericht des Landgerichts III, das den blutigen Ueberfall der Nationalsozialisten in

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Röntgental abzuurteilen hat, bis zu den Anträgen der Staatsanwaltschaft vorgeschritten. Zwei Vertreter der Anklage sind aufgeboten, um den ausgebreiteten Stoff zu würdigen, jeder von ihnen braucht mehrere Stunden, um seine Anträge zu begründen. Der Rahmen der Vorgänge ist durch die Beweisaufnahme geklärt – sagt der Staatsanwalt. Ueberlegter und verabredeter Kriegsplan, Herbeiholung von Hilfstruppen aus Berlin, Abmarsch in getrennten Kolonnen, nach der Vereinigung zwei Ueberfälle auf Unbewaffnete, Fliehende, Unbeteiligte. Ergebnis: acht Schüsse, die getroffen haben; vier davon nur in durchlöcherten Kleidern nachzuweisen; vier Verletzte, davon einer an innerer Verblutung gestorben. Einwand der Verteidigung: Die Angeklagten seien es nicht gewesen, oder: die Angeklagten haben in Notwehr gehandelt, durch die Beweisaufnahme widerlegt. So breitet die Staatsanwaltschaft das Ergebnis der Verhandlung aus. Sie würde nicht viele Worte brauchen, wenn es nur auf Feststellung des Tatbestandes im ganzen ankäme. Aber es muß jedem einzelnen der achtzehn Angeklagten seine Teilnahme an den Verbrechen der schweren Körperverletzung mit Todeserfolg, des Landfriedensbruches und der Teilnahme an einem Raufhandel nachgewiesen werden. Sorgfältig haben die Staatsanwälte ihr Material zusammengetragen, nüchtern und sachlich führen sie es den Richtern und Geschworenen vor Augen. Bis er sich unterbricht: er findet es unpassend, daß ein Angeklagter lacht. Der Vorsitzende unterstützt ihn und rügt auch seinerseits das Verhalten des Burschen. Der bildet keine Ausnahme. Soweit die Angeklagten nicht zu schlafen scheinen oder nicht durch Gähnen ihren Mangel an Beteiligung verraten, tragen sie die heiterste Miene zur Schau. Es sieht aus, als hätten sie ihre Lage nicht begriffen und als wäre ihre Ruhe nicht gestört durch das Bewußtsein, daß es durch ihre Schuld drei Verwundete und einen Toten gegeben hat. Aber warum sollen sie nicht lachen? Sie, die Jugendlichen und Unreifen, haben nur getan, was die Erwachsenen, die Führer von ihnen erwarten. Sie fühlen sich hier unter der Obhut von zehn Verteidigern, sie wissen sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Parteifreunde. Zu lügen und zu leugnen bringt ihnen nicht den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit und der Feigheit ein. Zu fürchten haben sie nur die Gefahr, aus Unbesonnenheit oder gar aus Schwäche die Wahrheit zu sagen. Also warum sollen sie nicht lachen? Das Lachen wird ihnen erst vergehen, wenn sie gemerkt haben werden, daß sie mit hohlen Worten und falschen Verheißungen hineingelegt worden

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sind von Verführern, die im Begriffe stehen, nicht nur sie, sondern ihr Land und ihr Volk hineinzulegen. Inquit 13.8.1930

Strenge Begründung – milde Strafe

Verleumdungen des »Aufmarschs«

Der pädagogische Mitarbeiter der »Vossischen Zeitung«, Professor Dr. Paul Hildebrandt, berief in seiner Eigenschaft als Oberstudiendirektor der Heinrich-Schliemann-Schule im März dieses Jahres die Schüler seiner Anstalt zusammen und verbot ihnen in nachdrücklicher Form, dem nationalsozialistischen Schülerbund anzugehören. Er hatte zu dieser Maßregel einen triftigen Grund: unter den jungen Nationalsozialisten, die wegen des blutigen Ueberfalls in Röntgental von der Polizei festgenommen worden waren, befand sich auch ein Schüler seiner Anstalt, und zwar derjenige, der zugab, mehrere Schüsse abgefeuert zu haben. Die nationalsozialistische Zeitschrift »Der Aufmarsch, Blätter der deutschen Jugend«, herausgegeben von einem gewissen Gotthart Ammerlahn, brachte dieses Verbot zur Kenntnis seiner Leser in der typographischen Form einer Traueranzeige mit der Ueberschrift «Im Dienste Frankreichs!«, wobei sie über Professor Hildebrandt aussagte, er sei einer »jener Leute, die sich besonders stark an der Hetze der jüdischen ‚Vossischen Zeitung’ gegen die deutsche Jugend beteiligt hätten.« Der angeklagte Redakteur verteidigte sich vor dem Erweiterten Schöffengericht des Amtsgerichts Charlottenburg nach der üblichen Taktik der Nationalsozialisten: die Aufmachung als Traueranzeige bedeute keine Traueranzeige, die Ueberschrift »Im Dienste Frankreichs!« bedeute nicht, daß Professor Hildebrandt sich von Frankreich bezahlen ließe, die Wendung über die Hetze gegen die deutsche Jugend sei nur eine Zusammenfassung der nationalsozialistischen Grundsätze in bezug auf die deutsche Jugend.

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Das Gericht ließ sich durch solche Ausflüchte nicht irreführen. Es zweifelte nicht, daß der Mitteilung die Form einer Todesanzeige gegeben worden war und daß die Ueberschrift als Vorwurf der bezahlten Abhängigkeit verstanden werden müsse. Es gestand dem Schuldirektor zu, daß er nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt habe, und es erblickte in dem Versuch, ihm vor den Augen seiner Schüler einen Makel anzuhängen, eine besondere Niederträchtigkeit. Trotzdem begnügte es sich damit, über den Angeklagten eine Geldstrafe von 100 Mark zu verhängen, wozu noch die Kosten des Verfahrens und für das Provinzialschulkollegium die Publikationsbefugnis kommen. Nach der Begründung des Urteils ist an Milde nicht gedacht worden. Dennoch überrascht das Urteil durch seine Milde. Bei den Versuchen, den politischen Kampf aus der Sphäre der persönlichen Verleumdung und Beschimpfung herauszuführen, haben Strafen eindeutig die Aufgabe, abschreckend zu wirken. 100 Mark Geldstrafe, von der man noch nicht einmal weiß, wer sie bezahlt, wird weder den Bestraften noch einen seiner Gesinnungsgenossen abschrecken, bei nächster Gelegenheit von irgendeinem andern politischen Gegner gleich schwere und gleich unbegründete Verleumdungen auszusprechen. Es gibt nur eine Rechtfertigung des Strafmaßes, das sind die Geldstrafen, die über die Führer wie Goebbels von andern Gerichten verhängt worden sind. So lange die Großen ihr unheilvolles Treiben aus der Westentasche bezahlen dürfen, geht es freilich nicht an, die Kleinen mit Fäusten zu packen. Inquit 19.8.1930

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Prozeß Jorns und kein Ende Der Angeklagte erscheint nicht

Zum drittenmal steht der Reichsanwalt Jorns vor den Richtern, der Form nach als Kläger, dem Sinn nach als Angeklagter. Der Form nach ein Fall der Beleidigung durch die Presse, dem Sinn nach ein Stück Revolutionsgeschichte. Zur Auffrischung des Gedächtnisses: Die Zeitschrift »Das Tagebuch« hatte einen Aufsatz veröffentlicht, der sich auf die stürmische Zeit, kurz nach dem Zusammenbruch, bezog, als im Eden-Hotel zu Berlin die Gardeschützendivision, von Drahtverhauen und Spanischen Reitern geschützt, ihr Stabsquartier innehatte, als man die linksradikalen Führer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, festnahm und ins Eden-Hotel einlieferte, als sie vom Eden-Hotel aus abtransportiert und ermordet wurden und als im EdenHotel selbst die Untersuchung gegen die Mörder geführt werden sollte. Der Aufsatz im »Tagebuch« behauptet, Kriegsgerichtsrat Jorns als Untersuchungsführer habe durch die Art seiner Ermittlung die Täter begünstigt. Der Beschuldigte erhob Klage, nicht gegen den Verfasser, sondern gegen den verantwortlichen Redakteur des »Tagebuch«, Bornstein.17 Zweimal hat das Gericht alle Zusammenhänge durchgesprochen und in umfangreichen Zeugenvernehmungen die Rolle des angegriffenen Klägers aufzuklären versucht. Zweimal unter ungewöhnlicher Anteilnahme der Oeffentlichkeit. Zweimal war die Sache des Angeklagten die leidenschaftlich verfochtene Sache seines Verteidigers Paul Levy18. Die erste Instanz, das Schöffengericht, sprach den Redakteur Bornstein frei; es hielt seine Behauptungen in wesentlichen Punkten als erwiesen. Reichsanwalt Jorns legte Berufung ein. Die Strafkammer verhängte eine Geldstrafe von 100 M; die Feststellungen des ersten Gerichts mußte sie in der Hauptsache bestäti17 Zu den beteiligten Personen siehe Fußnoten auf Seite 305 ff. 18 Richtig: Levi.

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gen. Reichsgerichtsrat Jorns wandte das Rechtsmittel der Revision ein. Das Reichsgericht hob das zweite Urteil auf und verwies die Sache an die Vorinstanz zurück. Die dritte Verhandlung ist seit gestern früh im Gange. Kein Andrang mehr. Rechtsanwalt Paul Levi ist tot. Der Angeklagte Bornstein selbst hat »auf Recht der Verteidigung« verzichtet. Er ist nicht erschienen. Vorläufig findet sich das Gericht damit ab. Denn was er getan hat, steht fest: Der Aufsatz im »Tagebuch« und seine Verantwortung dafür. Was der Reichsanwalt Jorns getan hat, darauf kommt es an. Steht es nicht auch längst fest? Dem Urteil der Geschichte darf nicht vorgegriffen werden. Aber so viel die Zeitgenossen mit ihren zeitgenössischen Mitteln aufklären können, dürfte durch die beiden gründlichen Verhandlungen aufgeklärt sein. Was bleibt diesem Gericht noch zu tun übrig? Es kann den Fall so oder so bewerten und danach den Angeklagten Bornstein härter oder milder bestrafen, oder wieder freisprechen. Das Reichsgericht kann abermals aufheben und noch einmal zurückverweisen und so fort ohne Ende. An dem Bild, das die Oeffentlichkeit sich von dem einstigen Kriegsgerichtsrat, jetzigen Reichsanwalt Jorns gemacht hat, wird wohl nichts mehr zu ändern sein. * Der dritte Jorns-Prozeß vor der Großen Strafkammer des Landgerichts III beginnt mit einer Ueberraschung. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Ohnesorge, bringt einen Brief zur Verlesung, in dem der Angeklagte Josef Bornstein dem Gericht mitteilt, daß er nicht zur Verhandlung erscheinen werde und auch auf das dem Angeklagten zustehende Recht der Verteidigung verzichte. Bornstein verweist in diesem Brief auf seine der Strafkammer überreichte ausführliche Druckschrift, in der er die Gründe für sein Ausbleiben ausführlich dargestellt habe. Er glaube, in dieser Druckschrift den Beweis dafür erbracht zu haben, daß die reichsgerichtliche Entscheidung, durch die das Urteil der Berufungsinstanz aufgehoben wurde, einen radikalen Bruch mit der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts zugunsten des Reichsanwalts Jorns darstelle. In dieser Entscheidung sei obendrein in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung des Vordergerichts angegriffen, wichtigste Stellen aus dem Urteil des Vorderrichters entstellt wiedergegeben und die willkürlichsten Behauptungen aufgestellt, um die Anberaumung dieser Verhandlung begründet erscheinen zu lassen. In jeder Zeile seiner

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Entscheidung habe das Reichsgericht seinen Willen erkennen lassen, daß der Reichsanwalt Jorns rehabilitiert, und er, Bornstein, bestraft werden müsse. Da zu befürchten stände, daß das Reichsgericht auch ein drittes, für den Reichsanwalt Jorns ungünstiges Urteil wieder aufheben werde, halte er, Bornstein, es für zweckmäßig, sich von vornherein jeder Einflußnahme auf den Gang der jetzigen Verhandlung zu enthalten. Der Vertreter der Anklage, Oberstaatsanwalt Köhler, der sich schon in der vorhergehenden Verhandlung auf eine passive Rolle beschränkt hatte, erklärte zu diesem Schreiben, daß es rechtlich möglich sei, ohne den Angeklagten Bornstein zu verhandeln, da nicht er, sondern der Nebenkläger Jorns Berufung eingelegt habe. Er verzichte daher darauf, irgendeinen Antrag zu stellen, weise aber darauf hin, daß es nicht angängig sei, die von dem Angeklagten dem Gericht eingereichte Druckschrift zum Gegenstand der Verhandlung zu machen. In gleichem Sinne äußerte sich der Anwalt des Nebenklägers Justizrat Löwenstein. Reichsanwalt Jorns bringt sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß Bornstein seine Vorwürfe gegen ihn nicht persönlich vertreten wolle. Das Gericht verkündet nach kurzer Beratung folgenden Beschluß: Es soll zunächst in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden, das Gericht behält sich aber vor, im Bedarfsfall sein Erscheinen anzuordnen. Dann beginnt der Berichterstatter mit der Verlesung des erstinstanzlichen Urteils, das Bornstein von der Anklage der öffentlichen Beleidigung des Reichsanwalts Jorns durch einen Artikel im »Tagebuch« freisprach mit der Begründung, daß der Wahrheitsbeweis für die in dem Artikel aufgestellten Behauptungen geglückt sei. Das Urteil der Berufungskammer, das anschließend zur Verlesung gebracht wird, kommt sachlich zu dem gleichen Ergebnis, lediglich wegen formaler Beleidigung erhielt Bornstein eine Geldstrafe von 100 Mark. Dieses Urteil wurde vom 2. Strafsenat des Reichsgerichts im Juli d. Js. aufgehoben und der Prozeß zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das Reichsgericht bemängelt das Urteil der Berufungskammer in zahlreichen Punkten. Der allgemeinen Annahme des Berufungsgerichts, daß in dem inkriminierten Aufsatz dem Nebenkläger Jorns nur der Vorwurf der bewußten Vorschubleistung der Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gemacht werde, stehe die Auffassung desselben Gerichts entgegen, daß Jorns verschiedentlich »absichtlich« zu Gunsten der Mörder gehandelt habe. Ferner beschäftigt sich das Reichsgericht in seiner

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Revisionsbegründung sehr ausführlich mit den Grenzen des Wahrheitsbeweises und vertritt den Standpunkt, daß diese von dem Berufungsgericht nicht hinreichend erkannt worden seien. Den weitesten Raum in der Revisionsbegründung nimmt der Versuch ein, nachzuweisen, das Berufungsgericht habe irrtümlich angenommen, daß der Wahrheitsbeweis erbracht sei. Nach Verlesung des Urteils wird in die Beweisaufnahme eingetreten. Der erste Fragenkomplex, der zur Verhandlung gestellt wird, betrifft die Ausschaltung des mit der Untersuchung über den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beauftragten Kriegsgerichtsrats Kurtzig, der auf Anordnung des Gerichtsherrn der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, General von Hoffmann19, durch Jorns ersetzt wurde. Da in der jetzigen Verhandlung alle Ergebnisse vor, bei und nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bis ins einzelne erörtert werden sollen, wird sich der dritte Jorns-Prozeß über mehrere Wochen hinziehen.20 5.11.1930

Besuch beim Jorns-Prozeß

Die Beweisaufnahme vor dem Ende

Während die Welt ihren sorgenvollen Gang weiterging, während Not und Arbeitslosigkeit wuchsen, während der Herbst sich in den Winter verwandelte und aus dem alten Jahr ein neues Jahr wurde, während all dieser Wochen und Monate saß unangefochten die Strafkammer des Landgerichts III und verhandelte die Beleidigungsklage des Reichsanwalts Jorns gegen den Redakteur Bornstein. Sie sitzt auch heute, und es geht das Gerücht, daß sie noch lange sitzen werde. Das Reichsgericht, das mit der moralischen Verurteilung des Reichsgerichtsrats Jorns nicht einverstanden gewesen ist, hat es so gewollt. 19 Richtig: Hofmann. 20 Ungezeichnet; Moritz Goldsteins Autorschaft ist belegt durch seine Tagebucheintragung vom 4.11.1930.

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Wer wünschte nicht zu wissen, was sie da miteinander treiben und wie weit sie gelangt sind, während die Oeffentlichkeit sich um den schon viel zu oft und immer wieder ausführlich behandelten Fall nicht gekümmert hat? Oeffnen wir die Tür, treten wir ein und setzen wir uns unter sie. Alle sind zur Stelle, der Angeklagte Bornstein mit seinem Verteidiger und der Kläger Jorns mit seinem Rechtsbeistand. Der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Ohnesorge waltet unermüdlich seines Amtes, neben ihm die Beisitzer. Der Ersatzrichter vertreibt sich, so gut es geht, im Hintergrunde die Zeit. Die Laienrichter, darunter eine Frau, haben auch durchgehalten. Vom Oberstaatsanwalt Köhler ist man die Ausdauer gewöhnt. Eine kleine Grippeansteckung bei zweien der Beteiligten, und der ganze Prozeß wäre aufgeflogen. Es ist nicht geschehen, in beinahe drei Monaten nicht, und wenn wir es hierdurch nicht berufen haben, so wird es hoffentlich auch weiter nicht geschehen. Plätschert die Verhandlung trübselig und langweilig dahin? O nein, sie sind recht munter miteinander. Die Gegensätze zwischen dem Kläger und dem Angeklagten und ebenso zwischen dem Anwalt des Klägers und dem Anwalt des Angeklagten haben sich in angeregtester Weise zugespitzt. Dazu sind noch Gegensätze getreten zwischen dem Autor, der sich rühmt, den beleidigenden Artikel im »Tagebuch« verfaßt zu haben, und dem Redakteur, der deswegen angeklagt worden ist. Ob mit dem Aufsatz behauptet werden sollte, oder in einer früheren Fassung behauptet worden ist, daß der frühere Kriegsgerichtsrat Jorns den Mördern aus dem Edenhotel nicht nur Vorschub geleistet, sondern sie mit Absicht begünstigt habe, darum geht der langwierige und temperamentvolle Streit. Es tritt als Zeuge auf der Verleger Schwarzschild21. Er soll bekunden, wie sich der frühere Verteidiger des Angeklagten, der verstorbene Rechtsanwalt Paul Levi über Herrn Jorns geäußert hat. Herr Schwarzschild möchte nicht gern; er fürchtet, Herrn Jorns zu kränken. Aber der ist Kummer und Elend gewöhnt, und der Vorsitzende erinnert den Zeugen an seine Pflicht zur Wahrheit. Und so sagt der Verleger Schwarzschild laut und unmißverständlich, wie Paul Levi dereinst über den Reichsanwalt Jorns geurteilt hat. Alle im Saal hören es, und auch Herr Jorns hört es. Hätte er nicht im Laufe 21 Leopold Schwarzschild (8.12.1891–2.10.1950), Soziologe und Journalist. Herausgeber der Zeitschrift »Das Tagebuch« zusammen mit Stefan Großmann. 1933 emigrierte Schwarzschild nach Paris, wo er das »Neue Tagebuch« herausgab, 1940 Emigration nach New York.

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Josef Bornstein (r.) mit seinen Verteidigern Max Alsberg (3. v. r.) und Wolfgang Heine (2. v. l.); hier 1929.

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seiner Prozesse schon allerlei zu hören bekommen, er wäre vielleicht wirklich ein bißchen gekränkt. Ueber das Herz des Klägers übrigens hat Paul Levi nichts Ungünstiges gesagt; seine Aeußerungen beziehen sich mehr auf den Kopf. Indessen, wir sind keineswegs verpflichtet, sie wörtlich weiter zu sagen. Da ist noch die Frage zu prüfen, ob der frühere Oberreichsanwalt Ebermayer, einst Vorgesetzter des Klägers Jorns, vernommen werden soll. Die Entscheidung wird dem Gericht selbst überlassen. Denn es ergibt sich, daß der Angeklagte bereit ist, als wahr zu unterstellen, die Beförderung des Kriegsgerichtsrats Jorns zum Reichsanwalt sei aus sachlichen Gründen erfolgt. Sachliche Gründe zur Beförderung und Paul Levis Meinung über Jorns’ Fähigkeiten haben denn also nebeneinander bestanden. Und plötzlich ist der Prozeßstoff erschöpft und die Beweisaufnahme zu Ende. Welch eine Ueberraschung! Am Freitag wird es noch ein paar Ergänzungen geben, und vielleicht schon am Montag werden die Plädoyers beginnen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß noch einmal in die Beweisaufnahme eingetreten wird, aber wenn es gut geht, können wir und alle Mitwirkenden das Ende des Prozesses noch erleben. Der Angeklagte Bornstein, der ohne Aufhebens die geistige Führung in Händen hält, scheint schon etwas ungeduldig geworden zu sein. Offenbar hat er noch anderes und seiner Meinung nach Besseres zu tun. Dagegen erfreut der Kläger Jorns durch seine heitere und unbefangene Geschäftigkeit. Er ist Beamter, er führt seine Sache mit behördlichem Urlaub, nicht auf seine, sondern auf unsere Kosten. Und er scheint nicht zu fürchten, daß er ein drittes Mal moralisch verurteilt werden könnte.22 Inquit 14.1.1931

22 Josef Bornstein wurde zu 500 Mark Geldstrafe verurteilt; Paul Jorns blieb Reichsanwalt am Reichsgericht.

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Die Arbeit der Maulwürfe

Der Totschlagsprozeß gegen Nationalsozialisten

Vor dem Schwurgericht, das die Erschießung der beiden Reichsbannerleute Schneider und Graf durch die Nationalsozialisten in der Silvesternacht sühnen soll, sind bisher nur die sechs Angeklagten vernommen worden. Der Zuhörer kann sich also noch kein klares Bild von den Vorgängen machen; aber das merkt er doch, daß die Angeklagten nach der bewährten Methode der Nationalsozialisten vor Gericht sagen, was sie sagen wollen, und nicht, was der Wahrheit entspricht. Ein Kassiber ist aufgefangen worden, das der Angeklagte Hauschke, einer von den dreien, denen Totschlag vorgeworfen wird, nach seiner Festnahme hinauszuschmuggeln versucht hat. »Meine Aussage ist …«. Und nun folgt eine Darstellung, die beweisen soll, daß die Nationalsozialisten überfallen worden sind und in Notwehr gehandelt haben. »Als ich nach Hause kam, hatte ich einen blutigen Kopf. Daß ich blutig geschlagen worden bin, dafür muß ich zwei Zeugen haben.« Und er fügt noch hinzu, wie diese beiden Zeugen zu beschaffen sind. Wie es sich im einzelnen abgespielt hat, und wie sich die Schuld verteilt, das wird die Beweisaufnahme zu klären versuchen, die sich von den unzähligen Beweisaufnahmen ähnlicher politischer Totschlagsprozesse der letzten Jahre nicht unterscheidet. Dagegen hat die Oeffentlichkeit Grund, ihr Augenmerk auf das zu richten, was der Tat folgte. Drei von den sechs Angeklagten stehen im Verdacht, die tödlichen Schüsse abgegeben zu haben: der Maurerlehrling Kollatz, der Handlungsgehilfe Becker und der Maler Hauschke. Diese drei flohen gemeinsam aus Berlin, trennten sich unterwegs und wurden einzeln in Oesterreich verhaftet. Daß die gemeinsame Flucht eine sozusagen ungewollte Folge der gemeinsamen Lage gewesen sei, möchten sie dem Gericht einreden. Was es wirklich gewesen ist, wird das Gericht zu entscheiden haben. Jedenfalls machten sich am Abend des 2. Januar Kollatz und Hauschke gemeinsam auf den Weg mit dem Ziele: Mecklenburg-Strelitz. Warum dorthin? Antwort: Es gibt dort die meisten Parteigenossen, man kann dort

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am leichtesten untertauchen. Sie gelangten zunächst bis Oranienburg. Dort stieß Becker zu ihnen; unverabredet, wie sie behaupten. Am nächsten Tage fuhren sie zu dritt weiter bis Feldberg in Mecklenburg. Ueber ihre Ankunft gibt Kollatz eine seltsame Darstellung: Es habe sie auf dem Feldberger Bahnhof ein Herr mit Hakenkreuz angesprochen und gefragt, ob sie von Berlin kommen. »Dann bist du wohl Kollatz?« Er habe sie aufgefordert, ihm in einiger Entfernung zu folgen, und sie in einen Gasthof geführt. Dorthin habe er ihnen später einen Zettel gebracht, auf dem die Flüchtlinge als »arbeitslose S. A.-Kameraden« bezeichnet wurden, die »der Unterstützung bedürftig« seien. Er habe ihnen die weitere Reiseroute angegeben, ihnen Geld eingehändigt und sie ermahnt, mit der Fortsetzung der Flucht einige Tage zu warten. Diese Darstellung wird von den beiden anderen bestritten. Jedenfalls nahm sich ihrer der Elektromonteur Korath23, Werkmeister bei der Feldberger Ueberlandzentrale, an. Sie wurden auf dem Lande bei Neubrandenburg untergebracht und traten einzeln den Weg nach dem Süden an. Becker kam unbehelligt über die Grenze, meldete sich in Innsbruck bei dem Hauptmann von Maltitz, ging von da nach Wien und fand eine Stellung bei dem Wiener Organ der Nationalsozialisten, dem »Kampfruf«. Auch Hauschke glückte der Uebertritt auf Tiroler Gebiet, er kam bis nach Bozen, auch nach Wien, kehrte nach Kufstein zurück und machte dort die Bekanntschaft eines stellungslosen Kameraden namens Weber, der ihm zur weiteren Flucht seinen Paß schenkte. Der dritte Flüchtling, Kollatz, brach von Mecklenburg erst auf, als er schriftlich – er sagt nicht, von wem – die Nachricht bekam, daß die beiden andern in Sicherheit seien. Auch sein Ziel war der Hauptmann von Maltitz in Innsbruck. Diese Adresse und ein paar dazugehörige Reisedaten hatte ihm sein Feldberger Helfer in ein Buch geschrieben, das den vielversprechenden Titel »Versöhnung« trug. Auf Seite 99. Warum in das Buch und nicht auf einen Zettel? Antwort: damit er die Adresse nicht verliere. Warum denselben Hauptmann von Maltitz in Innsbruck? Antwort: Zufall. Was die Nationalsozialisten außen treiben, das sehen wir täglich und stündlich und sind dessen reichlich überdrüssig. Was sich innen abspielt, unter der Oberfläche, mit geheimer Verständigung von Norden nach Süden und von Osten nach Westen, davon wissen wir noch viel zu wenig. In 23 Richtig: Porath.

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diesem Falle hat sich einmal der Schleier gelüftet und enthüllt den Einblick in die geheime Organisation, die den Zweck hat, diejenigen, die sich schwer gegen das Gesetz vergangen haben, dem Zugriff des Staates zu entziehen. Wer hilft dabei? Wer weiß davon? Wenn der Staat, wie die Regierung versprochen hat, seine Autorität durchsetzen will, wird er diese unterirdischen Maulwurfsgänge freilegen müssen. Inquit 15.12.1931

Zuchthaus für die Silvester-Bluttat

Urteilsbegründung: die Strafen sollen abschrecken

In dem Prozeß um die Silvestervorgänge in der Hufelandstraße, deren Untersuchung das Schwurgericht des Landgerichts I mehrere Tage lang beschäftigte, gelangte das Gericht zur Verurteilung des angeklagten Kaufmanns Rudolf Becker und des Malers Max Hauschke zu je sieben Jahren Zuchthaus wegen Totschlags an dem Reichsbannermann Willi Schneider und dem an den Vorgängen unbeteiligten Passanten Graf. Der Hauptangeklagte, Maurerlehrling Kollatz, wurde, da ihm die übrigen Anklagepunkte nicht nachgewiesen waren, lediglich wegen Begünstigung zu sieben Monaten Gefängnis verurteilt. Gleichfalls wegen Begünstigung verurteilte das Schwurgericht den Kaufmann Karl Heinrich Weber zu vier Monaten Gefängnis, der wegen Begünstigung angeklagte Werkmeister Ernst Porath wurde freigesprochen, der Privatförster Kurt Bressel wurde wegen des Vergehens gegen das Schußwaffengesetz zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Das Schwurgericht hat aus dem Verlauf der Beweisaufnahme die volle Ueberzeugung gewonnen, daß der Angeklagte Becker den tödlichen Schuß auf Willi Schneider in dem Zigarrenladen seines Vaters abgegeben hat. *

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Ueber den schweren Strafen, mit denen das Gericht den zweifachen Totschlag geahndet hat, sind alle sechs Angeklagten kleinlaut geworden. Bis dahin fiel an ihnen die lächelnde Gelassenheit auf, mit der sie dem Lauf der Verhandlung folgten. Ohne Zweifel spielten sie Theater. Offenbar gilt es in den Kreisen der Nationalsozialisten als guter Ton, durch eine noch so gefährliche Anklage nicht aus der Fassung zu geraten. Vielleicht hatte man diesen Angeklagten auch eingeredet, es könne nicht schlimm werden. Jetzt, da es doch schlimm geworden ist, ahnen sie vermutlich immer noch nicht, was es heißt, ins Zuchthaus gesperrt zu werden. Soweit läßt sich die gespielte Selbstsicherheit allenfalls verstehen. Unverständlich aber ist und grauenhaft wirkte während der ganzen vieltägigen Verhandlung das Fehlen jeder Empfindung für das, was sie mit ihren Pistolen angerichtet haben. Keine Spur von Reue. Kein Zeichen des Mitleids mit den Eltern, die ihren erwachsenen Sohn verloren haben. Kein Gedanke an die beiden Opfer, die unschuldig erschossen worden sind. Daß die Getöteten ihr Schicksal unschuldig erlitten haben, daß sie nicht etwa selbst die Angreifer gewesen sind, das stellt die mündliche Urteilsbegründung mit klarer Ausführlichkeit fest. Die Tragödie, die sich am vorigen Silvester in der Hufelandstraße abspielte, nahm ihren Ausgang, um mit dem Gericht zu reden, von einer Flegelei: der S. A.-Mann Kollatz behelligte einen ihm unbekannten und gänzlich harmlosen Passanten, dem auf der Straße unwohl geworden war, mit unflätigen Beschimpfungen. Als er sich das verbat, verfolgte der Flegel zusammen mit seinem Kumpan Hauschke ihn bis zu dem Zigarrenladen Schneider. Dort mußte sich der Verfolgte noch gegen eine körperliche Bedrohung verteidigen. Während er in dem Laden Zuflucht fand, stürmte Kollatz nebenan in das Verkehrslokal der Nationalsozialisten. Was er dort erzählt hat, steht nicht fest; dem Sinne nach wird es gelautet haben: »Kommt mal raus, da ist einer frech geworden.« Sie kamen heraus, aus dem Zigarrenladen Schneider traten die Teilnehmer einer familiären Silvesterfeier ebenfalls auf die Straße, und es erfolgte eine Auseinandersetzung in Worten. Beide Parteien zogen sich in ihre Behausungen zurück, und der Vorfall hätte ohne Folgen bleiben können. Aber da brachte eine zweite Geringfügigkeit die gefährliche Verschärfung. Irgend jemand hatte zu später Stunde das Verkehrslokal der Nationalsozialisten, das er einfach für eine Restauration nahm, betreten, um weiter zu trinken. Seine Frau klopfte von außen gegen die Jalousie, um ihn an den Aufbruch zu mahnen. Die aufgeregten Nationalsozialisten hielten das für einen Angriff ihrer politischen Gegner. Sie meinten, das Lokal solle vom

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Reichsbanner gestürmt werden, und traten ein zweites Mal auf die Straße. Unglückseligerweise machten sich zu gleicher Zeit die Gäste des Zigarrenhändlers Schneider auf den Heimweg. Der erste, der aus der Tür trat, wurde von den Nationalsozialisten niedergeschlagen. Alarm! Beide Parteien riefen Verstärkungen herbei. Die Verstärkung des Reichsbanners traf zuerst ein. Die Nationalsozialisten sahen sich in der Minderzahl. In dieser Lage gab der Förster Bressel seinen Schreckschuß ab. Er hatte den Erfolg, daß die Nationalsozialisten Luft bekamen und fliehen konnten. Die Reichsbannerleute verfolgten sie. Jetzt traf auch die Verstärkung der Nationalsozialisten ein. Sie fanden die Straße leer. Um das Verkehrslokal, das sie angegriffen wähnten, herrschte Ruhe. Zum zweiten Mal wirkte die überhitzte Phantasie nach außen: der Handlungsgehilfe und S. A.-Mann Becker redete sich plötzlich ein, es könnten Kameraden in dem Schneiderschen Laden verborgen gehalten werden. Er hielt das harmlose Zigarrengeschäft für ein Räubernest, aus keinem anderen Grunde, als weil der Sohn des Inhabers zum Reichsbanner gehörte. »Aus eigenem Recht«, wie er sich später ausdrückte, ging er hinein, beide Hände in den Außentaschen seiner Lederjoppe, damit man nicht merken sollte, daß er in der rechten Tasche seinen Revolver schußbereit hielt. Er ging durch den Laden in die anstoßende Wohnung. Von versteckten Kameraden fand er nichts, überhaupt keine Männer, sondern allein Frau Schneider. Sie folgte ihm bis zum Ausgang, indem sie ihn wegen des Hausfriedensbruches heftig verwies. In diesem Augenblick bertrat ihr Sohn Willy [sic] Schneider den Laden. Die Mutter unterrichtete ihn und auch Willy [sic] Schneider stellte den Eindringling zur Rede. Da drehte er sich um und schoß – Willy [sic] Schneider brach zu Tode getroffen zusammen. Jetzt kamen die Reichsbannerleute von ihrer Verfolgung zurück. Der Vater Schneider erfuhr, was seinem Sohne widerfahren war. Die Tür des Ladens wurde geschlossen, draußen sammelten sich Unbeteiligte, die durch die Scheiben lugten. In sie hinein feuerte Hauschke seinen Schuß, einen wohlgezielten Schuß, der in den Kopf treffen sollte und auch traf. Ein zweites Opfer, der Bankbeamte Graf, lag am Boden. So hat es das Schwurgericht des Landgerichts I unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Rückert in gründlicher Beweisaufnahme unter gewissenhafter Würdigung des Für und Wider einleuchtend festgestellt. Die gewohnte Taktik des Lügens, des Verschleierns und des gegenseitigen Herausredens hat diesmal nicht verfangen. Mit aller wünschenswerten Bestimmtheit stellt sich das Gericht auf die Seite der Staatsgewalt, die versucht, der politischen

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Verwilderung des Radikalismus Einhalt24 zu gebieten. Es läßt sich auch nicht dazu herbei, die Täter mit der Glorie irgendeiner Art von Patriotismus zu schmücken und moralisch zu entlasten; es bezeichnet sie vielmehr als das, was sie sind, als Verbrecher, und zieht die Folgerungen daraus. Die schweren Strafen, auch das stellt die Urteilsbegründung ausdrücklich fest, sollen abschrecken. Aber auch so schwere Strafen werden ihre Wirkung verfehlen, solange diese jungen Menschen in den Kreisen, auf deren Urteil es ihnen ankommt, nicht als Verbrecher gelten, sondern als Helden. Auch diese Verurteilten gehören zu der langen Reihe von Verführten, die sich selbst zu opfern glauben, wenn sie andere hinopfern. Auch sie, wenn ihnen die Binde von den Augen fiele, müßten erkennen, daß sie die Schuld derer abbüßen, die das Evangelium der Gewalt predigen; die Deutschlands Rettung verheißen und Deutschlands Verwilderung herbeiführen. Inquit 22.12.1931

Hat Hitler »Polizeispitzel« gesagt?

Der »nationalsympathische« Vorschlag – Stennes’ ungeschickte Klage Hauptmann a. D. Stennes25 gegen den Parteichef Hitler und den verantwortlichen Redakteur des »Angriffs«26 Dr. Lippert27. Privatbeleidigungsklage vor dem Einzelrichter beim Amtsgericht Berlin-Mitte. 24 Im Original: Einheit. 25 Walter Stennes (12.4.1895–18.5.1989), SA-Führer. 1931 Putsch gegen die NSDAPParteizentrale. 26 »Der Angriff«, eine von Joseph Goebbels gegründete Zeitung, deren Titel Programm sein sollte, erschien erstmals am 4.7.1927. Das Blatt arbeitete mit gezielten Verleumdungen und zeichnete sich vor allem durch einen hemmungslosen Antisemitismus und den Hass auf das »System« aus. Neben dem »Völkischen Beobachter« war der »Angriff« Pflichtlektüre für Parteimitglieder. Die letzte Nummer erschien am 24.4.1945. 27 Julius Lippert (9.7.1895–30.6.1956), Journalist. Von Goebbels zum Hauptschriftleiter des »Angriffs« berufen.

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Weil das Gericht auf Hitlers Anwesenheit bestanden hat, und weil er also selbst zu sehen und zu hören sein wird, hat man die Verhandlung in den Großen Schwurgerichtssaal verlegt. Auf 11 Uhr ist der Beginn festgesetzt; schon um 9 Uhr stehen die Getreuen, die in den Zuschauerraum zu gelangen wünschen, auf der Straße Schlange. Großes Aufgebot von Schutzleuten, große Beteiligung von Pressevertretern, die nicht eher ihre Plätze einnehmen dürfen, als bis die Sache »aufgerufen« wird, und die den Saal erst nach gefährlichem Kampf um die schmale Pforte betreten können. Der Eintritt Hitlers hat sich fast unbemerkt vollzogen; er sitzt schon auf seinem Platz, neben dem Mitangeklagten, betreut von seinem Verteidiger, dem Münchner Rechtsanwalt Dr. Frank II.28 Wer denkt noch an Hauptmann Stennes, vor einem Jahr noch oberster S. A. -Führer von Berlin und Brandenburg? Seine Revolte gegen den Parteiführer ist mißlungen, seinen Posten hat er verloren, sein Tagesruhm ist abgelöst worden von der Prozeßberühmtheit seines Nachfolgers Grafen Helldorf. Die Weltgeschichte stürmt vorwärts, ganz andere Dinge sind wichtig geworden als der Machtkampf zwischen der Richtung Stennes und der Richtung Hitler. Daher ist auch nur für die Beteiligten, nicht mehr für die Allgemeinheit, von Belang, ob dem Hauptmann Stennes Unrecht geschehen ist, als ihn der »Völkische Beobachter« und der »Angriff« als Polizeispitzel und Mitarbeiter des Polizeipräsidenten Grzesinski29 hingestellt hat. Der Vorsitzende, Amtsgerichtsrat Bues, macht denn auch pflichtgemäß, aber mit aufrichtigem Bemühen den Versuch, einen Vergleich herbeizuführen. Er fordert die Prozeßparteien auf, dessen eingedenk zu sein, daß alle politischen Parteien bei aller Verschiedenartigkeit des Weges doch dasselbe 28 Hans Franck (23.5.1900–16.10.1946), Rechtsanwalt. Seit 1923 Mitglied der NSDAP, Teilnehmer beim Hitler-Putsch, Gründer des Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ), ab 1939 Generalgouverneur im besetzten Polen, 1.10.1946 Todesurteil im Nürnberger Prozess, 18.10.1946 Hinrichtung »Frank II«., wie Goldstein Hitlers Rechtsbeistand nennt, bezieht sich sicher darauf, dass schon der Vater von Hans Frank Rechtsanwalt war und dass er als Sohn in dessen Kanzlei eintrat, die er später übernahm. 29 Albert Grzesinski (1878–1947). Er wurde als Albert Lehmann geboren, trug aber ab 1892 den Namen seines Stiefvaters. Von Mai 1925–Oktober 1926 Polizeipräsident von Berlin (SPD). Nach dem Rücktritt des preußischen Innenministers Carl Severing 1926 wurde Grzesinski dessen Nachfolger. Neuer Polizeipräsident wurde Karl Friedrich Zörgiebel. 1930 trat Grzesinski als Innenminister zurück und war von 1930–1932 wieder Polizeipräsident von Berlin. 1933 Emigration: Schweiz, Frankreich, Großbritannien und USA.

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Ziel verfolgen, und daß angesichts der deutschen Not der persönliche Hader schweigen möge; nach dem Dichterwort aus Gerhart Hauptmanns »Florian Geyer«: »Der deutschen Zwietracht mitten ins Herz!« Hitlers Verteidiger in seiner gepflegten Höflichkeit nennt diese Anregungen des Vorsitzenden »nationalsympathisch«; ein kostbares Wort und eine nachahmenswerte Erfindung; man wird also künftig jedes Lob mit dem Begriff »national« grammatisch kuppeln und daraus den Schluß herleiten, daß alles Lobenswerte national sei. Indessen »als fanatischer30 Anhänger der Gesetzlichkeit« besteht er darauf, daß vom Gericht festgestellt werde, sein Mandant Hitler habe nichts Strafwürdiges begangen, und lehnt daher einen Vergleich ab. Da auch die Gegenseite sich unversöhnlich äußert, so wird also in die Verhandlung eingetreten. Die Beleidigungsklage des Hauptmanns Stennes gegen Hitler stützt sich darauf, daß der Aufsatz im »Völkischen Beobachter«, der die Beleidigung enthält, von Hitler verfaßt und von ihm gezeichnet sei. Es ist dem Angeklagten Hitler leicht, durch den Augenschein nachzuweisen, daß die zweite Behauptung jedenfalls nicht stimmt. Sein Name befindet sich in derselben Nummer, aber unter einem anderen Aufsatz. Daß er der Verfasser sei, daß er ihn ins Blatt gegeben oder sonstwie veranlaßt habe, bestreitet er. Und es liegt ja wohl kein Anlaß vor, ihm nicht zu glauben. Die Partei Stennes wollte außerdem den verantwortlichen Redakteur des »Völkischen Beobachters« vor Gericht ziehen, unterließ es aber, festzustellen, wer in jener Nummer in dieser Eigenschaft genannt ist. Niemand wird behaupten, daß die Partei Stennes sehr geschickt operiert hat. Jedoch sie gibt sich noch nicht besiegt. Sie will beweisen, daß die Verdächtigung, Hauptmann Stennes habe der preußischen Polizei Spitzeldienste geleistet, von Hitler selbst »erfunden« sei. In einer Versammlung der Standartenführer – Hitler sagt »Stand-artenführer« – habe er sie vorgebracht und damit die nationalsozialistischen Organe zum Nachsprechen veranlaßt. Rechtsanwalt Becker für Hauptmann Stennes wünscht, daß Hitler danach gefragt werde. Rechtsanwalt Frank beanstandet die Frage. Rechtsanwalt Becker[:] »aha!« Und nun zieht Rechtsanwalt Frank das pathetische Register seiner dröhnenden Entrüstungsorgel, wie man es von ihm in ganz anderen 30 »Fanatisch« wurde unter den Nationalsozialisten zu einem positiv besetzten Begriff und entwickelte sich schnell zu einem »superlativistisch anerkennenden Beiwort«. Vgl.: Klemperer, Victor: »LTI«. Die unbewältigte Sprache. München: deutscher Taschenbuch Verlag (dtv 575) 1969, S.64/65.

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Prozessen und gegen ganz andere Gegner schon gehört hat. Der Vorsitzende, der mit Geschick jede Verschärfung zu dämpfen sucht, verweist ihm den Gebrauch dieses nicht hierher gehörenden Instruments. Hitler erklärt noch, er könne sich nicht erinnern, vor den Standartenführern sich über Hauptmann Stennes so geäußert zu haben; es sei aber möglich. Bemerkenswert ist dabei vielleicht noch, daß er seine Führer nicht etwa zu einer Besprechung einlädt oder bittet, sondern sie »antreten« läßt. Er hält sich zu einer solchen Meinungsäußerung für berechtigt und niemandem deswegen verantwortlich. Es wird festgestellt, daß sein Verhalten in der Führerbesprechung mit der strafrechtlichen Verantwortung in diesem Prozeß nichts zu tun hat. Da Hitler nicht die Absicht hat, mehr zu erklären, und da auf seine Anwesenheit von keiner Seite Wert gelegt wird, so darf er sich entfernen. Die ganze Anhängerschaft erhebt sich mit gereckten Armen. Immerhin wagt niemand, in Heilrufe auszubrechen. Gleich nachdem Hitler den Saal verlassen hat, leert sich der Zuschauerraum. In dem fast menschenleeren Saal wird die Verhandlung gegen den »Angriff«-Redakteur Lippert fortgesetzt.31 Inquit 16.1.1932

31 »Hitler wurde freigesprochen, während Lippert wegen übler Nachrede zu 300 M Geldstrafe, ersatzweise 30 Tagen Gefängnis verurteilt wurde. Dem Kläger Stennes wurde die Befugnis zugesprochen, das Urteil je einmal im »Angriff« und im »Völkischen Beobachter« zu veröffentlichen.« (Vossische Zeitung, Nr. 28 v. 17. Januar 1932, S. 2.)

Politik

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Der Prozeß gegen die vier Abgeordneten Die Verhandlung vor dem Schnellgericht

Offiziere muß man vor der Front sehen, Geistliche in der Kirche, Schauspieler auf der Bühne, wenn man wissen will, wie sie wirken und was sie können. So muß man wahrscheinlich Reichstagsabgeordnete im Reichstag, und zwar während der Arbeit, beobachten, um sich den schuldigen Respekt vor den Vertretern des deutschen Volkes zu erhalten. Außerhalb des Reichstags, etwa im Moabiter Kriminalgericht, und etwa in der Rolle des Angeklagten, wirken sie nicht. Die beste Figur macht noch Gregor Strasser32. Er macht sich Sorgen, es könnte der Verdacht an ihm hängen bleiben, er habe sich nach der Affäre im Reichstag den Folgen durch die Flucht zu entziehen versucht. Er habe das nicht gewollt, stellt er fest, vielmehr in der Fraktionssitzung darauf bestanden, daß die Beteiligten die Konsequenzen tragen. Neben ihm auf der Anklagebank der Abgeordnete Waitzel33 hat den ehemaligen Schlosser ausgezogen und wirkt wie ein von den Nerven nicht ganz unbehelligter Intellektueller. Dann folgt Wilhelm Steegmann34, Diplom-Landwirt aus  Mittelfranken, 32 Zu Georg Strasser siehe Seite 335. 33 Im Origianl im gesamten Artikel: Waitzel, aber richtig: Fritz Weitzel, eigentlich Friedrich Philipp Weitzel (27.4.1904–9.6.1940), Schlosser, SSObergruppenführer. 1924 SA, 1925 NSDAP, 1926 SS, 1930 Reichstags-Abgeordneter für die NSDAP, 1933 zum Polizeipräsidenten von Düsseldorf ernannt. 34 Im Original im gesamten Artikel: Steegmann, aber richtig: Wilhelm Ferdinand Stegmann (13.6.1899–15.12.1944), Dipl. Landwirt. Von 1930– 1933 Reichstags-Abgeordneter für die NSDAP. Konflikte mit der Partei. Nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten zeitweise in »Schutzhaft« und im Gefängnis. 1944 zur »Bewährung« als SS-Obersturmführer der Reserve der Waffen-SS an die Ostfront geschickt, wo er bei Kampfhandlungen fiel.

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In der hinteren Reihe die vier angeklagten Abgeordneten; links Heines, rechts außen Strasser; 1929.

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ein Riese von einem Menschen, und dann Edmund Heines35 aus München, jetzt wohnhaft in Breslau, ebenfalls hünenhaft, dazu hellblond. Ob Heines vorbestraft sei, fragt der Vorsitzende. Aber ja, antwortet er unbefangen. Weswegen? Aber doch wegen Totschlags. Aber bekanntlich im Zusammenhang mit den pommerschen Fememorden. Außerdem eine Vorstrafe wegen Beihilfe zum Hochverrat. Von fünf Jahren Gefängnis und einem Jahr, drei Monaten Festung hat er ungefähr zwei Jahre verbüßt; das übrige ist ihm durch Amnestie erlassen. Herzerquickend die heitere Unangefochtenheit, mit der er sich zu diesen Taten bekennt. Wenn er sich zu seinen Taten im Reichstag ebenso bekennen wollte! Aber da hat er sich eine Geschichte zurechtgemacht. Danach soll der Schriftsteller Dr. Klotz36 im Restaurant des Reichstages, als Heines an ihm vorbeiging, an seiner Zigarre vorbei eine Beschimpfung gezischt haben, in der das Wort »Schwein« vorkam; worauf Heines, von Empörung hingerissen, ihm zwei Ohrfeigen geklebt haben will, indem er sich des straffreien Staatsbürgerrechts bediente, eine Beleidigung durch eine geringfügige Körperverletzung auf der Stelle zu sühnen. Weil alsdann eine Prügelei entstand, will auch der Diplomlandwirt Steegmann zugeschlagen und dabei zufälligerweise denselben Klotz getroffen haben. Dies war der erste Akt. Der zweite spielte im Wandelgang, durch den Klotz von Beamten des Reichstags geführt wurde, damit er seine Widersacher angäbe. Bei dieser Gelegenheit hat der Schlosser Waitzel geschlagen, wie er zugibt, und zwar weil er Klotz für denjenigen gehalten habe, von dem durch die Tür des Restaurants gegen ihn ein Stuhl geworfen worden sei. Was aber Gregor Strasser angeht, so hat er sich provoziert gefühlt, als in jenem Teil des Wandelgangs, der nach Brauch und Herkommen den Abgeordneten der Rechten vorbehalten ist, Dr. Klotz erschien, der weder zur Rechten gehört noch Abgeordneter ist. Geschimpft, sagt Strasser, hat er mit den übrigen, geprügelt aber nicht, vielmehr die Prügelnden zu beruhigen versucht. 35 Edmund Heines (21.7.1897–30.6.1934), SA-Gruppenführer. Seit 1921 in der NSDAP. 1929 Verurteilung im Zusammenhang mit Fememorden; 1930 Mitglied des Reichstags; 1931 Stellvertreter Röhms; nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten Bürgermeister von Breslau; 1934 im Rahmen der Röhm-Affäre ermordet. 36 Helmut Klotz (30.10.1894–3.2.1943), Marineoffizier und Publizist. Als frühes Mitglied der NSDAP 1923 beteiligt am Hitler-Putsch. 1929 Eintritt in die SPD. 1932 Veröffentlichung der Briefe von Ernst Röhm, durch die dessen Homosexualität bestätigt wird. 1933 Emigration nach Frankreich, 1940 Verhaftung in Paris. Er wurde nach Deutschland gebracht, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und in Plötzensee hingerichtet.

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Ganz von fern nur nimmt Heines darauf Bezug, daß Dr. Klotz ihm verhaßt gewesen sei als Herausgeber jener Briefe, die den früheren »Stabschef« der früheren S. A. der N. S. D. A. P., Hauptmann Röhm37, schwer zu kompromittieren geeignet sind. Auf die Röhm-Briefe war, so bekennt er wieder freimütig, die zweite von den beiden Ohrfeigen zu beziehen. Zur Herausgabe der Röhm-Briefe sich zu bekennen, trägt Dr. Klotz kein Bedenken, der hier als Nebenkläger zugelassen ist und auch als Zeuge vernommen wird. Bis zum Jahre 1923 gehörte er zu den Nationalsozialisten. Seither ist er, wie mancher andere, den Weg von rechts nach links gegangen; zugleich den schweren Weg vom Radikalismus zur Mäßigung: er zählt sich heute zur S. P. D. Unter seinem Eide bezeichnet er die Behauptung, er sei aus der Nationalsozialistischen Partei »ausgeschlossen« worden und er habe Unterschlagungen begangen, für Verleumdungen. Bei Erwähnung der Röhm-Briefe gibt es in der Verhandlung, die sonst mit Sachlichkeit geführt wird und in Ruhe verläuft, ein paar Zwischenrufe aus dem Publikum. Die Störer werden an die Luft gesetzt. Sie haben gerufen, die Briefe seien gefälscht; es ist ihre Ueberzeugung wie die zur Schau getragene Ueberzeugung der Nationalsozialisten überhaupt. Was wirklich an den Briefen ist und was aus ihnen geschlossen werden darf, darüber hat dieses Gericht nicht zu befinden. Eine Klärung, wenn sie gewünscht wird, müßte schon von den Betroffenen selbst auf dem Wege der Verleumdungsklage herbeigeführt werden. Dagegen ist über das, was sich am Tage vorher im Reichstag abgespielt hat, durch die Beweisaufnahme eine völlige Klärung herbeigeführt worden. Das Schnellverfahren hat sich diesmal bewährt. Es steht jetzt fest, daß die Geschichte, die Heines dem Gericht erzählt, nicht stimmt. Vielmehr war es so: Dr. Klotz, den Heines seinen Parteigenossen schon eine halbe Stunde vorher gezeigt hatte, saß allein an seinem Tisch und las. Fünf Nationalsozialisten, von denen zwei die baumstarken Heines und Stegmann waren, stellten sich hinter ihm auf. Heines rief: »Das ist der Kerl mit den RöhmBriefen« oder so ähnlich, er prügelte hinterrücks auf den Ahnungslosen ein, und die anderen machten es ihm nach. Dr. Klotz fiel zu Boden, die Angreifer prügelten weiter, bis sich andere dazwischenwarfen und die National37 Ernst Röhm (28.11.1887–1.7.1934). Er nahm 1923 am Hitler-Putsch teil; 1929 Militärberater in Bolivien; 1930 von Hitler als Führer der SA eingesetzt; 1933 Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Wegen angeblicher Putsch-Pläne ließ Hitler Röhm im Zuge einer groß angelegten Mordaktion töten.

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sozialisten hinausdrängten. Als dann Dr. Klotz durch den Wandelgang geführt wurde, waren es nicht mehr fünf, sondern vielleicht fünfzig Abgeordnete, die auf ihn einzuschlagen suchten. Nicht jeder traf, manchen Hieb fingen die Beamten auf. Wer dort geschlagen hat, außer dem Abgeordneten Waitzel, und ob Strasser mitgeschlagen hat, ist nicht festgestellt worden. Das Motiv kann nicht zweifelhaft sein: der Herausgeber der Röhm-Briefe sollte seine »Abreibung« erhalten. Heines und Steegmann haben den Krieg mitgemacht, sind im Felde zu Offizieren befördert, verwundet, mit beiden Eisernen Kreuzen und anderen Ehrenzeichen geschmückt worden. Wegen der Heldentat vom 12. Mai hätten sie keine einzige dieser Auszeichnungen erhalten. Um die Heldentaten vom 12. Mai zu vollbringen, hat sie das deutsche Volk nicht in den Reichstag geschickt. Inquit 14.5.1932

Belastete Belastungszeugen

Der Prozeß gegen die »Angriff«-Redakteure

Die nationalsozialistische Tageszeitung, die das entschlossene Wort »Angriff«38 im Titel führt, möchte den Eindruck erwecken, als sei sie Meisterin im Angriff. Sie müßte das auch sein, es wäre ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Ihr Angriff auf den Polizei-Vizepräsidenten Weiß39 aber enthüllt sich täglich mehr als das Machwerk von Stümpern, und wenn das Blatt sich dessen nicht moralisch schämen sollte, so hätte es Grund, sich der technischen Unzulänglichkeit zu schämen. Bewiesen ist bisher keine der ehrenkränkenden Behauptungen, vielmehr sind sie eine nach der anderen widerlegt worden.40 Aber damit noch nicht genug: Von den drei Hauptbelastungszeugen 38 Zum »Angriff« siehe Fußnote Seite 359. 39 Zu Bernhard Weiß siehe Fußnote Seite 336. 40 Bernhard Weiß wurden von den Redakteuren des »Angriffs« Unkorrektheit und Begünstigung bei der Beobachtung illegaler Spielklubs vorgeworfen.

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Bernhard Weiß und seine Ehefrau; um 1930.

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hat einer, der Kriminalkommissar Greiner, nichts Belastendes vorzubringen gewußt. Einer, der Kriminalkommissar Kanthak, hat sich, wenn man es milde auslegen will, geirrt. Und der dritte, der Makler Bast, ist als Lügner entlarvt worden. Kommissar Kanthak wurde von den angeklagten Redakteuren als Zeuge angeboten dafür, daß er von der Zentrale wegversetzt worden sei, weil er geholfen habe, einen Spielklub in Norderney auszuheben. Er selbst behauptet, dieser Meinung zu sein. Er behauptet es, trotzdem er wohl weiß, daß ihm dienstlich ganz andere Gründe angegeben worden sind, und trotzdem er aus eben diesen Gründen disziplinarisch bestraft worden ist. Es stellt sich heraus, daß der Vizepräsident, der die Bestrafung unterzeichnen mußte, von der Norderneyer Spielklubaffäre überhaupt nichts gewußt hat, daß andererseits die Versetzung ohne seine Mitwirkung durch den Oberregierungsrat Kopp verfügt worden ist. Die Disziplinierung eines Polizeibeamten ist eine Sache des inneren Betriebes; die Oeffentlichkeit braucht sie nichts anzugehen. Nachdem die »Angriff«-Redakteure den Kommissar Kanthak an den Zeugentisch geladen haben, wird seine Verfehlung und seine Buße vor aller Welt kundgetan. Hoffentlich bedankt er sich bei denen, die ihm das eingebrockt haben. Und hoffentlich geht nicht ganz eindruckslos an ihm vorüber die Ritterlichkeit, mit der sein Vorgesetzter Dr. Weiß trotz alledem für ihn eintritt und die Fehler als Kehrseiten seiner Tugenden entschuldigt. Der Makler Bast ist schon aus der vorigen Verhandlung ohne Ruhm hervorgegangen. Jetzt werden noch ein paar Flecke auf seiner Weste bloßgelegt. Unglaubwürdigkeit bezeugt ihm der Vorsitzende selbst. Er wird froh sein dürfen, wenn er aus diesem Prozeß nicht mit einer Meineidsklage hervorgeht. Und damit könnte das Beweismaterial im wesentlichen erschöpft sein; aber die »Angriff«-Redakteure haben noch nicht genug. Einer ihrer Anwälte stellt einen neuen Antrag: auch ein Lokal am Kurfürstendamm, dessen Name noch verschwiegen bleibt, habe für Bauerlaubnis und Schankkonzession gezahlt. Dr. Weiß springt auf: er lege größten Wert darauf, daß die neue Verunglimpfung sofort geklärt werde. Das Gericht wird beraten. Hoffentlich sind die »Angriff«-Redakteure durch ihre Mißerfolge klug geworden und haben sowohl das Material als auch die Zeugen sorgfältiger als bisher auf die Qualität hin geprüft. Inquit 22.9.1932

Justiz

Mein Bekannter, der Vorsitzende So etwas wie ein Gerichtsbericht

Der Justizwachtmeister ruft auf: Angeklagte und Zeugen. Mit ihnen zusammen betrete ich den Saal, setze mich auf den Platz des Berichterstatters und wende meinen Kopf dem Gericht zu. Es thront dort oben und blickt gelassen auf das namenlose Publikum im Hintergrund, auf den armen Sünder, über den es richten soll, und seinen Verteidiger: der Vorsitzende in samtbesetzter Robe, zwei Laienrichter neben ihm, ein Referendar, der erst lernen soll, der Gerichtsschreiber und der Staatsanwalt, ebenfalls in Robe. Wir alle sehen zu ihnen auf, und sie machen sich bereit, ihres hohen, verantwortungsreichen, mit ungeheurer Macht ausgestatteten Amtes zu walten. Den Vorsitzenden kenne ich. Ich kenne ihn nicht als Vorsitzenden oder überhaupt als Richter. Ich habe nicht gewußt, daß er diesen Beruf ergriffen hat. Kaum darf ich sagen, daß ich ihn kenne; ich weiß nur, wer er ist, als bürgerlicher Mensch, und wo er herkommt. Vor langer Zeit, vor mehr als zwanzig Jahren, hatte ich Grund, ihn zu sehen und von ihm zu hören. Ich kannte seine Umstände, seine Familie, seine Eltern und Geschwister. Damals ging er noch zur Schule. Am Meeresstrand sah ich ihn baden und hörte seinen Vater sagen: »Hat er nicht einen schönen Körper?« Es war der Stolz des Vaters, der so fragte. In der Tat, sein Sohn, der Jüngling, hatte einen schönen Körper. Inzwischen ist er ein Mann geworden, sitzt da oben und spricht Recht. Wie man alt wird! Der Vorsitzende beginnt mit der Verhandlung. Er stellt die vorgeschriebenen Fragen, dieselben, die jeder Vorsitzende stellt. Warum ärgere ich

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Gerichtsberichte über größere Prozesse

mich über ihn? Er macht es nicht falsch oder ungeschickt, er, den ich noch als Schüler vor mir sehe. Er verfährt nicht unfreundlich. Dennoch, er ärgert mich! Er hat eine näselnde und gequetschte Art zu sprechen. In seinem Elternhause ist ihm das nicht beigebracht worden. Warum spricht er so? Vielleicht aus Verwunderung darüber, daß er an dieser Stelle sprechen darf, während seine Vorfahren es sich nicht hätten träumen lassen, daß ihr Nachkomme einmal preußischer Richter werden würde? Es ist nicht das einzige, was mich an ihm ärgert. Auf seinem ehrenvollen Platz trägt er eine Sicherheit und Unangefochtenheit zur Schau, die übertrieben wirkt. Natürlich sind ihm die Formen und Formeln geläufig; wenn ich ihn auf seinem Posten auch zum erstenmal sehe, er wird schon jahrelang so fungieren. Aber er spielt sich zugleich als sicher und unangefochten auf. Vor mir? Hat er mich erkannt? Oder vor dem Angeklagten? Der Angeklagte ist ein stattlicher Mensch von 28 Jahren. Ein hübscher Mensch, vielleicht mit einer verdächtigen Neigung zu verfetten. Ein eleganter Mensch, vielleicht von nicht ganz echter Eleganz. Vorbestraft nur mit 10 Mark Geldstrafe wegen Körperverletzung, also unbestraft. Hier sitzt er wegen Nötigung, weil er seiner Braut, in der Meinung, sie habe ihre Zeche nicht bezahlt, die Ohrringe weggerissen haben soll, um sie dem Kellner als Pfand zu geben. Auch die Braut ist stattlich und elegant, viel älter als er, von Beruf Maniküre. Die Anzeige hat sie selbst erstattet, im Zorn des Streites, jetzt tut es ihr leid. Der Auftritt hat sich vor einem Lokal im berüchtigten Bülow-Bogen abgespielt. »Sind Sie Zuhälter?« Der Vorsitzende fragt es mit hochmütiger Vertraulichkeit, wie einer, der die schlechten Menschen aus langer Gerichtspraxis kennt. – »Nein.« – »Sind Sie Mitglied des Vereins Libelle?« – »Ich war es früher.« Der Vorsitzende tauscht belustigte Blicke mit dem Staatsanwalt. – »Die Zeugin ist Ihre Braut?« – »Ja.« – »Ist es wirklich Ihre Braut?« – »Ja.« – »Geht sie auf die Straße?« – »Nein.« Wieder tauscht der Vorsitzende Blicke mit dem Staatsanwalt. Antrag des Staatsanwalts: Ein Monat Gefängnis. Urteil: 50 Mark Geldstrafe. Ueberlegen und unangefochten aus dem Stegreif gibt der Vorsitzende die Urteilbegründung von sich, in glattem Redefluß, gequetscht und nasal, mit übertriebenem Gleichmut, rückgelehnt in seinen Sessel, eingehüllt in seine Robe, aus der Machtvollkommenheit, die ihm der Staat verliehen hat. Warum reizt er mich? Das Urteil ist nicht streng, nicht ungerecht, die Begründung sachlich und abgewogen. Und trotzdem reizt er mich.

Justiz

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Denn ich weiß, wer er ist, und wo er herkommt. Ich weiß, welche Familie ihn umhegt hat, eine hochachtbare und angesehene Familie. Ich weiß, daß er in seiner Jugend keiner Not begegnet ist und keine Mühe gehabt hat, den rechten Weg zu finden. Er, versteht sich, pflegt keinen Umgang mit Leuten, die im Bülow-Bogen verkehren; weitab liegt seine Welt von der Welt der Zuhälter, hoch erhaben sind die Frauen, zwischen denen er einmal gewählt hat, über den Frauen, die auf die Straße gehen. Unbescholten müssen die Richter sein, unangetastet ihr Lebenswandel, unantastbar ihr Ruf. Macht muß der Staat ihnen in die Hände geben. Ich weiß das alles. Ich begreife wohl, warum er seines Amtes waltet, so sicher, so unangefochten, so im Gefühl seiner Ueberlegenheit. Aber ich wünschte, daß er sich ein bißchen bewußt wäre, daß es nicht nur sein Verdienst ist, wenn er richten darf, und nicht nur die Schuld des Angeklagten, wenn er sich richten lassen muß. Und ich habe das Recht, mich zu ärgern, daß ihm nichts von alledem anzumerken ist. Inquit 4.8.1928

Es gibt keine Verbrecher Altern heißt Illusionen einbüßen. Die jüngste Einbuße, die ich erlitten habe, ist der Glaube an den Verbrecher. Glauben Sie noch an Verbrecher? Ohne Zweifel wiegen Sie sich in dem angenehm gruseligen Wahn, in der Tiefe, unterhalb Ihrer Welt, unterhalb der Welt der soliden Kaufleute, der praktischen Aerzte und angesehenen Rechtsanwälte, unterhalb der Welt der Fünf-Zimmer-Wohnungen und der Hausangestellten, dort ganz unten, in dunkler Tiefe, lebten die Rebellen gegen die göttliche Weltordnung. Ohne Zweifel hegen und pflegen Sie die Vorstellung, was wir Gesellschaft nennen, sei ein von den Urvätern gegründetes, von Generation zu Generation verstärktes Bollwerk gegen diese Aufrührer; ein nicht unbedingt verläßliches Bollwerk, das aber im großen und

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ganzen bisher gehalten hat. Und ohne Zweifel füttern Sie Ihr Gruseln mit der Meinung, was sich in den Sälen des Kriminalgerichts abspielt, das sei der Kampf der Menschheit gegen das Böse, ein unablässiger Kampf, dessen tägliche Gefechte und Schlachten täglich neu gewonnen werden müssen. Aber ich für meine Person bin jetzt hinter das Geheimnis gekommen. Und ich will es Ihnen verraten. Es gibt keine Verbrecher. Es gibt Geisteskranke wie den Knabenmörder Haarmann oder den Frauenmörder Landru, die ihre Besessenheit treibt, Menschen in Serien hinzuschlachten, ohne daß ihre kleinbürgerliche Existenz unter den Kleinbürgern dadurch gestört wird. Bei ihnen fehlt es im Kopfe. Dann gibt es welche, deren Wunsch es ist, nicht zu arbeiten und dennoch so zu verdienen, als ob sie arbeiteten, und sogar mehr zu verdienen, als ihnen die Arbeit je einbrächte. Wenn diese Leute Verstand haben, so treiben sie Hochstapelei; wenn sie über Muskeln verfügen, so brechen sie ein. Die Freiheitsstrafe, für den Fall, daß sie gefaßt werden, Gefängnis oder Zuchthaus, stellen sie einfach als Geschäftsrisiko in ihre Rechnung. Sie sind Spezialunternehmer, nicht etwa Bösewichte. Und dabei bilden sie schon die Elite von Moabit. Was sich sonst gegen das Strafrecht vergangen hat, ach Gott, was sind das für ehrbare Kleinbürger. Sie rebellieren nicht, sondern sie verheddern sich nur willenlos in den Maschen des Gesetzes. Häufig aus Not. Bisweilen aus Dummheit. Manchmal aus Leichtsinn. Diebstahl, weil einem das Geld fehlt zum Besuch des Kinos. Raubüberfall, weil einer durchaus ein Fahrrad haben muß. Mord, weil einer nicht vor seinen Vater treten will, ohne die drei Mark, die er ihm schuldet. Und erst die Kreise der Zuhälter, Dirnen und Kuppelmütter! Natürlich, man drückt sich dort etwas anders aus als bei Geheimrats, die Faust sitzt locker, bisweilen (selten!) auch das Messer. Aber es ist alles nicht schlimm gemeint. Freundschaften, Feindschaften, Liebschaften, Eifersüchte, Neid und Mißgunst, Ansehen, Abhängigkeit, Aufstieg und Abstieg, Verstöße gegen die Moral, die beredet und sehr übelgenommen werden – all das gibt es dort so gut wie anderwärts. Wenn einer darauf verzichtete, ehrenhaft zu sein – was könnte er begehen, im Aufruhr gegen Staat und Gesellschaft, was könnte er genießen, außerhalb der sittlichen Weltordnung! So denken Sie, nicht wahr? Aber Sie irren sich. Es gibt keine Verbrecher. Den armen Schelmen, die in Moabit auftreten, fehlt es an Phantasie, an Kraft, an Mut. Und wer davon im Ueberfluß hat, der wird nicht ein Angeklagter auf Grund von Paragraphen des Straf-

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gesetzes, sondern er erfindet sich eine eigene Welt, wie Shakespeare; oder er stürzt die Welt um, wie Napoleon; oder er baut die Welt neu, wie Nietzsche. Inquit 26.8.1928

Die Würde des Gerichts Drei Beispiele

Eifersüchtig wachen die Vorsitzenden darüber, daß die Würde des Gerichts nicht verletzt wird. Sie handhaben zu diesem Zweck die Sitzungspolizei, die ihnen nicht unbeträchtliche Machtmittel gibt. Jeder Einsichtige versteht, daß das Gericht nicht mit sich spaßen lassen darf. Aber es gibt Fälle, in denen man nicht versteht … * Ein alter Mann steht unter der Anklage, einen Totschlag verübt zu haben an einem, den er für einen Liebhaber seiner Frau hielt. Es handelt sich darum, ob er Grund hatte, zu vermuten, daß seine Frau sich mit anderen einließ. Der Angeklagte tut alles Mögliche, um auf seine Richter einen guten Eindruck zu machen. Er bringt sich um vor Bescheidenheit. Aber natürlich drückt er sich im Rahmen seiner Bildung und Erziehung aus. Ueber den Verdacht gegen seine Frau äußert er sich so: »Herr Vorsitzender, wenn Sie nach Hause kommen und finden jeden Abend einen Mann bei Ihrer Frau…« Der Vorsitzende, sehr gereizt: »Lassen Sie gefälligst meine Frau aus dem Spiele. Das ist ungebührlich.« Der Angeklagte weiß nicht, wie ihm geschieht. Er hat nichts anderes im Sinne gehabt, als sich verständlich zu machen. Er entschuldigt sich beflissen. *

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Eine alte Frau steht unter der Anklage des Betruges, übrigens ungerechterweise, da sie in zwei Instanzen freigesprochen wird. Der Sohn als Zeuge gibt sich Mühe, seine Mutter zu entlasten. Nach seiner Vernehmung äußert er sich so: »Herr Staatsanwalt, dann wollte ich noch eine Frage stellen. Ist Ihnen bekannt, daß der Zeuge Soundso …?« Vorsitzender unterbricht empört: »Sie können doch hier nicht Fragen an den Staatsanwalt richten. Was fällt Ihnen ein.« Der Zeuge schweigt betroffen. Der Staatsanwalt, menschlicher als der Verhandlungsleiter, kommt dem Sohne zu Hilfe: »Sie wollen die Glaubwürdigkeit des Zeugen Soundso in Zweifel ziehen?« Zeuge: »Jawohl.« * Vor Gericht hat sich ein Ringnepper zu verantworten. Das Gewerbe besteht darin, daß man Ringe ohne Wert den Leuten heimlich als wertvoll anbietet. Dieser hier wird aus der Untersuchungshaft vorgeführt, und man merkt ihm sofort an, daß er sich vorgenommen hat, vor dem Gericht oder vielleicht mehr noch vor den Zuschauern sich aufzuspielen. Er kommt herein, die Ellenbogen gespreizt, mit wiegendem Gang und pendelnden Armen. Er versucht, in der Anklagebank ungezwungen auf und ab zu gehen. Er begrüßt den medizinischen Sachverständigen als »Onkelchen«. Er antwortet auf die Frage, ob er seine Schuld zugebe: »Icke? I Gott bewahre.« Er spielt Theater und sogar schlechtes Theater. Der Arzt bekundet, daß er ihn ganz anders kenne. Aber es ist immerhin der Irrenarzt, der ihn hat beobachten müssen, und der Angeklagte ist auch früher schon in der Irrenanstalt gewesen. Bis zu seinem 38. Lebensjahr war er gesund und unbescholten. Dann vollzog sich eine Wandlung in seinem Charakter, die ihn ins Verbrechen führte. Vielleicht, nicht sicher, ist eine Schädelverletzung daran schuld, die er durch einen Schlag mit der Bremskurbel einer Straßenbahn abbekommen haben soll. Nicht unzurechnungsfähig, aber psychopathisch und geistig minderwertig, lautet das Gutachten. Nach dem Antrag des Staatsanwalts läßt er sich vernehmen. »Mehr haben Sie nicht?« Und auf die Frage, ob er noch etwas zu sagen habe: »Ich denke ja gar nicht daran.« Wie gesagt, schlechtes Theater. Urteil: 10 Monate Gefängnis, drei Jahre Ehrverlust. Dazu drei Tage Haft wegen Ungebühr. In Untersuchungs-

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haft sitzt er sowieso. Am Ende wird es ihm auf diese drei Tage auch nicht ankommen. * Es gibt Fälle, in denen das Gericht recht daran tut, wenn es sich gegen Ungebühr wehrt. Vielleicht wehrt es sich nicht immer in diesen Fällen. Aber wenn den Parteien offenbar nur die gute Kinderstube oder die Einsicht fehlt, so würde das Gericht leichter darüber hinwegkommen, wenn ihm nicht allzu oft auch etwas fehlte: der Humor. Inquit 20.12.1928

Ein Gefängniswärter erzählt

»Prügeln oder nicht sehen«

Einer der Brüder Saß1, die unter dem Verdacht, den Tresorraub bei der Disconto-Gesellschaft begangen zu haben, verhaftet worden waren, hat nach seiner Freilassung behauptet, er sei von Kriminalbeamten mißhandelt worden. Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren ist jetzt, wie berichtet, eingestellt worden. Ohne daß im Geringsten bezweifelt werden soll, daß sich in diesem Fall die Unschuld der Kriminalbeamten herausgestellt hat, wird es doch von Wert sein, zu erfahren, wie es in Gefängnissen zugeht – und wieso nichts davon zur Kenntnis der Aufsichtsbeamten gelangt. Ich habe die Ehre, einen ehemaligen Gefangenenaufseher unter meine Bekannten zu zählen. Wie er zu seinem Beruf gekommen ist? Nicht etwa aus Neigung, sondern auf dem üblichen Wege: Militärdienst, Kapitulation, Zivilversorgungsschein, Meldung zur Justiz, Abkommandierung ins 1 Franz (1904–1940) und Erich (1906–1940) Sass waren ein bekanntes Einbrecherpaar.

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Gefängnis. Heute ist er ein alter Mann und pensioniert und tut niemand mehr etwas zuleide. Weil man doch gern was redet mit den Leuten, fragte ich ihn eines Tages, ohne mir dabei etwas zu denken: »Na, waren Sie ein milder oder strenger Aufseher?« Und dies ist es, was er mir darauf antwortete: »Wie man’s nimmt. Man wußte ja selber nicht mehr, was man machen sollte, seit das aufgekommen ist mit dem modernen Strafvollzug. Man sollte selber mit den Gefangenen fertig werden, hieß es. Ja, was meinten sie nun damit? Meinten sie, wenn der Gefangene sich etwas zuschulden kommen ließ, man sollte es nicht sehen, oder meinten sie, man sollte ihm selber eine langen? Zum Beispiel, man trat in eine Zelle und fand den Gefangenen oben am Fenster sich festhalten und durch die Eisenstäbe über den Hof weg sich mit einem anderen Gefangenen unterhalten. Das sollte doch nun nicht sein. Früher verwarnte man ihn das erste Mal, und wenn es wieder vorkam, gab man ihm eine tüchtige Tracht Prügel. Aber das wurde doch nun verboten. Wenn man’s aber meldete, dann hieß es, man sollte nicht mit jeder Sache gelaufen kommen, und man müßte verstehen, mit den Gefangenen umzugehen. Also blieb einem nichts anderes übrig: das nächstemal übersah man es.« Anmerkung des Berichterstatters: Entweder prügeln oder nicht sehen, mehr fiel dem ehemaligen Feldwebel nicht ein, und mehr wurde ihm auch von dem modernen Strafvollzug nicht beigebracht. Und so ging seine Erzählung weiter: »Aber manchmal kam es auch anders. Einen hatten wir, der spielte den wilden Mann, tobte in der Zelle umher und zerbrach die Einrichtungsgegenstände. Na, den nahmen wir uns mal her und schlugen ihn windelweich. Es half auch, er tobte nicht mehr. Aber wir hatten doch Angst wegen der Striemen. Sein ganzer Körper war bedeckt, und wenn er das gemeldet hätte, so wäre es uns schlecht gegangen. Gerade in diesen Tagen hieß es denn auch, der aufsichtsführende Richter würde kommen und inspizieren. Also das wurde so gemacht: Der Gefangene wurde unten in die Badezelle gesperrt. Als der Richter an seine Zelle kam und fragte, wo der Gefangene wäre, hieß es, der ist unten und badet. Werde ich ihn unten auch sehen? fragte der Richter. Jawohl, sagten wir, wir kommen bei ihm vorbei. Aber wie der Richter nun weiter gegangen war, da kriegte der Wärter unten ein Zeichen und brachte den Gefangenen herauf und in seine Zelle. Und wie der Richter nach unten kam, da hatte er die Sache mit diesem einen Gefangenen längst vergessen. Und so bekam er ihn nicht zu sehen.

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Aber der Mann wollte doch nun durchaus zum Arzt geführt werden und ihm seine Striemen und blutunterlaufenen Stellen zeigen. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Aber da hatte ich einen Gefangenen, den ich als Kalfaktor verwandte, der sagte zu mir: Machen Sie sich keine Sorgen. Der soll seinen Willen haben. Geben Sie mir einfach Zivilkleider. Dann spiele ich den Arzt. – Und so machten wir es auch. Er zog Zivilkleider an und wartete im Sprechzimmer. Ich brachte den Mann zu ihm, und er gab mir einen Wink, ich sollte die beiden allein lassen. Dann fragte er den Gefangenen, was er hätte. Der fing nun an zu jammern, er wäre von dem Aufseher verprügelt worden. Was! sagte der angebliche Arzt, du willst hier behaupten, du bist verprügelt worden? Und rechts, links, rechts, links gab er ihm ein paar Maulschellen, daß ihm Hören und Sehen verging. Dann rief er mich herein. Wie ich ihn nun in die Zelle zurückbrachte, da fragte ich ihn: ›Na, wat hat der Arzt gesagt?‹ Da fing er an zu weinen und meinte: ›Der haut ja auch.‹[«] »Und sehen Sie«, fuhr mein Bekannter, der pensionierte Gefangenenaufseher, fröhlich fort, »der gerade ist dann mein Bester geworden. Ich machte ihn später auch zum Kalfaktor. Und der gerade hat später am meisten geprügelt. Ich brauchte gar nichts zu sagen. Ich brauchte ihm bloß einen Wink zu geben. Dann konnte ich mich darauf verlassen, daß es besorgt wurde.« So erzählte mein Bekannter. Er erzählte es, ohne sich dabei etwas zu denken, weil er es so erlebt hatte. Und dies ist der Grund, warum geprügelt wird, und warum nichts davon bis zu den Aufsichtsstellen gelangt. Wie zu bessern wäre? Indem nicht Leute gegen ihren Willen zu diesem schweren Dienst kommandiert, sondern Freiwillige geworben werden (wenn es deren genug gibt). Und indem diesen Leuten vor Ausübung ihres schweren Dienstes eine sorgfältige pädagogische und fürsorgerische Ausbildung zuteil wird. Soweit sich überhaupt bessern läßt. Denn das Grundübel liegt darin, daß Menschen unbeaufsichtigt und unbeschränkt Macht über Menschen eingeräumt bekommen, und daß gegen den Mißbrauch von Macht kein Kraut gewachsen ist. Inquit 25.4.1929

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Gerichtsberichte über größere Prozesse

Stehlen oder Betteln

Strafgefangene nach der Entlassung »Ich bin mit 27 Jahren mehr als fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Aus einer Straftat bin ich in die andere gekommen, nicht weil mir der gute Wille oder die moralischen Qualitäten fehlten, ein neues Leben zu beginnen, nein, weil ich keinen Menschen hatte, der mir helfen konnte, weil mir keiner den Sprungstab über den vor jedem Vorbestraften mehr oder weniger breit klaffenden Abgrund reichen konnte oder wollte. Nach meiner Entlassung sah ich mich stets vor die Alternative gestellt: Stehlen oder Betteln … ich habe mich stets ehrlich bemüht, Arbeit zu bekommen … und bin erst dann zu einer strafbaren Handlung geschritten, wenn ich nicht mehr ein noch aus wußte, wenn ich vor Entbehrungen, Müdigkeiten, Verzweiflungen und Qualen halb irrsinnig geworden war.« So steht zu lesen in dem Brief eines Strafentlassenen, abgedruckt in dem Tätigkeitsbericht, den die Berliner Gefangenen-Fürsorge über die Zeit vom 1. Januar 1928 bis zum 31. März 1929 soeben herausgibt. Der Bericht gründet sich auf die Erfahrungen der Zentral-Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege und des Vereins zur Besserung der Strafgefangenen, deren Fürsorgestelle jetzt in dem Bürohaus Wilhelmstraße 13 ihren Sitz hat. An der Spitze des Verwaltungsausschusses steht der Präsident des Strafvollzugsamtes Berlin, Geheimer Oberjustizrat Dr.Finkelnburg, der auch an erster Stelle mit unterzeichnet. In dem Berichtsjahr meldeten sich bei der Fürsorgestelle mehr als 25 000 Ratsuchende. Die praktischen Erfahrungen, die aus dieser erschütternden Zahl von Fällen gewonnen worden sind, gehen im wesentlichen die Fachleute der Gefangenenfürsorge an. Die Gesellschaft aber hat Gelegenheit zu lernen, was sie ihrem Mitmenschen eigentlich antut, indem sie ihn mit einer Strafe belegt. »Die Strafe hebt in Wirklichkeit erst mit der Entlassung an«, steht in demselben Brief, aus dem die oben angeführte Stelle genommen ist. Was beginnt einer, der nach verbüßter Strafe durch das Tor des Gefängnisses auf die Straße tritt? Selbst wenn er den Willen hat, sich der Gesellschaft

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wieder einzufügen, steht er in diesem Augenblick am Rande des Abgrundes, nämlich vor der Gefahr, endgültig in das Verbrechertum abzugleiten. Straffällig geworden ist er infolge einer angeborenen Schwäche seines Willens. Diese Willensschwäche ist noch dadurch verstärkt worden, daß er in der Strafanstalt zwar ohne Freiheit, aber zugleich ohne Verantwortung gelebt hat. Jetzt mit einem Male soll er wieder auf eigene Verantwortung handeln. Kein Wunder, daß er sich die Kraft nicht zutraut. Und es stehen auch schon Helfer bereit, ihn aufzunehmen und ihm Schutz und Hilfe zu gewähren. Es ist das organisierte Verbrechertum, das ihn mit offenen Armen erwartet, unter der einzigen Bedingung, daß er nicht wieder in ein geordnetes Leben der Arbeit zurückkehrt. Gesetzt aber, er überwindet diese Versuchung und beharrt auf dem Vorsatz, Arbeit zu nehmen: wie soll er sie finden? Trifft er, wie gerade jetzt, eine Periode der wirtschaftlichen Depression, also der Arbeitslosigkeit, so wird er früher als der Unbescholtene verzweifeln, von der Furcht gequält, der Arbeitsmarkt sei ihm als Vorbestraftem verschlossen. Und er fürchtet es nicht ohne Grund und nicht nur bei Mangel an Arbeit. Welcher Arbeitgeber will einen Vorbestraften einstellen? Welcher Arbeitnehmer will mit einem Vorbestraften zusammen wirken? Sein Schicksal ist aber nicht zu verheimlichen; denn zum Beispiel in Berlin werden sämtliche Vorstrafen nicht nur im Polizeipräsidium, sondern auch in den Revieren niedergelegt und laufen ihm förmlich nach. Häufig verfügt der Arbeitsuchende über keine anderen Papiere als seinen Entlassungsschein. Derselbe Briefschreiber gesteht: »Ich kann nicht beschreiben, welche Ueberwindung es mich gekostet, wieder und wieder meinen Entlassungsschein, mein einziges amtliches Papier, vorzuzeigen und um Arbeit zu bitten. Vergebens war es stets, denn wenn es nicht hieß: die Stellung ist schon besetzt, dann ersparte man mir oft auch nicht die gemeinsten Demütigungen.« Was hilft ferner die Bewährungsfrist, die nach der Würdigkeit zugesprochen wird, wenn das Gesetz, ohne Rücksicht auf die Würdigkeit, den Vorbestraften als solchen ausschließt? Der Wandergewerbeschein, schlichtestes Handwerkszeug für einen, der sich ohne Mittel sein Brot verdienen will, muß versagt werden demjenigen, der zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt worden ist, wenn seit der Verbüßung noch keine drei Jahre verflossen sind; also gerade in der Zeit, da er ihn am dringendsten braucht. Das Bürgerliche Gesetzbuch befreit im § 831 den Geschäftsherrn bei angerichtetem Schaden von einer Ersatzpflicht nur dann, wenn er bei der Auswahl der bestellten Personen die erforderliche Sorgfalt beobachtet

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hat. Einstellung eines Vorbestraften kann als Vernachlässigung dieser Sorgfalt gedeutet werden. Welcher Geschäftsherr möchte dieses Risiko auf sich nehmen? Und so geraten die Strafentlassenen gar zu häufig auf die Landstraße, auf der sie sich mit Betteln und Stehlen so lange herumtreiben, bis sie wieder gefaßt und wieder abgeurteilt werden. Oder wenn sie schlau sind, so wissen sie die Gefangenenfürsorge und die Wohlfahrtseinrichtungen aller Art, oder vielmehr deren Unvollkommenheit und Uneinheitlichkeit auszunutzen und sich mit immer neuen Unterstützungen von einem Ort in den anderen schicken zu lassen. Dies alles muß man wissen. Dieses ganze Elend muß man sich lebendig vor Augen halten. Ueber dieses schwere Problem muß man nachdenken. Und wenn auch das Rezept zur Heilung heute noch von keinem Arzt verschrieben werden kann, so ist doch schon viel gewonnen, wenn die Gesellschaft sich nicht dabei beruhigt, daß es Gefängnisse gibt, und daß die Verbrecher hineingesperrt werden. Inquit 7.8.1929

Die Schuldigen, die nicht entdeckt worden sind Mißhandlungen auf der Polizeiwache vor Gericht

Da gibt es unter uns einen so harmlosen Verein wie den Arbeiter-SchützenBund. Eines Tages wurde er in einen großen Saal geladen, wo eine Art Volksfest stattfand. Der Arbeiter-Schützen-Bund packte sein Gerät auf einen Handwagen, hängte die Luftbüchsen über die Schultern und zog, der Vorstand an der Spitze, in den Saal. Auf dem Wege wurde das Häuflein von einer Polizeistreife angehalten, der Leutnant fragte, was es hier gäbe, überzeugte sich, daß es sich um eine erlaubte und harmlose Veranstaltung handelte, und ließ den Handwagen mit seinen Begleitern passieren. Das Volksfest verlief in Frieden und Frohsinn, die Schützen schossen nach der

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Scheibe, ließen auch andere schießen und blieben zusammen bis 9 Uhr abends, ohne sich darum zu kümmern, was sonst in der Welt vorging. In der Welt oder wenigstens in Berlin aber ging allerlei vor, die Polizei war unterwegs, um Aufzüge zu verhindern, die Kommunisten waren unterwegs, um der Polizei zum Trotz dennoch Aufzüge zu veranstalten, es gab Zusammenstöße, es kam sogar zu Schießereien, und kurz: es war jener 1. Mai 1929, dessen blutiges Andenken in der Geschichte der Reichshauptstadt mit Trauer fortleben wird. Schließlich war das Volksfest zu Ende, der Arbeiter-Schützen-Bund packte sein Gerät auf den Handwagen, einer zog, zwei schoben, die anderen liefen auf dem Bürgersteig nebenher, und die dazugehörigen Damen folgten. Die Luftbüchsen wurden von den Herren Schützen umgehängt und noch dazu in einem Futteral getragen. Gefährlich war nichts daran. Aber ob es gefährlich aussah, das hing nicht nur von den Schützen ab. Wenn die Gemüter erregt sind, gibt es Paniken und Massenhalluzinationen. Wenn es nicht böse war, so war es bodenlos töricht, grade am 1. Mai mit eingepackten Luftbüchsen durch die Straßen zu ziehen. Sie zogen in die Friedenstraße, legitimerweise; denn dort befand sich ihr Vereinslokal. Aber dort befindet sich auch die Wache des Polizeireviers 82. Ein Mannschaftsauto stand bereit. Der Scheinwerfer entdeckte das heranrückende Häuflein. Man erkannte einen Handwagen, man erkannte umgehängte Gewehre. Schreckensruf: Die Kommunisten kommen bewaffnet! Der Handwagen verwandelte sich in ein Maschinengewehr, die Luftbüchsen in Karabiner. Das Gerücht drang die Treppen aufwärts bis in die Polizeiwache. Die Schützen wurden festgenommen, und im nächsten Augenblick war es geschehen: die im Hausflur, auf der Treppe, in der Wachtstube versammelte Polizeimannschaft fiel mit Gummiknüppeln über sieben Wehrlose her und schlug sie zu Boden. Auf Rettungswachen und in Krankenhäusern wurden später die geschwollenen und blutunterlaufenen Spuren der Schläge und Tritte festgestellt, bei einigen ist die Schädigung heute noch nicht überwunden. Nach anderthalb Jahren verhandelt das Gericht über den Fall. Angeklagt sind ein Polizeiwachtmeister und zwei höhere Offiziere, damalige Vorsteher des Reviers, Polizeihauptmann Alsdorf, und der damalige Leiter der Inspektion, Polizeimajor Mader, jetzt Polizeioberstleutnant und Kommandeur der Schutzpolizei in Bielefeld. Sie wollen gegen den Exzeß eingeschritten sein. Sie haben aber nicht bewirken können, daß die Schuldigen zur Verantwortung gezogen wurden. Denn der eine angeklagte Wachtmeister wird

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zwar von einigen Zeugen beschuldigt, sich an den Mißhandlungen beteiligt zu haben, aber nur mit der Faust, ohne Gummiknüppel. Die Täter sind unentdeckt geblieben. In der Bevölkerung ist die Meinung verbreitet: auf der Polizeiwache wird geprügelt. Weiß das die Polizei nicht? Ist sie gleichgültig gegen diesen Ruf? Wir alle, die wir den Aufbau wollen, wünschen uns eine Polizei, zu der wir ein vertrauensvolles und sogar freundschaftliches Verhältnis haben dürfen. Es hat sich im täglichen Verkehr an den Straßenecken auch schon manche menschliche Beziehung angesponnen. Aber der üble Ruf der Polizeiwache, nämlich wenn man als Festgenommener dahin gebracht wird, droht alles wieder zu verderben. Die Polizei hätte sich selbst einen großen Dienst erwiesen, wenn sie die Schuldigen vor Gericht gebracht hätte, die richtigen, die mit dem Gummiknüppel auf die Arbeiterschützen eingeschlagen haben, und zwar vollzählig. Inquit 25.11.1930

Was kostet ein Menschenleben? Betrachtungen zu einem Freispruch

Drei Nationalsozialisten, die zusammen mit anderen angeklagt waren, bei einer nächtlichen Schießerei in der Naugarder Straße den Tod der beiden Arbeiter Schumann und Selenowski herbeigeführt zu haben, waren vom Schwurgericht des Landgerichts III wegen Raufhandels und unbefugten Waffenbesitzes zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Reichsgericht hob dieses Urteil auf, soweit es den Raufhandel betrifft. Die zweite Verhandlung vor dem Schwurgericht führte, wie in der »Vossischen Zeitung« berichtet worden ist, zur Freisprechung, so daß nur eine Gefängnisstrafe von einem Jahr wegen unbefugten Waffenbesitzes übrig bleibt, die durch

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Untersuchungshaft verbüßt ist. An diesem Freispruch wollen wir nicht vorübergehen, ohne einiges Nachdenken daran zu wenden. Die Tat selbst unterscheidet sich in keiner Weise von den vielen ähnlichen Zusammenstößen, die der schwelende Bürgerkrieg zwischen den beiden radikalen Parteien seit Jahren immer wieder herbeiführt. Auf der einen Seite der Straße geleitet ein Trupp Nationalsozialisten, die irgendwo einen Geburtstag gefeiert haben, irgendeinen ihrer Führer nach Hause. Auf der anderen Seite stehen Mitglieder eines Fußballklubs zusammen. Bei der Begegnung, behaupten die Nationalsozialisten, hätten die Fußballer sich schon angriffslustig gezeigt. Trotzdem nehmen sie ihren Rückweg wieder an ihnen vorbei. Die Fußballer behaupten, ein Nazi habe mit dem Finger auf sie gezeigt. Einer der also Geschändeten geht auf die Gegner zu und fragt, was sie wollten. Alsbald ist die Schlägerei im Gange. Zwei von den Nationalsozialisten ziehen Revolver aus der Tasche, einer knallt in die Luft, einer aufs Pflaster, sogenannte Schreckschüsse. Trotzdem lassen die Fußballer sich nicht schrecken, sondern fallen erst recht über ihre Feinde her. Aus deren Mitte wird noch zweimal geschossen – zwei stürzen getroffen zu Boden, einer ist gleich tot, der andere stirbt im Krankenhaus. Die Anklage lautet auf Totschlag, der Staatsanwalt beantragte nach der ersten Verhandlung bis zu sechs Jahren Zuchthaus. Das Reichsgericht rügte in seiner Rückverweisung zunächst die Begründung des ersten Schwurgerichts, die Nationalsozialisten hätten sich dadurch mitschuldig gemacht, daß sie trotz der erkannten Angriffslust der Fußballeute ihren Rückweg wieder an ihnen vorbei nahmen. Darin hat das Reichsgericht recht. Es kann nicht jemand bloß deshalb, weil er einer Gefahr nicht ausweicht, als mitschuldig gelten. Andererseits verlangt das Reichsgericht nochmaliges Zurückgehen auf den Vorwurf des Totschlags. Endlich wünschte es die Frage geprüft zu sehen, ob die Getöteten nicht vielleicht an dem Raufhandel unbeteiligt gewesen seien, wodurch sich die Tat als fahrlässige darstellen würde. Nach der zweiten Verhandlung war es der Staatsanwalt selbst, der Freisprechung beantragte. Die neue Verhandlung habe ergeben, daß die Angeklagten angegriffen worden seien und sich in Notwehr befunden hätten. Sie habe ferner ergeben, daß die Getöteten sich an dem Angriff beteiligt hätten, so daß auch fahrlässige Tötung ihnen nicht zur Last gelegt werden könne. Das zweite Schwurgericht entschied nach diesem Antrag. Es ist schwer, ein Urteil zu schelten, das sich auf einen neuen Tatbestand stützt. Vielleicht hat das zweite Gericht die Vorgänge gründlicher untersucht oder scharfsinniger gedeutet als die erste Instanz, trotzdem die Umstände

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die zweite Verhandlung deswegen weniger begünstigten, weil inzwischen mehr Zeit verstrichen war. Aber wenn das zweite Gericht glaubte, festgestellt zu haben, daß die Nationalsozialisten angegriffen worden waren und die Getöteten sich unter den Angreifern befunden hatten, so wird der Außenstehende sich damit abfinden müssen. Womit sich aber niemand abfinden kann, der den Willen hat, daß die Staatsgewalt den Landfrieden wieder herstellt und ein für alle Male sichert, das ist die Zubilligung straffreier Notwehr für die Burschen, die mit ihrer Schießerei zwei Menschen getötet haben. Daß die Gutweggekommenen wieder einmal rechts stehen, soll nicht einmal in Betracht gezogen werden, damit die Fragestellung sich nicht verschiebt. Darauf kommt es an, daß kein Blut geflossen wäre, wenn die Nazis keine Schußwaffen bei sich getragen hätten. Angegriffene oder nicht, Notwehr oder nicht, sie hätten ihren Raufhandel mit bloßen Fäusten ebensogut ausfechten können. Wozu trugen sie die Revolver bei sich? Doch wohl, um zu schießen, sobald ihnen jemand in die Quere käme, der ihnen nicht paßte. Mag das Gericht immerhin, auf Grund seiner Feststellungen, nur den Waffenbesitz bestrafen. Aber dann muß das Mitführen von geladenen Schußwaffen so hart bestraft werden, daß anderen die Lust vergeht, sich dieser Gefahr auszusetzen. Und wenn durch das Mitführen von Schußwaffen und durch nichts anderes der Tod von Menschen herbeigeführt worden ist, so muß daraus noch einmal eine schwere Verschärfung der Strafe abgeleitet werden. Zwei Erschossenen und dafür ein Jahr Gefängnis, das bedeutet, daß ein Menschenleben so gut wie nichts mehr kostet. Inquit 10.6.1931

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Sondergericht2 Das Berliner Sondergericht hat als erstes Urteil eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren wegen schweren Landfriedensbruches aussprechen müssen. Die politische Bedeutung dieses Urteils haben wir im Hauptblatt zu würdigen versucht.3 Hier schildert unser Gerichtsberichterstatter unter dem Eindruck der Verhandlung die menschliche Seite des Spruchs. Die erste Sitzung eines Berliner Sondergerichts ist vorüber. Eine Serie anderer Sitzungen steht bevor. Wir werden uns daran gewöhnen müssen. Noch haben wir uns nicht daran gewöhnt. Die zehn Jahre Zuchthaus, mit denen als Ergebnis der ersten Sitzung ein junges Menschenleben so gut wie vernichtet worden ist, ohne die Möglichkeit eines Rechtsmittels, unwiderruflich, sind uns in die Glieder gefahren. »Verordnung des Reichspräsidenten gegen den politischen Terror« – dabei braucht man noch nicht viel zu empfinden, wenn man sich auch allerlei denken mag. Was sie wirklich bedeutet, wird man erst mit Entsetzen gewahr, wenn man sieht, wie ein lebendiges Gericht sie auf einen lebendigen Menschen anwendet. Den es hier getroffen hat, kann man als Typ nicht einfach ablehnen. Er zeigte sich in der Verhandlung, wenigstens bis das vernichtende Urteil auf 2 Nachdem der Reichspräsident am 9. August 1932 eine Notverordnung gegen politischen Terror erlassen hatte, wurde unter dem gleichen Datum von der Reichsregierung eine Verordnung über die Bildung von Sondergerichten erlassen, die bis zum 21. Dezember 1932 gültig war. Verordnung des Reichspräsidenten gegen politischen Terror. Vom 9. August 1932, RGBl., I, 1932, Nr. 54 v. 9.8.1932, S. 403-404. Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten. Vom 9. August 1932, RGBl., I, 1932, Nr. 54 v. 9.8.1932, S. 404-407. Verordnung der Reichsregierung über die Aufhebung der Sondergerichte. Vom 19. Dez. 1932 (wirksam zum 21. Dez. 1932), RGBl., I, 1932, Nr 80 v. 20.12.1932, S. 550. 3 Siehe: Zehn Jahre Zuchthaus. Das erste Urteil des Berliner Sondergerichts, in: Vossische Zeitung, Nr. 407 v. 25.8.1932, S. 1.

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ihn niedersauste, zwar von jener unbefangenen Selbstsicherheit, die unter den Jugendlichen von heute der Ton des Tages ist, aber man durfte ihn weder für geistig beschränkt, noch für sittlich entartet halten. Er behauptete von sich, daß er zu keiner Partei gehöre, daß er in Versammlungen aller Richtungen Gast gewesen sei und sich dasjenige, was ihm einleuchtete, zugeeignet habe, ohne sich, aus politischer Unerfahrenheit, schon entscheiden zu können. Man wird zugeben: unter den Fanatikern, mit denen sonst die Gerichte sich zu beschäftigen pflegen, eine billigenswerte Ausnahme. Uebrigens mag er ruhig seine Parteilosigkeit aus Gründen der Verteidigung übertrieben haben. Er leugnete nicht gewisse Sympathien auch zu den Nationalsozialisten, die ihm nur vergangen seien, seitdem er wisse, daß fünf Nationalsozialisten als Zeugen gegen ihn auftreten, wie er sich ausdrückte: einen Meineid einrühren wollten. Sie traten in der Tat gegen ihn auf und bezeichneten ihn als denjenigen, der bei dem nächtlichen Tumult in der Rigaer Straße geschossen habe. Darf er damit als überführt gelten? Das Gericht nahm für sich das Recht in Anspruch, die Glaubwürdigkeit jedes einzelnen Zeugen unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit abzuschätzen, und niemand wird ihm dieses Recht bestreiten. Hält man also mit dem Gericht alle Belastungszeugen für glaubwürdig in dem Sinne, daß sie die Absicht hatten, die Wahrheit zu sagen, so bleibt immer noch die Frage, ob sie nicht einem Irrtum zum Opfer gefallen sein können. Das Wiedererkennen eines bestimmten Menschen aus einer Menge, noch dazu in einer nächtlichen, schlecht beleuchteten Straße, noch dazu in der Aufregung einer Schießerei, wird immer unsicher bleiben. Die Suggestion, derjenige, den man hat, sei auch derjenige, den man haben wolle, ist oft genug verhängnisvoll wirksam geworden. Mag man sich immerhin damit abfinden, daß gegen den schleichenden Bürgerkrieg, unter dem wir seit Jahren leiden, die schärfsten Maßnahmen angewendet werden müssen, mag man es also als gerechtfertigt ansehen, daß der junge Mensch, wenn er geschossen hat, auf zehn Jahre ins Zuchthaus gesperrt wird, obwohl durch seinen Schuß niemand verletzt worden ist. Aber ist es über jeden Zweifel gewiß, daß er geschossen hat? Die Möglichkeit eines Fehlspruchs beunruhigt den Beobachter der Strafgerichte auch sonst. Wieviel mehr bei einem Verfahren, das fast aller Sicherungen zum Schutze des Angeklagten entkleidet worden ist. Der Verurteilte brach in Krämpfen zusammen. Seine Mutter, die wehklagend aus dem Zuschauerraum zu ihm hinstrebte, erreichte ihn nicht mehr: die Tür hatte sich schon hinter ihm geschlossen. Wieder einmal ist ein uner-

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wachsener Mensch irregegangen in einem Staat, den von den Erwachsenen um ihn her die einen in Unordnung gebracht haben, die anderen nicht in Ordnung zu bringen wissen. Inquit 25.8.1932

Wer darf schwören?

Vor der Entscheidung des Berliner Sondergerichts Mit der Frage, welche Zeugen vereidigt werden sollen und welche nicht, ist das Sondergericht an der gefährlichsten Stelle seines Weges angelangt; und zwar nicht nur dieses Berliner Sondergericht, das über die blutigen Vorfälle in der Röntgenstraße4 entscheiden soll, sondern das Institut der Sondergerichte5 zur Bekämpfung des politischen Terrors überhaupt. Setzen wir alle Bedenken über das Schnellverfahren, über Wegfall der Voruntersuchung, der Laienbeisitzer, der Berufungsinstanz und anderer Rechtsgarantien beiseite, so darf doch als gewiß gelten, daß der Wille der Reichsregierung bei Erlaß der Notverordnung nicht gewesen ist, überhaupt strenge Strafen verhängen zu lassen, sondern die Schuldigen zu treffen. Voraussetzung auch der Sondergerichte ist, daß die Schuldigen sich ermitteln lassen. Aufrechterhalten aus der geltenden Strafprozeßordnung sind auch die Vorschriften über den Eid. Zeugen, die der Teilnahme verdächtig sind, dürfen nicht vereidigt werden. Alle anderen Zeugen, wenn sie nicht mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert sind, müssen vereidigt werden. Ueber eine beschworene Aussage sich hinwegzusetzen, so lange nicht ihre Unwahrheit bewiesen ist, wird kein Gericht den Mut oder die Leichtfertigkeit aufbringen. Der Zeugeneid also wiegt überaus schwer. Was ist er wert? 4 Siehe Seite 315 ff. 5 Zu den Sondergerichten siehe Seite 387, Fußnote 2.

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Man dringt nicht in die Seelen ein, wenn man das Handeln der Menschen aus niedrigen Motiven zu erklären sucht. Im Gegenteil: man muß sich fragen, welche Motive, die als edel gedeutet werden können, das Handeln bewegen. Es liegt in der Natur dieser politischen Prozesse, daß die Zeugen entweder der radikalen Rechten oder der radikalen Linken angehören oder nahestehen. Beinahe jede Aussage hat den Erfolg, dem politischen Freunde zu nützen und dem politischen Gegner zu schaden. Man braucht keineswegs vorauszusetzen, daß es irgendeinem Zeugen leicht fällt, unter seinem Eid die Unwahrheit zu sagen. Gewiß besteht fast nirgends der böse Wille, durch ein beschworenes falsches Zeugnis den Gegner hineinzulegen. Ganz anders aber liegt es, wenn es sich darum handelt, den Kameraden herauszureißen. An diesem Punkt hat die Erziehung, besser die Irreführung der organisierten Jugend ihre verhängnisvolle Wirkung geübt. Die Entscheidung: diese Partei darf schwören, und diese Partei darf nicht schwören, ist fast schon eine Vorwegnahme des Urteils, und zwar eine willkürliche. Wie kann geholfen werden? Mit der Einsetzung der Sondergerichte sind an dem geltenden Recht so viele Aenderungen vorgenommen worden, daß es auf eine mehr nicht ankommt. Eine aber erweist sich jetzt als notwendig: Die Sondergerichte sollten von dem Eideszwang befreit werden. Die Kammern, die in der Praxis einen großen Teil der Ermittlungen, die eigentlich im Vorverfahren erledigt werden müßten, durch die Hauptverhandlung nachzuholen haben, sollten die Aussagen ohne Eid nach eigenem Ermessen verwerten dürfen. Jedesmal, wenn der Bürgerkrieg ein neues Opfer gefordert hat, ruft die verletzte Partei nach rascher Sühne. Sie fordert Strafe, strenge Strafe, Todesstrafe – für den Gegner. Die Sondergerichte könnten sich dadurch verleiten lassen, lieber ein falsches Urteil zu fällen als gar keines. Gegen diese Versuchung hilft nur der unbeirrte Wille zur Erforschung der Wahrheit. Der Zeugeneid zwischen politischen Gegnern eignet sich nicht mehr dazu. Inquit 1.10.1932

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Die Kaffee-Einladung

Bedenkliches Urteil des Sondergerichts

»Die Angeklagte Struck wird wegen Transportgefährdung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu 1 Jahr 6 Monaten Zuchthaus verurteilt.« Spruch des Sondergerichts unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Tolk. Es gibt Gründe zu der Befürchtung, daß es ein Fehlspruch ist. Am 6. November, dem Tage der Reichstagswahl, einem Sonntag also, noch während des Groß-Berliner Verkehrsstreiks, wurde in der Potsdamer Straße, nicht weit von der Ecke der Grunewaldstraße, eine Straßenbahn der Linie 74, die in der Richtung auf die Stadt zu fuhr, von einem Steinwurf getroffen. Es war eine der ersten Bahnen, die sich wieder in den Verkehr trauten; der Wagen war überfüllt, Polizisten begleiteten ihn. Durch den Steinwurf ging eine Fensterscheibe in Trümmer, eine Frau wurde am Kopf verletzt. Die verurteilte Frau Struck soll diesen Stein geworfen haben. Wer ist Frau Struck? Keine von den proletarischen Frauen, wie man sie sonst im Zusammenhang mit den Streikunruhen vor dem Sondergericht antrifft. Eine eigenartige Erscheinung, nach der Kleidung, dem gefaßten Benehmen und dem schwer zu deutenden Gesicht. 35 Jahre alt, von deutschen Eltern in Rußland geboren, seit 1918 in Berlin, um zu studieren. Die Absicht läßt sich nicht verwirklichen. Ehe, zwei Kinder, Scheidung. Allerlei Arbeit, seit 1 ½ Jahren erwerbslos. Jetzt war sie im Begriff, sich eine neue Existenz als Kinderpflegerin zu schaffen. Die Leiterin des Seminars stellt ihr das Zeugnis aus, sie sei pädagogisch sehr befähigt und verstehe es, mit kleinen Kindern liebevoll, mit größeren kameradschaftlich umzugehen. Von politischen Gesprächen habe sie sich ferngehalten. Ein ähnliches Zeugnis stellt ihr eine Werklehrerin aus, die sie bei praktischer Wirksamkeit hat beobachten können. Nach ihrer eigenen Darstellung wurde Frau Struck an jenem Sonntag von ihrer Schwester zusammen mit einer Freundin zum Kaffee erwartet. Die beiden trafen sich daher an der Lützowstraße in der Nähe der Wohnung der Frau Struck und machten sich zu Fuß auf den Weg nach Friedenau. Diese

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Kaffee-Einladung bezeugen sowohl die Schwester als auch die Freundin. Als sie hinter dem Kleist-Park den Rummelplatz erreichten, verloren sie einander aus dem Gesicht. Frau Struck überschritt den Fahrdamm, stellte sich drüben auf und hielt Umschau nach ihrer Begleiterin. Dabei sah sie einen Bekannten auf dem Rade in Richtung Schöneberg vorbeifahren, rief ihn an und winkte ihm zu. Der Bekannte ist als Zeuge zur Stelle und bestätigt, daß er den Ruf gehört und die winkende Frau Struck gesehen hat. Ehe er aber den Gruß erwidern konnte, schob sich ein Straßenbahnwagen dazwischen; es ist der verhängnisvolle Wagen, den der Stein getroffen hat. Ein Zeuge ist durch den Ruf aufmerksam geworden, hat die Frau stehen und winken sehen und hat das Klirren der Fensterscheibe gehört. Er ist also imstande, auszusagen, daß er sie vom Zuruf bis zum Klirren im Auge behalten hat und daß der Stein von ihr nicht geworfen worden sein kann. Andererseits gibt es Zeuginnen, die gesehen haben, wie geworfen worden ist, nämlich aus einer Gruppe von jungen Leuten hinter der Frau. Und sonach wäre gar kein Zweifel an Frau Strucks Unschuld, wenn es nicht zwei Belastungszeugen gäbe: einen Polizisten, der zum Schutz des Wagens auf dem Vorderperron stand, und einen Polizeimajor, der als Fahrgast sich ebendort befand. Sie sagen übereinstimmend aus, sie hätten gesehen, wie eine Frau mit roter Mütze abseits von dem Straßengewühl an der Bordschwelle gestanden, den Arm erhoben und den Stein geworfen habe. Können sie sich irren? Sie können sich irren! Die Frau, die dort allein und weithin sichtbar stand, durch die Farbe der Mütze noch hervorgehoben, mußte ihnen auffallen, auch wenn sie nur dagestanden hätte. Sie fiel erst recht auf, als sie den Arm hob – wie sie es erklärt und wie der Zeuge bestätigt: um zu winken. Unglücklicherweise in diesem Augenblick flog der Stein, und man hörte das Klirren der Scheibe. Es ist kein Wunder, ja, es geschah beinahe mit Notwendigkeit, daß die Polizeibeamten das Bild in Verbindung brachten mit dem Gehörseindruck, daß sie den erhobenen Arm für die Ursache des Steinwurfs hielten, und daß sie meinten, den Wurf selbst gesehen zu haben; eine Verwechslung von Schlußfolgerung und Wahrnehmung, wie jeder Taschenspieler sie kennt und zur Täuschung seines Publikums ausnutzt. Angesichts der Tatsache, daß der Steinwurf weder zu der Person der Frau Struck noch zu ihrer Situation paßt, angesichts der Möglichkeit, daß das Attentat von anderen, die dabei gesehen worden sind, verübt sein kann, hätte das Gericht diese Erklärung der scheinbar zuverlässigen Beobachtung der beiden Belastungszeugen in Betracht ziehen müssen. Denn die These

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des Staatsanwalts: nur die Polizeibeamten seien glaubwürdig, die anderen Zeugen unglaubwürdig, kann ja nicht im Ernst verfochten werden; zumal da erst vor wenigen Tagen dasselbe Gericht zwei Nationalsozialisten freigesprochen hat auf Grund der Entlastungen durch vier andere Nationalsozialisten und Sturmkameraden, entgegen den Aussagen von fünf Polizeibeamten. Wenn die Verurteilte unschuldig sein sollte, so ist sie also von Hause weggegangen, um bei ihrer Schwester einen harmlosen Sonntagnachmittagskaffee zu trinken, und ist, statt dort einzutreffen, ins Zuchthaus gelangt, wo sie 1 Jahr 6 Monate eingesperrt bleiben soll. Vielleicht waren solche Irrwege nicht möglich, als es noch keine Sondergerichte gab. Inquit 2.12.1932

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Zwei Giftmischerinnen vor Gericht Ein Kriminal- oder ein Sexualfall?1 (März 1923)

Zwei Giftmischerinnen Gattenmordprozeß in Moabit

Man liest die Anklage und denkt – beinahe hätte man gesagt: und hofft –, daß die Täterinnen irgendwie das Kaliber ihrer Taten haben werden. Aber was sich vor dem Schwurgericht entfaltet, ist Kleinbürgertum in seinen engsten Formen. Klein und unscheinbar die beiden Frauen, die auf Abwegen der Liebesleidenschaft bis zu Mord und Mordversuch gelangt sind, ärmlich und kümmerlich der Haufe von Menschen aus Lichtenberg, der in den Saal strömt, um für oder wider Zeugnis abzulegen. 1 Mit dem sensationellen Prozess gegen die beiden Frauen Ella Klein und Margarete Nebbe, der vom 12. bis 16.3.1923 vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit verhandelt wurde, beschäftigten sich – außer der Berliner Presse – auch Joseph Roth, Robert Musil und Alfred Döblin. Roth, Joseph: Die Frauen Nebbe und Klein. In: Berliner Börsen-Courier, 17.3.1923. Ders.: Werke I, das journalistische Werk 1915–1923. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 952–954; Musil, Robert: Das verbrecherische Liebespaar. Die Geschichte zweier unglücklicher Ehen. (20.3.1923) In: Ders.: Gesammelte Werke, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Reinbek: Rowohlt Verlag 1978, S. 669–671. Alfred Döblin schrieb über den Fall die Novelle, »Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord«, die 1924 im Verlag die Schmiede, Berlin erschien.

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Unter den Angeklagten macht Frau Klein, also diejenige, deren Gift tödlich gewirkt hat, der Anteilnahme am wenigsten Schwierigkeiten. Zwar, daß in diesem gelassenen Weibe, das ohne sichtbare Erregung, überlegt und beherrscht, aussagt, Raum sein soll für die Zärtlichkeiten einer überschwänglichen Frauenfreundschaft, würde man nicht vermuten. Aber sie gibt sich natürlich und unverstellt, gesteht die Darreichung von Gift ein und erklärt ihr Verbrechen damit, daß sie besessen gewesen sei von der Leidenschaft, sich von ihrem Mann zu befreien. Freilich versucht sie die Schuld daran dem Toten zuzuschieben und den Vorsatz der Tötung abzuleugnen. Wenn das, was sie über ihre Ehe erzählt, auch nur zum Teil sich als wahr erwiese, so hätte sie damit die Giftmischerei als einen Akt der Verzweiflung zum mindesten begreiflich gemacht. Nach ihrer Schilderung war sie in die Hände eines unflätigen Rohlings geraten, der die Alltäglichkeit ihres Ehelebens nicht nur mit Schlägen und Schimpfworten zerrüttete, sondern – was schlimmer ist – sie mit allen Ekelhaftigkeiten der Sexualpathologie besudelte. Gibt es keine Rettung aus solcher Hölle? Sie hat versucht, ihm davonzulaufen, und sich zu ihren Eltern nach Braunschweig geflüchtet. Merkwürdigerweise ist sie zu ihrem Mann zurückgekehrt, wie sie behauptet, unter der Einwirkung ihres Vaters. Sie hat auch die Scheidung beantragt, aber nicht durchgesetzt, und sich wieder mit dem Gatten versöhnt. Erst nachdem diese Versuche, sich zu befreien, fehlgeschlagen sind, will sie auf den verzweifelten Ausweg verfallen sein, den sie dann gewählt hat. Einen weit peinlicheren Eindruck macht die zweite Giftmischerin, Frau Nebbe, mit ihrer Mutter. Es ist deutlich eine Familie von Hysterikern. Beide zeigen sich fassungsloser als die viel schwerer belastete Frau Klein, und namentlich die Mutter verliert zeitweise jeden Halt. In der erotischen Verbindung der beiden jungen Frauen ist Frau Nebbe zugestandenermaßen die Führende und Verführende gewesen. Sie leugnet ihre Tat. Sie will auch zum Verbrechen der anderen nicht getrieben, sondern vor ihm gewarnt haben. Den Richtern spielt sie guten Eindruck vor. »Ich bin von meinen Eltern zu treuer Pflichterfüllung, Gottesfurcht und Vaterlandsliebe erzogen worden und bewahre diese Eigenschaften noch jetzt«, so fließt es ihr mit salbungsvoller Beredsamkeit von den Lippen im Strome ihrer zusammenhängenden Aussage, die wie vorgelesen wirkt. Auch sie weiß von dem Martyrium ihrer Ehe zu erzählen. Merkwürdig ist, daß die Erfahrungen der beiden Frauen mit dem Mann sich so stark ähneln, merkwürdig, daß Frau Klein während ihres Eheschei-

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dungsprozesses von den Mißhandlungen, auf die hin sie die Scheidung wahrscheinlich leicht hätte durchsetzen können, nichts gesagt hat, merkwürdig, daß jede der beiden Freundinnen behauptet, ihr seien von dem Manne der anderen unzüchtige Anträge gemacht worden; merkwürdig endlich, daß in dem Briefwechsel zwischen ihnen von den Unerträglichkeiten des abnormen Eheverkehrs nicht die Rede ist. Dieser Briefwechsel bildet eine psychologische Sonderbarkeit für sich. Im Laufe eines halben Jahres sind nicht weniger als sechshundert solcher Schriftstücke gewechselt worden, also weit über das Bedürfnis der Mitteilung hinaus. Auf sie vor allen Dingen stützt sich die Mordanklage; denn in ihnen soll von der Tat, dem Plan, der Ausführung und dem fortschreitenden Erfolg immer wieder die Rede sein. Das Gericht hat zwei Verhandlungstage, heute und morgen, für ihre Verlesung festgesetzt. Kleinbürger: die Mutter des Ermordeten, für die es von Anfang an feststeht, daß ihrem Sohne Gift gegeben worden sei, die selber glaubt, daß ihr in einer Tasse Kaffee Gift gereicht werden sollte, und die daher nie mehr eine Speise aus der Hand ihrer Schwiegertochter angerührt hat, unbesonnen und redselig in dem Bestreben, von ihrem toten Sohne das Beste auszusagen, schwer beim Thema zu halten und leicht auf Ungenauigkeiten zu ertappen; der am Leben gebliebene Mann der anderen Giftmischerin, von Beruf Schofför, bereits früher in manche dunkle Affäre verwickelt, mit ausweichenden Antworten, wieder und wieder vom Vorsitzenden und Verteidiger zur Wahrheit ermahnt und vor dem Meineid gewarnt; die alte Kartenlegerin, von der Frau Nebbe ihr unwirksames Gift bezogen haben soll, ein gebücktes Weiblein, wie aus dem Märchen, das von einer Begleiterin geführt, gestellt und gesetzt werden muß, das nichts weiß, sich nicht erinnert, nichts gesehen und nichts getan hat. Und so weiter die lange Reihe der Zeugen. Vielleicht, daß aus den vorgelesenen Briefen der Freundinnen eine reinere Flamme lodert. gol.2 13.3.1923

2 Als Goldstein über den Giftmord-Prozess berichtete, war er noch nicht Gerichtsberichterstatter, sondern Lokalredakteur an der »Vossischen Zeitung«.

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Das Urteil gegen die Giftmischerinnen Das Urteil im Giftmordmordprozeß Klein-Nebbe wurde gestern abend nach fünftägiger Verhandlung gefällt. Es lautet: Die Angeklagte Klein wird wegen Totschlags zu vier Jahren Gefängnis, die Angeklagte Nebbe wegen Beihilfe zu 1 Jahr 6 Monaten Zuchthaus verurteilt. Den beiden Angeklagten werden je neun Monate der Untersuchungshaft angerechnet. Der Angeklagten Klein werden die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von sechs Jahren, der Angeklagten Nebbe auf die Dauer von drei Jahren aberkannt. Die Angeklagte Riemer wird freigesprochen. Freundinnen Wenn ein schweres Eisenbahnunglück geschehen ist, so werden pflichtgemäß sorgfältige Untersuchungen über die Ursachen angestellt. Gewöhnlich kann man dann hinterdrein lesen, daß zu dieser Wirkung eine ganze Reihe von verhängnisvollen Umständen zusammentreffen mußte. Hätte nur ein einziges Glied in der Schicksalskette gefehlt, so wären die beiden Züge nicht zusammengestoßen, und die vielen toten und verstümmelten Menschen wären noch unversehrt und am Leben. Ist die kleine zierliche Tischlerstochter Elli Thieme aus Braunschweig, die seit ihrer Verheiratung Frau Klein heißt, ihren Anlagen nach eine Verbrecherin? Sie ist geboren und aufgewachsen in einem soliden Handwerkerhaus der kleinen Stadt unter dem patriarchalischen Regiment eines strengen, allzu strengen Vaters. Die ihr nahestehen, schildern sie als einen intellektuell zwar nicht sehr entwickelten, aber harmlosen, lenksamen und liebebedürftigen Menschen. Der persönliche Eindruck im Gerichtssaal bestätigt dieses Zeugnis, auch die allzu lange festgehaltene Kindlichkeit des Aussehens und Wesens. Ihr ist gewiß nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie sich einmal wegen des schwersten Verbrechens, das es unter Menschen gibt, wegen heimtückischer Ermordung des eigenen Gatten durch Gift, würde verantworten müssen. Welches ist die unheilvolle Verknüpfung von Umständen,

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die dieses Weib so weit aus seiner natürlichen Bahn geschleudert haben und durch deren grausames Zusammenwirken der Giftmord zustande gekommen ist? Liebesheirat des menschenunerfahrenen Mädchens. Sie kommt dabei zwar aus der Provinz nach der Hauptstadt, aber sie bleibt in ihrer Sphäre: die Tischlerstochter hat sich einen Tischlergesellen erwählt. Warum sollte das Heim der Neuvermählten nicht ein Himmel werden? Es dauert nur wenige Wochen, und schon weiß die Frau, daß es die Hölle ist. Wahrscheinlich hat sie vorher nicht geahnt, daß es dergleichen gibt, und vielleicht hat sie dann nicht gewußt, ob das, was ihr widerfuhr, allgemein männlich ist oder nur ihrem Scheusal von Mann anhaftete. Allen ihren Bekannten fällt die Veränderung auf. Daß sie von der Ehe enttäuscht sei, gesteht sie den Allernächsten, vor allem in verzweifelten Briefen nach Hause. Was sie eigentlich in ihren Nächten erlebt, bringt sie nicht über die Lippen. Endlich reift aus der Verzweiflung ein Entschluß: sie flüchtet ins Elternhaus. Aber der Vater, dem klare Tatsachen nicht mitgeteilt werden und der nicht feinfühlig und nicht klug genug ist, um das Unausgesprochene zu sehen, jagt sie mit der Autorität, die er in seinem Hause genießt, zum Gatten zurück und pflanzt vor das rettende Elternhaus wie einen Engel mit dem Flammenschwert den harten Befehl: »Wage dich nicht noch einmal nach Hause«. Inzwischen hat der Mann Besserung gelobt und mit der Gläubigkeit ihres infantilen Wesens hat sie die Besserung für möglich gehalten. Es geht ein paar Tage, dann wird sie aufs neue durch den Kot geschleift. Nach Monaten ein zweiter Entschluß: Flucht zu Bekannten und Einleitung der Ehescheidung. Sie braucht nur zu gelingen, so war noch immer alles Schlimme zu verhüten. Statt dessen kann sie sich wieder nicht überwinden, ihrem Anwalt die Hauptargumente gegen den Gatten anzuvertrauen. Der Vater verlangt, der Ehemann droht – sie nimmt die Scheidungsklage zurück. Diesem armen, unentwickelten Gehirn muß es so vorkommen, als ob es keinen Ausweg gibt aus der Kloake, die mit dem Namen Ehe geschändet wird. In diesen verhängnisvollen Augenblick fällt die Bekanntschaft mit ihrer Mitangeklagten Grete Nebbe, geb. Riemer. Frau Nebbe, deren Vergehen juristisch viel leichter ist als das ihrer Freundin, trägt moralisch unzweifelhaft die größere Schuld und ist menschlich die undurchsichtigere Erscheinung. Auch sie keine Frau von Kaliber; aber auch sie nicht eine Verbrecherin der Anlage nach. Schwächliches Kind, schwere Krankheiten in früher Jugend, alkoholischer Vater, überzärtliche Mutter. Der Krieg zerrüttet die wirtschaftlichen Verhältnisse,

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man übersiedelt aus dem gesunden Vorort in eine kleine Etagenwohnung in Lichtenberg. Kriegsverlobung mit einem wenig gekannten Mann und Kriegstrauung. In das immerhin behagliche Heim von Mutter und Tochter zieht nach Friedensschluß ein gänzlich unbemittelter und arbeitsloser Mann. Die Sorgfalt der Frau hält ihn über Wasser, bis er als Schofför Verdienst findet. Vielleicht nicht ganz einwandfreien Verdienst; die Dinge sind nicht recht geklärt. Statt des Dankes, den die junge Frau beanspruchen darf, erntet sie Brutalitäten. Aus der kleinen Wohnung, in der drei Personen vielleicht zu viel sind, soll die Schwiegermutter hinausgedrängt werden. Auch in diesem Fall bringt das Schlafzimmer Enttäuschungen und Ekel. Frau Nebbe, entschlossener als Frau Klein, wählt den Ausweg des Selbstmordes. Nur die Dazwischenkunft der Mutter verhindert die Ausführung. Der psychologische Moment, in dem sie die Freundin kennen lernt, ist für sie genau derselbe wie für jene. In der Enttäuschung der Ehe und in dem Ekel vor dem Ehemann finden sie sich. Aus der Freundschaft der Schicksalsgenossinnen wird rasch die erotisch leidenschaftliche Liebe von jener Art, der die Bewohnerinnen der Insel Lesbos den Namen gegeben haben. Was diesen Prozeß aus der Reihe der forensischen Vorgänge heraushebt, ist der Umstand, daß hier mit einer Kraßheit wie kaum jemals vorher eine gesellschaftliche Erkrankung unserer Zeit in ihrer zügellosen Stärke und in ihren gefährlichen Folgen vor die Oeffentlichkeit hingestellt worden ist: denn als die eigentlich Schuldige an Mord und Mordversuch stand vor den Geschworenen die Freundschaft der beiden Frauen. Erst die Leidenschaft dieser Liebe hat auch die Leidenschaft, sich aus den beiden Ehen freizumachen und zueinanderzukommen, bis zu jener Stärke gesteigert, daß die klare Ueberlegung getrübt war und weder das Verbotene noch das Gefährliche und daher maßlos Törichte des Beginnens überblickt wurde. Die Tat, über lange Wochen hin und also scheinbar mit kalter Ueberlegung ausgeführt, ist tatsächlich im erotischen Rausch begangen worden. Dafür zeugen die aufgefundenen 600 Briefe. Sie entspringen keinem Mitteilungsbedürfnis; denn es sind ihrer an jedem Tag mehrere geschrieben worden, während man sich noch dazu sah und sprach. Dieses fortwährende exaltierte Bekennen der liebenden Zusammengehörigkeit gewährte offenbar für sich selbst der Schreiberin wie der Empfängerin Reiz und Befriedigung, und zweifellos ist die Niederschrift der Vergiftung in allen ihren Phasen nicht anders zu werten. Frau Nebbe, die zugestandenermaßen diejenige ist, die zu dem Liebesbund geführt und verführt hat, ist im Briefwechsel auch diejenige, welche zum Giftmord rät. Offenbar berauschte es sie, sich die Freundin in dieser

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verwegenen Rolle vorzustellen, und offenbar berauschte es die Freundin nicht minder, sich der anderen bis zum Verbrechen des Mordes willfährig zu zeigen. Gegenüber dem Eifer, mit dem die schwache, zarte, hingebungsvolle Frau Klein von der größeren, herberen, herrschenden Frau Nebbe zur Beseitigung des Ehemanns Klein gespornt wird und sich spornen läßt, wirkt die entsprechende Tat der Frau Nebbe, die ja keinen Erfolg gehabt hat, als eine bloße Spielerei; eine Geste, die über alle Worte hinweg anstachelnd wirken sollte. Die Folgen dieser Leidenschaft sind ein Ausnahmefall, hervorgerufen durch die unglückselige Verkettung von Umständen. Daß es die Leidenschaft selbst keineswegs ist, dies darf man ja nun wohl ungescheut aussprechen. Sie grassiert als eine Art Volksepidemie, aus den Abgründen der Gesellschaft durch alle Schichten hinaufreichend bis in das scheinbar solideste Bürgertum.3 Nicht auf diejenigen Frauen kommt es dabei vor allem an, denen ihre natürliche Veranlagung den Mann reizlos und die Frau begehrenswert macht. Sie werden höchstens ermuntert, sich ohne Angst vor gesellschaftlicher Aechtung zu ihrer Natur zu bekennen. Von Krankheit darf man erst dort sprechen, wo die natürlich veranlagte Frau zur unnatürlichen Beziehung flieht als einem Laster von besonderem Reiz, das sie der Verbindung mit dem Manne vorzieht. Es hat keinen Zweck, sich moralisch zu entrüsten. Auch nicht den Staat mit Verboten und Befehlen in Bewegung zu setzen. Aber daß hier die Anzeichen einer schweren Erkrankung unserer Gesellschaft vorliegen, daß soll doch einmal mit allem Nachdruck ausgesprochen werden. Diese Krankheit selbst gilt es zu heilen durch einen Neuaufbau unserer menschlichen und wirtschaftlichen Zustände bis zu dem Ziele, daß es wieder einen Sinn hat, zu schaffen und zu streben, ein Haus zu gründen und Kinder aufzuziehen. Wenn wir erst soweit sind, daß die Grundlagen der bürgerlichen Existenz wieder Tragkraft haben und daß sich auf diesem Boden das Behagen der Tage und das Glück eines erfolgreichen Lebens errichten läßt, so werden jene bösen Merkmale sozialer Ungesundheit von selbst verschwinden. Moritz Goldstein 17.3.1923 3 Magnus Hirschfeld (14.5.1868–14.5.1935, Sexualwissenschaftler, gründete 1918 in Berlin das »Institut für Sexualwissenschaft«) bestätigt den Eindruck Goldsteins in der »Weltbühne« (1923, I. Halbjahr, S. 358), indem auch er von einer weitaus höheren Zahl als vor »25 Jahren« spricht. Doch erklärt er die Zunahme der gleichgeschlechtlichen Liebe damit, dass »allmählich das Licht der Wissenschaft auch in dieses Dunkel gedrungen ist.«

»George Grosz freigesprochen« Ein Gerichtsfall aus dem Bereich der Kunst-Zensur (1928–1931)

George Grosz freigesprochen In der Berufungsverhandlung gegen den Maler und Zeichner George Groß1, der zusammen mit dem Verleger Wieland Herzfelde2 wegen Beschimpfung von Einrichtungen der christlichen Kirche vom Schöffengericht Charlottenburg zu 1 000 Mark Geldstrafe an Stelle einer verwirkten Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt worden war3, erkannte die II. Strafkammer des Landgerichts III auf Freisprechung. 1 George Grosz (26.7.1893–6.7.1959), eigentlich Georg Friedrich Groß, Maler, Grafiker, Schriftsteller. Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg. Änderte 1916 seinen Namen. Mitbegründer der Dada-Gruppe Berlin, 1918 Eintritt in die KPD. In seinen satirischen Zeichnungen prangert er die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit an. Bekannteste Bildfolgen: Gott mit uns; Das Gesicht der herrschenden Klasse; Ecce homo; Hintergrund. 1933 Übersiedelung nach New York. Hier wandte er sich Landschafts- und Menschendarstellungen zu. 1959 kehrte er nach Berlin (West) zurück, wo er bald danach starb. In diesem Artikel wird sein Name – außer im Titel – in der ursprünglichen Form geschrieben. 2 Wieland Herzfelde (11.4.1896–23.11.1988), eigentlich Herzfeld, Schriftsteller, Publizist, Verleger. Begründer des Malik-Verlages. 1933 Flucht nach Prag, 1939 Emigration in die USA. 1949 Rückkehr nach Deutschland, DDR. 3 Goldstein hat die erste Verhandlung nicht besucht.

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»Millionen von Menschen sind heute Kriegsverneiner. In ihren Dienst hat sich George Groß gestellt und hat als Meister der Graphik, der er ist, ihren Empfindungen Ausdruck verliehen. Wenn man diese Millionen an seinen Blättern vorüberführte, so würden sie sich wohl begeistern. Die Kunst muß frei sein, sie darf nicht in eine Zwangsjacke gesteckt werden. Was ihr offen steht und was ihr verboten ist, darf vor allen Dingen nicht nach der Meinung derjenigen beurteilt werden, die sie nicht verstehen. Alle Interessen können nicht geschützt werden, es müssen vielmehr die verschiedenen Interessen nach ihrem kulturellen Wert abgeschätzt werden. Dabei überwiegt das Interesse der Kunst.« Wo wird diese Sprache gesprochen? Der das sagte, als Begründung seines Urteils, ist der Landgerichtsdirektor Siegert4, der Vorsitzende der Berufungskammer, die den Spruch nachprüfen soll, durch den einige Blätter einer Zeichnungsfolge, die sich an den Roman vom braven Soldaten Schwejk anlehnt, wegen Beschimpfung von Einrichtungen der Kirche beschlagnahmt und Künstler und Verleger bestraft worden sind. Unter der Leitung dieses überlegenen und kultivierten Mannes wurde die neue Verhandlung zu einer kunstphilosophischen Disputation, tiefschürfend und aufschlußreich. Zuerst zwischen dem Vorsitzenden und George Groß selbst. Der Künstler, der sich mit dem Worte nur unbeholfen, gewissermaßen tastend auszudrücken vermag, wurde durch die zielbewußten Fragen dahin geleitet, zu bekennen, daß er mit seinen mißverstandenen Blättern sich auf die Seite des beleidigten Menschenrechtes gestellt habe. Reichskunstwart Dr. Redslob5 hat den Fall für wichtig genug angesehen, um seinen Urlaub zu unterbrechen und als Sachverständiger zur Stelle zu sein. Er durfte ausführlich den Gegensatz entwickeln zwischen der Welt, die sich eine bequeme Gewohnheit schafft, und dem Künstler, der die ideale Forderung stellt und damit die Gewohnheit stört. In den Augen dieses Sachverständigen ist gerade George Groß derjenige, der das lebendige religiöse Gefühl wieder aufweckt und es zur Geltung bringt gegenüber denjenigen, die über einer friedlichen 4 Zu Julius Siegert siehe Seite 336, 5 Edwin Redslob (22.9.1884–24.1.1973), Museumsdirektor in Erfurt, Bremen und Stuttgart. Von 1920–1933 Reichskunstwart der Weimarer Republik. 1933 von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern entlassen. 1945 Mitbegründer der Berliner Tageszeitung »Der Tagesspiegel«. 1948 gehörte er zu den Gründern der Freien Universität Berlin, an der er bis 1954 als Professor für Kunst- und Kulturgeschichte lehrte.

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Auslegung zum Beispiel der Christusgestalt eingeschlafen sind. Er stellte den konventionellen Christus Thorvaldsens6, in dem das große Leiden längst getilgt ist, dem Christus Grünewalds7 gegenüber, der das Leiden mit aller Furchtbarkeit nacherlebt und darum gestaltet hat. Dr. Redslob hat auch das Vertrauen, daß die Blätter des Zeichners Groß nur vorläufig mißverstanden worden sind, daß aber etwa in zwanzig Jahren niemand mehr begreifen wird, wieso denn sein Christus am Kreuz mit Gasmaske und Soldatenstiefeln einmal als Beschimpfung der Kirche hat gedeutet werden können. Wenn der Staatsanwalt an seinem wenig beneidenswerten Platze glaubte, an einer Bestrafung auf Grund des § 166 festhalten zu müssen, und wenn er sich dafür auf Zuschriften solcher, die Anstoß genommen haben, berief, so hatte es der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Apfel8, leicht, zu fragen, wer denn eigentlich Anstoß genommen habe, und die Auffassung des Künstlers noch einmal scharf dahin zu interpretieren, daß die Diener der Kirche, die im Weltkriege statt der Menschenliebe den blutigsten Menschenhaß predigten, diejenigen gewesen seien, die Christus geschändet haben. Ein reiner und wahrhaftiger Mensch hat gegen Dumpfheit und Gedankenlosigkeit recht bekommen. Der Tag soll dem Moabiter Kriminalgericht nicht vergessen werden. Inquit 11.4.1929

6 Bertel Thorvaldsen (19.11.1770–24.3.1844), Dänischer Bildhauer, Darstellungen mit häufig idealisierendem Charakter. 7 Mathias Grünewald (ca. 1460–31.8.1528), eigentlich Mathis Gothart-Nithart, Maler und Zeichner; schuf den Isenheimer Altar (Colmar, Elsass). 8 Alfred Apfel (12.3.1882–26.6.1940), Rechtsanwalt. Verteidigte 1929 zusammen mit Max Alsberg, Rudolf Olden und Kurt Rosenfeld den Herausgeber der »Weltbühne«, Carl von Ossietzky, der wegen des Verrates militärischer Geheimnisse angeklagt war. Seit 1926 Vorsitzender der Berliner »Zionistischen Vereinigung«. Gleich nach dem Reichstagsbrand Verhaftung und »Schutzhaft«. Nach seiner Freilassung ging er ins Exil und starb 58-jährig in Marseille.

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Wilhelm Kahl (l.) und Reichskunstwart Edwin Redslob (m.), hinten auf der Anklagebank George Grosz (r.) und Wieland Herzfelde; 1930.

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Die berufenen Vertreter

George Grosz wieder vor Gericht

In der neuen Verhandlung um drei Blätter aus der Bilderfolge des Zeichners George Grosz zum braven Soldaten Schwejk, der fünften nach Verurteilung durch das Schöffengericht, Freisprechung durch die Berufungsinstanz, Aufhebung und Rückverweisung durch das Reichsgericht und Vertagung durch die Strafkammer des Landgerichtsdirektors Siegert treten als Sachverständige auch Abgesandte der christlichen Religionsgemeinschaft auf. Der erste von ihnen, Pfarrer am evangelischen Johannisstift in Spandau, hält sich für verpflichtet, zunächst festzustellen, daß er sein Gutachten nicht auf Grund kirchenbehördlicher Instruktionen abzugeben gedenke. Demgegenüber verlangt der Verteidiger Rechtsanwalt Apfel, die kirchlichen Behörden mögen ihre Meinung authentisch und offiziell zu erkennen geben. Der Staatsanwalt wendet ein, die kirchlichen Behörden seien nur aufgefordert worden, Sachverständige zu benennen, und das hätten sie getan. Der Vorsitzende aber stellt fest, daß laut Gerichtsbeschluß »die berufenen Vertreter« der Kirchen aufgefordert worden seien. Und danach können die Gutachten beginnen. Der große Schwurgerichtssaal ist überfüllt von einer interessierten und sachverständigen Hörerschaft, unter der sich ungewöhnlich viele Moabiter Richter, Rechtsanwälte und Staatsanwälte befinden. Sie alle hat offenbar die Erwartung hergetrieben, daß noch mehr berufene Vertreter zu sehen und zu hören sein werden. Wenn es gilt, für die Künstlerschaft des angeklagten George Grosz schwungvolles Zeugnis abzulegen, wer sonst wäre dazu berufen, wenn nicht der Reichskunstwart Dr. Redslob. Ueber dieser wiederholten Verhandlung schwebt das Erkenntnis des Reichsgerichts, das die Rechtsgrundsätze vorschreibt, aus denen das neue Urteil geschöpft werden soll. Und ist das Reichsgericht, das freilich nur schriftlich im Saale vertreten ist, etwa nicht berufen? Der Staatsanwalt nennt die Reichsgerichtsentscheidung denn auch »ungewöhnlich fein und klar«. Worauf der Vorsitzende schlicht bemerkt: »Das kann ich nicht finden.« Es sei nämlich an einer

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wesentlichen Stelle undeutlich und versetze das Gericht in die schwierige Lage, den Grundsatz, nach dem es entscheiden soll, nach eigener Entscheidung zu finden. Der Richter, der sich genötigt sieht, an dem höchsten deutschen Gericht eine solche Kritik zu üben, derselbe, dessen freisprechendes Urteil vom Reichsgericht aufgehoben worden ist, gehört am Ende auch zu den berufenen Vertretern. Nicht minder aber der alte Geheimrat Kahl9, der seinen 81 Jahren zum Trotz mit jugendlicher Stimme und jugendlicher Frische des Geistes dem Gericht die schwierige Materie der Gotteslästerung und der Beschimpfung christlicher Kirchen auseinandersetzt, wobei er sich auf seine eigene gesetzgeberische Tätigkeit bei Vorbereitung eines künftigen Strafgesetzbuches stützen kann. Die Richter, die ihre Lehrjahre längst hinter sich haben, scheinen wieder wie in ihrer Studentenzeit zu Füßen ihres Professors zu sitzen – ein reizvoller Anblick, wobei die Juristen entscheiden mögen, ob es zulässig ist, daß ein Gericht ein juristisches Gutachten anhört. Und bei so vielen berufenen Vertretern: wird es also möglich sein, die Frage zu entscheiden, um die es sich in diesem Prozeß dreht? Die Anklage richtet sich gegen drei Blätter des Zeichners Grosz, mit denen er, nach seiner eigenen Auslegung, die Diener der Kirche brandmarken will, die im Kriege den Krieg gepredigt und damit den Sinn des Christentums in sein Gegenteil verkehrt haben. Hat er recht? Gibt es auch gerechte Kriege? Darf man an den Blättern Anstoß nehmen? Muß man das Gefühl der Anstoßnehmer schützen? Gott und Welt, die Religion und Kirche, Krieg und Gerechtigkeit – geringer sind die Gegensätze nicht, zwischen denen hier der Ausgleich gefunden werden soll. Berufene Vertreter, gibt es sie für so schwerwiegende Entscheidungen? George Grosz, der Künstler, hat sie auf seine Weise, mit seinen Mitteln, aus seiner Ueberzeugung vollzogen. Und ist er nicht auch berufen? Inquit 4.12.1930

9 Wilhelm Kahl (17.6.1849–14.5.1932), Rechtswissenschaftler. Gehörte 1919/1920 der Weimarer Nationalversammlung an, u. a. als Vorsitzender des Strafrechtsausschusses. Bis zu seinem Tode Reichstagsabgeordneter.

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George Grosz freigesprochen In dem Prozeß gegen George Grosz und den Verleger Wieland Herzfelde verkündete Landgerichtsdirektor Siebert10 gestern nachmittag folgendes Urteil der zweiten großen Strafkammer des Landgerichts III: Die Berufung der Staatsanwaltschaft wird verworfen. Das erste Urteil (des Schöffengerichts Charlottenburg) wird aufgehoben und die beiden Angeklagten werden auf Kosten der Staatskasse freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft wird gegen das neue freisprechende Urteil im George-Grosz-Prozeß beim Reichsgericht Berufung einlegen. * Diese neue Verhandlung der Berufungsinstanz mußte durchgeführt werden, weil das Reichsgericht das Ersturteil derselben Kammer aufhob. Damit war die Rechtslage wieder hergestellt, die bestand, bevor die Berufungskammer ihr erstes Urteil gefällt hatte. Das heißt, es lag das Urteil des Schöffengerichts Charlottenburg vor, das die beiden Angeklagten mit je 500 Mark Geldstrafe belegte. Gegen dieses Urteil hatten sowohl die Angeklagten wie auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Die Strafkammer mußte also den Fall noch einmal verhandeln und noch einmal ein Urteil finden, wie das in allen Berufungsverhandlungen tagaus, tagein geschieht. Nur, daß diese Kammer schon einmal verhandelt und schon einmal entschieden, nämlich im Gegensatz zum Schöffengericht freigesprochen hatte, und zwar in derselben Zusammensetzung, mit Ausnahme der beiden Laienrichter, also auch unter demselben Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Siegert. 10 Richtig: Siegert. Zur Person siehe Seite 336.

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Das Reichsgericht hatte Siegerts Urteil und seine Begründung des Urteils angefochten und fünf Maßstäbe vorgeschrieben, mit denen die Rechtslage nachgeprüft werden sollte. Es verlangte von dem Vorsitzenden, in eigener Sache zu Gericht zu sitzen und unter Umständen durch ein neues Urteil sich selbst unrecht zu geben. Die Begründung, die das Reichsgericht der Aufhebung des Urteils gegeben hat, wird von Juristen heftig angefochten. Man könnte glauben, daß das Reichsgericht eine Verurteilung, und sogar über die erste Entscheidung hinaus eine Verurteilung wegen Gotteslästerung wünsche. Andererseits ist es nicht so weit gegangen, dem Richter, der freigesprochen hat, sein Mißtrauen auszusprechen und den Fall an eine andere Kammer zu verweisen. Dieselbe Kammer hatte noch einmal zu urteilen. Welch eine Anforderung an die Selbständigkeit des Richters! Landgerichtsdirektor Siegert fühlte sich ihr nicht ohne weiteres gewachsen. Wäre es dem Richter vom Gesetz erlaubt, sich selbst abzulehnen, so hätte er sich abgelehnt. Wenigstens aber stellte er zweimal den Antrag, ihn von der Leitung der neuen Verhandlung zu entbinden, wozu freilich ein Grund von der vorgesetzten Instanz erst hätte gefunden werden müssen. Den Ausweg, sich krank zu melden oder sonst eine Entschuldigung zu suchen, verschmähte er begreiflicherweise. Sein Wunsch wurde ihm nicht bewilligt, er mußte die von ihm entschiedene Sache noch einmal entscheiden. Er hat die schwere Probe bestanden. Mit gelassener Ueberlegenheit führte er den neuen Prozeß durch, mit einer Objektivität, daß wohl niemand von den Prozeßbeteiligten vorher zu sagen vermocht hätte, auf wessen Seite er diesmal treten würde. Er hat wieder, wie das erstemal, dem Unverstand, dem Dünkel und der Unbelehrbarkeit von Menschen, die sich im Hintergrund gehalten haben und die man daher nicht kennt, den Rücken gekehrt und ist entschlossen auf die Seite des reinen Wollens und der wahren Religiosität getreten. Der Prozeß George Grosz wird in der Geschichte der Justiz fortleben als ein Zeichen dafür, wie inmitten einer gärenden und strudelnden Zeit die bessere Zukunft von ein paar mutigen Menschen vorbereitet worden ist. Inquit 5.12.1930

Ringverein »Immertreu« Ein Gerichtsfall aus dem Milieu der Berliner Unterwelt (Februar 1929)

Sportklub Immertreu 1921

Der Verein und die Zunft

[»]Ueb‘ immer Treu und Redlichkeit,« mahnt der Dichter sein Volk. Das Volk wird nicht müde, diese Tugenden zu üben; aber nicht jeder kriegt sie heraus. Anders der »Sportklub Immertreu 1921«. Er hat mit Erfolg geübt und beherrscht nunmehr Treu und Redlichkeit. »Politische und konfessionelle Bestrebungen sind ausgeschlossen,« sagt der § 1 der Statuten. Und der Zweck des Bundes soll nach § 2 erreicht werden »durch Förderung der Freundschaft und Geselligkeit unter den Mitgliedern, durch Unterstützung in Krankheits- und besonderen Notfällen, durch Unterstützung im Todesfall.« Welcher Redliche kann dagegen etwa haben? Mitglied wird nur, wer von einem Mitglied eingeführt und von mindestens drei Mitgliedern empfohlen ist. Jedes Mitglied ist verpflichtet, »für die Ehre des Vereins nach Kräften zu wirken«. Wer sich vergeht, kann mit Ausschließung oder, eine besonders feierliche Sühne, mit Verwarnung bestraft werden. »§ 17. Der Verein hält es für seine höchste Ehrenpflicht, jedes verstorbene Mitglied so zu beerdigen,

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wie es die Ehre und Würde des Vereins Immertreu verlangt.« Der Tod eines Mitglieds ist denn auch die Gelegenheit, bei der sich der Glanz der Immertreuen am wirkungsvollsten zu entfalten pflegt. Es gibt auch Landpartien mit Musik. Es gibt Bälle. Es gibt Umzüge mit dem Vereinsbanner. Unter den Augen der Polizei vollzieht sich das alles, ihre Beamten sind sich nicht zu gut, um den Festlichkeiten beizuwohnen. Waren sich nicht zu gut, muß es leider heißen. Verein Immertreu ist aufgelöst worden, nachdem er in der Oeffentlichkeit als Verbrecherorganisation schlechtgemacht worden ist. Was heißt Verbrecher-Organisation? Freilich braucht man nicht unbescholten zu sein, um aufgenommen zu werden; aber man muss auch nicht gesessen haben. Mit Stolz weist der Verein auf seine lange Reihe unbestrafter Mitglieder hin. Und die vorbestraften haben sich während ihrer Mitgliedschaft straffrei geführt. Heil jedem Verein mit solchen Zielen und solchen Erfolgen! Heil jedem Verein mit solchem Vorsitzenden! Den letzten freilich kennt das Gericht noch nicht. Der vorletzte und Mitbegründer namens Leib sitzt mit auf der Anklagebank. Er ist der geborene Präside, ein jovialer Mann mit humorvollem Gesicht und angeborener Beredsamkeit. Wie weiß er den Ruhm seines Vereins gegen Mißgunst und Verleumdung zu wahren. Verbrecher-Organisation? Aber das Gesindel machte sich breit, rings um den Schlesischen Bahnhof1, bevor die Immertreu-Leute sich organisierten und die Säuberung des Stadtteils in die Hand nahmen. Seitdem herrscht Ordnung. Immertreu und seine Kartellvereine werden denn auch das Verbot nicht stillschweigend hinnehmen. Der Bezirksausschuß wird als obere Instanz zu entscheiden haben. Der Untergang Trojas begann mit dem Zank der Göttinnen, um die Frage, welche von ihnen die schönste sei. Die Straßenschlacht am Schlesischen Bahnhof begann damit, daß einem Zimmermann, der beim Bau der Untergrundbahn arbeitete, die Jacke gestohlen wurde. Eine Zimmermanns-Jacke ist nicht irgendeine Jacke. Die Zimmerleute von der Zunft, in diesem Prozeß die Gegenpartei zu den Immertreu-Leuten, stehen in ihren malerischen Sammet-Anzügen mit den weißen Knöpfen und in den phantastischen Hüten unter den Spitzbogen des Moabiter Gerichts wie ein Opern-Chor auf der Bühne. Es sieht so aus, als wollten sie mit Gesang einfallen. 1 Der Schlesische Bahnhof war zu Zeiten der DDR der Hauptbahnhof und ist heute der Ostbahnhof.

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Die gestohlene Jacke war am nächsten Tag wieder zur Stelle, am 28. Dezember. Der Eigentümer gab zur Feier der Wiedererlangung etwas aus, und zwar im Klosterkeller. In seiner Gesellschaft befand sich ein anderer Zimmergeselle, namens Schulnies. Er ließ sich spendieren, benahm sich aber so rüpelhaft, daß Gäste sich beschwerten und der Wirt ihn aus dem Lokal wies. Dabei kam es zu einer Schlägerei, und Schulnies zog ein Messer und brachte einem der Gäste mehrere Stiche bei. Hinterher warf er noch von draußen eine Flasche Cognac durch die Scheiben ins Lokal. Er wurde verfolgt, entwischte aber. Der Gestochene liegt noch heute im Krankenhaus und kämpft mit dem Tode. Er gehört zum Verein. Seine Sache ist die Sache aller Vereinsleute. Aber nicht diese brachten den Stein ins Rollen, sondern der Wirt des Klosterkellers. Der nämlich ließ es sich angelegen sein, den Namen des Messerstechers zu erfahren. Denn erstens wollten seine Gäste, die vom Verein, den Namen wissen. Und zweitens wollte er selbst sich den Schaden, der in seinem Lokal angerichtet worden war, ersetzen lassen. Er ging also am nächsten Tage, am 29. Dezember, mit einem Zimmermann auf die Suche, und zwar zunächst in eine Restauration der Madaistraße. Dort fand er den Gesuchten nicht, und er machte sich auf nach einem Lokal in der Breslauer Straße, in dem die Zimmerleute zu verkehren pflegen. Von der Madaistraße her schlossen sich ihm einer oder mehrere von den Vereinsleuten an, darunter der frühere Präsident Leib. Wie es kam, dass sie sich dem Wirt anschlossen, das ist vorläufig noch ungeklärt. Was nun aber in der Breslauer Straße sich abspielte, darüber gehen die Meinungen der Anklage und der Verteidigung auseinander. Soviel steht fest, daß der Messerstecher Schulnies dort gefunden wurde. Jemand forderte ihn auf, hinauszukommen, und er folgte. An der Tür bekam er ein Bierseidel über den Kopf gehauen und flog von einem Stoß auf die Straße. Andere Zimmerleute eilten ihm zu Hilfe und schlugen die Vereinsbrüder in die Flucht; sie kamen wieder, und es fiel eine zweite Prügelei vor. Ergebnis: zwei Tote. * Neun Personen sitzen auf der Anklagebank, sieben Vereinsmitglieder und zwei Außenseiter. Kein einziger Zimmermann, trotzdem mehrere Angeklagte verletzt worden sind. Die Anklage behauptet, sie hätten den Landfrieden gebrochen, indem sie bewaffnet auszogen, um an dem Messerstecher Rache zu nehmen.

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Der Messerstecher Schulnies selbst, der nach der Logik der Tatsachen tot sein müßte, lebt und tritt gleich am ersten Tage als Zeuge auf: ein verstockter, vielleicht auch beschränkter, 18jähriger Bursche. Er leugnet nicht gestochen zu haben. Er leugnet auch nicht, mit der Flasche geschmissen zu haben, wenn er auch leugnet, daß Cognak darin gewesen sei. Und er ist jedenfalls nicht imstande zu sagen, wer von den Angeklagten ihn angegriffen oder herausgerufen hat, und ob überhaupt einer der Angeklagten daran beteiligt gewesen ist. Nach diesem ersten Tag zu urteilen, scheint die Sache für die Anklage nicht sehr günstig zu stehen. Es scheint, daß die Polizei ein bißchen zu eifrig in die Vereine gegriffen hat und mit den malerischen Zimmerleuten ein bißchen zu nachsichtig umgegangen ist. Die Angeklagten hingegen haben an diesem ersten Tage nicht viel auszustehen. Vielmehr sitzen sie, die Gründer und Mitglieder des Vereins Immertreu, von Beruf meistens »Geschäftsführer«, aber auch Kellner, Wächter und Hausdiener, schmunzelnd hinter ihrer Kette von Rechtsanwälten und beobachten sachkundig die geschickten Manöver, mit denen die Anklage erschüttert werden soll. Denn natürlich hat sich der Verein nicht lumpen lassen und seine Sache einigen der berühmtesten Strafverteidigern2 anvertraut. Inquit 5.2.1929

Zweiter Tag des »Immertreu«-Prozesses Der Vertrauensmann

Viele Stunden hat das Gericht über die Straßenschlacht am Schlesischen Bahnhof nun schon verhandelt, viele Zeugen verhört; herausgekommen ist nicht viel dabei. Herausgekommen nämlich zur Bestätigung oder Widerlegung der Anklage, daß gerade diese neun Angeklagten am Abend des 2 Unter anderem Max Alsberg und Erich Frey; siehe Seite 418.

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29.  Dezember bewaffnet in das Vereinslokal der Zimmerleute nach der Breslauer Straße gezogen sind mit der Absicht, dort Gewalttätigkeiten zu verüben. Die Anklage behauptet das. Sie behauptet nicht nur allgemein, daß der Tumult auf diese Weise entstanden sei; sie behauptet es vielmehr außerdem ganz bestimmt von diesen neun Männern, die aus dem Auflauf der Dutzende oder Hunderte herausgegriffen worden sind. Durch viele Stunden, bereits den zweiten Tag, marschieren nun die Zeugen auf, die gefragt werden, ob sie einen der Angeklagten am Orte der Tat und wann und in Ausführung welcher strafbaren Handlungen gesehen haben. Indessen, sie werden ganz vergebens gefragt. Sie wissen nichts, sie haben nichts gesehen, sie waren nicht dabei, sie können sich nicht erinnern. Nicht der Wirt des Klosterkellers, in dessen Lokal jene erste Messerstecherei vorfiel (dessen Opfer, Malchin, übrigens gestern gestorben ist); nicht der Wirt der Vereinsherberge der Zimmerleute, bei dem die Vereinsbrüder den Messerstecher suchen gingen und in dessen Laden die Prügelei anfing, nicht die Geschäftsleute und Hausbewohner der Nachbarschaft. Und übrigens auch nicht die Zimmerleute von der Gegenpartei. Daß diese allgemeine Unwissenheit nicht von selbst entstanden ist, das sieht das Gericht wohl ein. Es bemüht sich auch, nach den Gründen zu forschen. Die auffällige Schweigsamkeit der Zimmerleute, die doch allen Grund hätten, ihre Gegner, die Vereinsleute, zu belasten, scheint darauf hinzudeuten, daß zwischen den Parteien eine Verständigung stattgefunden hat. Tatsächlich befindet sich bei den Akten ein Zettel, unterschrieben von dem Vorsitzenden des Vereins »Immertreu«, in dem die Einstellung der Feindseligkeiten bestätigt wird. Der Unterhändler auf der Seite der Zimmerleute war ein Zimmergeselle Benz. Nach seiner Darstellung hat erst der Altgeselle der Zimmerleute, aus Furcht vor neuen Ueberfällen, die Vereinsbrüder in einem Brief um Frieden gebeten. Dieser Brief ist von der Gegenseite beantwortet worden. Es kam dann ein Abgesandter der »Immertreu«-Leute, der den Altgesellen zur Verhandlung hinüberholen wollte, und da er ihn nicht antraf, so ging an dessen Stelle Benz mit und schloß jenen Vergleich. Das klingt ja nun nach der Verhandlung zweier Großmächte, und nachdem das Gericht in dem Angeklagten Leib zwar nicht den jetzigen, aber den früheren Vorsitzenden von »Immertreu« kennengelernt hat, wird mit einer gewissen Spannung auf das Erscheinen des gegnerischen Oberhauptes gewartet, eben des Altgesellen. Aber das ist eine Enttäuschung. Der Altgeselle ist ein überraschend junger Geselle, der nicht den Eindruck macht, als ob er imstande wäre, irgend

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etwas zu leiten, am wenigsten eine Straßenschlacht. Zwar nehmen ihn die Verteidiger in ein schonungsloses Kreuzverhör, setzen ihm, bildlich gesprochen, Daumenschrauben an und zwicken ihn mit glühenden Zangen, um eine Aussage aus ihm herauszupressen. Aber ihre Voraussetzung, er habe in dem Vereinszimmer hinter dem Schankraum mit ein paar Getreuen als eine Art Generalstab gesessen und von da aus die Gefechte dirigiert und die Hilfstruppen herbeigezogen, trifft doch wohl nicht zu. Er scheint ein Simpel zu sein – oder ihm müßte eine fast geniale Verstellungskunst innewohnen. Aber es muß doch einen Menschen in der Welt geben, der mehr weiß als die Zeugen. Das ist der Kriminalkommissar Dr. Berndorff, der die polizeilichen Ermittlungen angestellt oder geleitet hat und auf den es zurückgeht, daß gerade diese neun Angeklagten sich zu verantworten haben, keiner außer ihnen und also auch kein Zimmergeselle. Auf Antrag der Verteidigung tritt er als letzter Zeuge des zweiten Tages auf, um auszusagen, woher er denn seine Wissenschaft hat. Er bestätigt zunächst in seiner theoretischen Einleitung, daß »in diesem Milieu« es sehr schwer ist, Ermittlungen anzustellen, weil gerade die Unbeteiligten, die Geschäftsleute und Hausnachbarn, nicht wagen, über Allgemeinheiten hinauszugehen und Personen zu bezichtigen. Er wüßte also auch in diesem Falle nichts, er hätte vor allem nichts von der Beteiligung der Vereine erfahren, wenn es ihm nicht »ein Vertrauensmann« gesagt hätte. Natürlich läßt die Verteidigung sich diesen Angriffspunkt nicht entgehen. Die Rechtsanwälte Alsberg3 und Frey4 stürzen sich auf den armen Kriminalkommissar, um aus ihm herauszufragen, ob denn dieser Vertrauensmann seine Kenntnisse aus eigener Wissenschaft habe; ob er denn selbst vertrauenswürdig sei oder etwa einen Racheakt vollführe; ob er der Straßenschlacht beigewohnt habe und am Ende durch seinen Verrat nur sich selbst vor der Verantwortung drücken wolle; und warum er, wenn er dabei war, nicht ebenfalls als Zeuge gehört werde, als der einzige Zeuge doch offenbar, 3 Max Alsberg (16.10.1877–12.9.1933), Jurist und Schriftsteller. Er war einer der bekanntesten Strafverteidiger im Berlin der Weimarer Republik und verteidigte u. a. 1931 Carl von Ossietzky im »Weltbühnen-Prozess«. Er schrieb zwei Dramen, »Die Voruntersuchung« und »Konflikt«. 1933 Emigration in die Schweiz, wo er sich das Leben nahm. 4 Erich Frey (16.10.1882–30.3.1964), prominenter Strafverteidiger in der Weimarer Republik. 1933 Emigration über Paris nach Chile. 1959 erschienen seine Erinnerungen »Ich beantrage Freispruch« im Blüchert Verlag, Hamburg.

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der etwas gesehen hat. Die Verteidiger versuchen darauf zu bestehen, daß dieser Vertrauensmann als Zeuge geladen wird, und auch der Vorsitzende redet dem Kommissar zu, er möge sich von seiner vorgesetzten Dienststelle die Erlaubnis holen, den geheimnisvollen Unbekannten preiszugeben. Nun, die Verteidiger haben recht mit ihrer Forderung und sie haben es auch leicht, sich zu entrüsten. Aber der Kriminalkommissar wird wohl auch Recht haben mit seiner Erfahrung, daß »in diesem Milieu« ohne Spitzel nichts herauszubekommen ist. In diesem Milieu? Auch darüber empören sich die Verteidiger und möchten wissen, womit die Vereinsbrüder sich denn den Verdacht zugezogen haben, daß sie jeden Belastungszeugen überfallen. Tatsächlich sind die neun Angeklagten, soweit sie vorbestraft sind, nicht wegen Gewalttätigkeiten bestraft. Indessen, da nun einmal die Dinge so liegen, wie sie nach der Erfahrung der Polizei rings um den Schlesischen Bahnhof nun einmal liegen, so hätte die Anklage doch wohl anders vorbereitet sein müssen. Und während Staatsanwalt und Verteidiger mit geistigen Waffen ihre Kämpfe ausfechten, sitzen die neun Angeklagten seelenruhig auf ihren Plätzen und lachen sich ins Fäustchen. Inquit 6.2.1929

»Immertreu« mit Hindernissen Das Geheimnis

Abgesehen davon, ob die Zeugen gegen die Leute von »Immertreu« aussagen wollen: welche Möglichkeit besteht, daß sie aussagen können? Was läßt sich wissen über einen Vorfall, der sich in wenigen Minuten zwischen ungezählten Menschen abgespielt hat, bei dem die Seelen und die Körper aufs heftigste in Mitleidenschaft gezogen worden sind? Was die Kriminalpsychologie schon weiß, das bestätigt die Verhandlung: daß die Erinnerung kaum irgend etwas von dem Beobachteten mit Sicherheit festhält und daß die Beobachtung von unzähligen Fehlern entstellt ist. Die Zeugen, die

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Die Verteidiger Frey (l. stehend), Peschke und Alsberg (r.), Feblowicz (l. v. Frey); im Hintergrund die Angeklagten; 1929.

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nun schon den dritten Tag vergebens ausgequetscht werden wie trockene Zitronen, wissen entweder nichts, oder wenn sie etwas zu wissen glauben, wird es ihnen leicht als Irrtum nachgewiesen. Wenn die polizeilichen Protokolle um so viel bestimmtere Aussagen enthalten, so liegt das offenbar daran, daß die Zeugen zum großen Teil auf Suggestivfragen geantwortet haben. Das kommt besonders kraß zum Ausdruck gegenüber den drei Angeklagten Höhne, Steinke und Kaiser, die beschuldigt werden, den Ueberfall auf die Straßenbahn verübt zu haben. Keiner von den Zeugen kann sagen: diese drei oder einer von den dreien war es. Einer dagegen vermag mit Bestimmtheit zu sagen, daß es der Angeklagte Höhne nicht war. Dieser Höhne ist unbestraft, ein schwächlicher Mensch, der bei seiner Vernehmung in Tränen ausbrach, der seit Wochen in Untersuchungshaft sitzt und darüber seine Stellung verloren hat. Das Gericht entsprach gestern dem Antrag des Rechtsanwalts Feblowicz und entließ ihn aus der Haft. An die Stelle der Aussagen treten die Gerüchte, an die Stelle der Zeugen, die etwas wissen, treten die Zeugen, die etwas haben läuten hören. 150 Mark hätte »Immertreu« für jeden ausgesetzt, der seine Mitglieder entlasten und die Zimmerleute belasten würde. Das wußte am zweiten Tag eine Zeugin Thea Matthey zu erzählen. Aber nicht aus eigener Wissenschaft, sondern aus dem Munde ihrer Schwester. Die Schwester wird geladen. Sie erzählt dieselbe Revolvergeschichte, aber wieder nicht aus eigener Wissenschaft, sondern aus dem Munde von vier Hausgenossen, die es ihrerseits aus dem Munde eines gewissen Kippdorf haben sollen. Kippdorf ist zur Stelle. Er wird vernommen, und die Seifenblase platzt. Wer ist die geheimnisvolle Vertrauensperson, auf deren Aussage letzten Endes die Anklage zurückgeht? Daß es nicht ein Mann, sondern eine Frau sei, das hatte noch am zweiten Verhandlungstage Kriminalkommissar Berndorff unwillkürlich verraten. Daß die Verteidigung sie nicht nur kenne, sondern auch habe, dies Gerücht hielt am dritten Tage die Gemüter eine Zeitlang in Spannung. Es handele sich um die Braut des als Zeugen vernommenen Zimmermanns Benz, hieß es. Sie wird vorgerufen, eben jene Thea Matthey, von der das Bestechungsmärchen stammt. Und auch diese Seifenblase zerplatzt. Sie sei, erklärt sie, nicht die Vertrauensperson des Kriminalkommissars Berndorff, kenne ihn nicht, und sei auch nicht die Braut des Zimmermanns Benz, wenn sie auch früher einmal »bei ihm gewesen« sei. Das Geheimnis der Straßenschlacht am Schlesischen Bahnhof droht ungeklärt zu bleiben. Aber was ist daran Geheimnis? Im Grunde kann jeder sich denken, was da vorgegangen ist, und ob diese oder jene Partei ange-

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fangen hat, ob die Angeklagten oder andere Personen die Täter sind, das ist von entscheidender Bedeutung für das Urteil, aber ziemlich gleichgültig für jede Betrachtung von höherer Warte. Nicht völlig durchschaubar wird auch der Verein »Immertreu« mit seinen Kartellvereinen bleiben. Aber die sieben Mitglieder unter den neun Angeklagten bieten dennoch kaum etwas Rätselhaftes. Man kann sich die Menschen und die Existenzen ungefähr vorstellen. Völlig unzugänglich aber sind bisher die Angehörigen der Gegenpartei geblieben, jene jungen Menschen, die wir in ihrer seltsamen, unzeitgemäßen Tracht auf unseren Straßen zu bestaunen pflegen und von denen nun hier wenigstens so viel klar ausgesagt worden ist, daß sie als Zimmerleute und Maurer Zünfte bilden und in Berlin, wie in anderen Städten, ihre Herbergen, Versammlungslokale und Obmänner haben. Wieviel sie wert sind, darüber gehen die Meinungen schon auseinander. Ein Antrag der Verteidigung wünscht, daß die Polizeipräsidenten von Berlin, Hamburg und Dresden bestätigen, daß sie als unglaubwürdig und zu Schlägereien geneigt bekannt seien. Vielleicht stehen sie tatsächlich in diesem Rufe und vielleicht ist dieser Ruf trotzdem Verleumdung. Denn immerhin vertreten sie ja das gediegene Handwerk und wandern von Ort zu Ort, um zu arbeiten. Aber was mit ihnen eigentlich los ist – vielleicht wissen es Kenner; ganz gewiß weiß es nicht das Gericht und hat auch keine Möglichkeit, es zu erfahren. Die Fragenden, Vorsitzender, Staatsanwalt und Verteidiger mit all ihrer Bildung und ihrer Klugheit, reichen gar nicht bis zu den Antwortenden, die mit der Sprache nicht herauskommen, möglicherweise weil sie sich in dieser Umgebung nicht verständlich zu machen wissen. Die Herren des Gerichts und die Leute von der Zunft stehen einander gegenüber, nicht nur wie Menschen verschiedener Sprache, sondern wie Wesen von zwei Planeten. Sie reden nicht nur aneinander vorbei, sie denken und fühlen offenbar auch in zweierlei Takt und zweierlei Temperatur. In einem Zwischenfall explodierte diese Fremdheit, selber zunächst mißverstanden. Der Vorsitzende will herausbekommen, ob die Maurer gewußt haben, daß sie den Zimmerleuten zu Hilfe kamen. Er will daher erfahren, was unterwegs gesprochen worden ist, und er sucht sich dadurch verständlich zu machen, daß er scherzhaft bemerkt: »Sie werden ja nicht ›Deutschland, Deutschland über alles‹ gesungen haben.« Darauf der Ruf »Pfui«. Der ihn ausgestoßen hat, wird vorgerufen; es ist der Zimmermann Benz. Empörung über ihn, weil man seinen Ruf so versteht, daß er das Lied habe verunglimpfen wollen. Indessen aus seiner unbeholfenen Vertei-

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digung wird deutlich, daß er selbst empört ist, weil er nicht begreift, was man von ihm und seinen Kameraden will, und weil er sich verhöhnt fühlt. Das Gericht beschloß denn auch, von einer Ordnungsstrafe abzusehen und sich mit einer Verwarnung zu begnügen. Es hat ihn dennoch wahrscheinlich nicht verstanden, so wenig wie er das Gericht versteht. Mit irgendeinem Urteil wird der Prozeß zu Ende kommen, die Vereinsbrüder werden in ihr Halbdunkel zurückkehren. Aber dieses Stück arbeitenden Volkes wird von dannen gehen, ohne gesprochen zu haben: Zeichen einer bedrohlichen Entfremdung zwischen uns, die wir den Apparat zu dirigieren glauben, und jenen, die das Werkzeug zu gebrauchen wissen. Inquit 7.2.1929

Die Strafanträge gegen »Immertreu« In dem Prozeß gegen die Immertreu-Leute beantragte gestern Staatsanwaltschaftsrat Zimmermann gegen den Hauptangeklagten Leib, den zweiten Vorsitzenden des Vereins Immertreu, wegen schweren Landfriedensbruchs eine Strafe von einem Jahr sechs Monaten Gefängnis und fünf Jahre Ehrverlust, gegen die Angeklagten Pittschack und Laß je sechs Monate Gefängnis, gegen Franke fünf Monate Gefängnis, gegen Schulz vier Monate Gefängnis und gegen Höhne einen Monat Gefängnis, und zwar wegen einfachen Landfriedensbruches. Gegen die übrigen Angeklagten wurde die Anklage fallengelassen. Das Urteil wird am Sonnabend verkündet werden. * Lassen wir die Verteidiger plädieren und benutzen wir die Zeit, um den Schauplatz der Straßenschlacht vom 9. Dezember, von dem im Gerichtssaal soviel die Rede gewesen ist, mit eigenen Augen zu sehen.

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Bis zur Jannowitzbrücke etwa reicht das Berlin, das wir kennen und in dem wir leben. Dahinter beginnt eine fremde Stadt, es beginnt das, was der Bürger mit Gruseln als Unterwelt bezeichnet und was sich von seiner Welt zunächst nur durch seine unentrinnbare Trostlosigkeit unterscheidet. Straßen ohne Baum und Strauch, Fassaden des grauen Elends, Blick in schachtförmige Höfe, um die sich in vielen Stockwerken übereinander die lichtlosen überfüllten Quartiere wer weiß wie vieler armseliger Menschen schichten. Kleine Läden, kleine Kneipen, möblierte Zimmer, sogenannte Hotels, von denen man sich nur schwer vorstellt, welche Art von Gästen dort absteigen mag. Nicht anders die Breslauer Straße, der Schauplatz der Tat. Nur daß sie dem Blick einige Erholungen gönnt: nach der Doppelhalle des Schlesischen Bahnhofs, der in dieser Umgebung wie ein architektonisches Kunstwerk wirkt, und nach dem beinahe malerischen Gewirr der dreifachen Straßenkreuzung dicht neben der Gasanstalt und der Eisenbahnüberführung. An dieser Stelle, Breslauer Straße 1, Ecke Holzmarktstraße, befindet sich das Lokal von Naubur, das Quartier der Zimmerleute. Es ist untergebracht in einem Hause, das gut seine 75 Jahre auf dem Buckel hat. »EngelhardSpezial-Ausschank« steht harmlos über den breiten Schaufenstern; man sieht einen Zipfel der Rolljalousien, die in den einzelnen Phasen des Kampfes bald heraufgezogen, bald hinuntergelassen waren. Hinter den Scheiben sitzen bei ihrer Molle Bier die Zimmergesellen in ihrer »Kluft«. Das Lokal von Rauhut hingegen, Ecke Breslauer- und Krautstraße, aus dem heraus Immertreu angegriffen haben soll, huldigt, nach dem Schild zu urteilen, dem Schultheißbier. Es ist in einem neuen oder auf neu umgebauten Hause untergebracht, das durch alle seine Etagen über dem Restaurant ein Hotel beherbergt. Uebrigens sehen wir eine verfälschte Szenerie. Die schneidende Kälte hat die Straßen leer gefegt, das Gewimmel der Höfe eingedämmt und die schweifenden Gerüche festgebannt. Erst die laulig feuchte Luft von Frühling und Herbst oder die dumpfe Schwüle des Sommers wird den Sinn dieser Quartiere enthüllen. Die helle Sonne dazu hat die unheimlichen Schatten verscheucht und jeden verdächtigen Winkel aufgedeckt. Erst die Nacht, die sich von den Laternen nicht besiegen läßt, wird die gefährliche Romantik dieser Straße entfesseln. Was hier lebt, liebt, geboren wird und stirbt, das müßte freilich übermenschliche Kräfte der Seele haben, wenn es immer die erlaubte Straße des behüteten Bürgers wandeln sollte. Man begreift schon bei einem flüchtigen

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Besuch an diesem hellen und kalten Mittag, daß ein paar Vorstrafen hier nicht sehr heiß genommen werden; man begreift auch, daß ein »Sportverein Immertreu«, der die Vorstrafen sammelt, sie vor Rückfall bewahren will und im übrigen das Gewimmel halbwegs in Ordnung hält, seine Verdienste hat und seine Ehre für sich in Anspruch nimmt. Ein Polizist auf seinem Patrouillengang begegnet uns. Wir sprechen ihn an: »Na? Heut abend werden die Immerteu-Leute wohl ein Siegesfest feiern? Sie haben sich wohl auf allerhand gefaßt gemacht?« Er winkt gelassen ab: »Ist halb so schlimm. Geht alles ganz gemütlich zu.« So ist der Mensch. So wohnt er, so lebt er, so quält er sich ab. So locker sitzt ihm das Messer, und so blutig schlägt seine Faust. Aber trotzdem geht alles ganz gemütlich zu. Den Eindruck gaben schon die Angeklagten im Gerichtssaal. Dieser Herr Leib war nicht umsonst Vorsitzender des Vereins »Immertreu«. Man las ihm vom Gesicht ab, daß er über die wichtigste Eigenschaft eines Vereinsvorsitzenden verfügt, über die Gemütlichkeit. Inquit 8.2.1929

Mildes Urteil gegen »Immertreu« Haftentlassung aller Angeklagten

Nach achttägiger Verhandlung verkündete gestern der Vorsitzende Amtsgerichtsrat Spohner folgendes Urteil gegen die »Immertreu«Leute: der Angeklagte Leib wird wegen einfachen Landfriedensbruches in Tateinheit mit Raufhandel zu einer Strafe von zehn Monaten Gefängnis verurteilt, der Angeklagte Laß wegen einfachen Landfriedensbruches zu fünf Monaten Gefängnis; beiden wird je ein Monat der erlittenen Untersuchungshaft angerechnet. Die sieben anderen Angeklagten werden auf Kosten der Staatskasse freigesprochen. Die Haftbefehle gegen Leib und Lasz werden aufgehoben, bei Leib jedoch nur gegen Stellung einer Kaution in Höhe von 500 Mark. Die Anträge der Angeklagten Steinke und Höhne auf Vergütung für

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unschuldig erlittene Untersuchungshaft werden abgelehnt, da beide nur mangels Beweise freigesprochen worden sind. * Sieben Freisprüche und zwei Verurteilungen, die auch die Betroffenen nicht als streng empfinden werden – es ist nicht viel herausgekommen aus der Aufregung der Oeffentlichkeit und aus der vieltägigen Gerichtsverhandlung. Die fünf Verteidiger freilich, die sich heldenhaft für ihre Klienten geschlagen haben, werden behaupten, es sei sehr viel und beinahe das, was sie wünschten, herausgekommen. Allein ihre forensische Geschicklichkeit sowie ihr menschenfreundlicher Eifer in Ehren: sie brauchen auf ihre Erfolge nicht übermäßig stolz zu sein. Denn die Freisprüche sind nicht gefällt worden auf Grund erwiesener Unschuld – das wäre ein Ergebnis und sogar das beste eines Prozesses – sondern weil die Beweise nicht erbracht werden konnten. Die Beweise nämlich, daß eben diese neun Angeklagten die Schuld und welches Maß an Schuld tragen. Diesen Mißerfolg aber hatten kluge Leute schon am ersten Tage vorausgesehen. Dabei zweifelt niemand an dem Verlauf der Vorfälle vom 29. Dezember. Sie liegen offen vor aller Augen, nach der Verhandlung deutlicher sichtbar als vorher. Die Immertreuen gingen in das Zimmermannslokal, um den Gesellen, der den Vereinsbruder Malchin gestochen hatte, herauszuholen und nach eigenem Recht abzustrafen. Die Zimmerleute sahen das nicht ruhig mit an, kamen ihrem Kameraden zu Hilfe und schlugen die anderen in die Flucht. Die drohten mit Revanche, zogen Hilfe herbei und sammelten sich im Lokal gegenüber. Aber auch die Zimmerleute verstärkten sich. Als die Maurer zu ihrer Unterstützung anrückten, wurden sie von den Vereinsbrüdern überfallen, die Zimmerleute warfen sich aus ihrem Lokal ihnen entgegen, und es entstand die zweite Straßenschlacht. So war es. Aber wer war es? Darüber ist nichts Endgültiges festgestellt worden. Denn beinahe niemand von denen, die dabei waren, hat etwas gesagt. Die Vertrauensperson hat nur ins Ohr des Kriminalkommissars gesprochen, und man weiß nicht, ob durch sie nicht mehr verwirrt als geklärt worden ist. Die Nachbarn haben nicht gesprochen, weil sie sich nicht trauen. Und die Beteiligten haben nicht gesprochen, weil sie nicht wollen. Auch die Zimmerleute nicht, die doch, wenn sie redseliger gewesen wären, ihre Gegner hätten belasten können. Aber sie wollen nicht, nämlich sie wollen nichts mit der Polizei zu tun haben. Die braven Zimmerleute

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nicht, die das Handwerk, den Fleiß und die zünftige Redlichkeit vertreten, und die vorbestraften Vereinsbrüder nicht, die im Geruche der Gaunerei, des Müßiggangs und des organisierten Verbrechertums stehen. Es gibt Polizei und Gerichte, die bereit sind, für Ordnung zu sorgen; aber diese hier machen ihre Streitigkeiten lieber unter sich ab. Und der Staat wird gut tun, darüber nachzudenken, was es bedeutet, daß er da und vorhanden ist und daß es Schichten und Gruppen von Untertanen gibt, die von ihm keinen Gebrauch zu machen wünschen. Man weiß nicht, wer es war. Und man weiß noch am meisten von dem Angeklagten und früheren Vorsitzenden Leib. Denn er hat es selbst gesagt, fast als der einzige, der bereit gewesen ist, für seine Taten einzustehen. Dieser stämmige Mann, der durch eine humorvolle Pfiffigkeit für sich einnimmt, der sein Ansehen noch erhöht hat durch die Erklärung solcher Gesellen wie den Streitigkeiten lieber unter sich ab. Und der Staat wird gut zwar ohne Waffen, in Klumpen, ist aus dem Prozeß mit einer Ehrenerklärung hervorgegangen. [sic]5 Das Gericht hat nicht verfehlt, ihm zu bescheinigen, daß er zwar der Anführer der Strafexpedition gewesen sei, daß er aber dann zur Ruhe gemahnt, sich den Ausschreitungen entgegengestellt und Mord und Totschlag verhütet habe. Der Tag wird kommen, an dem er das Gefängnis verläßt.6 Man kann nur wünschen, daß die Genossen seine Verdienste anerkennen und ihn wieder zum Vorsitzenden des Sportvereins Immertreu machen, oder, noch besser, zum Präsidenten des Rings. Inquit 10.2.1929

5 Hier ist der Text der Postausgabe der Vossischen Zeitung, Nr. 36, S. 6 wiedergegeben. In der Vossischen Zeitung, Nr. 70/A 36 v. 10.02.1929, S. 6 ist der Artikel unter der Überschrift »Die Milde gegen ›Immertreu‹« abgedruckt. Dort lautet diese Passage:. »Dieser stämmige Mann, der durch eine humorvolle Pfiffigkeit für sich einnimmt, der sein Ansehen noch erhöht hat durch die Erklärung, solcher Gesellen wie den einen Zimmermannszeugen schlüge er allein vier Stück, und zwar ohne Waffen, in Klumpen, ist aus dem Prozeß mit einer Ehrenerklärung hervorgegangen.« 6 Die Vereinsbrüder »Immertreu« zahlten umgehend die Kaution von 500 Mark, und so wurde Leib noch am selben Tage freigelassen. 1930/31 war er Berater des Regisseurs Fritz Lang für dessen Film »M – Eine Stadt sucht einen Mörder«.

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Zuletzt: Immertreu

Aus den Berliner Gerichten Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß die Verhandlung, die das Berliner Sondergericht gestern gegen einen Angeklagten namens Pukall geführt hat, zugleich seine letzte Verhandlung darstellt.7 Der Angeklagte Pukall hat aus einem Revolver geschossen und drei Menschen verletzt. Erst glaubte man, die Verletzten, oder einige von ihnen würden sterben müssen; aber es ist noch einmal glimpflich abgegangen. Wegen der schweren Körperverletzung gehört der Fall unter die Zuständigkeit des Sondergerichts. Aber, weil es ein völlig unpolitischer Fall ist, wäre auch die Verweisung an das ordentliche Gericht möglich gewesen. Das Sondergericht hat sich die Erledigung vorbehalten, und der Staatsanwalt begründet diesen Entschluß damit, daß die Ringvereine und ihr Treiben bekämpft werden müßten. In der Tat, die Schießerei ist im Bereich der Ringvereine vorgefallen; genauer: im Bereich des Ringvereins »Immertreu«. Sein Vorsitzender Leib ist der eine der Verletzten; er ist völlig geheilt. Einer liegt noch im Krankenhaus, Chimalla, ebenfalls Mitglied und auch ein hervorragendes, aber auch er ist auf dem Wege der Besserung. Der dritte Verletzte, der noch hinkt, ist zwar nicht Mitglied, aber Verkehrsgast. Der Täter war früher Mitglied, drei Jahre lang, und ist durch Beschluß der Vollversammlung ausgeschlossen worden; Präsident Leib sagt: weil er sich mit Leuten »konform erklärt« hat, die, ebenso wie der Angeklagte, mit einer Schußwaffe Unheil anrichten. Mit den Ringvereinen wissen wir einigermaßen Bescheid, seit wir den großen Immertreu-Prozeß erlebt haben, damals, als die Straßenschlacht zwischen den Mitgliedern des Rings und den Zimmerleuten vorgefallen war. Wir wissen, daß es bei ihnen nicht so zugeht, wie wir unbestraften Leute es uns vorzustellen pflegen. Es ist nicht so, daß man sich mit wilden 7 Die Sondergerichte wurden zum 21.12.1932 aufgehoben; vgl. Seite 387, Fußnote 1.

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Verbrechen und hohen Zuchthausstrafen erst legitimiert haben muß, um von ihnen aufgenommen zu werden. Es ist nur so, daß Verbrechertum und Vorbestraftheit kein Hindernis der Aufnahme bilden. Menschen, denen die ganze übrige Gesellschaft verschlossen ist, finden sich im Ringverein zusammen. Alles übrige folgt daraus. Es folgt, daß sie unter sich Kameradschaft halten; daß sie gegenseitig die Familien unterstützen, deren Ernährer in Strafhaft sitzt; daß sie ihren Anteil an den Freuden und Ehren dieser bürgerlichen Welt sich selbst beschaffen müssen. Daher ihre spießigen und steifen Ballfestlichkeiten mit Frack und weißer Binde. Daher die höchste Sehnsucht: großes Begräbnis von Vereins wegen mit Fahnen und Musik. Die Mitglieder der Ringvereine sind wahrscheinlich zum größten Teil keineswegs harmlos; aber dem Verein treten sie bei, um auch irgendwo anständig zu sein und als anständig behandelt zu werden. Als der Angeklagte Pukall ausgeschlossen worden war, ging es ihm, wie er dem Gericht anschaulich schildert, keineswegs gut. Die Leute vom Ring wollten mit ihm nichts mehr zu tun haben, und er wußte nicht, wohin. Das darf ihm ruhig geglaubt werden, daß es für seinesgleichen gefährlich ist, mit den Vereinen anzubinden. Nach seiner Darstellung entstand die Schießerei auch daher, daß er den Versuch machte, eine Aussöhnung herbeizuführen. Die Leute von Immertreu sagen: er kam und schoß. Er selbst sagt: er kam und wurde angegriffen. Darüber wird sich schwer eine Aufklärung erzielen lassen; aber das ist auch die einzige Stelle, an der dieser Fall an diejenigen Fälle grenzt, derentwegen die Sondergerichte für notwendig gehalten worden sind. Die Frage, ob die Ringvereine mehr Gutes oder mehr Böses stiften, wird von Fachleuten verschieden beantwortet. Aber darüber besteht doch wohl kein Zweifel, daß sie keine Gefahr darstellen oder darstellen dürften, die der Staat mit dem Einsatz seiner ganzen Autorität bekämpfen müßte. Wegen Immertreu brauchen wir kein Sondergericht. Indessen, wenn eine Schießerei bei den Ringvereinen schon als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wirkt, so darf daraus vielleicht geschlossen werden, daß es mit der öffentlichen Unsicherheit glücklicherweise nicht mehr so schlimm bestellt ist wie vor ein paar Monaten bei der Einsetzung der Sondergerichte.8 Inquit 18.12.1932 8 Unter dem Artikel wird die Entscheidung referiert: »Das Sondergericht verurteilte den Angeklagten Pukall wegen versuchten Totschlags in drei Fällen zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren Zuchthaus.«

Der Tod des Horst Wessel Ein politischer Mord oder ein Mord aus Eifersucht? (September 1930)

Wer ist schuld an Wessels Tod? Der richtige und der falsche Arzt

»Die Nationalsozialisten und die Kommunisten, die haben genau dasselbe Programm. Nur daß die Kommunisten es mit den Juden machen und die Nationalsozialisten das Judenvolk vertreiben wollen.« So malt sich die innere Politik Deutschlands im Kopfe der angeklagten Frau Salm, der Wirtin des erschossenen Studenten Wessel1, die sich selbst als unpolitisch bezeichnet. Aber am Ende ist diese Formulierung politischer, als sie ahnt. Freilich gibt Frau Salm sie nicht als ihre Weisheit wieder, sondern als Aeußerung des Mieters Wessel oder seiner Braut. Es mag sein, daß die Worte in ihrem Geiste durcheinander geraten sind; denn logische Klarheit ist ihre Sache nicht. Dem Vorsitzenden wird es bei aller Geduld und Bestimmtheit des Fragens nicht immer leicht, festzustellen, was sie jetzt meint und was sie früher gemeint hat. Sie will sich selbst entlasten und sie will oder darf die Mitangeklagten und die Partei nicht belasten; allzu 1 Zu Horst Wessel siehe Fußnote Seite 29.

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Gerichtsberichte über große Prozesse

Angeklagte und Verteidiger im ersten Wessel-Prozess. In der ersten Reihe u. a. Hilde Benjamin (links), Fritz Löwenthal (2. v. l.) und Alfred Apfel (rechts); 1930.

Der Tod des Horst Wessel

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schwere Aufgabe für eine kleine Frau aus dem Rheinland, die den Mann verloren hat und Zimmer vermietet. Mit dem Mieter Wessel aneinanderzugeraten, hatte sie zweierlei Anlaß: die Verschiedenheit der politischen Ansichten, wenn nicht zwischen ihm und ihr, so zwischen ihm und ihrem verstorbenen Mann; und die Reibereien des Zusammenhausens. Es scheint, daß sie ihm die Wohnung verkauft hatte, für 200 M, die sie benutzte, um ins Rheinland zu fahren; daß sie aber gegen die Abrede zurückkehrte und ihre Rechte als Inhaberin der Wohnung geltend zu machen suchte. Ob sie nach Empfang der 200 M noch Anspruch auf Monatsmiete hatte, erscheint zweifelhaft. Vorwände, ihn hinauszusetzen, hingegen fand sie genug. Er empfing seine Parteigenossen und hielt geheime Konventikel ab. Bei ihm lagerten faschistische Druckschriften. Er besaß Waffen. Und schließlich: er ließ seine Braut bei sich wohnen. Auf bloße Kündigung zu ziehen, fiel ihm nicht ein; die Ablehnung geschah vermutlich mit wenig Höflichkeit. Daß er dabei mit seinen Waffen gedroht habe, behauptet die Wirtin selber nicht, scheint sie aber vor den »Genossen« behauptet zu haben. Zunächst wandte sie sich an die Polizei. Die weigerte sich, einzuschreiten; sie sei »selbst Schutzmann in ihrem Hause«. Da ging sie Hilfe holen. Von ihrem Manne her hatte sie Bekanntschaften im kommunistischen Lager. Sie suchte sie im Lokal auf, aber dort tagte eine Funktionärversammlung; man hatte keine Zeit. Indessen: zwei liefen in ein Nachbarlokal und holten Verstärkung. Ein Haufen machte sich auf den Weg in Frau Salms Wohnung. Was war geplant? Es wird nicht bestritten, Wessel zur Rede zu stellen; wenn er nicht ging, ihn mit Gewalt aus der Wohnung zu setzen; ihm Papiere und Waffen abzunehmen. Einer sagt: geplant war eine »proletarische Abreibung«. Der Anwalt wünscht zu wissen, was sein Mandant darunter versteht. Angeklagter: »Eine proletarische Abreibung wird ohne Waffen vorgenommen, nur mit den Fäusten; aber so, daß der Betreffende ins Krankenhaus kommt.« Vorsitzender: »Ich bin durch die Antwort einigermaßen überrascht. Der Herr Verteidiger legt wohl keinen Wert darauf, daß noch Fragen in derselben Richtung gestellt werden.« Der Student Wessel kam ins Krankenhaus, aber nicht, weil man die Abreibung an ihm mit Fäusten vollzogen hatte, sondern weil er in den Kiefer geschossen worden war. Gehörte das zum Plan? Wurden die Waffen offen mitgeführt? Wußte die Leitung der Expedition von den Waffen?

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Wußte die höhere Leitung überhaupt etwas? So viel Fragen, so viel widersprechende Antworten. Von den siebzehn Angeklagten ist am ersten Tage nur ein kleiner Teil vernommen. Es ergibt sich noch kein klares Bild. Was ist nach dem Schuß unternommen worden? Auch hierüber ist Aufklärung nur schwer und hauptsächlich durch die Widersprüche der Aussage zu gewinnen. Das scheint nicht geleugnet zu werden, daß einer die Parole ausgab: »Alle raus.« Sie wurde befolgt. Verständigung hinterher wird bestritten. Immerhin gibt Frau Salm zu, ins Karl-Liebknecht-Haus bestellt worden zu sein, wo ihr mitgeteilt wurde, man werde die Affäre als eine »Eifersuchtstragödie unter Zuhältern« darstellen, um die Polizei von der kommunistischen Fährte abzulenken. Bestritten wird auch, daß die Teilnehmer zur Verschwiegenheit aufgefordert worden seien, unter der Drohung: »Wer etwas verrät, bekommt eine Kugel in den Kopf.« Um den verwundeten Studenten Wessel bemühte sich nur seine Wirtin, Frau Salm. Sie wollte ihren Arzt holen, der nebenan wohnt. Er verbot es ihr, falls es ein jüdischer Arzt sei. Es kam zunächst, von der Braut geholt, die Partei, seine Partei, und schaffte die Papiere weg. Dann kam die Polizei. Dann erst, nach Verlauf einer Stunde, kam der »richtige« Arzt. Sachverständige werden sich im Verlauf des Prozesses darüber äußern, ob der Tod an Blutvergiftung zu vermeiden gewesen wäre, wenn man nicht auf den »richtigen« Arzt gewartet hätte. Inquit 23.9.1930

Leben im Proletariat

Zweiter Tag des Wessel-Prozesses Die beiden Hauptangeklagten in der großen Schwurgerichtsverhandlung um den Tod des nationalsozialistischen Sturmführers Wessel, Ali Höhler und Erwin Rückert, sehen einander auffallend ähnlich. Beide hochgewachsen, kräftig, gut gebaut, hellblond; beide überragen ihre zum Teil kleinen und dunklen Mitangeklagten sowohl an Größe wie an Wohlgestalt. Aber sie

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sehen nur ähnlich aus, sie sind sehr verschieden: ihre Art zu reden verrät es. Erwin Rückert stellt sich dar als ein volkstümlicher Sprecher, auf derbe Wirkungen bedacht, etwa von der Art, wie man sie in Berlin auf Straßen und Plätzen als witzige Ausrufer irgendeines wohlfeilen Verkaufsartikels trifft. Er gestattet sich im Verkehr mit dem Vorsitzenden eine Vertraulichkeit, die bisweilen nahe an Ungezogenheit herankommt. Vorsitzender: »Als Sie die Papiere verbrannt hatten, was war da weiter?« »Was soll da weiter gewesen sein? Da waren sie weg.« Nur ein meisterlicher Verhandlungsführer wie Landgerichtsdirektor Tolk darf solche Dreistigkeiten hingehen lassen, ohne seiner Würde etwas zu vergeben. Erwin Rückert versucht im Ton des heiteren Biedermannes die Vorgänge harmlos darzustellen und den unbequemen Fragen durch Berufung auf die Sitten des Proletariats auszuweichen. Warum er sich für berechtigt gehalten habe, in die Wohnung der Frau Salm mit hinaufzugehen und dort Faustrecht zu üben? »Sehen Sie, Herr Vorsitzender, das ist bei uns so. Wenn eine hilflose Frau Schutz braucht, dann schützen wir sie.« Warum der Mitangeklagte Kupferstein ihm nach der Tat ohne nähere Aufklärung ein Quartier verschafft habe? »Das verstehen Sie nicht, Herr Vorsitzender. Da müßten Sie mal vier Wochen mit uns leben. Das kommt jeden Tag vor, daß einer Quartier braucht. Da wird nicht erst lange gefragt.« Immer wieder hat er die Lacher auf seiner Seite. Auch Ali Höhler redet wortreich und geübt. Aber er ist verdorben durch die Leidenschaft, Volkstümlichkeit zu vermeiden und Bildung anzudeuten. Er redet wie gedruckt, aber er wendet die gedruckten Redensarten falsch an. »An Hand«, »in Anbetracht«, »in dieser Beziehung«, »indirekt« – kein Satz, in dem nicht eine dieser Formeln vorkäme, kein Satz, in dem sie einen richtigen Sinn hätten. Er ist derjenige, der den tödlichen Schuß abgegeben hat. Er vor allen andern muß wissen, was geplant war. Seine Verteidigung in der Hauptverhandlung, im Gegensatz zu seinen Aussagen im Vorverfahren, geht dahin: er habe nicht geschossen, sondern nur die geladene Waffe aus der Manteltasche gerissen, als er sich dem Studenten Wessel gegenübersah, der selber eine Bewegung nach seiner Waffe vollführte. Dabei sei die Sicherung gelöst worden und der Schuß gefallen. Kein Mord, auch kein Totschlag, sondern ein Unglücksfall. Auch er will mit Frau Salm gegangen sein nach dem schönen Brauch der armen Leute, einander beizustehen. Nach der Tat oder nach dem Unglück hieß es, entwischen. Die Freunde schafften ihn zunächst in ein Landhaus

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in Glienicke an der Nordbahn. Geredet wurde nicht viel, war wohl auch nicht nötig; die Freunde begriffen rasch. Eines Tages stand ein Auto bereit und brachte ihn über die Grenze der Tschechoslowakei. Ein Vertrauensmann, der mitangeklagte Drewnitzki, begleitete ihn und brachte ihn nach Prag. Dort sollte er den Flüchtling zurücklassen, ausgestattet mit so viel Geldmitteln, daß er sein Leben fristen konnte, bis er Arbeit fand. Aber Drewnitzki betrog ihn, so erzählt voll Empörung Ali Höhler. Der Hunger trieb ihn nach Berlin zurück. Er fand Unterschlupf bei Freunden, wie es sich von selbst verstand. Aber einer ging hin und holte die Kriminalpolizei. Und also, wenn der Vorsitzende den Vorschlag Erwin Rückerts annähme und mit ihm vier Wochen im Proletariat lebte, um es kennenzulernen: welches sollte er für das echte Proletariat halten? Dasjenige, in dem der eine der Bruder des andern ist, oder dasjenige, in dem der Vertrauensmann den Schützling um die Mittel zum Unterhalt betrügt und der Unangefochtene den Verfolgten der Polizei ausliefert? Wahrscheinlich würde der Vorsitzende aus dem Anschauungsunterricht die Lehre ziehen, zum Proletariat gehören sowohl anständige Leute als auch Schurken, und wahrscheinlich würde er finden, es sei dort nicht anders als in der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Inquit 24.9.1930

Die Braut des Studenten Wessel Dritter Tag des Kommunisten-Prozesses

Der Verteidiger: Damals, als Sie noch jenen gewissen Beruf ausübten – es ist mir sehr peinlich, davon zu sprechen; aber ich kann es nicht vermeiden, im Interesse der Angeklagten. Zeugin: Mir ist es gar nicht peinlich. Ich bin bereit, auf jede Frage zu antworten. Und sie antwortet. Jawohl, sie hat jenen gewissen Beruf ausgeübt. Jawohl, daher, das heißt, von der Straße kennt sie den Mann, der ihren Verlobten erschossen hat, flüchtig, wie man eben jemanden daher kennt. Als sie zu

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Horst Wessel in Beziehungen trat, gab sie jenen gewissen Beruf auf. Jetzt schneidert sie. Mit Wessel war sie ernsthaft und öffentlich verlobt. Sie wollten sich heiraten. Von dem toten Gefährten bewahrt sie ein verklärtes Bild. Er sei für den Kampf mit geistigen Waffen eingetreten und habe Gewalttätigkeiten verabscheut. Sie habe seine nationalsozialistische Gesinnung geteilt, sei aber selbst nicht organisiert gewesen. Mit ihren Wirtsleuten Salm, namentlich als der Mann, der Kommunist, noch lebte, habe sie oft und gern über politische Fragen diskutiert, in aller Freundschaft. Von den beiden Pistolen in Wessels Schrank gehörte die eine ihr, Erinnerung an Horst Wessels verstorbenen Bruder Werner. Die andre habe Horst Wessel von Hause mitgebracht, zu seinem Schutze, aber nie bei sich geführt. Horst Wessel studierte Jura. Als er mit ihr zusammenzog, nahm er, um ihrer beider Unterhalt zu verdienen, Arbeit beim Bau der Untergrundbahn. Seiner Mutter gefiel das nicht; sie drang darauf, daß er eine mehr standesgemäße Beschäftigung suchte. Dann sollte er das Studium wieder aufnehmen. Niemand wird sich wundern, daß sie die Täter belastet. Nach ihrer Darstellung hatten sie die Wohnung von Frau Salm gekauft für 200 Mark, und zwar gemeinsam. Sie ließen renovieren und richteten sich häuslich ein. Unerwartet verlangte Frau Salm die Wohnung zurück. Es wurde eine neue Abmachung getroffen: die Renovation wollte Wessel ihr schenken, die Kaufsumme aber abwohnen. Es hätte bis in den Sommer gereicht. Frau Salm trat mit einer neuen Forderung hervor: das gelte für ihn, aber für die Braut müsse Miete gezahlt werden, 13 Mark monatlich. Um des lieben Friedens willen, sagt die Braut, ging er darauf ein. Inzwischen sah man sich nach einer neuen Wohnung um. Zu Weihnachten wurde Horst Wessel krank: Sein Bruder Werner war im Riesengebirge tödlich verunglückt, er hatte die Leiche heimgeholt. Nach der Beerdigung packte ihn ein Nervenfieber. Er konnte nicht arbeiten, er konnte auch die 13 Mark nicht bezahlen. Da ging Frau Salm ohne Wissen der Mieter zur Polizei und meldete das Mädchen ab. Sie weigerte sich, auszuziehen. So stellt der Streit um die Miete sich dar, von ihr aus gesehen. Am Abend des 14. Januar befanden sie sich selbdritt ahnungslos in Wessels Zimmer. Er war so weit wiederhergestellt, daß er auf dem Sofa sitzen konnte. Sie hatten Besuch und erwarteten noch mehr Besuch. Es klingelte – jenes Klingeln, das Frau Salm mit einem Schlag gegen die Glocke verursachte, um den Eindruck zu erwecken, sie sei nicht allein. »Das ist Richard«, rief die Braut. Wessel stand auf und ging zur Tür. Ehe er aber dazu kam, zu

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Zuschauer im Wessel-Prozess; 1930.

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öffnen, wurde sie von außen aufgeklinkt, eine Hand langte durch den Spalt und schoß. Wessel stürzte. Drei Männer traten ein. Ali Höhler rief dem Getroffenen zu: »Du weißt, wofür.« Den beiden Frauen befahl er stillzuschweigen. Ehe er mit seinen Genossen ging, riet er noch, einen Arzt zu rufen. Der Verwundete konnte nichts weiter sagen als »Arzt«. Dann verlangte er Papier und schrieb darauf die Bitte, ins Achenbach-Krankenhaus gebracht zu werden. Sie nahm die zweite Waffe aus dem Schrank und lief dem Täter nach, um ihn – sie gibt es unumwunden zu – »zur Strecke zu bringen«, wenn sie ihn fände. Dann zur Rettungswache, dann zu Parteifreunden. Die Polizei kam und wollte ihr den Revolver abnehmen; sie bat, ihn behalten zu dürfen, zu ihrer Sicherheit. So stellt sie es dar. Sie spricht klug, beherrscht, entschieden, sehr überlegt, nicht ungebildet. Niemand würde auf den Gedanken kommen, daß sie einmal jenen gewissen Beruf ausgeübt hat. Von dem toten Wessel sagt sie, er sei von stattlicher Figur gewesen, ebenso hochgewachsen wie sein Mörder. Sie selbst sieht ganz anders aus: auf unscheinbarem Körper ein zu großes Gesicht mit unregelmäßigen Zügen. Keineswegs schön, nicht einmal hübsch. Bescheidenes Gefäß, mißbraucht und besudelt, aber mit unerwartet kostbarem Inhalt. Eine Dirne? Ein Mensch. Inquit 25.9.1930

Urteilsspruch im Wessel-Prozeß Zuchthaus für die Hauptangeklagten

Unter großem Zudrang des Publikums wurde gestern nachmittag im Wessel-Prozeß durch Landgerichtsdirektor Tolk das Urteil verkündet. Es wurden bestraft: wegen Totschlags und unerlaubten Waffenbesitzes Höhler und Rückert mit je 6 Jahren 1 Monat Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust. Kandulski mit 5 Jahren 1 Monat Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust. Wegen Beihilfe wurden Gefängnisstrafen von 1 bis zu 2 Jahren verhängt, unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Vier Angeklagte wurden wegen Begünstigung zu je 4 Monaten Gefängnis verurteilt, unter Zubilligung

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einer Strafaussetzung von drei Jahren. Vier Angeklagte wurden freigesprochen. Unter dem Schutz eines starken Polizeiaufgebots wurde das Urteil ruhig und ohne Zwischenfall aufgenommen. * Das Schwurgericht unter Tolks Leitung hat sich von keinem der 17 Angeklagten etwas vormachen lassen. Es hat dem Schützen Höhler nicht geglaubt, daß ihm der tödliche Schuß aus Versehen losgegangen sei. Es hat den Begünstigern nicht geglaubt, daß sie nicht gewußt hätten, wem sie zur Flucht verhalfen. Es hat aber auch den Tätern nicht geglaubt, was einer nach dem anderen dem Gericht einzureden suchte, daß es bei der ganzen Unternehmung nur darauf abgesehen worden sei, dem Studenten Wessel mit Gewalt die Waffen und die Papiere wegzunehmen. Es hat ihnen dies zu ihren Gunsten nicht geglaubt; denn sonst wäre es Raub mit Waffengewalt und Todeserfolg gewesen, und es hätte die Täter mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestrafen müssen. Das Gericht ist vielmehr davon überzeugt gewesen, daß alle Personen, die auf Bitten der Frau Salm ihr in die Wohnung gefolgt sind, die Absicht gehabt haben, Frau Salms Mieter, dem Studenten und nationalsozialistischen Gruppenführer Wessel das zu verabreichen, was sie selbst eine »proletarische Abreibung« nennen. Wobei sie sich nicht darüber verständigt zu haben brauchen, wie weit diese Abreibung gehen sollte. Daß aber beim Zusammenstoß mit dem politischen Gegner Blut fließen konnte, damit müssen sie gerechnet haben. Daher hat das Gericht die Tat als Totschlag angesehen. Als Haupttäter gilt nicht nur Höhler, der den Schuß abgegeben hat, sondern auch Rückert, der ebenfalls eine Waffe bei sich führte, und von dem die Urteilsbegründung sagt, daß er nur zufällig nicht als Erster an die Tür geklopft und also zufällig nicht den Schuß abgegeben hat. Das Gericht hält ferner für bewiesen, daß nach der Tat Max Jambrowski erfuhr, was sich abgespielt hatte, und den Sturmtruppführer Kupferstein in Kenntnis setzte. Und nun lief alles so ab, wie es ablaufen mußte, um das zu erreichen, was beabsichtigt wurde, nämlich die Haupttäter ihrer Strafe zu entziehen: Kupferstein führte die beiden in die Schmidtsche Wohnung, Käthe Schmidt benachrichtigte ihren Chef Will, der sorgte für die Ueberführung in das Landhaus Sander, und von da erfolgte die Flucht über die Grenze. Das Gericht hat sich nichts vormachen lassen und die Strafen verhängt, die der blutigen Tat angemessen sind. Aber es hat auch in weitem Maße

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Milde geübt, hat vieren der Verurteilten Bewährungsfrist zugebilligt und vier Angeklagte freigesprochen. Eine ist dabei zu gut weggekommen, die Vermieterin Frau Salm, von der das ganze Unheil angerichtet worden ist. Denn im Anfang handelte es sich nur um einen banalen Zwist zwischen Vermieter und Mieter, bei dem Frau Salm, die Vermieterin, offenbar in vollem Umfang unrecht hat. Sie hatte die Wohnung an den Studenten Wessel verkauft und hatte die Kaufsumme, 200 Mark, dafür empfangen. Dann wurde ihr das Geschäft leid, sie wollte es rückgängig machen und den Mieter aus der Wohnung setzen. Sie versuchte es mit unberechtigten Forderungen und unerlaubten Maßnahmen, und als ihr alles nichts half, wandte sie sich an diejenigen, von denen sie annehmen konnte, daß sie in ihnen willige Helfer finden würde: an die politischen Freunde ihres verstorbenen Mannes. Die politische Feindschaft, die sie bei jenen voraussetzen durfte, war bei ihr selbst nicht der Antrieb des Handelns. Sie berief sich vor Gericht darauf, zu ihrer Entlastung, aber es belastet ihren Charakter. Sie stachelte den Zorn der anderen auch noch durch die unwahren Angaben, ihr werde die Miete widerrechtlich vorenthalten, und sie sei mit Waffen bedroht worden. Das, was die andern zu ihrer blutigen und strafwürdigen Tat trieb, war immerhin das edle Motiv der Entrüstung über vermeintliches Unrecht und der Hilfsbereitschaft für eine schutzbedürftige Genossin. Was die Frau Salm trieb, war nichts anderes als Eigennutz, den sie auf niederträchtige Weise zu befriedigen suchte. Auch anderthalb Jahre Gefängnis sind keine geringe Strafe, und vielleicht reichen sie aus zur Sühne dessen, was sie angerichtet hatte. Aber wenigstens hätte sie aus dem Munde ihres Richters erfahren sollen, daß sie es ist, die moralisch die schwerste Verurteilung verdient.2 Inquit 27.9.1930

2 1934 wurde der Prozess unter der nationalsozialistischen Regierung ohne rechtliche Grundlage noch einmal aufgerollt. Ali Höhler wurde nach einer Überführung vom Berliner Polizeigefängnis ins Zuchthaus entführt. Sein Leichnam wurde – von Kugeln durchlöchert – im Wald bei Freienwalde gefunden. Erwin Rückert wurde nach Verbüßung der Zuchthausstrafe 1936 zur »Sicherheitsverwahrung« ins Konzentrationslager Mauthausen eingeliefert, wo er 1943 starb. Elisabeth Salm starb 1945 vierundvierzigjährig, nach jahrelangem Aufenthalt in verschiedenen Konzentrationslagern, in BergenBelsen. Es wurden jetzt auch diejenigen Personen des Mordes angeklagt, die an jenem Tag von der Gaststätte zur Wohnung von Horst Wessel mitgegangen waren.

Der Sklarek-Prozess Korruption in der Berliner Gesellschaft (März 1931 bis Februar 1932)

»Sekt aus Kübeln«

Vorklang zum Sklarek-Prozeß Von den Brüdern Sklarek1 hat sich derjenige, der den Vornamen Leo führt, vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte wegen Beleidigung des Bürgermeisters Scholtz zu verantworten. Die Brüder Sklarek sind für den Außenstehenden vorläufig nicht zu unterscheiden. Wenn einmal der große Sklarek-Prozeß läuft, werden sich vielleicht die Charaktere sondern. Vorläufig bedeutet Leo Sklarek nicht mehr als auch einer von den Sklareks. Ihm also wird vorgeworfen, öffentlich behauptet zu haben, Bürgermeister Scholtz sei auf dem Presseball 1929 stundenlang an dem Tisch der Sklareks bewirtet worden und habe Sekt aus Kübeln getrunken und Kaviar mit Löffeln gegessen. Der Vorsitzende stellt fest, daß nicht einmal Leo Sklarek in seiner Erregung das Trinken von Sekt aus Kübeln und das Essen von Kaviar mit Löffeln wörtlich gemeint habe. Wohl aber liege in dieser übertreibenden Redensart der Vorwurf des ungehörigen Benehmens. Der Vorsitzende stellt 1 Die Brüder Sklarek: Max (1882–1934), Leo (1884–1942), Willy (1885–1938).

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Gerichtsberichte über große Prozesse

ferner fest, daß es in unserer Zeit der Not und des Hungers peinlich sei, sich mit Kaviar und Sekt abgeben zu müssen. Andererseits weist er die Torheit derjenigen zurück, die sich entrüsten, wenn es auf Festen festlich zugeht, und die so tun, als erwarteten sie von den Oberhäuptern der Reichshauptstadt, sie würden auf dem Presseball Limonade trinken und Schmalzstullen essen. Hierüber herrscht Einigkeit. Es erscheint jedoch notwendig, die Begriffe richtig zu stellen, die offenbar über den Presseball umlaufen. Ein Zeuge belehrt das Gericht: »Auf dem Presseball gibt es nur Prominente.« Aber das stimmt nicht. Er überschätzt denn doch die Zahl der Prominenten, oder er unterschätzt die Zahl der Besucher. Ein anderer gibt seiner Ueberzeugung dahin Ausdruck: »Auf dem Presseball wird nur Sekt getrunken.« Auch das stimmt nicht. Der Oekonom wird genaue Auskunft geben können. Manche trinken einfachen Wein, manche trinken Bier, manche trinken Selter und manche trinken gar nichts. So wird es auch auf dem Presseball 1929 zugegangen sein. Aber vielleicht meinen diese Zeugen etwas ganz anderes, wenn sie vom Presseball sprechen. Vielleicht meinen sie, richtig auf dem Presseball sei nur derjenige, der auf Grund einer besonderen Karte in der Ehrenloge Platz nehmen darf. Oder wenn sie in ihren Forderungen nicht so weit gehen, vielleicht meinen sie, richtig zum Presseball gehöre nur derjenige, der von jemandem eingeladen sei, an seinem Tische Platz zu nehmen und sich von ihm bewirten zu lassen. Denn das gibt es auf dem Presseball. Leute, die es sich leisten können oder die es sich schuldig sind, mieten eine Loge, im Saal oder im Rang, und laden ihre Freunde zu Gast. Sie geben ein privates Fest in der Oeffentlichkeit. Man ist bei ihnen zu Besuch und doch auf dem Presseball. Wer wäre nicht stolz, wenn er durch eine solche Einladung ausgezeichnet wird! So hielten es 1929 auch die Sklareks. Oder vielmehr Max Sklarek hielt es so. Er mietete eine Rangloge, ließ drei Tische zusammenrücken, lud 24 Personen ein und setzte ihnen ein Abendessen vor. Das Menü enthielt ein delikates Vorgericht, Kaviar wurde in Originalpackung herumgereicht, und die Gäste bedienten sich mit Hilfe eines Löffels. Es gab außer anderen Weinen auch noch hauptsächlich Sekt. 59 Flaschen standen schließlich auf der Rechnung. Aber die hatten die geladenen Gäste nicht allein getrunken, vielmehr herrschte ein ununterbrochenes Kommen und Gehen von Bekannten, und wer sich auch nur für kurze Zeit an den Tisch setzte, wurde mitbewirtet. Bleibt noch die Frage, ob die Gäste sich unmanierlich betrugen.

Der Sklarek-Prozess

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Darüber werden viele Zeugen vernommen, meistens Gäste, von denen die Männer meistens 1929 zu den leitenden Stadtbeamten gehört hatten. Alle leugnen, daß es unmanierlich zugegangen sei, manche finden die Bewirtung angemessen, manche opulent, ein einziger, ein Kaufmann, gesteht, daß er so etwas noch nie erlebt habe, und ist nicht abgeneigt, den Sekt-Konsum privatim als »schöne Sauferei« zu bezeichnen. Gegen morgen hielt er es für angemessen, sich zurückzuziehen. Aber auch er stimmt den anderen darin zu, daß es »sehr gemütlich« gewesen sei. Ueber Bürgermeister Scholtz gibt es nur eine Stimme. Er gehörte gar nicht zu den Geladenen, nahm also nicht an dem Menü teil, er kam nur promenierend vorüber, wurde von Bekannten angehalten und zum Sitzen genötigt, trank ein Glas Rotwein, bestellt sich einen gebackenen Fisch, aß ihn und ging. Wer über die Loge verfügte, wer also seinen Fisch bezahlte, wußte er gar nicht. Jetzt freilich weiß er, daß er bei Max Sklarek zu Gaste war, der eine Zeche von 3 500 Mark zu begleichen hatte. Leo Sklarek, der Angeklagte, sieht ein, daß er dem Bürgermeister Scholtz unrecht getan hat, legt diese Einsicht in einer Erklärung nieder und fügt sein Bedauern hinzu. Bürgermeister Scholtz gibt sich damit zufrieden und nimmt den Strafantrag zurück. Eins bleibt bestehen, nämlich der mit Verwunderung gemischte Zorn des Angeklagten, daß die leitenden Funktionäre der Stadt Berlin sich jetzt als Feinde gebärden, während sie früher von der Freundschaft der Sklareks so gern Gebrauch gemacht haben. Wir können ihm nicht ganz unrecht geben. Mit einem kleinen Unterschied. Leo Sklarek begreift nicht, warum sie jetzt über ihn herfallen. Wir begreifen nicht, warum sie sich damals bewirten ließen. Aber der große Sklarek-Prozeß soll ja erst noch kommen. Vielleicht verstehen wir dann besser, und Leo Sklarek auch. Inquit 6.3.1931

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Leo und Willy Sklarek auf dem Gerichtsflur; um 1931.

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Leo, Willi2 und Max

Erster Tag des Sklarek-Prozesses

Lange genug haben wir auf den Sklarek-Prozeß gewartet. Oder haben wir gar nicht mehr gewartet? Die Welt ist in diesen zwei Jahren weitergerollt, vieles, was festzustehen oder wichtig zu sein schien, ist inzwischen vom Strudel der Zeit verschlungen worden. Wie weit hinter uns liegt nun schon wieder jenes Berlin, in dem die Sklareks eine Rolle spielen durften! Nachdem wir zwei Jahre gewartet haben, können wir es uns leisten, auch noch zwei Stunden zu warten. In diesen zwei Stunden werden von den Verteidigern kluge Reden gewechselt darüber, ob die Notverordnung, auf Grund derer der Sklarek-Prozeß statt vor dem Erweiterten Schöffengericht gleich vor der Großen Strafkammer verhandelt wird, gilt oder nicht, ob sie morgen noch gelten wird oder nicht, ob man daher vertagen soll oder nicht. Das Gericht entscheidet, wie nicht anders zu erwarten ist: es hält sich für zuständig und ordnungsgemäß besetzt. Es tritt in die Verhandlung ein. Dreizehn Namen stehen auf der Liste der Angeklagten. Wer die Zahl 13 fürchtet, kann seinen Aberglauben bestätigt finden: Einer fehlt, Max Sklarek. Er ist krank, man darf sagen: er liegt im Sterben. Das Gericht begnügt sich nicht mit den vorgelegten Attesten der behandelnden Aerzte. Es schickt seinen eigenen Gutachter hin. Aber der kann auch nichts anderes feststellen, als daß Max Sklarek verhandlungsunfähig darniederliegt, mit schwerem Nieren- und Herzleiden, das nicht nur den Leib, sondern auch den Geist angegriffen hat. Auch seinem schlimmsten Feind wird niemand ein solches Ende wünschen. Aber Leo Sklarek ist da und Willy Sklarek ist auch da. Im Laufe des Prozesses werden sich die Individualitäten scheiden; vorläufig muß man sich begnügen mit der Feststellung: Leo, das ist der mit dem vollen Scheitel, Willy, das ist der mit der Glatze. Beide sind glatt rasiert, gut gekleidet, klein. Beide sehen nicht so aus, als wären sie bestimmt, irgend eine Rolle zu spielen. 2 Richtig: Willy.

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Leo und Willy sind da, und wenn nicht alles täuscht, so befinden sie sich recht munter. Kein Gedanke, daß sie sich etwa schon besiegt geben. Sie selbst sind die Betrogenen, sie kündigen an, daß sie die Wahrheit sagen werden, eine Wahrheit, an denen andere Leute, zum Teil ihre Mitangeklagten, keine Freude haben sollen, und sie zeigen sich aufgelegt, hartnäckig und temperamentvoll zu kämpfen. Was aber ihren Bruder Max angeht, so werden sie sein schweres und lebensgefährliches Leiden ohne Zweifel brüderlich bedauern. Indessen er ist nun einmal nicht zur Stelle, es besteht auch keine Aussicht, daß er noch kommen wird, und kurz und gut: der kranke Max trägt die Schuld an allem Unglück! So schnell haben sie sich gefaßt, daß die Unglückszahl 13 ihnen noch zur Glückszahl werden kann. Ihr Vater, erzählen sie, ist in jungen Jahren aus Rußland eingewandert und hat ein Mädchen aus Deutschland geheiratet. Daß er Schneider gewesen sein soll, lassen sie nicht gelten. So weit sie sich zurück erinnern, betrieb er ein Konfektionsgeschäft. Als Max eingesegnet wurde, starb die Mutter. Der Vater heiratete zum zweitenmal, die Stiefmutter ist noch am Leben. Den drei Brüdern gelang es während des Krieges, sich einbürgern zu lassen. Mit der Einberufung zum Heeresdienst dagegen hatte das neue Vaterland kein Glück. Einmal waren Leo und Willy deswegen in eine Strafverfolgung verwickelt. Indessen der Mitangeklagte und Hauptbelastungszeuge, ein Hauptmann von Kleist, starb, und das Verfahren mußte eingestellt werden. Die ungerechte Beschuldigung, behaupten die Brüder, sei nur dadurch entstanden, daß sie mit dem Hauptmann zusammen im Zentralhotel wohnten. Andere Leute wohnen möbliert und ärgern sich mit der Wirtin herum. Die Brüder Sklarek, solange sie Junggesellen waren, wohnten im Zentralhotel. Sie bewiesen also schon damals, in den Anfängen ihrer Laufbahn, den Hang zur Feinheit. Vielleicht war es dieser selbe Hang, durch den Leo sich zum Rennsport hingezogen fühlte. Er gründete einen Stall und später ein Gestüt. Er rühmte sich, daß er die besten Pferde habe laufen lassen. Immer wieder versucht er, die Vernehmung auf den Rennsport hinzulenken. »Wie stellen Sie sich das vor, Herr Vorsitzender, wenn man bei einem Rennen … ?« Es ist noch heute seine Passion. Oder will er nur den Eindruck erwecken, er sei seiner Passion verfallen, um seine Ausgaben zu rechtfertigen? Die großen Ausgaben mußte das Geschäft bestreiten. 1915 machten sich die Sklareks selbständig. Von da ab folgte Gründung auf Gründung, unter verschiedenen, sehr ähnlichen Firmen. Das Verhältnis der Firmen zueinander und der Zweck der Gründungen wird noch aufgeklärt werden

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müssen. Zuletzt saßen sie im Geschäftshause der Kommandantenstraße stattlich durch drei Etagen, den Monopolvertrag mit der Stadt Berlin in der Tasche. Ob denn die Ausgaben, die Leo sich erlaubte, durch die Einnahmen gerechtfertigt waren, will der Vorsitzende wissen. Leo kann keine Auskunft geben. Er hat mit den Büchern nichts zu tun gehabt, er hat sich auf sein eingearbeitetes Personal verlassen, er hat dem Bruder Max vertraut. Und Max, der kranke Max, der nicht mehr aussagen kann, ist eine herrische Natur gewesen und hat alles allein gemacht. Die großen Ausgaben aber kamen so zustande: Die Brüder Sklarek gingen aus, mit Freunden. Vorsitzender: »Mit Ihren Geschäftsfreunden?« Leo Sklarek: »Es waren auch Geschäftsfreunde.« Vorsitzender: »Gingen Sie mit ihnen aus wegen der Geschäfte?« Leo Sklarek: »Wenn wir ausgingen, wurde von Geschäften nie gesprochen. Das hatten wir nicht nötig. Wir hatten ja die Verträge.« Sie gingen also nur zum Vergnügen aus. Und da zum Beispiel Leo in Berlin sehr bekannt war, so fand sich bald ein großer Kreis von Freunden an seinem Tisch ein. Sie aßen und tranken, und er bezahlte. Nicht immer, aber oft. Die Hälfte der Zeche liquidierte er dann im Geschäft als Spesen. So erzählt Leo, von Willy unterstützt. Und es sieht ganz so aus, als erzählt er die Wahrheit. Da ist doch der frühere Stadtbankdirektor Hoffmann, der Mitangeklagte, ein anderer Kerl. Leo rühmt sich, er sei mit Hoffmann befreundet gewesen. Die geschäftlichen Besprechungen hätten nur immer fünf Minuten gedauert. Dann wäre das Private an die Reihe gekommen, zum Beispiel Leos Rennpferde, für die sich Direktor Hoffmann lebhaft interessierte. Er konnte es gar nicht erwarten, daß Leo zu ihm kam und sich mit ihm unterhielt – bildet Leo sich ein. Aber da springt der angeklagte Direktor Hoffmann auf. Freundschaft? Aber gar kein Gedanke! Die Sklareks waren Kunden, und mit Kunden muß man freundlich tun. »Von Ihnen, Herr Sklarek«, schreit er ihm von einer Seite des Saales zur anderen ins Gesicht, »scheidet mich eine unüberbrückbare Kluft. Sie haben gesagt: Geld ist Macht. Ich habe Ihnen erwidert: Geld ist eine Macht. Das ist der Unterschied zwischen uns.« Trotz des Unterschieds kann Direktor Hoffmann nicht leugnen, daß Geschenke ausgetauscht worden sind, daß die Ehefrauen miteinander verkehrt haben, und daß er auch nach Aufdeckung des Skandals noch mit den Sklareks umgegangen ist.

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Und bei dieser Gelegenheit verliert auch Willy Sklarek, der sich nicht aufregen darf, seine Fassung. »Seien Sie doch nicht so feige«, schreit er. »Warum wollen Sie jetzt nicht zugeben, daß wir Freunde waren? Damals konnten Sie gar nicht genug um uns scharwenzeln.« Er meint nicht nur den Direktor Hoffmann. Hoffmann ist einer von den zehn Mitangeklagten. Alle zehn leugnen, sich schuldig gemacht zu haben. Das genügt für den ersten Verhandlungstag. Und alles Weitere muß man abwarten. Inquit 14.10.1931

Der Bürgermeister von Köpenick Lehren aus dem Sklarek-Skandal

Wer soll lernen aus dem Skandal um die Brüder Sklarek? Vielleicht brauchen wir uns nicht hochmütig auszuschließen; vielleicht gibt es für uns alle bei dieser Gelegenheit etwas zu lernen. Aus dem Riesenkomplex der Anklage kommen zur Sprache die Verluste der K. V. G.3, will sagen der Kleiderverwertungsgesellschaft, aus der Zeit, da dieses segensreiche Unternehmen noch nicht an die Brüder Sklarek abgeschoben worden war. In den Jahren, die hier eine Rolle spielen, besaß die Stadt sämtliche Anteile der G. m. b. H., es gab Geschäftsführer oder 3 Die K. V. G., »Kleider-Verwertungs-Gesellschaft«, wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin gegründet, um durch den Handel mit gebrauchten Kleidern die Not zu lindern. Später ging die Gesellschaft dazu über, auch neue Kleidung zu verkaufen und wurde nun zur »Kleider-Vertriebs-Gesellschaft«. Städtische Stellen wie Fürsorgeämter, Krankenhäuser und Asyle wurden verpflichtet hier einzukaufen. Die Brüder Sklarek waren Lieferanten der K. V. G.. Als die Geschäfte schlecht gingen, verkaufte die Stadt die Gesellschaft an die Brüder Sklarek, die den Betrieb in denselben Räumen und mit demselben Personal weiterführten. Auch die alten Briefköpfe wurden weiter verwendet, so dass der Eindruck entstand, als ob sich nichts geändert hätte. Die Stadt versprach den Sklareks Kredite und sichere Aufträge.

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Direktoren, die der Magistrat ernannte, und es gab einen Aufsichtsrat, in den man entweder vom Magistrat oder von der Stadtverordnetenversammlung delegiert wurde, unter der juristischen Form einer Wahl durch die Gesellschafter-Versammlung. Der Aufsichtsrat wählte sich seinen Vorsitzenden, und das war in den Jahren, die hier eine Rolle spielen, der Mitangeklagte Kohl. Die K. V. G. kaufte hauptsächlich bei den Sklareks. Sie kaufte, behauptet die Anklage, weit über ihren Bedarf. Sie kaufte, um den Brüdern Sklarek Aufträge zuzuwenden und mit Hilfe dieser Aufträge ihnen unter dem Namen von Krediten und Vorauszahlungen unerhört hohe Summen von seiten der Stadt Berlin zu verschaffen. Und sie tat dies, weil ihr Aufsichtsratsvorsitzender Kohl von den Brüdern Sklarek bestochen war. So behauptet die Anklage. Der Angeklagte Kohl soll sich äußern, und es entspinnt sich folgendes Gespräch: Vors.: Wußten Sie, daß die Firma Sklarek Zahlungen erhielt, bevor sie Ware geliefert hatte? Angekl. Kohl: Um die Vorauszahlungen habe ich mich nicht gekümmert. Vors.: Aber Sie waren doch Vorsitzender des Aufsichtsrats. Angekl.: Ich habe mich auf die Geschäftsführer verlassen. Vors.: Aber einer der Geschäftsführer mußte doch bald danach wegen Unregelmäßigkeiten hinausgeworfen werden. Angkl.: Ich hielt ihn für vertrauenswürdig. Vors.: Worauf stützten Sie Ihr Vertrauen? Angkl.: Es kamen doch die Organe der Stadtrechnungskammer und prüften nach. Monita wurden nicht erhoben. Ich kann mich doch nicht selbst um die Bücher kümmern. Vors.: Wollen Sie sagen, Sie waren anderweitig zu sehr beschäftigt? Angkl.: Mehr kümmern sich doch andere Aufsichtsratsvorsitzende auch nicht. Vors.: Wußten Sie, daß mit Verlust gearbeitet wurde? Angekl.: Ich wußte es erst zum Schluß. Vors.: Aber schon die Bilanz von 1925 weist ein Defizit von 700 000 Mark auf. Worauf beruht denn das Ihrer Meinung nach? Angekl.: Ich nahm an: auf dem schlechten Geschäftsgang. Vors.: Kümmerten Sie sich um Einzelheiten der Bilanz? Angekl.: Jawohl. Zum Beispiel wurden die Abschreibungen besprochen. Vors.: Warum machten Sie Abschreibungen?

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Angekl.: Das ist doch überall so. Vors.: Kümmerten Sie sich um den Einkauf? Angekl.: Größere Einkäufe wurden mit mir besprochen. Vors.: Verstanden Sie denn etwas davon? Angekl.: Ich konnte doch die Preise beurteilen. Wir haben sehr billig eingekauft. Vors.: Aber trotzdem mußten Sie die Ware unter dem Einkaufspreis losschlagen. Kommt es denn nicht auf den Bedarf an? Angekl.: Wir wollten ja grade den Bedarf durch billige Preise heben. Vors.: Sind Sie die Ware denn losgeworden? Angkl.: Das nehme ich doch an. Vor Gericht wird niemand den Eindruck gewonnen haben, daß der Kandidat Kohl die Eignungsprüfung für den Posten eines Aufsichtsratsvorsitzenden der K. V. G. bestanden habe. Wieso konnte er das Examen vor der Stadt Berlin bestehen? Wer ist denn dieser Herr Kohl eigentlich? Nun, nicht irgend jemand; sondern einer, der 1923 zum Bürgermeister von Köpenick ernannt wurde. Vorher war er unbesoldeter Stadtrat. Und noch früher reiste er in Weißwaren. Er war Agent. Nichts gegen den ehrenwerten, fleißigen und tüchtigen Stand der Agenten. Aber vielleicht wäre unser Herr Kohl Agent geblieben, wenn auch er sich dabei als fleißig und tüchtig erwiesen hätte. Statt dessen ging er in die Politik. Er wurde Stadtverordneter, und als er es so weit gebracht hatte, wurde er auch bald Stadtrat und Aufsichtsratsvorsitzender. Das heißt, er stand an der Spitze eines Unternehmens, das Millionen umsetzte. Welche kaufmännische Tüchtigkeit hätte er beweisen müssen, um es als Agent ebenso weit zu bringen! Wie kommen solche Leute auf solche Posten? Weil Sie, verehrter Leser, sich um die Angelegenheiten Ihrer Stadt nicht kümmern. Weil Sie Ihr eigenes Geschäft betreiben und sich für die Geschäft der Stadt zu schade sind. Schön. Aber dann dürfen Sie sich nicht beklagen, daß die Stadt Geschäfte von denjenigen besorgen läßt, die sie haben kann, und nicht erst lange fragt, ob sie auch dazu taugen. Dies zum Beispiel gibt es bei Gelegenheit des Sklarek-Skandals zu lernen. Inquit 16.10.1931

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Die fertig bezogene Korruption Berliner Verträge mit den Sklareks

»Herr Vorsitzender, es wird immer so dargestellt, als ob wir die Magistratsmitglieder korrumpiert hätten. Aber das verhält sich nicht so. Wir haben die Sache fertig korrumpiert übernommen.« Es ist Willy Sklarek, der sich in großer Erregung so ausläßt. Und wenn er diese Behauptung auch zu seinem Schutze aufstellt, hat er damit nicht am Ende ein bißchen recht? Behandelt werden die Lieferungsverträge, die von der Stadt Berlin den Brüdern Sklarek bewilligt worden sind, einer nach dem andern, einer immer günstiger als der andere – für die Sklareks. Da ist der Vertrag, den das Anschaffungsamt, die B A G 4, am 10. November 1926 abschloß. Er sicherte den Brüdern Sklarek Aufträge in Höhe von 50 000 Mark monatlich und bezog sich auf eine Gesamtlieferung im Werte von 180 0000 Mark. Später stellte er sich als undurchführbar heraus; denn das Anschaffungsamt konnte nicht annähernd für 50 000 Mark Waren im Monat unterbringen. Wer ist verantwortlich für diesen Vertrag, wer hat ihn unterschrieben? Das war der Geschäftsführer der B. A. G., Direktor Kieburg, und der Vorsitzende des Aufsichtsrates der B. A. G., Stadtrat Gäbel. Direktor Kieburg ist tot, man kann ihn nicht mehr fragen. Aber Stadtrat Gäbel lebt, er gehört zu den dreizehn Angeklagten, und man fragt ihn. Nach dem Vorsitzenden des Aufsichstrats der K. V. G. lernt das Gericht nun den Vorsitzenden des Aufsichtsrates der B. A. G. kennen. Er zeigt sich zunächst von sich und seinen Leistungen sehr eingenommen. Er sei es gewesen, rühmt er sich, der die B. A. G. in Ordnung gebracht, oder, wie er sich kräftig ausdrückt, »den Saustall ausgeräumt« habe. Ohne ihn säße der betrügerische Kieburg noch im Amte und die Mißwirtschaft dauerte fort. Kieburg, wie gesagt, ist tot. Der einzige, der Zeugnis ablegen könnte, wie gut er sein Amt verwaltet habe, sei der Obermagistratsrat Schalldach. Aber auch der ist tot, und auch ihn kann man nicht fragen. 4 B. A. G., »Berliner Anschaffungsgesellschaft«.

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Gerichtsberichte über große Prozesse

Das Gericht muß sich also begnügen, den Angeklagten Gäbel selbst zu befragen. Wieso er denn den Vertrag unterschrieben habe, was doch nicht Sache des Aufsichtsratsvorsitzenden sei? Der Herr Aufsichtsratsvorsitzende weiß das nicht. Ob er sich denn die Unterlagen des Vertrages habe vorlegen lassen, das heißt, ob er geprüft habe, für welche Leistung die Sklareks durch diesen neuen Auftrag entschädigt werden sollten? Er hat sie sich nicht vorlegen lassen. Warum er denn also seine Unterschrift gegeben habe? Weil es ihm von Direktor Kieburg so geraten worden sei. Und warum riet Kieburg so? Ueber die Gründe gibt es vorläufig nur Behauptungen, und man muß abwarten, ob sie durch Zeugen bestätigt werden. Aber schon die Behauptungen sind kennenswert. Nämlich Kieburg war derjenige, der in seiner Eigenschaft als Direktor der pleite gegangenen K. V. G. das Restlager an die Sklareks verkaufte. Sie übernahmen es, weil sie eben mit der Stadt im Geschäft bleiben und neue Aufträge zu erhalten hofften. Sie konnten es auch ohne Bedenken übernehmen; denn das Lager mußte ja im wesentlichen aus den von ihnen selbst gelieferten Waren bestehen. Als sie es aber übernommen hatten, fanden sie darin große Posten völlig unbrauchbarer, nämlich unsachgemäß angefertigter Kleidungsstücke. Es waren Kleidungsstücke, die das Anschaffungsamt in seinen eigenen Werkstätten so schlecht hatte herstellen lassen, und die Herr Kieburg, um sie loszuwerden, in das abgeschobene Restlager hineinschmuggelte. Das nennen die Sklareks den Betrug, der von der Stadt an ihnen verübt worden sei. Sie mußten erleben, daß der Magistrat verfügte, diese Waren dürften von den Sklareks nicht an die Stadt geliefert werden; wohl verstanden: Waren, die der Magistrat selbst an sie verkauft hatte. Ob denn nun, fragt das Gericht weiter, gegen Kieburg Anzeige erstattet worden sei? Nein. Ob von ihm selbst, dem Angeklagten Gäbel, der sich doch rühmt, ausgeräumt zu haben, Anzeige erstattet worden sei? Nein. Warum nicht? Weil er sich an die Beschlüsse des Magistrats und des Aufsichtsrates gebunden habe. Ob er bei den Beratungen für Strafverfolgung oder für Schonung Kieburgs gestimmt habe? Das weiß er nicht mehr. Es wird nicht leicht sein, dieses Gestrüpp zu lichten. Aber so viel läßt sich doch wohl schon jetzt erkennen: Der Stadt Berlin ist von den Sklareks das Fell über die Ohren gezogen worden. Aber sie hätte es sich nicht gefallen zu lassen brauchen, wenn die Herren Leiter der geschädigten Aemter nicht viele Gründe gehabt hätten, stille zu halten. Inquit 17.10.1931

Der Sklarek-Prozess

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Bilder aus dem deutschen Familienleben Sklarek-Prozeß

Stadtrat Degner, von appetitlicher Erscheinung und sicherem Auftreten, munter trotz der schweren Anklage, jovial, als säße er noch an der Macht, soll sich verantworten. Er bestreitet nicht den Aufstieg aus dem Volke. Woher denn das Geld gekommen sei zu den kostspieligen Anschaffungen, will der Vorsitzende wissen. »Wir waren im Aufbau«, nennt es der Angeklagte Degner. 8 000  Mark behauptet er, hatte das Ehepaar gespart, damals, als er sein Gehalt in Devisen ausgezahlt bekam und seine Frau noch mitverdiente. Dann wurde er über die Partei Stadtrat, mit Anstellung auf 12 Jahre und Pensionsberechtigung. Sollte er sich nicht arriviert fühlen? Vorsitzender: »Für die einzige Gesellschaft, die Sie gaben, ließen Sie sich das Porzellan-Service von Leo Sklarek schenken.« Angeklagter: »Es war nicht unsere einzige Gesellschaft.« Vorsitzender: »Aber in so großem Stil haben Sie nur diese eine Gesellschaft veranstaltet, und dazu mußten Sie sich das Porzellan schenken lassen.« Angeklagter: »Wir hatten auch so genug Porzellan.« Vorsitzender: »Warum, wenn Sie es doch nicht brauchten?« Angeklagter: »Eine Frau, die eine Vorliebe für Porzellan hat und weitausschauend ist, schafft sich eben Porzellan an, auch wenn es nicht jede Woche gebraucht wird.« Vorsitzender: »Aber Sie bekamen von Leo für die große Gesellschaft ein Service geschenkt, für 12 Personen, bestehend aus 77 Teilen.« Angeklagter: »Vor der Gesellschaft, nicht für die Gesellschaft. Das eine hatte mit dem andern nichts zu tun.« Vor oder für: wieso bekam er es geschenkt? Das hing mit der Freundschaft zusammen. Stadtrat Degner sagt, eine intime Freundschaft war es nicht. Leo sagt, es war eine intime Freundschaft, obgleich keine Duzfreundschaft. Leo sagt, er hatte der Frau Degner ein Geschenk versprochen, für den Fall, daß im Rennen sein Pferd siegen sollte, und sein Pferd siegte im

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Gerichtsberichte über große Prozesse

Rennen. Stadtrat Degner sagt, er war nicht unterrichtet. Seine Frau zeigte ihm eines Tages das 77teilige Service. Es sollte aber ein Ausgleich sein dafür, daß er mit Leo ausging und, da Leo seinen guten Tag hatte, erst spät heimkehrte. Darüber kam es zwischen den Eheleuten zu Auseinandersetzungen, der Mann erzählte Leo davon, und Leo schenkte, um die Frau zu versöhnen, das Service. So erzählt Stadtrat Degner. Das Ehepaar bekam also, dies scheint unbestritten, zu dem Porzellan, das es schon besaß, noch 77 Stück Porzellan hinzu. Es revanchierte sich bei Leo mit einer Garnitur Bürsten. Der Vorsitzende hält die Ausgaben immer noch nicht für aufgeklärt. Stadtrat Degner bezeichnet als weitere Geldquelle seine Mutter. Er spricht von dieser Mutter mit der hochachtungsvollen Liebe eines Sohnes, der ihr jedes Maß von Tüchtigkeit zutraut, der gewöhnt ist, von ihr Geld zu bekommen, und nicht gewöhnt ist, zu fragen, woher sie es hat. Er nennt sie die alte Dame und berichtet von ihrer »Marotte«, die darin bestand, zu arbeiten, zu sparen und zu schweigen. Sie betrieb als Witwe die Gastwirtschaft ihres Mannes weiter. Wenn man dem Sohn glauben darf, so hat die alte Dame eine Summe von rund 30 000 Mark zurückgelegt. 7 000 Mark gab sie auf die Sparkasse, und die zerrannen denn auch in der Inflation. Den Rest aber, unversehrte 23 000 Mark, rettete sie in die stabile Zeit: darin klüger als fast alle ihre Landsleute und auch als die meisten der Finanzleute vom Fach. Vorsitzender: »Ihre Mutter ist eine schlichte Frau?« Angeklagter: »Eine sehr schlichte Frau.« Vorsitzender: »Sie war beim Magistrat angestellt?« Angeklagter: »Jawohl, und ich bin derjenige, der ihren Abbau veranlaßte.« Vorsitzender: »Warum?« Angeklagter: »Es paßte mir nicht, daß meine Mutter dort arbeitete, während ich im Auto vorfuhr.« Vorsitzender: »Ihre Mutter war nämlich Reinemachefrau?« Angeklagter: »Jawohl.« Es klingt wie im Märchen: die Frau aus dem Volke, die rafft und spart und nicht aufhört, mit ihren Händen zu arbeiten, während ihr Sohn zu Reichtum und Ehren emporsteigt und »alte Dame« sagen lernt. Ein Märchen, das verdiente, dem Volk erzählt zu werden – wenn nicht der Sohn auf der Anklagebank säße. Inquit 17.11.1931

Der Sklarek-Prozess

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Zeuge Böß Die Sklareks behaupten, nicht sie hätten den Berliner Magistrat korrumpiert, vielmehr die Korruption fertig vorgefunden. Es sei System gewesen, unter Billigung der höchsten Stelle. Insbesondere habe der Oberbürgermeister für allerlei Fonds, die ihm zur Verfügung standen, Spenden gesammelt und sie gradezu beansprucht von Firmen, die mit der Stadt Berlin Geschäfte machten. Daraus habe sich die Uebung entwickelt: wer spendete, der bekam Lieferungen; wer sich weigerte zu spenden, dem wurden die Lieferungen entzogen. Man mußte also den Oberbürgermeister als Zeugen vernehmen. Oberbürgermeister von Berlin war zu Sklareks Zeiten Böß5. Um das Gedächtnis aufzufrischen: Das Sklarek-Geschwür brach auf, als Oberbürgermeister Böß auf Kosten der Stadt in Amerika reiste. Nach seiner Rückkehr wurde das Disziplinarverfahren gegen ihn eröffnet. Das erste Urteil lautete auf Dienstentlassung. Das Oberverwaltungsgericht als Berufungsinstanz hob dieses Urteil auf und erkannte nur auf Geldbuße in Höhe eines Monatsgehaltes. Darauf beschloß der Magistrat seine Pensionierung zum 1.  November 1930 mit der gesetzlichen Pension. Als Oberbürgermeister a. D. Böß redet der Vorsitzende ihn an, wie er hinter den Zeugentisch tritt. Er hält sich aufrecht und macht einen rüstigen Eindruck, nur das Gesicht ist schärfer geworden und wirkt gealtert. Es erleichtert ihn, hier zu stehen und vor aller Oeffentlichkeit aussagen zu dürfen. Er wehrt sich in gemessenen Worten gegen die Schlammflut der Verleumdungen, die über ihn hereingebrochen sei. Gesellschaftliche Beziehungen zu den Sklareks? Unwahr. Geschenke an seine Frau? Unwahr. Bewirtung auf dem Presseball? Unwahr. Kunde bei der Städtischen K. V. G. und später bei den Sklareks: Ja. Aber gekauft und nicht bezahlt? Unwahr. Immerhin ist da die peinliche Affäre des zu billig gelieferten Pelzes und der 5 Gustav Böß (11.4.1873–6.2.1946) wurde 1921 Oberbürgermeister der 1920 gebildeten neuen Einheitsgemeinde Groß-Berlin. Böß wurde 1930 wegen seiner Verwicklung in den Sklarek-Skandal pensioniert.

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nichtkorrekten Erledigung auf dem Wege der Wohltätigkeit. Böß erzählt, wie es sich abgespielt hat. Nach seinem Empfinden ist es keine Verfehlung, deren er sich schämen müßte. Die Reihe kommt an die Spenden. Aus seiner viele Jahre langen Erfahrung erzählt der frühere Oberbürgermeister, das Haupt der 4-MillionenStadt. Was alle sehen können, hat er in tausendfacher Vergrößerung zu sehen bekommen: Not und Elend, die im Kriege anfingen, als er noch Stadtkämmerer war, und die seitdem nur immer gewachsen sind. Zu ihm kamen die Hilferufe, Geld der Gemeinde reichte nicht annähernd; er half, so gut er konnte, mit seinem eigenen Besitz. Er versichert es, und wer wollte sich einfallen lassen, daran zu zweifeln? Er erzählt weiter, und auch das wird man ihm gern glauben, daß seine Frau, ihrer schwächlichen Konstitution zum Trotz, in die Elendsquartiere ging, in die Keller und unter die Dächer, daß sie den alten Leuten Betten hintrug und die Kinder mit sich nahm, um sie einkleiden zu lassen. Er erzählt von der Weihnachtsbescherung 1928, bei der seine Frau und seine Angestellten in aufreibender Arbeit mehr als tausend Personen bedachten. »Wenn man das mitangesehen hat, und man muß dann erleben, wie der Name meiner Frau durch den Schmutz gezogen worden ist, dann bekommt man einen Begriff von der Niedertracht unserer Zeit.« Wo kam das Geld her für soviel Hilfsbedürftigkeit? Es kam nicht von selbst, es mußte gesammelt werden. Der Oberbürgermeister ging sammeln, nicht von Haus zu Haus, wie es sich von selbst versteht, sondern zu den Großen des Handels und der Industrie, denen er menschlich nahe stand. Leute, die an der Stadt verdienten, warum sollten sie nicht geben? Leute, denen eine Aufstockung oder ein Hochhaus bewilligt worden war, warum sollten sie nicht, wie er sich ausdrückte, Licht und Luft, die sie der Bevölkerung nahmen, der Bevölkerung dadurch zurückgeben, daß sie die Anlage von Sportgelegenheiten und Kinderspielplätzen erleichterten? So dachte er, er leugnet es nicht. Er leugnet nur, daß Lieferanten wegen ihrer Spenden bevorzugt wurden oder daß sie hoffen durften, bevorzugt zu werden. Lieferanten sind doch bevorzugt worden, wenn sie gespendet hatten; nicht vom Oberbürgermeister, aber von seinen Organen. Was ebenso schlimm ist: Lieferanten redeten sich ein, Bevorzugung und Benachteiligung hinge von der Bereitwilligkeit zu Spenden ab. Die Verquickung von Geschäft und Wohltätigkeit darf nicht geduldet werden, es ist gut, daß aufgeräumt worden ist. Inquit 20.11.1931

Der Sklarek-Prozess

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Das Ende eines Mannes

Generaldirektor Schünings Vernehmung

Zunächst einen Blick auf die Gefechtslage. Wie konnte der Magistrat veranlaßt werden, mit den Sklareks Geschäfte abzuschließen, die für die Stadt Berlin nachteilig waren? fragt die Anklage und antwortet: Dafür gibt es keine andere Erklärung als die, daß Funktionäre der Stadt sich von den Sklareks bestechen ließen. Es gibt doch eine andere Erklärung, entgegnen die Sklareks. Der Stadt nämlich, behaupten sie, waren in einigen ihrer Gesellschaften Fehldispositionen und Verluste zugestoßen. Die verantwortlichen Leiter scheuten sich, sie einzugestehen, und trachteten, sie zu vertuschen. Dazu mußten wir, die Brüder Sklarek, herhalten und taten es, in der Hoffnung, durch Aufträge entschädigt zu werden. So schleppte das Berliner Anschaffungsamt unter seinem Direktor Kieburg ein Defizit von 400 000 Mark mit sich. Uns, sagen die Sklareks, wurde zugemutet, diesen Verlust zu übernehmen, gegen das Versprechen der Schadloshaltung. Wir haben ihn übernommen, sind aber nicht schadlos gehalten worden. Wir sind also die Betrogenen. Wohlgemerkt: Wenn sie damit recht haben, hören sie noch nicht auf, Betrüger zu sein. Denn nun, behauptet die Anklage, haben sie sich selber schadlos gehalten durch betrügerische Machenschaften. Betrug bleibt Betrug. Aber moralisch sähe die Sache doch ganz anders aus, wenn man ihnen glauben dürfte. Bisher hat ihnen niemand geglaubt. Sie beriefen sich immer wieder auf den früheren Stadtrat Schüning, damals Vorsitzender des Aufsichtsrats der B. A. G. Er sei es gewesen, der das Verlangen, das »Loch« von 400 000 Mark zu übernehmen, unumwunden gestellt und die Entschädigung versprochen habe. Gestern wurde Schüning als Zeuge vernommen. Der frühere Stadtrat ist nicht mehr Beamter. Er hat Karriere gemacht. Als Generaldirektor steht er an der Spitze der Behala, einer Privatgesellschaft mit städtischer Beteiligung, der alle Berliner Häfen und Lagerhäuser gehören, eines Unternehmens von weltwirtschaftlichem Ausmaß. Was ist das für ein Mann?

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Ein knabenhaftes Gesicht, eine altkluge Brille davor, dichter Haarschopf, ehemals hellblond, jetzt angegraut. Er redet, schwer verständlich und eindruckslos, stundenlang. Verwunderung: so sieht der Mann aus, der das großartig ausgebaute Berliner Hafenwesen verwaltet? Es scheint, daß er die Serie der Unzulänglichkeiten an wichtigen Posten um eine neue Nummer vermehrt. Er redet – und redet um die Sache herum. Niemand erfährt von ihm, ob er jene Zumutung gestellt und jenes Versprechen gegeben hat. Leo Sklarek meldet sich zu Wort. »Sie lügen«, ruft er dem Zeugen zu. »Von Ihnen hatte ich erwartet, daß Sie hier hintreten und der Wahrheit die Ehre geben würden.« Und er erinnert ihn: da und da ist es gewesen, der und der hat der Unterredung beigewohnt, so und so haben seine Worte gelautet. Der Zeuge Schüning kann sich nicht entsinnen. Der Vorsitzende mahnt ihn daran, daß er einen Eid werde leisten müssen. Schüning sucht mit Erklärungen und Ausreden zu entschlüpfen. Er wird scharf angefaßt. Erbarmungswürdig, wie er sich unter der Aufmerksamkeit des überfüllten, atemlos lauschenden Saales dreht und windet. Der Vorsitzende kommt ihm zu Hilfe: »Sie dürfen die Aussage verweigern, wenn Sie sich selbst der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen müßten.« Verlegenes, endlos langes Schweigen. Schließlich: »Ich verweigere die Aussage.« Vorsitzender: »Sind Sie sich klar darüber, daß Sie so nur verfahren dürfen unter der von mir angegebenen Bedingung?« So habe er es nicht gemeint. Endlich: »Es ist möglich, daß so etwas besprochen worden ist.« Vorsitzender: »Bisher war es nur eine Behauptung der Sklareks. Sie geben also die Möglichkeit zu?« Zeuge: »Ja.« Vorsitzender: »Dann ist es so gewesen.« Noch ist die Demütigung nicht zu Ende. »Was haben Sie von den Sklareks an barem Gelde bekommen?« Antwort: »Für verschiedene Dienstleistungen und Vermittlungen etwa zehntausend Mark.« Die strafrechtlichen Konsequenzen können nicht sogleich gezogen werden; aber die moralische Abstrafung erfolgt sofort: »Der Zeuge Schüning bleibt unbeeidigt, weil er an der den Gegenstand der Verhandlung bildenden Straftat der Teilnahme verdächtig ist.« Aus dem Saal schleicht ein vernichteter Mann. Inquit 21.11.1931

Der Sklarek-Prozess

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Die Wut der Sklareks

Vernehmung des Bürgermeisters Scholtz – Stadtschulrat Nydall6 sagt aus Auf den Berliner Bürgermeister Scholtz, der inzwischen in Pension gegangen ist, haben die Brüder Sklarek das, was man eine Wut nennt. Den Tag, an dem er ihnen als Zeuge gegenübergestellt werden sollte, hatten sie mit großen Hoffnungen erwartet. Nicht nur der Mitwisserschaft, so pflegten sie zu verkünden, wollten sie ihn überführen, sondern auch des Meineids. Voll Spannung sahen die Prozeßbeteiligten diesem Zusammentreffen entgegen. Erst wenige Tage ist es her, daß die Katastrophe des Generaldirektors Schüning im Verhandlungssaal des Sklarek-Prozesses ihren Anfang nahm, indem er zum Geständnis seiner Mitschuld gezwungen wurde. Man fragte sich wohl, ob sich etwa mit dem früheren Bürgermeister Scholtz etwas Aehnliches ereignen würde. Es hat sich nichts Aehnliches ereignet. Bürgermeister Scholtz erklärte, gestützt auf umfangreiches Aktenmaterial, daß ihm von den Verfehlungen der Sklareks und ihrer Mitschuldigen nichts bekannt gewesen sei, bis zu einem gewissen Zeitpunkt, an dem er auf Unregelmäßigkeiten aufmerksam gemacht wurde, nachprüfen ließ und, da sich die Anschuldigungen bestätigten, in Gemeinschaft mit dem Stadtkämmerer Lange sofort selbst Anzeige erstattete. Er gab zu, daß er in einem anderen Falle, nämlich gegen den inzwischen verstorbenen Direktor Kieburg, nicht ebenso verfahren war, trotzdem er selbst ihn der Bilanzfälschung bezichtigte. Aber er rechtfertigte sich mit Beschlüssen des Magistrats und der Stadtverordneten, wonach der ungetreue Direktor Kieburg weder zivilrechtlich verantwortlich gemacht noch strafrechtlich verfolgt werden sollte. An diesen Aussagen ließ Bürgermeister Scholtz in einem mehr als dreistündigen Verhör sich auch durch vielfältige Zwischenfragen nicht irre machen und bekräftigte sie durch seinen Eid. 6 Richtig: Nydahl.

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Gerichtsberichte über große Prozesse

Die Sklareks, wie gesagt, haben eine Wut auf ihn. Sie meinen, er habe sie nicht anzeigen dürfen, da er ja noch auf dem Presseball an ihrem Tisch bewirtet worden sei. Sie meinen, die Anzeige sei nicht deswegen erfolgt, weil er ihr Treiben mißbilligte, sondern weil er Oberbürgermeister werden wollte. Sie meinen, er habe die Kenntnis von den Zuständen und Vorgängen für sich behalten bis zu der Zeit, da der Oberbürgermeister nach Amerika gereist war und er ihn vertreten mußte. Damals standen die Wahlen vor der Tür, damals mußte das Eisen geschmiedet werden. Und er habe es geschmiedet, indem er sie anzeigte. »Warum haben Sie uns nicht kommen lassen, Herr Bürgermeister?« schreit Leo Sklarek ihm wutbebend ins Gesicht. »Warum haben Sie uns nicht angehört, ehe Sie mit dem Polizeipräsidium telefonierten? Hätten Sie uns reden lassen, nur drei Stunden lang, dann wäre es der Stadt Berlin erspart geblieben, in den Schmutz zu treten.« Den Bürgermeister Scholtz wird kein vernünftiger Mensch tadeln, daß er Anzeige erstattete, als der große Betrug sich enthüllte, und daß er den Betrügern keine Möglichkeit ließ, ins Ausland zu entkommen. Das müßten eigentlich auch die Sklareks einsehen. Und da die Anzeige sich nicht gegen Unschuldige richtete, sondern der Verdacht sich als gerechtfertigt erwies: woher eigentlich stammt die Wut der Sklareks auf den Bürgermeister Scholtz? Was wäre denn anders geworden, wenn er sie vor der Anzeige zu einer Aussprache gerufen hätte? Wären sie etwa in der Lage gewesen, den Schaden zu decken? Das werden sie ja wohl nicht behaupten wollen. Also was konnte die Aussprache ihnen nützen? Aber das eben waren die Sklareks und das offenbar war das System. Wenn sie nur reden durften; dann konnten sie sich herausreden, konnten beschönigen und verschleiern, konnten Versprechungen machen und Arrangements treffen. Vielleicht war es nicht das erstemal, daß sie den Kopf in der Schlinge hatten. Aber vielleicht war bisher immer eine Aussprache zustande gekommen, und vielleicht sind die vielen Unbegreiflichkeiten in den Beziehungen der Stadt Berlin zu ihnen darauf zurückzuführen, daß es ihnen immer gelang, mit Worten, Versprechungen und Arrangements den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Dadurch, daß Bürgermeister Scholtz nicht erst mit ihnen sprach, sondern handelte, saßen sie fest. Vielleicht erklärt sich so ihre Wut auf den Bürgermeister Scholtz. Inquit 1.12.1931

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Die Sklareks und die Zangemeisters

Aus den Berliner Gerichten

Vorsitzender: »Haben Sie von den Sklareks Zuwendungen erhalten?« Zeuge: »Ein einziges Mal 6 000 Mark für den Wahlfonds der deutschnationalen Volkspartei. Ich bin Max Sklarek deswegen angegangen.« Vorsitzender: »Welche Veranlassung hatte Max Sklarek, Ihnen gefällig zu sein?« Zeuge: »Er hatte keine Veranlassung.« Vorsitzender: »Warum also wandten Sie sich dann an Max?« Zeuge: »Weil er reich war und einen Rennstall besaß.« Vorsitzender: »Es gibt doch manchmal auch bei reichen Leuten eine Ueberzeugung.« Das geht auf die Sklareks, und sie mögen es sich nehmen. Gewiß wird ihnen ihre politische Ueberzeugung nicht verboten haben, den politischen Gegner zu fördern, wenn sie damit ihrem geschäftlichen Vorteil dienen konnten. Der aber befahl ihnen, sich jedermann zum Freunde und niemanden zum Feinde zu machen. Der Zeuge, der diese 6 000 Mark von Max Sklarek erbeten und bekommen hat, ist der frühere Stadtrat Zangemeister, während seiner magistralen Amtszeit Dezernent für Post, Autopark und Statistik. Kein Gedanke, daß Max Sklarek etwa hoffen durfte, durch seine Spende Vorteile zu erlangen. Denn als um den Grundstückskauf verhandelt wurde, suchte Stadtrat Zangemeister pflichtgemäß, entgegen den Interessen der Sklareks, den Kaufpreis hinaufzutreiben und soviel wie möglich herauszuschlagen. Zur Zeit der Spende aber war der Kaufvertrag schon seit Wochen abgeschlossen. Uebrigens machten die Sklareks keinen Versuch, auf ihn einzuwirken. Er hätte sich dergleichen sehr verbeten. So sagt Stadtrat Zangemeister vor Gericht aus. Aber warum gab Max Sklarek dann die 6 000 Mark in den deutschnationalen Wahlfonds? Oder fragen wir lieber: Warum wagte Stadtrat Zangemeister den Kaufmann Max Sklarek darum zu bitten? Auch wenn er so wenig wußte, wie er vor Gericht

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behauptet: daß die Sklareks keinen Grund hatten, die Deutschnationalen zu unterstützen, wird er doch wohl gewußt haben. »Herr Vorsitzender, wir sind Geschäftsleute«, rechtfertigt sich Leo immer wieder. Auch Max war Geschäftsmann. Vielleicht sagte er sich als Geschäftsmann: Nutzen wird mir der Stadtrat Zangemeister nicht; weder für 6 000 Mark noch für das Doppelte oder Dreifache. Aber schaden kann er mir. Der Grundstückskauf ist abgeschlossen; aber wer will voraussagen, was noch kommt? Wenn ich gebe, hat er, als korrekter Beamter, es wahrscheinlich schon morgen vergessen. Aber wenn ich mich weigere zu geben, merkt er es sich wahrscheinlich. Wenn ich gebe, fragt er nicht nach meiner Partei und spricht nicht von meiner Partei dort, wo die Partei von Wichtigkeit ist. Wenn ich nicht gebe, erkundigt er sich am Ende genau nach meiner Partei und bringt seine Kenntnis geschickt an in dem Augenblick, wo die Partei alles verderben kann. Ich werde also vorsichtshalber geben, abgesehen von meiner politischen Ueberzeugung. Hat vielleicht Max Sklarek so gerechnet? Und hat vielleicht Stadtrat Zangemeister erwartet, daß Max Sklarek so rechnen werde? Denn dies ist doch offenbar damals im Berliner Magistrat das System gewesen: die Zangemeisters kannten die Sklareks und wußten, was sie ihnen zumuten durften. Aber die Sklareks kannten auch die Zangemeisters und wußten, wessen sie sich von ihnen zu versehen hatten. Grund, stolz zu sein, haben beide nicht. Und nur darüber läßt sich allenfalls streiten, ob die einen oder die andern die Schlaueren gewesen sind. Inquit 3.12.1931

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Unvereidigt

Brolat im Sklarek-Prozeß

In der letzten Zeit haben wir es leider öfter erlebt, daß Männer auf hohen wirtschaftlichen Posten unvereidigt geblieben sind. Dennoch wäre ein nicht geringes Aufsehen entstanden, ja, es hätte als Sensation gewirkt, daß gestern im Sklarek-Prozeß dem Direktor der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, Brolat, dasselbe Schicksal zuteil geworden ist. »Wegen Verdachtes der Begünstigung«. Daß es nicht als Sensation gewirkt hat, daran trägt der Vorsitzende die Schuld, der früher einmal – man wird sich erinnern – so unvorsichtig war, gegen den abwesenden, noch nicht vernommenen Zeugen Brolat in öffentlicher Sitzung den Verdacht der Begünstigung auszusprechen. Es hat ihm eine Rüge seines Vorgesetzten, des Kammergerichtspräsidenten, eingetragen. Offenbar ohne Erfolg. Denn wie zur Sprache kommt, daß bei Ausbruch des Sklarek-Skandals Direktor Brolat selber von seinem Kollegen Hoffmann die Bezahlung für bezogene Garderobe einkassiert und zum Ausgleich des offenen Kontos an die Schneiderfirma abgeliefert hat, hält der Vorsitzende es für erlaubt, die Lacher im Zuhörerraum auf seine Seite zu bringen mit dem boshaften Witz: »Sie sind zwar Verkehrsdirektor, aber doch nicht in diesem Sinne.« Er kann es nicht lassen. Das Gericht, das auf den Antrag des Staatsanwalts hin die Nichtbeeidigung wegen Verdachts der Begünstigung beschließt, deckt damit die früher gefallene voreilige Bemerkung seines Vorsitzenden. Amtsgerichtsrat Keßner hat damals, das versteht sich von selbst, seine Gründe gehabt für einen solchen Verdacht. Nachdem Direktor Brolat jetzt als Zeuge ausgesagt hat, scheint der Verdacht eine neue Stütze gefunden zu haben. Es schwebt gegen ihn ein Verfahren wegen Begünstigung. Und ob Direktor Brolat sich wirklich strafbar gemacht hat, darüber muß das Urteil aufgeschoben werden, bis die Hauptverhandlung gegen ihn durchgeführt worden ist. Inzwischen bleibt das Bild eines Mannes, der sich auf dem Wege über die Partei emporgearbeitet hat und sich auf der Höhe der Macht und mit einem Jahreseinkommen von 72 000 Mark nicht zu benehmen weiß. Niemand

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würde ihm sein berlinisch fehlerhaftes Deutsch übelnehmen. Niemand würde es verwunderlich finden, daß er, als Vertreter des Magistrats auf den Presseball delegiert, sich erst einen Frack bauen lassen muß, weil er noch nie einen besessen hat. Er gehörte zu denen, die die Sitten und Gebräuche der nach seiner Meinung »feinen« Leute erst lernen mußten. Und es spricht gegen ihn, daß er sich vor allem in bezug auf die Zahl der Anzüge und auf die Kostbarkeit der Hemdenstoffe gelehrig zeigte; wobei ihm geglaubt werden darf, daß er heftig erschrak, als er aus der Rechnung sah, wie kostbar die Hemden waren, die er sich hatte schenken lassen. Auch andere, die von unten aufgestiegen sind, haben gewisse Regeln des Umgangs erst lernen müssen; aber sie haben nicht erst zu lernen brauchen, sondern aus eigenem Takt gewußt, wo sie ihre Lehrmeister zu suchen hatten. Direktor Brolat nahm sich die Brüder Sklarek zum Muster. Mag er sich also im Sinne des Gesetzes strafbar gemacht haben oder nicht: diese Instinktlosigkeit beweist, daß ihm die menschlichen Qualitäten fehlen, die von Männern des öffentlichen Lebens außer aller Tüchtigkeit gefordert werden müssen. Weil die Sklareks ihre Abende in Tanzbars wie »Ambassadeur« verbrachten, war auch Direktor Brolat dort zu finden. Er behauptet, daß er sich wenigstens nicht habe freihalten lassen, und Leo Sklarek bestätigt es ihm. Der Staatsanwalt will dennoch von ihm wissen, ob er folgende Szene miterlebt habe: Eines Nachts soll von Leo Sklarek die Damenkapelle an den Tisch gebeten und mit Sekt und Kaviar bewirtet worden sein. Auf der Höhe des Amüsements habe Leo die Kapellmeisterin um einen Kuß ersucht und dafür 10 000 M geboten. Das hat der Staatsanwalt von irgendjemand erfahren und es offenbar für glaubhaft gehalten, mit Einschluß der Pointe, daß die Kapellmeisterin den Kuß zum Preise von 10 000  M verweigert habe. Die Ehre der Frauen unangetastet; aber für 10 000 M dürften noch ganz andere Küsse zu haben sein als von der Leiterin der Damenkapelle im »Ambassadeur«. Im Gegensatz zu anderen Prozessen: er hat kein Niveau, der SklarekProzeß. Inquit 22.3.1932

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Schlechte Zensur

Aus dem Sklarek-Prozeß Wer als Angeklagter vor Gericht steht, muß sich gefallen lassen, daß in seiner Gegenwart allerlei Meinungen über ihn geäußert werden, günstige und ungünstige. Ungünstige: aber wenn etwa der Staatsanwalt die verbrecherische Gesinnung geißelt, so darf der Betroffene sich damit trösten, daß er eine parteiische Meinung höre und daß sie falsch sei. Günstige: auch Räuber oder Mörder dürfen sich bisweilen daran aufrichten, daß Freunde und Anverwandte ihnen bezeugen, sie seien im Leben, außerhalb des Gerichtssaals, freundliche, hilfsbereite, arbeitsame und begabte Kameraden gewesen. Gestern mußte Leo Sklarek mitanhören, was über ihn gedacht wird. Weder die Meinung eines Freundes noch die Meinung eines Gegners. Der sich da über ihn äußerte, hatte nicht zu begutachten, was Leo Sklarek getan hat; ihn ging nur an, was Leo Sklarek ist. Nach so vielen Meinungen, die im Laufe der endlosen Verhandlungen über ihn schon geäußert worden sind, hörte er gestern die Meinung des Arztes. Leo Sklarek in seiner Eigenschaft als Angeklagter behauptet – wer wird es ihm verdenken! – ihm geschehe mit der Anklage unrecht; er sei von anderen hineingelegt worden. So wehrt sich sein Selbstgefühl gegen die Rolle, die er spielen muß. Ueber die Furcht, daß er bestraft werden könnte, wird er sich wahrscheinlich mit Hoffnungen hinwegzutäuschen suchen. Aber auf jeden Fall hegt er über sich selbst die Meinung, er sei ein Teufelskerl, ein Tausendsassa. Das haben ihm in seiner Glanzzeit Unzählige versichert, Männer in Amt und Würden, die es wissen mußten. Und wie sollte er ihnen nicht geglaubt haben, da doch der Magistrat der Reichshauptstadt von ihm übers Ohr gehauen worden ist? Den Arzt, der gestern sprach, auf Grund sorgfältiger Untersuchung, hat er nicht übers Ohr gehauen. Was meint der Arzt über Leo Sklarek? Der Arzt meint: Der Gesichtskreis des Angeklagten ist eng. Seine Intelligenz reicht aus, um zu kaufen und zu verkaufen; weiter reicht sie nicht. Er ist

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Gerichtsberichte über große Prozesse

ungebildet und undiszipliniert. Aus Büchern macht er sich nichts. Was ihn lockt, sind die groben sinnlichen Genüsse, vor allem der Alkohol. Das ist kein Tausendsassa und kein Teufelskerl, dessen Bild hier entworfen wird. Das ist nichts als ein armseliger kleiner Schwindler. Auch Leo Sklarek ist einmal zur Schule gegangen. Weit hat er es nicht gebracht. Es wird vorgekommen sein, daß der Lehrer die Klassenarbeiten zurückgegeben hat. »Leo Sklarek – ungenügend.« Dann wird der Lehrer sich vor allen Mitschülern geäußert haben, Leo sei zwar unbegabt, dafür könne er nichts. Aber es fehle ihm auch an Streben und er sei ein Taugenichts. Auf dem Schulhofe höre man ihn am lautesten lärmen, und wenn es gelte, Unfug zu stiften, tue er es allen voran. Dann wird der Schüler Leo dagesessen haben, das spitzbübische Gesicht in Demut gesenkt und zu kläglicher Ausdruckslosigkeit erschlafft. So konnte man ihn gestern wieder sitzen sehen, während der Arzt sprach, den Schüler Leo, der eine Fünf geschrieben hat. Inquit 5.5.1932

Im Sklarek-Prozeß sprechen die Ankläger

»Die Schuld aller Angeklagten ist durch die Beweisaufnahme festgestellt worden« Der Zuschauerraum des Großen Schwurgerichtssaales, seit sieben Monaten der Verhandlungsraum des Sklarek-Prozesses, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Alle Angeklagten und alle ihre Verteidiger sind zur Stelle. Hohe Gerichtsbeamte haben sich eingefunden: der Amtsgerichtspräsident, der Generalstaatsanwalt. Die Anklagevertreter beginnen endlich mit ihren Plädoyers. Als Einleitung schickt Oberstaatsanwalt Freiherr von Steinaecker eine großzügige Zusammenfassung voraus. Auf die politischen Hintergründe, sagt er, wird er nicht eingehen; obgleich es hier und da sich nicht wird vermeiden lassen, sie zu streifen. Um so schärfer geißelt er die sittliche

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Verwahrlosung, die hier enthüllt worden ist, die Sucht nach der Macht des Geldes um des bloßen Genusses willen, den sie ermöglicht. Die Anklagebehörde, fährt der Oberstaatsanwalt fort, hat zunächst versucht, in einer kurzen Ermittlung die Straftaten der Brüder Sklarek allein zu verfolgen. Bald aber ergab sich, daß es unmöglich ist, an dem großen Kreis von Personen, die sich mitschuldig gemacht haben, vorbeizugehen. Der ganze Sklarek-Skandal mußte aufgerollt werden. Der Wahrheitsfindung stellten sich erhebliche Schwierigkeiten in den Weg. Max Sklarek ist krank und fehlt, Kieburg und Schalldach sind tot, Schüning ist während des Prozesses aus den Reihen der Lebenden geschieden. Aus alledem folgt, daß gewisse Komplexe nicht völlig aufgeklärt werden konnten und daß gewisse Punkte der Anklage fallen gelassen werden mußten. Als verhängnisvoll bezeichnet der Oberstaatsanwalt die Entlassung der Brüder Sklarek aus der Untersuchungshaft. Sie haben ihre Freiheit benutzt zu dem Versuch der Verdunkelung. Im Hotel Continental ist von ihnen zu diesem Zwecke eine Art Büro eröffnet worden, das noch heute besteht. Dort sind die Teilnehmer des Prozesses aus- und eingegangen, um sich zu verständigen. Die Straftaten der Sklareks teilt der Ankläger in drei Gruppen. Sie gingen darauf aus, Verträge zu schließen und Aufträge zu erhalten; das Mittel dazu war Bestechung. Ferner suchten sie den Kredit der Stadtbank; hierzu verhalf ihnen Bestechung der Direktoren, Betrug und Urkundenfälschung. Die so erlangten Geldmittel verwandten sie zu übertriebenem Aufwand, zu Rennen und Rennwetten; das ergibt drittens die strafbare Handlung des Konkursvergehens. Bei der Bestechung der Beamten sind die Sklareks sehr schlau verfahren. Sie brauchten eine genaue Kenntnis der Vorgänge und Persönlichkeiten der Stadtverwaltung. Stadtrat Degner verhalf ihnen dazu. Geschickt nutzten sie die Schwächen und Liebhabereien der Menschen aus, deren Gunst sie brauchten. Stadtbankdirektor Schmidt z. B. war passionierter Jäger – man stellte ihm eine ganze Jagd zur Verfügung. Bürgermeister Kohl hatte einen Hang zu stiller Häuslichkeit – er bekam sein Häuschen. Stadtbankdirektor Hoffmann verband geistige Bedürfnisse mit einer Vorliebe für gutes Essen und Trinken – er wurde eingeladen und durfte, so oft er wollte, ins Theater gehen. Alle kleideten sich auf Kosten der Sklareks ein, die kleinen Leute von der Stange, die feinen Herren nach Maß. Es wurden ihnen billige Bezugsquellen eröffnet und dabei die Angehörigen und Ehefrauen nicht vergessen.

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»Ich will es dem Angeklagten Leo Sklarek gern glauben, daß die Beamten sich zum Teil höchst schamlos benommen haben.« Unter dem Vorwand der Renngewinne wurde schließlich gradezu bar Geld verteilt. Das Ergebnis war, daß, wenn etwa die Sklareks zur Stadtbank kamen und einen Kredit von einer Million Mark verlangten, der Direktor nicht nachprüfte, sondern sich verpflichtet fühlte, unbesehen zu bewilligen. Die Verteidigung von Leo und Willy, Max sei schuld, glaubt der Oberstaatsanwalt nicht. Nach seiner Meinung haben die drei Brüder gleichmäßig alles gewußt und sind alle drei gleich schuldig. Er schließt sein eindrucksvolles Plädoyer mit der Feststellung: »Die Behauptungen der Anklage sind durch die Beweisaufnahme in vollem Umfang bestätigt worden.« Nach ihm unterzieht sich Staatsanwalt Weißenberg der viel weniger dankbaren Aufgabe, die strafbaren Handlungen im einzelnen darzulegen. Die Plädoyers der Anklagevertreter werden sich durch eine Reihe von Tagen hinziehen.7 5.5.1932

Der Skandal Während die tolle Zeit, aus allen Fugen geraten, ihren gefährlichen Weg dahintaumelte, saß in dem düsteren Schwurgerichtssaal das Gericht, das über die Sklareks und ihre Mitangeklagten urteilen sollte. Es saß da 8 ½ Monate lang; wieviel Sitzungstage das ausmacht, hat der Vorsitzende nicht verfehlt nachzurechnen und bei der Urteilsverkündung bekanntzugeben. Er saß, ohne sich um die wilden Ereignisse der Welt zu kümmern, wie es seine Pflicht ist; aber die wilden Ereignisse kamen zu ihm. Max Sklarek freilich, das Haupt der drei Brüder, lag bei Beginn des Prozesses krank zu Hause, man hielt ihn für einen Sterbenden. Er liegt dort noch immer, krank wie vor achteinhalb Monaten, aber er lebt noch. Nach ganz anderen Prozeß7 Ungezeichnet; durch den Eintrag vom 11.5.1932 im Journal III ist die Autorschaft Goldsteins belegt.

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teilnehmern streckte der Tod seine Hand. Ein Anwalt fiel einer Operation zum Opfer. Ein Zeuge, durch die Vernehmung in seiner bürgerlichen Ehre schwer verletzt, legte Hand an sich. Er schloß sich der Reihe derjenigen an, die schon im Laufe der Vorverhandlung sich davongemacht hatten. Die Verhandlung selbst schien immer aufs neue bedroht, Angeklagte wurden krank oder machten sich durch mehr oder weniger ernst gemeinte Eingriffe krank – eine Unterbrechung von mehr als drei Tagen, und die Mühe wäre umsonst gewesen, der Prozeß hätte von vorne beginnen müssen. Der Prozeß ist zu Ende geführt worden. An jedem Sitzungstag war das Gericht zur Stelle, die Ersatzrichter und Ersatzschöffen warteten vergebens, sie brauchten nicht einzugreifen. Unter der überlegenen Führung des Amtsgerichtsrats Keßner wurde die Anklage, die in vier dicken Bänden auf dem Richtertisch lag, und im Anfang unübersehbar schien, bewältigt. Auch der Vorsitzende war von Gefahren umwittert, die ihn aus seinem eigenen Temperament bedrohten. Seine Neigung zu sarkastischen Bemerkungen trug ihm wiederholt Proteste der Betroffenen, einmal eine Rüge des Kammergerichtspräsidenten ein. Dennoch hat er unstreitig seines Amtes in vorbildlicher Weise gewaltet. Wenn heute nicht nur die Geschehnisse in bequemer Uebersichtlichkeit geklärt, sondern auch die an ihnen beteiligten Menschen, Angeklagte und Zeugen, wie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet sich darbieten, so ist das im wesentlichen sein Verdienst. Heute kennt man diese städtischen Beamten, die nach einem Leben der Pflichterfüllung und nach einem Aufstieg, den sie doch wohl ihren Leistungen verdanken, sich blenden ließen durch den falschen Glanz eines vorgetäuschten Reichtums, die den Umgang mit reichen und in ihrem Kreis mächtigen Leuten für ehrenvoll hielten, die sich vor Gefälligkeiten nicht zu hüten wußten und darüber zur Vernachlässigung ihrer Amtspflichten verlockt wurden. Man kennt die Funktionäre, die aus dem Volk stammten, auf dem Weg über die politische Partei hochgekommen waren, denen für ihre Aufgabe Vorbildung und Tüchtigkeit fehlten, die aber die Vorteile ihrer Stellung zu genießen trachteten und an den Brüdern Sklarek ihre Lehrmeister fanden. Und man kennt jetzt vor allem die Brüder Sklarek selbst, kleine Leute, ohne Bildung, ohne Erziehung, ohne geistiges Format, bedacht auf nichts als auf den Erwerb von Geld, um der Genüsse willen, die es ermöglicht, unbedenklich in der Wahl ihrer Mittel, zugleich töricht, da sie den unvermeidlichen Zusammenbruch nicht vorhersahen, begabt nur mit einem Instinkt für die Schwächen ihrer Mitmenschen und für die geschickte Art, sie zu ihrem Vorteil auszunutzen.

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Ihre Vergehen liegen jetzt in einfachen Umrissen klar zutage. Sie haben sich die Kundschaft der Stadt Berlin zu erringen und bis zum Abschluß eines Monopols zu erweitern gewußt. Sie haben Aufträge erlangt, weit über das Bedürfnis der Stadt hinaus, und haben das erreicht, indem sie maßgebliche Funktionäre bestachen. Sie haben sich von der Stadtbank noch über diese Aufträge hinaus Kredite geben lassen und die Unterlagen dafür gefälscht. Sie haben durch Bestechung und Gefälligkeiten Revisionen verhindert und auftauchenden Verdacht erstickt, und haben um sich einen Nimbus zu verbreiten gewußt, der die Ahnungslosen täuschte und den Eingeweihten das Gewissen einschläferte. Was an der Sklarek-Affäre den Namen »Skandal« verdient, das ist die unbegreifliche Tatsache, daß in der Verwaltung der Reichshauptstadt solche Leute eine solche Rolle spielen konnten, daß sie gesellschaftliche Anerkennung fanden und gesellschaftlichen Glanz ausstrahlten. In dieser Tatsache – nicht in den Betrügereien an sich, die immer und überall vorkommen können – spiegelt sich die Zeit, die unter dem Druck von Krieg, Zusammenbruch, Umschichtung und endlos wachsender Not alle Maßstäbe zu verlieren droht. Daß dieses Geschwür ausgebrannt wurde, ist gut, war notwendig. Aber darüber mögen doch andere sich nicht überheben. Andere Skandale, Zeichen derselben Zeit, sind nicht mit solcher Geduld, mit solcher gierigen Teilnahme der Oeffentlichkeit ihrer Aufklärung zugeführt worden. Der Sklarek-Skandal hat die Verführbarkeit schwacher Menschen gezeigt, aber weder Gruppen noch Parteien noch ein geheimnisvolles »System« entlarvt. Von den Strafen, namentlich denen, die über die Brüder Sklarek verhängt worden sind, darf gesagt werden: das Gesetz trifft die Schuldigen in seiner vollen Schwere. Der Vorsitzende hat ohne Zweifel recht, wenn er für das erkennende Gericht volle Objektivität in Anspruch nimmt. Es wird bei der Urteilsfindung keine Voreingenommenheit bestanden haben zu ihren Ungunsten, aber gewiß auch keine zu ihren Gunsten. Damit sollte der Sklarek-Skandal, der drei Jahre lang die Oeffentlichkeit beunruhigt und der Agitation Stoff geliefert hat, zu Ende sein. Das hindert nicht, daß aus den trüben Vorkommnissen Lehren für die Praxis zu ziehen sind, wie verwaltende Körperschaften zusammengesetzt werden sollen und wie sie nicht zusammengesetzt werden dürfen. Wenn sie mit Ernst und Besonnenheit gewogen werden, so werden aus dem Giftstoff des Skandals heilende Kräfte entstehen. Inquit 28.6.1932

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Noch ein Sklarek-Opfer

Der Meineidsprozess gegen Brolat

Es klingt so schön und man läßt es sich so gern erzählen, wie der einfache Sohn des Volkes aus eigener Kraft emporgestiegen ist; wie der Volksschüler in Gumbinnen das Schmiedehandwerk erlernte, auf die Wanderschaft ging, sich in der Hauptstadt seßhaft machte, eine Familie gründete, wie er sich der Sache seiner Standesgenossen annahm und in der Gewerkschaftsbewegung hervortrat; wie er in den Krieg zog, das Eiserne Kreuz errang, verwundet wurde; wie er mit dem Umsturz zu öffentlicher Wirksamkeit gelangte und schließlich Vorstandsmitglied eines städtischen Riesenunternehmens, der Berliner Verkehrs-Gesellschaft, wurde mit einem Jahresgehalt von 72 000 Mark. Man hört es gern, und man gestattet ihm darüber mit Schmunzeln die volkstümlichen Unsicherheiten im Gebrauch der deutschen Sprache und eine falsch angebrachte Sicherheit, die es ihm schicklich erscheinen läßt, den Leiter der Schwurgerichtsverhandlung solange »verehrter Herr Vorsitzender« zu nennen, bis diese Vertraulichkeit gerügt wird. Es klingt schön, oder es könnte schön klingen. Bei dem Herrn Brolat bereitet dieser Aufstieg keine ungetrübte Freude. Auch abgesehen von dem Meineidsprozeß, in den man ihn jetzt verwickelt sieht, läßt sich gegen sein menschliches und dienstliches Auftreten mancherlei einwenden und ist mancherlei an dieser Stelle eingewandt worden. Es ist eingewandt worden, als vor Jahr und Tag der Sklarek-Skandal ausbrach und dabei auch der Name Brolat genannt werden mußte. Er gehörte zum vertrauten Kreis der Sklareks, er stand auf der Liste ihrer Privatkunden, er war als einer der ersten geschäftig hin und her gelaufen, um Konten zu begleichen und von anderen begleichen zu lassen. Immerhin: er saß im Sklarek-Prozeß nicht mit auf der Anklagebank. Wenn ihm strafrechtlich eine Schuld nachgewiesen worden wäre, man hätte ihn damals nicht entschlüpfen lassen. Aber sein Name verschwand nicht aus dem öffentlichen Gerede. Der Vorsitzende des Sklarek-Prozesses beschuldigt ihn unumwunden der Begün-

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stigung. Nachdem er selbst als Zeuge vernommen worden war, wurde er nicht beeidigt. Das veranlaßte ihn, sich von seinem Posten im Vorstand der B. V. G. beurlauben zu lassen. Ein Ermittlungsverfahren gegen sich hatte er selbst beantragt; es endete mit Einstellung. Auch hier: wenn ihm etwas nachgewiesen worden wäre, man hätte ihn nicht entschlüpfen lassen. Leider zogen er und die Seinen aus den Vorgängen nicht die selbstverständliche Folgerung, daß er in die alte Wirksamkeit nicht zurückkehren durfte. Man versuchte, ihn als Direktor der B. V. G. wieder einzusetzen. Da erreichte ihn das Verhängnis: er wurde des Meineids beschuldigt. Am 27. Dezember 1932 erfolgte seine Verhaftung. Niemand wird behaupten, daß Direktor Brolat dadurch, daß er in der eigentlichen Sklarek-Affäre nicht verfolgt worden ist, in seiner menschlichen und dienstlichen Ehre völlig rehabilitiert sei. Daß die Anklage aber unter der Beschuldigung des Meineids erfolgt, erlebt man mit Unbehagen. Denn wie kommt ein Mensch zu einer Meineidsbeschuldigung? Es lief ein Disziplinarverfahren gegen die Stadtbank-Direktoren in ihrer Eigenschaft als städtische Beamte. Mit der Untersuchung beauftragt war der Oberregierungsrat im Oberpräsidium Tapolski, jetzt Landrat. Er vernahm den Direktor Brolat als Zeugen über seine Beziehungen zu den Sklareks, um festzustellen, ob sie bei ihrem Betrug an der Stadtbank Mitwisser gehabt hatten. Brolat sah sich kompromittiert: durch seine Freundschaft mit den Sklareks, durch den Bezug von Anzügen, durch den Austausch von Geschenken. Er sah seine Existenz in Gefahr und tat, was manch anderer in seiner Lage auch tun würde: er suchte abzuschwächen, auszugleichen, wenn es ging: gutzumachen. Er blieb vier Stunden bei dem Untersuchungsführer Tapolski, unterschrieb das Protokoll, das in seiner Gegenwart diktiert worden war, und bekräftigte es mit seinem Eid. Da steht seine Aussage Satz für Satz, es ist nicht mehr dran zu rütteln. Aber hat er alles so gesagt, wie es da steht? Und hat er alles so gemeint, wie es vom Vernehmenden formuliert worden ist? Landrat Tapolski als Zeuge kann sich heute nach drei Jahren nur im allgemeinen erinnern. Er sagt aus, wie es sich von selbst versteht: Wenn es so formuliert worden sei, so habe er es so verstanden, und wenn er es so verstanden habe, sei es so gesagt worden. Das große Reinemachen, das nicht erst die neuen Machthaber erfunden haben, ist im Fall Sklarek, wo es gewiß nötig war, durchgeführt worden, mit Strenge und Härte und ohne Schonung. Wenn das Gericht mit Hilfe der Beweisaufnahme zu der Ueberzeugung gelangen sollte, daß Direktor Brolat unter seinem Eid, wissentlich oder fahrlässig, falsch ausgesagt habe, so wird

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auch noch dieses Opfer fallen. Aber dann fällt es, weil es sich unheilvoll verstrickt hat, nicht, weil es eines Verbrechens wie die Sklareks und ihre Mitschuldigen überführt worden ist. Inquit 21.2.1933

Graf Helldorf und die Kurfürstendamm-Krawalle Ein politischer Prozess (September 1931 bis Februar 1932)

Zum besseren Verständnis des Prozess-Verlaufs vorab eine kurze Übersicht: Am 12. September 1931, dem jüdischen Neujahrstag, kam es auf dem Kurfürstendamm zu pogromartigen Ausschreitungen. Hunderte von Nationalsozialisten prügelten auf jüdische Bürger ein oder auf Personen, die sie für Juden hielten. 1. Prozess: Am 18. September 1931 begann der Prozess gegen 34 Randalierer unter der Leitung von Landgerichtsdirektor Schmitz. Das Urteil wurde am 23. September verkündet, und es wurden Strafen zwischen 9 Monaten und 1 Jahr 9 Monaten ausgesprochen; 6 Angeklagte wurden freigesprochen. 2. Prozess: Der Prozess gegen den vermuteten Rädelsführer Wolf-Heinrich Graf von Helldorf und seinen Stellvertreter Karl Ernst – die erst geflohen waren, sich dann aber gestellt hatten – begann am 25. September 1931 unter Landgerichtsdirektor Schmitz, wurde aber gleich darauf vertagt, was sich mehrfach wiederholte. Am 27. Oktober Wiederbeginn des Helldorf-Prozesses unter Landgerichtsdirektor Brennhausen. Das Urteil am 7. November 1931 lautete für Helldorf und Ernst auf je 100 Mark Geldstrafe und je 6 Monate Gefängnis wegen Landfriedensbruchs. 3. Prozess: Am 17. Dezember 1931 Beginn der Berufungsverhandlung unter Landgerichtsdirektor Ohnesorge. Am 9. Februar 1932 wurden Helldorf und Ernst nur noch wegen Beleidigung zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt.

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»Klamauk« am Kurfürstendamm Die Helden des 12. September vor Gericht

Als die Polizei am Abend des 12. September endlich eingriff, scheint sie doch nicht schlecht gearbeitet zu haben. Fast alle von den 34 Teilnehmern der Ausschreitungen am Kurfürstendamm, die sich unter der Anklage des Landfriedensbruchs und einiger anderer Vergehen vor dem Schnellschöffengericht Charlottenburg zu verantworten haben, gehören den »Sturmabteilungen«1 der Nationalsozialisten an. Einige haben früher dazu gehört und sind jetzt ausgetreten oder ausgeschlossen worden. Einige »sympathisieren« nur mit dem Nationalsozialismus. Ein paar gehören zum Jung-Stahlhelm2. Die Richtigen sind festgenommen worden. Daß sie allesamt, vom ersten bis zum letzten, vor Gericht behaupten, an den Ausschreitungen unbeteiligt zu sein, versteht sich von selbst. Hatte jemand von ihnen erwartet, sie würden zu ihren Taten stehen? Daß Menschen mißhandelt und Kaffeehäuser demoliert worden sind, das haben sie nicht einmal gesehen; geschweige denn, daß sie selber die Schuld daran tragen. Ein einziger gibt zu, mit einem Herrn in körperliche Berührung geraten zu sein. Aber er ist selber gerempelt worden und hat »mit der Hand in die Luft gegriffen«. Der andere lag davon am Boden. Wie kamen sie denn alle nach dem Kurfürstendamm? Auf Befehl ihrer Führer? So ein Führer ist nicht auf den Mund gefallen. Er wünscht, haar-

1 Sturmabteilung (SA), 1920 gegründete Kampftruppe der NSDAP. Die braun uniformierte SA wurde zu Propagandamärschen, Provokationen der Gegner, v. a. der Kommunisten, und zu Werbefeldzügen eingesetzt. Ihr Straßenterror trug in der Endphase der Weimarer Republik wesentlich zur Rechtsunsicherheit bei. 2 Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten; paramilitärisch organisierter Wehrverband, der im Dezember 1918, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von dem Reserveoffizier Franz Seldte (29.6.1982–1.4.1947) in Magdeburg gegründet worden war. Antidemokratische und antisemitische Einstellung, später Nähe zur NS-Ideologie.

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fein unterschieden zu sehen, daß er weder eine »Anordnung« noch einen »Fingerzeig« gegeben habe, daß vielmehr nur »gesprächsweise« von ihm auf den Spaziergang am Kurfürstendamm hingewiesen worden sei. Die anderen – es ist nicht zu glauben, was für harmlose Gründe die Leute aus Berlin N oder Berlin O haben, sich in die Gegend des Kurfürstendamms zu begeben. Wenn Bier, Skat und Kegelschieben nicht ausreichen, so muß eine Braut herhalten, die einer einmal in Kolberg gehabt hat und die jetzt am Kurfürstendamm einen Lebenswandel führen soll. Gewußt, was sich am Kurfürstendamm abspielen sollte? Ja, einige haben es auch gewußt. Es sollte »Klamauk« geben. Einige haben auch erfahren, daß die Juden ihr Neujahrsfest feiern, »Silvester«, wie sich einer ausdrückt. Sie wollten sehen, wie das aussieht, wenn die Juden auf dem Kurfürstendamm Silvester feiern. Und da die Juden sich stille verhielten, so machten sie selbst Klamauk, indem sie »Prost Neujahr« schrien. Riefen sie nicht auch »Juda, verrecke«? Aber nein, sagen die einen. Aber ja, sagen die andern. Die fügen aber hinzu: das waren keine Nationalsozialisten, das waren entweder Neulinge oder Provokateure, in den Sturmabteilungen ist es ausdrücklich verboten, »Juda, verrecke« zu rufen. – Schließlich wird sich noch herausstellen, die N. S. D. A. P. ist eigentlich ein Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Und wie steht es mit dem Ruf »Deutschland, erwache«? Die einen haben es nicht gehört, die andern haben es gehört, noch andere haben es selbst gerufen. Aber was ist daran strafbar? Heißt doch »Deutschland, erwache« nichts anderes als: die Deutschen sollen sich nicht gegenseitig morden. Es ist nicht ein Kampfruf, wie wir es gewöhnlich mißverstehen; es ist ein Ruf des Friedens! Leitung der Aktion? Einer hat in seinem Auto ein paar Herren aus der Hedemannstraße3 umhergefahren. Er wußte nicht wen, und er wußte überhaupt von nichts. Einer gibt zu, daß er den »Stabsleiter« und den »Oberführer« gefahren hat. Er selbst ist »Führer der Wache des Stabes der Gruppe Brandenburg« und noch einiges, was der Mensch braucht. Die Titelträger, die er gefahren hat, das wäre ja wohl die Leitung. Aber die sind entwischt. Die 34 Angeklagten reden und reden. Einige deklamieren. Sie sagen die Unwahrheit und suchen sich herauszuschwindeln. Sie stellen sich dumm und versuchen das Gericht dumm zu machen. 3 In der Hedemannstraße 10, dem nationalsozialistischen Parteihaus, befand sich neben dem Gaubüro der NSDAP und Büroräumen der SS das Hauptquartier der SA.

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Aber es kommt wenig darauf an, was sie selber sagen. In der nächsten Sitzung werden die Zeugen sprechen.4 Inquit 19.9.1931

Zwei Welten

Ablehnung des Kurfürstendamm-Gerichts Die zweite Verhandlung gegen die Unruhestifter vom Kurfürstendamm begann heute vormittag mit einem Knalleffekt, den die Nationalsozialisten in ihrer forensischen Praxis nicht grade selten anzuwenden pflegen. Die Verteidigung lehnte den Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Schmitz, seinen Beisitzer Landgerichtsrat Thiemann, und einen Schöffen, Kaufmann Stark, wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Unter der Anklage des Landfriedensbruchs stehen diesmal fünf Teilnehmer des Septembertumults, darunter der S. A.-Führer Graf Helldorf und der Stabsführer Ernst, denen vorgeworfen wird, gemeinsam vom Auto aus die Aktion geleitet zu haben. Aus der Tatsache, daß dieselben Berufsrichter jenem erweiterten Schöffengericht angehört haben, von dem der Schofför der beiden Führer im ersten Prozeß zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt worden ist, wollen diese Angeklagten schließen, daß der Vorsitzende und sein Beisitzer ihnen nicht unbefangen gegenüberstehen können. Es ist der Rechtsanwalt Frank II, nationalsozialistischer Reichstagsabgeordneter, der sich zum ersten Sprecher des Ablehnungsantrags macht, ein Mann von seltener rhetorischer Begabung, erlesener Höflichkeit beflissen, die ihn nicht hindert, aggressiv zu werden, und aus der er leicht in pathetisches Dröhnen gerät. Ihm sekundiert neben Rechtsanwalt Sack der Kasseler Stadtverordnete Rechtsanwalt Freisler, vom krampfig fanatischen Typ nationalsozialistischer Redner. Einer von ihnen behauptet zwar auf Einwurf des 4 Siehe »Zeugen vom Kurfüstendamm. Die Krawalle vor Gericht«, in: Vossische Zeitung Nr. 443 v. 19.9.1931, S. 3.

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Vorsitzenden, er spreche nicht für das Publikum, sondern für seine Mandanten. Allein in Wahrheit benutzen beide die Freiheit, ihren Antrag zu begründen, zu theatralisch wirksamen Reden, die sich nicht nur an das Publikum im Zuhörerraum wenden. Von ihnen erfährt man denn eine ganz neue Deutung der wüsten Vorgänge, die sich am 12. September auf dem Kurfürstendamm abgespielt haben. Ueberfall des aufgehetzten und mißleiteten Pöbels auf friedliche Bürger? Aber kein Gedanke; vielmehr »Kampf um das Recht des deutschen Menschen auf freie Bewegung und um das Recht einer fremden Rasse auf bestimmte Straßen«. Mit anderen Worten: es stehen sich »zwei Welten« gegenüber, und das Gericht hat nicht zu prüfen, ob Gewalttätigkeiten begangen worden sind, und wer sie begangen hat, sondern »ob die Auweihschreienden angeblich Geschlagenen« geschlagen werden durften oder nicht. Das Gericht, das unter Vorsitz desselben Landgerichtsdirektors Schmitz die ersten 34 Teilnehmer abgeurteilt und mit schweren Strafen belegt hat, ist denn also, so stellen es die volksredenden Verteidiger dar, der »systematischen Hetze« und der »Pogrom«-Lüge zum Opfer gefallen, hat sich der »brüllenden, tobenden und schreienden öffentlichen Meinung« gefügt, sein Urteil stellt im »Pressekampf um den Kurfürstendamm« den Sieg der einen der beiden Welten dar. Folgerichtig wird die Besorgnis der Befangenheit weiter damit begründet, daß der Vorsitzende durch »semitische Versippung« gebunden sei, und daß der Schöffe, Kaufmann Stark, selber zu der von den Nationalsozialisten bekämpften Seite gehöre, wie es »der Augenschein« zeige. Auf die Ablehnung müssen die Abgelehnten sich schriftlich erklären; dann hat die Strafkammer zu entscheiden. Die Sitzung wurde also unterbrochen und auf morgen vertagt. Ob man der Meinung ist, daß der Bruch des Landfriedens erlaubt sei und Nachsicht verdiene, oder ob man ihn für ein Verbrechen und harter Sühne für würdig hält, das bedeutet in der Tat »zwei Welten«. Aber mag das Schöffengericht in dieser oder in einer anderen Zusammensetzung urteilen, es braucht nicht daran gezweifelt zu werden, daß die Richter, auch in ihrer Eigenschaft als »deutsche Menschen«, wie sie von den Sprechern emphatisch angerufen wurden, die Partei der Gerechtigkeit und nicht die Partei der Gewalttat ergreifen werden. Inquit 9.10.1931

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Landgerichtsdirektor Schmitz abgelehnt Die Strafkammer des Landgerichts III unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Friedmann hat dem Antrag der beiden Angeklagten Graf Helldorf5 und Ernst6 in dem sogenannten zweiten Kurfürstendamm-Prozeß, den Vorsitzenden des Erweiterten Schöffengerichts Charlottenburg, Landgerichtsdirektor Schmitz, und seinen Beisitzer, Landgerichtsrat Thiemann, aus Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, stattgegeben. Ebenso ist die Ablehnung des Schöffen Kaufmann Stark gebilligt worden. Zum Vorsitzenden des neuen Schöffengerichts, vor dem nunmehr der Prozeß verhandelt werden muß, ist vom Präsidenten des Landgerichts III Landgerichtsdirektor Burczek, bestellt worden. Es hat sich auf unbestimmte Zeit vertagt, damit die Richter Zeit haben, sich vorzubereiten. Das Gesetz verlangt für die Ablehnung eines Richters durch einen Angeklagten nicht, daß der Richter befangen sei oder sich dafür halte. Es verlangt nur, daß der Angeklagte seine Besorgnis der Befangenheit begründen könne. Das Gericht will nicht nur die Unvoreingenommenheit des Urteils gewährleisten; es will darüber hinaus dem Verurteilten das Gefühl ersparen, der Spruch sei aus Voreingenommenheit gefällt worden. Die Oeffentlichkeit hat daher, allgemein gesprochen und von diesem Fall abgesehen, Grund zu wünschen, daß die Kammern, denen bei Ablehnung von Richtern die Entscheidung obliegt, großzügig verfahren und in der Anerkennung der Gründe, aus denen der Angeklagte seine Besorgnis 5 Zu Wolf-Heinrich Graf von Helldorf siehe Seite 30. Obwohl Helldorf in allen Adelshandbüchern mit »ff« geschrieben wird, erscheint sein Name in der ausgewerteten Presseberichterstattung durchweg mit einfachem »f«. 6 Karl Ernst (1.9.1904–30.6.1934), Hotelpage. Seit 1923 Mitglied der NSDAP. Aufstieg durch homosexuelle Beziehungen zu Röhm. 1931 SA-Führer in Berlin, 1932 MdR. Im Zusammenhang mit dem sog. Röhm-Putsch ermordet.

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schöpfen kann, nicht zu ängstlich sind. Der abgelehnte Richter, der einen roten Kopf zu bekommen pflegt, sollte seine Gelassenheit bewahren und sich nicht empfindlich zeigen; denn es wird durch den Antrag seiner richterlichen Ehre keineswegs zunahe getreten. Und nur davor haben die Gerichte sich zu hüten, daß mit der Ablehnung aus Besorgnis der Befangenheit Mißbrauch getrieben wird, um die Justiz lahmzulegen. In dem jetzt entschiedenen Fall waren zwei Gruppen von Gründen vorgebracht worden. Die eine Gruppe wollte die Besorgnis der Befangenheit darauf stützen, daß Richter und Schöffen entweder selbst Juden oder mit Juden versippt seien. Die zweite Gruppe wandte ein, daß dieselben Richter in dem ersten Kurfürstendamm-Prozeß sich über die jetzigen Angeklagten schon ein Urteil gebildet hätten, und zwar zu ihren Ungunsten. Die Befangenheit wegen Zugehörigkeit zum Judentum ist in bezug auf den Schöffen Stark anerkannt worden, und zwar deswegen, weil er selbst sich für befangen erklärt hat. Ob er damit richtig und furchtlos verfahren ist, muß er mit sich selbst abmachen. Aber nach dieser Erklärung konnte die Entscheidung nicht wohl anders fallen, als sie gefallen ist. Sie lag bei dem Vorsitzenden des neu zusammengesetzten Schöffengerichts. Im übrigen wird in der Begründung der Entscheidung diese ganze Gruppe von Argumenten als nicht stichhaltig zurückgewiesen. Dagegen werden die juristischen Bedenken anerkannt. Die schriftliche Begründung des ersten Kurfürstendamm-Urteils liegt noch nicht vor. Es gibt aber bei den Akten einen Entwurf, der mit den mündlich verkündeten Urteilsgründen übereinstimmt. Danach hat das Gericht den Kaufmann Kühn, der die jetzigen Angeklagten Graf Helldorf und Ernst in seinem Auto auf dem Kurfürstendamm hin- und herfuhr, wegen Beihilfe zum Landfriedensbruch verurteilt. Es konnte dies nur tun, wenn es annahm, daß Graf Helldorf und Ernst ihrerseits Landfriedensbruch begangen haben, und zwar als Rädelsführer. Und es mußte sich diese Ueberzeugung bilden, ohne daß die Haupttäter in der Lage waren, sich gegen eine solche Feststellung mit den Mitteln zu wehren, die den Angeklagten von der Strafprozeßordnung an die Hand gegeben sind. Die Kammer schließt daraus nicht, daß Landgerichtsdirektor Schmitz und sein Beisitzer nicht in der Lage wären, in einer neuen Verhandlung die Schuld der Beiden objektiv festzustellen; aber sie versagt den Angeklagten nicht die Berechtigung, über Befangenheit der Richter besorgt zu sein. Diese Begründung läßt sich hören. Darüber braucht man nicht zu vergessen, daß die Angeklagten und ihre Verteidiger keineswegs nur aus

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solchen juristischen Erwägungen ihren Vorstoß unternommen haben. Mit der Ablehnung jüdischer und jüdisch-versippter Richter wollten sie nichts weiter, als im Geiste der Nationalsozialisten demonstrieren. Und mit der Berufung auf das erste Urteil wollten sie Richter ausschalten, die bewiesen hatten, daß sie das Gesetz in seiner vollen Strenge auch gegen rechts gerichtete Demonstranten anzuwenden wissen. Die alte Kammer zu beseitigen, ist ihnen gelungen. Dem vorläufig vertagten Prozeß sieht die Oeffentlichkeit entgegen in der Erwartung, daß mit den Richtern nicht auch das Recht ausgetauscht worden ist. Inquit 12.10.1931

Die unerwünschten Kurfürstendamm-Krawalle Graf Helldorf vor Gericht

Nachdem es gelungen ist, unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Brennhausen an Stelle des abgelehnten Landgerichtsdirektors Schmitz ein Erweitertes Schöffengericht zusammenzustellen, das der Verteidigung keinen Anlaß zu Bedenken gibt, kann der zweite Kurfürstendamm-Prozeß verhandelt werden. Von den acht Angeklagten sind einer beim Stahlhelm, sieben bei den Nationalsozialisten leitend tätig, angefangen vom Führer eines Sanitätstrupps bis hinauf zu dem Obersten S. A.-Führer des Gaus Berlin-Brandenburg, dem Grafen Helldorf. Die Vernehmung zur Person ergibt, daß neben mancherlei Vorbestraften wegen politischer Vergehen und Gewalttätigkeiten unter diesen Führern auch einer sich befindet, der wiederholt wegen Diebstahls bestraft ist. Von der wirtschaftlichen Seite betrachtet, geht es keinem von ihnen eigentlich gut; die Volksschule überwiegt in der Ausbildung, es gibt unter ihnen Arbeiter, auch ohne Arbeit, kleine Angestellte, einen Zeitungsfahrer, einen Versicherungsagenten. Zwei stammen aus Offiziersfamilien, darunter der Graf Helldorf. Er wäre unter den alten Verhältnissen ohne Zweifel Offizier geworden und vielleicht ein tüchtiger Offizier. Jetzt hat er versucht, das väterliche Gut zu bewirtschaften,

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er hat Verluste gehabt, hat es verkaufen müssen, lebt von Frau und Kindern getrennt und wird von Verwandten unterstützt. Man würde also sagen, es sei nichts aus ihm geworden – wenn nicht bei den Nationalsozialisten so viel aus ihm geworden wäre. Auch von ihm gilt, was von den Mitangeklagten gilt: sie wirken reichlich jung im Vergleich zu der Verantwortung, die sie tragen oder zu tragen behaupten. Ueber die Vorgänge, die sich am 12. September auf dem Kurfürstendamm abgespielt haben, ist gegenüber dem ersten Prozeß von den Angeklagten neues nicht zu erfahren. Auch dieses Gericht hört wieder, daß niemand etwas befohlen und niemand etwas gewußt hat; daß die Angeklagten zufällig und ahnungslos auf den Kurfürstendamm geraten sind; daß von einigen Nationalsozialisten »Deutschland erwache!« und von einigen Provokateuren »Juda verrecke!« gerufen worden ist, und daß niemand eine andere Gewalttätigkeit gesehen hat als die auf friedliche Passanten einschlagende Polizei. Nebenbei ergibt sich, daß der vielgelästerte Kurfürstendamm mit Unrecht in dem Ruf einer verabscheuungswürdigen, von volksfremden Elementen belebten Straße des Lasters steht. Denn nach den Aussagen der Angeklagten wohnen nicht wenige der national gesinnten Männer, ihr Verteidiger mit einbegriffen, im Bezirk und in den Querstraßen des Kurfürstendamms, sie schämen sich nicht, über den Kurfürstendamm spazieren zu gehen und in den Lokalen des Kurfürstendamms ihr Bier zu trinken. Einer bekennt denn auch, daß er auf der Suche nach dem Krawall, der sich am jüdischen Neujahrsfest abspielen sollte, sich zunächst nicht auf den Kurfürstendamm begab, sondern nach dem Tempel in der Fasanenstraße, den er denn freilich dunkel und menschenleer antraf. Von dem Klischee dieser Vernehmungen weicht ab die Aussage des Grafen Helldorf. Zwar bestreitet auch er, daß er von den Ausschreitungen vorher gewußt oder gar sie angeordnet habe. Aber er gibt zu, nach dem Kurfürstendamm gefahren zu sein auf die Nachricht hin, daß sich dort irgendetwas abspiele. Nach seiner Darstellung wurde er bei seiner abendlichen Kontrolle der westlichen S. A.-Lokale7 darauf aufmerksam. Er leugnet 7 SA-Lokale oder Sturmlokale hatten eine wichtige Bedeutung bei der nationalsozialistischen Eroberung einzelner Straßen oder Stadtviertel. Sie dienten der Kontaktaufnahme, waren Kommunikationsstätten, in denen auch Verabredungen für politische Aktionen getroffen wurden, und manchmal waren sie außerdem Suppenküchen und Schlafräume. In Berlin wurden Sturmlokale besonders gern in proletarischen Wohnvierteln und oft neben kommunistischen Lokalen eingerichtet.

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nicht, daß an der Kreuzung des Kurfürstendamms und der Joachimsthaler Straße sich Menschen angesammelt hatten: er schätzt sie auf 500 bis 1 000  Mann, unter denen Nationalsozialisten an der Kleidung erkennbar waren und aus der »Deutschland, erwache!« gerufen wurde. Er will dann auf mehreren Rundfahrten nach Unterführern Ausschau gehalten und ihnen streng anbefohlen haben, die S. A.-Leute vom Kurfürstendamm zu entfernen. Er gibt auch Gründe für sein Verhalten an, die sich hören lassen. Die Leitung der Partei wünsche, daß Demonstrationen in militärischer Ordnung, unter Musik und entfalteten Fahnen von statten gehen. Derartige Demonstrationen bedürften der ausdrücklichen Genehmigung der Parteileitung. An Radau-Szenen sei der Partei nichts gelegen. Sollte also, was der Angeklagte Graf Helldorf für möglich hält, die Parole zu den Unruhen am Kurfürstendamm von Mund zu Mund weitergegeben worden sein, so wäre es begreiflich, daß die Berliner Führung davon nichts erfuhr, damit sie nicht mit einem Verbot einschritte. Wenn man ihm die Aussage und ihre Begründung glaubt – und vielleicht ist es klug, sie ihm zu glauben –, so ergibt sich daraus, wie wenig die Parteimannschaften in der Hand der Parteiführer sind. Die große Organisation mit ihrer wichtigtuerischen Nachahmung des Aufbaus einer Armee, mit »Stäben«, »Stabsführern« und »Adjutanten« enthüllt sich als eine Spielerei. Als eine höchst gefährliche, versteht sich. Glanz und Titel sind da. Aber wenn die angeblich Geführten Lust bekommen, die durch skrupellose Hetze angehäuften Leidenschaften loszulassen, so fehlt den Führern die reale Macht, sie zu hindern. Dann muß doch wieder der Staat kommen, um das Feuer zu löschen, das leichtsinnige Hände angefacht haben. Ob er, der Verantwortliche für die Sturmabteilungen von Groß-Berlin, am nächsten Tage eine Untersuchung eingeleitet habe, will der Vorsitzende noch wissen. Nein, Graf Helldorf hat nichts eingeleitet. Auch dafür weiß er eine Reihe von Gründen anzugeben. Der wichtigste: er habe die Vorgänge für nichts besonderes gehalten; schließlich seien nur ein paar Leute verprügelt worden! Was geschehen ist, werden die Zeugen aufklären. Und ob es für etwas besonderes zu gelten hat, darüber wird das Gericht entscheiden. Inquit 27.10.1931

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Der Plan der Planlosen

Beweisaufnahme im Helldorf-Prozeß

Die Aufdeckung der empörenden und beschämenden Vorgänge vom 12.  September, um die sich das Erweiterte Schöffengericht Charlottenburg in geduldig durchgeführter Beweisaufnahme bemüht, soll nicht, wie im ersten Kurfürstendamm-Prozeß, die primitiven, mit Faust, Schlagring und Knüppel arbeitenden Vollstrecker, sondern die gefährlicheren und in höherem Maße schuldigen Urheber und Leiter des Planes der Bestrafung zuführen. Keinem der acht Angeklagten wird vorgeworfen, daß er selber geschlagen oder mißhandelt habe. Die Zeugen, die entweder selbst der entfesselten Rohheit zum Opfer gefallen sind oder solche Szenen mit angesehen haben, müssen nur deswegen in langer Reihe vortreten und ihre krassen Aussagen machen, damit die Richter sich ein Urteil darüber bilden können, ob nach einem Plan gehandelt worden ist. Die Angeklagten leugnen bekanntlich den Plan und ihre Beteiligung an irgendeiner Art von Leitung. Sie behaupten, zufällig und ahnungslos auf den Kurfürstendamm geraten zu sein, bis auf den Grafen Helldorf, der zusammen mit seinem sogenannten »Stabsführer« sich dorthin begeben haben will, um seine S. A.-Leute zurückzuziehen. Daß er mit auf der Anklagebank sitzt, hat immerhin eine seltsame Vorgeschichte; und wenn er nicht als Leiter mit dabei gewesen ist, so hat ihm sein Unstern einen bösen Streich gespielt. Erst fiel sein Auto einem Polizeioffizier auf, dem es den Verdacht erregte, daß aus dem Wagen heraus geleitet würde, und er notierte sich die Nummer. Unabhängig davon, zu einer andern Zeit und an einer anderen Stelle, verlangten die Insassen eines Privatwagens die Feststellung eines Autos, dessen Insassen ihnen den Verdacht der Führerschaft erregt hatten. Und als man näher zusah, da war es dasselbe Auto, das sich schon der Polizeioffizier notiert hatte. Und als man noch näher zusah, da saß darin der verantwortliche oberste Führer der Sturm-Abteilungen von Groß-Berlin, Graf Helldorf. Als er festgenommen wurde, äußerte Graf Helldorf laut seinen Unwillen über diejenigen, die seine Festnahme bewirkten. Diese verstanden das Schimpf-

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wort »Bankjuden«; demgegenüber erklärt Graf Helldorf, er habe »Bandjuden« gerufen, was soviel heißen soll wie Hausierer. Aber ob Bankjuden oder Bandjuden; daß er sich auf ihre Veranlassung festnehmen lassen mußte, war unter allen Umständen ganz und gar gegen den Plan. Daß nach einem Plan demonstriert worden sei, behauptet mit aller Bestimmtheit eine Reihe von Zeugen. Die Planmäßigkeit exakt zu beweisen, wird trotzdem nicht leicht sein. Soviel scheint, nach den bisherigen Aussagen, im Plan gelegen zu haben: erst in unauffälligen Gruppen den Kurfürstendamm von der Gedächtniskirche bis etwa zur Uhlandstraße füllen; dann sich zusammenschließen; die Ueberzahl rücksichtslos ausnützen; ohne diese Sicherheit sich still verhalten; und vor der Polizei spurlos verschwinden. Sollte es zum Plan gehört haben, Juden anzugreifen, so wurde dieser Teil des Programms jedenfalls sehr unvollkommen durchgeführt. Unter den Verprügelten befindet sich ein nichtjüdischer Rechtsanwalt Möhring, ein nichtjüdischer Dentist Pauly, ein nichtjüdischer Rumäne und ein nichtjüdischer Inder. Dieser, von Beruf Maschinenbauingenieur, wurde geschlagen, kaum daß er die Straße betreten hatte. Er versichert dem Gericht, daß er nicht wisse, warum er geprügelt worden sei, da er nichts getan und mit niemandem gesprochen habe. Durch seine Aussage klingt die Verwunderung fast noch stärker als die Empörung. Wie würde er sich erst wundern, wenn er erführe, daß die Demonstranten erst recht nicht wissen, warum sie geprügelt haben. Inquit 30.10.1931

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Stolz und aufrecht

Widersprüche im Helldorf-Prozeß Vor dem Zeugentisch ein früherer Major, jetzt bei den Nationalsozialisten Standartenführer. Er ist angezogen nicht wie für eine Gerichtsverhandlung, eher für eine Löwenjagd: kurze braune Jacke, braune Reithosen, hohe braune Reitstiefel. Niemand sagt ihm, diese Tracht sei dem Orte nicht angemessen. Vielleicht findet es niemand. In der Tat ist er bei weitem nicht der einzige, der so auftritt. Die sogenannte Sporttracht, bisweilen in Verbindung mit den hochgeschnürten Bärenstiefeln, zeigt sich nicht selten, von den Angeklagten über die Zeugen bis unter die Zuschauer. Abzeichen aller Art, mit Einschluß des Hakenkreuzes, fehlen nicht. Unangefochten gehen die Träger aus und ein. Nur wie jemand mit erhobenem Arm den Parteigruß zur Anklagebank sendet, greift der Vorsitzende mit sanfter Rüge dazwischen und verbietet es für die Zukunft. Der Standartenführer ist, wie so viele seiner Parteigenossen, am Abend des 12. September auf dem Kurfürstendamm gewesen, er hat, wie so viele seiner Parteigenossen, ein Kino besuchen wollen, und er ist, wie so viele seiner Parteigenossen, davon abgehalten worden. Der Standartenführer durch die Unruhen auf dem Kurfürstendamm? Keineswegs; sondern durch Ueberfälle oder geplante Ueberfälle der Kommunisten auf nationalsozialistische Sturmlokale. Als der Standartenführer die Sache mit den kommunistischen Ueberfällen ins reine gebracht hatte, verabredete er sich aufs neue, diesmal ins Café Berlin. Aber auch da gelangte er nicht hin; denn inzwischen ging es in der Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wirklich los. Was hat der Standartenführer gesehen? Gewalttätigkeiten? Jawohl; nämlich Gewalttätigkeiten eines Schutzmanns, eines wahren Riesen von einem Schutzmann, der auf einen wehrlosen Passanten einschlug. Der Standartenführer empörte sich, »aus reiner Menschlichkeit«, wie er dem Gericht versichert, und belästigte die Polizisten, die dort die Ordnung wieder herstellen sollten, so lange mit seiner Empörung, bis er selbst auf einen Wagen gesetzt und zur Wache gebracht wurde.

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Ob er Zusammenrottungen gesehen habe? Jawohl, er habe eine kleine Zusammenrottung gesehen, etwa 15 Mann; das seien aber keine Nationalsozialisten gewesen. Ob die Leute denn keine Uniform getragen hätten? Nein, Uniform hätten sie nicht getragen. Woran er denn also erkannt habe, daß es keine Nationalsozialisten gewesen seien? Nun, Nationalsozialisten hätten doch einen bestimmten Typ. Was denn für einen Typ? Sie seien alle, sagt der Major und Standartenführer, stolz und aufrecht. Stolz und aufrecht demnach sind die Führer, stolz und aufrecht die Geführten. Außer diesem Führer einer Standarte wird der Führer eines Sturms vernommen. Auch er wollte sich einen Film ansehen, und auch er gelangte nicht dazu. Ihn aber rief aus seinem Auto der Graf Helldorf an und verlangte, er solle sich wegscheren und die S. A.-Leute nach Hause bringen. So erzählt der Zeuge. Und er erzählt weiter, wie er von der Polizei in die Budapester Straße gedrängt wurde und sich dort inmitten eines Publikums fand, das seiner Meinung nach zu den üblichen Besuchern des Kurfürstendamms gehört. Getreu der Mahnung des Grafen Helldorf rief er: »Der Oberführer sagt, alle sollen nach Hause gehen.« Er bekam eine unerwartete Antwort. »Was redet denn der vom Oberführer?« wurde ihm entgegnet, mit dem Zusatz: »Schlagt doch den Kerl in die Schnauze«. Vorsitzender: »Zeuge, wie alt sind Sie?« Zeuge: »41 Jahre.« Vorsitzender: »In diesem Alter mußten Sie doch aber wissen, daß man nicht irgendwelchen Leuten Befehle eines Oberführers überbringen kann. Das geht doch nur bei Ihren eigenen Parteigenossen.« Zeuge: »Ich dachte, der Oberführer wird schon wissen, was da für Leute sind.« Vorsitzender: »Offenbar sind Sie an die Unrichtigen gekommen.« Das also sind Führer. Unter den Geführten treten als Zeugen auch einige von denjenigen auf, die im ersten Kurfürstendamm-Prozeß durch das Schnellschöffengericht verurteilt worden sind. Nur einer gibt zu, daß er von seinem Führer aufgefordert worden ist, sich nach dem Kurfürstendamm zu begeben. Ein anderer, Gärtnerlehrling, 19jährig, behauptet, ihm sei nichts dergleichen gesagt worden. Vor der Polizei hat er aber nach dem Protokoll das Gegenteil gesagt. Nach dem Polizeiprotokoll: er sei vom Sturm-Abend gekommen; jetzt: es habe kein Sturm-Abend stattgefunden. Nach dem Protokoll: er sei mit sechs oder sieben Kameraden zu dem verabredeten Treffpunkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gegangen; die Namen dieser Kameraden finden sich dort angegeben; jetzt: er sei nur

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mit einem Bekannten gegangen, mit den Namen habe er nicht Begleiter, sondern Sturm-Mitglieder bezeichnen wollen. Im ganzen behauptet er, der vernehmende Kriminalbeamte habe ihm alle Aussagen in den Mund gelegt, und er sei nicht imstande gewesen, den Sinn des Protokolls zu verstehen. Auf den Vorhalt des Staatsanwalts, ob er sich denn nicht bewußt gewesen sei, daß er mit der Nennung der Namen, wenn sie falsch war, Unschuldige einer Straftat bezichtige, erwiderte er, er wisse nicht, was »bezichtigen« heißen soll. Der Verteidiger springt ihm bei mit der Frage: »Hat vielleicht der Kriminalbeamte Ihnen versprochen, Sie würden entlassen werden, wenn Sie alles zugeben?« Und prompt erwidert er: »Ja.« Stolz und aufrecht – wenn man den Gärtnerlehrling vor dem Richtertisch stehen und seine Aussagen machen sieht, so kann man ihm die gute Figur nicht absprechen. Aber es gibt ja immer noch Leute in Deutschland, die den Stolz und die Aufrichtigkeit nicht nach der guten Figur beurteilen. Inquit 1.11.1931

Der enthüllte Kurfürstendamm-Plan Mitteilungen eines Vertrauensmannes

Alle Beteiligten des Helldorf-Prozesses wünschen sich das Ende der Beweisaufnahme herbei. Dennoch bereitet die Verteidigung einen neuen Angriff vor, unter Benennung einer neuen Reihe von Zeugen. Es sind die Angeklagten, die, einer Anregung des Vorsitzenden zufolge, auf die Durchführung dieses Manövers verzichten, so daß ein Teil der angebotenen Beweise nur in Form von Eventualanträgen übrig bleibt. Sie dürfen aber nicht unter den Tisch fallen. Die Oeffentlichkeit kann beanspruchen, über sie unterrichtet zu werden. Insoweit die Vorgänge am Kurfürstendamm nach einem Plan erfolgt sind, hebt einer der Verteidiger an, habe sich im Laufe der Verhandlung doch wohl unzweideutig herausgestellt, daß die Urheber dieses Planes außerhalb der Organisationen, soll

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heißen: außerhalb der Nationalsozialistischen Partei und außerhalb des Stahlhelms, zu suchen seien. Also doch Plan? Damit haben sich die Erkenntnisse der Verteidigung den Behauptungen der Anklage in bemerkenswertem Maße genähert. Aber wo sind diese geheimnisvollen Urheber dieses ans Licht getretenen Plans zu suchen? Die Beweise der Verteidigung werden wir nicht zu hören bekommen. Wir müssen uns darauf beschränken, mitzuteilen, was zu beweisen die Verteidigung sich anheischig macht. Es soll bewiesen werden, führt derselbe Verteidiger fort, daß die preußische Polizei immer gegen die Nationalsozialisten vorgeht. Es soll bewiesen werden, daß aus dem Preußischen Ministerium des Innern eine Rundverfügung ergangen ist, worin aufgefordert wird, mit Unterstützung von Reichsbanner-Leuten nationalsozialistische Führer zu törichten Handlungen zu verleiten. Es soll bewiesen werden, daß den Nationalsozialisten seit langem anonyme Aufrufe zugesteckt worden sind. Es soll bewiesen werden, daß kurz vor den Kurfürstendamm-Unruhen Nationalsozialisten in ihrem Briefkasten Handzettel gefunden haben des Inhalts, daß die Sturmabteilungen sich am Abend des 12. September zu Demonstrationszwecken an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche treffen. Damit ist endlich der Plan enthüllt: Das preußische Innenministerium und die preußische Polizei haben durch Vermittlung von Reichsbannerleuten die Sturmabteilungen der Nationalsozialisten am Abend des jüdischen Neujahrsfestes nach dem Kurfürstendamm gelockt, um die Partei dadurch zu diskreditieren, daß die Führer zu törichten Handlungen verleitet wurden! Die Wendung »törichte Handlungen« für das, was zur Anklage steht, klingt reichlich milde. Aber vom Ausdruck abgesehen: auch in der Beurteilung dessen, was geschehen ist, scheint sich die Verteidigung der Anklage erheblich genähert zu haben. Inquit 3.11.1931

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Die Plädoyers im Helldorf-Prozeß Im Helldorf-Prozeß hielt heute Hitlers juristischer Berater, der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete, der Münchener Rechtsanwalt Frank II8, bekannt als Verteidiger aus zahlreichen politischen Prozessen gegen Nationalsozialisten, sein Plaidoyer. Seine Entsendung zum letzten Verhandlungstag – er hat bisher dem Prozeß nicht beigewohnt – zeigt, welche Bedeutung die nationalsozialistische Parteileitung diesem Prozeß beimißt, bei dem ein repräsentatives Mitglied unter schwerer Anklage steht. Rechtsanwalt Frank II sang, wie es nicht anders zu erwarten war, das Hohelied auf die Legalität. Es sei seine vornehmste Aufgabe, dem Vorurteil ein Ende zu machen, daß die Angeklagten, weil sie Nationalsozialisten seien, von vornherein zu Verbrechen und Vergehen neigen, die die Anklage ihnen vorwirft. Der Polizeipräsident wage es heute noch, die Nationalsozialistische Partei als staatsfeindlich und umstürzlerisch hinzustellen. Es sei aber der feste Wille der Partei, das von ihr erstrebte Ziel auf legalem und völlig verfassungsmäßigem Wege zu erreichen. Wer in der Partei sich gegen diesen Wege auflehne, werde von Adolf Hitler schonungslos aus der Bewegung ausgestoßen. Die Staatsanwaltschaft gebe heute zu, daß kein Beweis vorliegt dafür, daß die Führung der S. A. die Krawalle am Kurfürstendamm veranlaßt, um sie gewußt oder sie gebilligt hätte. Wenn die Staatsanwaltschaft behaupte, daß Graf Helldorf durch den Standartenführer Knüppel schon um 6 Uhr nachmittags von dem Bevorstehen der Aktion auf dem Kurfürstendamm gewußt habe, so sei das staatsanwaltschaftliche Lyrik, aber keine Beweisführung. Die Vorfälle auf dem Kurfürstendamm bezeichnete der Verteidiger als erschütternd und tief bedauerlich, und er verwahrte sich dagegen, daß die Angeklagten mit diesen Vorfällen in Verbindung gebracht würden. Der Ver8 Hans Frank vertrat auch Hitler in einigen Prozessen; siehe Seite 360.

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Auf der Anklagebank von rechts nach links: Wolf-Heinrich Graf von Helldorf, Karl Ernst, Kurt Schulz und Wilhelm Brandt; im Vordergrund der Verteidiger Roland Freisler; 1931.

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such, dies zu tun, sei eine Stimmungsmache der Staatsanwaltschaft. Die Anklage sei zusammengebrochen und die Angeklagten müßten wegen erwiesener Unschuld freigesprochen werden. Sie hätten auf dem Kurfürstendamm nichts anderes gewollt, als – die dort tätige Schupo zu unterstützen. Staatsanwalt Stenig verwahrte sich nachdrücklich gegen den Vorwurf der Stimmungsmache durch Rechtsanwalt Frank. Wenn der Verteidiger das Verhalten der Staatsanwaltschaft als ungewöhnlich und ungebührlich bezeichnet habe, so sei das für die Staatsanwaltschaft beleidigend. Rechtsanwalt Frank erklärte, es habe ihm ferngelegen, die Vertreter der Staatsanwaltschaft beleidigen zu wollen. Während das Plaidoyer des Rechtsanwalts Frank rednerisch auf hohem Niveau stand und sich auch in der Form der Würde des Ortes anpaßte, war das nun folgende Plaidoyer seines Kollegen Freisler9 eine nationalsozialistische Volksrede niedrigsten Ranges. Er apostrophierte das Gericht: »Deutsches und deshalb hohes Gericht!« und führte aus, daß die Vorgänge am Kurfürstendamm, »mögen sie auch im einzelnen nicht richtig sein,« gar nichts bedeuteten gegen die Morde an S. A.-Leuten, wegen derer die Staatsanwaltschaft niemals einen so großen Prozeß aufziehe wie im Fall Helldorf. Es sei schon gerechtfertigt, wenn der eine oder andere Semit am Kurfürstendamm eine Ohrfeige bekommen habe, und man müsse es verstehen, wenn ein deutscher Arbeiter den Satten am Kurfürstendamm mit der Faust entgegentritt, um ihnen zu zeigen, daß es noch Hunger in Deutschland gibt. Zum Schluß hatte Rechtsanwalt Freisler den Mut, seine von der preußischen Regierung bereits zurückgewiesene Behauptung wieder aufzunehmen, daß die Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm der Polizei nicht unwillkommen gewesen seien. Auch er plädierte natürlich auf Freisprechung. Replik des Staatsanwalts Staatsanwaltschaftsrat Stenig trat diesen Behauptungen sofort entgegen. Der Verteidiger habe ausgeführt, die S. A. seien die diszipliniertesten Organisationen in deutschen Gauen. Demgegenüber müsse die Staatsanwaltschaft 9 Roland Freisler (30.10.1893–3.2.1945), Jurist. Seit 1925 in der NSDAP, 1932 MdR, 1934 Staatssekretär im Reichsjustizministerium, zuständig für den Volksgerichtshof. Bei einem Bombenangriff im Keller des Volksgerichtshofs gestorben.

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feststellen, daß diese Behauptung mindestens für die Zeit vor dem 12. September bestimmt nicht zutraf. Graf Helldorf habe das gewußt. Er habe die schwere Aufgabe gehabt, die außerordentlich unruhige Berliner S. A. in Ordnung zu bringen. In diesem Schwurgerichtssaal in Moabit wisse man, daß schon zahlreiche Angehörige der S. A. wegen Gewalttätigkeiten verurteilt werden mußten. Graf Helldorf habe wissen müssen, welche Gefahr darin lag, wenn die Nationalsozialisten sich auf den Kurfürstendamm begeben und daß es in der Natur der Sache lag, daß Gewalttätigkeiten zu erwarten wären. In jeder großen Organisation müsse damit gerechnet werden, daß die von der Führung erlassenen Verbote, auch die Waffenverbote, übertreten würden. In seiner Erwiderung konnte Rechtsanwalt Freisler, ohne daß es vom Vorsitzenden gerügt wurde, erklären, die »erwachenden deutschen Arbeiter« werden sich die Beleidigung durch den Staatsanwalt, die darin liege, sie überträten das Waffenverbot ihrer Führer, merken. Sie würden dem Staatsanwalt die Beleidigung nicht vergessen. Der Vorsitzende erteilte als dann den Angeklagten das Schlußwort. Der Angeklagte Jungstahlhelmführer Brandt forderte seine Freisprechung wegen erwiesener Unschuld, da er an den Vorgängen auf dem Kurfürstendamm sich nicht beteiligt habe. Graf Helldorf hielt eine längere Schlußrede. Er habe sich auf den Kurfürstendamm begeben, weil er als Führer zu seinen Leuten gehöre. Er sei überzeugt, daß sein Erscheinen die Leute vor Unbesonnenheiten bewahrt habe. Eine ähnliche Erklärung gab der Angeklagte Stabsleiter Ernst ab, während die übrigen Angeklagten sich den Ausführungen ihrer Verteidiger anschlossen.10 7.11.1931

10 Ungezeichnet; als Bericht Goldsteins durch den Eintrag vom 6.11.1931 im Journal belegt.

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Zauberlehrling vom Kurfürstendamm Die Urteilsbegründung im Helldorf-Prozeß

»Politische Motive scheiden für das Gericht selbstverständlich aus.« So heißt es in der Urteilsbegründung. Dieser Satz kann nicht gelten für den Betrachter, der sich vielmehr grade durch den politischen Sinn der Vorgänge am Kurfürstendamm, ihre Ursachen und ihre Folgen bewegt fühlt. Wenn er aber fordern darf, daß die schweren Ausschreitungen schwere und abschreckende Sühne finden, so muß er sich davor hüten zu fordern, daß die Angeklagten schuldig gesprochen werden, nur weil man sie hat, solange nicht bewiesen ist, daß diejenigen, die man hat, wirklich die Schuldigen sind. Keinem von den acht Angeklagten ist nachgewiesen oder auch nur vorgeworfen worden, sie hätten selbst Gewalttätigkeiten oder Zerstörungen begangen. Zunächst stand nichts weiter fest, als daß sie zur Zeit der Tumulte am Kurfürstendamm gewesen sind. Bei dreien hat das Gericht es nicht für erwiesen gehalten, daß sie aus anderen als aus zufälligen Gründen sich dorthin begeben haben. Sie haben zwar in der Nationalsozialistischen Partei den Rang von Führern; es sind trotzdem kleine Leute, ihrer Funktion und ihrem Format nach. Bei den fünf Verurteilten wiederum hat das Gericht die Teilnahme an den Tumulten im Sinne des Strafgesetzes für festgestellt erachtet. Das ergibt das Vergehen des einfachen Landfriedensbruches, sofern nicht Rädelsführerschaft vorliegt. Nach der Ueberzeugung des Gerichtes ist sie bei keinem der fünf Verurteilten nachgewiesen worden. Das bedeutet wenig für die Unterführer Schulz und Damerow, um so mehr für die nationalsozialistischen Führer Graf Helldorf und Ernst und den Stahlhelmführer Brandt. Vielleicht darf man auch diese beiden beiseite lassen, von denen der »Stabsleiter« Ernst eine aufgeblasene Unbedeutendheit darstellt und der Stahlhelmer Brandt mit seinem unentwegten koketten Lächeln an ein gefallsüchtiges Mädchen erinnert. Von Wichtigkeit ist die Frage: Plan oder nicht Plan? im Grunde nur bei dem obersten Führer der Groß-Berliner Sturmabteilungen, dem Grafen Helldorf.

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Das Gericht hat ihm, da zwingende Beweise nicht erbracht werden konnten, geglaubt, was er, entgegen dem dringenden Verdacht, behauptet: daß der Tumult von ihm nicht geplant und also auch nicht befohlen worden sei. Und am Ende muß man es ihm glauben. Er scheint ja immerhin zu den maßgebenden Männern der Partei zu gehören. Und wenn man der Leitung auch nur eine Spur von Vernunft und Besonnenheit zubilligen will, so kann sie den Exzeß vom 12. September nicht gewollt haben, der ihr nur Abbruch des Ansehens und ihren Anhängern Schwierigkeiten und Strafen eintragen konnte. Damit aber ist die Leitung, und also auch Graf Helldorf, in keiner Weise entlastet. Denn wenn sie die Exzesse selbst nicht gewollt und nicht befohlen haben: durften sie erwarten, daß etwas anderes eintreten würde, als was schließlich eingetreten ist? Wer seinen Anhängern den Spruch einhämmert »Juda verrecke!« oder, nachdem der Spruch selbst neuerdings offiziell abgelehnt wird, wenigstens die Gesinnung dieses Spruches, der darf sich nicht wundern, daß die gelehrigen Schüler eines Tages sich mit dem bloßen Geschrei nicht mehr begnügen und zur Tat übergehen. Die Leitung hat es nicht gewollt? Immerhin trugen diejenigen Mitglieder der Leitung, die hier auf der Anklagebank saßen, ein empörendes Maß von Heiterkeit zur Schau, als die Geschlagenen und Mißhandelten ihre Zeugenaussagen machten. Einige Verteidiger, zu ihrer Schande sei es berichtet, hielten es für richtig, an dieser Heiterkeit sich zu beteiligen. Und aus dem Munde des Grafen Helldorf selbst vernahm das Gericht, daß er die Vorfälle für nichts Besonderes halte; schließlich seien nur ein paar Juden verprügelt worden. Wenn man ihnen trotzdem glauben will, daß es von ihm nicht gewollt war; verhindern haben sie es erst recht nicht können. Der Münchener Rechtsanwalt Frank, eine der Stützen der Partei, verkündete mit Stolz, die Nationalsozialisten seien in der Lage, einen Sturm zu entfesseln, der über ganz Deutschland brausen werde. Aber ihre Anhänger an das Gesetz der Ordnung zu binden, ihnen Achtung vor dem Recht des Nebenmenschen einzuflößen, ja, auch nur ihnen das einfachste Verständnis für die geistigen Zusammenhänge und die staatlichen Notwendigkeiten beizubringen, dazu sind die Nationalsozialisten offenbar nicht in der Lage. Die Leitung hat es nicht gewollt, und es ist doch geschehen: welch eine Blamage für die titelstrotzende, uniformselige, soldatenspielende Partei-Organisation! Ein aus Kassel herbeigeeilter Partei-Anwalt, der mit seiner Aufgeregtheit auch den Mitverteidigern auf die Nerven ging, konnte sich nicht genug tun in bramarbasierenden Ankündigungen der bevorstehenden Macht-

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übernahme. Er durfte das tun unter Ausfällen gegen die Regierung und Beleidigungen von Amtspersonen, ohne vom Vorsitzenden in die Schranken gewiesen zu werden. Wenn man so freundlich sein will, ihm die bevorstehende Uebernahme der Macht durch die Nationalsozialisten zu glauben: durch den Tumult am Kurfürstendamm und durch den Prozeß hat man wieder einmal einen Vorgeschmack bekommen, was für Menschen und was für Gesinnungen alsdann an die Macht kommen würden. Inquit 8.11.1931

Zum drittenmal: Kurfürstendamm-Prozeß

41 Angeklagte

Eigentlich zum vierten Male, wenn man die Sitzung des Schöffengerichts Charlottenburg mitrechnet, die abgebrochen werden mußte, weil die Angeklagten und ihre Verteidiger den Vorsitzenden und einen Schöffen ablehnten. Von den Landfriedensbrechern des 12. September wurden 34 Teilnehmer, Mitläufer und Geführte, vor das Schnellschöffengericht gestellt, davon 27 verurteilt, 6 freigesprochen, einer zur nächsten Gruppe verwiesen. Die zweite Gruppe, die Führer, stand vor dem ordentlichen Schöffengericht, acht Personen, von denen fünf verurteilt, drei freigesprochen wurden. Die Verurteilten legten Berufung ein, aber auch die Staatsanwaltschaft, so daß alle, auch die Freigesprochenen, sich noch einmal verantworten müssen. Hinter ihren Verteidigern Voß, Frank II, Triebel, Sack, Everling und Bloch, als Anwälte der Nationalsozialisten aus vielen Prozessen bekannt, reihen sich 41 Angeklagte. Davon werden 25 aus der Haft vorgeführt, sie sind sämtlich im ersten Prozeß verurteilt worden. Zwei von den damals Verurteilten, nämlich Helldorfs Schofför Kühn und den Mitfahrer Gewehr, hat das Gericht später aus der Haft entlassen. Auf freiem Fuße befinden sich ferner alle Verurteilten des zweiten Prozesses, dazu die Freigesprochenen. Das Gericht ist die Dritte Strafkammer des Landgerichts III. Es tagt

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im Schwurgerichtssaal. Den Vorsitz führt Landgerichtsdirektor Ohnesorge, die Anklage wird vertreten durch die Staatsanwaltschaftsräte Dr. Stenig und Dr. Herf. Und also kann es losgehen. Es geht los nach der Prozeßordnung mit der Verlesung der beiden ersten Urteile, zusammen etwa 200 Schreibmaschinenseiten. Das dauert Stunden, und inzwischen dürfen wir uns besinnen, worauf es in dieser neuen Verhandlung ankommt. Ein paar Unebenheiten müssen beseitigt werden. Es geht nicht an, daß die Angeklagten Helldorf und Ernst, die Mieter und Insassen des Autos, mit sechs Monaten Gefängnis davonkommen, während der Angeklagte Kühn, der den Wagen steuerte und den Anweisungen seiner Fahrgäste folgen mußte, mit einem Jahr sechs Monaten Gefängnis und der Angeklagte Gewehr, der nur mitgenommen wurde, mit einem Jahr drei Monaten Gefängnis bestraft wird. Das ist auszugleichen, und das läßt sich leicht ausgleichen. Aber leicht wird es sich dieses Gericht nicht machen, es wird vielmehr ganz besondere und höchst gewissenhafte Mühe aufwenden. Auf vier Wochen ist der Prozeß vorläufig angesetzt. Wie man den Vorsitzenden kennt, wird er damit nicht auskommen. Kennt man denn den Vorsitzenden? Man kennt ihn mindestens aus dem letzten Jorns-Prozeß. Damals gelang dem Landgerichtsdirektor Ohnesorge, was den Vorderrichtern nicht gelungen war: nämlich von dem Reichsanwalt Jorns, dem vorgeworfen wurde, den Mördern Karl Liebknechts und der Frau Rosa Luxemburg Vorschub geleistet zu haben, die moralische Verurteilung abzuwenden. Reichsanwalt Jorns kehrte daraufhin auf seinen Posten zurück. Und er verwaltet ihn ja heute noch. Zu diesem Ergebnis war Landgerichtsdirektor Ohnesorge gelangt, indem er in einer Verhandlung von zwei Monaten mit unendlicher Geduld festzustellen suchte, was sich beweisen ließ und was sich nicht beweisen ließ; ein Verfahren, das in manchem Kriminalprozeß nicht angewendet worden ist, wo es unbedingt hätte angewandt werden müssen. Wenn Landgerichtsdirektor Ohnesorge gegenüber den Landfriedensbrechern vom Kurfürstendamm ebenso verfährt, so könnte es ihm gelingen, festzustellen, daß den Führern nicht die Führung und den Geführten nicht die Teilnahme zu beweisen ist. Man kennt die Schwierigkeit der Landfriedensbruchprozesse. Man weiß, daß man unter Anklage nur diejenigen stellen kann, die man hat. Und daß man nur diejenigen hat, die zufällig aus der Menge gegriffen worden

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sind. Man hat in vielen derartigen Prozessen erlebt, wie über den Fragen, ob dieser dies und jener jenes nachweislich getan und gesagt hat, die Hauptsache, nämlich daß der Friede des Landes gebrochen worden ist, vergessen zu werden pflegt. Wenn je, erwartet die Oeffentlichkeit in diesem Falle mehr als bloß die gewissenhafte Feststellung von Tatbeständen. Sie erwartet, daß die Vorgänge vom 12. September gebrandmarkt werden, und daß die Führer der Partei die Verantwortung für die Taten der Parteigänger zu tragen bekommen. Darum handelt es sich in dem neuen Kurfürstendamm-Prozeß. Die Oeffentlichkeit ist nicht frei von der Sorge, über einer allzu gründlichen Beweisaufnahme könnte diese Aufgabe versäumt werden. Inquit 17.12.1931

Politisches Theater vor Gericht

Zwischenfälle im Kurfürstendamm-Prozeß

Im dritten Kurfürstendamm-Prozeß, der sich programmgemäß in die Länge zieht, sollte heute der Reichstagsabgeordnete Dr. Goebbels als Zeuge vernommen werden. Diese Gelegenheit haben die prozeßbeteiligten Nationalsozialisten, Dr. Goebbels, die Angeklagten und die Verteidiger, zu einem Theater benutzt, dessen Effekthascherei nicht grade von Sicherheit des Machtgefühls zeugt. Daß aber diese Schauspielerei von seiten des Gerichts nicht verhindert worden ist, muß jeden, der die Staatsautorität aufrechterhalten wissen will, mit Beschämung erfüllen. Die Prozeßlage: Ein Kriminalkommissar hat ausgesagt, es sei der Polizei von einer Vertrauensperson glaubwürdig mitgeteilt worden, über die Exzesse am Kurfürstendamm habe vorher eine Verständigung zwischen Dr.  Goebbels und dem Grafen Helldorf stattgefunden. Diesen Vertrauensmann zu nennen, weigert sich die Polizei. Dem Gericht bietet sich also nur ein Weg, die Wahrheit über diesen Punkt zu ermitteln: es muß den

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Dr. Goebbels als Zeugen vernehmen und unter seinem Eid fragen, ob er an einer solchen Besprechung teilgenommen hat. Die Vernehmung des Zeugen Goebbels, sollte man meinen, muß sich rasch und reibungslos abwickeln lassen. Er könnte die behauptete Vorbesprechung zugeben, er könnte sie ableugnen, und da es unter seinem Eide geschehen wird, so müßte das Gericht seine Schlüsse daraus ziehen. Er könnte endlich die Aussage verweigern. In seiner Eigenschaft als Reichstagsabgeordneter wäre ein Zeugniszwangsverfahren gegen ihn nicht zulässig; die Vernehmung hätte damit also ihr Ende gefunden – aber auch daraus könnte das Gericht seine Schlüsse ziehen. Der unvollendete Satz Statt dessen begibt sich folgendes: Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Ohnesorge, setzt die Beweisaufnahme mit der Ankündigung fort, er komme jetzt zur Vernehmung des Zeugen Dr. Goebbels. »Bevor ich den Zeugen in den Saal hineinlasse…« Es ist klar, wie der Satz beendet werden wird: er will den Angeklagten und den Zuhörern verbieten, ihn mit irgendeiner Art von Demonstration zu empfangen. Aber der Satz wird nicht zu Ende gesprochen. Rechtsanwalt Dr. Sack erhebt sich und bittet für einige der Angeklagten um die Erlaubnis, austreten zu dürfen. Der Vorsitzende, der die Absicht offenbar nicht durchschaut, unterbricht die Sitzung auf fünf Minuten. Sämtliche Angeklagte strömen auf den Flur und begrüßen dort ihren Führer mit derjenigen Demonstration, die ihnen im Saal verboten worden war. Aber das genügt den Nationalsozialisten noch nicht. Sie arrangieren eine neue Kinderei, um dem Vorsitzenden ein Schnippchen zu schlagen; so wie sie und wir alle es in unserer Lausbubenzeit uns gelegentlich mit einem Lehrer erlaubt haben. Die Pause ist zu Ende, alle Angeklagten, alle Verteidiger, alle Zuhörer auf ihren Plätzen, nur das Gericht fehlt noch. In diesem Augenblick betritt Dr. Goebbels den Saal – die Angeklagten springen auf und begrüßen ihn, genau entgegen dem Verbot des Vorsitzenden. Kaum hat Goebbels die Ovation entgegengenommen, so verläßt er den Saal wieder. Es stellt sich gleich danach heraus, daß der Vorsitzende mit einer neuen Anordnung es so einzurichten gedacht hatte, daß das Gericht bei dem Wiedererscheinen den Zeugen Goebbels im Saal schon vorfände; und es ist der Kasseler Anwalt, der sich dazu bekennt, er habe ihn wieder hinaus-

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geschickt. Denn es ist noch auf ein besonderes Amüsement abgesehen. Der Vorsitzende soll jetzt ausdrücklich die Demonstration verbieten, die doch vor aller Augen, außer vor denen des Gerichts, soeben stattgefunden hat. Der Verteidiger aus Kassel hält sich denn auch nicht für zu erwachsen, um den Vorsitzenden ausdrücklich zu ermuntern, er möge doch den abgebrochenen Satz jetzt zu Ende sprechen. Und der Vorsitzende, der nicht wissen kann, was sich eben abgespielt hatte, und der das Manöver daher wieder nicht durchschaut, tut ihm den Gefallen, verbietet die Demonstration, die denn auch bei dem neuen Eintritt von Dr. Goebbels unterbleibt, während alle Eingeweihten sich ins Fäustchen lachen. Dr. Goebbels, über den Eid belehrt und zur Sache befragt, hebt sogleich an, mit der Stimmstärke und dem Pathos, die in die Volksversammlung gehören, zu protestieren. »Ich nenne den sogenannten Vertrauensmann der Polizei einen Spitzel und feigen Denunzianten. Die Lage, in die ich dadurch geraten bin, erkläre ich für unerträglich. (Mit erhobener Stimme:) Ich habe keine Lust, diese Intrigen zu unterstützen. Ich verlange, daß der Denunziant mir gegenübergestellt wird. Sonst verweigere ich die Aussage.« Goebbels verweigert die Aussage Der Vorsitzende macht höflichst darauf aufmerksam, daß ihm das Recht zur Aussageverweigerung nur dann zustehe, wenn er sich selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müßte. Goebbels erklärt dröhnend, er handle so, weil er sich einem »Akt der öffentlichen Unsauberkeit« gegenüber sehe. Den Hinweis auf die Bestimmungen der Strafprozeßordnung beantwortet er wiederum dröhnend mit der Erklärung, er für seine Person setze sich über die Strafprozeßordnung hinweg. Was für ihn, wie Rechtsanwalt Sack richtig anmerkt, nicht weiter gefährlich ist, da ihn seine Immunität gegen Zwangsmaßnahmen schützt. Ein Beisitzer hat die Geistesgegenwart, den Zeugen darauf aufmerksam zu machen, daß die Antwort unter Umständen für den Grafen Helldorf und die übrigen Angeklagten entlastend, die Verweigerung der Aussage aber belastend wirken könnte. Dies ist das Signal zu neuem Theater. Durch den Mund des Anwalts aus Kassel lassen »sämtliche Angeklagte« erklären, sie bäten ihren Führer Goebbels, nicht deswegen von seiner prinzipiellen Einstellung abzuweichen, weil es für sie selbst nachteilig sein könnte. Unter Ermahnungen des Vorsitzenden, die Ruhe zu bewahren, unter

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Protesten des Staatsanwalts gegen immer neue Beschimpfungen des Polizeipräsidiums, unter störenden Versuchen des aufgeregten Verteidigers aus Kassel, in dem allgemeinen Wirrwarr auch mitzureden, bleibt Dr. Goebbels bei seiner Weigerung. Sie wird zu Protokoll genommen mit demagogischen Zusätzen wie »im Interesse der Findung der Wahrheit und zum Schutze der öffentlichen Sicherheit«. Schließlich versagt auch noch der Protokollführer, der sich als unfähig erweist, die langsam und deutlich diktierten Sätze schriftlich festzuhalten. Ein Richter muß sich erst zur Verfügung stellen, und den Wortlaut noch einmal aufnehmen. Der Staatsanwalt erklärt, daß er sich Anträge vorbehalte, und dann wird der »Zeuge« Goebbels »für heute beurlaubt«. Die mitgebrachten Begleiter, die Angeklagten und die Zuhörer drängen hinter ihm her aus dem Saal. Zieht man alles unerfreuliche Drum und Dran ab, so bleibt übrig, daß der Abgeordnete Dr. Goebbels auf eine einfache Frage, die mit »Ja« oder »Nein« hätte beantwortet werden können, weder Ja noch Nein geantwortet, sondern die Aussage verweigert hat.11 Hoffentlich wird das Gericht, ohne sich um die klingenden Phrasen zu kümmern, seine Schlüsse daraus ziehen. Inquit 23.1.1932

11 Joseph Goebbels hatte einen triftigen Grund, vor Gericht nicht auszusagen, denn er hatte gleich nach der Verhaftung Helldorfs beim Reichskanzler Heinrich Brüning für seinen Freund interveniert. Goebbels versprach, beim Berlin-Besuch der französischen Minister Aristide Briand und Pierre Laval am 27.9.1931 bei seinen SA-Leuten für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Daraufhin wurde der Prozess vertagt, Helldorf bekam neue Richter und wurde freigesprochen.

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Graf Helldorf freigesprochen

Das Urteil im Kurfürstendamm-Prozeß Im Kurfürstendamm-Prozeß verkündete die Große Strafkammer des Landgerichts III nach zweitägiger Beratung folgendes Urteil: Graf Helldorf und sein mitangeklagter »Stabsleiter« Ernst werden von der Anklage des Landfriedensbruchs freigesprochen und lediglich wegen öffentlicher Beleidigung der Kaufleute Deterding und Simons zu je hundert Mark Geldstrafe, ersatzweise zehn Tage Gefängnis, verurteilt. – Der Jungstahlhelmführer Brandt wird wegen einfachen Landfriedensbruchs zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Außerdem wird auf Einziehung seines Kraftwagens erkannt. Gegen die Angeklagten Mede und Schubert wird wegen schweren Landfriedensbruchs auf zehn Monate Gefängnis beziehungsweise wegen einfachen Landfriedensbruchs auf sechs Monate Gefängnis erkannt. Weitere 22 Angeklagte werden unter Aufhebung des Urteils erster Instanz freigesprochen, darunter die beiden Mitinsassen des Helldorfschen Wagens, Kühn und Gewehr, und der Sturmbannführer Schulz. Die übrigen siebzehn Angeklagten wurden wegen einfachen Landfriedensbruchs zu je sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Getarnte Zusammenrottung Zur Begründung des Urteils der Großen Strafkammer, durch welche das Urteil der Vordergerichte aufgehoben, der Hauptangeklagte freigesprochen und bei den verurteilten Angeklagten die Strafen zum Teil wesentlich herabgesetzt wurden, führte Landgerichtsdirektor Ohnesorge, nachdem er zunächst auf Grund der Beweisaufnahme einen Rückblick über die Geschehnisse am Kurfürstendamm gegeben hatte, folgendes aus: Es bestehe kein Zweifel, daß die Menschenmenge, die sich auf dem Kurfürstendamm zusammengerottet hatte, eine Zusammenrottung im Sinne

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des Strafgesetzes darstellte und eine schwere Gefahr für den öffentlichen Frieden bildete. Die Gefahr war um so größer, als die zusammengerottete Menge eine »getarnte« Zusammenrottung war, da sie durchsetzt war von zahlreichen indifferenten Passanten. Die Zusammenrottung habe einen vorwiegend feindlichen Charakter getragen. Das ergebe sich daraus, daß man überhaupt den Kurfürstendamm gewählt habe, wo zahlreiche jüdische Mitbürger wohnen und ihre Geschäfte unterhalten. Es wurden aus der Menschenmenge schwere Bedrohungen ausgestoßen, und besonders spreche für den feindseligen Charakter der Aktion, daß man den jüdischen Neujahrstag dazu gewählt habe. Nach dem Gesetz genüge es zur Bestrafung wegen Landfriedensbruchs, daß man sich der zusammengerotteten Menschenmenge anschließt im Bewußtsein, daß aus ihr heraus Gewalttaten begangen werden könnten. Soweit das Gericht zur Freisprechung von Angeklagten kam, sei es der Ansicht gewesen, daß der Nachweis der Teilnahme in tatsächlicher Hinsicht nicht erbracht sei. Unter den freigesprochenen Angeklagten müsse die Gruppe des Grafen Helldorf, die im Kraftwagen auf dem Kurfürstendamm auf und ab fuhr, einer besonderen Betrachtung unterzogen werden. Eine ganze Reihe von Tatsachen könnte dafür sprechen, daß Graf Helldorf sich sogar der Rädelsführerschaft schuldig gemacht habe. Es sei durchaus möglich, daß er von der Aktion der S. A. gewußt habe. Dagegen hätte aber eine Reihe von Momenten gesprochen, die dem Gericht so schwerwiegend erschienen, daß es zur Freisprechung gelangte. Helldorf sei außerordentlich spät auf dem Kurfürstendamm erschienen und dann vor den Augen der Polizei und durch seine Kleidung weithin als »Osaf«12 kenntlich gemacht, in seinem Wagen umhergefahren. Dies vor allem spreche dagegen, daß er eine wohlvorbereitete Aktion habe leiten wollen. Aber auch der persönliche Eindruck, den das Gericht von Helldorf empfangen habe, spreche dafür, daß er für eine strafbare Handlungsweise auch einstehen würde. Graf Helldorf sei von den Ereignissen auf dem Kurfürstendamm selbst überrascht worden und habe die Absicht gehabt, die demonstrierenden S. A.-Leute herauszuholen und den Rechtszustand auf dem Kurfürstendamm wieder herzustellen. Sein Verhalten erfülle durchaus den objektiven Tatbestand des Landfriedensbruchs, aber in subjektiver Beziehung sei ihm nicht nachzuweisen, daß er 12 »Osaf« ist die Abkürzung für »Oberster SA-Führer«.

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das Bewußtsein und die Vorstellung hatte, durch sein Hinzukommen die Gefahr zu erhöhen. Sehr rohe Gewalttaten Wenn man aber auch annehmen könnte, Helldorf habe die Vorstellung gehabt, er vergrößere die Gefahr der Zusammenrottung durch sein Hinzukommen, so könne er nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts immer noch nicht wegen Landfriedensbruchs verurteilt werden, denn die Absicht, dem Landfriedensbruch ein Ende zu bereiten, schließe den Vorsatz, am Landfriedensbruch teilzunehmen, aus. Daher sei bezüglich des Angeklagten Helldorf und der mit ihm im Auto befindlichen Angeklagten Ernst, Gewehr und Kühn das Urteil des Vorderrichters aufzuheben und auf Freispruch zu erkennen gewesen. Anders bei dem Angeklagten Brandt, der nach seiner eigenen Aussage in der Menschenmenge verharrte, grade um Zeuge der Gewalttätigkeiten zu sein. Zum Strafmaß sei im allgemeinen zu sagen, daß mit Rücksicht darauf, daß in letzter Zeit die öffentliche Ruhe und Ordnung häufig mißachtet und gestört worden sei, der Richterspruch auf die Beseitigung einer ernsten Gefahr und die Wahrung der allgemeinen Achtung vor Gesetz und Staatsgewalt hinzielen müsse. Bei der Straffestsetzung sei zu berücksichtigen gewesen, daß bei den Krawallen sehr rohe Gewalttaten begangen wurden. Selbst wenn die Angeklagten derartige Roheiten nicht gebilligt hätten, so seien sie doch auf den Kurfürstendamm gegangen in dem Bewußtsein, daß es dort möglicherweise zu Gewalttätigkeiten gegen friedliche Bürger kommen könnte. Wenn sie diese friedlichen Bürger, die im Begriff waren, ein religiöses Fest zu feiern, anrempelten und mißhandelten, so zeige das ein erhebliches Maß von mangelndem Taktgefühl. Zu berücksichtigen sei zugunsten der Angeklagten gewesen, daß sie durchweg ganz junge Leute seien, und psychologisch müsse bedacht werden, daß die Jugend in der Zeit schlimmster Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Not es wesentlich schlechter habe als die Erwachsenen. Deshalb habe das Gericht durchweg eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis für ausreichend und angemessen gehalten. Gegen das Urteil wird die Staatsanwaltschaft in vollem Umfang Revision einlegen.

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Führer ohne Verantwortung »Wenn je, so erwartet die Oeffentlichkeit in diesem Falle mehr als bloß die gewissenhafte Feststellung von Tatbeständen. Sie erwartet, daß die Vorgänge vom 12. September gebrandmarkt werden und daß die Führer der Partei die Verantwortung für die Taten der Parteigänger zu tragen bekommen.« So war an dieser Stelle gefordert worden, als das Gericht zum drittenmal zusammentrat, um die Ueberfälle am Kurfürstendamm abzuurteilen.13 Der erste Teil der Forderung darf als erfüllt gelten. Das Gericht hat sich durch die ebenso törichten wie feigen Ausreden der Angeklagten, sie hätten sich nur zufällig oder aus harmlosem Anlaß an jenem Abend rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zusammengefunden, nicht täuschen lassen. Es hält für erwiesen, daß Angehörige der Berliner »Stürme« in Scharen sich dorthin begeben haben, um den jüdischen Mitbürgern an ihrem religiösen Feiertag »zu zeigen, daß sie da sind«. Die Urteilsbegründung stellt fest, daß die Teilnehmer der Zusammenrottung entweder Gewalttätigkeiten geplant oder mindestens mit Gewalttätigkeiten gerechnet haben. Sie nennt die Vorgänge vom 12. September unzweideutig einen Bruch des Landfriedens und macht in Uebereinstimmung mit dem Gesetz die Strafbarkeit davon abhängig, ob die Teilnahme an der Zusammenrottung nachgewiesen werden kann. Bei der Strafzumessung wird versucht, zwischen den hohen Strafen des ersten Urteils und den weit geringeren Strafen des zweiten Urteils, beide erster Instanz, einen Ausgleich herzustellen. Die Jugend und die Unbescholtenheit der meisten Angeklagten ist dabei berücksichtigt worden. Wer verurteilt und wer freigesprochen worden ist, das hat mit der Einstellung des Gerichts nichts mehr zu tun, sondern hängt davon ab, in welchen Fällen der Beweis der Täterschaft als geführt angesehen worden ist. Ueber die bloße Teilnahme hinaus dem einzelnen Gewalttätigkeiten nachzuweisen, wird immer schwer fallen gegenüber Beschuldigten, die aus einer Volksmenge mehr oder minder wahllos herausgegriffen werden mußten. Nur bei einem einzigen hat das Gericht für erwiesen angesehen, daß er einer derjenigen gewesen ist, die zugeschlagen haben. Nicht erfüllt ist die Forderung, daß die Führer die Verantwortung zu tragen bekommen. Wenn auch vielleicht dem Grafen Helldorf entsprechend 13 Siehe oben Seite 501.

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der Annahme des Gerichts die vorherige Kenntnis des Krawall-Plans nicht nachzuweisen ist: irgend jemand muß die Unternehmung geplant, vorbereitet und angeordnet haben. Es ist bekanntlich die Behauptung aufgetaucht, zwischen dem Grafen Helldorf und Goebbels habe eine Besprechung stattgefunden. Goebbels, der darüber unter Eid vernommen werden sollte, hat, wie noch in aller Erinnerung sein wird, die Aussage verweigert, statt durch ein beschworenes Nein den Verdacht zu beseitigen. Vielleicht hätte das Gericht darüber nicht einfach hinweggehen sollen. Wenn die Nationalsozialisten für sich das Recht in Anspruch nehmen, mit dem Gericht nach ihrem Belieben umzuspringen, so müßte das Gericht ihnen zeigen, daß es so mit sich nicht umspringen läßt. Schiebt man das demagogische Theater, das Dr. Goebbels aufgeführt hat, beiseite, so bleibt übrig, daß er die Behauptung, es habe eine Führerbesprechung vor den Kurfürstendamm-Krawallen stattgefunden, nicht widerlegt hat. Das Gericht wäre in der Lage gewesen, bei der Beurteilung der Schuld des Grafen Helldorf die Folgerungen daraus zu ziehen. Inquit 10.2.1932

Personenregister A Agoli-agbo (König von Dahomey) 54 Albers, Hans 197 Alsberg, Max 352, 407, 416, 418–420, 422 Alsdorf, Karl 383 Ammerlahn, Gotthart 345–346 Apfel, Alfred 407, 409, 432 Attila (König der Hunnen) 305 Auguste Victoria 65 B Bach (Wirt) 415, 417 Bast (Makler) 369 Becker (Rechtsanwalt) 361 Becker, Rudolf 354–356, 358 Benjamin, Hilde 432 Benz (Zimmermann) 417, 421–422 Berndorff, Emil (Kriminalkommissar) 418–419, 421, 426 Bernhard, Georg 18 Bismarck, Otto von 52, 61 Blech, Leo 107 Bloch (Rechtsanwalt) 499 Bodelschwingh, Friedrich von 239–240 Böß, Anna 458 Böß, Gustav 457–458, 462 Boewe (Wirt) 318 Boni, Carmen 112 Bornstein, Josef 307, 341, 347–353 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf von 134

Brandt, Wilhelm 494, 496–497, 505, 507 Braun, Otto 336 Brecht, Bertolt 207, 209–210 Brennhausen (Vorsitzender Richter) 30, 477, 484, 486, 489–491, 496, 499, 507 Bressel, Kurt 356, 358 Briand, Aristide 504 Brolat, Fritz 465–466, 473–475 Brüning, Heinrich 504 Bucovich, Mario von 519 Bues (Amtsgerichtsrat) 360–361 Burczek (Landgerichtsdirektor) 482 C Caruso, Enrico 143 Castan, Gustave 49 Castan, Louis 49 Charell, Erik (eig.: Löwenberg, Erich Karl) 197–198 Chimalla (Mitglied Immertreu) 428 Clewing, Carl 112 D Damerow, Helmut 497 Davidsohn, Leo 329 Degner (Ehefrau von Gustav Degner) 455–456 Degner, Gustav 455–456, 469 Demmler, Theodor 67 Deterding (Kaufmann) 505

512 Dieterle, Wilhelm (William) 112 Dietrich, Marlene 197, 213–214 Digmann (Schloßoberinspektor) 68 Döblin, Alfred 397 Dömpke, Kurt (Angeklagter 1931) 384–386 Dönhoff, Sophie Gräfin von 134 Drake, Johann Friedrich 62 Dransmann, Hansheinrich 111 Drewnitzki, Viktor 436 Dubbe (Polizist) 328 Dumei (Polizist) 328 Durieux, Tilla 92 E Ebermayer, Ludwig 353 Ebert, Friedrich 41–42, 77–78 Ehrhardt, Hermann 330 Emminger, Erich 331 Eosander von Göthe, Johann Friedrich 67 Ernst, Karl 477, 479–480, 482–497, 500, 505, 507 Everling, Friedrich 499 F Fahrenhorst, Karl 302–305 Falke, Otto von 67 Faulhaber, Michael von 303–304 Fay (Samoanerin) 55 Feblowicz, Samuel 420–422 Finkelnburg, Karl Maria 380 Frank, Hans 360–361, 480, 493, 495, 498–499 Franke (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 423 Freisler, Roland 480, 494–496, 498, 502–503 Frey, Erich 416, 418–420, 422 Friedmann (Landgerichtsdirektor) 482 Friedrich II. 67 Friedrich III. 52, 61, 65 Friedrich Wilhelm II. 134

Personenregister Fulda, Ludwig 92 Funke (Polizist) 328 Furtwängler, Wilhelm 107 G Gäbel, Otto 453–454 Geist (Kartenlegerin) 399 Genina, Augusto 112 Gertner, Bruno (Polizeiwachtmeister) 383–384 Gewehr (Mitfahrer im Auto von Helldorf ) 499–500, 505, 507 Geyer, Albert 67–68 Goebbels, Joseph 30, 159, 336, 346, 359, 501– 504, 509 Goethe, Johann Wolfgang v. 45, 111, 201, 249 Goetz, Fritz 20 Goldstein, Berthold (jüngerer Bruder von Moritz Goldstein) 54 Goldstein, Paul (älterer Bruder von Moritz Goldstein) 49, 51 Goldstein, Sophie (Mutter von Moritz Goldstein) 49, 51–52 Goldstein, Wilhelm (Vater von Moritz Goldstein) 49, 51–52 Gounod, Charles François 152 Graf, Herbert 354, 356–358 Greiner (Kriminalkommissar) 369 Großmann, Stefan 351 Grosz, George 28–29, 33, 405–412 Grünewald, Mathias 407 Grzesinski, Albert 360 Guhl, Walter 318–320

H Haarmann, Fritz 374 Hauptmann, Gerhart 361 Hauschke, Max 354–358 Heine, Wolfgang 352 Heines, Edmund 364–367

Personenregister Helldorf, Wolf-Heinrich Graf von 30, 360, 477, 479–480, 482–488, 490, 493–498, 500–501, 503, 505–509 Henning, Wilhelm 303 Herf, Julius 500 Herzfelde, Wieland 405, 408, 411 Hessel, Franz 21 Hildebrandt, Paul 345–346 Hirschfeld, Magnus 403 Hitler, Adolf 27, 359–362, 493 Höhler, Albrecht 434–436, 439–441 Höhne (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 421, 423, 425 Hoffmann, Emil 449–450, 465, 469–470, 474 Hofmann, Heinrich von 339, 350 Hohenlohe-Öhringen, Hugo Fürst zu 63 Humperdinck, Engelbert 107 I Ibsen, Henrik 53, 76 J Jacob, Berthold 347, 351 Jacobi, Carl 111 Jacobs, Monty 20 Jambrowski, Max 440 Jänicke, Erna (Braut von Horst Wessel) 431, 433–434, 436–437, 439 Jasper (Vorsitzender Richter) 399 Jessner, Leopold 107 Jorns, Paul 305, 338–341, 347–351, 353, 500 Junkermann, Hans 112 K Kahl, Wilhelm 408, 410 Kaiser (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 421 Kaiser, Georg 74

513 Kandulski, Josef 439 Kanthak (Kriminalkommissar) 369 Karumidze, Schalwa 248 Kegel (Angeklagter 1928) 300 Keßner (Vorsitzender Richter) 448–449, 451–452, 455–457, 460, 463–465, 471–473 Kesten, Hermann 18 Kieburg, Felix 453–454, 459, 461, 469 Kippdorf (Zeuge im Immertreu-Prozess 1929) 421 Klante, Max 45 Kleiber, Erich 107 Kleier (Primaner) 334–335 Klein (Schwiegermutter von Ella Klein) 399 Klein, Ella 28, 397–403 Klein, James 74, 76 Klein, Willi (Ehemann von Ella Klein) 398–399, 401, 403 Kleist, von (Hauptmann) 448 Kleist, Heinrich von 186 Klemperer, Otto 108 Klotz, Helmut 365–367 Klutz (Angeklagter 1928) 300 Knüppel (Standartenführer) 493 Köhler (Oberstaatsanwalt) 349, 351 Kohl, Robert 451–452, 469 Kollatz, Hans 354–357 Kopp (Oberregierungsrat) 369 Kracauer, Siegfried 21 Krause, Willi (Redakteur beim »Angriff«) 367, 369 Krieger, Bogdan 67 Kuchenbäcker (Wirt) 299–300 Kühn (Kaufmann) 479, 483, 499–500, 505, 507 Kupferstein, Hermann 435, 440 Kursowsky, Franz 184–185 Kurtzig (Kriegsgerichtsrat) 350 L Landru, Henri Désiré 374 Landsberg, Otto 336–337

514 Lang, Fritz 427 Lange, Georg 461 Laß (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 423, 425 Laval, Pierre 504 Leib, Adolf 414–415, 417, 423, 425, 427–428 Lenné, Peter Josef 84 Leppmann, Friedrich( Arzt) 467–468 Lesser, Moritz Ernst 339 Levi, Paul (Verteidiger) 341, 347–348, 351, 353 Liebknecht, Karl 305, 340, 347, 349–350, 500 Lippert, Julius (Redakteur beim »Angriff«) 359, 362, 367, 369 Litfaß, Ernst Theodor Amandus 39 Litten, Hans 315–316 Löbe, Paul 77–78 Löwenberg, Erich Karl siehe Charell, Eric Löwenstein (Justizrat) 341, 349 Löwenthal, Fritz 432 Luise Auguste Wilhelmine Amalie 81 Luxemburg, Rosa 305, 307, 340, 347, 349–350, 500 M Machiavelli, Niccolò di Bernardo dei 164 Machnow, Feodor 54 Mader, Max 383 Mahler, Gustav 107 Malchin, Emil (Opfer einer Messerstecherei) 415, 417, 426 Maltitz, von (Hauptmann, Innsbruck) 355 Mankiewitz (Polizist) 328 Markwardt, Erich 343 Masur (Vorsitzender Richter) 365 Matthey, Thea 421 Maximilian von Baden 78 Mede (Angeklagter im 3. KurfürstendammProzess) 505 Meier, Edgar (Angeklagter 1931) 384–386 Menz (Verteidiger von Weber) 248 Menzel, Adolph von 52

Personenregister Möhring (Rechtsanwalt) 488 Molière (eigentl. Jean-Baptiste Poquelin) 105 Moltke, Helmuth Karl Bernhard Graf von 52, 61 Müller (Angeklagter 1929) 191–192 Musil, Robert 397 Mussolini, Benito 94 N Napoleon III. 64 Naubur (Wirt) 417, 424 Nebbe (Ehemann von Margarete Nebbe) 399, 402 Nebbe, Margarete 28, 397–403 Neumann, Richard 49 Nydahl, Jens 461 O Ochs, Siegfried 108 Ohnesorge, Kurt (Vorsitzender Richter) 344, 348, 351, 477, 500, 502–503, 505 Olden, Rudolf 407 Oßdorff, Michael 88 Ossietzky, Carl von 336, 407 P Pankrandt (Angeklagter im RöntgentalProzess 1930) 343 Pauly (Dentist) 488 Perasso, Giovan Battista (Balilla) 123 Peschke (Rechtsanwalt) 420 Pietsch, Ludwig 61–62 Pimm (Tiergartendirektor) 79–80, 82 Pinthus, Kurt 27 Pittschack (Angeklagter im ImmertreuProzess 1929) 423 Poelzig, Hans 74 Polgar, Alfred 21

Personenregister Porath, Ernst 355–356 Prüfke, Heinz (Angeklagter 1931) 384–386 Pukall (Angeklagter 1932) 428–429 Q Quitzow, Dietrich von 101 Quitzow, Johann von 101 R Rank (Polizist) 330 Rathenau, Mathilde 42 Rathenau, Walther 41–42, 335 Rauhut (Wirt) 424 Redslob, Edwin 406–409 Reinhardt, Max 107, 175, 197 Riemer, Marie (Mutter von Margarete Nebbe) 398, 400, 402 Roanne, André 112 Röber (Angeklagter 1929) 334 Röhm, Ernst 366–367 Roellinghoff, Charlie 112 Rombrecht (Staatsanwalt) 407 Roon, Albrecht Theodor Emil Graf von 61 Rosenfeld, Kurt 407 Rosenthal, Leo 15, 519 Roth, Joseph 21, 397 Rückert (Landgerichtsdirektor) 358 Rückert, Erwin 434–436, 439, 441 Runge, Otto 305–308 S Sack (Rechtsanwalt) 480, 499, 502–503 Sahl, Hans 31 Salm, Elisabeth 30, 431, 433–435, 437, 440–441 Salomon, Berthold Jacob siehe Jacob, Berthold Salomon, Erich 519 Sass, Erich 377

515 Sass, Franz 377 Schalldach (Obermagistratsrat) 453, 469 Schiller, Friedrich von 76 Schindler, Johann 343 Schlesinger, Paul 13, 23, 26, 107 Schlönbach, Carlo 111 Schlüter, Andreas 67 Schmidt, Käthe 440 Schmitt, Franz 469, 474 Schmittke, Paul (Angeklagter 1932) 387–388 Schmitz (Landgerichtsdirektor) 477, 480–484, 499 Schneider (Mutter von Willi Schneider) 358 Schneider (Zigarrenhändler, Vater von Willi Schneider) 356, 358 Schneider, Willi 354, 356–358 Schnieders (Angeklagter 1928) 165 Schöffler, Ernst 111 Scholtz, Arthur 443, 445, 461–462 Schreiber (Polizist) 328 Schreiner (Pfarrer am Johannisstift in Spandau) 409 Schubert (Angklagter im 3. Kurfürstendamm-Prozess) 505 Schulnies, Hubert 415–416, 426 Schultz (Angeklagter 1929) 333–335 Schulz (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 423 Schulz, Kurt 494, 497, 505 Schumann, Erich 384–386 Schüning, Wilhelm 459–461, 469, 471 Schwarzschild, Leopold 351 Selenowski, Albert 384–386 Severing, Carl (preuß. Innenminister) 46, 360 Shakespeare, William 76 Shaw, George Bernard 163 Sichel, Nathaniel 55 Sieber, Rudolf 213–214 Siedler, Jobst 24–25 Siegert, Julius 336, 406, 409–412 Simons (Kaufmann) 505 Simson, Martin Eduard (v.) 63 Sklarek (Gebrüder) 29, 450–451, 453–454, 457, 459–464, 466, 469–475

516 Sklarek, Leo 443, 445–449, 454–456, 460, 462, 464, 466–468, 470 Sklarek, Max 443–445, 447–449, 463–464, 469–470 Sklarek, Willy 443, 446–450, 453, 470 Slezak, Walter 74 Sodka (Frau) 187–188 Sommerfeld (Todesopfer 1928) 299–300 Sonja (Königin der Mode 1925) 92–93 Speer, Albert 41, 59 Spohner (Vorsitzender Richter) 419, 422, 425 Staar, Eva 111 Stapel, Wilhelm 303–304 Stark (Schöffe) 480–483, 499 Stegmann, Wilhelm Ferdinand 363–367 Steinaecker, Walter Freiherr von 468–470 Steinhaus (Landgerichtsdirektor) 258 Steinke (Angeklagter im Immertreu-Prozess 1929) 421, 425 Stenig, Paul (Staatsanwalt) 409, 495–496, 500 Stennes, Walter 359–362 Sternheim, Carl 76 Strack, Johann Heinrich 62 Strasser, Gregor 335–337, 364–367 Strauß, Richard 107 Struck (Angeklagte 1932) 391–393 T Tapolski (Landrat) 474 Tauber, Richard 143 Tergit, Gabriele 14 Thiele (Feldprobst 1873) 61 Thiemann (Landgerichtsrat) 480, 482–484 Thieme (Vater von Ella Klein) 401 Thorvaldsen, Bertel 407 Tietjen, Heinz 108 Tolk, Paul (Vorsitzender Richter) 268, 315, 391, 431, 433, 435–436, 439–440 Toller, Ernst 76 Triebel (Rechtsanwalt) 499 Tucholsky, Kurt 21

Personenregister V Valentin, Hermann 112 Valetti, Rosa 112 Vogel von Fal(c)kenstein, Eduard 61 Voß (Rechtsanwalt) 499 W Wagner, Richard 76 Wallot, Paul 63 Walter, Bruno 107 Weber (Angeklagter 1930) 248 Weber, Karl Heinrich 355–356 Wedekind, Frank 76 Weill, Kurt 207, 209 Weiß, Bernhard 336, 367–369 Weiß, Lotte 368 Weißenberg (Staatsanwalt) 470 Weißenberg, Joseph 184–185 Weitzel, Fritz 363, 365, 367 Werner, Anton Alexander von 59 Wessel, Horst 29–30, 431, 433–437, 439–441 Wessel, Margarete (Mutter von Horst Wessel) 437 Wessel, Werner 437 Wilhelm I. 52–53, 61–62 Wilhelm II. 22, 52, 65–68 Will, Theo 440 Wolff, Friedrich Wilhelm 81 Wrangel, Friedrich von 61, 134 Wuttke (Angeklagter im Röntgental-Prozess 1930) 343 Z Zangemeister, Hermann 463–464 Zille, Heinrich 74 Zimmermann (Staatsanwaltsrat) 419, 422–423 Zörgiebel, Karl Friedrich 360 Zwerg Atom 54

Literaturverzeichnis

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518

Literaturverzeichnis

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Bildnachweise Die Rechte liegen bei den angegebenen Instiutionen. Ist der Fotograf bekannt, wird sein Name in Klammern angeführt. S. 50: Landesarchiv Berlin F Rep 290 Nr. II 12199 S. 60: Landesarchiv Berlin F Rep 290 Nr. 228841 S. 86: Landesarchiv Berlin F Rep 290 Nr. 25480 S. 110: bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte 00088246 S. 114: bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte 40009796 S. 126: Landesarchiv Berlin F Rep 290 Nr. 147016 S. 158: Landesarchiv Berlin F Rep 290 Nr. II 02113 S. 170: Berlin 1928. Das Gesicht der Stadt, Nicolaische Verlagsbuchhandlung Beuermann GmbH, Berlin, 1992, S. 102 (Mario von Bucovich) S. 194: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 117/46 (Leo Rosenthal) S. 208: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 110/1 (Leo Rosenthal) S. 236: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 105/2 (Leo Rosenthal) S. 260: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 233/30 (Leo Rosenthal) S. 272: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 106/3 (Leo Rosenthal) S. 284: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 107 (Leo Rosenthal) S. 290: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 115 (Leo Rosenthal) S. 298: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 129 (Leo Rosenthal) S. 306: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 227/5 (Leo Rosenthal) S. 316: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 70/1 (Leo Rosenthal) S. 338: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 227/1 (Leo Rosenthal) S. 342: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 76/2 (Leo Rosenthal) S. 352: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 96/1 (Leo Rosenthal) S. 364: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 26/1 (Leo Rosenthal) S. 368: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 220/1 (Leo Rosenthal) S. 408: bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte 30002238 S. 420: bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte 30018572 (Erich Salomon) S. 432: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 4/1 (Leo Rosenthal) S. 438: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 4/3 (Leo Rosenthal) S. 446: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 233/1 (Leo Rosenthal) S. 494: Landesarchiv Berlin F Rep 290-02-06 Nr. 74/1 (Leo Rosenthal)