Modell Deutschland [1 ed.] 9783428540242, 9783428140244

Die Deutschlandforschung nahm lange Zeit eine historische und zeitgeschichtliche Dimension an, die vor 1989 kritisch auf

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Modell Deutschland [1 ed.]
 9783428540242, 9783428140244

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Band 103

Modell Deutschland Herausgegeben von

Tilman Mayer Karl-Heinz Paqué Andreas H. Apelt

Duncker & Humblot · Berlin

Modell Deutschland

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 103

Modell Deutschland Herausgegeben von

Tilman Mayer Karl-Heinz Paqué Andreas H. Apelt

Duncker & Humblot · Berlin

Die 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V., zugleich das Symposium der Deutschen Gesellschaft e.V., wurde mit freundlicher Unterstützung durch das Bundesministerium des Innern sowie der Herbert Giersch Stiftung realisiert. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-14024-4 (Print) ISBN 978-3-428-54024-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84024-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Reiner Haseloff (Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt) Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Christoph Bergner (Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt a. D.) Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Werner Plumpe Die Wirtschaft des Kaiserreiches. Anmerkungen zur Genealogie des deutschen Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Andreas Rödder „Modell Deutschland“ 1950–2011. Konjunkturen einer bundesdeutschen Ordnungsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Axel Börsch-Supan Die demographischen Herausforderungen sind eine Chance für unsere Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Marc Oliver Bettzüge Das Energiekonzept der Bundesregierung. Einige Betrachtungen aus langfristiger Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Günther Heydemann Das Jahrhundert der Diktaturen in Deutschland. Modelle der Bewältigung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Otto Dann Modell Deutschland? Deutschland als Begriff und Problem in der Nachkriegsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Carlo Masala Deutsche Außenpolitik im 21. Jahrhundert. Ein Diskussionsbeitrag! . . . . . . . . 103

6 Inhaltsverzeichnis Karl-Heinz Paqué Integration, Divergenz und Krisen in der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . 119 Eckhard Jesse und Tom Mannewitz Die Entwicklung der hiesigen politischen Kultur – Modell Deutschland? . . . 149 Werner Wnendt Deutsche Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im 21. Jahrhundert . . . . . 167 András Masát Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende: Eine Zwischenbilanz . . . . 171 Annette Julius und Roman Luckscheiter „Deutsch global: Wo stehen wir heute?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Vorwort der Herausgeber Die Deutschlandforschung nahm in der Bundesrepublik vor allen Dingen eine historische und zeitgeschichtliche Dimension an, die vor 1989 kritisch auf die bestehenden Verhältnisse gesehen und bezüglich der DDR eigentlich immer eine systemtranszendente Perspektive eingenommen hat. Dies geschah ganz im Sinne des normativen Gebots der Präambel des Grundgesetzes, dass die Veränderungen der bestehenden Verhältnisse in den Blick genommen werden müssen, und zwar auf der Basis des demokratischen Selbstbestimmungsrechtes. Insofern stand der Status quo mit dieser Art Deutschlandforschung immer zur Disposition. Eine derartig kritische Herangehensweise konnte nicht von einer einzigen Wissenschaft aus betrieben werden, sondern der Ansatz der Gesellschaft für Deutschlandforschung e. V., der ältesten der hier beteiligten Institutionen, war immer der, dass man eine Plattform für den Austausch verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven bieten wollte und zwar auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand Deutschland als Ganzes hin. Vor 1989 war Deutschland – und gerade die Teilung der Nation – Hauptgegenstand der Betrachtung und dabei natürlich auch die Infragestellung der spättotalitären DDR. Für die berechtigte Aufrechterhaltung der Offenheit der deutschen Frage war die westdeutsche Attitüde, sich als „postnationale Demokratie zu verstehen“, nicht gerade hilfreich, denn ein postnationales Gebilde entfernt sich scheinbar von allen nationalen, gesamtdeutschen Gemeinsamkeiten. Man kann den Ansatz der damaligen Zeit mit der moralischen Vorhaltung verbinden, ob Deutschland als Ganzes tatsächlich noch Gegenstand sein durfte. Heute können wir im 21. Jahrhundert rückblickend feststellen: 1. Es war richtig auf das eine Deutschland zu „hoffen“. Diese Perspektive war die einzig realistische, besonders deshalb, da sich manches Konzept als Fehldiagnose herausstellte. 2. Es war richtig, dass die integrative Vorgehensweise, eine Plattform zu bilden, weiterführend war, auch wenn man sich im Rückblick eingestehen muss, dass man noch mehr hätte vorbereiten können für den Tag X. Heute haben sich die beiden erwähnten Ansätze – integrativ vorzugehen und Deutschland als Ganzes zu untersuchen – bestätigt. Die Entwicklung Deutschlands überwindet sichtbar die Teilungsfolgen: Deutschland steht

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Vorwort der Herausgeber

wirtschaftlich gut da. Die Konferenz widmet sich der Frage, ob Deutschland nicht als Modell im europäischen und sogar globalen Kontext wirkt. Die Veranstalter haben dazu ein Check Up verschiedener wissenschaftlicher Ansätze vorbereitet, deren Präsentation spannend verlaufen ist. Dass überhaupt von einem Modell die Rede ist, besagt 22 Jahre nach der Wiedervereinigung durchaus sehr viel. Das heißt wir reden weniger von Ost und West in Deutschland, sondern von Gesamtdeutschland. Für manche der beteiligten Konferenzteilnehmer tauchte sogar die Frage auf, ob es überhaupt eine Differenz zwischen Ost und West noch gibt. Für jeden sozial­ wissenschaftlichen Analytiker dagegen ist klar, dass diese Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Ost und West in allen Bereichen nach wie vor die zentrale Unterscheidungskategorie darstellt, die wir nicht, zumindest in der wissenschaftlichen Betrachtung nicht, relativieren sollten. In der politischen Betrachtung mag man das anders sehen und verständlicherweise anders akzentuieren. Aber Wissenschaft kommt ihrer Aufgabe nur korrekt nach, wenn sie analytisch scharf vorgeht. Wir sind sehr froh, dass wir durch die Teilnahme zweier Ministerpräsidenten ostdeutsche Perspektiven vertiefen durften. Die Konferenz ist ein Gemeinschaftswerk der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.  V., zugleich deren 34. Jahrestagung, der Herbert Giersch Stiftung und der Deutschen Gesellschaft e. V., zugleich deren Symposium. Erfreulicherweise sind die beiden letztgenannten Institutionen vertrauensvoll miteinander verbunden. Die Kooperation, unterstützt durch das Bundesministerium des Innern, bedeutet auch, dass wir Deutschlandforschung im geschilderten und bewährten Sinne betreiben wollen: Als Plattform für unterschiedliche wissenschaftliche Sichtweisen und Untersuchungsansätze, die sich auf ein Deutschland richten, das 1. die Teilung noch wahrnimmt und in alle Analysen einbezieht, aber auch auf ein Deutschland, 2. das das erfolgreiche Zusammenwachsen in aktuellem wie in weiterem historischen Rückblick erfolgreich reflektieren kann und auf ein Deutschland, 3. das gar den Status eines Modells anzunehmen beginnt. Der Band belegt zahlreiche neue Ansätze der Deutschlandforschung und zeigt interessante Ausrichtungen und Akzentuierungen. Die Herausgeber

Geleitwort Mit großer Freude und Dankbarkeit erinnere ich mich an die 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung 2012, die zugleich das Symposium der Deutschen Gesellschaft e. V. war und in Kooperation mit der Herbert Giersch Stiftung in der sachsen-anhaltischen Landesvertretung realisiert werden konnte. Sie stand unter der Fragestellung: „Die deutsche Wiedervereinigung – eine gesamtdeutsche Erfolgsgeschichte?“ Es war wichtig, hier eine überzeugende Antwort zu suchen, weil die vielfältigen Problemlagen der Gegenwart uns sehr oft in die Gefahr bringen, den Blick auf die große Entwicklung, die unser Land seit dem 3. Oktober 1990 genommen hat, zu verlieren. Wenn man aber erlebt, wie selbstverständlich sich nun seit Jahrzehnten alle Deutschen durch Europa und die Welt bewegen, in fremden Ländern Urlaub machen oder studieren und arbeiten, dann ist schon das allein immer wieder ein gewichtiger Grund zur Freude. Wenn man außerdem durch die ostdeutschen Städte und Dörfer geht und mit wachem Auge sieht, wie viel sich zum Guten gewendet hat, weil wertvolle Denkmäler, Kirchen, Fachwerkhäuser und Schlösser saniert und die Infrastruktur erneuert und modernisiert werden konnten, dann erfüllt einen das mit großer Dankbarkeit. Da muss man noch gar nicht reden von den gewaltigen Veränderungen im Hinblick auf den Umweltschutz und die auch dadurch gewachsene Lebensqualität. Vieles andere, die Möglichkeiten zur demokratischen Mitbestimmung, die Teilhabe am Wohlstand und die grundlegende Verbesserung der Qualität der Wohnungen, sind den meisten Menschen inzwischen so selbstverständlich, dass sie oft gar nicht mehr darüber nachdenken. Das alles ist den Anstrengungen der Menschen zu danken, die den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern nach 1990 entschlossen in Angriff genommen haben, und es ist das Ergebnis einer gesamtdeutschen Solidarität, die zu den großartigsten Leistungen gehört, die wir in unserem Land jemals hervorgebracht haben. Darum will ich es hier auch noch einmal bekräftigen: Ja, die deutsche Wiedervereinigung ist und bleibt eine großartige Erfolgsgeschichte, und sie trägt bei zum Gelingen der Einheit Europas.

Dr. Reiner Haseloff (Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt)

Geleitwort Mit der Deutschen Wiedervereinigung hat sich nicht nur ein Volk wiedervereinigt, sondern ein ganzer, durch den Kalten Krieg getrennter Kontinent. Mit dem Zusammenwachsen Deutschlands sind auch die Völker Europas näher aneinandergerückt. In Deutschland wird dabei häufig übersehen, dass in den vergangenen 21 Jahren das Zusammenwachsen des europäischen Kontinents und die zunehmende Globalisierung zwei parallel ablaufende Prozesse waren, die Ursache für die gesellschaftlichen Umwälzungen in unserem Lande sind. Angesichts der damit verbundenen Herausforderungen sind bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt worden. Dennoch besteht in Ostdeutschland aufgrund struktureller Gründe weiterer Anpassungsbedarf. Daher ist es auch weiterhin notwendig, dass der Beauftragte für die Neuen Bundesländer die Gesamtpolitik der Bundesregierung für die Neuen Länder intensiv begleitet und Impulse setzt. Die Herausforderungen für die ostdeutschen Bundesländer werden sich in den nächsten Jahren stärker auf den globalen Wettbewerb mit seinen Anforderungen an innovative Unternehmen und Produkte, die weitere Stärkung der Wirtschaftskraft, die nach wie vor schwierige Situation am Arbeitsmarkt und die Veränderungen, die sich aus dem demografischen Wandel ergeben, konzentrieren. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Stärkung des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts. Mit dem Beitritt der osteuropäischen Nachbarn zur EU hat sich der Prozess der Annäherung ehemals zentralistisch organisierter Volkswirtschaften an die freien Marktwirtschaften im Westen mit all seinen Problemen auf die europäische Ebene ausgedehnt. Ostdeutschland rückt dabei zunehmend aus einer Randlage wieder in das Zentrum Europas, mit allen damit verbundenen Chancen und als ein natürlich integrierter Teil Deutschlands im Herzen eines weiter zusammengewachsenen Europas. Wie die Diskussionen auf europäischer Ebene zeigen, kann Deutschland mit seinen gesellschaftlichen und ökonomischen Erfahrungen im Einigungsprozess seinen Anteil dazu beitragen, um die Herausforderungen, vor denen Europa in diesen Tagen insgesamt steht, besser zu bewältigen. Es geht in diesem globalen Wettbewerb um das nachhaltige Wachstum unserer Volkswirtschaften in einem effektiven EU-Binnenmarkt, aber auch um die Wahrung unserer Werte und unseres Demokratieverständnisses. Dr. Christoph Bergner (Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt a. D.)

Die Wirtschaft des Kaiserreiches Anmerkungen zur Genealogie des deutschen Kapitalismus Von Werner Plumpe I. Vorbemerkung Nach allen ökonomischen Parametern war das Deutsche Reich der große Sieger des wirtschaftlichen Wettlaufes vor dem Ersten Weltkrieg in Europa. Mitte des 19. Jahrhunderts noch als mehr oder weniger rückständiger Krähwinkel belächelt, machte Deutschland erstmals mit dem Sieg über Frankreich 1871 deutlich, dass die alte Zeit vorbei war. Die Jahrzehnte danach, insbesondere seit den 1890er Jahren, erlebten ein regelrechtes Wirtschaftswunder, in dessen Ergebnis das Reich die lange als uneinholbar geltende Weltmacht Großbritannien wirtschaftlich überflügelte und in der wirtschaftlichen Dynamik nur noch von den USA übertroffen wurde. Nicht zuletzt für viele Industrielle wurde das Land jenseits des Atlantiks daher schon vor 1914 zur „benchmark“: Während die europäische Dimension verblasste, verglich man sich nun vorrangig mit den USA, mit ihrer Art zu wirtschaften fühlte man sich verwandt: „Was aber an dieser amerikanischen Industrie immer auffällt, das ist einerseits die weitgehendste Arbeitsteilung und andererseits die weitgehendste Verwendung der Maschinenarbeit, zwei Momente, welche nicht zum wenigsten beigetragen haben zu dem enormen Aufschwung, welchen drüben die Industrie genommen. Möge jeder, der es ermöglichen kann … sich hinüberbegeben und mit offenen Augen beobachten, so wird er zwar manches finden, was ihm nicht gefällt und was bei uns besser ist, aber er wird auch vieles finden, was er zum Heile unserer heimischen Industrie ausnutzen kann“,1 berichtete der Elberfelder Chemieindustrielle Carl Duisberg schon 1896, und kurz vor dem Ersten Weltkrieg verkündete er amerikanischen Ingenieuren, die 1913 Leverkusen besuchten: „We in this country are not as rich as you. We are in a more difficult position. You have all kinds of mineral in your soil, and on the surface of your soil all 1  Vortrag C. Duisbergs im Verein für Kunst und Gewerbe zu Barmen über seine Reise nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bericht der Barmer Zeitung vom 19. Dezember 1896, abgedruckt in: Carl Duisberg, Abhandlungen, Vorträge und Reden aus den Jahren 1882–1921, Berlin 1923, S. 242.

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kinds of agricultural products can be gained. It is not so with us. Many of these products must be imported from you and we are compelled to work harder than you to be able to compete and to hold our place under the sun. Although among all nations the American and German Nation are the most prosperous and it will be rebound to our mutual good to hold together, to be good friend and to remain so forever.“2

Durch harte Arbeit also, so das Selbstbild der wirtschaftlichen Eliten des Kaiserreiches, hatte man 1914 eine Stellung erreicht, die manch auswärtigen Beobachter Staunen machte, freilich keineswegs nur vor Entzücken. Ein französischer Journalist brachte die geradezu bedrohliche Faszination der deutschen Entwicklung zu Beginn des Ersten Weltkrieges so auf den Begriff: „Das bis dahin arme Deutschland wurde mit einem Schlage reich. Sein Gesamteinkommen wurde 1895 auf 21 Milliarden Mark geschätzt; 1913 bewegten sich die Schätzungen zwischen 40 und 50 Milliarden, und das deutsche Volksvermögen wurde auf jetzt 320 Milliarden Mark taxiert. … Dieses gewaltige Anwachsen des Wohlstandes wurde auch für den kurzsichtigen Beobachter an zahlreichen Anzeichen sichtbar. Wenn das Adjektiv ‚kolossal‘ die ihm heute eigene große Bedeutung in der deutschen Sprache erhalten hat, so liegt das an der Tatsache, dass die Ent­ würfe der Deutschen kolossal geworden waren, während ihre Ausführung ultra­ schnell vonstatten ging. … Unsere Perspektive ist begrenzt und kleinlich; wir entwerfen nur die nächste Zukunft; wir sehen nur zehn, maximal zwanzig Jahre voraus; wir scheinen mit einer Art ökonomischer Kurzsichtigkeit behaftet zu sein. Die Deutschen dagegen haben von 1880 bis 1913 in einer breiten und weitsichtigen Weise vorausgeblickt. Wenn sie ein Postamt, einen Bahnhof oder eine Schule errichteten, so zogen sie nicht nur die Erfordernisse des Augenblicks in Betracht, sondern planten gemäß den möglichen Bedürfnissen von fünfzig Jahren später. … Als sie den Hamburger Hafen zu vergrößern hatten, leisteten sie kein Flickwerk und gingen keineswegs kleinlich vor. Spitzhacke und Dynamit ließen ganze Stücke Land verschwinden, um Raum für die Hafenbecken zu schaffen; sie führten ihre Pläne so effektiv durch, dass der Besucher nach einer Spanne von einigen Jahren Mühe hatte, die alte Hansestadt wiederzuerkennen. Noch etwas überraschte den Reisenden – ich meine nicht den Touristen, sondern den aufmerksamen Besucher, der Deutschland häufiger in kurzen Abständen durchreiste –, nämlich der zunehmende Luxus: die luxuriöse Ausstattung der Wohnungen, der Möbel, der Kleidung und der Tafel. In zwanzig Jahren haben sich die deutschen Gewohnheiten selbst beim Mittel- und Kleinbürgertum vollkommen verändert. Der Genuß von Weißbrot und Wein wurde allgemein üblich, ebenso die Vorliebe für Kleidung 2  Carl Duisberg, Ansprache beim Besuch der amerikanischen Ingenieure (American Society of Mechanical Engineers) in Leverkusen am 30.6.1913, abgedruckt in: C. Duisberg (Anm. 1), S. 465. Auch diese Beobachtung war nicht falsch; die amerikanische und die deutsche Volkswirtschaft waren vor 1914 die dynamischsten auf der Welt und auch ihre Entwicklungsstrukturen wiesen mehr Ähnlichkeiten auf als das für den englischen oder französischen Fall gilt; vgl. Alfred D. Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge 1990.



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aus englischem Tuch und Schnitt. Mit der Gier eines ‚Parvenu‘ strebte Deutschland danach, an den neuen Freuden teilzuhaben, so als betrachte es sie als Symbol für seinen endgültigen Eintritt in den Kreis der gebildeten zivilisierten Völker des Westens.“3

Glanz und Größe des Kaiserreiches sind im Großen Krieg untergegangen und von Hitler im Zweiten Weltkrieg schließlich endgültig verspielt worden. Doch finden sich in der Wirtschaft noch heute die Spuren jener Jahre, und zwar vor allem auf der Habenseite von Struktur und Leistungsfähigkeit insbesondere der deutschen Industrie. Das deuten nicht nur zahlreiche Unternehmensgeschichten an, die den Zeitraum von den 1860er und 1870er Jahren bis in die Gegenwart umfassen. Auch wesentliche Institutionen der Wissenschaftsförderung, der Bildungs- und der Sozialpolitik, die seinerzeit den Aufstieg des deutschen Kapitalismus ermöglichten und begleiteten, sind heute noch wirksam. Und ganz ähnlich wie vor 1914 ist es auch in der Gegenwart die Stärke der deutschen Industrie, die international Bewunderung hervorruft, aber auch Erstaunen und Befürchtungen. Insofern sind die Parallelen in der internationalen Wahrnehmung Deutschlands, gerade gegenwärtig im Rahmen der weltweiten Verschuldungskrise, schon auffällig. Alles das sollte Grund genug sein, noch einmal genauer in die Kinderstube des „deutschen Kapitalismus“ einen differenzierten Blick zu werfen. II. Konjunkturverlauf und struktureller Wandel Nimmt man allein die dürren Wachstums- und Konjunkturdaten, zeigt sich für die Zeit zwischen 1871 und 1914 ein durchaus heterogenes Bild. Gesehen durch eine „Schumpetersche Brille“4, fiel die Reichsgründung in die Schlussphase einer aufsteigenden Welle, die 1873 ihren oberen Wendepunkt erreichte und mit dem Gründerkrach in eine längere Abschwungphase mündete. Die Jahre zwischen 1873 und 1895 waren wirtschaftlich „durchwachsen“, die Zahl der guten und der schlechten Jahre hielt sich zwar nicht die Waage, aber die Anzahl der schwierigen Jahre war erheblich höher als zuvor und danach. In der älteren Literatur wurde etwas ungenau von der „Großen Depression“ gesprochen, womit vor allem die verbreitete Deflationserfahrung zum Ausdruck gebracht wurde. Denn in der Folge des Gründerkrachs und im Rahmen der absteigenden Phase einer langen Welle der wirtschaftlichen Entwicklung sanken weltweit die Preise für Agrar- und Industriegüter, die Margen schrumpften und die Gewinne der Unternehmen 3  Gerhard A. Ritter / Jürgen Kocka (Hrsg.), Deutsche Sozialgeschichte. Dokumente und Skizzen, Bd. 2: 1870–1914, München 1974, S. 18 f. 4  Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, S. 314 ff.

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gingen trotz eines insgesamt moderaten Wachstums zurück. Das änderte sich erst, als 1895 der untere Wendepunkt erreicht war und nun wiederum eine längere Aufschwungphase einsetzte, die bis zum Weltkrieg anhielt. Das Wilhelminische Zeitalter, das 1888 begonnen hatte, war insofern zum größten Teil von ausgesprochen günstigen wirtschaftlichen Bedingungen gekennzeichnet; lediglich 1902, 1907  /  8 und 1913 kam es zu eher milden Rezessionen.5 Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens (Bruttoinlandsprodukt / Einwohner) zwischen 1870 und 1913 lag nach einer Schätzung von Angus Maddison6 bei 1,61 %, an sich kein überragender Wert, der seine Bedeutung erst im Vergleich offenbart. Das durchschnitt­ liche Wachstum in West- und Mitteleuropa lag in dieser Zeit bei 1,33 %; Deutschland war (gemeinsam mit der Schweiz) also das mit Abstand wachstumsstärkste Land in Europa. Noch in der Zeit zwischen 1820 und 1870 entsprach das deutsche Wachstum nur dem europäischen Durchschnitt, Belgien, die Schweiz und das Vereinigte Königreich wuchsen in dieser Zeit deutlich schneller als die deutschen Territorien. Wahrscheinlich schon in den 1850er Jahren, für alle erkennbar aber seit den 1890er Jahren kehrten sich die Gewichte in Europa um: Während sich das Wachstum in Deutschland weiter beschleunigte, fielen Frankreich und Großbritannien nach und nach absolut und relativ zurück. 1870 erzeugten Deutschland und Frankreich jeweils etwa 6,5 % des Weltbruttosozialprodukts; Großbritannien lag mit 9 % klar an der Spitze. 1913 hatten sich die Werte gedreht. Auf Deutschland entfielen nun 8,7 %, während der britische Anteil auf 8,2 % geschrumpft war, der französische sogar auf 5,3 % Der deutsche Aufstieg relativiert sich freilich, wenn man die Zahlen für Nordamerika hinzunimmt: Der Anteil der USA an der Weltproduktion stieg im gleichen Zeitraum von 8,8 % auf 18,9 %.7 Weltwirtschaftlich gesehen vollzog sich somit die eigentliche ökonomische Revolution in Nordamerika; im europäischen Kontext aber war der deutsche Aufstieg das entscheidende Datum.8 Wesentlicher Träger des wirtschaftlichen Aufstiegs in Deutschland waren neben den vergleichsweise preiswerten und nach und nach besser ausgebildeten Arbeitskräften sowie dem sich mit dem Bevölkerungswachstum vergrößernden Binnenmarkt – quantitativ gesehen – vor allem die außerordent5  Vgl. hierzu auch Reinhard Spree, Wachstumstrends und Konjunkturzyklen in der deutschen Wirtschaft von 1820 bis 1913, Göttingen 1978. 6  Angus Maddison, The World Economy. Historical Statistics, Paris 2003, S. 263. 7  Alle Daten aus A. Maddison (Anm. 6), S. 261. 8  Zu Europa siehe auch Alan S. Milward  / S. B. Saul, The Development of the Economies of Continental Europe 1850–1914, London 1977. Ferner Sidney Pollard, Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760–1970, Oxford 1981.



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lich hohen und bis zum Ersten Weltkrieg steigenden Investitionsquoten, die das westeuropäische Niveau deutlich überstiegen. Während die Brutto­ anlageinvestitionen im europäischen Durchschnitt (incl. Deutschland) vor 1913 15 % des Inlandsprodukts nicht überschritten, lagen sie in Deutschland insbesondere in der wilhelminischen Zeit um 20 %.9 In der eigentlichen Gründerzeit bis zur Mitte der 1870er Jahre konzentrierten sich die Investitionen insbesondere im Bereich des Eisenbahnbaus, der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft und erst dann im Gewerbe. Das Gewicht der Eisenbahninvestitionen ging seit den 1870er Jahren sukzessive zurück; nun konzentrierte sich die Investitionstätigkeit sehr viel stärker auf den gewerblichen Bereich, vor allem auf bestimmte industrielle Sektoren (Schwerindustrie, Maschinenbau, aber auch bereits elektrotechnische und chemische Industrie), den Bausektor und die Landwirtschaft. Während des eigentlichen „wilhelminischen Wirtschaftswunders“ dominierte dann die Industrie das Investi­ tionsgeschehen; das industrielle Anlagekapital wurde zugleich maßgeblich erweitert und erneuert.10 Der Aufschwung jener Jahre war mithin nicht allein ein Mengeneffekt, sondern verdankte sich auch, wie wir noch sehen werden, intensivem Strukturwandel. Zusammengefasst: Das Kaiserreich begann mit einem stürmischen Aufschwung, dem Gründerboom, um danach für gut 20 Jahre strukturell schwierige Jahre zu durchleben, bevor ein neuer 20-jähriger Aufschwung einsetzte, der das Land schließlich in die Spitze der industriellen Nationen führte. In dürren Zahlen liest sich das nach Angus Maddison so: Betrug das Pro-Kopf-BIP (in Dollar) in Deutschland 1870 1.840 Dollar und lag damit in Europa nicht nur hinter Großbritannien (3.190), Belgien (2.930) und Frankreich (1.876), so hatte man 1913 mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3.648 Dollar zur europäischen Spitzengruppe aufgeschlossen und die meisten Länder überholt. Die Gewichte verschoben sich mithin. Der anfänglich zitierte französische Beobachter litt daher mitnichten unter Wahrnehmungsstörungen. Ein wichtiges Moment in diesem Wandel war die Bevölkerungsentwicklung. Betrachtet man den Bevölkerungsaufbau der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, so ergibt sich eine geradezu perfekte Pyramide. Bei einer Gesamtbevölkerung (Reichsgebiet von 1871) von knapp 65 Millionen waren 1913 fast 35 % der Menschen unter 15 Jahren, Zahlen, die heute nur noch aus bestimmten Entwicklungsländern bekannt sind. Andererseits waren nur 9  Daten nach Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997. 10  Investitionsdaten nach Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, S. 582, 597.

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5 % der Bevölkerung älter als 65 Jahre. Das Deutsche Reich hatte vor dem Ersten Weltkrieg daher eine ausgesprochene junge Bevölkerung. Dieser Bevölkerungsaufbau spiegelte das rasche Bevölkerungswachstum wieder, das zwar bereits mit dem 19. Jahrhundert eingesetzt hatte, aber auch mit fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung nicht zum Stillstand kam. Zum Zeitpunkt der Reichsgründung lebten gut 41 Millionen Menschen in Deutschland; die Bevölkerungsdichte war mit 76 Menschen pro Quadrat­ kilometer ausgesprochen niedrig. 1890 waren es bereits knapp 50 Millionen, 1911 schließlich 65 Millionen; die Bevölkerungsdichte war auf 120 angestiegen.11 Auch wenn die Zahl der Geburten pro Frau bereits seit den 1880er Jahren langsam, wenn auch nach Bevölkerungsgruppen unterschiedlich, zurückging, stieg die Zahl der Geborenen doch weiter an. 1871 wurden 1,5 Millionen Kinder geboren, 1890 1,75 Millionen und schließlich 1910 knapp 2 Millionen. Gegenwärtig liegt die Geburtenzahl bei einer deutlich größeren Bevölkerung von etwa 82 Millionen Menschen bei gut 500.000 pro Jahr.12 Das Deutsche Reich hatte vor 1914 mithin ein völlig anderes, in gewisser Hinsicht allerdings ähnliches demographisches Problem wie die Gegenwart: der Anteil der nichterwerbstätigen Bevölkerung war hoch. Mit mehr als 50 % der Bevölkerung lag er sogar höher als heute, doch waren es weniger alte Menschen, die keiner Beschäftigung mehr, sondern vor allem junge Menschen, die noch keiner Erwerbstätigkeit nachgingen. Entsprechend musste eine stets wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen beschult und ausgebildet werden. Allein in Preußen stieg die Volksschülerzahl von 3,9 Millionen 1871 auf 6,5 Millionen 1911, die Zahl der Lehrer von etwa 48.000 auf 120.000.13 All das gelang nur, weil in umfangreichem Maße in die entsprechende Schul- und Bildungsinfrastruktur investiert wurde,14 wenn auch die höhere Bildung (Abitur, Studium) einem verschwindend geringen Anteil der Bevölkerung vorbehalten blieb. Eine sehr junge und im internationalen Maßstab vergleichsweise gut ausgebildete Bevölkerung war ökonomisch zweifellos ein Vorteil. Französische Beobachter sahen auch genau diesen Punkt, wenn sie die nur schleppende Bevölkerungsentwicklung im eigenen Land beklagten. Noch zur Wende zum 19. Jahrhundert war Frankreich das bevölkerungsreichste Land Europas 11  Zahlen nach Gerd Hohorst  / Jürgen Kocka / Gerhard A. Ritter, Sozialgeschicht­ liches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1975, S. 22–24. 12  Zur Bevölkerungsgeschichte Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004. 13  G. Hohorst / J. Kocka / G. A. Ritter (Anm. 11), S. 157. 14  Der Anteil der Bildungsausgaben an den Staatsausgaben stieg von 5,6  % 1871 / 74 unter Schwankungen auf 17,9 % 1910 / 13, lag damit allerdings nur bei etwa 2,6 % des Volkseinkommens, G. Hohorst / J. Kocka / G. A. Ritter (Anm. 11), S. 148.



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(ohne Russland); bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges aber hatte Deutschland gut 20 Millionen Einwohner mehr als der westliche Nachbar und zudem ein Bildungssystem, das international als vorbildlich galt.15 Überdies hatte sich der Lebenszuschnitt der Menschen dramatisch verändert. Noch die Bilder der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigten ein ländliches, agrarisches, kleinstädtisch-verschlafenes Deutschland, das große Städte kaum kannte. Die größte Stadt des Deutschen Bundes war Wien; im späteren Deutschen Reich gab es 1875 überhaupt nur eine Stadt (Berlin) mit mehr als 300.000 Einwohnern. Die Einwohnerzahl Berlins verdoppelte sich zwischen 1875 und 1910 von 1 auf 2 Millionen Menschen (Groß-Berlin knapp 4 Millionen); Hamburg, das 1875 etwa 270.000 Einwohner gehabt hatte, erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Millionengrenze. Am schnellsten wuchsen neben Berlin die Gewerbeorte und die neu entstehenden Industriestädte insbesondere im Ruhrgebiet, aber auch Frankfurt am Main, Leipzig oder Breslau erzielten exorbitante Zuwächse.16 Insgesamt kehrte sich die Siedlungsstruktur in dieser Zeit um. Der Grad der Ver­ städterung nahm seit der Jahrhundertmitte kontinuierlich zu. Lebten 1871 noch fast zwei Drittel der Bevölkerung in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnern, so waren es 1910 nur noch 40 %. Dabei waren es keineswegs die Klein- und Mittelstädte, die das höchste Wachstum erzielten. Nein, es waren die Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, die ihren Anteil an der Bevölkerung von 4,8 auf 21,3 % steigern konnten. Großstädte, insbesondere Industriegroßstädte, bestimmten mehr und mehr das Alltagsleben in Deutschland.17 Die massive Verstädterung, insbesondere in den nun entstehenden bzw. expandierenden Industriebezirken, stellte nicht nur die Bauwirtschaft vor große Herausforderungen. Wenn auch die Wohnverhältnisse häufig schwierig blieben, nahm dennoch der Wohnungsbau stark zu, wie überhaupt die Bauwirtschaft ein wesentlicher Träger der später zu beschreibenden wirtschaftlichen Entwicklung wurde. Für Deutschland typisch wurde, zumindest in Berlin und einigen anderen großen Städten, die Mietskaserne, standardisiert geplante und schnell gebaute Mietshäuser, in denen nur ein Teil der Wohnungen höheren Standards genügte, während der überwiegende Teil der Wohnungen klein und einfach ausgestattet war. Diese Kleinwohnungen konnten auch an die Arbeiterbevölkerung gewinnbringend vermietet werden, 15  Wolfram Fischer, Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1850–1914, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1985, S. 10–207, hier S. 11–44. 16  G. Hohorst / J. Kocka / G. A. Ritter (Anm. 11), S. 45. 17  Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 20055.

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die aber häufig selbst noch durch die relativ geringen Mieten überfordert waren. Schlafgängerwesen, Untervermietung und Überbelegung waren so an der Tagesordnung. Aber zumindest in der Tendenz verbesserte sich die Lage; insbesondere in den letzten Jahren des Kaiserreiches sank die durchschnittliche Belegungsdichte der Wohnungen langsam ab.18 Während die Wohnsituation insbesondere der ärmeren Bevölkerungsteile angespannt blieb, änderten sich die Lebensbedingungen in anderer Hinsicht doch so, dass man mit einem gewissen Recht davon sprechen kann, dass die Verstädterung in einen Prozess der Urbanisierung mündete, also eine neue städtische Lebenslage entstand. Den wesentlichen Anteil hieran hatte der Ausbau der kommunalen Daseinsfürsorge, der in Deutschland im Kaiserreich vergleichsweise früh einsetzte und sich im internationalen Maßstab ohne weiteres sehen lassen konnte.19 Frisch- und Abwasserver- bzw. -entsorgung, Schulwesen, medizinische Versorgung durch Krankenhausbauten, Schulen, Parks, Kultureinrichtungen wurden in diesen Jahren zumeist in kommunaler Verantwortung geschaffen bzw. stark ausgebaut. Zwar findet man auch hier wieder die für das Kaiserreich nicht untypische soziale Differenzierung, so dass hochkulturelle Einrichtungen zumeist für die unteren Gesellschaftsschichten unerreichbar blieben. Insgesamt aber durchlebte die Gesellschaft des Kaiserreiches in dieser Hinsicht einen fundamentalen Wandel, der sich u. a. auch in der zu dieser Zeit stark zunehmenden Kulturkritik äußerte; sie kann insofern geradezu als eine Art Seismograph der gesellschaftlichen „Modernisierung“ des Landes begriffen werden.20 Insgesamt war die Entwicklung auf jeden Fall eindrucksvoll. Deutschland war vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein vergleichsweise dicht besiedeltes Land, dessen Zentren von Industriestädten mit hoher Verdichtung bestimmt wurden. Der Lebenszuschnitt hatte sich zugleich deutlich verändert; das Land war sukzessive urbaner geworden; ländliche Subsistenzexistenzen verloren an Bedeutung. Das Leben in der Stadt war einerseits durch eine Zunahme der formalen Bildung, andererseits durch die Abhängigkeit von kommunaler ­Infrastruktur und Daseinsfürsorge geprägt. Das Bild wurde nunmehr von der Marktvermitteltheit der Existenzsicherung bestimmt; die Stadt schuf zugleich einen völlig neuen, viele Menschen herausfordernden Lebensraum,21 den es 18  Jürgen Reulecke (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918. Das bürgerliche Zeitalter, Stuttgart 1997. 19  Siehe hierzu Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940, Göttingen 2009. 20  Corona Hepp, Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, München 1987. 21  Siehe etwa Joachim Schlör, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991.



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erst zu bewältigen galt. Dass Lebensreform22 und Großstadtkritik um diese Zeit zu Modebewegungen wurden, verwundert nicht.23 Eine derartige Expansion der Bevölkerung und eine damit eng verbundene Änderung in der alltäglichen Lebensführung wären ohne gleichzeitigen tiefgreifenden ökonomischen Strukturwandel nicht zu bewältigen gewesen. In einem dynamischen Umfeld konnten einer wachsenden Bevölkerung hingegen selbst dynamisierende Funktionen zufallen. Die wirtschaftliche Entwicklung zwischen den 1850er Jahren und dem Ersten Weltkrieg zeigte in Deutschland entsprechend eine große Dynamik nicht nur im Umfang der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern eben auch im Strukturwandel. Gemessen an den Beschäftigtenanteilen hatte das verarbeitende Gewerbe etwa um 1900 die Landwirtschaft überflügelt; die Bedeutung der Landwirtschaft hatte damit relativ abgenommen; nach jüngsten Berechnungen dürften 1913 kaum mehr als ein Drittel aller Beschäftigten im Agrarsektor tätig gewesen sein.24 Gewinner im Strukturwandel der Zeit war zweifellos der sog. sekundäre Sektor, der bei Kriegsausbruch nach unterschiedlichen Berechnungen bis zu 40 % der Beschäftigten umfasste, nach nur gut 28 % bei Gründung des Reiches. Einen ähnlichen Aufstieg erlebte der Bereich der öffentlichen und privaten Dienste, dessen Beschäftigtenanteil von knapp 22 % auf knapp 28 % zunahm.25 Verbunden war dieser Strukturwandel mit erheblichen Produktivitätsgewinnen, die zunächst und vor allen Dingen im Bereich der Landwirtschaft anfielen, in die auch bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein noch das Gros der Investitionen floss. Die Agrarwirtschaft wies während des gesamten Jahrhunderts durchweg hohe Produktivitätszuwächse auf – mit für sie selbst zum Teil paradoxen Folgen. Nicht zuletzt wegen der durchgreifenden Leistungssteigerungen ging ihre volkswirtschaftliche Bedeutung zurück, der wirtschaftliche Druck auf sie nahm zu, insbesondere, nachdem durch neue Techniken die Transportkosten derart gesunken waren, dass Agrarprodukte aus Übersee in Europa konkurrenzfähig wurden. Der Beschäftigungsanteil sank folgerichtig, während die Ernteerträge stiegen. Die Preise gingen zugleich zurück bzw. konnten nur unterdurchschnittlich zulegen. Gleichwohl gelten die Jahre seit den 1890er Jahren, als sich die Preise stabilisierten, nicht zu Unrecht als 22  Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. 23  Immer noch grundlegend Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt am Main 2006 (zuerst 1903). 24  Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011, S. 42. Leicht andere Zahlen bei Dietmar Petzina, Werner Abelshauser, Anselm Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978, S. 55. 25  C. Burhop (Anm. 24), S. 42.

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„goldene Zeit“ der deutschen Landwirtschaft.26 Die in diesen Jahren entstehende, politisch konservativ grundierte Interessenbewegung der Landwirtschaft gilt es daher richtig zu interpretieren. Hier ging es um die Verteidigung des Status quo und nicht um die Korrektur einer schwierigen Lage, auch wenn dies stets behauptet wurde. Der Aufstieg der Industrie erschien für die Landwirtschaft daher einerseits als Gefährdung von „Besitzständen“, andererseits als attraktiver Markt. Auch der gewerbliche Sektor veränderte in dieser Zeit sein Gesicht grundlegend. Im gewerblichen Sektor dominierte auch in Deutschland traditionell, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in Großbritannien, das Textilgewerbe, dessen Anteil an den Investitionen freilich rasch sank. In den 1840er Jahren begann – eng verbunden mit dem Ausbau und Betrieb der Eisenbahnen – der Aufstieg der Schwerindustrie in Schlesien, an Rhein und Ruhr und an der Saar. Dieser Komplex aus Eisenbahnen, Schwer­ industrie, Maschinen- und Anlagenbau wurde zum eigentlichen Kern der Industriellen Revolution in Deutschland, die insofern ihr Zentrum nicht in einer Konsumgüterindustrie hatte. Bis in die 1870er Jahre hinein dominierte dieser Komplex aus Eisenbahnen und Schwerindustrie das Bild der gewerblichen Investitionen.27 In den Jahren nach 1880 wechselte der Entwicklungsschwerpunkt erneut. Die Schwerindustrie blieb zwar die bedeutendste Industrie, trat in ihrer Dynamik jedoch hinter den sog. neuen Industrien zurück. Das Bild bestimmten nunmehr Metallverarbeitung, Maschinenbau, Elektrotechnik, feinmechanische und optische Industrie und der geradezu phönixhafte Aufstieg der Chemie. In all diesen Bereichen erreichte die Industrie des Kaiserreiches vor 1914 eine geradezu unbestrittene Weltmarktführerschaft, da die Expansion der deutschen Industrie keineswegs auf den Binnenmarkt beschränkt blieb.28 1913 beherrschte etwa die deutsche Farbstoff- und Pharmaindustrie die Weltmärkte zu 70–90 %, die deutschen Glühbirnenhersteller hatten ein vergleichbares Monopol. Ähnliche Dominanzen finden sich im Bereich der Feinmechanik oder in Teilen der Elektroindustrie.29 26  Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. Vgl. auch Wilhelm Henrichsmeyer  /  Heinz-Peter Witzke, Agrarpolitik, Bd. 1: Agrarökonomische Grundlagen, Stuttgart 1991. 27  Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840– 1879. Ein Beitrag zur Entwicklungstheorie und zur Theorie der Infrastruktur, Dortmund 1985. 28  Zu den Wachstumsindustrien der letzten Phase des Kaiserreichs vgl. Akademie der Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917 / 18, Berlin 1985. 29  Zur Chemie vgl. etwa Gottfried Plumpe, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990, S. 50–62.



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Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Strukturwandel begünstigten insgesamt zweifellos Entwicklung und Aufstieg des Kapitalismus.30 Sie waren aber in gewisser Hinsicht auch stets das Ergebnis seiner Entstehung, Folge der von den Unternehmen eingeschlagenen Strategien und einer staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im Laufe der Zeit an Bedeutung gewann. Für die Entstehung der spezifischen Strukturen des deutschen Kapitalismus kommt der Phase der „großen Depression“ zwischen 1873 und 1895 besondere Bedeutung zu, weil die in dieser Zeit ergriffenen Anpassungsmaßnahmen insbesondere der größeren Unternehmen ihre Entwicklung im Aufschwung seit der Mitte der 1890er Jahre wesentlich bestimmten. Daher ist ein kurzer gesonderter Blick auf die besonderen Probleme der späten Bismarckzeit ausgesprochen erhellend. In der sog. Gründerzeit zwischen dem Beginn der 1850er Jahre und 1873 (der heute populäre Begriff der Gründerzeit bezieht sich auf den Wilhelminismus, ist damit aber falsch verwendet) expandierte die deutsche Wirtschaft stark; sie erlebte ihre eigentliche Industrielle Revolution, die nach 1866 bzw. dem Sieg über Frankreich 1871 in eine Phase der Überhitzung mündete.31 Allein zwischen 1870 und 1873 wurden fast 1.000 Aktiengesellschaften gegründet. Das waren nicht alles Neugründungen; vielfach handelte es sich um die Überführung bestehender Unternehmen in Aktiengesellschaften, um die zum Teil exorbitanten Zeichnungsgewinne realisieren zu können, die der Börsenboom jener Jahre zu versprechen schien. Investmentbanken (sog. Maklerbanken), die in dieser Zeit ebenfalls wie Pilze aus dem Boden schossen, machten das große Geschäft.32 Aufschwung und Boom waren allerdings nicht nur spekulativ, sondern in Erwartung großer Aussichten erweiterten zahlreiche Unternehmen ihre Produktionskapazitäten erheblich, wobei diese Expansionen in der Regel fremdfinanziert waren.33 Die Entwicklung des Hauses Krupp in dieser Zeit mag nicht unbedingt typisch gewesen sein; aber sie war beispielhaft. Angetrieben von großen Erwartungen und gleichzeitigen technischen Erneuerungen betrieb Alfred Krupp eine geradezu gigantische Ausdehnung der 30  Zum überaus komplexen Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und wirtschaftlichem Wachstum der Zeit vgl. als ersten Hinweis Toni Pierenkemper  /  Richard H. Tilly, The German Economy During the Nineteenth Century, New York 2004, S. 87–112. 31  Vgl. zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung jener Jahre Hartmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln 19743. 32  Eine prägnante Beschreibung des Booms bei Felix Pinner, Die großen Weltkrisen im Lichte des Strukturwandels der kapitalistischen Wirtschaft, Zürich / Leipzig 1937, insbesondere S. 195–207. 33  Zu den Finanzierungsstrukturen deutscher Unternehmen Richard H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834–1914, München 1990, S. 84–103.

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Werksanlagen in Essen, finanziert im Wesentlichen durch Kredite von Banken aus dem Industriegebiet, dem Rheinland und Berlin. Das zu Beginn des Jahrhunderts noch kleine Unternehmen, das Mitte des Jahrhunderts gerade über 1.000 Arbeitskräfte beschäftigte, zahlte nun bald 50.000 Menschen Lohn und Gehalt und war zum mit Abstand größten Eisen- und Stahlhersteller Deutschlands aufgestiegen. Umso mehr musste Krupp vom Gründerkrach getroffen werden,34 der mit dem Zusammenbruch der Quistorpschen Bank in Berlin im Herbst 1873 ausbrach und das Wirtschaftsleben in Deutschland für die nächsten Jahre bis 1878 lähmte. Von den 800 neugegründeten Aktiengesellschaften gingen innerhalb kurzer Zeit etwa 600 bankrott; die Maklerbanken, hinter denen zumeist Großbanken standen, verschwanden fast vollständig.35 Die großen Industrieunternehmen stöhnten unter Überkapazitäten, sinkenden Margen und gleichbleibenden Finanzierungskosten. Die Banken kämpften mit dem Problem „fauler“ bzw. notleidender Kredite – das Publikum litt unter den fallenden Aktienkursen, steigender Arbeitslosigkeit und einer bis dato unbekannten Zuspitzung der sozialen Frage. Der Liberalismus, bis zum Beginn der 1870er Jahre unbestritten das führende Denkschema in Ökonomie und Politik, geriet in eine tiefe Krise, von der er sich nur noch sehr begrenzt zu erholen wusste. Bismarcks Abwendung von den Liberalen, die gemeinsam mit dem Zentrum durchgesetzte Sozialpolitik, das Entstehen eines vermeintlich „organisierten Kapitalismus“ und eines benevolenten Interventionsstaates, scheinbar typische Zeichen des deutschen Kapitalismus im Vergleich zu den liberaleren angelsächsischen Varianten – all das verdankt seine Entstehung dem Gründerkrach und seinen Folgen.36 Sicher ist zweifellos, dass sich wesentliche Strukturen des deutschen Kapitalismus der Art und Weise verdanken, wie man die Folgen des Gründerkrachs in den Unternehmen und wirtschaftsund sozialpolitisch bewältigte, wobei freilich manche lieb gewordenen Mythen über jene Zeit fortzuräumen sind. III. Unternehmensstrategien zwischen Gründerkrach und wilhelminischem Wirtschaftswunder Mit diesen Mythen will ich mich zunächst kurz befassen. Der doppelte Prozess des sektoralen und industriellen Strukturwandels und der starken konjunkturellen Schwankungen war zugleich von wichtigen weiteren Ände34  Hierzu Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, S. 164–201. 35  Hierzu F. Pinner (Anm. 32), S. 232–239. 36  Prototypisch für die lange vorherrschende Sicht jener Jahre Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967.



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rungen geprägt, die in der Literatur der 1970er und 1980er Jahre vor allem mit den Begriffen „Organisierter Kapitalismus“ und „Finanzkapitalismus“ bezeichnet wurden; Bezeichnungen, die zugleich auch verwendet wurden, um die Entstehung eines vermeintlich korporativen deutschen von einem eher liberalen angelsächsischen Kapitalismus abzugrenzen. In dieser Sicht reagierten die Unternehmen auf die Herausforderungen durch die „Große Depression“ vor allem durch eine „Vermachtung der Märkte“, durch Preisabsprachen, Kooperation, Konzentration und umfängliche Versuche, den Staat zugunsten einer industriefreundlichen Wirtschaftspolitik zu instrumentalisieren. Im Zentrum dieser Entwicklung fanden sich hiernach neben bestimmten Industrieunternehmen vor allem die entstehenden und sich entwickelnden Großbanken, die nach und nach zu so etwas wie der Spinne im Netz des deutschen Kapitalismus geworden seien.37 Bevor wir diese Thesen überprüfen, ist zunächst einmal der Befund zu klären. In der Tat: insbesondere die Zeit seit den 1880er Jahren ist durch die Großbetriebsbildung und die Entstehung sog. industrieller Herzogtümer gekennzeichnet, d. i. die horizontale und vertikale Integration bestimmter Wertschöpfungsketten in einzelnen Konzernen, namentlich der Schwerindustrie, später auch der Elektrotechnik und der chemischen Industrie. Die Zeitgenossen waren von diesen neuen Konzernen und ihrem Führungspersonal fasziniert38 – Industriekapitäne wie Friedrich Alfred Krupp39, August Thyssen40, Hugo Stinnes41 oder Albert Ballin42 waren die Männer der Stunde; forschende Unternehmer wie Carl Duisberg43, Heinrich Brunck und später Carl Bosch oder die Angehörigen der großen Elektrofamilien Siemens und Rathenau waren in aller Munde. Doch ist Vorsicht am Platze, wenn man die Großbetriebs- und Konzernbildung voreilig in eine Art Phase des 37  Typisch für diese Lesart, wenn auch mit bemerkenswerten Korrekturen, H.-U. Wehler (Anm. 10). 38  Noch etwas von dieser Faszination findet sich auch in der Sammlung psychologisierender Porträts von Felix Pinner, Deutsche Wirtschaftsführer, Berlin 1924. 39  Michael Epkenhans / Ralf Stremmel (Hrsg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010. 40  Jörg Lesczenski, August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008. 41  Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998. 42  Eberhard Straub, Albert Ballin. Der Reeder des Kaisers, Berlin 2001. 43  Zu Duisberg vgl. Hans-Joachim Flechtner, Carl Duisberg. Vom Chemiker zum Wirtschaftsführer, Düsseldorf 1959. Heinrich Brunck, der die Entwicklung der BASF maßgeblich prägte, ist skizziert bei Werner Abelshauser (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002. Zu Carl Bosch gibt es bisher nur eine recht dünne Biographie: Karl Holdermann, Carl Bosch. Leben und Werk, Düsseldorf 19542.

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konzentrierten, gar des Monopolkapitalismus umdeuten will. Die Unternehmensstruktur blieb weitgehend unverändert; über drei Viertel der deutschen Unternehmen waren kleine oder mittlere Betriebe, und fast ebenso viele Beschäftigte fanden dort ihre Arbeit. Das Familienunternehmen war die dominante Unternehmensform. Die Großbetriebs- und Konzernbildung blieb an bestimmte technische und ökonomische Umstände gebunden und insofern in ihrer Reichweite begrenzt, wenn auch die prominenten Unternehmen in unserer Erinnerung übermächtig erscheinen. In dieser Hinsicht von „organisiertem Kapitalismus“ zu sprechen, erscheint zumindest voreilig.44 Die Kartellbildung scheint hingegen ein eindeutiger Beleg zu sein. In der Tat gab es in Deutschland vor 1914 mehrere tausend Kartelle und Marktabsprachen, die – sofern vertraglich fixiert – von der Rechtsprechung auch anerkannt wurden, da das Reichsgericht in einem aufsehenerregenden Urteil aus den 1890er Jahren Kartellverträge zivilrechtlich für bindend erklärt und dort vorgesehene Vertragsstrafen für zulässig erklärt hatte. Die Kartelle – entstanden in der Regel in den Zeiten sinkender Preise in den 1870er bis 1890er Jahren (Kartelle als „Kinder der Not“), um weitere Preissenkungen zu verhindern – sind seither so etwas wie der „böse Bube“ der deutschen Wirtschaftsgeschichte, geradezu ihr Verhängnis, wodurch die deutsche Wirtschaft sich nachteilig von der etwa in den USA unterschieden habe. Insbesondere die in der Tradition des Ordoliberalismus stehende Literatur der Jahre nach 1950 verurteilte das Kartellwesen durchweg, obwohl zuverlässige Studien über die ökonomische Bedeutung von Kartellen bis heute kaum existieren. Die in der preistheoretischen Literatur den Kartellen und Großkonzernen (Oligopolen, Monopolen) zugeschriebene Tendenz zu überhöhten Preisen hat schon Joseph Schumpeter als empirisch nicht stichhaltig zurückgewiesen. Vor allem aber zeigen die wenigen vorliegenden Studien, dass bis auf wenige Ausnahme wie das RWKS oder das Kalisyndikat die große Mehrzahl der Kartelle kurzlebig und ineffizient war und im Grunde eine Prämie auf Opportunismus und moral hazard darstellte. Und auch das RWKS, Holtfrerich hat dies schön gezeigt, trieb die Preise nicht in die Höhe, sondern beendete deren starke Volatilität freilich mit der Folge, dass die Kohlenpreise auch in den Krisen nicht mehr wirklich sanken.45 Das störte viele Kohlenverbraucher, nicht zuletzt die staatlichen Eisenbahnen,46 44  Zu den Unternehmensstrukturen vor 1914 vgl. Werner Plumpe, Unternehmen, in: Gerold Ambrosius / Dietmar Petzina / Ders. (Hrsg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung für Historiker und Ökonomen, München 20062, S. 61–94. 45  Carl-Ludwig Holtfrerich, Quantitative Geschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert. Eine Führungssektorenanalyse, Dortmund 1973. 46  Die Kohlenpreise waren auch der Hintergrund der sog. Hibernia-Affäre von 1904, in der es dem preußischen Staat nicht gelang, gegen den Widerstand der Zechenbesitzer selbst zum Kohlenunternehmer aufzusteigen; vgl. Dietmar Bleidick,



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und wurde daher schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts prominent diskutiert, u. a. in einer Reichstagsenquete, doch sahen die dort versammelten Wissenschaftler davon ab, Empfehlungen zugunsten staatlicher Regulierung auszusprechen.47 Und in der Tat gab es zwar zahlreiche Kartelle, doch waren die meisten von ihnen bedeutungslos. Und wenn sie Bedeutung hatten, musste diese keinesfalls nur negativ sein, so jedenfalls Schumpeter und die zeitgenössische Ökonomie.48 Es waren vor allem marxistische Ökonomen und Politiker, die im späten Kaiserreich vor einer Entwicklung zum Monopolkapitalismus warnten, die sie freilich zugleich als zwingend diagnostizierten49 – und deren politische Texte dann in den 1970er Jahren nicht nur wieder gelesen, sondern geradezu als Quellen entdeckt wurden.50 Dies gilt insbesondere für das Buch von Rudolf Hilferding über das Finanzkapital, in dem vor dem Hintergrund der Großbetriebsbildung und der engen Beziehungen zwischen zahlreichen Großbetrieben und bestimmten Berliner Banken die These von der Beherrschung der Industrie durch das Bankkapital, ergo Finanzkapital, breit entfaltet wurde. Diese für die Politik der SPD vor 1914 und nach 1918 einflussreiche These hat freilich einer empirischen Überprüfung in keinem Punkt standgehalten. Der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Volker Wellhöner konnte vielmehr zeigen, dass die großen Industrieunternehmen die Banken erfolgreich aus ihren Aufsichtsräten heraushielten und sorgsam darauf achteten, nicht in Abhängigkeiten von Banken zu geraten.51 Den Hintergrund bildeten auch hier wiederum die Erfahrungen aus Gründerkrach und Großer Depression, als hohe Fremdkapitalquoten zahlreiche Unternehmen den Banken geradezu ausgeliefert hatten. Seither bemühten sich fast durchweg alle Großunternehmen durch Senkung der Fremdkapitalquoten diesen Zugriff zu lockern oder ganz zu lösen – fast durchweg erfolgreich. Zwar stiegen im Boom die Fremdkapitalquoten wieder an, doch waren es jetzt die Banken, Die Hibernia-Affäre. Der Streit um den preußischen Staatsbergbau im Ruhrgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bochum 1999. 47  Fritz Blaich, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973. 48  Zur Kartelldebatte insgesamt vgl. Erich Maschke, Grundzüge der deutschen Kartellgeschichte bis 1914, Dortmund 1964. 49  Im deutschen Fall waren die Texte von Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg und Karl Kautsky maßgeblich. Vgl. jetzt Jan Greitens, Finanzkapital und Finanzsysteme. Das „Finanzkapital“ von Rudolf Hilferding, Marburg 2012. 50  Typisch ein Teil der Beiträge in: Heinrich-August Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974. 51  Volker Wellhöner, Großbanken und Großindustrie im Kaiserreich, Göttingen 1989.

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die um Geschäftskontakte häufig geradezu „bettelten“.52 Der Aufstieg der chemischen Industrie wurde durch einbehaltene Gewinne und Anleihen finanziert, die über bestimmte Banken platziert wurden, wobei es eher die Banken waren, die sich um die Unternehmen bemühten als umgekehrt. In den Aufsichtsrat von Leverkusen oder der BASF schaffte es nebenher vor 1914 kein Bankvertreter. Dies war in anderen Fällen, etwa bei der AEG, wo es zu einer engen Kooperation mit der Berliner Handelsgesellschaft kam, anders, nicht zuletzt, weil die AEG einen überaus forcierten Expansionskurs verfolgte. Aber ein eindeutiges Muster einer von den Banken beherrschten, vermachteten Welt korporativer Strukturen ergab sich daraus gerade nicht. Also: Der rasante Strukturwandel der deutschen Industrie vor 1914 veränderte ihr Gesicht und ihren Zuschnitt; neben den USA beherbergte Deutschland vor 1914 die modernsten und wettbewerbsfähigsten Großunternehmen der Welt, doch war dies nichts Dämonisches oder Gefährliches. Das mochte die Kapitalismuskritik behaupten; zutreffend war es nicht. Und selbst wenn Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Rudolf Hilferding Recht gehabt hätten, so hätten auch sie erst erklären müssen, woher diese erstaunliche Erfolgsgeschichte rührte, warum es gerade diese Unternehmen waren, die einen solchen Aufstieg erlebten und warum sich diese Entwicklung so signifikant von der in anderen europäischen Ländern unterschied. Den eigentlichen „Erfolgsfaktoren“ des deutschen Kapitalismus vor 1914 will ich mich daher jetzt zuwenden, was im gegebenen Rahmen nur sehr punktuell und holzschnittartig erfolgen kann. Über die Ursachen des Aufstiegs der deutschen Industrie seit den 1850er Jahren ist viel gerätselt worden, was fast zwangsläufig zu einer geradezu überbordenden Literatur geführt hat.53 Diese beschäftigte sich zumeist weniger mit einer Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung selbst, sondern suchte sie einordnend zu interpretieren, wobei die bis heute einflussreichsten Stichworte „Rückständigkeit“, „nachholende Modernisierung“ und „Sonderweg“ waren.54 Die semantische Figur der „Rückständigkeit“ ist – nebenher bemerkt – nicht nur die älteste, sondern bis in die Gegenwart 52  Beispiele bei Markus Dahlem, Die Professionalisierung des Bankbetriebs. Studien zur institutionellen Struktur deutscher Banken im Kaiserreich 1871–1914, ­Essen 2009. 53  Jüngst vieles noch einmal zusammenfassend C. Burhop (Anm. 24). Burhop weist nachdrücklich auf die Probleme der statistischen Erfassung der Entwicklung jener Zeit hin, ohne dass seine bzw. die referierten Neuberechnungen unser Bild der Zeit wirklich gravierend in Frage stellten. Vgl. auch Toni Pierenkemper / Richard H. Tilly (Anm. 30). 54  Typisch hierfür sind die lange Zeit recht einflussreichen Darstellungen von Hans-Ulrich Wehler, etwa seine Geschichte des Kaiserreiches oder der 3. Band seiner Gesellschaftsgeschichte, Arbeiten, die aber bereits in den 1970er Jahren nicht unumstritten waren. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918,



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hinein auch die dominante Form der ökonomischen Selbstbeschreibung Deutschlands, so dass man die damit verbundene Selbstdynamisierung wiederum als einen wesentlichen „Erfolgsfaktor“ der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ansehen könnte, wenn man zu ironischen Perspektivverschiebungen neigt. Zumindest seit Friedrich List und seinen einflussreichen Schriften (wahrscheinlich aber schon sehr viel länger!) war die rhetorische Figur der Rückständigkeit ein wesentlicher Motor zur Verstärkung der jeweiligen Entwicklungsbemühungen, völlig unabhängig davon, ob in ir­ gendeinem exakt messbaren Sinne „Rückständigkeit“ wirklich bestand.55 Es wäre überaus interessant, einmal die jeweiligen nationalen Selbstbeschrei­ bungs„kulturen“ Europas unter dem Gesichtspunkt der Verwendung der Figur der Rückständigkeit zu untersuchen und auf ihre ökonomische Bedeutung hin zu testen. „Selbstzufriedenheit“ scheint zumindest im deutschen Fall außerordentlich selten gewesen zu sein. Wie dem auch sei. Während bei Hans-Ulrich Wehler u. a. der Topos der Rückständigkeit als Realität unterstellt und der sich anschließende, allein ökonomische Aufholprozess als besonders aggressiv beschrieben wird, waren die älteren Interpretationen etwa eines Alexander Gerschenkron vorsichtiger. Gerschenkron behauptete, dass proportional zur Rückständigkeit die Rolle der Banken bzw. des Staates für die Industrialisierung wachse – immer Großbritannien als Maßstab genommen.56 Deutschlands rasche Entwicklung sei also eine Art catching up gegenüber der fortgeschritteneren Entwicklung Englands gewesen, forciert durch den Bankensektor und staatliche Hilfen. Faktisch erklären all diese Rückständigkeits- und Sonderwegsthesen allerdings nicht sehr viel. Denn, von allen anderen Problemen einmal abgesehen,57 hatte der Aufstieg der deutschen Wirtschaft seit den 1850er Jahren nur sehr bedingt etwas Nachholendes, die neuen Industrien, die zunächst hier und in den USA entstanden, waren bis dato ohne Vorbild und konnten von daher kaum importiert, kopiert und verbessert werden. Das gab es selbstverständlich, etwa in der frühen Montanindustrie oder im Maschinenbau, wo deutsche Unternehmen skrupellos den englischen Erfolg abkupferten. Doch traf das Göttingen 19835. H.-U. Wehler (Anm. 10). Zur Kritik Thomas Nipperdey, Wehlers Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988) 3, S. 403–415. 55  Zu Friedrich List Keith Tribe, Strategies of Economic Order. German Economic Discourse 1750–1950, Cambridge 1995, S. 32–65. 56  Alexander Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1972, S. 121–139. 57  „Rückständigkeit“ erscheint in dieser Argumentation als besonderer Impuls, doch ist das in der Mehrzahl der Fälle nicht so – hier ist Rückständigkeit vielmehr ein Moment des Beharrens, des Zurückbleibens, der Resignation. Es muss also schon eine besondere „Rückständigkeit“ gewesen sein, die es ermöglichte, sie in einem raschen Spurt zu überwinden!

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für die dynamischen Bereiche des Kaiserreiches gerade nicht zu. Diese zeichneten sich vielmehr durch drei Merkmale aus, die sich im Deutschland der Jahre nach 1850 in einem überaus günstigen konjunkturellen Umfeld zunächst unabhängig voneinander, dann aber in einer sich selbst fortlaufend dynamisierenden Koevolution entfalteten. Wissenschaft und Industrie gingen im Kaiserreich eine geradezu musterhafte Beziehung zueinander ein, verkörpert in der Innovationskraft etwa der chemischen Industrie, der Elektrotechnik oder der Feinmechanik, d. h. den Pionierindustrien der Zeit.58 Allein Bayer, BASF und Hoechst hielten schließlich bei Kriegsausbruch 1914 mehr Chemie- und Pharma-Patente als der Rest der Welt zusammen! Die junge chemische Industrie profitierte, ja verdankte ihren phänomenalen Aufstieg einem Ausbau von Forschung und Lehre an den Universitäten, der zunächst ganz „zweckfrei“ erfolgt war, zumindest bezogen auf industrielle Zwecke. Es würde hier zu weit führen, die „Revolutionen“ in der wissenschaftlichen Chemie, die mit den Namen Liebig und Wöhler verbunden sind, im Einzelnen darzustellen. Im Gegensatz etwa zu England aber konnte die deutsche Chemie seit den 1880er Jahren auf einen stetig ansteigenden Zustrom akademisch qualifizierter Chemiker zählen, den sie auch nutzte.59 Carl Duisberg, selbst aus kleinen Verhältnissen zum Chef von Bayer aufgestiegener Chemiker, wurde nicht müde, dieses Zusammenspiel60 als das Erfolgsgeheimnis der Chemie zu betonen. 1913 beschäftigte allein Bayer dreimal so viele Chemiker wie die gesamte chemische Industrie Englands! Die jüngere Forschung hat diesen, 58  Zusammenfassend für die chemische Industrie Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions, Cambridge 2003. 59  Ernst Homburg, Two Segments, one Profession: The Chemical Profession in German Society 1780–1870, in: David Knight / Helge Kragh (Hrsg.), The Making of the Chemist. The Social History of Chemistry in Europe 1789–1914, Cambridge 1998, S. 39–76. Des Weiteren im selben Band Walter Wetzel, Origins of Education and Career Opportunities for the Profession of „Chemist“ in the Second Half of the Nineteenth Century in Germany, S. 77–94. Trotz eines alles in allem durchaus noch verbesserungsfähigen Zustandes war die Chemikerausbildung in Deutschland derjenigen im westlichen Ausland bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich überlegen, vgl. auch Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technology and National Institutions, Cambridge 2003, S. 52–55. 60  Hartmut Scholz, Zu einigen Wechselbeziehungen zwischen chemischer Wissenschaft, chemischer Industrie und staatlicher Administration sowie deren Auswirkungen auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Chemie in Deutschland in der Zeit des Übergangs zum Monopolkapitalismus, Berlin 1989. Vgl. auch die Arbeiten von Lothar Burchardt, Professionalisierung oder Berufskonstruktion? Das Beispiel des Chemikers im wilhelminischen Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft, 6 (1980) 3, S. 326–348.



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bereits den Zeitgenossen bewussten Befund eindrucksvoll bestätigt. Ich belasse es bei diesen Beispielen aus der chemischen Industrie; sie ließen sich für die Metallverarbeitung, die Elektrotechnik und die Feinmechanik beliebig vermehren. Dass die Unternehmen diese sich ihnen bietende Chance nutzten, eigene Forschungsinfrastrukturen aufbauten und eine Art systematische Innova­ tionsorientierung geradezu institutionalisierten, hatte wiederum etwas mit ihrer spezifischen Lage in den 1880er und 1890er Jahren zu tun. Denn für zahlreiche deutsche Unternehmen war der Heimatmarkt zu klein, man konnte die gegebene Unternehmensgröße nur halten oder gar expandieren, wenn es gelang, relevante Weltmarktanteile zu erzielen. Zeitweilig schien sich in den 1870er Jahren die rasche Expansion im Gründerboom nun zu rächen, da die erweiterten Kapazitäten kaum noch kostendeckend ausnutzbar schienen. Vor die Frage gestellt, einen Großteil der Investitionen abzuschreiben und zu schrumpfen oder durch eine entsprechende Politik zusätzliche Marktanteile, insbesondere auch im Ausland zu gewinnen, entschied sich die Mehrzahl der großen Unternehmen, nicht zuletzt auch in Kooperation mit ihren Gläubigerbanken, für die Öffnung hin zum Weltmarkt und die Entwicklung entsprechender Expansionsstrategien, zu denen eben auch und gerade ein sich stets erneuerndes Produktportfolio gehörte. Innovation war sicher nicht der einzige Ausweg, sondern selbst wiederum eine Reaktion auf die Schwierigkeiten, sich international zu behaupten. Die Montanindustrie setzte zunächst zumindest teilweise auf Dumping,61 die anderen Industriezweige suchten sich ohne künstliche Preisvorteile weltweit zu behaupten, trafen etwa auf den Weltausstellungen aber auf überaus kritische Resonanz selbst der eigenen Regierung, die noch in den 1880er Jahren zahlreichen Unternehmen vorwarf, Ramsch anzubieten. Die englische Entscheidung, das Kennzeichen „Made in Germany“ vorzuschreiben, wurde zunächst ja auch genau mit diesem Vorbehalt vor billigem deutschem Tand begründet.62 Zahlreiche deutsche Unternehmen empfanden diese Vorwürfe nicht nur als ungerecht, sondern als Herausforderung, ja sahen fortan in schlechten Produkten eine Hypothek für ihren ökonomischen Erfolg und suchten daher mit Qualitätsprodukten zu antworten. Da überdies der Heimatmarkt eher begrenzt, die Auslandsmärkte aber überaus heterogen waren, entstand in dieser Konstellation nach und nach die bis heute geübte Praxis, für unterschied­ 61  Vgl. die detaillierte Darstellung der Reaktion der deutschen Schwerindustrie bei Ulrich Wengenroth, Unternehmensstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und die britische Stahlindustrie 1865–1895, Göttingen 1986. 62  Zum internationalen Ansehen der deutschen Industrie in dieser Zeit vgl. Thomas Großbölting, „Im Reich der Arbeit“: Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914, München 2008.

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liche Märkte je passende Produkte zu entwickeln und anzubieten. In der Tendenz wurden in Deutschland in den Unternehmen die F&E-Bereiche immer wichtiger; zudem entstand zur Bewältigung der Aufgaben eine frühzeitig stärker diversifizierte, aber auch entsprechend bürokratisierte Form der Unternehmensführung und -entwicklung.63 Weltmarktorientierung und Qualitätsproduktion waren mithin situative Antworten auf eine schwierige Situation, die sich schließlich bewährten, und die man auch gerade deshalb geben konnte, weil die universitäre Forschung und Lehre ausreichend Ressourcen hierfür bereitstellte. Dabei wäre es im Übrigen ganz verfehlt, diese Expansionsstrategien für die deutsche Wirtschaft unbesehen zu generalisieren. Sie finden sich insbesondere in bestimmten Bereichen der Großindustrie, während weite Teile des Gewerbes ganz ähnlich wie in den europäischen Ländern eng mit ihren Lokal- und Regionalmärkten verbunden blieben und eine entsprechende Entwicklung nahmen. Für die Großindustrie ist freilich diese Entwicklung durchaus typisch. In den USA, in denen der rasch wachsende Heimatmarkt völlig andere Herausforderungen stellte, waren die Unternehmensstrategien entsprechend anders. Hier ging es weniger um Diversifikation und Anpassung an heterogene Märkte als um die Ausnutzung der Chancen, die der Massenbedarf eines homogenen Heimatmarktes schuf. Die amerikanischen Unternehmen waren daher weniger bürokratisiert, mehr regional (entsprechend der amerikanischen Teilmärkte) aufgestellt und vor allem auf die Ausnutzung skalenökonomischer Vorteile aus, ein Weg, der deutschen Unternehmen weitgehend verschlossen blieb.64 Wenn die deutschen Industriellen vor 1914 vor allem Mentalitätsunterschiede betonten, etwa in dem Sinne, dass angelsächsische Unternehmer auf den schnellen Erfolg, deutsche hingegen auf die nachhaltige Entwicklung hin orientiert seien, dann war die Beobachtung an sich nicht falsch, nur hatte das mit Mentalität wenig zu tun, sondern war eine Folge unterschiedlicher ökonomischer Herausforderungen und Marktbedingungen. Ein schönes Beispiel ist die Entwicklung des synthetischen Indigo. Naturindigo war der wichtigste Farbstoff bis etwa 1900, angebaut auf riesigen Flächen in Britisch-Indien und durch zwei englische Unternehmen, die den Markt vollständig kontrollierten, vertrieben. Der deutsche Chemiker Adolf Baeyer hatte schon in den 1870er Jahren die Strukturformel des Indigo aufgeklärt und Anfang der 1880er Jahre einen ersten Weg zu 63  Bernd Dornseifer, Zur Bürokratisierung deutscher Unternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1993) 1, S. 69–91; vgl. auch Bernd Dornseifer, Strategy, Technological Capability and Innovation. German Enterprises in Comparative Perspective, in: Francois Caron / Paul Erker / Wolfram Fischer (Hrsg.), Innovations in the European Economy between the Wars, Berlin / New York 1995, S. 197–226. 64  A. D. Chandler (Anm. 2).



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dessen Synthese erarbeitet, doch ließ sich das von der BASF und Hoechst genutzte Patent nicht wirtschaftlich darstellen. Es dauerte weitere 20 Jahren und die für das Kaiserreich geradezu gigantische Summe von mehr als 100 Mio. Mark an Forschungsinvestitionen, bis schließlich 1904 ein gangbarer Weg zur Herstellung von Indigo gefunden war. Die britischen Indigo-Firmen kannten die deutschen Bemühungen von Anfang an, doch hofften sie auf deren Scheitern und unterließen größere eigene Anstrengungen, um die möglichen deutschen Angriffe auf ihre Position abzuwehren. 1906 war der natürliche Indigo zum Nischenprodukt geschrumpft, die Anbauflächen unbedeutend und die bislang dominierenden englischen Firmen bedeutungslos geworden.65 Dass derartige deutsche Erfolge nicht zur Freude der Engländer waren, ist nachvollziehbar. Entsprechend mussten den englischen Kautschuk­ anbietern 1911 die Ohren klingeln, als die Farbenfabriken in Leverkusen ankündigten, einen leistungsfähigen Synthese-Kautschuk auf den Markt bringen zu wollen. Ähnliches findet sich in zahlreichen anderen Gebieten. Die jüngste Forschung hat denn auch gezeigt, dass es weniger die gemessen an der englischen Flotte eher kleine deutsche Hochseeflotte war, die man in Großbritannien als Bedrohung ansah, als der machtvolle wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands.66 Hierzu trug neben der Verbindung von Wissenschaft und Industrie und der Weltmarktorientierung ein dritter Erfolgsfaktor wesentlich bei, die Arbeitskräftestruktur, deren Qualifikationsniveau und damit zusammenhängend die staatliche Sozialpolitik, die in Deutschland bereits seit den 1880er Jahren ein relativ dichtes Netz an sozialen Sicherungen geschaffen hatte.67 Auf den stets wachsenden Zustrom in der Regel zumindest ordentlich schulisch vorgebildeter junger Menschen wurde bereits hingewiesen. Gleichwohl reichte dieser Zuwachs kaum aus, um den großen Arbeitskräftebedarf der Industrie zu decken, die daher in den 20 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine umfangreiche betriebliche Sozialpolitik zur Bindung und Weiterqualifizierung ihrer Arbeitskräfte begann.68 Das war je nach Branchen unterschiedlich. Carl Zeiss in Jena war in diesen Fragen sehr viel sensibler als die großen oberschlesischen oder saarländischen Hüttenwerke, die für ihren

65  Hierzu jetzt Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt am Main 2009. 66  Zur englischen Außenpolitik vor 1914 jetzt Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem ersten Weltkrieg, München 2011. 67  Volker Hentschel, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland (1880–1980). Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt am Main 1983. 68  Vgl. hierzu die schöne Darstellung von Anne Nieberding, Unternehmenskultur im Kaiserreich: J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co, München 2003.

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Betriebsabsolutismus berüchtigt waren.69 Krupp hingegen entwickelte ähnlich wie Bayer, Hoechst oder die BASF ein ausgeklügeltes sozialpolitisches System, dessen Zweck vor allem in der Sicherung einer qualifizierten Belegschaft bestand. Die staatliche Sozialpolitik federte diese Art der Qualifikationssicherung mit den unterschiedlichen Versicherungen zusätzlich ab. Insgesamt konnte man in dieser Konstellation als qualifizierter Arbeiter in den guten Jahren vor 1914 eine fast kleinbürgerliche, jedenfalls gesicherte und respektierte Existenz erreichen. Dass die Gewerkschaften zunehmend die Lust an der Revolution verloren, ja die Revolutionäre selbst in der SPD in die Minderheit gerieten, verwundert da nicht.70 Ein weiterer, in seiner Wirkung kaum bedachter Punkt kommt hinzu. Die Ausbildung von Lehrlingen war traditionell an das zünftige, bzw. nunmehr in Innungen zusammengefasste Handwerk gebunden, dessen Bedeutung in wirtschaftlicher Hinsicht freilich deutlich abnahm. Gleichwohl war das Handwerk, der sog. alte Mittelstand, politisch und sozial einflussreich und konnte vor 1914 durchsetzen, dass die Ausübung des Handwerks und die Ausbildung von Lehrlingen an „Befähigungsnachweise“ gebunden wurde, das „Meisterprinzip“ also gesetzlich festgeschrieben wurde. Das Handwerk wurde auf diese Weise zumindest stellenweise zum „closed shop“, angesichts der Erwartung, dass es ohnehin wirtschaftlich dem Untergang geweiht sei, nahm man das allerdings hin. Wesentlicher war die auf diese Weise gegebene Qualitätssicherung der Ausbildung, die auch die Industrie respektieren musste, zumal ihre Facharbeiter in der Regel einen entsprechenden Berufsstolz an den Tag legten. Alle Stränge zusammen mündeten schließlich in den 1920er Jahren auch förmlich im dualen System der Berufsausbildung bzw. dessen Vorläufern, welches daher eine Art hybride Mischung aus betrieblicher Sozial-, staatlicher Struktur- und Bildungspolitik und ausgeprägt sozialprotektionistischen Zügen darstellt. Die bis heute bestehende Rolle der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern und der erst kürzlich gelockerte Meisterzwang in der Lehrlingsausbildung sind Reste dieser Entwicklung, die bereits vor 1914 die hohe Qualität der Arbeitskräfte in Deutschland sicherte. Da Ähnliches zudem in kaum einem anderen Land existierte, waren diese Strukturen ein zusätzliches Alleinstellungsmerkmal neben der Verbindung von Wissenschaft und Industrie und der Herausforderung durch die heterogene Marktstruktur.71 69  Werner Plumpe, Menschenfreundlichkeit und Geschäftsinteresse. Die betrieb­ liche Sozialpolitik Ernst Abbes im Lichte der modernen Theorie, in: Frank Markowski (Hrsg.), Der letzte Schliff – 150 Jahre Arbeit und Alltag bei Carl Zeiss, Berlin 1997, S. 10–33. 70  Zur Entwicklung der Lage der Arbeiterschaft Gerhard A. Ritter / Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Bonn 1992.



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Vor 1914, ich deutete es an, gab es nicht wenige Industrielle, die den Erfolg auch auf eine besondere Diszipliniertheit der Menschen in Deutschland, auf ihre Ernsthaftigkeit, kurz: auf ihre Mentalität zurückführten. Derartige Gesichtspunkte mochten eine Rolle spielen, doch sollte man das nicht überschätzen. Es war vielmehr das von mir geschilderte Merkmalsbündel unter den spezifischen konjunkturellen und weltwirtschaftlichen Bedingungen der Zeit, welches den deutschen Aufstieg begünstigte. Freilich wurden seinerzeit Pfadabhängigkeiten geschaffen, die lange nachwirken sollten. Deutschland übernahm die Rolle der „Werkstatt“ der Welt von Großbritannien, das sich selbst bereits vor dem Krieg auf Finanzdienstleistungen und seine Rolle in der Weltwirtschaft zu spezialisieren begann. 71

IV. Der Aufstieg des Kapitalismus und die Rolle des Staates Wie ist abschließend die Rolle des Staates in diesem Prozess zu bewerten. Nimmt man den Staatsanteil am BIP vor 1914 als Maßstab, so ist seine Bedeutung mit etwa 14 % eher gering. Von einem umfänglichen Interven­ tionsstaat, der sich als Agent des „organisierten Kapitalismus“ gebärdet hätte, ist vor 1914 nur wenig zu erkennen. Aus den alltäglichen wirtschaftlichen Prozessen hielt sich der Staat heraus. Die staatliche Sozialpolitik jedenfalls berechtigt nicht, hiervon auf die gesamte staatliche Haltung gegenüber der Wirtschaft zu schließen. Die Sozialpolitik war zweifellos bedeutend, doch blieb der Wirtschaftsalltag weitgehend von Staatseingriffen frei. Das liberale Paradigma war im Alltag auch nach dem Ende des Gründerbooms bestimmend. So etwas wie Regional- und  /  oder Strukturpolitik betrieb der Staat schon, doch spielten bei Initiativen etwa im Bereich des Kanal- oder des Eisenbahnbaus zahlreiche Gesichtspunkte eine Rolle; jedenfalls fällt es schwer, hier allein von wirtschaftspolitischen Motiven auszugehen. Vor allem aber betrieb der Staat keine Konjunkturpolitik. Hierzu fehlte alles: das Wissen, die Konzepte, schließlich wohl auch der Wille. Weder gaben die statistischen Daten vor 1914 hinreichende Informationen, noch wäre man dazu in der Lage gewesen, sie ggf. in schlüssige Konzepte zu transformieren, noch hätte man das gewollt. Hier brachte erst der Große Krieg eine dann allerdings grundlegende Wende. Wirtschaftlich i. e. S. war der deutsche Staat vor 1914 – von der Steuerpolitik, in der das Reich selbst letztlich handlungsunfähig blieb,72 abgesehen – 71  Zur Geschichte der beruflichen Bildung vgl. Rolf Schöfer, Berufsausbildung und Gewerbepolitik. Geschichte der Ausbildung in Deutschland, Frankfurt am Main / New York 1981. Vgl. auch Karl Wilhelm Stratmann, Berufserziehung und sozialer Wandel, Frankfurt am Main 1999. 72  Hierzu Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffent­ lichen Finanzen vom 18. Jahrhundert bis heute, München 2005.

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nur auf zwei Feldern wirklich aktiv, und auch hier kann von einer großen Handlungsautonomie, von großen Spielräumen kaum geredet werden. Im Gegenteil war das Reich vor 1914 weltwirtschaftlich bereits derart eingebunden, dass Raum für Alleingänge nicht existierte. Dies betrifft sowohl die Währungs- wie die Handelspolitik, neben der Steuerpolitik der Kern staatlichen Handelns gegenüber der Wirtschaft. Währungspolitisch hatte Deutschland mit dem Übergang zum Goldstandard 1875 faktisch seine Souveränität aufgegeben und war gezwungen, jeweils auf die entsprechenden globalen Änderungen durch nationale Anpassungsmaßnahmen (Geldmenge, Zinssatz) zu reagieren. Das gelang auch so gut, dass Kritik hieran vor 1914 faktisch nicht laut wurde, die festen Wechselkurse vielmehr nach und nach als geradezu konstituierendes Moment einer funktionierenden Weltwirtschaft angesehen wurden. Diese Überzeugung sollte in der Zwischenkriegszeit indes fatale Folgen haben, als der mit großem politischem und finanziellem Aufwand wiederhergestellte Goldstandard zur Zwangsjacke der Wirtschaftspolitik wurde.73 Auch in der Handels- und Zollpolitik lagen die Dinge völlig anders, als die lange geradezu vorherrschende Vorstellung vom aggressiven Protektionismus des Deutschen Reiches wahrhaben will. Corne­ lius Torp hat in luziden Studien zur deutschen Außenhandelspolitik vor 1914 mit derartigen Mythen gründlich aufgeräumt. Im Rahmen der intensiven globalen Verflechtung gab es so etwas wie einen autonomen Handlungsspielraum der deutschen Regierung gar nicht, da sie stets die Reziprozität der Handelsbeziehungen im Auge haben musste. Überdies war auch die deutsche Wirtschaft keineswegs einer Auffassung in dieser Frage. Schutzzollinteressenten aus Landwirtschaft und bestimmten Industrien trafen auf ebenso entschiedene Vertreter des Freihandels bzw. einer gemäßigten Zollpolitik. Die Reichsregierung war in diesem von ihr kaum zu beherrschenden Kräftefeld eher eine Art Makler, der von den weltwirtschaftlichen Verflechtungen und den deutschen Außenhandelsinteressen ausgehen musste, und diese jeweils mit der nationalen Interessenkonstellation zu versöhnen trachtete. Im Ergebnis war der deutsche Schutzzoll nicht nur überaus gemäßigt; er stieg auch trotz aller lauttönenden Debatten im Kaiserreich nicht wirklich an. Die globale Verflechtung ließ das einfach nicht zu.74 Eine effiziente Bildungs- und Sozialpolitik, eine durchaus erfolgreiche Währungs- und Zollpolitik und eine überaus zurückhaltende Positionierung im wirtschaftlichen Alltag: darin bestand die nicht unwichtige Rolle der Politik für die wirtschaftliche Entwicklung vor 1914. Mit 14 % Anteil am 73  Berry Eichengreen, Vom Goldstandard zum Euro. Die Geschichte des internationalen Währungssystems, Berlin 2000. 74  Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005.



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BIP war der Staat überdies schlank und zurückhaltend (auch das ja ein Erfolgsfaktor!), auch wenn zum Ärger vieler Steuerzahler die Bürokratie vor 1914 schneller wuchs als die Wirtschaft. Entwicklungen, wie wir sie heute kennen, hätte man sich freilich zu einer Zeit, in der bereits der Spitzensteuersatz von 6 % in der preußischen Einkommenssteuer als „sozialistisch“ galt, kaum träumen lassen. V. Verhängnis Erster Weltkrieg Ich komme zum Schluss. Die hier geschilderte Entwicklung kam im Sommer 1914 zu einem abrupten Ende. Die „Belle Epoque“ machte einem neuen 30-jährigen Krieg Platz, dessen Nachwirkungen noch bis in die 1990er Jahren stark waren. Nun scheinen zumindest in mancherlei Hinsicht die Verheerungen des 20. Jahrhunderts überwunden; fast scheint es so, als kehre das liberale 19. Jahrhundert wieder. Es war freilich auch jene Zeit, die den Ersten Weltkrieg möglich gemacht hatte. Dabei war es nicht, wie ebenfalls lange behauptet, eine besondere deutsche Aggressivität, die den Krieg ausgelöst hat. Vielmehr entstanden Spannungen durch den großen ökonomischen Wandel, der auch alte politische Strukturen und Gewissheiten in Frage stellte. Zu den dynamischen Faktoren zählte dabei insbesondere der deutsche Kapitalismus, angesichts von dessen Erfolg manche Beobachter erschreckten, manche neidisch erblassten, manche an Eindämmung dachten. Das Deutsche Reich jedenfalls hat es vor 1914 nur unzureichend verstanden, die eigene wirtschaftliche Stärke den Nachbarn als Chance zu vermitteln, und sah sich schließlich so isoliert, dass man sich bedroht, „eingekreist“ hieß das damals, fühlte. Diese strukturelle Konstellation scheint derzeit zurückzukehren, da der deutsche Kapitalismus viel von seiner bereits historisch zu beobachtenden Dynamik bewahrt zu haben scheint. Diese zu pflegen und zugleich nicht als Bedrohung erscheinen zu lassen, ist die ­Herausforderung der Zeit – keine leichte Aufgabe angesichts wachsender ökonomischer Ungleichgewichte und der paradoxen Tatsache, dass wirtschaftliche Stärke einerseits gebraucht, andererseits gefürchtet wird.

„Modell Deutschland“ 1950–2011 Konjunkturen einer bundesdeutschen Ordnungsvorstellung Von Andreas Rödder Wenn vom „Modell Deutschland“ als einer Ordnungsvorstellung die Rede ist, dann bringt dieses Kompositum zwei Aspekte zum Ausdruck, die voneinander zu trennen sind: einerseits eine ökonomisch-soziale Verfasstheit und andererseits eine politisch-kulturelle Wahrnehmung. Beide Aspekte sind in ihrer historischen Entwicklung, wie zu zeigen sein wird, keineswegs kongruent, sondern immer wieder phasenverschoben aufgetreten; es mag nicht sonderlich überraschend sein, ist aber von Bedeutung, dass die politisch-kulturelle Wahrnehmung der ökonomisch-sozialen Verfasstheit in wesentlichem Maße nachlief. Dabei sind drei Phasen zu unterscheiden: zum Ersten der Nachkriegsboom bis in die siebziger Jahre, als die Rede vom „Modell Deutschland“ überhaupt erst aufkam, zweitens die Phase der aufkommenden Globalisierung und die Vereinigungskrise der achtziger und neunziger Jahre sowie drittens jüngere Entwicklungen des frühen 21. Jahrhunderts. I. Das „Modell Deutschland“ und die „Erfolgsgeschichte“ der alten Bundesrepublik Das „Modell Deutschland“ wurde zuerst von der regierenden SPD im Bundestagswahlkampf 1976 plakatiert. Der Slogan verselbständigte sich bald und machte Karriere über Deutschland hinaus. Dies galt nicht zuletzt für anglo-amerikanische Beobachter in den achtziger Jahren, als die marktradikale Wirtschaftspolitik der „Reagonomics“ und des „Thatcherismus“ die soziale Architektur der amerikanischen und der britischen Gesellschaft erschütterte. Dass das „Modell Deutschland“ demgegenüber Markt und Staat in eine spezifische Balance brachte, verband es mit einem zweiten normativen Leitbegriff des bundesdeutschen Selbstverständnisses: der „sozialen Marktwirtschaft“. Es verband, so die Vorstellung, ökonomische Leistungskraft und soziale Integration, Massenwohlstand und inneren Frieden. Es prägte somit auch einen dritten normativen Zentralbegriff bundesdeutscher Selbstvergewisserung: die „Erfolgsgeschichte“ der Bundesrepublik von Wirt­

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schaftswunder und Wohlstandsexplosion, sozialer und politischer Stabilität, Exportnation und Sozialstaat, Korporatismus und Arbeitsbeziehungen im Zeichen der „Konfliktpartnerschaft“ (mit Betonung auf der „Partnerschaft“, d. h. auf Verhandlung und Konsens).1 Sie etablierte einen breiten grundsätzlichen Konsens und wirkte selbst in hohem Maße integrativ, da sie in zwei verschiedenen Varianten erzählt werden konnte. Die erste Version, die „Stabilitätsgeschichte“,2 handelte vor allem auf staatlich-politischer Ebene. Sie zielte auf die Integrationskraft der parlamentarischen Demokratie und die Stabilität ihrer Institutionen, den materiellen Wohlstand und außenpolitische Sicherheit, Frieden und Freiheit durch Westbindung und transatlantische Allianz. Dieser politisch eher bürgerlichen Lesart stand die tendenziell linke zweite Version zur Seite, die vor allem auf die sozialkulturelle Ebene zielte. Sie erzählte von Individualisierung und Pluralismus, von Liberalisierung, von Emanzipation und Demokratisierung, von erweiterter Partizipation und dem Abbau hierarchischer und autoritärer Strukturen und nicht zuletzt von der Anerkennung historischer Schuld. Das Narrativ der „Fundamentalliberalisierung“3 der Gesellschaft fand seine Zuspitzung in der These einer „Umgründung der Republik“ durch die Protestbewegung von 1968 und den politischen Machtwechsel von 19694 – womit die ur1  Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1999; Jörg Calließ (Hrsg.), Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD. Loccumer Protokoll Nr. 19 / 03, Rehburg-Loccum 2004 – Differenzierter Überblick über die Gesamtinterpretationen zur bundesdeutschen Geschichte bei Edgar Wolfrum, Die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990 (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl.), Stuttgart 2005, S. 65–74. Zum integrativen Charakter des Narratives der „Erfolgsgeschichte“ vgl. auch Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, bes. S. 293 f. und 296. Vgl. darüber hinaus Andreas Rödder, Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1990, Stiftung-Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Kleine Reihe, Heft 12, Stuttgart 2004, S. 10–13; ders., Das „Modell Deutschland“ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345–363; sowie Thomas Hertfelder, „Modell Deutschland“ – Erfolgsgeschichte oder Illusion? Einleitung zu: Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion? Stuttgart 2007, S. 9–27. 2  Hans-Peter Schwarz, Segmentäre Zäsuren. 1949–1989. Eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 18. 3  Zur Interpretationskategorie der „Liberalisierung“ vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung – Integration – Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49, bes. S. 12–15 (hier als in den späten fünfziger Jahren einsetzender Prozess). 4  Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475 und 653; Heinrich August



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sprünglich systemkritischen Ansätze der Emanzipationserzählung auf Seiten der „posthumen Adenauerschen Linken“5 ins Affirmative umschlugen. Diese Verbindung von „Modell Deutschland“, „sozialer Marktwirtschaft“ und „Erfolgsgeschichte“ prägte die Erfahrungsmuster der „alten Bundesrepublik“ und zugleich den Erwartungshorizont einer gesamten Generation – in vieler Hinsicht ist dies bis heute der Fall. Seinen historischen Hochpunkt erlebte dieses Narrativ der Selbstverständigung in den achtziger Jahren, insbesondere am Ende des Jahrzehnts, in dem die Bundesrepublik gerade nicht dem Weg gefolgt war, den „Thatcherismus“ und „Reagonomics“ eingeschlagen hatten. Hatten diese beiden anglo-amerikanischen Länder auf eine konsequente Marktorientierung gesetzt, so war die Bundesrepublik bei ihrer „Politik des mittleren Weges“6 geblieben, der durch Korporatismus und Ausgleich markiert war. Die Regierung Kohl hatte nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 zwar zunächst Ausgabenkürzungen und Konsolidierungsmaßnahmen vorgenommen, seit den mittleren achtziger Jahren aber auch wieder eigene, vor allem familienpolitische Akzente gesetzt. Insbesondere die Anrechnung von Kindererziehungszeiten für die Rente korrigierte das Prinzip der ausschließlichen Bindung von Ansprüchen an aus Erwerbstätigkeit generierte Beiträge zugunsten einer sozialversicherungsrelevanten Anerkennung von Familienarbeit. Auf dieser Traditionslinie lag denn auch die Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995. Ähnlich verhielt es sich mit den Arbeitsbeziehungen: Die Auseinandersetzung der Regierung Kohl mit den Gewerkschaften um den § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes im Jahre 1986 über die Frage, ob die Bundesanstalt für Arbeit zur Unterstützung für in Folge von Streiks arbeitslos Gewordenen verpflichtet sei, blieb die einzige konkrete Konfrontation der Regierung mit den Gewerkschaften, und sie war in keiner Weise vergleichbar mit der Härte, mit der insbesondere in Großbritannien der Konflikt zwischen der Regierung Thatcher und den Gewerkschaften geführt wurde. Die ArbeitsbezieWinkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 323 f.; Claus Leggewie, Generationsschichten und Erinnerungskulturen – Zur Historisierung der „alten“ Bundesrepublik, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), S. 211– 235, bes. 214–224; oder Jürgen Habermas, Der Marsch durch die Institutionen hat auch die CDU erreicht, in: Frankfurter Rundschau vom 11. März 1988. 5  Begriff nach Heinrich August Winkler (Anm. 4), S. 631. 6  Manfred G. Schmidt, Die Politik des mittleren Weges. Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8–10 (1990), S. 23. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte 19a.), München 1994, S. 15–18.

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hungen in der Bundesrepublik blieben von sozialem Grundkonsens geprägt, zu dem dann auch die günstige konjunkturelle Entwicklung am Ende der achtziger Jahre beitrug. Nach den krisenhaften siebziger und frühen achtziger Jahren hatte 1983 ein zunächst langsames, aber kontinuierliches Wachstum eingesetzt, das am Ende des Jahrzehnts in einen wahren Boom bei relativ geringen Inflationsraten überging. „Stetiges und weitgehend spannungsfreies Wachstum mit inzwischen beachtlicher Dynamik kennzeichnet seit 7 Jahren die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“, so resümierte das Bundesfinanzministerium im August 1989.7 Der Bundeshaushalt hatte konsolidiert und die Neuverschuldung begrenzt werden können, um die Mitte der achtziger Jahre herrschte Geldwertstabilität, in der die monetaristische Wirtschaftstheorie das zentrale Element einer prosperierenden Entwicklung sah – und dann schien am Ende der achtziger Jahre auch die lang ersehnte Trendwende im Bereich der Arbeitslosigkeit einzusetzen: Nachdem sie während der vorangegangenen Aufschwungjahre zunächst wider Erwarten nicht nennenswert zurückgegangen war, sank das Jahresmittel 1989 erstmals seit 1983 wieder unter zwei Millionen. Überschäumend fielen daher die Bilanzen anlässlich der 40 Jahr-Feiern der Bundesrepublik im Frühjahr 1989 aus. „Wir können stolz auf das Geleistete und auf unseren gemeinsamen Staat sein. Daraus schöpfen wir Kraft für die Bewältigung der Zukunft“, so formulierte der Koordinator der Bundesregierung für das Programm „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“8 das Credo. Die Bundesrepublik, so resümierte Karl Dietrich Bracher, hatte „mit der zügigen Entwicklung und ihrer Stabilisierung als eine parlamentarische Demokratie […] eine neue, adäquatere Rolle als mittlere Macht mit einem engen Verhältnis zu Westeuropa, in freiheitlicher Selbsteinschätzung und Weltoffenheit, aber ohne Großmachtträume“9 gewonnen. Auch die Verfechter der Liberalisierung kamen auf ihre Kosten, war es der Bundesrepublik in den achtziger Jahren doch gelungen, die system­ oppositionellen „Neuen Sozialen Bewegungen“ ebenso wie schon zuvor die Protestbewegung von 1968 weithin in das politische System eines Staates zu integrieren, der sich von preußisch-deutschen Traditionen abhob. Der „Übermut eines Staates, der ‚über‘ der Gesellschaft zu thronen schien, ist gebrochen; wahrlich ein deutsches Wunder“, so konstatierte der sozialdemo7  Bundesministerium der Finanzen, Finanzbericht 1990, Bonn [10. August] 1989, S. 11. 8  Horst Waffenschmidt, 40 Jahre Frieden und Freiheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Mai 1989, Beilage „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, S. IX. 9  Karl Dietrich Bracher, Kein Anlaß zu Teuto-Pessimismus, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Mai 1989, Beilage „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, S. XIV.



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kratische Intellektuelle Peter Glotz: „Endlich einmal ist den Deutschen ein ziviler Staat gelungen […]; wir mußten das große Tier zähmen. Es ist uns gelungen.“10 Und den gesamten fundamentalen gesellschaftlich-kulturellen Veränderungsprozess im Zeichen von Pluralisierung, Individualisierung und Wertewandel bildete Hans-Magnus Enzensberger in einem wenn auch leicht überzeichneten Panorama ab: „Niederbayerische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor 30 Jahren niemand sich träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, Mercedes-fahrende Landstreicher, Autonome mit Biogärten, waffensammelnde Finanzbeamte, taubenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen mit Warentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios und Dominas mit Kunden aus dem höheren Management […], Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodyguards, Jazz-Experten, Sterbehelfer und Pornoproduzenten.“11

Und dann kam, wenige Monate nach dem 40. Geburtstag, mit dem Zusammenbruch der DDR und der deutschen Wiedervereinigung der historische Sieg über den notorischen Antipoden im Osten hinzu. Im Vollgefühl der ökonomischen und sozialen Potenz wurde die Wiedervereinigung in der Erwartung gestaltet, die Kosten „angesichts der erreichten starken wirtschaftlichen Dynamik […] weitgehend aus unseren Sozialproduktzuwächsen finanzieren“ zu können, zumal sich die deutsche Einheit „als zusätzliches Wachstumsprogramm erweisen“ werde.12 Mit der Einführung des „Modells Deutschland“ in der DDR werde sich dort, so die Vorstellung der Bundesregierung, das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger Jahre wiederholen, werde „in 3 oder 4 Jahren ein wirtschaftlich blühendes Land entstehen“,13 allgemeine Zufriedenheit herrschen und die „Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik“ ihre gesteigerte Fortsetzung finden. Damit aber wurde das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit als genuin deutsche Leistung ebenso überschätzt wie die vermeintlich unbegrenzte Leistungsfähigkeit und Belast10  Peter Glotz, Das Provisorium im 41. Jahr, in: Der Spiegel vom 29. Mai 1989, S. 132. 11  Hans Magnus Enzensberger, Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a. M. 1988, S. 264 f. 12  Anlage B zum Schreiben von Bundesfinanzminister Waigel an die Mitglieder der CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, 7. Februar 1990: Währungsunion und Wirtschaftsreform, Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989 / 90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters / Daniel Hofmann, München 1998, Dok. 165B, S. 769. 13  Kohl in einem Brief an François Mitterrand, 23. Mai 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989  /  90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters  /  Daniel Hofmann, München 1998, S. 1143, und bei vielen weiteren Gelegenheiten.

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barkeit des „Modells Deutschland“. Seine „Erfolgsgeschichte“ schlug in Hybris um, und so wurden Gefährdungen und Herausforderungen unterschätzt und die Erfordernisse des Strukturwandels verkannt. Spätestens hier liefen die politisch-kulturelle Wahrnehmung und die so­ zial-ökonomische Verfasstheit des Ordnungsmodells auseinander. Während der achtziger Jahre waren Strukturprobleme der Bundesrepublik zwar artikuliert worden, aber nicht wirklich zu Gehör gekommen. In erster Linie waren es Ökonomen, die mangelnde Anpassungen an den weltwirtschaft­ lichen Wandel beklagten und Flexibilisierungen, Deregulierungen und Senkungen der Lohn(neben)kosten einforderten.14 Was den Sozialstaat als den Garanten sozialen Friedens betraf, so war der Kreis seiner Leistungen, der Anspruchstatbestände und der Berechtigten seit den späten fünfziger Jahren immer weiter gezogen worden. Eine „Entgrenzung der sozialen Dimension“ kritisierte der in seiner Partei weithin ungeliebte christdemokratische Programmatiker Kurt Biedenkopf. Er forderte mehr Eigenvorsorge und Risikoabsicherung der Einzelnen, um den Staat von Überbeanspruchungen zu entlasten.15 Als ein weiterer Gegenstand der Kritik kristallisierten sich in den achtziger Jahren die politischen Parteien heraus. Nach den Erfahrungen der destabilisierenden Wirkungen fundamentaler Parteienskepsis in der Weimarer Republik hatte die Bundesrepublik eine genau entgegengesetzte Entwicklung genommen. Legitimiert durch die affirmative Parteienstaatslehre im Gefolge des einflussreichen Staatsrechtlers Gerhard Leibholz, hatten die Parteien ihren Wirkungskreis und Einfluss immer weiter in die Gesellschaft hinein ausgedehnt. In den achtziger Jahren kamen Skandale um illegale Praktiken der Parteienfinanzierung hinzu. Als „überdehnt“ und vom Volk „abgekoppelt“ kritisierte der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis die Parteien mit einer berühmt gewordenen Formulierung.16 Zunehmend wurde überdies eine allgemeine „Schwerbeweglichkeit“17 der Politik in der bundesdeutschen 14  Vgl. Herbert Giersch  / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany. 2. Aufl., Cambridge 1994, v. a. S. 195–203; Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozial­ union, Stuttgart 1998, S. 69–94; Ludger Lindlar, Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997. 15  Kurt Biedenkopf, Soziale Marktwirtschaft in erneuter Bewährung, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. Mai 1989, Beilage „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland“, S. XIII. 16  Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt, in: Christian Graf von Krockow (Hrsg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem? Frankfurt a. M. 1983, S. 32. 17  Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 388.



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Konsensdemokratie beklagt. So „viele unterschiedliche retardierende Kräfte“ und einen Mangel an unkonventioneller Innovation in Gesellschaft und Politik beklagte Peter Glotz und verwies damit auf allgemeine Trägheiten des bundesdeutschen Gemeinwesens. In dieser Perspektive nahm sich die Bundesrepublik eher „hyperstabil“ aus.18 Keine Stabilität, sondern eine langfristig höchst kritische Veränderung zeichnete sich unterdessen in der demographischen Entwicklung ab. Im Zusammenhang des gesellschaftlich-kulturellen Wandels waren die Geburtenzahlen seit Mitte der sechziger Jahre stark zurückgegangen, und in Verbindung mit der zunehmenden Lebenserwartung alterte die Gesellschaft. Eine „Umstrukturierung des Sozialbudgets“ müsse in den kommenden zehn Jahren durchgesetzt werden, mahnte der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann 1989 an. „In spätestens zwanzig Jahren werden alle Spielräume durch das sich dramatisch verschlechternde Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern aufgezehrt werden“19 – es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis das Thema überhaupt (und dann nachgerade panikartig) in das Bewusstsein von Gesellschaft und Politik rückte. II. Globalisierung und Vereinigungskrise Eine Veränderung der Grundlagen der europäischen Nachkriegsgesellschaften war unterdessen bereits knapp zwei Jahrzehnte früher, zu Beginn der siebziger Jahre spürbar geworden. Sie kulminierte im Jahr 1973, das sich für die gesamte westliche Welt zu einem annus horribilis auswuchs. Am unmittelbarsten zu spüren waren die Unannehmlichkeiten im Bereich der ökonomischen Entwicklung mit dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und dem ersten Ölpreisschock. Mit stabilen Wechselkursen (und für die Bundesrepublik mit einer unterbewerteten D-Mark) und preiswertem Öl brachen zwei Pfeiler zusammen, die den Boom der Nachkriegsprosperität getragen hatten. Der durch die Ölkrise verstärkte Preisaufschwung verband sich mit einem Konjunkturabschwung sowie dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Trendwende weit über den konkreten Konjunktureinbruch hinaus: einem strukturellen gesamtwirtschaftlichen Übergang von hohen Wachstumsraten und Vollbeschäftigung zu Stagflation – hoher Inflation bei niedrigen oder gar negativen Wachstums18  Peter Glotz (Anm. 10), S. 143. Zur Analyse des gesamten Problemfeldes vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, bes. S. 208–222. 19  Franz-Xaver Kaufmann, Die soziale Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld / Hartmut Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949–1989, Bonn 1989, S. 308–325, Zitat S. 322.

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raten – und Arbeitslosigkeit, vom „goldene[n] Zeitalter“ zur „Ära der langfristigen Schwierigkeiten“.20 Und der Einschnitt beschränkte sich nicht nur auf das Ökonomische, sondern ging auch tief in die sozialkulturelle Entwicklung, die politische Kultur hinein: er markierte das Ende der allgemeinen Modernisierungsideologie. Ihr Symbol im Bereich der Politik war seit den späten sechziger Jahren die der Konjunkturplanung verschriebene, keynesianische „Globalsteuerung“. War ihr 1967 die schnelle Überwindung der Rezession zugerechnet worden, so zeigte sich Anfang der siebziger Jahre, dass die „Globalsteuerung“ der schweren Wirtschafts- und Währungsturbulenzen nicht Herr zu werden vermochte. Mit dem Umschlag von 1973 schwand auch der Glaube an die Steuerbarkeit des ökonomischen Systems und die dementsprechende Kompetenz des politisch-administrativen Systems überhaupt. Der ambitionierte Versuch der Politik- und Reformplanung ging ebenso zu Ende wie die hohe Zeit der (sozial-)wissenschaftlichen Politikberatung. Offenkundig griffen diese Instrumente der Modernisierungsideologie der sechziger Jahre mit ihrem Glauben an uneingeschränkte Machbarkeit und technokratische Zukunftsplanung nicht (mehr). Der Grund dafür lag nicht zuletzt in einem Strukturwandel unterhalb konjunktureller Ausschläge: der voranschreitenden Tertiarisierung und zugleich der Krise des Regimes fordistischer Massenproduktion, die sich in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Stil verbreitet hatte.21 Vor diesem Hintergrund konnte sich die zeitgenössische Rede von den „Grenzen des Wachstums“ entfalten, und jedenfalls gerieten die Grenzen der westlichen Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit in Sicht. Die Frage war, welche Konsequenzen die einzelnen Gesellschaften daraus zogen. Mit der Regierungsübernahme Margaret Thatchers in Großbritannien 1979 und dem Wahlsieg Ronald Reagans in den USA 1980 gingen die beiden angloamerikanischen Länder zu einer Politik über, die auf eine konsequente Freisetzung der Marktkräfte setzte, durch massive Steuersenkungen in den USA mit der Economic Recovery Tax Act 1981, durch eine monetaristische Anti-Inflationspolitik und Privatisierungen sowie unter harten Auseinandersetzung mit Gewerkschaften in Großbritannien, in beiden Fällen schließlich auf dem Wege einer Liberalisierung der Finanzmärkte. Wie Daniel T. Rodgers herausgestellt hat, etablierte sich in den amerikanischen Wirtschafts20  Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 20 und 24. Zum Folgenden auch Andreas Rödder (Anm. 6), S. 48–51, sowie Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 15–56. 21  Vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2011, S. 472–479.



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wissenschaften ebenso wie in der Wirtschaftspublizistik und im Wirtschaftsrecht ein naiver Glaube an den Markt im Zeichen eines mikroökonomischen Denkens, das sich ganz an rational choice, Spieltheorie und Wettbewerbsideologie orientierte.22 Ordnung durch die Kräfte des Marktes, war die Devise – im Gegensatz zum ordoliberalen Postulat der Ordnung für die Kräfte eines imperfekten Marktes. Im Lichte der Finanzkrise seit 2008 etablierte sich vor diesem Hintergrund ein neues öffentliches wie auch historiographisches Narrativ, das die Nachkriegszeit in zwei große Phasen einteilt: die des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses bis in die siebziger Jahre (mit positivem Tenor) und die des darauf folgenden „Neoliberalismus“ (als Verfallsgeschichte).23 Dieser normativ-melancholisch grundierten Auffassung steht freilich der Befund gegenüber, dass das Ende des Keynesianismus in den siebziger Jahren seine Gründe in der Sache hatte, weil sowohl die keynesianische Politik als auch die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten an ihren Grenzen angekommen waren und strukturell immer schlechter funktionierten. Und während in der Bundesrepublik der achtziger Jahre die Erfolgsgeschichte des „Modells Deutschland“ gefeiert wurde, schwanden seine Grundlagen: Mit einer zunehmenden Internationalisierung von Handel, Produktion und Kapitalverkehr, die wir seit den neunziger Jahren als „Globalisierung“ bezeichnen, erwuchs der deutschen Wirtschaft zunehmende internationale Konkurrenz, zumal die Schutzmechanismen des Weltwährungssystems von Bretton Woods seit 1973 endgültig entfallen waren. Die hohen Wachstumsraten der fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahre flachten ab, und mit dem industriellen Strukturwandel entfielen zunehmend die sogenannten „fordistischen“ Arbeitsplätze un- und angelernter Qualifikation in der standardisierten Massenproduktion (für die gerade erst millionenfach Gastarbeiter ins Land geholt worden waren). Dass in der Folge die seit den späten fünfziger Jahren so niedrige Arbeitslosigkeit sprunghaft anstieg, war einer der Gründe für die wachsenden Kosten des Sozialstaats, dessen Leistungen bis in die frühen siebziger Jahre in erheblichem Maße ausgebaut worden waren, während nun die Einnahmen zurückgingen – und die Staatsverschuldung wuchs. Unterdessen ging in der Bundesrepublik peu à peu auch die soziale Aufwärtsmobilität verloren, die das Land in seinen 22  Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge (Mass.) 2011, S. 62, 65, 67 f., 70, 74–76. 23  Vgl. Anselm-Doering Manteuffel  / Lutz Raphael (Anm. 20); die Beiträge von Göran Therborn und Geoff Eley unter dem Titel The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?, in: Journal of Modern European History 9 (2011 / 12). Vgl. dezidiert auch Colin Crouch, The Strange Non-death of Neo-liberalism, New York 2011, sowie Wolfgang Streeck, The Crisis of Democratic Capitalism, in: New Left Review 71, Sept. / Oct. 2011.

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Gründungsjahrzehnten beflügelt hatte, während einerseits das Modell der qualifizierten Erwerbstätigkeit verblasste, sich andererseits eine neue Unterschicht von Transferempfängern herausbildete, die man später „Prekariat“ nannte.24 So zeigt sich die sozialstaatliche Ordnung der Bundesrepublik in den achtziger Jahren geprägt von Haushaltskonsolidierung, der partiellen Rückführung von Sozialleistungen, einer stabilitätsorientierten Geldpolitik und ersten Privatisierungen staatlicher Unternehmen – und von versäumten Strukturanpassungen. Heute kaum mehr vorstellbar sind die kontroversen Dauerdebatten um den Ladenschluss, während Strukturanpassungen auf dem Arbeitsmarkt unterblieben. Dabei zielten marktliberale Kritiker auf mangelnde Flexibilisierungen und zu hohe Nebenkosten,25 während Werner Abelshauser insbesondere auf eine Schieflage des Qualifikationsprofils auf dem Arbeitsmarkt hinweist.26 Dort hatte die Verbreitung fordistischer Produktionsweisen seit den fünfziger und sechziger Jahren zu viel Angebot an- und ungelernter Qualifikationen erzeugt, während es an Arbeitskräften für diversifizierte Qualitätsproduktion – die klassische Stärke des deutschen Produktionsregimes – mangelte, mit der Folge von Massenarbeitslosigkeit und, in längerer Perspektive, Fachkräftemangel. Schließlich wurde auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme die Anpassung an den demographischen Wandel und den Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt versäumt – mit der Konsequenz, dass sich die Salden umzukehren begannen: Der „Ausbau des Sozialstaates seit den späten 50er Jahren fußte darauf, dass es sich um ein Plus-Summen-Spiel handelte, während die Realität des Sozialstaates seit den 1980er Jahren zunehmend bestenfalls zu einem Null-Summen-Spiel wurde.“27 In diese Situation, in der die politisch-kulturelle Wahrnehmung und die sozial-ökonomische Verfasstheit des „Modells Deutschland“ zunehmend auseinanderdrifteten, platzte dann die deutsche Wiedervereinigung hinein, deren Anforderungen, wie gesehen, massiv unterschätzt wurden, die Leistungskraft des „Modells Deutschland“ hingegen überschätzt, zumal die Selbstwahrnehmung der „Erfolgsgeschichte“ mit der Einführung bundesdeutscher Verhältnisse in der DDR auch die Erwartung eines zweiten „1948“, eines selbsttragenden Aufschwungs und eines neuen Wirtschafts24  Vgl. pointiert: Werner Plumpe, Das Problem des Neoliberalismus – oder die Krise des sozialstaatlichen Denkens, in: Günter Nonnenmacher  /  Andreas Rödder (Hrsg.), Eine neue Tendenzwende? Zur Gegenwartsdiagnose und Zeitkritik in Deutschland, Frankfurt (FAZ) 2010, S. 11 f. 25  Klassisch: Herbert Giersch  / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding (Anm. 14), v. a. S. 207–221 und 243–250. 26  Vgl. Werner Abelshauser (Anm. 21), S. 469–477. 27  Werner Plumpe (Anm. 24), S. 10.



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wunders verband. Das war die Kehrseite des „Modells Deutschland“ als selbstüberschätzende Fehlwahrnehmung, während es durch die Wiedervereinigung überlastet wurde. Mit den unerwartet hohen Kosten der Vereinigung stieg die Staatsverschuldung dramatisch an, und da die Kosten der Einheit zugleich über die sozialen Sicherungssysteme finanziert wurden, stiegen auch die Lohnnebenkosten, die dadurch wiederum Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung vermehrten und abermals höhere Lohnnebenkosten nach sich zogen – ein Teufelskreis des beitragsfinanzierten Sozialstaats, zu dem ein zweiter Problemkreis hinzukam: die Globalisierungskrise der „Deutschland AG“.28 Denn mit der nach 1990 verstärkt durchschlagenden Globalisierung drang zugleich das Unternehmenskonzept des shareholder value auch in Deutschland vor und bedrängte mit seinem Vorrang kurzfristiger Gewinninteressen der Anteilseigner den bankenfinanzierten „rheinischen Kapitalismus“ mit seiner eher langfristigen und zugleich tendenziell risiko­ aversen Ausrichtung von Unternehmenszielen. Mit einigem Zeitverzug, als die deutschen Schwierigkeiten nach der Wiedervereinigung sich nicht als vorübergehend, sondern als vermeintlich strukturell und dauerhaft herausstellten, setzte dann auch die politisch-kulturelle Reflexion ein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt das einstige Vorzeigemodell als Auslaufmodell, galt Deutschland als der kranke Mann Europas, ja dem Tod geweiht. In Deutschland schlug die Hybris der „Erfolgsgeschichte“ nahtlos in blanke Panik über den „Abstieg eines Superstars“ um: das „Methusalem-Komplott“ und die „Konsensfalle“ erstickten den nötigen „Mut zu Reformen“ – so die Titel auf den Tischen der Bahnhofsbuchhandlungen um 2005, allen voran Peter Hahne, der „Das Ende der Spaßgesellschaft“ ausrief: „Schluss mit lustig!“29 Und dann erstieg die „deformierte Gesellschaft“ wie Phoenix aus der Asche.

28  Vgl.

Werner Abelshauser (Anm. 21), S. 489–493. Aust / Claus Richter / Gabor Steingart, Der Fall Deutschland. Abstieg eines Superstars, München 2005; Gabor Steingart, Deutschland – Der Abstieg eines Superstars, München 2004; Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten? 2. Aufl., Berlin 2005; Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, München 2004; Thomas Darnstädt, Die Konsens-Falle. Wie das Grundgesetz Reformen blockiert, München 2004; Hans-Werner Sinn, Mut zu Reformen. 50 Denkanstöße für die Wirtschaftspolitik, München 2004; Meinhard Miegel, Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, Berlin 2004; Peter Strüven, Der Befreiungsschlag. Gesamtkonzept für Deutschlands Zukunft, Weinheim 2003; Roman Herzog, Wie der Ruck gelingt, München 2005; Peter Hahne, Schluss mit lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft, Lahr 2004. 29  Stefan

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III. Phoenix aus der Asche? Abermals verhielten sich der ökonomisch-soziale Zustand und die politisch-kulturelle Wahrnehmung zeitversetzt. Während die öffentliche Panik ausbrach, hatte ein vermeintlich unbewegliches System der Pfadabhängigkeit und der Veto-Spieler, der Systemkomplexität und der Handlungsblockaden30 Anpassungsleistungen erbracht, die kaum jemand für möglich gehalten hätte. Zweifellos brachten sie gerade im Bildungs- und Wissenschaftsbereich erhebliche Disfunktionalitäten mit sich, die zu einer Quantifizierung und Ökonomisierung vieler Gesellschafts- und Kulturbereiche führten und zugleich massive sozialtechnokratische Züge trugen.31 Zugleich aber verbesserten verschiedene Maßnahmen und Sozialreformen, von denen die Agenda 2010 nur ein Teil war, vor allem eine im internationalen Vergleich nunmehr sehr moderate Entwicklung der Lohnstückkosten die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, der nicht zuletzt mit der schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters einen großen Schritt zur Anpassung an den demographischen Wandel tat. Zugleich wurden Elemente des „Modells Deutschland“ gewahrt, die zuvor als rückständig gegolten hatten: der relativ hohe Industrialisierungsgrad wurde gerade in der Finanzkrise als großer Vorteil wiederentdeckt, und der Korporatismus ermöglichte im Konsens der Tarifpartner eine wettbewerbsfördernde Lohnzurückhaltung, während die Kurzarbeiterregelung 2009 die Bundesrepublik besser durch die Krise brachte als andere Länder. Und so war mit einem Mal das „Modell Deutschland“ wieder da – sozial-ökonomisch und politisch-kulturell, vor allem in der Ansicht des Auslands, gerade in der Finanzkrise seit 2008 und der EuroSchuldenkrise seit 2010. In historischer Dimension fügt dies der windungsreichen Geschichte der deutschen Lage in Europa ein weiteres Kapitel hinzu: hatte das Deutsche Reich nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870 / 71 und der Reichsgründung eine latente oder halbe Hegemonie eingenommen und diese Position durch die exzeptionelle Hochindustrialisierung in ökonomisch-technologischer Dimension noch einmal erheblich verstärkt, so wurde die Vormacht in der Mitte Europas im 20. Jahrhundert durch zwei Weltkriege fundamental geschlagen, reduziert und geschwächt und schließlich durch die Europäische Gemeinschaft eingehegt – vor allem durch die Montanunion im Bereich der Schwerindustrie und währungspolitisch schließlich durch den Euro; und nachdem das Land nach der Wiedervereinigung nicht, wie zunächst vielfach 30  Vgl.

dazu Andreas Wirsching (Anm. 18), v. a. S. 208–222. dazu meine Beiträge Eine neue Tendenzwende? sowie Zahl und Sinn, in: Günter Nonnenmacher / Andreas Rödder (Hrsg.), Eine neue Tendenzwende? Zur Gegenwartsdiagnose und Zeitkritik in Deutschland. Frankfurt (FAZ) 2010, S. 5–8 sowie 29–33. 31  Vgl.



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befürchtet, zur Vormacht geworden, sondern zum Krisenfall herabgesunken war –, ist es jetzt in aller Stärke wieder da, jedenfalls relativ. Denn die Strukturprobleme sind nicht gelöst, weder im Hinblick auf die demographische Entwicklung, noch im Hinblick auf den Sozialstaat noch im Hinblick auf die Staatsverschuldung. So ist oftmals die Vermutung zu vernehmen, dass die Rechnung – gemäß der Weisheit „there is no free lunch“ – noch folge. Die historische Erfahrung ist demgegenüber weniger eindeutig, sie identifiziert die Vorstellung vom „dicken Ende“ als eine topische Untergangsphantasie. Historisch gesehen gibt es den Zustand der ­uneingeschränkten Zukunftsfähigkeit faktisch kaum – und wenn es ihn in Deutschland je gegeben hat, dann in ökonomisch-technologischer Hinsicht im Kaiserreich. Aber auch da waren, vor allem in politisch-sozialer Hinsicht, die Strukturprobleme ja keineswegs gelöst, und die wilhelminische Ära endete im Ersten Weltkrieg. In historischer Perspektive stellt sich daher vielmehr der Faktor Zeit als entscheidende Kategorie heraus: statt einen gleichermaßen „reinen“ Zustand gilt es eher, überspitzt gesagt, ein paar gute Jahre zu gewinnen. Man kann monieren, dass dies keine Vollkostenrechnung sei und daher verantwortungslos. Aber die Geschichte bilanziert nicht nach kaufmännischen Regeln, sondern sie setzt vielmehr immer wieder unerwartete Positionen auf die Bilanz. Auch vor diesem Hintergrund mahnt die historische Erfahrung vor eindimensionalen Untergangsphantasien ebenso wie vor blindem Optimismus – zumal uns die Erfahrung mit der deutschen „Erfolgsgeschichte“ ein Weiteres lehrt: wenn nämlich die politisch-kulturelle Wahrnehmung der ökonomisch-sozialen Verfasstheit nachzulaufen pflegt, dann ist gerade angesichts der gegenwärtigen Hochkonjunktur in der Rede vom „Modell Deutschland“ besondere Vorsicht in der Sache geboten.

Die demographischen Herausforderungen sind eine Chance für unsere Gesellschaft Von Axel Börsch-Supan Nach den Vorträgen von Andreas Rödder und Werner Plumpe, die sich mit der fast unglaublichen Erfolgsgeschichte der deutschen Wirtschaft bis zur Gegenwart beschäftigt haben, schaut dieser Beitrag in die Zukunft und widmet sich den Herausforderungen, denen wir uns durch den massiven demographischen Wandel der nächsten zwei bis drei Dekaden stellen müssen. Der demographische Wandel in Deutschland hat drei Gründe. Zum einen fand in den 70er Jahren ein drastischer Übergang vom Babyboom zum so genannten Pillenknick statt. Seitdem ist die Jahrgangsstärke nur noch halb so groß wie im Höhepunkt des Babybooms 1963. Zum zweiten streckt sich der Bevölkerungsaufbau durch die zunehmende Lebenserwartung: Seit den 50er Jahren ist die Lebenserwartung mehr als zehn Jahre gestiegen. Drittens und schließlich ist kein Ende der niedrigen Geburtenrate abzusehen. Eine Geburtenrate von etwa 1,3 Kindern pro Ehepaar bedeutet, dass die Folgegeneration ungefähr ein Drittel so groß ist wie ihre Vorgängerin. Auf Dauer wird Deutschland also erheblich schrumpfen, allerdings erst nachdem der Babyboom in den 2030er und 2040er Jahren verstorben ist. Bis dahin wird der demographische Wandel im Wesentlichen eine massive Strukturverschiebung bei ungefähr gleicher Bevölkerungszahl sein. Das bedeutet, dass wir in den nächsten Jahren mehr Rentner aber weniger Beitragszahler für die Rentenversicherung haben, mehr Menschen, die ärztliche Leistungen aus Altersgründen in Anspruch nehmen müssen, gleichzeitig aber auch weniger Menschen, die in die Krankenversicherung einzahlen. Es wird weniger Erwerbstätige geben, die Güter und Dienstleistungen produzieren, aber gleich viele Konsumenten, und es wird in etwa 10 bis 20 Jahren eine Menge Menschen geben, die Vermögensgegenstände wie Aktien und Häuser verkaufen, aber deutlich weniger, die diese kaufen wollen. Deutschland steht mit dieser Entwicklung nicht alleine da. Es zeichnet sich aber dadurch aus, dass der Babyboom in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist. Dies gilt auch für die Niederlande, Österreich und die Schweiz. In Frankreich dagegen, in Schweden, Dänemark und den Vereinig-

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ten Staaten, gab es nur einen relativ schwachen Babyboom, kaum einen säkularen Rückgang der Geburtenrate, dafür aber eine ähnlich ausgeprägte Erhöhung der Lebenserwartung. Die Alterung in diesen Ländern hat also einen ganz anderen Ursachenmix als in Deutschland. Schließlich ist bei den mediterranen Ländern schon seit langem die Geburtenrate extrem niedrig. Diese Länder haben daher schon jetzt einen sehr hohen Anteil älterer Mitbürger. Demographie ist also nicht gleich Demographie, und wir werden sehen, dass die Ursachenanalyse – welche der drei Ursachen ist die dominante? – sehr wichtig für den optimalen Politikmix zur Bewältigung der Herausforderung des demographischen Wandels ist. In Deutschland wird der demographische Wandel dazu führen, dass es im Jahr 2030 etwa 7 Millionen weniger Erwerbstätige geben wird als derzeit. Wenn die produktive Kraft einer Nation sinkt, die nun einmal wesentlich von der Zahl der Erwerbstätigen abhängt, das Konsumverlangen aber im Großen und Ganzen gleich bleibt, da es im Wesentlichen von der Bevölkerungsgröße abhängt, bedeutet dies, dass der Lebensstandard, den wir derzeit erreicht haben, nicht so einfach gehalten werden kann. Der Verlust von 7 Millionen Erwerbstätigen übersetzt sich bei gleicher Produktivität und sonstigen gleichen ökonomischen Umständen in ein um 16 % niedriger liegendes Bruttosozialprodukt pro Kopf. Relativ zu den Ländern, die nicht altern, verlören wir also ungefähr ein Sechstel unseres Lebensstandards, wenn sich an unserer Wirtschaftsstruktur nichts ändert. Die Alterung unserer Bevölkerung ist also vor allem ein tief liegendes makroökonomisches Problem. Es äußert sich besonders deutlich in zwei Symptomen: Zum einen in den stetig steigenden Rentenausgaben, die als heutiges Versprechen zukünftiger Leistungen des Staates eine implizite Staatsschuld generieren. Zum zweiten in der Erwartung steigender expliziter Staatsschulden, da ein Teil dieser Rentenausgaben, so wird befürchtet, durch Schulden finanziert werden muss. Das beunruhigt die Finanzmärkte. Insofern hängt die Demographie über die Rentenausgaben stark mit der derzeitigen Finanzkrise zusammen, insbesondere in den mediterranen Ländern, in denen eine ohnehin hohe explizite Staatsverschuldung durch die immense implizite Verschuldung noch weit in den Schatten gestellt wird. Die fehlenden oder unglaubwürdigen Rentenreformen in den mediterranen Ländern sind ein wichtiger Grund für die schlechte Einstufung dieser Länder durch die bekannten Ratingagenturen. Konkret: Das Land mit den derzeit höchsten Rentenausgaben als Anteil des Bruttoinlandsproduktes ist Italien. Dank der Rentenreformen der Dini- und Monti-Regierungen können die Rentenausgaben jedoch ab 2040 stabilisiert werden. In Griechenland dagegen steigen die Rentenausgaben ungebrochen an, bis sie im Jahre 2050 ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes verschlingen wer-



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den, sollte es Griechenland nicht doch noch gelingen, sein Rentensystem zu reformieren, wie es in der bis jetzt nicht umgesetzten Rentenreform von 2010 eigentlich vorgesehen war. Dies ist der bekannte graue Hintergrund, aufgrund dessen der demographische Wandel zu aller erst als Bedrohung angesehen wird. Dies drückt sich auch in der bis jüngst verwendeten Wortwahl „Alterslastquotient“ als eine der Schlüsselstatistiken des demographischen Wandels aus, aber auch in dem immer wieder beschworenen Zusammenbruch der Sozialsysteme als düstere Zukunftsaussicht. Nicht viel besser ist die Wortwahl bei der Diskussion über unser Gesundheitssystem, die überwiegend unter dem Gesichtspunkt eines „Kostenfaktors“ geführt werden. Dies muss nicht so sein. Meine Gegenposition dazu ist, dass die durch die Erhöhung der Lebenserwartung gewonnenen Jahre dank des medizinischen Fortschritts im Wesentlichen gesund verbracht werden, dass diese gewonnenen Jahre also eine wertvolle Ressource sind, die eine höhere Erwerbstätigkeit ohne allzu große Einbußen an Lebensqualität ermöglichen kann. Diese höhere Erwerbstätigkeit wiederum kann das Bedrohungspotential des demographischen Wandels zu einem großen Teil abfangen. In einer der Ursachen des demographischen Wandels, der Langlebigkeit, liegt also auch die größte Chance des demographischen Wandels. Dies lässt sich in der folgenden Abbildung sehen. Hier sind verschiedene Szenarien der Erwerbstätigenentwicklung abgebildet; zunächst ganz unten der Status Quo, also die Entwicklung, wenn die heutigen altersspezifischen Erwerbsquoten auch in Zukunft so bleiben. Im Gegensatz dazu zeigt die Abbildung auch, wie sich die Anzahl der Erwerbstätigen entwickeln würde, wenn Deutschland in allen Altersstufen die höchste Erwerbsquote im europäischen Raum hätte („Best Case“, mit Kreuzen bezeichnet). Selbst bei einem so dramatischen Anstieg der Erwerbsquoten ergäbe sich dennoch langfristig ein Rückgang der Erwerbstätigen, allerdings erheblich gemildert im Vergleich zum Status quo. Nur unwesentlich geringer würde die Anzahl der Erwerbstätigen ausfallen, wenn wir in Deutschland die gegenwärtigen Erwerbsquoten unserer dänischen Nachbarn erreichen würden (mit Kreisen bezeichnet). Die Dreiecke zeigen schließlich, was passieren würde, wenn die berühmte und mittlerweile etwas in Verruf gekommene Agenda 2010 immerhin zur Hälfte umgesetzt würde. Nach diesem Szenario würden uns im Jahre 2030 nur 2,1 Millionen Erwerbstätige fehlen, also deutlich weniger als im Szenario des Status quo. Wiederum lassen sich diese Erwerbstätigenzahlen in unseren Lebensstandard übersetzen. Eine halbierte Agenda 2010 würde uns dennoch einen um 8,5 % höheren Lebensstandard bescheren, als wenn wir in der Erwerbstätig-

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Quelle: A. Börsch-Supan / C. Wilke (2009), Zur mittel- und langfristigen Erwerbstätigkeit in Deutschland, Zeitschrift für Arbeitsmarkt Forschung, Vol. 42, No. 1, 29–48.

Abbildung 1: Prognose der Anzahl der Erwerbstätigen, 2010–2050 (Millionen)

keit den Status quo beibehalten. Sollten wir die Erwerbsquote gar auf das derzeitige dänische Niveau erhöhen, wäre der Lebensstandard um 12,5 % höher als im Status quo. Verglichen mit dem 16 prozentigen Niedergang des Lebensstandards beim Status quo könnte also eine Angleichung der deutschen an die derzeitigen dänischen Arbeitsverhältnisse den Großteil der negativen Auswirkungen des demographischen Wandels auffangen. Wichtig ist: Der Großteil höherer Erwerbsquoten bezieht sich auf ältere Menschen, der geringere Anteil auf eine Erhöhung der in Deutschland noch immer niedrige Frauenerwerbsquote und einen früheren Berufseinstieg. Auf diese Argumentation vor allem der zentralen Rolle einer höheren Erwerbsbeteiligung im Alter folgt schnell eine ganze Batterie von Gegengründen. Es sei zum Beispiel unmöglich: Deutschland werde es nie schaffen, die Erwerbsquote auf ein so hohes Niveau zu heben. Etwas subtiler ist der Gegengrund, ältere Menschen seien in der Regel physisch oder mental so krank und abgearbeitet, dass sie gar nicht weiter arbeiten könnten. Noch subtiler ist der Gegengrund, dass es ineffizient sei, ältere Menschen zu beschäftigen, weil sie im Wesentlichen unproduktiv wären. Oft werden auch moralische Gegengründe aufgeführt, etwa die weit verbreitete Auffassung, dass ältere Menschen den jüngeren die Jobs wegnehmen würden, so dass eine stärkere Arbeitsbeteiligung älterer Menschen verpuffen würde, weil nur



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die Arbeitslosigkeit jüngerer zunähme. Schließlich gibt es den ganz banalen Gegengrund, dass Arbeit nur in seltenen Fällen mit großer Freude verbunden sei, sondern ein notwendiges Übel, das man sich lieber ersparen möchte. Lassen Sie mich im Folgenden diese Gegengründe falsifizieren bzw. letzteren relativieren. Gegengrund Nr. 1: Dass eine höhere Erwerbsbeschäftigung Älterer unmöglich wäre, ist schlichtweg falsch. Es ging ja auch in Deutschland schon! Kaum vorstellbar ist in diesen Zeiten, dass bis in die Mitte der 70er Jahre über 70 % der 60–64-jährigen Männer noch gearbeitet hat – heute sind es keine 40 % mehr. Was früher unter erheblich härteren Arbeitsbedingungen möglich war, sollte auch heute möglich sein. Dieses Gegenargument erweist sich auch im internationalen Vergleich als falsch: wir hatten das Gegenbeispiel Dänemark ja schon des Öfteren zitiert. Im Übrigen ist es auch nicht richtig, dass die sinkende Erwerbsbeteiligung ein unvermeidbares Produkt des säkularen Reichtums ist, die uns die lange Friedenszeit seit dem 2. Weltkrieg beschert hat. Denn weder in Schweden noch in Japan noch in den Vereinigten Staaten ist die Erwerbsbeteiligung auch nur annähernd so massiv gesunken wie im zentralen und südlichen Kontinentaleuropa. Der etwas subtilere Gegengrund, dass es ältere Menschen in der Regel nicht mehr möglich ist, zu arbeiten, weil sie physisch oder mental krank sind, ist – man muss sagen: glücklicherweise – auch nicht korrekt. Die Daten des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) geben ein klares Bild: 78 % der Menschen im Alter von 60 Jahren schätzen ihren Gesundheitszustand als gut, sehr gut oder exzellent ein. Zehn Jahre älter sind es immer noch über 73 %. Auch etwas objektiver gemessen an der, wie man nüchtern sagt, Funktionsfähigkeit (ob z. B. ein Mensch 100 Meter gehen, 2 Stunden lang sitzen, oder einen Treppenabsatz hinaufgehen kann) zeigt sich ein ähnliches Bild: Etwa 65 % der 60-Jährigen hat keinerlei Einschränkung der Funktionsfähigkeit, im Alter von 69 sind es noch 61 %. Noch etwas objektiver können unsere SHARE-Daten die Gesundheit durch Maßzahlen wie der Greifkraft messen. Wiederum ergibt sich das gleiche Bild. Zwar ist der durchschnittliche Greifkraftwert niedriger für die 69-Jährigen im Vergleich zu den 60-Jährigen, aber der Unterschied über diese zehn Jahre ist erheblich geringer als die Bandbreite innerhalb jeder Alterskategorie. Wichtig ist also, dass wir lernen, unser Altersbild den geänderten Umständen anzupassen. Im Gegensatz zu den Generationen unserer Eltern und Großeltern sind die heute älteren Menschen wesentlich gesünder und zum Teil auch deswegen produktiver, als sie es sich vorstellen. Auch der dritte Gegengrund „Ältere Menschen sind weniger produktiv“ erweist sich als falsch. Zwar nehmen die kognitiven Leistungen und die physische Kraft mit zunehmendem Alter stark ab (und dies schon seit einem relativ frühen Alter!), dafür nimmt das Erfahrungswissen der Menschen

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weiter zu, wenn auch vielleicht im Alter nicht mehr mit der Geschwindigkeit wie in jungen Jahren. Diese gegenläufigen Entwicklungen ergeben zusammen erst die Produktivität. In einer großen Studie hat das Munich Center for the Economics of Aging (MEA) am Fließband eines LKWMontagewerks die Produktivität der Arbeiter sehr präzise durch die Anzahl und Schwere ihrer Fehler messen können, während die Produkte als solche und die Zeit, in der sie montiert wurden, fest durch den Fließbandablauf vorgegeben wurden. Zu unserer großen Überraschung konnten wir feststellen, dass die mit der Schwere gewogenen Fehler mit dem Alter eher leicht abnehmen als, wie man es vermuten könnte, zugenommen hätte, die Produktivität mit dem Alter also steigt! Dies liegt, wie Detailanalysen zeigen, im Wesentlichen daran, dass ältere Mitarbeiter weniger katastrophale Fehler machen, zwar öfter einmal leichter patzen, in schwierigen Situationen aber einen kühlen Kopf bewahren – wohl auch deswegen, weil die typischen Fehler ihnen allen schon bekannt sind und sie daher rechtzeitig eingreifen können. Ähnliche Studien in der chemischen Industrie und der Versicherungsbranche sind weniger trendscharf, lassen aber auch keine sinkende Produktivität im Alter erkennen. Mit großer moralischer Vehemenz wird der Gegengrund vorgetragen, dass ältere Menschen den jüngeren die Arbeitsplätze wegnähmen. Wenn dem so wäre, müsste der Zusammenhang zwischen dem Anteil der Menschen, die schon in Frührente gegangen sind, die also den Jüngeren Platz gemacht haben, und der Arbeitslosigkeit der jüngeren Menschen negativ sein: Bei hoher Frühverrentung gäbe es eine geringere Arbeitslosigkeit, während bei einer hohen Beschäftigungsquote Älterer die Arbeitsplätze für Jüngere belegt und daher die Arbeitslosigkeit hoch sei. Tatsächlich ist das krasse Gegenteil der Fall. In denjenigen Ländern, in denen die Frühverrentung sehr stark ausgeprägt ist, herrscht auch hohe Jugendarbeitslosigkeit und umgekehrt. Der ökonomische Grund ist einfach zu finden: Frühverrentung ist teuer. Dies erhöht die Lohnnebenkosten für die jüngeren Arbeitnehmer, was die Arbeitgeber wiederum davon abhält, sie überhaupt erst einzustellen. Was soll ich als Professor in einem höchst privilegierten Institut schließlich zum letzten Gegengrund „Arbeit macht einfach keinen Spaß“ sagen? Wer jahrelang an der Kasse bei Lidl sitzt oder am Fließband schuftet, hat eine andere Sicht der Rente mit 67 als Professoren, die ihr Hobby zum Beruf machen durften. Bei zweitem Hinsehen ist die Argumentation jedoch nicht mehr ganz so schlüssig. Zum einen wird die Rente mit 67 im Wesentlichen als eine Verlängerung der Arbeitszeit um zwei Jahre aufgefasst mit dem impliziten Verständnis, dass dadurch die Rentenzeit um zwei Jahre verkürzt werden soll. Dies ist jedoch falsch. Tatsächlich wird sich die Lebenserwartung bis 2029, wenn die Rente mit 67 komplett eingeführt sein wird, um etwa drei



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Jahre erhöhen. Es ist also richtig, dass sich die Arbeitszeit um zwei Jahre verlängert, aber falsch, dass es von der Rentenbezugszeit abgezogen wird, ganz im Gegenteil. Diese wird sich um ein weiteres Jahr verlängern, so dass die Menschen, die mit 67 Jahren in Rente gehen, eine längere Rentenbezugszeit haben werden als die augenblicklichen Arbeitnehmer, die mit 65 in Rente gehen. Zum anderen hat eine Vielzahl von Untersuchungen mittlerweile gezeigt, dass der Eintritt in eine Frührente nicht nur mit positiven Erlebnissen verbunden ist. Insbesondere sinken die kognitiven Leistungen sehr schnell nach dem Verlassen einer Beschäftigung. Die folgende Abbildung zeigt, wie die kognitiven Leistungen im Durchschnitt eines Landes niedriger sind, wenn der Anteil der Frührentner in diesem Land besonders hoch ist. Diese überraschende Korrelation kann viele Gründe haben. Durch eine Vielzahl von Untersuchungen hat man jedoch mittlerweile eine in sich konsistente Kausalkette ableiten können: Diejenigen, die innerhalb der letzten fünf Jahre in Ruhestand gegangen sind, sind etwa ein Jahr schneller kognitiv gealtert als ihre noch arbeitenden Kollegen (darunter fallen auch ehrenamt­ liche Tätigkeiten!). Insbesondere ist ihr Erinnerungsvermögen schlechter sowie die Geschwindigkeit, mit der sie typische Testaufgaben meistern können.

Quelle: Susann Rohwedder / Robert Willis (2010), „Mental Retirement.“ Journal of Economic Perspectives, 24(1): 119–138.

Abbildung 2: Cognition by Percent Not Working for Pay, 60–64 Year-Old Men and Woman, Weighted

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Im Übrigen zeigt sich auch, dass die Lebenszufriedenheit nach einer Frühverrentung nur kurzzeitig ansteigt. Zwar ist die Lebenszufriedenheit schon ein Jahr vor der Frühverrentung höher, offensichtlich aus Vorfreude, bleibt auch auf hohem Niveau für ein weiteres Jahr, sinkt dann aber schneller ab als bei den Kolleginnen und Kollegen, die später in Rente gegangen sind, selbst wenn man berücksichtigt, dass Frührentner oft weniger gesund sind als normale Rentner. Diese Ergebnisse lassen sich dadurch erklären, dass die soziale Verbundenheit nach dem Eintritt in die Frührente schneller auseinander bricht als bei denen, die noch etwas arbeiten. Arbeit, auch ehrenamtliche, ist ein Anker des sozialen Lebens, das stimulierend wirkt und von daher sowohl die kognitiven Leistungen als auch die Lebenszufriedenheit erhöht. Meine Quintessenz ist also klar: Der demographische Wandel eröffnet große Chancen für die Gesellschaft und bietet nicht nur ein graues Bild. Die gewonnenen Jahre sind eine Ressource für qualitativen wie quantitativen Wohlstand und daher ein Grund für Optimismus. Die kluge Verwendung dieser Ressource wird sich aber nicht automatisch ergeben, sondern erfordert Anpassungen in unserem Verhalten, insbesondere unserer Erwerbsbeteiligung. Dabei sind wir auf einem guten Wege: Die Rente mit 67 erhöht die Arbeitsbeteiligung in einer Art und Weise, wie sie die Dänen derzeit schon haben. Sie ist ein hervorragender Mechanismus, große Teile der Alterung abzufangen und auch ein natürlicher deswegen, weil sie Einklang mit der Verlängerung der Lebenszeit steht. Ich selber hätte mir einen Automatismus gewünscht, nach der für 3 Jahre zusätzliche Lebenserwartung die Rente um 1 Jahr länger bezogen werden kann, dafür aber 2 Jahre länger gearbeitet werden muss. Ein solcher Automatismus hätte die Einführung der Rente mit 67 eleganter lösen können. Nichts desto trotz macht die Rente mit 67 dies; was dann nach 2029 passieren wird, steht auf einem anderen Blatt. Wichtig ist, dass die Einführung der Rente mit 67 konsequent durchgehalten wird. Dazu ist es wichtig, dass Rentenpolitik als Arbeitsmarkts- und Wachstumspolitik verstanden wird, und nicht als negative Sozialpolitik. Das Renteneintrittsalter sollte wie eben vorgeschlagen automatisiert werden, die Zu- und Abschläge auf ein versicherungsmathematisch korrektes Niveau angepasst werden. Arbeits- und Gesundheitspolitik sollte nicht primär als Kostenfaktor sondern als Arbeitsmarkt- und Wachstumspolitik dienen, denn gesunde Menschen haben nicht nur eine hohe Lebensqualität, sondern können in vernünftigen Maßen auch länger arbeiten und damit zu unserem Wohlstand beitragen. All dies benötigt begleitende Maßnahmen am Arbeitsplatz: Mehr Weiterbildung und eine angepasste Arbeitsplatzgestaltung, keine Diskriminierung älterer Arbeitnehmer und natürlich gesundheitliche Prävention, damit die gewonnenen Jahre auch genossen werden können. Nichts davon ist Zauberei; für alle diese Maßnahmen gibt es internationale Vorbilder. Wenn wir nur wollen, ist der Optimismus gut begründet.

Das Energiekonzept der Bundesregierung Einige Betrachtungen aus langfristiger Perspektive Von Marc Oliver Bettzüge Im September 2010 hat die Bundesregierung, wie im Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2009 vereinbart1, ein langfristiges, bis zum Jahr 2050 reichendes Energiekonzept für Deutschland verabschiedet.2 Aufgrund der Ereignisse in Fukushima und deren Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit hat die Bundesregierung im Frühsommer 2011 dieses Energiekonzept in denjenigen Teilen verändert, die die Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke betreffen.3 Da diese auch gemäß Energiekonzept 2010 im Jahre 2050 vollständig abgeschaltet gewesen wären, betreffen diese Änderungen allerdings nur die Gestaltung der Übergangsphase, vor allem in den Jahren bis 2025, nicht aber die Vorstellungen für das langfristige „Zieljahr“ 2050. Das Energiekonzept sieht Zielwerte für die Höhe des Energieverbrauchs und seines Verhältnisses zur Wirtschaftsleistung (Energieeffizienz) sowie der Struktur des Energiemix vor. Wesentliches Leitmotiv bei der Festlegung dieser Zielwerte war die Minderung der in Deutschland emittierten energiebedingten Treibhausgase um mindestens 80 % gegenüber dem Referenzjahr 1990 bis zum Jahr 2050, wobei gemäß der politischen Beschlusslage die Option einer langfristigen Nutzung der weitgehend CO2-freien Kernenergie nicht berücksichtigt werden soll. Die im Energiekonzept formulierten Ziele sind vielfach als außerordentlich anspruchsvoll bezeichnet worden, gerade auch mit Blick auf den Charakter Deutschlands als verhältnismäßig dicht besiedelten Industrielands. 1  Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP, 26.10.2009, online: www.cdu.de / doc / pdfc / 091026-koalitionsvertrag-cducsufdp.pdf (20.08.2012). 2  Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung, 28.09.2010, online: www.bundesregierung.de / Content / DE / _Anlagen /  2012 / 02 / energiekonzept-final.pdf (20.08.2012). 3  Der Weg zur Energie der Zukunft – sicher, bezahlbar und umweltfreundlich, 06.06.2011, online: http: /  / www.bmu.de / energiewende / beschluesse_und_massnahmen /  doc / 47465.php (20.08.2012).

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Marc Oliver Bettzüge

Nachfolgend soll das gegenwärtig gültige deutsche Energiekonzept aus einer übergeordneten und langfristigen Perspektive schlaglichtartig beleuchtet und eingeordnet werden. Aufbauend darauf soll argumentiert werden, dass gerade die für das Energiekonzept 2010 / 11 der Bundesregierung charakteristischen Zielsetzungen zwingend erfordern, das deutsche Energiekonzept in eine umfassende, gemeinsame europäische Energiestrategie einzubetten. I. Einleitung und Hintergrund Energieverbrauch und materieller Wohlstand stehen in doppelter Hinsicht in einer engen Beziehung zueinander. So weisen Länder mit hohem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf auch einen hohen Energieverbrauch pro Kopf auf, wohingegen Länder mit einem geringeren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in aller Regel auch weniger Energie pro Kopf verbrauchen. Ebenso lässt sich beobachten, dass das Wachstum des materiellen Wohlstands einer Volkswirtschaft in der Regel auch mit einem Wachstum des Energieverbrauchs dieser Volkswirtschaft einhergeht. Sowohl im Quer- als auch im Längsschnitt ist dieser Zusammenhang linear4 mit einer Rate etwas kleiner als 1. Dabei ist zu betonen, dass die Korrelation der Größen über die Kausalität noch keine Aussage zulässt, und dass in der empirischen Literatur teils widersprüch­ liche Ergebnisse über die Richtung der Kausalität gefunden worden sind.5 Das Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt zu Energieverbrauch wird h ­ äufig als „Energieproduktivität“ oder „Energieeffizienz“ bezeichnet. Im Längsschnitt wird daher die Differenz der beiden jeweiligen Wachstumsraten meist als „Steigerung der Energieproduktivität / Energieeffizienz“ oder „Verringerung der Energieintensität“ bezeichnet. Typische, in der Vergangenheit zu beobachtende Raten der Steigerung der Energieproduktivität lagen etwa zwischen 1 und 2 Prozent per annum. Wenn der materielle Wohlstand, gemessen als Bruttoinlandsprodukt, um 2 Prozent per annum gewachsen ist, ist der entsprechende Energieverbrauch dementsprechend nur um etwa 0 bis 1 Prozent per annum angestiegen. Man kann also von einer ständigen (relativen) Entkopplung von Wohlstand und Energieverbrauch sprechen, die offenbar vor allem durch Fortschritt bei Technologien und im Kapitalstock getrieben wird.6 Angesichts von jährlichen Wachstumsraten der Weltwirt4  Bei doppelter Logarithmierung der Pro-Kopf-Werte. Vgl. The World Bank Data. Energy Use, online: http: /  / data.worldbank.org / indicator / EG.USE.PCAP.KG. OE (20.08.2012). 5  Für eine umfassende Übersicht vgl. Ilhan Ozturk, A literature survey on energygrowth nexus, in: Energy Policy, 38 (2010), S. 340–349. 6  The World Bank Data. GDP per Unit of Energy Use, online: data.worldbank. org / indicator / EG.GDP.PUSE.KO.PP.KD (20.08.2012), eigene Berechnung.



Das Energiekonzept der Bundesregierung

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90 80 70 60

Biomasse Erneuerbare

50

Kernenergie

40

Kohle Erdgas

30

Mineralöl

20 10 0

1970

1990

2010

2030e

Angaben in Gigajoule (GJ) pro Kopf. Für 1970 keine Angabe traditioneller Biomassenutzung. Quelle: BP (2011), IEA (2011).

Abbildung 1: Primärenergieverbrauch weltweit, GJ pro Kopf

schaft zwischen 2 und 4 Prozent seit 19957 hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten trotz der (relativen) Entkopplung dementsprechend ein jährliches Wachstum des weltweiten Energieverbrauchs ergeben. Derzeit hat die Welt einen Energieverbrauch von rund 514 EJ.8 Umgerechnet bedeutet dies für jeden derzeit lebenden Menschen einen Energieverbrauch von knapp 80 GJ / Kopf (vgl. Abbildung 1). Zum Vergleich: ein Mensch kann mit körperlicher Anstrengung in einem Jahr etwa 1 GJ Arbeit verrichten, sprich: die Menschheit hat derzeit einen Energieverbrauch, der einer Situation entspräche, in der jeder Erdenbürger über rund 80 Bedienstete verfügen würde, die für ihn körperliche Arbeit verrichteten. Der aus Energieumwandlung bezogene materielle Wohlstand der Welt ist seit dem Jahr 1970 (und in der Tat seit der industriellen Revolution) beständig, allerdings mit abnehmender Rate gewachsen.9 Allgemein wird erwartet, dass wegen der hohen langfristigen Wachstumsdynamik in der Welt – vor allem 7  Mit der Ausnahme der Krisenjahre 2001, 2008 und 2009. The World Bank Data. GDP Growth, online: data.worldbank.org / indicator / NY.GDP.MKTP.KD.ZG (20.08.2012). 8  BP Statistical Review of World Energy, London 2012. 9  Vgl. The World Bank (Anm. 7).

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Marc Oliver Bettzüge

aufgrund der nachholenden Industrialisierung einer zunehmenden Zahl von Schwellen- und Entwicklungsländern – auch der Energieverbrauch der Welt weiter steigen und im Jahr 2030 etwas mehr als 80 GJ pro Kopf betragen wird. Bei einer um etwa 15 Prozent auf vielleicht rund 8 Milliarden Menschen gewachsenen Weltbevölkerung würde dies einem absoluten Anstieg des Energieverbrauchs auf rund 680 EJ entsprechen.10 Die Menschheit bezieht diese Energie derzeit zu weit überwiegendem Teil aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe, insbesondere von Mineralöl, Kohle und natürlichem Erdgas. Die Verbrennung fossiler Energieträger zum Zwecke der Energieumwandlung geht mit dem Ausstoß von Emissionen einher, von denen insbesondere die Emissionen des Treibhausgases CO2 besondere Aufmerksamkeit erfahren. Die sogenannten energiebedingten CO2-Emissionen betragen derzeit (2010) rund 31,8 Gt CO2, wobei die jährlichen Wachstumsraten regelmäßig 3 Prozent überschreiten.11 Die Fortsetzung dieser Entwicklung bis in die Mitte dieses Jahrhunderts wird laut klimawissenschaftlichen Modellen erhebliche Auswirkungen auf die Veränderung des Weltklimas haben.12 Bei aller Unsicherheit über das genaue Maß und die genaue Qualität dieser Auswirkungen sowie deren wirtschaftliche und so­ ziale Bewertung13 besteht jedoch Konsens, dass eine aktive CO2-Vermeidungsstrategie für die Weltgemeinschaft anzustreben sei. Im politischen Diskurs wird dabei als Zielgröße gesetzt, die Erhöhung der durchschnitt­ lichen Temperatur auf der Erde auf 2 °C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen.14 Konkrete Maßnahmen, um Ziele wie die 2 °C-Obergrenze zu erreichen, sind in unterschiedlicher Form denkbar.15 Vor dem Hintergrund des aktuell 10  International Energy Agency, World Energy Outlook. New Policies Scenario, Paris 2011. 11  Energy Information Administration, International Energy Statistics, online: http: /  / www.eia.gov / countries / data.cfm (20.08.2012). 12  Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), Climate Change 2007: Synthesis Report, Valencia 2007. 13  Vgl. IPCC (Anm. 12); Richard S. J. Tol, The Economic Effects of Climate Change, in: Journal of Economic Perspectives, 23 (2009) 2, S. 29–51; William Nordhaus, Estimates of the Social Cost of Carbon, Cowles Foundation Discussion Paper Nr. 1826, New Haven 2011. 14  Vgl. z. B. die entsprechenden Erklärungen der G20 sowie die Abschlusserklärungen der Klimakonferenzen von Copenhagen (2009) und Durban (2011). 15  Grundsätzlich lassen sie sich einteilen in Maßnahmen, die bereits in der Atmosphäre enthaltene Klimagase binden und somit die Senken entlasten, und Maßnahmen, die die Neuemission weiterer Mengen klimawirksamer Gase einschränken. Erstere laufen auf eine Kohlenstoffbindung durch Aufbau von Biomasse hinaus, zum Beispiel durch Aufforstung, Letztere werden üblicherweise weiter untergliedert in Maßnahmen, die CO2-Emissionen aus Energienutzung und Industrie reduzieren,



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starken Anstiegs der globalen Emissionen klimawirksamer Gase, insbesondere CO2, beschränkt sich allerdings der Zeitraum für erfolgversprechendes „Gegensteuern“ im Sinne des 2 °C-Ziels auf wenige Jahre.16 Da die Begrenzung der Konzentration von Treibhausgasen in der Erdatmosphäre ein globales öffentliches Gut darstellt, erfordert ein solches Gegensteuern für seinen Erfolg ein verbindliches internationales Abkommen, welches die Menge der in der Atmosphäre ausgestoßenen Treibhausgase wirksam beschränkt.17 Aufgrund der vielfältigen ungeklärten Fragen – vor allem bezüglich der damit verbundenen erheblichen Verteilungswirkungen – scheint ein solches Abkommen derzeit in weiter Ferne zu liegen.18 Daher deuten die meisten deskriptiv angelegten Szenarien darauf hin, dass der Energiemix der Welt auch auf absehbare Zeit fossil dominiert sein wird, wobei durchgängig eine relative Verschiebung in den Anteilen vom Mineralöl hin zu Erdgas und Steinkohle angenommen wird.19 Selbst unter Einbeziehung derzeitig ausgesprochener unilateraler Absichtsbekundungen einzelner Länder und Weltregionen ist daher zu erwarten, dass es auch mittelfristig zu einem weiteren Anstieg der energiebedingten CO2-Emissionen – und den damit verbundenen Auswirkungen auf die weitere Veränderung des Weltklimas – kommen wird.20

weiterhin Maßnahmen, die CO2-Emissionen aus der Änderung von Landnutzungsmustern einschränken sowie die Begrenzung der Emission aller weiterer klimawirksamer Gase neben CO2. 16  Ein späteres Umsteuern erfordert dann jeweils schnellere, d. h. tiefer greifende Maßnahmen zur Reduzierung globaler Treibhausgasemissionen auf das angestrebte Niveau, vor allem auch aufgrund der Langlebigkeit der globalen energetischen In­ frastruktur, denn angesichts der wirtschaftlichen Lebensdauer fossiler Wärmekraftwerke, die üblicherweise mehrere Jahrzehnte beträgt, sind 80 % der energiebedingten CO2-Emissionen bis zum Jahr 2035 bereits durch die heute bestehende Infrastruktur vorgezeichnet. Jegliche Bemühungen, diese Emissionen über die verbleibenden 20 % hinaus zu reduzieren impliziert folglich die Abschaltung einzelner Anlagen vor dem Ende ihres regulären (wirtschaftlichen) Lebenszyklus. Vgl. IEA (Anm. 10). 17  V.a. wegen der sogenannten Rebound- und Leakage-Effekte. Reinhard Madlener / Blake Alcott, Herausforderungen für eine technisch-ökonomische Entkopplung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum, Zürich 2011. 18  Joachim Weimann, Institutionen für die Beherrschung globaler Commons und global öffentlicher Güter, Magdeburg 2012. 19  Vgl. IEA (Anm. 10); Energy Information Administration, International Energy Outlook, Washington 2011. 20  Vgl. „New Policies Scenario“ des World Energy Outlook, IEA (Anm. 10).

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II. Entwicklung des Energieverbrauchs in Deutschland Deutschland hat sich in etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit um einige Jahrzehnte später als Großbritannien industrialisiert. Wie in Großbritannien war auch in Deutschland Steinkohle der wesentliche Energieträger, auf dem die erste Phase der Industrialisierung aufgebaut wurde. So hatte Großbritannien im Jahr 1820 bereits CO2-Emissionen von etwa 3 Tonnen pro Kopf – Deutschland zur selben Zeit nur von wenigen hundert Gramm. Im Jahr 1900 lag Deutschland bereits bei 7 Tonnen pro Kopf, Großbritannien allerdings schon bei 10, und erst im Jahre 1940 ­hatten Deutschland und Großbritannien vergleichbare CO2-Emissionen (bei rund 10 Tonnen) und Einkommen pro Kopf (bei rund 10.000 US-Dollar real).21 Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Industrialisierung in Deutschland eine weitere Beschleunigung erfahren. Zwischen 1950 und 1970 hat sich der Energieverbrauch pro Kopf mehr als verdoppelt, wobei dieser Anstieg fast vollständig durch einen höheren Verbrauch von Mineralöl ermöglicht worden ist (vgl. Abbildung 2). Im Jahr 2007 hatte die Bundesrepublik Deutschland einen Primärenergieverbrauch von 13.869 PJ insgesamt oder etwa 169 GJ pro Kopf22, verbunden mit einem energiebedingten CO2-Ausstoß von rund 800 Mt bzw. rund 9,7 Tonnen pro Kopf.23 Damit verbraucht im statistischen Durchschnitt – und ohne Berücksichtigung von Energie, die in im- und exportierten Waren „eingebettet“ ist24 – jeder Deutsche etwa doppelt so viel Energie wie der durchschnittliche Mensch auf der Erde. In den zwei Jahrzehnten zwischen 1970 und 1990 blieb der Energieverbrauch in Deutschland auf hohem Niveau, wobei der hier gezeigte Anstieg des Pro-Kopf-Verbrauchs im Jahr 1990 zu großen Teilen auf die erstmalige Berücksichtigung der neuen Bundesländer und die Integration der seinerzeit dort verhältnismäßig energieineffizienten Volkswirtschaft zurückzuführen ist. Zu beobachten ist zudem eine abnehmende relative Bedeutung von Steinkohle und Erdöl zugunsten von Erdgas (Substitution im Wärmesektor), 21  Gapminder World, CO Emissions Since 1820, online: www.gapminder.org 2 (20.08.2012). 22  Werte für 2011: 13.374 PJ und rund 163 GJ / Kopf. AG Energiebilanzen e. V., Energieverbrauch in Deutschland im Jahr 2011, Berlin 2012. 23  International Energy Agency, CO Emissions from Fuel Combustion, Paris 2 2011. 24  Vgl. für den Fall der „eingebetteten“ CO -Emissionen: Rahel Aichele / Gabriel 2 Felbermayr, Internationaler Handel und Carbon Leakage, in: ifo Schnelldienst, 64 (2011) 23, S. 26–30.



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200 180 160 Sonstige

140

Erneuerbare

120

Kernenergie

100

Erdgas

80

Mineralöl

60

Steinkohle

40

Braunkohle

20 0

1950

1970

1990

2010

2030 BReg

2050 BReg

Abbildung 2: Primärenergieverbrauch in Deutschland, GJ pro Kopf; 1950 / 1970: nur alte Bundesländer

Kernenergie (Substitution im Stromsektor) sowie Braunkohle (einheitsbedingt). Seit 1990 hat sich der Pro-Kopf-Energieverbrauch nicht zuletzt wegen des Umbaus der Industrie- und Energieversorgungsstrukturen in den neuen Bundesländern in Folge der deutschen Einheit um rund 20 GJ vermindert. Dabei hat die relative Bedeutung von Kohle und Erdöl weiter abund die von Erdgas sowie der Erneuerbaren Energien (bedingt durch die staatliche Förderung durch das Erneuerbare Energien-Gesetz, EEG) deutlich zugenommen. Eine vertiefende Betrachtung des Stromsektors unterstreicht die erheb­ liche Dynamik in der Veränderung der deutschen Energieversorgung (vgl. Abbildung 3). Basierte diese im Jahr 1950 noch zu fast drei Vierteln auf der Verfeuerung von Stein- und Braunkohle, so wurden diese Energieträger zunächst von Mineralöl, später dann von Kernenergie und Erdgas sowie seit 1990 auch von neuen Formen erneuerbarer Energieumwandlung (vor allem Windenergie) teilweise verdrängt, wenngleich sie aber heute immer noch mehr als 40 Prozent der deutschen Stromerzeugung bestreiten.

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100% 90% 80% Sonstige

70%

EE

60%

Kernenergie

50%

Erdgas

40%

Mineralöl

30%

Steinkohle

20%

Braunkohle

10% 0%

1950

1970

1990

2010

2030 BReg

2050 BReg

Abbildung 3: Struktur der Stromerzeugung in Deutschland; 1950/1970: nur alte Bundesländer

III. Ziele des Energiekonzepts Die Bundesregierung verbindet mit ihrem Energiekonzept einige wesentliche Ziele, die bis zum Jahr 2050 erreicht werden sollen: – Reduktion der Treibhausgas-Emissionen um 80 bis 95 % gegenüber dem Referenzjahr 1990; – Erhöhung der Steigerung der Energieproduktivität auf 2,1 % p. a.; – Reduktion des Primärenergieverbrauchs um 50 % gegenüber dem Referenzjahr 2008, dabei Reduktion des Primärenergiebedarfs in Gebäuden um 80 % und Reduktion des Stromverbrauchs um 25 %; – Erhöhung des Anteils von Erneuerbaren Energien (EE) auf 60 % des Primärenergieverbrauchs, dabei Erhöhung des Anteils von EE auf 80 % des Bruttostromverbrauchs. In den Energieszenarien für das Energiekonzept der Bundesregierung sind diese Ziele mit möglichen Entwicklungspfaden quantitativ hinterlegt worden.25 Die Szenarien weisen damit in einer konsistenten Ableitung nach, dass die politisch formulierten Ziele grundsätzlich erreichbar sind. Sie zei25  Vgl. EWI / Prognos / gws, Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung, Köln / Basel / Osnabrück 2010; EWI / Prognos / gws, Energieszenarien 2011, Köln / Basel / Osnabrück 2011.



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gen aber auch die Voraussetzungen für diese Ableitung auf, zum Beispiel den mittelfristigen Abschluss eines Abkommens zum Klimaschutz, den umfangreichen Ausbau des europäischen und des innerdeutschen Stromnetzes, einen kostenminimalen Aufbau der Erneuerbaren Energien in Europa spätestens ab dem Jahre 2020 sowie die erfolgreiche, rasche Umsetzung einer Vielzahl von Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffizienz in Deutschland.26 Eingebettet in die langfristige Entwicklung (vgl. Abbildung 2) werden verschiedene Facetten dieser von der Bundesregierung angestrebten Entwicklung deutlich. Erstens führt die absolute Senkung des Energieverbrauchs auf etwas über 95 GJ pro Kopf immer noch zu einem Wert, der voraussichtlich deutlich über dem durchschnittlichen Energieverbrauch pro Kopf weltweit liegen wird.27 Zweitens nimmt – aufgrund der politisch gesetzten Restrik­tionen – die Bedeutung der Erneuerbaren zu, während die Kernenergie verschwindet. Es fällt allerdings auf, dass das Energiekonzept davon ausgeht, dass Deutschland auch im Jahre 2050 noch erhebliche Mengen an Mineralöl verbrauchen würde, da eine Umstellung des Transportsektors beispielsweise auf Erdgas nicht Bestandteil der zugrundeliegenden Szena­ rien war, und der Ausbau der elektrischen Mobilität zwar als substanziell, jedoch als auf bestimmte Segmente der Individualmobilität beschränkt unterstellt worden ist.28 Speziell im Stromsektor wird in den Energieszenarien der Bundesregierung eine noch stärkere Erhöhung des Anteils der Erneuerbaren Energien dargestellt (vgl. Abbildung 3). Der Anteil von Kohle und Erdgas beträgt in diesen Szenarien im Jahre 2050 noch rund 10 %, wobei für die Nutzung dieser fossilen Energieträger die Abscheidung und unterirdische Lagerung von CO2, das sogenannte Carbon Capturing and Storage (CCS), angenommen wird. Der absolute Stromverbrauch in Deutschland geht dabei – ebenfalls weitgehend vorgabegemäß – von rund 600 TWh im Jahre 2010 auf 440 TWh im Jahr 2050 zurück, wobei allerdings davon ausgegangen wird, dass nur noch rund 340 TWh in Deutschland selbst erzeugt und der Rest importiert werden würde.29 26  Vgl.

EWI / Prognos / gws (Anm.  25), S.  26  ff. IEA setzt für das 2 °C-Ziel einen globalen Primärenergiebedarf von rund 75 GJ / Kopf im Jahr 2050 voraus. IEA, Energy Technology Perspectives, Paris 2012. 28  Vgl. EWI / Prognos / gws (Anm.  25), S.  85  ff. 29  Aus den stark zunehmenden Strom-Importen und der damit verbundenen Zurechnung von Erneuerbaren Energien-Mengen ergibt sich in den Energieszenarien für die Bundesregierung die Erreichung des vorgegebenen Ziels für den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung und am Primärenergieverbrauch. Vgl. EWI / Prognos / gws (Anm.  25), S.  114. 27  Die

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IV. Die Bedeutung Europas für den Erfolg des deutschen Energiekonzepts Das deutsche Energiekonzept beruht also im Kern auf zwei tragenden Säulen: zum Einen auf der Erhöhung der Energieproduktivität, zum Anderen auf dem starken Ausbau der Erneuerbaren Energien. Die Umsetzung beider Säulen setzt erhebliche Investitionstätigkeiten voraus, für produktivitätserhöhende Maßnahmen wie Gebäudedämmung oder neue Elektrogeräte einerseits und für Erneuerbare Energie-Anlagen und die erforderliche Infrastruktur (vor allem im Netzbereich und zur Gewährleistung der System­ sicherheit) andererseits. Während etliche Maßnahmen zur Erhöhung der Energieproduktivität bereits zu heutigen Energiekosten rentabel sind,30 sind Anlagen zur Umwandlung Erneuerbarer Energien in Strom oder Wärme in aller Regel immer noch teurer als die Wettbewerbsenergie. In beiden Säulen gibt es eine Vielzahl von möglichen Maßnahmen mit jeweils sehr unterschiedlichen Kosten-Nutzenstrukturen.31 Eine kosteneffiziente Erreichung der im Energiekonzept benannten Ziele setzt also unter anderem eine an den jeweiligen Kosten-Nutzen-Verhältnissen ausgerichtete Auswahl dieser Maßnahmen – statisch wie im Zeitverlauf – voraus. Für die Säule „Erneuerbare Energien“ soll dieser Aspekt nachfolgend näher beleuchtet werden. Mehr als bei konventionellen Energieträgern werden die Potenziale und die Kosten der Erneuerbaren Energien von geographischen Standortfaktoren geprägt, zum Beispiel von Windgeschwindigkeit und -häufigkeit, von Sonnenscheindauern und Sonneneinfallswinkeln, von Bodenbeschaffenheiten oder von dem Vorhandensein einer großen natürlichen Höhendifferenz. Eine auf Erneuerbare Energien ausgerichtete Energiestrategie muss diese Standortfaktoren daher zwingend berücksichtigen. Vergleicht man Größe und Qualität der Standorte für Erneuerbare Energien in Deutschland mit denen anderer Standorte in Europa und weltweit, so stellt man zunächst fest, dass gemessen am heutigen Energieverbrauch der Bundesrepublik das Potenzial für die Nutzung erneuerbarer Ressourcen begrenzt ist.32 Zudem fällt auf, dass es viele Standorte in anderen Regionen 30  Nämlich solche Maßnahmen, die auf die Beseitigung der sogenannten Energieeffizienzlücke abzielen. Umfassend dazu: IEA, Mind the Gap. Quantifying PrincipalAgent Problems in Energy Efficiency, Paris 2007. 31  Vgl. z. B. die CO -Vermeidungskostenschätzungen für einzelne Vermeidungs2 technologien von McKinsey & Company. 32  Zwar gibt es Szenarien, die darlegen, dass und wie der gesamte bundesdeutsche Stromverbrauch aus heimischen erneuerbaren Energiequellen gedeckt werden kann, vgl. z. B. UBA (2010), Greenpeace (2009). In diesen Szenarien sind typischerweise erhebliche Wind Off-Shore-Mengen einerseits und Minderungen des Strom­ bedarfs die wesentlichen Hebel. Für den gesamten Primärenergiebedarf der Bundes-



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Europas und der Welt gibt, in denen die Stromgestehungskosten der Erneuerbare Energien-Technologien geringer sind als an den vorgesehenen deutschen Standorten, entweder, weil die regelmäßigen Wind- und Sonnenbedingungen besser sind, oder weil bei gleichen Windbedingungen Off-Shore geringere Investitionskosten anfallen, da z. B. näher an der Küste gebaut werden darf. Betrachtet man die besten europäischen Standorte für Erneuerbare Energien, so besitzen diese ein gemessen am Strombedarf Europas deutlich höheres Potenzial, und ihre Standortbedingungen sind durchaus vergleichbar mit den besten Standorten der Welt (beispielsweise in den USA, in China oder in Australien).33 Die Größenordnung der hierbei zum Tragen kommenden Kostenvorteile ist enorm. In einer Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln aus dem Jahre 2010 wird angegeben, dass durch eine verbesserte Verteilung der Erneuerbaren-Investitionen in der EU allein im Zeitraum 2010–2020 mehr als 100 Milliarden Euro eingespart werden könnten.34 Daher haben diese möglichen Synergien auch in den Berechnungen im Rahmen der Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung eine zentrale Rolle eingenommen. Insbesondere hängen die dort genannten Schätzungen für die Strombezugskosten in Deutschland maßgeblich von der Annahme ab, dass ab 2020 ein gemeinsamer Binnenmarkt für erneuerbar erzeugten Strom in der EU existiert, so dass Deutschland bis zum Jahre 2050 einen substanziellen Teil seines Erneuerbare Energien-Ziels durch (kosteneffiziente) Investitionen außerhalb der eigenen Grenzen erfüllen kann.35 Ein auf dem Ausbau der Erneuerbaren Energien beruhendes Energiekonzept ist in seiner Umsetzung also nur kosteneffizient, wenn es in ein europäisches Gesamtkonzept eingebettet wird. Zudem wird es gegenüber anderen Weltregionen – im Falle eines bindenden Weltklimaabkommens – nur dann wettbewerbsfähig sein, wenn es die besten Standorte in Europa verwendet.36 republik ist allerdings kein technisch realistisches, ohne Importe auskommendes Szenario bekannt. 33  Dies gilt umso mehr, wenn Nordafrika zum europäischen Raum hinzugerechnet wird. Vgl. z. B. Desertec Foundation, Desertec Atlas. Weltatlas zu den erneuerbaren Energien, o. O., 2011. 34  Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln, European RES-E Policy Analyses, Köln 2010. Zu vergleichbaren Schlüssen für den Zeitraum 2010– 2050 kommt auch eine aktuelle Studie von Jägemann et al., Decarbonizing Europe’s power sector until 2050 – Analyzing the implications of alternative technology ­pathways, EWI Working Paper, Köln 2012. 35  Vgl. EWI / Prognos / gws (Anm.  25), S.  39. 36  Selbst im besten Fall einer kostenminimalen europäischen Lösung wird es zu einer erheblichen Steigerung der Strombezugskosten kommen. So schätzt das Ener-

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Auch hierfür ist ein europäisches Gesamtkonzept erforderlich, das auch die entsprechenden Systemerfordernisse und Netzausbaumaßnahmen berücksichtigt. In diesem Sinne ist eine gemeinsame europäische Energiepolitik, die der deutschen Festlegung auf Erneuerbare Energien folgt oder diese zumindest unterstützt, langfristig von erheblicher strategischer Bedeutung für den Erfolg des derzeitigen deutschen Energiekonzepts. V. Ausblick: Europäisierung des Energiekonzepts Die aktuelle Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland ist ausgerichtet an bestimmten Zielen für den nationalen Energiemix, die insbesondere aus umweltpolitischen Erwägungen (vor allem: Minderung von CO2-Emissionen und dabei Ausstieg aus der Kernenergie) heraus motiviert sind. Andere Erwägungen, die für eine Energiepolitik von Belang sein könnten, wie etwa Aspekte der Wirtschaftlichkeit oder der Versorgungssicherheit, treten hinter diese ökologischen Zielsetzungen zurück und werden allenfalls, in allgemeiner und nicht näher quantifizierter Form, als wichtige Leitplanken identifiziert. Die Vorstellung, den Energiemix im nationalen Kontext und mit nationaler Souveränität steuern zu können, steht im Einklang mit den Buchstaben des Lissabon-Vertrags. Artikel 194 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union überträgt zwar wichtige energiepolitische Kompetenzen an die Europäische Union, hält aber explizit fest, dass der Energiemix na­ tionale Hoheitsaufgabe bleibt.37 Gleichzeitig betont der Vertrag aber die Zielsetzung einer weiteren Vertiefung des europäischen Binnenmarkts, woraus sich ein inhärenter Widerspruch ergibt, denn im Binnenmarkt verliert – aufgrund der vielfältigen Austauschbeziehungen, die nicht zuletzt auch durch den gemeinsamen Handel mit CO2-Zertifikaten verstärkt werden – der Begriff des „nationalen Energiemix“ jegliche sinnvolle Bedeutung. Faktisch gibt es nur noch einen gemeinsamen Energiemix, was aufgrund großer Kuppelkapazitäten für den Stromsektor von Deutschland, Frankreich, BeNeLux, Österreich und der giewirtschaftliche Institut, dass ein kostenminimales 80 % EE-Szenario für Europa die Stromkosten um rund 40 % gegenüber 2010 erhöhen würde, wofür das europäische Übertragungsnetz allerdings um etwa 70 % gegenüber heute ausgebaut werden müsste. Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln, Roadmap 2050 – A closer look, Köln 2011. 37  Vgl. EUR 2010 / C 83 / 134. Der Hintergrund dieses Passus besteht darin, dass Mitgliedsstaaten sich vor Einschränkungen bei der Nutzung bestimmter Technolo­ gien, vor allem der Kernenergie, schützen wollten, die durch Mehrheitsbeschlüsse auf europäischer Ebene erfolgen könnten.



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Schweiz quasi heute bereits gilt. Das Abschalten der deutschen Kernkraftwerke beeinflusst den französischen Strompreis ebenso (nämlich erhöhend) wie die Subventionierung von Erneuerbaren Energien durch den deutschen Stromverbraucher (nämlich senkend). Ähnliche Wechselwirkungen wie auf kommerzieller Ebene entstehen auch physikalisch. So wird deutscher Windstrom nicht nur in deutschen Leitungen von Nord- nach Süddeutschland transportiert, sondern aufgrund technischer Gegebenheiten durch BeNeLux, Frankreich, Polen und Tschechien, was zu erheblichen Herausforderungen in den dortigen Netzen führt, denen diese Länder teilweise bereits durch die phasenweise Abkopplung vom deutschen Netz begegnen.38 Auch im Bereich der Sicherheit, sei es beispielsweise der Systemsicherheit oder der Sicherheit vor nuklearen Unfällen, sitzen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, insbesondere diejenigen in Kontinentaleuropa, unzweifelhaft in einem gemeinsamen Boot.39 Faktisch ist also im integrierten Binnenmarkt jede nationale Entscheidung zum Energiemix auch eine europäische. Das Nebeneinander von unterschiedlichen Energiemixstrategien und -regulierungen führt also zu vermeidbaren Reibungsverlusten und damit letztlich zu wirtschaftlicher Ineffizienz, und zwar umso stärker, je unterschiedlicher die Strategien und je schneller sich ein einzelner nationaler Energie-Mix vom Status Quo entfernen soll. Die Heterogenität in der europäischen Energiepolitik ist zudem umso unverständlicher, je mehr der Klimaschutz das treibende Element für ihre Gestaltung sein soll. Im Klimaschutz hat sich die Europäische Union bereits entschieden, extern gemeinsam zu verhandeln und intern gemeinsam zu handeln – letzeres vor allem mittels des europäischen Zertifikatehandelssystems. Was bringt es vor diesem Hintergrund für die Handlungs- und Verhandlungsfähigkeit der Europäischen Union, wenn jeder Mitgliedsstaat seine jeweils eigene Klima- und Energiestrategie entwickelt und umsetzt? So ökonomisch und im globalen Kontext sinnvoll eine solche weitergehende Integration der europäischen Energiepolitik also wäre, so vielfältig sind allerdings die politischen Hindernisse. Deutschland verteidigt sein EEG gegen alle Versuche, ein europaweit angelegtes, an den Regeln des Binnenmarkts orientiertes gemeinsames Fördersystem zu etablieren. Verschiedene 38  Durch den Einbau sogenannter Phasenschieber. Vgl. Steffen Neumann, Polen und Tschechien wehren sich gegen deutschen Strom, in: VDI Nachrichten, Nr. 10 vom 9.3.2012, S. 14. 39  Vgl. vertiefend hierzu auch Marc Oliver Bettzüge  / Christian Growitsch / Timo Panke, Erste Elemente eines Jahrhundertprojekts – ökonomische Betrachtungen zur Entwicklung der Europäischen Energiepolitik, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 60 (2011) 1, S. 50–61.

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Mitgliedsstaaten, und insbesondere Frankreich und Tschechien, haben hohes Interesse an einer langfristigen Fortführung der Nutzung der Kernenergie, unabhängig von möglichen Sicherheitsbedenken in ihren Nachbarländern, und Länder wie Polen wollen sich alle technologischen Optionen offenhalten, einschließlich hierzulande kritisch gesehener Technologien wie beispielsweise der Kernenergie, der Steinkohle und auf nicht-konventionellem Wege gefördertem Erdgas. Solange die Willensbildung innerhalb der Europäischen Union wie bisher zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten – statt durch eine demokratisch legitimierte Zentralinstanz – erfolgt, steht kaum zu erwarten, dass es zu großen Fortschritten bei der Integration der Energiepolitik kommt; zumal, wenn die Bundesrepublik Deutschland weiterhin weitgehend darauf verzichtet, ihr wirtschaftliches und politisches Gewicht sowie ihre zentrale Lage für die Förderung einer solchen gemeinsamen Energiepolitik in die Waagschale zu werfen und statt dessen – vor allem aus innen- und parteipolitischen Gründen – damit fortfährt, auf einen isolierten, in vielfältiger Weise ineffektiven und ineffizienten nationalen Alleingang in der Energiepolitik zu setzen. Langfristig kann das deutsche Energiekonzept jedenfalls nur ein Erfolg werden, wenn wir unsere europäischen Nachbarn davon überzeugen können, uns auf diesem Weg zu begleiten.

Das Jahrhundert der Diktaturen in Deutschland Modelle der Bewältigung im Vergleich Von Günther Heydemann I. „Die Geschichte ist eine Pulverkammer“ hat der russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam einmal festgestellt. Wie aber mit zwei Pulverkammern umgehen, die noch dazu durch einen Gang miteinander verbunden sind und in denen bereits mehrfach Tretminen, Panzerfäuste und Handgranaten explodiert sind? So etwa könnte man metaphorisch die geschichtspolitische Aufgabe umreißen, vor der Deutschland und die Deutschen stehen; das einzige Land, das in seiner ohnehin vertrackten Geschichte die aufeinander folgende Existenz zweier totalitärer Diktaturen und ihrer Hinterlassenschaften aufweist. Denn – um im Bild zu bleiben – neben all der alten, aber immer noch scharfen Munition in beiden Kammern ruht inzwischen eine riesige Ansammlung von Gebots- und Verbotsschildern, von Hilfs- und Verpackungsmitteln, aber auch von Lunten und Zündkapseln. Man versteht darunter die inzwischen kaum mehr überschaubare wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Literatur zum Umgang mit diesem explosiven historischen Material. Ohne Zweifel hat sich die heutige Erinnerungskultur der Bundesrepublik nach fast einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung „in einem komplizierten, zweigeteilten Prozess seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, wobei die Entwicklungen in Bundesrepublik und DDR in verschiedenen Phasen verliefen“, wie Bernd Faulenbach zu Recht konstatiert hat.1 Dieser schwierige Entwicklungsprozess soll im Folgenden stark komprimiert zusammengefasst werden. Zunächst werden die unterschiedlichen Phasen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den westli1  Ders., Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Annette Kaminsky (Hrsg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004, S. 18–30; 20.

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chen Besatzungszonen und sodann in der Bundesrepublik von 1945 bis 1989 / 90 behandelt; dem schließt sich der Umgang des Nationalsozialismus in der SBZ / DDR an, der dort bekanntlich durchweg als Faschismus bezeichnet wurde; den Abschluss bildet die Debatte im wiedervereinten Deutschland über den Umgang mit zwei Diktaturen, die durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur eine Intensivierung erfuhr. In diesem Komplex ist, worauf Hans-Ulrich Thamer zu Recht verwiesen hat, durchweg zwischen sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern und Akteuren zu unterscheiden, „nämlich erstens eine politisch-justizielle Aufarbeitung und eine daraus abgeleitete Ebene der Norm- und Gesetzgebung bzw. des politisch-administrativen Umgangs mit den Folgen der NS-Herrschaft, zweitens eine politisch-moralische, künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung sowie drittens die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Ver­ gangenheit“.2 Tatsächlich haben wir es insgesamt mit dem Prinzip kommunizierender Röhren zu tun; alle drei Ebenen hängen jeweils miteinander zusammen und bedingen einander. Ein weiterer Hinweis: in der Forschung folgt man, was die Aufarbeitung des Nationalsozialismus angeht noch immer einer Periodisierung von Klaus Schönhoven, die bezeichnenderweise im Jahre 1990 veröffentlicht wurde.3 Bis zu diesem Zeitpunkt lassen sich vier Etappen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unterscheiden, der ich inzwischen eine fünfte anschließen würde. II. Was demnach die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Diktatur angeht, so begann die erste Phase unmittelbar nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen bekanntlich mit dem Versuch einer umfassenden Entnazifizierung der Bevölkerung4, sowie mit Prozessen gegen die nationalsozialis2  Vgl. ders., Die westdeutsche Erinnerung an die NS-Diktatur in der Nachkriegszeit, in: Peter März / Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 8), Köln u. a. 2006, S. 51–70; 56. Dort auch die weitere, diesbezügliche Forschungsliteratur. 3  Vgl. Klaus Schönhoven, Die diskreditierten Deutschen. Reden und Schweigen über den Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland, in: Mitteilungen, hrsg. v. d. Gesellschaft der Universität Mannheim, Nr. 39 / 1999. Thamer übernimmt zu Recht die von Schönhoven konzipierte Phaseneinteilung, vgl. ders., Die westdeutsche Erinnerung, S. 56 ff. 4  Das Standartwerk hierzu ist nach wie vor Clemens Vollnhals (Hrsg.), Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949, München



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tischen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg einschließlich der dortigen Nachfolgeprozesse gegen schwer belastete Nazis oder Helfershelfer und Sympathisanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie traf allerdings auf eine Bevölkerung, die sich in den denkbar schlimmsten sozioökonomischen Umständen befand und mehrheitlich ums nackte Überleben kämpfte. Hinzu kam der Verlust von Familienangehörigen, Verwandten und Freunden, eine oft schlechte, körperliche und mentale Verfassung, aus der wiederum eine weit verbreitete politisch-moralische Gleichgültigkeit resultierte. Das alles war das „Produkt einer umfassenden Leidens- und Solidargemeinschaft, die im Unterbewusstsein sehr wohl um die tief greifende Kompromittierung der deutschen Gesellschaft wusste und deshalb ihren Blick lieber nach vorn in eine bessere Zukunft richtete als in eine Vergangenheit, an die man nicht mehr erinnert werden wollte“.5 Die im Grunde einzig richtige justizielle Vorgehensweise der Einzelfallüberprüfung, vorbildhaft von den Amerikanern begonnen, scheiterte allerdings bald an der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle. Sie schlug aber auch deshalb mittelfristig fehl, weil sich NS-Belastete gegenseitig deckten, dadurch oft nur den Status von Mitläufern erhielten und auf diese Weise einer härteren Bestrafung entgingen. Dies wiederum führte zur berühmt-berüchtigten „Mitläufer-Fabrik“ (Lutz Niethammer) und erbrachte millionenfach das Gegenteil von dem, was die Anglo-Amerikaner eigentlich intendiert hatten, nämlich aus einem überzeugenden kollektiven wie individuellen Schuldbekenntnis und einer daraus resultierenden Absage an den Nationalsozialismus heraus ehemals NS-Sympathisanten zu überzeugten Befürwortern der Demokratie werden zu lassen. Ein weiterer Faktor kam häufig hinzu: Einmal durch die Mühen und Mühlen der Entnazifizierung gegangen, wurden die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse bald als die allein Verantwortlichen für die Verbrechen der Nationalsozialisten stigmatisiert, wohingegen „die vielfachen Verstrickungen und das Mitläufertum“6 der breiten Mehrheit von Deutschen verdrängt und vergessen wurden. Diese umfassende Exkulpation sollte oft jahrzehntelange politisch-mentale Folgen haben, wie an der Wehrmachtsausstellung im Jahre 1995 deutlich wurde, da z. B. bis zu diesem Zeitpunkt bei einer großen Mehrheit von früheren Wehrmachtsangehörigen die historisch unhaltbare (Selbst-)Einschätzung von der „sauberen Wehrmacht“ auf der einen und der verbrecherischen SS auf der anderen Seite virulent geblieben war. 1991. Hierzu jüngst auch Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.2012, S. 8. 5  Vollnhals (Hrsg.), S. 62. 6  Ebd., S. 59.

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Mit dem Auslaufen der Entnazifizierung und der Nürnberger Prozesse Anfang der 1950er Jahre setzte eine zweite Phase ein. Sie vollzog sich parallel zur Entstehung der bundesdeutschen Demokratie vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Absage und Verurteilung der NS-Diktatur durch die Gründer der zweiten deutschen Demokratie, die einerseits von echter Überzeugung getragen war, andererseits aber auch eine unabdingbare conditio sine qua non für die Westintegration der sicherheitspolitisch gefährdeten jungen Bundesrepublik darstellte. Doch schon an der Wiedergutmachung der jüdischen Opfer, verbunden mit einer Globalentschädigung für Israel und der Jewish Claims Conference durch das Luxemburger Abkommen vom September 1952 erwies sich, dass die unerlässliche Notwendigkeit dieser finanziellen Entschädigungen in der westdeutschen Gesellschaft hoch umstritten war. Nur eine knappe Mehrheit trat für die Wiedergutmachung von jüdischen Opfern ein, ein Drittel lehnte sie vehement ab, wobei darunter auch zahlreiche Stimmen vertreten waren, denen zufolge Juden z. T. selbst schuld an ihren Verfolgungen durch die Nazis gewesen wären. Nicht selten kehrten sich die damit verbundenen Einstellungen bei einer Mehrheit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sogar ins Gegenteil um, als in der Debatte um den Lastenausgleich von Flüchtlingen und Vertriebenen, Luftkriegsgeschädigten und Invaliden die deutschen Opfer in den Vordergrund geschoben wurden. In beträchtlichen Teilen der Bevölkerung wurde auf diese Weise mental eine Opferhierarchie konstruiert, in der nicht die Vernichtung der jüdischen Opfer, der Sinti und Roma und vieler anderer mehr, sondern das eigene Opfer an die Spitze gesetzt wurde. „Man verstand sich als Opfer nicht als Täter“ hat Hans-Ulrich Thamer treffend konstatiert; auf diese Weise kam es dazu, dass „in den 1950er Jahren mehr über den Nationalsozialismus geschwiegen als geredet wurde.“7 Es kann daher kaum verwundern, dass bei einer Befragung durch das Allensbach Institut im Jahre 1959, bei der Frage nach den größten Deutschen in der Geschichte, Hitler noch immer auf Platz 3 rangierte. Obwohl die klare Absage an den Nationalsozialismus gleichsam Staatsdoktrin der zweiten deutschen Demokratie geworden war, spiegelbildlich übrigens auch in der DDR, wenn auch mit völlig anderer Konnotation, so lief gleichwohl zum vorherrschenden Verschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik ein gesamtgesellschaftlicher Integrationsprozess parallel, durch den Millionen an die junge Demokratie gebunden wurden – oft, ohne zu diesem Zeitpunkt überhaupt Demokraten zu sein. Hierzu trug u. a. Art. 131 GG bei, der auch früheren NS-Belasteten den Weg in staatliche und kommunale Stellen öffnete. Dass das nicht selten höchst problematisch war, zeigen die Fälle Globke und Oberländer. 7  Ebd.,

S. 61.



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Zum mehrheitlichen gesellschaftlichen Verschweigen gehörte auch die meist in Ansätzen stecken bleibende justizielle Aufdeckung und Verurteilung von NS-Verbrechern bzw. Verbrechen, die während des Krieges verübt worden waren. Das belegen simple Zahlen: Waren im Gründungsjahr der Bundesrepublik noch 1465 NS-Prozesse abgeschlossen worden, so lag deren Zahl im Jahr 1959 nur noch bei 22 und ein Jahr später bei 23 Urteilsverkündungen.8 Hinzu kam, dass sich belastete Juristen häufig gegenseitig deckten und zu einflussreichen Positionen im neuen Rechtsstaat verhalfen. Das galt selbstverständlich nicht pauschal, aber doch mehr als in Einzelfällen. Ähnliche Vorgehensweisen wurden auch in der Wirtschaft oder in den Wissenschaften, nicht zuletzt in der Medizin, praktiziert. Erst vor wenigen Wochen ist der Öffentlichkeit die erste Untersuchung über die NS-Vergangenheit ehemaliger Landtagsabgeordneter, in diesem Fall des Landes Niedersachsen, präsentiert worden. Weitere Untersuchungen in anderen Bundesländern werden in Kürze folgen. Von den insgesamt 755 Mitgliedern des Niedersächsischen Landtages und seiner Vorläufer von 1946 bis zum 12. Landtag von 1990–1994 konnte in 233 Fällen eine Mitgliedschaft in der NSDAP (204), in der SA (73) und der SS (18) ermittelt werden; das entspricht einem Anteil von 30,8 %.9 Noch in der Wahlperiode 1967–70, dem 6. Niedersächsischen Landtag, betrug der Anteil von ehemaligen NS-Angehörigen 31 % (30,97); im 12. Landtag der Jahre 1990–1994 immerhin noch 3 % (3,06).10 Diese Zahlen werden kaum überraschen, sondern dürften sich in weiteren Untersuchungen anderer Landtage ebenfalls grosso modo ergeben. Sie werfen aber ein symptomatisches Bild auf die in den Jahren der NS-Diktatur erfolgte politisch-ideologische Sozialisierung der deutschen Gesellschaft und ihrer Nachwirkungen noch Jahrzehnte über das Kriegsende hinaus. Eine dritte Phase setzte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ein und führte erstmals zu einer breiteren, allerdings noch nicht umfassenden Sensibilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft hinsichtlich der ja weiterhin virulenten NS-Problematik, hervorgerufen durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und die daraufhin im gleichen Jahr gegründete Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, besonders aber durch den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem 8  Vgl. hierzu jüngst Jörg Osterloh  / Clemens Vollnhals (Hrsg.), NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011. 9  Vgl. Die NS-Vergangenheit späterer niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Abschlussbericht zu einem Projekt der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Niedersächsischen Landtages, hrsg. vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages, Hannover o. Jg. (2012), S. 17 f. 10  Ebd., S. 119.

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sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963–65. Erstmals wurden die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bis ins Detail hinein dokumentiert und publiziert. Und zugleich wurden die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), das bürokratische Procedere und die logistisch-technische Seite millionenfachen Mordes im Rahmen von Befehl und Gehorsam unmissverständlich transparent. Auch wenn das Beschweigen der nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft weiter virulent blieb, vertuschen oder verharmlosen ließ sich die Monstrosität des Holocaust fortan nicht mehr. Doch es dauerte noch ein halbes Jahrzehnt, bis die öffentliche Auseinandersetzung, nicht ausschließlich, aber doch entscheidend vorangetrieben durch die 68er Generation, eruptiv losbrach. Die Frage nach dem konkreten Verhalten der Väter und Mütter während der NS-Diktatur durch die Söhne und Töchter der Nachkriegsgeneration begann kollektive und individuelle Verdrängungsstrategien zu erodieren, auch wenn dies fast durchweg mit hoher Emotionalisierung auf beiden Seiten und „einer Tribunalisierung der Vätergeneration bei einer starken Neigung der jüngeren Generation zur Selbstgerechtigkeit“ (Hans-Ulrich Thamer) verbunden war.11 Vor dem Hintergrund eines sich vor allem bei Intellektuellen und Studenten markant wandelnden politischen Bewusstseins, Lebens- und Werteverständnisses setzte eine Debatte ein, in welcher die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen und die jeweilige kollektive und individuelle Verflochtenheit der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945 mit diesen zunehmend auch in Teile der westdeutschen Gesellschaft eindrang, die sich bislang sprachlos und / oder apolitisch verhalten hatte. Die meist leidenschaftlichen Diskussionen vor dem Hintergrund eines tief reichenden Generationenkonflikts waren auf Seiten der Nachkriegsgeneration oft nicht frei von Selbstgerechtigkeit; beim radikalen Flügel der Studentenschaft führte dies z. T. auch dazu, mit dem Pauschalbegriff Faschismus nun auch die „angeblich faschistische Gegenwart der Bundesrepublik und des kapitalistischen Systems überhaupt“ anzuprangern.12 Gleichwohl schlug diese Debatte eine weitere, vielleicht entscheidende Bresche in die nach wie vor in Millionen von deutschen Familien beschwiegene braune Vergangenheit. Eine vierte Phase, die man inzwischen als Weg von der „Tribunalisierung zur Historisierung“ des Nationalsozialismus bezeichnet, führte schließ11  Hans-Ulrich

Thamer, Die westdeutsche Erinnerung, S. 66. Bernd Bonwetsch, Zweimal totalitäre Vergangenheit in Deutschland: 1945 und 1990, in: Hans-Heinrich Nolte / Marianna Kortschagina (Hrsg.), Auseinandersetzungen mit den Diktaturen. Russische und Deutsche Erfahrungen, Gleichen / Zürich 2005, S. 9–26; 16. 12  So



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lich zum Durchbruch einer nun in nahezu allen Gesellschaftsschichten angekommenen Thematisierung der NS-Diktatur. Hierzu hat in ganz entscheidendem Maß der Fernsehfilm „Holocaust“ beigetragen, eine HollywoodProduktion, die im Jahre 1979 gezeigt wurde und für alle Zuschauer das Leben, Leiden und Sterben von Menschen in Auschwitz erlebbar und dadurch zugleich nachvollziehbar machte. Die Empathie mit den Opfern bereitete den Boden für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und führte damit zu einer Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die seither kaum mehr nachgelassen hat, auch deshalb nicht, weil wissenschaftliche Kontroversen um den Nationalsozialismus ebenso wie gesamtgesellschaftliche Debatten darüber diese Vergegenwärtigung immer wieder neu entfachten. Sei es in negativer Weise der Fall Filbinger im Jahre 1978 oder die richtungweisende Rede Bundespräsident Richard von Weizsäckers im Jahre 1985 – die NS-Diktatur und ihre Verbrechen blieben ein Dauerthema der öffentlichen Debatte. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur der „Historikerstreit“ in den Jahren 1986 / 87, die hoch emotional geführten Auseinandersetzungen um die „Wehrmachtsausstellungen“ zwischen 1995 und 1999 sowie Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, 1996 in deutscher Fassung erschienen. Seine wissenschaftlich z. T. stark angreifbare Darstellung hat die deutsche Öffentlichkeit seinerzeit auch deshalb so aufgeschreckt, als es zwar nicht „die Deutschen“ („the Germans“ im Originaltext) waren, wohl aber „ganz gewöhnliche Deutsche“ – und dies ist wissenschaftlich unumstritten –, die an Verbrechen des Dritten Reiches beteiligt waren.13 Eine fünfte Phase, die sicherlich die komplizierteste ist und bis heute andauert, setzte mit der Wiedervereinigung ein, als sich durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur die Frage nach dem Wesen kommunistischer und faschistischer Diktaturen neu stellte. Von großem Gewicht war dabei in diesem Zusammenhang, dass mit dem Ende der DDR auch ein häufig gegensätzliches oder stark abweichendes Verständnis der NS-Diktatur bei der ostdeutschen Bevölkerung zum Vorschein kam, das in geschichtspolitischer Hinsicht Berücksichtigung finden musste. So konnte die sozial- und kulturhistorische Aufarbeitung der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur im nunmehr vereinten Deutschland nicht an der besonderen politisch-ideologischen Behandlung der NS-Diktatur durch die SED vorübergehen, zumal die DDR sowohl ihren Legitima­ tionsanspruch daraus abgeleitete, als auch mit einer ganz spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus versucht hatte, die eigene Bevölkerung über vier Jahrzehnte lang zu indoktrinieren – durchaus mit einigen menta13  Vgl.

ebd., S. 19 f.

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len Langzeitwirkungen vor allem bei der älteren Generation. Da der Begriff Nationalsozialismus schon aus Gründen der Kombination der in ihm enthaltenen Substantive für die SED inakzeptabel war, wurde stattdessen durchweg der Begriff Faschismus verwendet, wodurch wiederum der Begriff universalisiert wurde. Die bekannte Dimitroff-Formel vom „Fa­ schismus als offener terroristischer Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Faschismus des Finanzkapitals“14 führte darüber hinaus zu einer vornehmlich ökonomistischen Interpretation und trug dadurch zu einer weitreichenden Verkennung der wesentlichen Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus, einschließlich seiner barbarischen Folgen, bei. Die beabsichtigte Folge war, dass „der Faschismus weniger mit der deutschen Geschichte als mit der politischen Geschichte des Kapitalismus zu tun hatte“, wie Herfried Münkler einmal treffend festgestellt hat.15 Indem die Kommunisten gleichzeitig für sich in Anspruch nahmen, die einzigen gewesen zu sein, die Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet hätten, legitimierten sie sich gleichsam selbst und leiteten daraus auch die Führungsrolle in Staat und Partei ab. Damit nicht genug, wurde angesichts des Weiterbestehens einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik insinuiert, dort lebe gleichsam der Faschismus in Gestalt unverbesserlicher, kriegslüsterner Imperialisten und Militaristen weiter. Auf diese Weise wohnte dem Antifaschismus-Ideologem als Gründungsmythos und Staatsdoktrin der DDR sowohl eine exkulpierende und dadurch zugleich integrierende Funktion (gegenüber der eigenen Bevölkerung) als auch eine exkludierende und depravierende Funktion (gegenüber der Bundesrepublik) inne. Antifaschismus sollte daher innen- und außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden absichern. Kurzum – auch die nach der Friedlichen Revolution von 1989 / 90 rasch auf breiter Front voran getriebene DDR-Forschung vermochte dem Konnex mit dem Nationalsozialismus nicht zu entkommen. Aber auch das spezifische Erinnerungsverständnis ehemaliger Einwohner der DDR an den SED-Staat ist keineswegs homogen, wie die Forschung inzwischen nachgewiesen hat. So ist bei einer Minderheit ein sog. „Diktaturgedächtnis“ anzutreffen, das einerseits auf den diktatorialen Herrschaftscharakter des SED-Regimes und seiner Repressionsorgane und -praktiken

14  Vgl. Günther Heydemann, Die antifaschistische Erinnerung in der DDR, in: ebd., S. 71–89; 75. 15  Ders., Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen: Manfred Agethen / Eckhard Jesse /  Ehrhart Neubert (Hrsg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Br. 2002, S. 79–99; 84.



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fußt, andererseits auf dessen demokratischer Überwindung durch die Friedliche Revolution von 1989 / 90.16 Eine zweite, unter früheren DDR-Bürgern weit verbreitete Erinnerung stellt demgegenüber das als „Arrangementgedächtnis“ apostrophierte Erinnern an den früheren SED-Staat dar.17 Hier steht das persönliche Leben und Erleben im Gehäuse des sozialistischen Obrigkeitsstaates, jene Mischung aus erzwungenem, kollektiven Mitmachen und individueller Selbstbehauptung in der Bandbreite zwischen Lippenbekenntnis und opportunistischem Verhalten bis hin zu geforderter oder sogar überzeugter Unterstützung im Vordergrund. Diese Erinnerung stellt auf der einen Seite das ganz persönliche Erleben, nicht selten den damit verbundenen Eskapismus in den Vordergrund, auf der anderen Seite werden die damaligen politisch-ideologischen Zumutungen und der subkutan existente und effiziente Zwangscharakter des Regimes relativiert oder sogar ausgeblendet. Schließlich das sog. „Fortschrittsgedächtnis“ oder – wie ich es lieber formulieren würde – „Festhalten an der sozialistischen Utopie“. Es weist, meist noch von älteren DDR-Bürgern vertreten, die oft noch zur Aufbaugeneration gehören, dem SED-Staat nach wie vor einen überwiegend positiven Charakter zu, getragen von der bis heute nicht selten tief verinnerlichten Überzeugung, dass Sozialismus grundsätzlich noch immer die beste Staatsund Gesellschaftsform darstelle. An dieser Auffassung wird vornehmlich von der Aufbaugeneration vergleichsweise hartnäckig festgehalten, auch und obwohl der Sozialismus im Gewande der DDR gescheitert ist.18 Auf diesem geschichtspolitisch und erinnerungskulturell heterogenen Trümmerfeld mit unterschiedlichen Reminiszenzen an die NS-Diktatur und an den jeweiligen deutschen Staat, in dem man gelebt hatte, kam es nun rasch zu einem Boom der Erforschung der Geschichte der SBZ / DDR. Das war nicht nur wissenschaftspolitisch gewünscht, sondern entsprang auch einem breiten gesellschaftlichen Bedürfnis, besonders in Ostdeutschland. Zwei Enquete-Kommissionen wurden eingerichtet („Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“; „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“). Neue Forschungsinstitute mit dem Ziel verstärkter Aufarbeitung der DDR-Geschichte wurden gegründet: so das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam, das Hannah-Arendt-Institut in Dresden und die DDR-Forschungsabteilung des Münchner Instituts für Zeitgeschichte in Berlin. Zudem wurde 16  Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 18. 17  Ebd., S. 19. 18  Ebd.

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in die völlig neu eingerichtete Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ eine eigene Forschungsabteilung integriert. Mit der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, 1998 gegründet, entstand eine weitere Institution, die bis heute Forschungsprojekte und Veranstaltungen aller Art zur Geschichte der DDR und darüber hinaus fördert. Auch wenn ein wissenschaftliches Untersuchungsobjekt natürlich nie als völlig erforscht gelten kann, etwas überspitzt lässt sich aus heutiger Sicht durchaus feststellen, dass die DDR inzwischen besser erforscht ist als der westdeutsche Staat. Zweifellos wurde durch die enorme Konzentration auf die Geschichte der SBZ / DDR die ja weiter laufende NS-Forschung zeitweise etwas in den Hintergrund gedrängt, obwohl sie in diesen zwei Jahrzehnten durchaus mit neuen, methodisch fruchtbaren Ergebnissen und Erkenntnissen aufwarten konnte; erinnert sei nur an den Wechsel von der Opfer- zur Täterforschung oder neue Erkenntnisse zum Holocaust. Sie blieb aber nie außen vor. Vielmehr hat sie direkt und indirekt die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur mitbestimmt, was oft ein wenig aus dem Blick gerät. Denn bei der Erforschung der DDR sollten nicht mehr jene Unterlassungen und Defizite eintreten, wie sie bei der anfangs zu geringen wissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus nach 1945 erfolgt waren, mit den bereits geschilderten negativen Auswirkungen auf die bundesdeutsche Gesellschaft in den ersten zwei Jahrzehnten. Zudem machte der nach 1989 erstmals mögliche Quellenzugang zur Hinterlassenschaft des SED-Regimes nun auch empirisch fundierte Untersuchungen möglich, ja schloss sogar sektorale Vergleichsstudien zwischen dem Nationalsozialismus und dem real-existierenden Sozialismus der DDR ein, auch wenn diese anfangs umstritten waren. Die breite Debatte um die Hinterlassenschaft zweier Diktaturen auf deutschem Boden spitzte sich aber besonders in der Problematik doppelter Gedenkstätten zu, die gerade in den neuen Bundesländern existent sind, etwa in der räumlichen Koinzidenz von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und sowjetischen Speziallagern während der Jahre 1945 bis 1952, einschließlich weiterer Haftstätten unter beiden Diktaturen bzw. während der sowjetischen Besatzung und der Zeit der DDR. Vor allem die jahrelange und äußerst kontrovers geführte Debatte um Buchenwald,19 aber auch Sachsenhausen, hat paradigmatisch gezeigt, wie schwierig angemessenes Gedenken war und ist, nicht zuletzt im Widerstreit zwischen legitimen An19  Vgl. Volkhard Knigge, Die Umgestaltung der DDR-Gedenkstätten nach 1990. Ein Erfahrungsbericht am Beispiel Buchenwalds, in: Peter März / Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, S. 91–108.



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sprüchen unterschiedlicher Opfergruppen vor dem Hintergrund einer ideologisch und architektonisch längst schon vor Jahrzehnten installierten und ritualisierten Erinnerungsfassade durch das SED-Regime. Die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption vom 18. Juni 2008 durch die Bundesregierung, die dezidiert und differenziert den jeweils unterschiedlichen Erinnerungsorten gerecht zu werden sucht, um, wie es heißt, „der historischen und moralischen Verpflichtung Deutschlands Rechnung“ zu tragen, stellt in der Tat durchaus einen „Meilenstein für die Erinnerungskultur in Deutschland“ dar.20 Übersehen werden darf aber auch nicht, dass zivilgesellschaftlich motivierte Demonstrationen gegen den NeoNazismus inzwischen zu einem festen Bestandteil unserer Erinnerungskultur gehören. Insgesamt hat sich erwiesen, dass die Hinterlassenschaft zweier totalitärer Diktaturen in Deutschland zu einer jahrzehntelangen, oft skrupulösen und notwendigerweise auch selbstquälerischen Debatte geführt hat. Sie blieb, auch und gerade nach der Wiedervereinigung „geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt“, wie dies Edgar Wolfrum einmal prägnant zusammengefasst hat.21 Sie hat aber dadurch auch zu einer reichen Geschichtslandschaft mit Gedenkstätten, Erinnerungsorten und Museen geführt, die sicherlich noch verbesserungswürdig ist, aber inzwischen doch über eine sehr gute Grundlage verfügt. Insbesondere hat sich die von ostdeutschen Oppositionellen erkämpfte Einrichtung des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“, gegründet am 3. Oktober 1990, am Tag der Wiedervereinigung, als vorbildhaft und zugleich pazifizierende Institu­ tion erwiesen. Gleichwohl sollten wir uns sehr davor hüten, unsere inzwischen erreichte Memorialkultur als Modell für unsere europäischen Nachbar- oder andere Staaten anzusehen, was i. Ü. von vielen Staaten in der Welt anerkannt wird. Doch andere Länder müssen jeweils ihren eigenen Weg beschreiten. Es war und ist dies unser Weg zu einer differenzierten Erinnerungskultur, der bis heute nicht zu Ende gekommen ist und der durchaus von Irrungen, Wirrungen, Fehlern und Defiziten begleitet gewesen ist. Schließlich ist der 20  Sie geht zurück auf den Bericht der Zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur SED-Vergangenheit und umfasst eine Konzeption des Bundes, welche die Gedenkstätten für die Opfer der NS-Zeit in Ost- und Westdeutschland und auch die Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus einschließt. 21  Ders., Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Steffen Sigmund u. a. (Hrsg.), Soziale Konstellationen und historische Perspektive. FS für Rainer M. Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.

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II. Weltkrieg, dessen Essenz der nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungskrieg gewesen ist, von Deutschen vom Zaun gebrochen und bis zum Ende durchgekämpft worden. Dass wir nach der größten Menschheitskatastrophe jetzt versuchen, unserer historischen Verantwortung so gut es irgend geht, gerecht zu werden, ist eine unabdingbare Verpflichtung. Inwieweit die weiter geführte Debatte „um die doppelte Vergangenheitsbewältigung gleichsam ein Kapitel der Renationalisierung darstellt“, bleibt abzuwarten.22

22  Harald Schmid, Systemwechsel und Geschichtsbild. Zur Debatte um die „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ von NS- und SED-Vergangenheit, in: Deutschland Archiv 38 (2005), H. 2, S. 290–297; S. 297.

Modell Deutschland? Deutschland als Begriff und Problem in der Nachkriegsgeschichte Von Otto Dann Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs besiegten und vernichteten nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch dessen Namen. Anstelle des international eingebürgerten Staatsnamen „Deutsches Reich“ verwendeten sie in ihren Dokumenten seit 1941 den Begriff „Germany“. Damit wurde „Deutschland“ erstmals zu einem staatsrechtlich relevanten Begriff der internationalen P ­ olitik, und dieser war in der Nachkriegszeit stets verbunden mit einem ungelösten Problem der europäischen Politik. Wenn heute in politischen und akademischen Diskursen unbefangen sogar von einem „Modell Deutschland“ gesprochen wird, sollte der Historiker an diese Geschichte erinnern. Wer sich kompetent über Deutschland äußern will, hat sie in Rechnung zu stellen. In diesem Sinne soll hier mit einer begriffgeschichtlichen Fragestellung die deutsche Zeitgeschichte beleuchtet werden. Es geht um den Deutschlandbegriff und dabei auch um die Parole „Modell Deutschland“ (vgl. ab S. 96). Der Namensbegriff Deutschland ist seit seinem Aufkommen im 16. Jahrhundert stets ein geographischer Begriff gewesen, der den Siedlungsraum der Deutschen bezeichnete. Erst in den Texten der Patriotismus-Bewegung des 18. Jahrhunderts taucht der Begriff auch als Bezeichnung des eigenen Vaterlandes auf und wurde sogar auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation angewandt. Die existentielle Krise dieses Reiches in der Auseinandersetzung mit Napoleon schlug sich daher auch in einer großen Verunsicherung über Deutschland nieder. „Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“

Dieses Distichon („Xenie“) Schillers stammt aus jener Zeit am Ende des 18. Jahrhunderts1 und formuliert eine bis 1990 oft wiederkehrende Erfahrung mit Deutschland. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806) 1  Friedrich Schiller, Werke und Briefe, Bd. 1, Frankfurt 1992, S. 589. Die Xenie trägt die Überschrift „Das deutsche Reich“. Gemeint war hier jedoch nicht das Pro-

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wurde der Begriff Deutschland dann zum Inbegriff des Vaterlandes der Deutschen; er wurde für die deutsche Nationalbewegung ein Identität stiftender Grundbegriff.2 Während der Revolution von 1848 / 49 tagte die Deutsche Nationalversammlung, die ein politisch erwachtes Deutschland vereinigte und repräsentierte, in der Frankfurter Paulskirche unter einem großen Gemälde der Germania. Für die nationalpolitische Reform Deutschlands wurden dort zwei Modelle erarbeitet, das „großdeutsche“, das Österreich einschloss, und das „kleindeutsche“, in dem Preußen führend sein sollte. Zu einer politischen Entscheidung in Abstimmung mit den Fürsten, deren Souveränität erhalten blieb, ist es damals jedoch nicht gekommen, und auch 1870, mit der Gründung des kleindeutschen Reiches unter der Regie Bismarcks, wurde das im Jahre 1848 erhoffte Deutschland nicht realisiert. Seit dem Ersten Weltkrieg hatte sich in der deutschsprachigen Bevölkerung Mitteleuropas die Überzeugung verbreitet, als eine deutsche „Volksgemeinschaft“ auch politisch zusammen zu gehören, und ein großdeutsch verstandener Deutschlandbegriff gewann an Boden. Die Erklärung des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben zur Nationalhymne durch den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert am Verfassungstag 1922 ist in diesem Lichte als Bekenntnis zu einem neuen, republikanischen Deutschland zu verstehen, ungeachtet seiner späteren Vereinnahmung durch den politischen Nationalismus. Für jene Konjunktur des Begriffes Deutschland nach der Niederlage der beiden ‚deutschen‘ Kaiserreiche war es vielmehr charakteristisch, dass auch die Opposition gegen den Na­ tionalsozialismus an diesem Deutschlandbegriff festgehalten hat, dass man sich betont als „das andere Deutschland“ verstand.3 blem seiner unbestimmten Grenzen, sondern der nationalpolitische Gegensatz zwischen der herrschenden Reichs-Aristokratie und dem gebildetem Bürgertum. 2  Das Gedicht von Ernst Moritz Arndt (1813) „Was ist des Deutschen Vaterland?“ wurde populär wie eine Nationalhymne. Im Vormärz entstanden dann die bis heute wohl bekanntesten Deutschland-Verse: Das Deutschlandlied Hoffmanns von Fallersleben („Deutschland, Deutschland über alles …“) und Heinrich Heines „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Sie führen die große Spannweite dessen vor Augen, was fortan und besonders auch im 20. Jahrhundert noch mit dem Deutschlandbegriff verbunden sein konnte. 3  „O Deutschland, bleiche Mutter! Wie sitzest Du besudelt unter den Völkern …“, so dichtete Bert Brecht. Claus Schenk von Stauffenberg ging am 20. Juli 1944 in den Tod mit den Worten „Es lebe das heilige Deutschland!“. Der junge Sozialdemokrat Heinz Kühn arbeitete im belgischen Exil für die Zeitung „Freies Deutschland. Organ der deutschen Opposition“, und dessen wichtigste Artikel-Serie hieß „Das kommende Deutschland“ – ein Deutschlandbegriff also, der als Leitbegriff in die Zukunft verwies und zehn Jahre später gleichsam aufgegriffen wurde, als die CDU der britischen Zone „ein neues, ein anderes Deutschland“ in ihrem ersten Programm ankündigte. Vgl. Dieter Düding, Heinz Kühn. 1912–1992, Essen 2002, S. 63 ff.



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Das alternative Deutschland-Modell jener großdeutschen Bewegung der Zwischenkriegszeit erschien zunächst gegenüber dem preußisch-kleindeutschen als besser legitimiert, sowohl geschichtlich wie auch demokratisch. So entstand am Ende des Weltkrieges das Projekt eines Anschlusses der Deutsch-Österreicher und ihres Siedlungsgebietes an das Deutsche Reich. Eine solche Vereinigung aber wurde 1919 von den Siegermächten untersagt, schließlich jedoch 1938 durch das Münchener Abkommen realisiert. Hitler nannte nun seine Elite-Division „Großdeutschland“, und diese hatte sich aufzuopfern in seinem totalen Krieg, der das Projekt Großdeutschland pervertierte und das alte Europa zerstörte. Das führte unter den Deutschen und den Österreichern zu einer definitiven Abwendung von großdeutschen Ambitionen. Seit 1943 bekannte man sich in Österreich wieder zu den eigenen Traditionen, und aus den preußischen Ostgebieten setzte eine Fluchtbewegung nach Westen ein. Der definitive, nicht nur militärische Zusammenbruch von Hitlers Großdeutschem Reich veranlasste die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs zu einer Annullierung des Münchener Abkommens und zu einer Reduzierung des Reichsgebietes bis zur Oder-Neiße-Linie, die durch eine Vertreibung der deutschen Bevölkerung abgesichert wurde. Dadurch wurde in der Mitte Europas ein relativ abgerundetes deutsches Siedlungsgebiet geschaffen, das man „Germany“ nannte – ein neues Deutschland, das es bisher nicht gegeben hatte. Präsident Roosevelt hatte seine Feindschaft zu HitlerDeutschland auch auf den Reichsbegriff ausgedehnt und den bisherigen deutschen Staatsnamen in seinem Umfeld außer Kurs gesetzt.4 Seit der Atlantik-Charta war demnach in den Dokumenten der Siegermächte nur von „Germany“ die Rede, wenn das Deutsche Reich gemeint war. So heißt es in der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945: „The unconditional surrender of Germany has been effected, and Germany has become subject to such requirements as may now or hereafter be imposed upon her. There is no central Government or authority in Germany.“ Es gibt hier drei verschiedene Bedeutungen von „Germany“: das Großdeutsche Reich Hitlers, das bedingungslos kapituliert hatte, sodann das besiegte Deutschland der Deutschen, die nun den Siegermächten untergeben waren, schließlich Deutschland als ein neues Territorium. Die in Deutschland neu begründeten Parteien SPD und CDU hatten im Herbst 1945 zu einer ersten „Reichskonferenz“ eingeladen – sie gebrauchten noch den tradierten deutschen Staatsnamen. Nach Österreich, das 1938 ein Teil des Deutschen Reiches geworden war, wurde keine Einladung geschickt. Eine politische Separierung Österreichs wurde nicht mehr – wie 4  Dazu Ronald D. Gerste, Roosevelt und Hitler. Todfeindschaft und totaler Krieg, Paderborn 2011, S. 88 ff.

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nach dem Ersten Weltkrieg – als ein Diktat empfunden. Damit ging ein Zeitalter der deutschen Geschichte zu Ende, in der Österreich stets als ein Teil Deutschlands betrachtet wurde.5 Über das Schicksal des neuen Deutschland konferierten seit dem Herbst 1945 halbjährig die Außenminister der Siegermächte, kamen aber zu keinem Resultat und vertagten sich im Dezember 1947 auf unbestimmte Zeit. Daraufhin gingen die drei Westmächte eigene Wege. Sie stellten die Westdeutschen im Sommer 1948 vor neue Herausforderungen, zunächst mit einer separaten Währung: Statt der bisherigen „Reichsmark“ wurde eine abgewertete „Deutsche Mark“ eingeführt – mit einer denkwürdigen Nebenwirkung: Allein die Westdeutschen besaßen nun die ‚deutsche‘ Mark und konnten sich mit deren Erfolg identifizieren, für die Ostdeutschen blieb sie eine Fremdwährung. Sodann die Frankfurter Dokumente: der Auftrag an die westdeutschen Länder, die Verfassung für einen westdeutschen Staat auszuarbeiten. Das war für die westdeutschen Parteien, die allein auf eine nationale Verfassungslösung ausgerichtet waren, eine Zumutung. Der Ausschuss-Vorsitzende von Mangoldt erklärte: „Aus politischen Gründen ist es wohl notwendig, dem Gebilde, das im Westen Deutschlands geschaffen werden soll, einen Namen zu geben. Doch der Begriff des Deutschen Reiches oder der Deutschen Bundesrepublik kann noch nicht verwendet werden, weil nur das geeinte Gesamtdeutschland auf diese Namen Anspruch erheben kann.“ Daraufhin intervenierte Jakob Kaiser, vor kurzem noch Vorsitzender der CDU in der sowjetischen Zone: „Wir von Berlin und vom Osten aus wünschen ausdrücklich, dass das, was hier gestaltet wird, in seinem Kennwort und Inhalt Anspruch darauf erhebt, Deutschland zu sein. Wenn wir das nicht tun, sondern uns auf die westlichen Gebiete beschränken, entsteht die Gefahr, dass man drüben das Gegenteil macht und die deutsche Republik mit dem Vorort Berlin gründet.“6 Das waren Argumente, die durchschlugen: die Verfassungsarbeit in Bonn als ein stellvertretendes Handeln für ganz Deutschland zu betrachten; zum anderen die Konkurrenz der Ostzone – schon seit einem Jahr lief dort eine Volkskongress-Bewegung mit ähnlichen Zielen. Man sprach sich in Bonn schließlich für den Namen „Bundesrepublik Deutschland“ aus.7 5  Dazu im Rückblick der historische Essay von Karl Dietrich Erdmann, Die Spur Österreichs in der deutschen Geschichte, Zürich 1989, S. 39–89. 6  Der Parlamentarische Rat. 1948–1949. Akten und Protokoll, Bd. 5, Boppard 1993, S. 164 f. 7  Ebd., S. 278 ff. Auch der Begriff „Deutsches Reich“ wurde noch in die Debatte geworfen, besonders von der Deutschen Partei mit dem Vorschlag „Das deutsche Volk erneuert das Deutsche Reich als einen Bund deutscher Länder.“ (ebd., S. 501 ff.)



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„Deutschland“ als Name eines neuen westdeutschen Teilstaates! Carlo Schmid (SPD) konstatierte das grundsätzliche Problem: „Deutschland ist bislang nie der Terminus für ein staatliches Gefüge gewesen.“ Er hatte in seiner Eröffnungsrede aber bereits eine wegweisende Formulierung getroffen: „Deutschland braucht nicht neu geschaffen zu werden. Es muss aber neu organisiert werden.“8 Theodor Heuß (FDP) hatte erklärt: „Deutschland war einmal nur ein geographischer Begriff.“ Nun aber gehe es um den „Versuch, den Begriff Deutschland aus dem Ethnischen, Kulturellen in das Staatsrechtliche zu heben“. Alle mussten sich erst an den neuen Deutschlandbegriff und seinen staatsrechtlichen Anspruch gewöhnen – nur einer nicht: Konrad Adenauer, der Vorsitzende des Parlamentarischen Rates, der die Westzonen stets als „Deutschland“ bezeichnet hatte und schließlich am 23. Mai 1949 verkündete: „Heute wird mit der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland in die Geschichte eintreten … Heute, mit dem Ablauf dieses Tages, ersteht das neue Deutschland.“ Als der KPD-Abgeordnete Heinz Renner aus Essen zur Unterschrift aufgerufen wurde, erklärte er: „Ich unterschreibe nicht die Spaltung Deutschlands.“9 Mit dem Staatsnamen „Bundesrepublik Deutschland“ standen nun in der deutschen Nachkriegsgeschichte drei politisch relevante Deutschlandbegriffe neben- und gegeneinander. Sie hatten auch im Grundgesetz ihren Niederschlag gefunden: in Artikel 116 „das Deutsche Reich nach dem Stande vom 31. Dezember 1937“, in Artikel 23 das Gebiet der Länder, in denen das Grundgesetz geltendes Recht ist, und in Artikel 20 „die Bundesrepublik Deutschland“. Diese versuchte, ihren Staatsnamen durch eine Nichtanerkennung der DDR zu legitimieren, und sie beanspruchte die diplomatische Alleinvertretung von Deutschland. Der 1952 vereinbarte „Generalvertrag“, der das Besatzungsstatut der West-Alliierten ablösen sollte, wurde von der Adenauer-Regierung als „Deutschlandvertrag“ bezeichnet, obwohl er sich nur auf die Bundesrepublik bezog. Eine staatsrechtliche Kontinuität zum ehemaligen Deutschen Reich war für das Selbstverständnis der Bundesrepublik ein zentrales Anliegen. Alle Parteien, mit Ausnahme der KPD, erhoben Protest gegen den Görlitzer Vertrag, mit dem die DDR-Regierung 1950 die Grenze an Oder und Neiße anerkannt hatte. Um die deutschlandpolitische Position der Bundesregierung 8  Vgl.

Der Parlamentarische Rat (Anm. 6), Bd. 9, S. 26. S. 693 und 695. Zu den geistigen Vätern einer Reduzierung Deutschlands auf den Westen gehört auch der Ökonom Wilhelm Röpke mit seiner einflussreichen Schrift „Die deutsche Frage“ (1945). Dort das Resümee „Wir kommen zu dem Schluss, das man die föderative Neuordnung Deutschlands auf das deutsche Hauptland westlich der Elbe beschränken muss, indem man eine westdeutsche Konföderation schafft, an deren Spitze die westlichen Alliierten stehen.“ 9  Ebd.,

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öffentlich zu propagieren, wurde im Juni 1954 das „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ gegründet. Es verbreitete u. a. ein Plakat mit einer Deutschlandkarte, auf der das deutsche Reichsgebiet in den Grenzen von 1937 abgebildet war, versehen mit der Parole „Deutschland dreigeteilt? Niemals!“10 Dieses Plakat, das den reichsdeutschen Grundkonsens der westdeutschen Parteien dokumentierte, war über ein Jahrzehnt hinweg in den öffentlichen Gebäuden der Bundesrepublik präsent. Im Herbst 1956 kam es zudem zu einer besonderen Initiative für die Rolle Berlins: „Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands und daher die Hauptstadt der Bundesrepublik.“ Mit dieser These des CDU-Abgeordneten Gerd Bucerius wurde eine Debatte des Bundestags ins Leben gerufen, die im Februar 1957 zu einem fast einstimmigen Beschluss des Bundestages führte, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, den Regierungssitz nach Berlin zu verlegen!11 Berlin aber war bereits seit dem Oktober 1949 auch die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die aus der Sowjetischen Besatzungszone hervorgegangen war. Von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beherrscht, bekannte sie sich gleichfalls zum Ziel eines deutschen Nationalstaates. Auf diesen anderen deutschen Staat waren viele nationale Hoffnungen von deutschen Linken gerichtet. Er wurde mit einer Hymne ausgestattet, in der die Nachkriegssituation der Deutschen einen adäquaten Ausdruck gefunden hat.12 Doch die stalinistisch geprägte SED betrieb eine Politik der kommunistischen Umgestaltung des Landes und seiner zunehmenden Abgrenzung vom Westen. Das führte 1961 zu dem Bau einer Mauer in Berlin, mit der man sich stolz als ein sozialistisches Deutschland abgrenzte und in einem „Nationalen Dokument“ erklärte: „Heute stehen sich zwei deutsche Staaten auf deutschem Boden feindlich gegenüber. Jeder von Ihnen verkörpert ein grundsätzlich anderes Deutschland, grundsätzlich verschiedene deutsche Traditionen.“ Deutlicher konnte das nationalpolitische Fiasko in Deutschland, das sich durch die politisch-ideologische 10  Vgl. Christoph Meyer, Die deutschlandpolitische Doppelstrategie. Wilhelm Wolfgang Schütz und das Kuratorium Unteilbares Deutschland, Landsberg 1997, spez. S. 332 ff. 11  Vgl. Otto Dann, Die Hauptstadtfrage in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Theodor Schieder / Gerhard Brunn (Hrsg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten, München / Wien 1983, S. 55 f. Auch Meyer (Anm. 10), S. 137–143. 12  Allein die erste Strophe sei notiert: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,  Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.  Alle Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint,  Denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne, schön wie nie, über Deutschland scheint.“  Der aus dem Expressionismus stammende Dichter Johannes R. Becher tradierte das Deutschland-Ideal der Zwischenkriegszeit.



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Teilung Europas im Kalten Krieg legitimiert sah, wohl nicht zum Ausdruck gebracht werden.13 In den 1950er Jahren ist dieses Deutschland auf der Tagesordnung einer letztlich erfolglosen Verhandlungspolitik der Siegermächte des Weltkrieges geblieben, stets engagiert begleitet von den deutschen Parteien. So haben sowohl FDP wie SPD im Vorfeld der letzten dieser Gipfelkonferenzen, 1959 in Genf, ein „Deutschland-Programm“ erarbeitet, doch die deutschen Staaten durften nur an Nebentischen im Verhandlungsraum Platz nehmen. Das Klima der internationalen Politik stand jedoch schon bald im Zeichen einer von Kennedy und De Gaulle eingeleiteten Entspannung, und auch in der Bundesrepublik kam es zu einer Revision der Deutschlandpolitik. Hier wurde zunächst der reichsdeutsche Grundkonsens des offiziellen Deutschlandbegriffes infrage gestellt, sodann die Ostpolitik der Bundesregierung. Wichtige Impulse gingen von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Ostdenkschrift von 1965 aus, und auch im Herbst 1967 noch wirkte ein „Deutschland-Memorandum“ von Wilhelm Wolfgang Schütz, dem Vorsitzenden jenes Kuratorium Unteilbares Deutschland, provokativ, das mit den Sätzen begann: „Was ist Deutschland? Gibt es Deutschland? Hat Deutschland aufgehört zu existieren? Wenn es Deutschland gibt, was ist Deutschland in der heutigen Wirklichkeit? Bisherige Aussagen verlieren immer mehr an Glaubwürdigkeit. Für eine Generation, die das Deutschland in den Grenzen von 1937 nicht erleben kann, droht der Begriff zu verblassen.“14 Die Bereitschaft zu einer deutschlandpolitischen Wende hatte an Boden gewonnen. Wiederum war es die EKD, die mit der Ausarbeitung einer Denkschrift („Studie“) über die „Friedensaufgaben der Deutschen“ im Jahre 1967 dazu einen wichtigen Beitrag leistete.15 Selbst Kanzler Kiesinger stellte am 17. Juni 1967 fest: „Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutschland, hat eine kritische Größenordnung. Es ist zu groß.“ Aus solchen revisionsbereiten Aussagen ergaben sich bald auch politische Konsequenzen: der Verzicht der Bundesregierung auf ihre Position einer Alleinvertretung Deutsch13  Die geschichtliche Aufgabe der DDR und die Zukunft Deutschlands. Das ­ ationale Dokument vom 17.6.1962, in: Peter Brandt / Herbert Ammon (Hrsg.), Die N Linke und die nationale Frage, Reinbek 1981, S. 213 f. 14  Vgl. Christoph Meyer, Die deutschlandpolitische Doppelstrategie, Landsberg 1997, S. 399 ff. 15  Dazu ausführlich Claudia Lepp, Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969), Göttingen 2005, S. 600–654. Vgl. S. 520–538 zur Ost-Denkschrift. Aufschlussreich auch die breite kontroverse Diskussion im damaligen Protestantismus über den Wert von Vaterland und Nation sowie die Überwindung der deutschen Teilung, ebd. S. 538–595.

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lands (Hallstein-Doktrin) sowie eine Bereitschaft zur Anerkennung der Nachkriegsgrenzen Deutschlands im Osten. Schließlich erklärte Willy Brandt im Oktober 1969 als Kanzler der neuen sozial-liberalen Regierung die Absicht, „die Einheit der Nation dadurch zu wahren, dass das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird.“ Brandt sprach von „zwei Staaten in Deutschland“ und nannte als erster Bundeskanzler die DDR bei ihrem Namen.16 Deutschland wurde erneut ein Thema der internationalen Politik, nun jedoch aufgrund eigener deutscher Initiativen. Das führte im Jahre 1972 / 73 zu dem „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ (Grundlagenvertrag), mit dem beide deutsche Staaten ihre außenpolitische Sonderrolle aufgaben. Deutschland wurde daraufhin Mitglied der Vereinten Nationen, indes in der Gestalt von zwei konkurrierenden Staaten. Erstaunlich jedoch, dass im Text des Grundlagenvertrages der Begriff Deutschland als solcher nicht zu finden ist. Über die bisher kaum erforschten Hintergründe ist festzuhalten: Im Übergang von Walter Ulbricht zu Erich Honecker hatte die DDR-Führung einen nationalpolitischen Kurswechsel besonderer Art vollzogen. „Deutschland gibt es nicht mehr. Das ist gut so“, war im August 1970 einer SED-Delegation von Parteichef Breschnew erklärt worden. „Es gibt allein die sozialistische DDR und die kapitalistische Bundesrepublik.“17 Das war die Konsequenz der sowjetischen Mitteleuropa-Politik, die schon seit 1959 keine Deutschlandpolitik mehr gewesen war. Der Moskau stets ergebene Honecker ließ nach dem Abgang Ulbrichts im Jahre 1972 nun praktische Konsequenzen folgen, wobei das Erleben der Olympischen Spiele in München, die für die DDR-Elite hohen Prestigewert hatten, wohl eine besondere Rolle spielte.18 Nach solchen Erfolgen und der internationalen Anerkennung der DDR als souveräner Staat wollte die SED-Führung offensichtlich ihre deutschland­ politischen Probleme hinter sich lassen und sich dezidiert als Mitglied der kommunistischen Staatengemeinschaft verstehen. So verweigerte man in den Verhandlungen mit der Bundesrepublik eine Verwendung des Deutsch16  Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographischer Bericht, Bd. 71, S. 22. 17  Zit. bei: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, München 2002, S. 291. 18  Man hatte wahrgenommen, dass die westdeutschen Reporter nur die bundesdeutschen Sportler als Deutsche bezeichneten, nicht aber die aus der DDR. Vgl. beispielhaft Alfred Kosing, Innenansichten als Zeitzeugnisse, Berlin 2008, S. 345. Generell dazu Helmut Berschin, Wie heißt das Land der Deutschen?, in: Deutschland-Archiv 13, 1980, S. 73 f.; auch ders., Deutschland – ein Name im Wandel. Die deutsche Frage im Spiegel der Sprache, München 1979.



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landbegriffs, eliminierte ihn 1974 auch aus dem Text der eigenen Staatsverfassung und erließ weitgehende sprachpolitische Verfügungen, um den Deutschlandbegriff im öffentlichen Bereich verschwinden zu lassen.19 Man untersagte sogar den Gesang der eigenen Nationalhymne mit dem Vers „Deutschland einig Vaterland“. Das jedoch stieß in der Bevölkerung wie auch innerhalb der Partei auf Unverständnis und führte zu offenem Widerspruch.20 Das interne Ansehen der Staatsführung geriet in Gefahr, wurde damals wohl in der Tat irreparabel beschädigt. Die DDR verleugnete hier nicht nur den tragenden Begriff ihrer bisherigen Deutschlandpolitik, sondern auch einen zentralen Bezugspunkt ihres ursprünglichen Selbstverständnisses, das andere, das bessere Deutschland zu sein. In der Bundesrepublik jedoch hatte Honecker kurzfristig Erfolg. Seine radikale Sprachpolitik wurde hier verstanden als die Aufkündigung der deutschlandpolitischen Verantwortung, die die DDR bisher für sich beansprucht und auf ihre Weise, stets gegen die Bundesrepublik gerichtet, wahrgenommen hatte. Mit der Distanzierung der DDR von „Deutschland“ wurde die Bundesrepublik einen besonderen politischen Gegner los, denn der Deutschlandbegriff musste nicht mehr ein Gegenstand von Konkurrenz und Kontroversen sein, wie schon häufig im Rahmen internationaler Begegnungen. Die Westdeutschen aber konnten sich nun ungehemmt mit „Deutschland“ identifizieren, und das geschah umgehend, wie sich 1972 bei den Olympischen Spielen gezeigt hatte. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass in Westdeutschland eine Engführung des Deutschlandbegriffs auf die Bundesrepublik nicht neu war. Man denke an die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für den Staatsnamen „Bundesrepublik Deutschland“, aber auch an den Sprachgebrauch Konrad Adenauers (vgl. S. 91). Nun erst aber setzte sich der reduzierte Deutschlandbegriff in der bundesdeutschen Umgangssprache auf breiter Front durch. Wer Deutschland sagte, meinte die Bundesrepublik, wenn auch noch im Bundestag dagegen protestiert wurde.21 19  Aus dem „Deutschlandsender“ z. B. wurde die „Stimme der DDR“, die „Deutsche Akademie der Wissenschaften“ hieß nun „Akademie der Wissenschaften der DDR“, das Elite-Hotel „Deutschland“ am Leipziger Hauptbahnhof wurde zum „Hotel am Ring“, Verschont blieben nur die Namen der SED und deren Zentralorgan „Neues Deutschland“. 20  Vgl. beispielhaft die Erinnerungen von Alfred Kosing (Anm. 17), S. 344 ff. 21  Bei der ersten Lesung des Grundlagenvertrages erklärte der CDU-Sprecher Rainer Barzel: „Wir werden uns der Einengung des vaterländischen Bewusstseins auf die Bundesrepublik Deutschland widersetzen. Ich habe nicht die Absicht, ein Bundesrepublikaner zu werden. Wir sind Deutsche und gedenken dies zu bleiben.“ Zit. bei Berschin (Anm. 17), 1980, S. 76 f. Berschin konstatierte damals: „Im westdeutschen Sprachgebrauch ereignete sich eine stille Revolution: Sprachlich vertritt heute die Bundesrepublik nicht nur Deutschland, sie ist Deutschland.“

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Das Aufkommen der Parole „Modell Deutschland“ gehört in diesen Zusammenhang. Sie begegnet zuerst als Wahlspruch im Vorfeld der Bundestagswahl von 1976 und brachte – das ist bezeichnend – allein eine Qualifizierung der Bundesrepublik zum Ausdruck. „Weiter so auf dem Weg zum Modell Deutschland“ lautete ein Plakat-Vorschlag im Team der SPD. Die Parole wurde jedoch nur als eine Zielvorstellung formuliert, und auch der Kanzler-Kandidat Helmut Schmidt ging vorsichtig mit dem anspruchsvollen Wahlspruch um. Er sah „die Gefahr des Vorwurfs der Überheblichkeit“, konkretisierte daher die Aussage und stellte sie ab auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik.22 Die Bundesrepublik befand sich nach dem Regierungswechsel von 1969 in einer Epoche neuer Selbstfindung. Bundespräsident Heinemann hatte im Januar 1971 darauf aufmerksam gemacht, wie wenig das Bismarckreich als Tradition und Maßstab für das aktuelle Deutschland geeignet sei.23 Die bis dahin vorherrschende Orientierung am Kaiserreich von 1871 war seitdem obsolet geworden, und die Bundesrepublik stand vor der Aufgabe, sich auch als Deutschland neu zu definieren. In dieser Situation wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag vom 31. Juli 1973 zu einer viel diskutierten Herausforderung. In dem Karlsruher Urteilstext war geradezu provokativ das ehemalige Deutsche Reich revitalisiert worden, um als dessen Fortsetzung ein „Gesamtdeutschland“ als ein aktuell existierendes Völkerrechtssubjekt zu konstituieren, dem die Bundesrepublik Deutschland ihre politische Identität verdanke.24 Diese erfuhr somit eine enorme nationalpolitische Aufwertung. 22  Hartmut Soell, Helmut Schmidt. 1969 bis heute. Macht und Verantwortung, München 2008, S. 575 f. Vgl. dazu das Plakat „Modell Deutschland“ von 1976 mit dem Zitat von Helmut Schmidt „Vieles in unserer gemeinsamen Aufbauleistung ist beispielhaft. Vielleicht sogar ein Modell für andere.“ Zit. in: Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 13. In dieser thematisch einschlägigen Publikation werden jedoch die Herkunft und die Verwendung jener Parole sowie die deutschlandpolitische Situation um 1976 nicht thematisiert. Vielfach anregend für unsere Fragestellung ist der Beitrag von Hermann Rudolph, Deutsche Frage – deutsche Einheit, das., S. 121–139. 23  Ansprache am 17. Januar 1971 zum hundertsten Jahrestag der Reichsgründung, in: Gustav W. Heinemann, Präsidiale Reden, Frankfurt 1975, S. 142–148. In seiner Antrittsrede als Bundespräsident hatte Heinemann über Deutschland gesagt: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eines davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland.“, das., S. 32. 24  In Absatz B III wird erklärt: „Das Grundgesetz geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat. … Das Deutsche Reich existiert fort, besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation … selbst nicht handlungsfähig. … Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit



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Die Bundesregierung wurde dazu ermächtigt, als Vertreterin von „Gesamtdeutschland“ eine irredentistische Politik für alle Deutschen zu betreiben, und das hieß auch: eine aktive Politik der Wiedervereinigung.25 Demzufolge sahen sich die Bundesregierungen nun verpflichtet, jedem Bürger der DDR sowie den Deutschstämmigen aus kommunistisch regierten Staaten das Staatsbürgerrecht der Bundesrepublik zu garantieren. Die Bundesrepublik hatte sich als ein Staat zu verstehen, dessen Staatsvolk optional für diese Personen geöffnet war. Ein bevölkerungspolitischer Irredentismus also, der ethnisch und antikommunistisch legitimiert wurde, war zu einem nationalpolitischen Grundsatz der Bundesregierungen geworden. In der westdeutschen Bevölkerung jedoch setzten sich damals ein anderes politisches Selbstverständnis und damit auch ein anderer Deutschlandbegriff durch. In dem Bewusstsein, sich in den Krisen der sechziger und siebziger Jahre bewährt zu haben, verstand man sich zunehmend als eine konsolidierte demokratische Zivilgesellschaft. Deren Identitätsbildung war nicht national-gesamtdeutsch orientiert, sie war auf die eigene Verfassung und Geschichte bezogen und wurde akademisch als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet. In den jüngeren Generationen betrachtete nun jeder Zweite die DDR als Ausland, der Deutschlandbegriff wurde immer selbstverständlicher allein auf das Gebiet der Bundesrepublik bezogen (1987). Eine Wiedervereinigung Deutschlands war schon seit 1972 nur noch von einem Prozent der Bevölkerung als wichtigste politische Frage angesehen worden und nun von 79 Prozent kaum noch für möglich gehalten.26 Nicht ein vereinigtes dem Staat Deutsches Reich – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings teilidentisch (!) … Die DDR gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden.“ Dennoch wird in Abs. IV, 2 die völkerrechtliche Anerkennung der DDR als „eine faktische Anerkennung besonderer Art“ akzeptiert. Bundesrepublik und DDR gelten als „zwei Staaten, die Teile eines noch immer existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, weil noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland mit einem einheit­ lichen Staatsvolk sind.“ 25  Die Grenze zur DDR wird in Abs. V, 2 zu einer innerdeutschen Landesgrenze herabgestuft, und aus Art. 23 GG wird in Abs. V, 4 abgeleitet, dass „sich diese Bundesrepublik Deutschland als gebietlich (!) unvollständig versteht.“  Für DDR-Bürger war es gewiss bedeutsam, in Abs. V, 5 zu lesen, dass „die Bundesrepublik Deutschland jeden Bürger der DDR, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik und ihrer Verfassung gerät, als Deutschen wie jeden Bürger der Bundesrepublik behandelt. Er genießt deshalb auch den vollen Schutz der Gerichte der Bundesrepublik und alle Garantien der Grundgesetze des GG“. In Abs. V, 7 wird erklärt: „Das Eigentümliche dieses Vertrages liegt gerade darin, dass er … eine zusätzliche Rechtsgrundlage bildet, die die beiden Staaten in Deutschland enger als normale völkerrechtliche Verträge zwischen Staaten aneinander binden.“ 26  Umfragedaten aus: Deutschland-Archiv 20, 1987, S. 1262 ff., und ebd., 22, 1989, S. 1135 ff.

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Deutschland, sondern ein vereintes Europa war in der Bundesrepublik zur leitenden politischen Zielvorstellung geworden.27 Auch in der DDR war nach dem Grundlagenvertrag und der HelsinkiAkte von 1975 das Deutschlandbild in Bewegung geraten. Das Fernsehen hatte sich fast überall durchgesetzt, allabendlich versammelte sich ein ständig wachsender Teil der Bevölkerung zum Empfang der West-Kanäle. So entstand eine visuelle Erlebnisgemeinschaft der DDR-Bevölkerung mit den Deutschen der Bundesrepublik. Die SED-Regierung, die seit 1973 bereits den privaten Besitz von Westgeld akzeptiert und geschäftlich organisiert hatte, konnte nicht gegensteuern. Sie musste hinnehmen, dass der von ihr suspendierte Deutschlandbegriff im eigenen Volk einen neuen Glanz bekam. Die Bundesrepublik wurde gleichsam zu einem „Modell Deutschland“, einem entfernten Vaterland von Idealen und Hoffnungen.28 Zunehmend wurde bekannt, dass die Bundesregierung jedem Bürger der DDR, wie auch den Deutschstämmigen in kommunistisch regierten Staaten, das bundesdeutsche Staatsbürgerrecht garantierte, wenn sie im Geltungsbereich des Grundgesetzes erschienen. Dorthin zu gelangen, wenn auch nur in ein Botschaftsgebäude der Bundesrepublik, wurde für die Jüngeren und Mobilen in der DDR zu einer attraktiven Perspektive, und seit dem Regierungsantritt von Gorbatschow erschien das nicht mehr als utopisch. Der Irredentismus der Bundesregierung konnte wirksam werden. Als die seit 1986 stark ansteigenden Aussiedlerzahlen aus Osteuropa bekannt wurden, verbreitete sich in der DDR die Besorgnis, mit einer eigenen Ausreise zu spät zu kommen. Vor diesem Hintergrund kam es im Sommer 1989 zu einem Massensog des Exodus aus der DDR, und dieser wiederum löste bei der Majorität des DDR-Volkes die Demonstrationen der Herbstrevolution aus. Aus der latenten Unzufriedenheit wurde der offene und permanente Protest gegen das SED-Regime. Eine besondere Rolle spielte dabei, seit Jahren schon, die Gewährung und Regelung von „Westreisen“, bzw.: das Menschenrecht der Reisefreiheit im eigenen Vaterland Deutschland. In Verkennung dieser nationalpolitischen Problemlage war die DDR-Regierung nicht zu einer Problemlösung bereit, und so erlebte sie am 9. November 1989 27  „Wir fordern die Aufgabe der Wiedervereinigungspolitik, weil dieser Verzicht uns für eine notwendige Europa-Politik handlungsfähig macht,“ erklärte der Sprecher der Grünen in der Debatte „Zur Lage der Nation“ am 2. Dezember 1988, zit. bei Winkler (Anm. 17), S. 475. 28  Kurt Schumachers frühe Prognose einer deutschen Wiedervereinigung infolge einer Magnetwirkung des Westens konnte in Erfüllung gehen. In einem Artikel „Kampfjahr 1949“ hatte er geschrieben: „Die SPD sieht die einzige Möglichkeit für die Errichtung der deutschen Einheit in der ökonomischen Magnetisierung des deutschen Westens.“, in: Willy Albrecht (Hrsg.), Kurt Schumacher, Berlin / Bonn 1985, S. 622.



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mit dem Fall der Berliner Mauer den Verlust ihrer staatspolitischen Souveränität.29 Schon am folgenden Tag war Bundeskanzler Kohl in Berlin und versicherte der Menge vor dem Schöneberger Rathaus: „Wir sind und bleiben eine Nation, und wir gehören zusammen“, und er schloss mit den Worten: „Es geht um Deutschland. Es geht um Einigkeit und Recht und Freiheit. Es lebe ein freies deutsches Vaterland! Es lebe ein freies, einiges Europa!“30 Auf der Leipziger Montagsdemonstration erschien kurz danach eine neue Parole: „Deutschland einig Vaterland!“ Diesen Vers aus der DDR-Hymne (vgl. oben S. 95), die alle kannten, hatte Honecker zu singen verboten. Nun wurde er überall im Lande zu der zentralen Losung einer neuen Etappe der Herbstrevolution. Auch diese ging vom DDR-Volk aus, das sich in der ersten Etappe seiner Revolution mit der Losung „Wir sind das Volk!“ gegenüber der SED als der Volkssouverän erklärt hatte. Nun aber wurde der Begriff „Deutschland“ als eine neue Parole in den Zusammenhang der fortgeschrittenen Revolution gestellt, und diese bekam damit ein neues, bisher undenkbares Ziel: die Vereinigung Deutschlands. Mit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft hatte sich im DDR-Volk die Perspektive ergeben, die medial vermittelte gesamtdeutsche Erlebnisgemeinschaft als ein gemeinsames Vaterland politisch einzufordern. Auch eine persönliche Begegnung mit dem westlichen Modell-Deutschland spielte dabei eine Rolle: Etwa zwölf (!) der 16 Millionen DDR-Bürger gingen nach dem 9. November für einen Tagesbesuch über die offene Grenze und nahmen einhundert DM, das „Begrüßungsgeld“ der Bundesrepublik, in Empfang. Sie erlebten einen „Westschock“, wie man damals sagte. Am 17. November hatte in Berlin-Ost, wo man sich bereits von der Honecker-Clique getrennt hatte, ein Reform-Kabinett unter Hans Modrow den Vorschlag einer „Vertragsgemeinschaft, die weit über den Grundlagenvertrag hinausgeht“, und damit einen ersten Schritt in Richtung eines ver­ einigten Deutschland gemacht. Daraufhin ergriff Bundeskanzler Kohl am 28. November die Initiative und skizzierte überraschend im Bundestag die Perspektive eines „wiedervereinigten Deutschland“.31 Schließlich eröffneten 29  Bundespräsident Richard von Weizsäcker ließ am nächsten Morgen erklären: „Die für uns Deutsche so bewegenden Stunden der letzten Nacht bedeuten einen tiefen historischen Einschnitt in die Nachkriegsgeschichte. … Es gilt nun, mit Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß Schritt für Schritt einen Zustand zu erreichen, in dem die Menschen in Deutschland hüben und drüben in Freiheit und Würde miteinander leben können.“, in: Ingo von Münch, Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Stuttgart 1991, S. 33. 30  An gleicher Stelle fand Willy Brandt lediglich zu dem Ausspruch „Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es.“ Die Zitate bei Winkler (Anm. 16), S. 518 f. 31  Bei von Münch (Anm. 29), S. 56 (Modrow) und 63 f. (Kohl).

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die beiden deutschen Regierungschefs noch am Jahresende den freien Durchgang durch das Brandenburger Tor, das während der deutschen Teilung zum mahnenden Symbol für die Einheit Deutschlands geworden war. Die Realisierung eines vereinigten Deutschland jedoch war nur möglich mit den Mitteln und durch Initiativen der Bundesrepublik, das wurde allen Beteiligten bald deutlich. Die Bundesrepublik hatte indes – auch hinsichtlich des Deutschlandbegriffs – eine ganz andere Ausgangslage. Die Westdeutschen hatten sich ja weitgehend mit dem Deutschland in ihren Staatsgrenzen identifiziert, sie erlebten daher die Herbstrevolution in der DDR als Außenstehende, als das Geschehen in einem Nachbarland, das nicht Deutschland war. Nach dem 9. November aber sah man sich mehr und mehr dazu veranlasst, den auf die Bundesrepublik verengten Deutschlandbegriff aufzugeben und sich auf „Deutschland einig Vaterland“ einzustellen. Die Regierungen, die Parteien und ungezählte Kräfte im Westen ergriffen nun ihre Möglichkeiten einer Aktivität. Der Westen übernahm in dem Projekt der deutschen Vereinigung die Führung, nicht immer koordiniert und auch nicht immer fair gegenüber den schwächeren Partnern im Osten.32 Die Wahl einer demokratisch legitimierten Volkskammer der DDR, terminiert auf den 18. März 1990, wurde zur nächsten entscheidenden Etappe auf dem Weg zu einem vereinigten Deutschland. Auch bundesdeutsche Politiker engagierten sich im DDR-Wahlkampf, nicht zuletzt Helmut Kohl mit fünf Massenversammlungen direkt vor dem Wahltermin. Er hatte für den Wahlkampf des CDU-Bündnisses die Parole „Allianz für Deutschland“ instinktsicher durchgesetzt. Damit konnte jenes Modell Deutschland (vgl. oben S. 98), für die Wahl-entscheidende Mehrheit der DDR-Bevölkerung, die Kohl geschickt als „Landsleute“ bezeichnete, zu einem politischen Erfüllungsbegriff werden.33 Nach dem Resultat der Wahl des 18. März war die baldige Realisierung eines vereinigten Deutschland der eindeutige Wahlauftrag des DDR-Volkes. Lothar de Maizière, Ministerpräsident der ersten demokratischen DDR-Regierung, legte in seiner Regierungserklärung vom 19. April eine eingehende deutschlandpolitische Rechenschaft ab.34 Er war auch – leider vergeblich – 32  Man denke an die Reaktion des Westens auf die erstaunlichen Verhandlungsergebnisse, die Ministerpräsident Modrow am 1. Februar 1990 aus Moskau mitgebracht und unter dem Titel „Für Deutschland, einig Vaterland. Konzeption für den Weg zu einem einheitlichen Deutschland“ veröffentlicht hatte. Ebd., S. 79–81. 33  Von einem solchen hoch gestimmten Deutschlandbegriff war dann auch das öffentliche Engagement derer getragen, die im vereinigten Deutschland politische Verantwortung übernahmen, so heute zu Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck. 34  Ebd., S. 190–213. Daraus drei Zitate: „Unsere Zukunft liegt in der Einheit Deutschlands, in einem ungeteilten friedlichen Europa …“ „Deutschland liegt in der



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darum bemüht, das Deutschlandlied mit seiner belasteten Geschichte als Hymne für das vereinigte Deutschland zu vermeiden. Die deutschen Regierungen und Parlamente arbeiteten nun auf einen föderalen Nationalstaat Deutschland hin, den es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Mit der nicht unumstrittenen Entscheidung, die deutsche Vereinigung als einen „Beitritt“ der ostdeutschen Länder zu dem größeren Staat Bundesrepublik nach Art. 23 GG zu vollziehen – nicht aber nach dem in Art 146 GG dafür vorgesehenen demokratischen Procedere – das erschien unter dem Druck der Zeitumstände vielen als der bessere Weg, doch ist bis heute ein Defizit an demokratischer Legitimierung geblieben. Die Grenzen der neuen Bundesrepublik Deutschland waren von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges schon vor dessen Ende festgelegt worden (vgl. oben S. 89). Jene vier Regierungen hatten nun im September 1990 eine „Abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ zu vereinbaren, in der sie erklärten, „dass die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa ist“, und abschließend in Artikel 7: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegen­ heiten.“35 Nicht zu übersehen waren jedoch zahlreiche Bedenken gegenüber diesem Deutschland als Nationalstaat. Obwohl von dem nationalen Charakter der neuen Bundesrepublik öffentlich kaum Aufhebens gemacht wurde, gab es in der westdeutschen Intelligenz, die ihren Staat stolz als eine „postnationale Demokratie“ verstanden hatte, aus Furcht vor einem Deutschland-Nationalismus immer wieder Vorbehalte – bis hin zu der Losung „Nie wieder Deutschland!“36 Günter Grass etwa erfand den Ausdruck „Novemberland“, mit dem er auf viele Bezüge deutscher Geschichte verweisen – und den Deutschlandbegriff vermeiden konnte. Sogar der Begriff Nation ist im öffentlichen Diskurs damals zunehmend suspendiert worden.37 In der mit Spannung erwarteten Hauptstadt-Entscheidung des Deutschen Bundestages, die für den 20. Juni 1991 im Bonner Wasserwerk angesetzt war, ging es noch einmal um eine deutschlandpolitische RichtungsentscheiMitte Europas, aber es darf sich nie wieder zum Machtzentrum Europas erheben wollen. …“ „Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns auch zu diesem doppelten Erbe.“ 35  Bei von Münch (Anm. 29), S. 372 und 377. 36  Vgl. den Zusammenhang bei Winkler (Anm. 17), S. 630–638. 37  Dazu Otto Dann, Der Begriff Nation im geteilten Deutschland, in: Pavel Reznik / Milos Kolar (Hrsg.), Historische Nationsforschung im geteilten Europa 1945– 1989, Köln 2012, S. 211 ff.

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dung. Hier brachte der Abgeordnete Günter Verheugen als Vertreter der jüngeren Generation des Westens ein weit verbreitetes Unbehagen zum Ausdruck, sich „die deutsche Einheit … als Wiederherstellung eines größeren deutschen Nationalstaats vorstellen“ zu müssen. Demgegenüber ist bis heute der Appell des von seinem Unfall genesenen Wolfgang Schäuble bei vielen in Erinnerung. In wenigen Sätzen erklärte er: „In Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands, das ist die entscheidende Frage. … Es geht um unsere Zukunft in dem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss.“38 Das Abstimmungsergebnis machte deutlich, dass die knappe Mehrheit für Berlin vor allem denen zu verdanken ist, die wie jener CDU-Abgeordnete aus Südbaden dazu befähigt waren, sich von den für sie nahe liegenden Motiven zu lösen und überregionalen Gesichtspunkten, seien sie national oder europäisch begründet, den Vorzug zu geben. Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, begegnet „Deutschland“ täglich auf den Briefmarken und kennzeichnet deren Geltungsbereich. Es ist ruhig geworden um diesen Terminus, wie es einem Eigennamen angemessen ist. Als Name der allseits anerkannten Bundesrepublik ist der Begriff erstmals in seiner Geschichte eindeutig; er fordert nicht mehr zu politischen Aktionen heraus. „Modell Deutschland“? Das war im Jahr der Bundestagswahl von 1976 ein riskanter Wahlspruch der SPD. Sie konnte auf die politischen Erfolge von Willy Brandt und Helmut Schmidt zurückblicken, und außerdem hatte sich die Bedeutung des Deutschlandbegriffs damals gewandelt. Er wurde seit 1972 mehr und mehr allein auf die Bundesrepublik bezogen, zumal die DDR-Führung diesen Begriff ostentativ ausgemustert hatte (vgl. S. 94 f.). So begann eine Epoche, in der „Deutschland“ in der westdeutschen Umgangssprache allein die Bundesrepublik bezeichnete. Es zeigte sich jedoch, dass dieses Deutschland in der DDR über seine mediale Vermittlung als ein ‚Modell Deutschland‘ zu einer Zielvorstellung wurde, und so konnte es für die deutsche Vereinigung als Leitbegriff konstitutiv werden. Heute aber, seit Beginn unseres Jahrhunderts, ist die Parole „Modell Deutschland“ eine These, die gelegentlich den politischen Journalismus herausfordert oder auch eine politikwissenschaftliche Debatte auslöst, und hier bleibt es eine Aufgabe, den Deutschlandbegriff selbst freizuhalten von problematischen Aufwertungen und Klassifizierungen.

38  Die Hauptstadt-Debatte, hrsg. von Helmut Herles, Bonn 1991, S. 124 ff. und 29 ff. Das Abstimmungsergebnis ebd., S. 288 ff. Von 660 abgegebenen Stimmen entfielen 338 für den Berlin-Antrag, 320 für den Bonn-Antrag.

Deutsche Außenpolitik im 21. Jahrhundert Ein Diskussionsbeitrag! Von Carlo Masala I. Einleitung Auch im 21. Jahrhundert wird Deutschlands Zugehörigkeit zu militärischen und politischen Bündnissen von zentraler Bedeutung für die Außenund Sicherheitspolitik des Landes sein. Allerdings darf dies nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das 21. Jahrhundert einer Neudefinition deutscher Beteiligung an diesen Bündnissen bedarf. Denn der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert hat zu einem großen Teil die Parameter deutscher Außen- und Sicherheitspolitik fundamental verändert und infolge dieser Veränderung hat die deutsche Einbindung in diese Bündnisse ihre Raison d’Être verloren. Da hilft es auch nicht, wenn Politiker aller Couleur immer wieder die Zugehörigkeit Deutschlands zu den in Zeiten des Ost-West-Konflikts gegründeten Bündnissen mantraartig betonen. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, einen Diskussionsanstoß für diese Neubegründung zu leisten. Er wirft die These auf, dass deutsche Bündnispolitik im 21. Jahrhundert schwerpunktmäßig von der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in Direktoraten gekennzeichnet sein wird. Unter Direktoraten werden in dem folgenden Beitrag informelle Gremien politischer Kooperation verstanden, in denen sich Staaten, die sich von einer politischen Entwicklung in besonderem Maße betroffen fühlen innerhalb oder außerhalb existierender Institutionen zusammenfinden, um fallbezogen und damit ad hoc diese Fragen zu beraten und ggf. zu handeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit dem Ende des Ost-West Konflikts nicht nur verstärkt an Beratungen in solchen Gremien informeller Politik1 teilgenommen, sie hat sie zum Teil sogar initiiert. Um diese These zu entfalten, geht der vorliegende Beitrag wie folgt vor. Zunächst einmal werden in Kapitel II. die strukturellen Bedingungen dargelegt werden, unter denen sich Außen- und Sicherheitspolitik von Staaten 1  Christopher Daase / Oliver Kessler (2008), From Insecurity to Uncertainty: Risk and the Paradox of Security Politics, in: Alternatives 33: 2, S. 211–232.

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vollzieht. Der informierte Leser wird unschwer erkennen, dass der Verfasser des vorliegenden Beitrages eine modifizierte Version des strukturellen Realismus2 seiner Analyse zugrunde legt. Es werden die Konstanten herausgearbeitet, aber insbesondere wird auf die Veränderungen eingegangen, die mit dem Fall der Mauer einhergegangen sind und die auch, sowie insbesondere, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik betreffen. In dem darauf folgenden Kapitel III. wird auf die Bedeutung und die Rolle von Bündnissen in der internationalen Politik eingegangen werden. Ein besonderes Augenmerk liegt in diesem Kapitel auf den Konsequenzen, die seitens der veränderten strukturellen Bedingungen der internationalen Politik für die Kooperation von Staaten im Rahmen dieser Bündnisse resultieren. Denn aus diesen Konsequenzen lässt sich die empirisch zu beobachtende Tendenz zur vermehrten Bildung von Direktoraten erklären. Nachdem mit Kapitel II. und III. die (quasi-)theoretischen Grundlagen gelegt wurden, geht Kapitel IV. auf deutsche Bündnispolitik seit der Wiedervereinigung ein. Dabei wird Deutschlands Agieren innerhalb der NATO als auch innerhalb der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) gesondert betrachtet werden.3 II. Strukturelle Bedingungen 1. Konstanten

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich nach wie vor in einem dezentralisierten anarchischen Selbsthilfesystem, in dem Staaten unter den Bedingungen eines Macht- und Sicherheitsdilemmas agieren und interagieren.4 Aus dieser Grundkonstellation resultiert ein kompetitiver Charakter in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Da es an einer übergeordneten Instanz fehlt, die für Ordnung und Sicherheit im internationalen System Sorge tragen kann, stellt Existenzerhaltung und ggf. Existenzentfaltung für Staaten ein Problem ersten Ranges dar. In ihrer Beziehung zu anderen Staaten sind Staaten stets mit dem Problem der Macht konfrontiert bzw. ihr ausgesetzt, so dass zwischenstaatliche Kooperation zwar nicht unmöglich, aber schwierig ist, da eine übergeordnete Instanz fehlt, die den an der Kooperation beteiligten Staaten Erwartungssicherheit hinsichtlich der 2  Carlo Masala (2010), Neorealismus, in: Carlo Masala  /  Frank Sauer  /  Andreas Wilhelm (Hrsg.), Handbuch der Internationalen Politik, Wiesbaden, S. 53–67. 3  Diesem Beitrag liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass sich die gleichen Prozesse in anderen Bereichen (wie z. B. globaler Wirtschaft- oder Umweltpolitik) beobachten lassen. 4  Vgl. John H. Herz (1961), Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart, S. 130–131.



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voraussichtlichen Kosten / Nutzen bietet bzw. einen Ausgleich zwischen Vorund Nachteilen gewähren kann. In dieser Perspektive ist Außen- und Sicherheitspolitik immer Machtpolitik. 2. Veränderungen

Während es mit Blick auf die Grundstruktur des internationalen Systems seit dem Westfälischen Frieden keine Veränderung gegeben hat, so hat das Ende des Ost-West-Konflikts eine entscheidende und einschneidende Veränderung mit Blick auf die Machtverteilung zwischen den Großmächten im internationalen System nach sich gezogen, die fälschlicherweise von einigen Wissenschaftlern5 und vor allem von der öffentlichen Meinung als Uni­ polarität charakterisiert wird. Denn ein genauer Blick auf die gegenwärtig zwischen den Großmächten existierende Machtverteilung, die an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben werden kann, offenbart, dass es sich bei dem gegenwärtigen internationalen System um ein multipolares System mit unipolarem sicherheitspolitischem Kern handelt,6 in dem die USA, aufgrund ihrer militärischen Stärke, eine besondere, jedoch nicht die herausragende Stellung einnehmen. Es ist gegenwärtig auch noch verfrüht im Lichte der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise erneut von einem „american decline“ zu sprechen,7 denn gegenwärtig verlieren alle Großmächte im internationalen System relativ und nicht absolut, wodurch sich an der grundsätzlichen machtpolitischen Konfiguration im internationalen System nichts ändert. 3. Konsequenzen

Welches sind nunmehr die Konsequenzen die aus der Grundstruktur des internationalen Systems für die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland resultieren? Im Folgenden werden vier Auswirkungen näher zu betrachten sein. Diese sind im Einzelnen: 5  William Wohlforth  / Stephen G. Books (2005), International Relations Theory and the Case against Unilateralism, in: Perspectives on Politics 3: 3, S. 509–524. 6  Vgl. ausführlicher dazu: Carlo Masala (2005), Den Blick nach Süden? Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden, Kap. II. 7  Carmen M. Reinhart  /  Kenneth S. Rogoff (2009), The Aftermath of Financial Crises (paper prepared for presentation at the American Economic Association meetings in San Francisco, Saturday, January 3, 2009 at 10:15 a. m., session title: „International Aspects of Financial Market Imperfections“), in: http: /  / www.economics. harvard.edu / files / faculty / 51_Aftermath.pdf; 17.01.2011.

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(1) Der Aufstieg von Großmächten; (2) die Schwächung multilateraler Institutionen; (3) das Ende des politischen Westens; (4) das Aufkommen neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen. ad (1): Nicht erst seit dem russisch-georgischen Krieg vom Sommer 2008 ist die Tendenz zu beobachten, dass regionale Mächte mit zunehmenden Selbstbewusstsein und ordnungspolitischem Anspruch, auf die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrt sind. Insbesondere Russland und China machen aus ihrem Anspruch regionale Ordnungsmächte zu sein, keinen Hehl und betreiben, teils offen, teils verdeckt eine „strategy of denial“ Politik, die darauf abzielt, den militärischen, politischen und ökonomischen Einfluss der USA in ihren jeweiligen Regionen zurückzudrängen.8 Aber auch Brasilien und Indien (zwei demokratische Staaten) entwickeln sich zu selbstbewussten regionalen Großmächten, die zunehmend die institutionellen Strukturen der in Zeiten des Ost-West-Konfliktes aufgebauten Weltordnung infrage stellen.9 All diesen aufsteigenden Mächten ist gemein, dass sie (noch?) keine offene revisionistische Politik betreiben, die auf eine revolutionäre Umgestaltung der gegenwärtigen internationalen Ordnung abzielt. Jedoch gibt es bereits Anzeichen dafür, dass einige dieser aufstrebenden Staaten neben der machtpolitischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten auch einen ordnungspolitischen Dissens im Bereich der Interpretation staatlicher Souveränität zu westlichen Staaten suchen. Die von europäischen Staaten sowie den USA in der letzten Dekade zusehends aufgeweichte Souveränitätsnorm, wonach interne Angelegenheiten eines Staates unter gewissen Umständen (Genozid, ethnische Vertreibungen), das Eingreifen anderer Staaten zur Pflicht machen (duty to protect10) wird von diesen Staaten abgelehnt. Anstelle einer Aufweichung der Souveränitätsnorm betonen diese Staaten die fortdauernde Relevanz des Nichteinmischungsprinzips.11 8  Zu Russland siehe Monica D. Toft (2008), Russia’s Recipe for Empire, in: http: /  / www.foreignpolicy.com / story / cms.php?story_id=4462; 17.01.2011. Zu China vgl. Thomas Christensen (2006), Fostering Stability or Creating a Monster? The Rise of China and U.S. Policy towards East Asia, in: International Security 31: 1, S. 81–126. 9  Vgl. Sarah Sewall (2008), A Strategy of Conservation: American Power and the International System (Harvard Kennedy School faculty research paper, Mai 2008, RWP08-028), S. 8. 10  Allen Buchanan  / Robert O. Keohane (2006), The Legitimacy of Global Gov­ ernance Institutions, in: Ethics and International Affairs 20: 4, S. 405–437. 11  Vgl. Embassy of the People’s Republic of China in Australia (2005): China, Russia Issue Joint Statement on New World Order (04.07.2005), in: http: /  / au.chinaembassy.org / eng / xw / t202227.htm; 17.01.2011.



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Wie sich der Aufstieg neuer Großmächte in Zukunft in concreto vollziehen wird, ob kooperativ oder konfrontativ, ist eine Frage, die aus der heutigen Sicht nicht beantwortet werden kann. Gleichwohl ist jedoch bereits jetzt absehbar, dass das zukünftige internationale System in welchem Deutschland agieren und interagieren wird, ein multipolares sein wird und die Frage, ob diese Multipolarität eine stabile oder instabile12 sein wird, hängt maßgeblich davon ab, ob die aufsteigenden Mächte die neue Ordnung als eine legitime, somit ihren Interessen dienliche, oder illegitime perzipieren werden. Sollte Letzteres der Fall sein, so ist eine Rückkehr zu einer globalen Politik der Konfrontation nicht auszuschließen. ad (2): Es ist bereits angedeutet worden, dass die neuen aufstrebenden Großmächte die multilaterale Ordnung der Zeit des Ost-West-Konflikts zunehmend infrage stellen. Doch auch seitens der Staaten, die maßgeblich am Aufbau dieser Ordnung beteiligt waren (allen voran die USA) ist diese multilaterale Ordnung zunehmenden Druck ausgesetzt. Denn seit dem Ende des Ost-West-Konflikts lehnen die USA zwar nicht den Multilateralismus als System der zwischenstaatlichen Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre eigene Handlungsfreiheit (aus amerikanischer Perspektive) unnötig einschränkt.13 An die Stelle vertraglich basierter und damit handlungseinschränkend wirkender multilateraler Institutionen setzen die Vereinigten Staaten zunehmend auf informelle Gremien (wie z. B. die Proliferation Security Initiative), die aus ihrer Perspektive flexibler und effektiver sind und welche die reale Machtverteilung zwischen den USA und den anderen an solchen Initiativen beteiligten Staaten widerspiegeln. Die zunehmende Abkehr der USA von tradierten Institutionen (insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich) wirkt auch unmittelbar auf die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der gemeinsamen Mitgliedschaft in der NATO. Aus amerikanischer Sicht ist die Allianz ein zu vernachlässigendes Instrument ihrer politischen und militärischen Machtprojektion, wenn sie nicht zur Durchsetzung amerikanischer Interessen genutzt werden kann. Da nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes Interessendivergenzen zwischen den USA und insbesondere den „alten europäischen“ NATO-Mitgliedern in nahezu allen politischen und militärischen Fragen vorherrschen,14 ist seitens der amerikanischen Administration, aber auch der außenpolitischen Eliten am Potomac15 ein zunehmendes Desinteresse an der 12  Zu der Unterscheidung zwischen stabiler und instabiler Multipolarität siehe John J. Mearsheimer (2001), The Tragedy of Great Power Politics, New York, Kap. 8. 13  Vgl. G. John Ikenberry (2003), Is American Multilateralism in Decline?, in: Perspectives on Politics 1: 3, S. 533–550. 14  Vgl. Helga Haftendorn (2002), Das Ende der alten NATO, in: Internationale Politik 57: 4, S. 46–54.

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Allianz zu konstatieren. Die sicherheitspolitische Hinwendung zum Pazifik, die unter der Obama Administration vollzogen wurde, wird auch unter einem möglichen republikanischen Präsidenten beibehalten werden. An die Stelle von Politik in Institutionen tritt seitens der Vereinigten Staaten zunehmend Politik außerhalb von Institutionen, in Direktoraten oder sogenannten Koalitionen der Willigen und Fähigen. 15

Die Schwächung multilateraler Institutionen ist jedoch nicht nur auf der globalen Ebene festzustellen und ist nicht nur durch die USA verursacht, sondern vollzieht sich auch regional. Durch ihre Erweiterung nach Osten bei gleichzeitig ausbleibender Vertiefung ist auch der europäische Handlungsrahmen der Bundesrepublik Deutschland in eine schwere Krise geraten und zwar nicht nur was die institutionelle Weiterentwicklung der EU anbetrifft, sondern auch was ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik anbelangt. Insbesondere die Frage, wie die Beziehungen zu den USA und zu Russland zukünftig gestaltet werden sollen, spaltet die Unionsmitglieder. Die meisten osteuropäischen Staaten würden eine Konzeption befürworten, in der Europa unter amerikanischer Hegemonie eine konfrontative Politik gegenüber der Russischen Föderation betreibt, was von der Mehrheit der Gründungsmitglieder der EU abgelehnt wird. Dieser kon­ zeptionelle Dissens lähmt jedoch die konsequente Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und vor allem der ESVP hin zu Instrumenten politischer und militärischer Machtprojektion der EU.16 Durch die europäische Finanz- und Währungskrise ist die europäische Politik wohl auf absehbare Zeit darauf fokussiert, die gemeinsame Währung zu retten und den gemeinsamen Wirtschaftsraum zu stabilisieren. Für eine konzeptionelle Weiterentwicklung der europäischen Sicherheits­ politik wird es auf absehbare Zeit an Geld und Aufmerksamkeit mangeln. Was man mit Blick auf den sicherheitspolitischen Multilateralismus, der einer der Eckpfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik während des Ost-West-Konflikts gewesen ist, festhalten kann, ist die Tatsache, dass Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend außerhalb dieser Institutionen stattfindet und sich entweder in „weichen“, nur zu einem geringen Maße verregelten Institutionen oder in Direktoraten verlagert hat. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Stellenwert eines Staates in diesen „neuen“ Formen der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend danach bemessen wird, 15  So haben sich beide Kandidaten im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf bislang kaum zur Allianz und ihrer Bedeutung für die Außen- und Sicherheitspolitik der USA geäußert. 16  Daniela Kietz / Volker Perthes (Hrsg.) (2007), Handlungsspielräume einer EUPräsidentschaft. Eine Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten Halbjahr 2007, Berlin.



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welche machtpolitischen Beiträge er zu leisten bereit ist. D. h. der Besitz von Machtmitteln allein (sei er ökonomischer oder militärischer Natur) garantiert noch keine Mitgliedschaft in diesen Formen der informellen Institutionalisierung, vielmehr muss der politische Wille zu ihrem Einsatz vorhanden sein et vice versa.17 ad (3): Die skizzierte Schwächung der beiden – für die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands zentralen multilateralen Institutionen – fördert auch eine Einsicht zutage, der sich die meisten führenden Politiker der Bundesrepublik Deutschland bis heute verstellen: nämlich die Tatsache, dass der Westen als politische Handlungseinheit nicht mehr existiert. Zwar werden die europäischen Staaten und die USA auch weiterhin durch ihre gemeinsame Geschichte und Kultur auf das Engste verbunden bleiben, daraus zu folgern, dass sie aber auch zukünftig eine stabile politische Handlungseinheit bilden werden, ist jedoch verfehlt.18 Nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes werden die USA und Europa nur noch auf einer Ad-hoc-Basis, wenn Interessenidentität vorherrschend ist, gemeinsam handeln, wenn jedoch Interessendivergenzen zwischen den USA und den Europäern, aber auch unter den Europäern selbst, handlungsbestimmend sein werden, wird Außen- und Sicherheitspolitik im transatlantischen und europäischen Rahmen durch Koalitionen der Willigen und Fähigen dominiert sein, die sich teils der vorhandenen Institutionen bedienen werden, wenn dies jedoch nicht möglich sein sollte, außerhalb dieser handeln werden. In dieser Perspektive kann die Libyen-Intervention des Jahres 2011 als Blaupause für zukünftige Sicherheitspolitik erachtet werden.19 Folgt man dieser Einsicht, dann wird auch ersichtlich, warum alle Versuche, den politischen Westen als Handlungseinheit wiederherzustellen, zum Scheitern verurteilt sind, solange sich die Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt sehen, die es dann erforderlich macht, dass die politische Handlungseinheit „Westen“ sich unter hegemonialer Führung der USA oder als balancierte Konfiguration zwischen Europa und den USA rekonstruiert. 17  David A. Baldwin (1979), Power Analysis and World Politics, in: World ­Politics 31: 2, S. 161–194. 18  Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link sehe ich auch nicht die Aufteilung in den amerikanischen und den europäischen Westen, da die Interessendivergenzen unter den Mitgliedstaaten der EU ebenso groß sind, wie die zwischen der EU und den USA. Vgl. Angelo Bolaffi in FAZ vom 19.05.2003. Allerdings würde ich in Anknüpfung an beide Autoren auch argumentieren, dass die Rekonstruktion des europäischen Westens eher wahrscheinlich ist als die des transatlantischen Westens. 19  Vgl. dazu: Carlo Masala (2011), Im Westen nichts Neues, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 1, S. 121–134.

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ad (4): Dass multilaterales Handeln im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auch zukünftig notwendig sein wird, zeigt ein Blick auf die existierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen, denen sich die Bunderepublik Deutschland auch zukünftig ausgesetzt sehen wird. Neben den mittlerweile schon zum klassischen Kanon gehörenden Herausforderungen, wie Terrorismus, zerfallende Staaten und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen20 hat der russisch-georgische Krieg gezeigt, dass der zwischenstaatliche Krieg möglicherweise eine Renaissance erlebt. Zwar nicht als industrialisierter Krieg, wie ihn die Vergangenheit kannte,21 wohl aber als begrenztes und kalkuliertes politisches Instrument, um Regierungen einzuschüchtern. Aus dieser Rückkehr des zwischenstaatlichen Krieges, der im Bewusstsein außen- und sicherheitspolitischer Planer bislang nur noch als höhst unwahrscheinliche Residualkategorie existierte, leiten sich neue Herausforderungen für die Planung und Ausrüstung von Streitkräften ab. Dabei stellt sich den Staaten der NATO und damit auch der Bundesrepublik jedoch folgendes Problem: Die seit Mitte der 1990er Jahre erfolgte Umschichtung der Verteidigungsbudgets zugunsten der Aufstellung und Ausrüstung von „expeditionary forces“ müsste entweder korrigiert werden, um mehr Geld für klassische Territorialverteidigung zur Verfügung zu haben oder aber, Verteidigungshaushalte müssten erhöht werden, um den möglicherweise gewachsenen Anforderungen an eine glaubwürdige Landesverteidigung gerecht zu werden. Im ersteren Falle würde eine erneute Umschichtung der Mittel dazu führen, dass weder Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes noch die Landesverteidigung effektiv durchzuführen wären, da beide an einer chronischen Unterfinanzierung leiden würden. Der letztere Fall kann gegenwärtig ausgeschlossen werden, da es a) im Zuge der Finanzkrise nicht zu erwarten ist, das Verteidigungshaushalte erhöht werden und selbst wenn dies geschehen sollte, es unwahrscheinlich ist, dass eine solche Erhöhung b) auf die Zustimmung der Bevölkerung in europäischen Staaten stoßen würde. Nachdem nunmehr in Grundzügen dargestellt wurde, wie sich die Rahmenbedingungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verändert haben, soll nunmehr danach gefragt werden, wie sich diese neuen strukturellen Rahmenbedingungen auf die sicherheitspolitischen Bündnisse auswirken, die bislang die Eckpfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik gewesen sind. Die Rede ist von NATO und EU. 20  Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.) (2006), Weißbuch zur Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr 2006, Berlin. 21  Vgl. Dale Copeland (2000), The Origins of Major War: Hegemonic Rivalry and the Fear of Decline, Ithaca.



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III. Allianzen im neuen internationalen System Ein multipolares System mit unipolarem (sicherheitspolitischem) Kern hat unmittelbare Auswirkungen auf Allianzen, in denen die sicherheitspolitisch unipolare Macht Mitglied ist. Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die sicherheitspolitische Machtasymmetrie zwischen dem Unipol und den anderen Allianzmitgliedsstaaten dazu führt, dass der Unipol immer weniger auf Koordination und Abstimmung seiner Politik mit anderen Allianzmitgliedern angewiesen ist.22 Die überragende Machtfülle versetzt ihn in die Lage, seine Politik ohne die Unterstützung von Alliierten umzusetzen. Zugleich ist die überragende Macht nicht auf alle Allianzmitglieder bei der Verfolgung ihrer Ziele angewiesen. Sie kann cherry-picking betreiben, um sich eine loyale Koalition zur Verfolgung ihrer Ziele zusammenzustellen. Die existierenden Machtasymmetrien innerhalb einer solch konfigurierten Allianz stellen für die „schwächeren Staaten“ insofern ein Problem dar, als dass ihr Einfluss auf die Politik der überragenden Macht sinkt. Während zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes die europäischen Staaten durchaus in der Lage waren, die Politik der USA in Teilen zu beeinflussen,23 schwinden die Möglichkeiten der Einflussnahme unter den Bedingungen sicherheitspolitischer Unipolarität. Dies bedeutet nicht, dass Allianzmitglieder keine Möglichkeit haben, sich dem Druck der unipolaren Macht zu entziehen oder sogar dagegen zu wirken, wie die deutsch-französischen Versuche zur Delegitimierung des Irak-Krieges 2002 / 2003 gezeigt haben, die Wahrscheinlichkeit, dass sie jedoch in der Lage sind, die stärkste Macht in der Allianz von bestimmten politischen Handlungen abzubringen, ist, angesichts der vorhandenen Machtasymmetrien, eher gering. Was sich in einer Allianz unter den Bedingungen sicherheitspolitischer Unipolarität verschärft, ist das von Glenn Snyder herausgearbeitete „entrapment“ und „abondonment“ Problem,24 wonach schwächere Staaten einer Allianz im Falle eines Konfliktes mit einem Allianzmitglied fürchten müssen, im Stich gelassen zu werden (abandonment) und die stärkste Allianzmacht zurückhaltend sein wird, in Konflikte verwickelt zu werden (entrapment), die aus ihrer Sicht nicht von vitalem Interesse sind. Somit verschärft die neue machtpolitische Struktur des internationalen Systems eine Grund22  Die folgenden Ausführungen stützen sich in wesentlichen Teilen auf Carlo Masala (2003), Den Blick nach Süden? Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden, sowie Stephen M. Walt (2009), Alliances in a Unipolar World, in: World Politics 61: 1, S. 86–120. 23  Vgl. Thomas Risse-Kappen (1995), Cooperation Among Democracies: The European Influence on U.S. Foreign Policy, Princeton. 24  Vgl. Glenn Snyder (1997), Alliances Politics, Ithaca.

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tendenz, die internationale Politik bereits seit jeher kennzeichnet, die aber in Zeiten des Ost-West-Konflikts unter den Mitgliedern von Allianzen abgemildert war: die Unsicherheit über das Verhalten der Allianzpartner im Konfliktfall. Wurde diese Unsicherheit durch die Existenz einer von allen Allianzmitgliedern einheitlich (grosso modo) wahrgenommenen, überragenden Bedrohung abgemildert, so ist unter den Bedingungen der Risikodiffussion25 unklar, inwieweit Allianzverpflichtungen dazu führen könnten, in Konflikte hineingezogen zu werden, die nicht im eigenen Interesse liegen bzw. inwieweit Allianzpartner im Ernstfall ihre eingegangenen Verpflichtungen auch erfüllen werden. Nachdem die strukturellen Auswirkungen des neuen internationalen Systems für die allianzinterne Kooperation skizziert wurden, gilt es in einem nächsten Schritt zu fragen, ob und wie sich die Bundesrepublik Deutschland an diese Bedingungen angepasst hat. IV. Grundzüge deutscher Außen- und Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bunderepublik Deutschland hat sich nach der Wiedervereinigung den neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nur bedingt angepasst. Dort, wo sie es tat, erfolgte die Anpassung ad hoc, und nicht als Teil einer grundlegenden außen- und sicherheitspolitischen Strategie, mit dem Ziel, die außenpolitische Staatsräson des wieder vereinten Deutschlands neu zu bestimmen.26 An die Stelle einer grundlegenden Debatte27 trat „piecemail engeneering“, darauf ausgerichtet, die aktuellen Herausforderungen, die sich für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik stellten, zu bewältigen. Die noch 1990 angestrebte gesamteuro25  Unter Risikodiffussion wird ein Zustand verstanden, in dem Unklarheit über die Natur potenzieller Bedrohungen herrscht und es keine vereinheitlichende Bedrohung mehr gibt. An die Stelle einer Bedrohung sind vielfältige Risiken getreten, die von Mitgliedern der Allianz in ihrer Bedeutung für die eigene nationale Sicherheit unterschiedlich wahrgenommen werden. Vgl. zur Herleitung dieses Begriffes: Carlo Masala (2005), Den Blick nach Süden? Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden, S. 22–36. 26  Vgl. Werner Link (2004), Grundlinien der außenpolitischen Orientierung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B11 / 2004, S. 3–8. 27  Um Missverständnissen vorzubeugen, rede ich nicht, wie so viele, einer Debatte um die Definition nationaler Interessen das Wort. Alle Regierungen der Bundesrepublik Deutschland haben stets ihre nationalen Interessen sehr deutlich, intern wie auch öffentlich, formuliert. Worum es hier geht, ist die Debatte um eine Grand Strategy, die Ziele und Instrumente deutscher Außenpolitik benennt. Vgl. Joachim Krause (2005), Auf der Suche nach einer Grand Strategy. Die deutsche Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung, in: Internationale Politik 60: 8, S. 16–25.



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päische Friedensordnung, in welche die deutsche Einheit eingebettet werden sollte, kam nicht zustande und wurde in den Jahren nach der Wiedervereinigung weder von der Bundesrepublik noch von anderen europäischen Staaten aktiv in Angriff genommen. Dies führte dazu, dass bei der politischen Elite aber auch bei der Bevölkerung der Russischen Föderation ein „Versailleskomplex“ entstanden ist, in dem sich Russland nicht nur als Verlierer des Ost-West-Konfliktes betrachtet, sondern auch als einen Staat, der vom Aufbau einer gesamteuropäischen Nachkriegsordnung ausgegrenzt wird. Historisch betrachtet, haben Nachkriegsordnungen, in denen der Verlierer des Krieges ausgegrenzt wurde und die entstandene Nachkriegsordnung als – aus seiner Sicht – nicht legitim erachtet hat, zu Revanchismus geführt. Aus dieser Perspektive wird die russische Politik der letzten Jahre gegenüber Europa und den USA erklärbar. An die Stelle des Aufbaus einer gesamteuropäischen Nachkriegsordnung trat die Anpassung der beiden zentralen Institutionen deutscher Außenpolitik, der EU und der NATO. Beide sollten erweitert und vertieft (im Falle der NATO transformiert) werden. Doch die vielbeschworene Parallelität von Erweiterung und Vertiefung vollzog sich lediglich als Erweiterung, denn für die NATO und die EU wichtige Fragen, wie die nach der inhaltlichen Räson von Vertiefung (resp. Transformation) und ihrer institutionellen Ausgestaltung, wurden ausgespart.28 Sicherheitspolitisch vollzog Deutschland, insbesondere unter Verteidigungsminister Rühe, den prekären Balanceakt, die deutsche Bevölkerung an Auslandseinsätze zu gewöhnen. Aufgrund einer seitens der politischen Elite in Bonn / Berlin dem deutschen Elektorat implizit unterstellten pazifistischen Tendenz, wurden Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte zumeist als Teil humanitärer Interventionen „verkauft“, in dem die hauptsächliche Rolle eines Bundeswehrsoldaten die eines bewaffneten Entwicklungshelfers (mit G36) ist. Diese Strategie, die Mitte der 1990er Jahre sicherlich richtig war,29 schlägt mittlerweile auf die deutsche Politik zurück, angesichts der Tatsache, dass sich die Aufgaben deutscher Soldaten in Afghanistan zusehends zu einem Kampfeinsatz entwickelt haben und kriegsähnliche Züge annehmen. Die politische Elite in Berlin schreckt jedoch – und dies ist parteiübergreifend gemeint – davor zurück, diese veränderte Aufgabenwahrnehmung bei Auslandseinsätzen dem Elektorat zu erklären und um Zustimmung zu der gewandelten Rolle der Bundeswehr in Konflikten außerhalb des Bündnisgebietes zu werben. 28  Vgl.

Simon Serfaty (2008), The Year of Europe? (EUISS Opinion No. 0), Paris. Timo Noetzel / Benjamin Schreer (2008), Ende einer Illusion. Die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland macht einen großen Bogen um die Wirklichkeit, in: Internationale Politik 63: 1, S. 96–101. 29  Vgl.

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Im Zuge des bevorstehenden Irak-Krieges (2002), gab es zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung so etwas wie eine Debatte um eine Grand Strategy der Bundesrepublik Deutschland, in der sich die regierende Rot-Grüne Koalition auf den Aufbau eines europäischen Gegengewichtes gegenüber (und nicht gegen, wie oftmals behauptet wird) den USA verständigte.30 Damit rückte die europäische Dimension prioritär in den Vordergrund deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Jedoch war dieser Politik nur ein kurzer Frühling beschieden. Die Große Koalition fiel zunächst, was die Grundlinien ihrer Außenpolitik anbelangte, in gewohnte Bahnen zurück. In ihrer Regierungserklärung vom 30. November 2005 betonte Bundeskanzlerin Merkel unmissverständlich das Primat der NATO als „stärkste[n] Anker unserer gemeinsamen Sicherheit“31 und wies dem Aufbau europäischer Verteidigungskapazitäten eine komplementäre Rolle zu. Damit ging sie – wie viele Regierungen vor ihr – von der Vereinbarkeit beider Entwicklungen aus. Zugleich bekannte sie sich auch als eine Befürworterin einer pragmatischen Politik, jedoch nicht im Sinne des Machbaren, sondern als einer Methode, die kleine Schritte verfolgt und dabei auf strategische Visionen bewusst verzichtet. Erst in jüngster Zeit scheint die Bundesregierung in dieser Hinsicht eine Kehrtwendung vollzogen zu haben. In seiner am 17. Februar 2012 gehaltenen Grundsatzrede in Harvard bemerkte der deutsche Verteidigungsminister de Maiziere, dass Europa mehr Verantwortung übernehmen müsse und solle und zwar in der NATO. „Ich halte mehr davon …“, so fängt die zentrale Passage dieser Rede an, „die europäische Stimme in der NATO zu stärken, als den Versuch zu unternehmen, ein europäisches Sicherheitsbündniss in Doppelung zu schmieden.“32 Diesem Primat der NATO zu Lasten der GSVP wurde bislang aus dem Auswärtigen Amt oder dem Bundeskanzleramt nicht widersprochen. 30  Vgl. die von Gunther Hellmann ausgelöste Debatte in der Zeitschrift Welt­ politik, um die Zukunft deutscher Außenpolitik: Gunther Hellmann (2005), Der Zwang zur großen Politik und die Wiederentdeckung besserer Welten. Eine Einladung zur Transformation der Auseinandersetzung über die machtpolitische Realisierung deutscher Außenpolitik, in: WeltTrends 13: 47, S. 117–125. 31  Angela Merkel (2005), Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 30.11.2005, in: http: /  / www.bundesregierung.de / Content / DE / Archiv16 / Re gierungserklaerung / 2005 / 11 / 2005-11-30-regierungserklaerung-von-bundeskanzlerinangela-merkel.html; 17.01.2011. 32  Zitiert nach: Thomas de Maiziere (2012), The future role of Germany in the International Security arena. Rede des Bundesminister der Verteidigung anläßlich der Harvard German Conference am 17. Februar, S. 10, abrufbar unter:http: /  / www. bmvg.de / portal / a / bmvg / !ut / p / c4 / NYy9CsJAEISfJQ_g7QUUgl1CGkEs0mjsNpf jXM n9sG6Sxof3rnAGppiPGXhCdsCNHArFgAs8YDR0nnY1c2pd1w5t8pToI9YptXDvW xmq0wMVkqKDUI5HaNEVimyLIWszJkommHUdd_pWv9Vf5vh1vbX01H3l24oh4 nReYQxxINB87KQvG_2tqp-J1HG8Q!! / 



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Mithin kann man konzedieren, dass die Bundesrepublik Deutschland die Anpassung an die neuen strukturellen Rahmenbedingungen in der Sicherheitspolitik zunächst über den Weg der Schaffung neuer institutioneller Designs versucht hat, damit aber nicht besonders erfolgreich war. Parallel hat sich die Bundesrepublik jedoch, wenn es in ihrem Interesse lag (oder die politische Elite in Bonn bzw. Berlin es als solches deklarierte), immer wieder an Formen informeller sicherheitspolitischer Kooperation beteiligt bzw. diese sogar initiiert. So war die Bundesrepublik Mitte der 1990er Jahre Teil der Bosnien-Kontaktgruppe zur Lösung des Bosnien-Konflikts und blieb Mitglied dieser – ab 1998 nunmehr in Balkan Kontaktgruppe umbenannten – Initiative, die sich ab 1998 um eine Regulierung des KosovoKonfliktes bemühte. Während des Kosovo-Krieges gehörte die Bundesrepublik neben den USA, Frankreich, Großbritannien und Italien zu jenen Staaten, die im sogenannten management-committee die Entscheidung über die Bombardierung bestimmter Ziele im Kosovo und in Serbien fällten und dabei auch des Öfteren Entscheidungen des Militärausschusses sowie des Nordatlantikrates der Allianz ignorierten.33 Doch nicht nur innerhalb der NATO, sondern auch im Rahmen der ESVP bzw. der GASP ließ und lässt sich die Tendenz zur Einbindung in Direktorate beobachten. Bereits 1994 schlug der Fraktionsvorsitzende der CDU / CSU Fraktion im Deutschen Bundestag, Wolfgang Schäuble, die Schaffung eines Kerneuropas (das auch ein Kerneuropa der Verteidigung sein sollte) vor. Diese Konzeption sah die Schaffung eines exklusiven Kerns innerhalb der EU von wenigen Staaten vor. Auch wenn der Vorstoß damals abgelehnt wurde, so bedeutete dies nicht, dass die grundsätzliche Idee, die Schaffung eines exklusiven Kreises von Staaten im Rahmen der erweiterten Union, damit vom Tisch war. Im Lissabonner Vertrag der Union von 2009 einigten sich die Unterzeichnerstaaten, dass im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zukünftig eine ständige strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) möglich sei.34 Diese SSZ ermöglicht es Staaten unter der Erfüllung bestimmter Bedingungen im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine engere Zusammenarbeit einzugehen, ohne dass Staaten, die an einer Vertiefung der Beziehungen in diesem Politikbereich kein Interesse haben, diese Zusammenarbeit dauerhaft behindern können. Mithin sieht der Vertrag von Lissabon die Möglichkeit der Schaffung sicherheitspolitischer Direktorate vor. 33  Vgl. Carlo Masala (2005), Den Blick nach Süden? Die NATO im Mittelmeerraum (1990–2003), Baden-Baden, S. 239–242. 34  Siehe Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit nach Artikel 28a des Vertrags über die Europäische Union, in: http: /  / www.politische-union.de /  euv / euv-p1a.htm; 17.01.2011.

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Doch die Bundesrepublik Deutschland war nicht nur darum bemüht, die Möglichkeit von exklusiver Kooperation innerhalb des EU-Rahmens voranzutreiben, sondern sie beteiligte sich auch in zwei Fällen federführend an der Schaffung von Direktoraten außerhalb des EU-Rahmens. Der erste Fall ist die EU-3 Initiative, mit Blick auf das iranische Nuklearprogramm, und der zweite, weitaus eindeutigere Fall, ereignete sich im Anschluss an den Libanonkrieg 2006, als die Bundesrepublik neben Frankreich, der Türkei und anderen Staaten, das Mandat zur Stationierung der UNIFIL II peacekeeping Truppen unter Auslassung der anderen EU-Mitgliedsstaaten ausarbeitete.35 Was Deutschlands Aktivitäten im Rahmen dieser sicherheitspolitischen Ad-hoc-Gremien anbelangt, so lässt sich festhalten, dass die Anpassungsleistung deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik an die strukturellen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts erfolgreich gewesen ist. Es existiert allerdings ein manifester Widerspruch zwischen der Rhetorik deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die immer wieder die Notwendigkeit handlungsfähiger multilateraler Bündnisse betont sowie der deutschen Praxis, die auf die Schaffung von issue bezogenen Ad-hoc-Direktoraten hinausläuft. Letzteres trägt unweigerlich zur Schwächung Ersteren bei, wenn die Schaffung von Direktoraten von jenen Mitgliedern, die nicht Teil dieser „Clubs der Auserwählten“ sind, als notwendig erachtet werden oder als fait accompli akzeptiert werden. V. Fazit Ausgehend von den Konstanten und Veränderungen im internationalen System des 21. Jahrhunderts hat der vorliegende Beitrag die Frage gestellt, ob sich deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik diesen Veränderungen angepasst hat. Dabei wurde argumentiert, dass die bislang erfolgte Anpassung eher spontaner und inkrementeller Natur gewesen ist, als Ausdruck einer deutschen Grand Strategy, die Ziele formuliert sowie Instrumente und Strategien benennt, mit denen diese Ziele verfolgt werden sollen. Das Fehlen einer Grand Strategy, so wurde argumentiert, ist im Wesent­ lichen auf das Fehlen einer grundlegenden öffentlichen Debatte zur zukünftigen Orientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zurückzuführen. Zugleich wurde jedoch gezeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland sich verstärkt an Formen informeller Politik beteiligt, um sicherheitspolitisch zu agieren. Diese Formen informeller Politik, die durchaus als eine adäquate Anpassung an die neuen strukturellen Rahmenbedingungen erachtet werden 35  Vgl. Janis Emmanouilidis (2008), Conceptualizing a Differentiated Europe, Athen.



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können, trägt aber à la longue zu einer Schwächung der multilateralen Bündnisse bei, in denen die Bundesrepublik seit 1955 Mitglied ist und an denen allen deutschen Bundesregierungen, rhetorisch zumindest, viel liegt. Dadurch trägt die Bundesrepublik zu einem sicherheitspolitischen Dilemma bei, das sich nur abmildern jedoch nicht auflösen lässt. Denn Formen flexibler sicherheits­politischer Kooperation werden aller Voraussicht nach (solange wie es keine vereinheitlichende, überragende äußere Bedrohung gibt), die Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert charakterisieren. Direktorate sind somit die angemessene Antwort auf diese neuen sicherheitspolitischen Konstellationen. Zugleich sind die tradierten Bündnisse Teil der sicherheitspolitischen Identität der Bundesrepublik Deutschland (auch nach der Wiedervereinigung). Wenn aber die Tendenz zur exklusiven Kooperation die Bündnisse dauerhaft schwächt, folgt daraus, dass das deutsche sicherheitspolitische Selbstverständnis sich ändern muss. Diesen Prozess in Gang zu setzen, ist vordringlichste Aufgabe deutscher Politik.

Integration, Divergenz und Krisen in der Europäischen Union Von Karl-Heinz Paqué Europa steht vor großen langfristigen Herausforderungen. Diese gehen weit über die Bewältigung der derzeitigen Schulden- und Eurokrise hinaus. Sie liegen in tiefgreifenden strukturellen Unterschieden der nationalen Volkswirtschaften begründet. Diese wurden lange ignoriert bzw. unterschätzt. Die derzeitige Krise legt sie schonungslos offen. In diesem Beitrag werden dieser Prozess sowie seine Folgen untersucht. Dies geschieht in drei Teilen. Im ersten Teil geht es um die Diagnose: das Ende der Konvergenz. Im zweiten Teil geht es um die wachstums- und regionalpolitischen Konsequenzen dieser neuen Konstellation. Im dritten Teil folgt die Prüfung dessen, was ich die „neue Aufgabe“ Deutschlands nenne.1 I. Das Ende der Konvergenz Künftige Wirtschaftshistoriker werden vielleicht eines Tages die Weltfinanzkrise 2007 / 2008 als eine Art Wasserscheide identifizieren, zumindest für Europa. Die Diagnose könnte dabei lauten: bis dahin Konvergenz, danach für lange Zeit Divergenz. Um die ersten Ansätze dieses Wandels zu erkennen, genügt eigentlich schon ein flüchtiger Blick auf die Statistik der Arbeitslosigkeit. Das Bild ist eindeutig: Die Entwicklung in Deutschland war weit günstiger als im Durchschnitt Europas, und zwar unabhängig davon, ob man innerhalb der Währungsgrenzen des Euro bleibt oder darüber hinaus geht. Offenbar sind die Dinge hierzulande anders – und besser – verlaufen als anderswo. Innerhalb Europas lässt sich dabei eine klare regionale Struktur erkennen, in die sich auch Deutschland einfügt. Danach zerfällt Europa heute im Wesentlichen in zwei Gruppen: das „westliche Zentrum“ mit Deutschland und einer größeren Zahl kleinerer Nachbarn, alle mit ähnlich niedrigen Erwerbs1  Eine weit ausführlichere Darstellung der Thesen und Belege dieses Beitrags findet sich in Kapitel 3 von Karl-Heinz Paqué, Vollbeschäftigt: Das neue deutsche Jobwunder, München 2012.

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losenquoten deutlich unter acht Prozent; und die übrigen Länder an der südlichen, westlichen bzw. östlichen „Peripherie“2, alle im Jahr 2011 mit deutlich höheren Erwerbslosenquoten als das westliche Zentrum. Die zweite Gruppe zerfällt dabei mit Blick auf die Veränderung seit 2005 nochmals in zwei Untergruppen: jene mit deutlicher Verschlechterung, vor allem die Länder im Süden und Westen, und jene mit nur geringer Veränderung, vor allem im östlichen Mitteleuropa. Jedenfalls zeigt das Bild, dass sich die internationale Struktur der Arbeitsmarktlagen im Zuge der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise verschoben hat: zu Gunsten des westlichen Zentrums und zu Lasten der südlichen und westlichen Peripherie, bei im Wesentlichen stabiler Lage im Osten, wobei das dort heißt: bei Erwerbslosenquoten, die noch deutlich über dem Durchschnitt verharren. Natürlich ist es heute noch viel zu früh, aus dieser Verschiebung am Arbeitsmarkt auf eine dauerhafte strukturelle Veränderung zu schließen. Denn noch wissen wir nicht, was sich in den nächsten Jahren im Zuge weiterer Anpassungen tun wird. Allerdings ist das Bild am Arbeitsmarkt auffallend stark korreliert mit anderen gesamtwirtschaftlichen Beobachtungen, die alle darauf hindeuten, dass sich die Schere zwischen dem west­ lichen Zentrum und der geografischen Peripherie eher weiter öffnen als schließen wird. So kämpfen derzeit genau jene Länder gegen nationale Überschuldungskrisen sowie hohe Defizite in der Leistungsbilanz und im Staatshaushalt, die bereits heute an relativ hoher Arbeitslosigkeit leiden, allen voran die Länder der südlichen Peripherie, also Griechenland, Italien, Portugal und Spanien, sowie Irland. Der Prozess der Anpassung – eher Reflation in den Überschuss- und eher Deflation in den Defizitländern – ist also noch keineswegs abgeschlossen, wir stehen wohl erst an dessen Anfang. Geht er aber weiter, so werden die Zustände an den nationalen Arbeitsmärkten weiter auseinanderdriften. Um die Tragweite dieser Situation zu ermessen, ist es nötig, einen Blick zurück in die gemeinsame Wirtschaftsgeschichte Europas zu werfen. Es geht dabei zunächst vor allem um die Entwicklung seit den 1980er und 1990er Jahren, also in der Zeit, die man die mittlere Frist nennen könnte – etwa 30 Jahre, das heißt eine Generation. Es ist fast durchweg eine Zeit, in der die europäische Peripherie gegenüber dem westlichen Zentrum aufholte: zunächst der Süden und schließlich auch die östliche Mitte und der Osten, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und einem vielerorts turbulenten Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Das Muster ist dabei überall im Wesentlichen das Gleiche: Aufbau einer wettbewerbsfähigen In2  Hier und im Folgenden werden die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ in einem rein geografischen Sinn gebraucht, also ohne jede politische, wirtschaftliche oder gar moralische Wertung.



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dustrie, gestützt auch durch Direktinvestitionen aus den führenden Industrie­ ländern, allen voran aus dem westlichen Zentrum Europas; gleichzeitig Modernisierung und Expansion der Binnensektoren – von den Banken und Versicherungen bis zum Einzelhandel, Tourismus und öffentliche Verwaltung; schließlich – mit Blick auf die Europäische Währungsunion und die Einführung des Euro – eine schrittweise Bekämpfung der Inflation, um am Ende das Maß an Stabilität vorweisen zu können, das im westlichen Zentrum Europas schon lange zum Standard gehörte und im Übrigen zur Bedingung für die Mitgliedschaft in der Eurozone gemacht wurde. Dieser Weg war bemerkenswert erfolgreich. So sah es jedenfalls lange Zeit aus. Europa bot das Bild der stetigen Konvergenz. Die schwächeren Länder holten auf, die Stärkeren gingen nur mehr mit deutlich gebremstem Wachstum voraus. Die Pro-Kopf-Einkommen näherten sich an – scheinbar unaufhaltsam, wie von einer unwiderstehlichen ökonomischen Logik getragen. So stand Spanien 1985 bei gerade mal 50 Prozent des deutschen ProKopf-Einkommens, im Jahr 2000 waren es etwa 63 Prozent und 2007, unmittelbar vor der Weltfinanzkrise, fast 80 Prozent. In den anderen Ländern war der Trend ähnlich, wenn auch der Abstand zum westlichen Zentrum in Griechenland und Portugal zuletzt noch deutlich größer blieb (und immer schon größer war!) als im Fall von Spanien. Irland gelang es sogar, Deutschland im Pro-Kopf-Einkommen deutlich zu überholen, was ihm den Ehren­ titel „keltischer Tiger“ eintrug – in Anlehnung an die vier südostasiatischen „Tigerstaaten“ Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan, die in den 1960er bis 1980er Jahren einen ungewöhnlichen Entwicklungsspurt erlebten. Mit dem wirtschaftlichen Aufholen kam auch die erwünschte Stabilität des Preisniveaus. Man näherte sich in der europäischen Peripherie den deutschen Verhältnissen an, zumindest bis zur Jahrtausendwende. Dabei handelte es sich wohl keineswegs um eine statistische Illusion, wenn auch gegenüber einzelnen Datenberechnungen der nationalen statistischen Ämter ein gewisses Misstrauen angebracht ist, eben weil die Konvergenz der Inflationsraten nach dem Maastrichter Vertrag von 1991 politische Bedeutung für die Aufnahme der jeweiligen Länder in die Eurozone hatte. Der allgemeine Trend ist allerdings zu eindeutig, um Ergebnis einer statistischen Täuschung zu sein. Alles sah also um die Jahrtausendwende nach einer baldigen realen Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen und einer nominalen Konvergenz der Inflationsraten aus. Was dann in den 2000er Jahren folgte, zerstörte dieses Bild nachhaltig. Es kam nämlich – fast zeitgleich mit der Einführung des Euro – zu einer deutlichen Senkung der (nominalen) Zinsen in den Aufholländern, bei gleichzeitiger Zunahme eines gewissen inflationären Drucks, jedenfalls im Vergleich zu Deutschland, das ja genau in dieser Zeit den Tiefpunkt seiner schwierigen Anpassung am Arbeitsmarkt an die neuen

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Verhältnisse nach der deutschen Wiedervereinigung durchlebte. Das Ergebnis: Realzinsen, die in der Peripherie über Jahre außerordentlich niedrig ausfielen, noch deutlich niedriger als in Deutschland. Deren Folge: ein Binnenmarktboom, der die Wettbewerbsfähigkeit der weltmarktorientierten Güterproduktion in den betreffenden Ländern aushöhlte. Die Entwicklung der Lohnstückkosten, also des Lohnniveaus im Verhältnis zur Arbeitsproduktivität, belegt dies eindrucksvoll. Sie nahmen im Zeitraum 1999 bis 2008, also von der Einführung des Euro bis zur Weltfinanzkrise, in Deutschland um 0,4 Prozent ab; dagegen stiegen sie in Portugal um 25,7 Prozent, in Griechenland um 32,7 Prozent, in Spanien um 33,5 Prozent und in Irland sogar um 37,7 Prozent.3 Die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Peripherie gegenüber dem westlichen Zentrum wurde also Schritt für Schritt ausgehöhlt. Es kam zu großen strukturellen Defiziten in den Leistungsbilanzen der Aufholländer, also zu einer zunehmenden Nettoneuverschuldung im Ausland, wobei die Staatshaushalte (außer in Griechenland) zunächst keineswegs übermäßig große Defizite aufwiesen, weil durch das Wachstum auch die Steuereinnahmen sprudelten. Die übersteigerte Dynamik des Booms kam also vor allem aus dem privaten Sektor. Schließlich reagierten die Märkte, und zwar im Gefolge der Weltfinanzkrise, die weltweit in den Portfolios der Vermögensanleger eine fundamentale Neu-Evaluierung von Risiken mit sich brachte.4 Dies geschah überaus schnell und abrupt. Die „Problemländer“ wurden nach dem Platzen der Blasen in ihrer Kreditwürdigkeit drastisch herabgestuft, es kam zu einer dramatischen Zunahme der Zinsspanne zwischen dem stabilen „westlichen Zentrum“ mit Deutschland als Kern und der geografischen Peripherie der Eurozone. Damit war die Eurokrise – oder genauer: die Europäische Schuldenkrise – auf der Tagesordnung der Finanzmärkte. Und somit in der Folge auch all jene schwierigen politischen Entscheidungen, die Europa verändert haben: im Mai 2010 die Hilfe für Griechenland (und damit die faktische Missachtung der No-Bail-out-Klausel des Europäischen Stabilitätsvertrags); in den Monaten danach und praktisch über das gesamte Jahr 2011 eine hektische politische Aktivität bis hin zum bisher undenkbaren Aufkauf von Staatsanleihen gefährdeter Länder durch die Europäische Zentralbank; eine Serie von Regierungswechseln jeweils mit anschließender Weichenstellung in Richtung strenger Austeritätspolitik. Und schließlich, im Fall Griechenland, ein Teilverzicht von privaten Gläubigern auf die Rückzahlung der Schulden. Wie diese dramatische Wende auch immer ausgehen mag: Sie addiert sich zu einem veritablen Zusammenbruch der Konstellation, die über 3  Eigene

Berechnungen aus Daten der OECD. Karl-Heinz Paqué, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, Kapitel 3. 4  Siehe



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Jahre geherrscht hatte. Diese erwies sich in den Finanzmärkten offenbar als völlig unhaltbar. Wen trifft die Schuld für diese Entwicklung? Wie fast immer in der Wirtschaftsgeschichte versagen Versuche, eine einzelne, alles entscheidende Ursache zu identifizieren, die für den Zusammenbruch verantwortlich zu machen wären. So ist zweifellos die Weltfinanzkrise 2007 / 8 der entscheidende Auslöser für den Kollaps in Europa gewesen, und insofern sind all diejenigen „schuldig“ an der Entwicklung, die durch ihre politischen und wirtschaftlichen Handlungen die „Great Moderation“ an den globalen Finanzmärkten erst möglich machten. Dazu zählen die amerikanische Geld­ politik in den frühen 2000er Jahren („money glut“) ebenso wie die globale „savings glut“ und vielleicht auch eine transatlantische „banking glut“. Alle halfen gemeinsam, eine letztlich unhaltbare Situation entstehen zu lassen.5 Gleichwohl bleibt die Frage: Wieso sorgte die globale Labilität ausgerechnet für eine Schuldenkrise in Europa, und zwar eine, die gerade die peripheren Aufholländer besonders hart traf und nicht das westliche Zentrum? Die Konstellation ist ähnlich wie bei der Erklärung der Weltwirtschaftskrise 1930 / 1932 und ihrer Folgen für einzelne Nationen. Damals lag die Ursache der Krise eindeutig in den Vereinigten Staaten, aber in Europa wurden vor allem Deutschland und Österreich besonders hart getroffen. Dies hatte seinerzeit spezifische realwirtschaftliche Gründe,6 die weit tiefer reichten als die geld- und kreditwirtschaftlichen Bedingungen und Fehlentscheidungen, die zu dem gigantischen Ausmaß der Krise beitrugen. Genauso ist es heute, diesmal mit Blick auf die geografische Peripherie Europas. Die Kernfrage ist dabei: Warum floss in den Jahren der „Great Moderation“ so viel Kapital zu günstigen Zinsen in diese Peripherie? Die Antwort lautet: Der Markt antizipierte die schlichte Fortdauer des beobachteten Aufholprozesses gegenüber dem westlichen Zentrum. Es ging gewissermaßen um dessen letzte große Etappe: bei Spanien etwa 20 Prozent, bei Griechenland etwa 30 Prozent, bei Portugal noch über 40 Prozent, jeweils gemessen als Abstand von der Arbeitsproduktivität Deutschlands. In allen Erwartungen der politischen und wirtschaftlichen Akteure wurde dieser Weg vorweggenommen, eine Art gigantische Abschlagszahlung auf eine antizipierte Konvergenz. Man lebte über seine Verhältnisse, aber man tat es nur deshalb, weil alle erwarteten, dass sich diese Verhältnisse „in Kürze“ nochmals grundlegend verbessern werden, genauso wie in den vorangegangenen Jahrzehnten. 5  Dazu summarisch Karl-Heinz Paqué, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, Kapitel 3. 6  Dazu Harold James, The German Slump: Politics and Economics 1924–1936, Oxford 1986.

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Es ist wichtig sich klarzumachen, dass diese Erwartungen keineswegs begrenzt waren auf einen kleinen Teil von professionellen Akteuren an den Finanzmärkten, die stets zu spekulativen Geschäften bereitstehen. Viel plausibler ist im Rückblick die Interpretation, dass praktisch das gesamte politische und wirtschaftliche Establishment Europas diese fundamentale Sicht des alten Kontinents als konvergierendem Wirtschaftsraum teilte. Es gab seinerzeit nur sehr wenige Stimmen, die vor einer Überhitzung in der geografischen Peripherie warnten. Auch die gesamte Rhetorik der Europäischen Union sowie der OECD und anderer externer Beobachter ging in diese Richtung: Zwar gab es gelegentliche Mahnungen und Warnungen an die Aufholländer, keine allzu großen externen Defizite aufzubauen und die interne Absorption ihrer Volkswirtschaften wirkungsvoller zu kontrollieren. Aber diese Aufrufe hatten nichts von jener dramatischen Dringlichkeit, die man sich im Nachhinein gerne gewünscht hätte. Es mag dabei gerade auch bei der Europäischen Union eine gewisse politische Schönfärberei mit im Spiel gewesen sein, denn das statistische Bild der fortschreitenden Konvergenz schmückte natürlich die Bilanz von rund einem halben Jahrhundert europäischer Integration.7 Aber alles in allem lag der Hauptgrund für die blauäugige Darstellung mehr in Unwissen und Ahnungslosigkeit als in gezielter Manipulation durch die Politik und die Beamtenschaft. Auch die Expertenmeinung hatte eben offenbar keine Vorstellung davon, was Europa blühen könnte, käme es zu einer globalen Finanzkrise und einer ganz grundlegenden Veränderung der Eckdaten an den Finanzmärkten. Die damalige Expertenmeinung konnte sich dabei auch getrost auf anscheinend stabile säkulare Trends stützen. Es war nämlich gerade auch die langfristige Wirtschaftsgeschichte, die für die Fortsetzung der Konvergenz sprach. Ein Blick auf die Entwicklung in Spanien, dem größten der nachziehenden Aufholländer des europäischen Südens, gegenüber Deutschland macht dies deutlich. Seit dem späten 19. Jahrhundert war Spanien gegenüber Deutschland zurückgefallen, und zwar kontinuierlich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder in den 1950er Jahren, der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders, als Westdeutschland seine ungewöhnlich schwache Wachstumsdynamik der Zwischenkriegszeit hinter sich 7  Dies fällt besonders bei der Art der Präsentation von Daten in den Statistischen Jahrbüchern des statistischen Amtes der Europäischen Union ins Auge. Dort bestand in den verbalen Interpretationen der Ergebnisse oftmals die Neigung, die Fortschritte zur Konvergenz sehr stark zu betonen und die verbleibenden Unterschiede herunterzuspielen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Veränderung von Pro-KopfEinkommen zu Kaufkraftparitäten (und nicht zu offiziellen Wechselkursen), die ein Ausmaß an Konvergenz suggerieren, das es, was die Wertproduktivität der Arbeit betrifft, nicht oder noch nicht gab (und bis heute nicht gibt). Siehe dazu ausführlich Karl-Heinz Paqué, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, S. 238–239.



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ließ. Seit etwa 1960, also noch deutlich vor seinem Beitritt zur Europäischen Union, holte Spanien aber kontinuierlich auf. War es nicht höchst plausibel, darin einen stabilen Trend zu erkennen? Greifbar nahe schien das Verschwinden jenes alten Rückstands Spaniens, der sich nach Ende des goldenen 16. Jahrhunderts aufbaute, als die iberische Halbinsel den kolonialen Zugriff auf die Reichtümer an Gold und Silber in Südamerika nicht genutzt hatte, um seine wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben.8 Anders als in Nordwesteuropa – zunächst in den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich, dann im deutschsprachigen Raum und in Skandinavien – folgte keine beschleunigte Handelsintegration, Industrialisierung und Urbanisierung. Bis eben nach langer Verzögerung der Aufholspurt in den 1960er Jahren einsetzte. Warum sollte aber dieser Prozess nach 50 Jahren enden, wo er sich doch gerade beschleunigte und die Konvergenz noch nicht ganz erreicht war? Es gab also wirklich gute Gründe, an die Fortsetzung des Weges zur Konvergenz zu glauben und lange beobachtete Trends einfach fortzuschreiben. Die europäische Schuldenkrise hat diesen Hoffnungen zunächst ein jähes Ende gesetzt. Die Frage ist: Wird es ein Ende auf sehr lange Zeit sein oder nur eine Art vorübergehende Atempause? Geht es also wirklich um zerstörte Illusionen oder nur um eine schnell korrigierte blasenhafte Fehleinschätzung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir etwas tiefer in die bevorstehenden Prozesse der Anpassung und den längerfristigen Strukturwandel hineinblicken. Beides hat große wirtschaftliche und politische Bedeutung für die Zukunft Europas. Wer nicht mehr über seine Verhältnisse leben will, muss versuchen, zwei Dinge zu tun: mehr zu sparen und mehr zu verdienen. Für eine nationale Volkswirtschaft bedeutet dies: weniger verbrauchen und mehr produzieren. Das heißt konkret: Senkung des privaten Konsums, der Investitionen und der Staatsausgaben sowie Aktivierung der Leistungsbilanz durch Zunahme der Exporte und Abnahme der Importe. Der Weg dahin führt über eine Deflation des inländischen Preis- und Lohnniveaus zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Verfügt das Land über eine eigene Währung, kann dies durch eine („externe“) Abwertung der Währung zumindest unterstützt werden, denn diese sorgt ruckartig für eine Verbilligung in den Weltmärkten. In einer Währungsunion wie der Eurozone ist das nicht möglich. Dort muss das Ziel durch tatsächliche (also „interne“) Preis- und Lohnsenkungen erreicht werden. Die Deflation ist ein überaus schmerzhafter, schwieriger und politisch brisanter Prozess. Es geht letztlich darum, durch ein kräftiges Umsteuern 8  Dazu Carlo Cipolla, Before the Industrial Revolution. European Society and Economy 1000–1700. 3. Aufl., New York 1994, Kapitel 10.

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die Struktur der nationalen Wirtschaft vom Binnenmarkt hin zum Weltmarkt zu orientieren. Es ist für die betroffenen Länder in Europa eine Art mühsame Rückkehr zur gesamtwirtschaftlichen Nachhaltigkeit: Da die binnenwirtschaftliche Blase geplatzt ist und die vormals aufgeblähten Vermögenswerte auf absehbare Zeit nicht zurückkehren, bleibt für die inländischen Arbeitskräfte und das Kapital nur der Weg des Verzichts auf Einkommen und / oder Beschäftigung sowie der Strukturwandel hin zur Produktion handelbarer (und exportfähiger) Waren und Dienstleistungen. Nur so ist auf Dauer auch der Kapitalmarkt davon zu überzeugen, dass das Land „solvent“ ist, also seinen Schuldendienst langfristig leisten kann. Dies gilt gleichermaßen für den Staat wie für die privaten Unternehmen (und auch die Bürger). Die derzeitige Lage in den Ländern der südlichen und westlichen Peripherie Europas ist ein Schulbeispiel für die Dramatik der Deflation: Überall ist die Folge der begonnen Anpassung eine tiefe Rezession mit schrumpfendem BIP; überall ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, zum Teil sogar drastisch; überall geht die Preisinflation relativ zum Rest Europas zurück, werden Löhne gekürzt, sinkt der Lebensstandard. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in dem, was man die gesamtwirtschaftliche Sanierungsdynamik nennen könnte: Dort, wo die staatliche Schuldenlast im Verhältnis zum BIP besonders hoch und die Integration in die Weltwirtschaft besonders gering ist, fällt die Anpassung besonders schwer. Der extremste Fall ist dabei Griechenland, denn der griechische Staat ist besonders hoch verschuldet und die griechische Wirtschaft ist mit einer Exportquote von unter 25 Prozent nur recht schwach in die Weltmärkte eingebunden. Nur jeder vierte verdiente Euro in Griechenland wird also im Ausland erwirtschaftet, was für ein kleines Land von gerade mal 11 Millionen Einwohnern ungewöhnlich wenig ist. Um die Stabilisierung zu erreichen bedarf es deshalb einer wahrhaft drakonischen Umsteuerung mit tiefgreifenden Reformen. Das Gegenstück zum griechischen Fall ist Irland. Seine Schuldenlast ist geringer, und vor allem ist die Integration der irischen Wirtschaft in die Weltmärkte unvergleichlich stärker. So wies das Land bis zur Weltfinanzkrise eine Exportquote von etwa 45 Prozent auf – dank einer über Jahre gewachsenen exportorientierten Industrie, die vor allem durch Direktinvesti­ tionen aus den Vereinigten Staaten entstanden ist. Für Irland genügt deshalb, bildlich gesprochen, ein viel kleinerer Reformhebel als Griechenland, um über die interne Deflation und den damit verbundenen Strukturwandel in den Zustand der Nachhaltigkeit zurückzukehren. Die anderen, am stärksten betroffenen Länder liegen irgendwo dazwischen: Portugal wohl relativ nahe an Griechenland, Spanien und Italien näher an Irland, zumal beide Länder über größere Binnenmärkte, aber auch über eine relativ große Industrie verfügen, deren Produktion langjährig im Weltmarkt integriert ist.



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Es ist überaus schwierig vorauszusagen, wie schnell und wie erfolgreich die betroffenen Länder den deflationären Reformprozess durchlaufen. Derzeit jedenfalls sieht es so aus, als würde nach Regierungswechseln in allen fünf Ländern der Weg mit bemerkenswerter politischer Entschlossenheit und Konsequenz beschritten, trotz aller Härten. Überall gilt der Weg als praktisch alternativlos. Selbst wenn man annimmt, dass am Ende des Weges die Stabilisierung gelingt, bleibt allerdings die Frage: Auf welchem Niveau des Pro-Kopf-Einkommens – verglichen mit dem westlichen Zentrum Europas – werden sich die Länder einpendeln? Derzeit ist die grobe Vermutung, dass im Wesentlichen das gesamte Ausmaß der entstandenen Schieflage der 2000er Jahre korrigiert werden muss. Nimmt man dafür die Entwicklung der Lohnstückkosten relativ zu Deutschland als ungefähren Maßstab, so geht es mindestens um eine Größenordnung von etwa 30 Prozent. Damit wäre der gesamte „Fortschritt“ an Konvergenz von mindestens einem Jahrzehnt zunichte gemacht, oder genauer: als nicht-nachhaltig revidiert. Dies allein ist schon höchst dramatisch. Es geht aber letztlich um noch viel mehr. Denn klar ist, dass nach dieser deflationären Reformwelle eine einfache Rückkehr zu den früheren Wachstumsmustern nicht möglich ist. Soll es in der Zukunft einen neuen Anlauf zur Konvergenz geben, so muss der aus der Kraft jener Industrien und Dienstleistungen kommen, die nachhaltig für den Weltmarkt produzieren. Und soll es wirklich zur erstrebten Konvergenz kommen, muss die durchschnittliche Wertschöpfung pro Beschäftigten sich dem annähern, was im westlichen Zentrum Europas die Norm ist. Voraussetzung dafür ist aber nicht nur ein entsprechend moderner Kapitalbestand, sondern vor allem auch eine Produktpalette, deren Innovationsgrad auf das deutsche, österreichische oder Schweizer Niveau aufschließt. Wie sind die Chancen, dass es dazu kommt? Diese Frage zu beantworten ist enorm schwierig, weil es für die künftige Innovationskraft einer Volkswirtschaft natürlich keine verlässlichen Indikatoren gibt. Man muss sich behelfen mit aktuellen Maßzahlen zur Forschungsintensität der Produktion, etwa dem Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) an der Wertschöpfung und den Patentanmeldungen pro Million Erwerbstätige (jeweils für die private Wirtschaft). Das Bild ist dabei überaus ernüchternd:9 Es gibt derzeit innerhalb Europas ein gewaltiges Gefälle in der Forschungsintensität der Produktion. Bei den Ausgaben für F&E, gewissermaßen der Inputgröße, ist das Gefälle dabei schon deutlich genug; bei den Patenten, also der „Outputgröße“ ist es dann noch dramatischer. Das Gefälle zeichnet dabei ziemlich gut den Produktivi9  Quantitative Details dazu in Karl-Heinz Paqué, Vollbeschäftigt: Das neue deutsche Jobwunder, München 2012, Abschnitt 3.1.

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tätsvorsprung nach, den das westliche Zentrum (einschließlich Skandina­ viens) noch immer gegenüber der geografischen Peripherie hat. Das Gesamtbild der Daten lässt nur ein Fazit zu: Es gibt auch heute noch eine ganz tiefe Kluft in der Innovationskraft in Europa. Dabei fällt auf, dass die südliche Peripherie noch nicht einmal gegenüber dem östlichen Mitteleuropa einen substantiellen Vorsprung vorzuweisen hat. Länder wie Slowenien und Tschechien können sich danach durchaus mit Spanien in der Forschungsintensität messen. Offenbar hat der weit frühere EU-Beitritt der Länder der südlichen Peripherie nicht wirklich geholfen, eine innovationskräftige industrielle Basis aufzubauen. Im Gegenteil, der Anteil der verarbeitenden Industrie an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung liegt im Süden auch heute noch weit niedriger als in Deutschland. Demgegenüber ist das östliche Mitteleuropa zwar hoch industrialisiert, aber offenbar in einer Form, die noch lange nicht die Forschungsintensität des Westens verspricht – wohl eine Spätfolge aus sozialistischen Zeiten. Es gibt also noch immer, was das Innovationspotential betrifft, einen tief gespaltenen Kontinent: In Südeuropa fehlt es dabei generell an Industrie, im Osten fehlt der Industrie die Innovationskraft. An diesen Mängeln wird sich in den nächsten Jahrzehnten so schnell nichts ändern, denn es geht beim Aufbau von Innovationskraft um sehr langwierige Prozesse. Europa wird also auf absehbare Zeit wirtschaftlich ein gespaltener Kontinent bleiben. Die Europäische Union steht tatsächlich vor einem Abschied von Illusionen, die den Integrationsprozess – ökonomisch, gesellschaftlich und politisch – über Jahrzehnte begleitet haben. II. Wachstums- und Regionalpolitik Die Lage Europas ist überaus vertrackt. Sie hat dabei unangenehme strukturelle Ähnlichkeiten mit der Lage des wiedervereinigten Deutschlands in den frühen 1990er Jahren. Denn zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat der Kontinent als Ganzes zwar ein Niveau an Freiheit und Wohlstand erreicht, das es in seiner Geschichte noch niemals vorher gab. Daneben treiben aber starke wirtschaftliche Kräfte die Länder in ihrer Leistungskraft auseinander. Und dies bei zunehmender Mobilität der Leistungsträger innerhalb Europas, denn die internationalen Kultur- und Sprachbar­ rieren sind heute niedriger denn je.10 In Südeuropa liegt die Quote der Jugendarbeitslosigkeit zwischen 30 und 50 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Es droht deshalb ein „Ausbluten“ der Peripherie, das strukturelle 10  Dazu ausführlich Karl-Heinz Paqué, Vollbeschäftigt: Das neue deutsche Jobwunder, München 2012, Abschnitt 3.2.



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Ähnlichkeiten bekommen könnte mit der Situation des Ostens im wiedervereinigten Deutschland in den Jahren nach 1990. Gerade die Erfahrung der Deutschen Einheit11 liefert dabei eher einen mahnenden Hinweis darauf, wie schwer es die Politik hat, in dieser Art von Grundkonstellation wirksam und nachhaltig gegenzusteuern. Man mag sogar die Frage stellen: Sollte die Politik überhaupt versuchen gegenzusteuern? Sollte sie auf europäischer Ebene wirklich über das hinausgehen, was bisher im Rahmen ihrer regionalpolitischen Programme ohnehin geleistet wird? Sollte sie nicht den Rest der Anpassung jenen marktwirtschaftlichen Mechanismen überlassen, die dem Auseinanderdriften der nationalen Leistungskraft entgegenwirken? Zweifellos gibt es diese Mechanismen, und zwar vor allem auf der Nachfrageseite der Volkswirtschaften. Kommt es nämlich – als Folge der Knappheit an Arbeitskräften – in Deutschland und seinen Nachbarländern zu den erwarteten Lohnsteigerungen, so kann sich aufgrund der dort zunehmenden inländischen Nachfrage tatsächlich eine natürliche Korrektur der strukturellen Überschüsse der Leistungsbilanz ergeben, und zwar als Ergebnis der steigenden Importnachfrage. Dies wird den Ländern der südlichen und östlichen Peripherie helfen, ihre Beschäftigung, Produktion und auch Produktivität zu steigern und somit ein Stück weit ihren Platz in der europäischen Arbeitsteilung zurückzugewinnen. Mit einem solchen Trend ist durchaus zu rechnen. Er ist letztlich das Ergebnis des entstandenen Gefälles und somit nichts anderes als die daraus folgende natürliche Ausgleichsbewegung. Diese ist allerdings nicht wirklich politisch steuerbar, jedenfalls nicht in einer Marktwirtschaft mit freier Lohnsetzung am Arbeitsmarkt, sei es über Tarifverhandlungen oder in individuellen Verträgen. Die nationalen Regierungen und die Europäische Union können zwar den Prozess mit einer entsprechenden politischen Rhetorik begleiten, was auch praktisch geschieht; und sie können durch Veränderung der Rahmenbedingungen (zum Beispiel Steuersenkungen) die Eckdaten verändern, die den Lohnverhandlungen zugrunde liegen. Gleichwohl bleibt ein weiter Bereich unkontrollierbarer Entwicklungen, über deren Kraft und Stärke man im Vorhinein nur spekulieren kann. Ähnliches gilt für die längerfristige Ausrichtung der staatlichen Finanzpolitik, jedenfalls seit den jüngsten politischen Weichenstellungen. So ist in Deutschland durch die Föderalismusreform II eine Schuldenbremse in das Grundgesetz eingeführt worden – mit der Folge, dass ab 2019 die Nettokreditaufnahme in den Ländern bei null und im Bund bei maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen darf. Wird die Schuldenbremse eingehalten – und danach sieht 11  Dazu ausführlich Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009.

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es derzeit tatsächlich aus – kommen staatliche Defizite („deficit spending“) außer in konjunkturellen Extremsituationen zur Regulierung staatlicher Nachfrageimpulse nicht mehr in Frage. Und damit entfällt auch der expansive Impuls für die Peripherie Europas. In jedem Fall bleiben Impulse der gesamtwirtschaftlichen Ausgaben – ob über den privaten Konsum, die Investitionen oder die Staatsausgaben – auf die Nachfrageseite beschränkt. Sie schaffen von daher für die Volkswirtschaften der Peripherie zwar eine Chance zum Wachstum, lassen aber völlig offen, ob diese durch Expansion des Angebots auch genutzt werden kann. Es geht letztlich darum, ob das gesamtwirtschaftliche Angebot darauf „elastisch“ reagieren kann. Dies gilt vor allem für die Produktion weltmarktfähiger innovativer Waren und Dienstleistungen, die allein einen Prozess des nachhaltigen pfadabhängigen Wachstums initiieren kann. Ist diese Elastizität der Wirtschaft nicht da, droht auch der Impuls der Importnachfrage aus Deutschland letztlich das Wachstum an anderer Stelle zu begünstigen: zum einen im nicht-europäischen Ausland, wo je nach Marktsegment vor allem Nordamerika und Asien profitieren würden, zum anderen sogar in Deutschland selbst, wo der wirtschaftliche Druck auf Erweiterungen der industriellen Kapazitäten zunähme und weitere Zuwanderungen von Fachkräften aus der Peripherie induzieren würde. Es entstünde dann sogar die paradoxe Situation, dass ausgerechnet der Nachfrageboom im westlichen Zentrum Europas das Ausbluten der Peripherie langfristig noch weiter anheizt. Geboten ist also mit hoher Priorität der Ausbau innovativer, wettbewerbsfähiger Industrien in der Peripherie selbst. Dazu müssen in den betroffenen Ländern der Peripherie all jene Reformanstrengungen fortgesetzt werden, die längst angelegt oder gerade beschlossen wurden – zum Aufbau einer effizienten Verwaltung, zur Liberalisierung des Arbeitsmarktes und zur Beseitigung von sonstigen Hemmnissen, die den Standort für industrielle Produktion und Investitionen qualitativ verschlechtern. Vieles davon ist in Mittel- und Osteuropa schon im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte geschehen; in den Ländern der südlichen Peripherie geschieht es jetzt oder in naher Zukunft, im Zuge und als positive Folge der Schuldenkrise. Hinzu kommt das Arsenal regionalpolitischer Instrumente der Europäischen Union, die schon bisher zum Einsatz kamen. Reicht das? Große Zweifel sind angebracht. Dies liegt nicht in erster Linie am quantitativen Volumen der Programme. Immerhin macht die Regionalförderung seit einigen Jahren mehr als ein Drittel des gesamten EU-Haushalts aus. Sie wird dabei nur noch vom Ressort Landwirtschaft und Umwelt übertroffen, dem traditionell stärksten Politikfeld, das noch immer über 40 Prozent der EUAusgaben umfasst. In absoluten Zahlen bedeutet ein Drittel des Haushalts fast 50 Mrd. Euro im Jahr, also etwa in der Größenordnung von 0,4 Prozent



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des gesamten BIP der Europäischen Union (und 20 Prozent des BIP Österreichs). Das ist für ein internationales Unterstützungsprogramm nicht wenig. So belief sich selbst das Volumen des berühmten Marshall-Plans auf nicht mehr als 2,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller 15 Empfängerländer, in Deutschland sogar nur 1,4 Prozent, und dies auch nur innerhalb eines sechsjährigen Förderzeitraums von 1948 bis 1953.12 Gemessen an den Transfers, die via Finanzausgleich innerhalb hochentwickelter Industrieländer üblich sind, hat die EU-Regionalpolitik allerdings eine eher bescheidene Größenordnung. Dies gilt insbesondere im Vergleich zum Länderfinanzausgleich, der regionalen Zuordnung und Umverteilung von Steuereinnahmen sowie der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur im föderal organisierten Deutschland, die zusammen als Anteil des Bruttoinlandsprodukts ein Vielfaches dessen ausmachen, was in der Europäischen Union für regionalpolitische Zwecke ausgegeben wird.13 Unstrittig ist, dass die EU-Regionalpolitik in den Ländern der Peripherie auch heute schon einen substantiellen Anteil der Wirtschaftsförderung ausmacht. Dies gilt für Mittel- und Osteuropa genauso wie für die südliche und westliche Peripherie und in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch den Osten Deutschlands. Über die Wirksamkeit der Programme gibt es, wie fast immer bei regionalpolitischen Maßnahmen, eine intensive kontroverse Diskussion. Diese kann hier außer Acht bleiben, denn sie dreht sich fast ausschließlich um die Frage der effizienten Gestaltung im eher verwaltungstechnischen Detail. Uns interessiert dagegen vor allem die volkswirtschaftliche Bilanz. Für das letzte Jahrzehnt kann diese Bilanz aber nicht wirklich überzeugend sein, denn die EU-Regionalpolitik hat im Ergebnis weder die Blasenbildung an der Peripherie noch das anschließende Platzen der Blasen verhindern können. Im Gegenteil, manches spricht dafür, dass sie zur Blasenbildung beitrug – zum Beispiel durch die Förderung von Projekten der Infrastruktur, die der lokalen Bauwirtschaft Aufträge und Auslastung verschafften. 12  Zum Marshall-Plan, siehe Herbert Giersch / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 1994, Tabelle 12, S. 98. 13  Der Löwenanteil der regionalen Umverteilung von Mitteln erfolgt dabei in Deutschland (und wohl auch in anderen Nationen) über den Schlüssel der Zuweisungen der Steuereinnahmen, die im Land erzielt werden. So wird in Deutschland zum Beispiel das Aufkommen der quantitativ bedeutsamen Umsatzsteuer nicht nach dem Prinzip des örtlichen Aufkommens, sondern Pro Einwohner verteilt. Darin liegt bereits eine massive Komponente der „Umverteilung“ (definiert als Abweichung vom örtlichen Aufkommen). Genau dieser Zweig der Umverteilung existiert aber auf Ebene der Europäischen Union nicht, zumal sie selbst keinerlei eigene Steuern erhebt.

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Tatsache ist jedenfalls: Ihre Ziele hat die EU-Politik nicht erreicht. Es stellt sich deshalb die Frage, ob die Grundrichtung der Förderung überhaupt geeignet ist, die zentrale Herausforderung der Zukunft anzugehen: den Rückstand in der industriellen Innovationskraft der Peripherie gegenüber dem westlichen Zentrum Europas. Dies ist bisher nicht gelungen, und zwar weder für die südliche noch für die östliche Peripherie. Dies müsste aber gelingen, will man nach Ende der Schuldenkrisen zumindest ein langfristiges Auseinanderdriften Europas in der Wirtschaftskraft verhindern. Wenn nun unsere Diagnose der Lage im Kern richtig ist, dann liegt die politische Schlussfolgerung auf der Hand: Die Europäische Union muss der Peripherie helfen, genau jene Engpässe zu beseitigen, die eine nachhaltige Stärkung der industriellen Innovationskraft behindern. Diese Engpässe liegen vor allem in der Wissenschaft und der Bildung. Es mangelt in der Peripherie an einer leistungsstarken und wettbewerbsfähigen Infrastruktur der Wissensvermittlung, vor allem in den technischen Disziplinen. Diese Infrastruktur ist aber eine notwendige Bedingung für das dringend nötige industrielle Wachstum. Sie muss zum Großteil öffentlich finanziert werden. Dies ist für die Länder der Peripherie überaus schwierig, und zwar nicht zuletzt, weil das hochqualifizierte Lehr- und Forschungspersonal zu den international mobilsten Gruppen des Arbeitsmarkts gehört. Ohne den Aufbau dieser Infra­ struktur wird aber ein Aufstieg kaum möglich sein. Es lohnt sich deshalb, etwas grundsätzlicher über diese Engpässe und Möglichkeiten ihrer Beseitigung nachzudenken. Zunächst zur Wissenschaft mit technischer Orientierung. Das westliche Zentrum Europas verfügt in dieser Hinsicht über eine beispielhaft gute In­ frastruktur: Es gibt ein dichtes Netz hervorragender Universitäten und Fachhochschulen, die permanent für einen Nachwuchs gut ausgebildeter Ingenieure und industrieaffiner Naturwissenschaftler sorgt. Ein solches Netz hat es in der südlichen Peripherie noch nie gegeben; es müsste dort weitgehend neu aufgebaut werden. In Mittel- und Osteuropa dagegen gab es ein solches Netz zu Zeiten der sozialistischen Planwirtschaft; es verlor allerdings im Rahmen der planwirtschaftlichen Isolation Schritt für Schritt den Kontakt zur Innovationsfront der Weltwirtschaft.14 Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kam es dann zu einer Art inneren Erosion: Wegen der schlechten Besoldung in den durchweg öffentlich finanzierten Einrichtungen der Wissenschaft wandten sich begabte Forscher, soweit sie im Land blieben, zunehmend vom Wissenschaftsbetrieb ab und arbeiteten als private Dienstleister, sei es ganz außerhalb des öffentlichen Sektors oder von dort als vergleichsweise gut honorierte Berater der Wirtschaft. In weiten Teilen der 14  Dazu Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009, Abschnitt 5.2.



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mittel- und osteuropäischen Universitäten wurde noch gelehrt und verwaltet, aber nicht wirklich geforscht. Wie ließe sich dies ändern? Klar ist, dass die Länder selbst die Restrukturierung ihrer Wissenschaftseinrichtungen voranbringen müssen, was sie auch tun. Gleichwohl stoßen sie an Grenzen, die sie allein nur schwer überwinden können. So ist es vielen Universitäten im Süden und Osten kaum möglich, europaweit (und global) wettbewerbsfähige Gehälter zu zahlen, um Spitzenforscher im Land zu halten oder ins Land zu ziehen. Der „brain drain“ vor allem von eigenen jüngeren Wissenschaftlern ist deshalb ungebremst. Und es fällt schwer, sie zurückzugewinnen, wenn sie sich im westlichen Zentrum als Forscher etabliert haben. Genau hier müsste eine künftige innovationsorientierte Regionalförderung einsetzen. Es geht im Kern darum, einen Wissenschaftsbetrieb zu gewährleisten, der „auf Augenhöhe“ mit dem westlichen Zentrum agiert. Für die konkrete Umsetzung einer solchen Politik kann es ganz unterschiedliche Modelle geben, je nach den lokalen Verhältnissen: eine langfristige Unterstützung aus dem EUHaushalt für den laufenden Betrieb einer nationalen Einrichtung, die schon existiert oder neu gegründet wird, bis hin zum Extremfall des direkten Betriebs einer EU-Einrichtung vor Ort. Jedenfalls geht es nicht mehr nur um einmalige Investitionszuschüsse, wie sie schon heute von der EU für Universitäten gewährt werden, also um eine Starthilfe. Vielmehr bedarf es der Unterstützung des laufenden Betriebs, denn nur so lässt sich die technische Forschung und die Besoldung auf einem Niveau halten, das für hochqualifiziertes mobiles Personal attraktiv ist. Es geht also um eine Art „Exzellenzoffensive“, als deren Ergebnis über die gesamte Peripherie Europas das Niveau der technischen Ausbildung an das Niveau des westlichen Zentrums herangeführt wird. Die Philosophie einer solchen Offensive wäre ganz anders als bei der traditionellen Investitionsförderung: Geht es dort nämlich um eine Art „physischen Anschub“, also die Bereitstellung von modernen Gebäuden und Maschinen, geht es bei einer Exzellenzoffensive um die Träger des Wissens selbst. Ähnliche Modelle könnte man sich in der (nicht-akademischen) Ausbildung technischer Berufe vorstellen. Auch in dieser Hinsicht hat das west­ liche Zentrum – und allen voran Deutschland – einen großen Vorsprung gegenüber der Peripherie. Hierzulande gibt es mit dem dualen System der Berufsausbildung ein überaus erfolgreiches Modell der Kombination von theoretischem Lernen in der Schule mit dem praktischen Lernen auf Betriebsebene. Dieses führt junge Menschen zu einem soliden praxisorientierten Qualifikationsniveau, das für eine hohe Attraktivität des Industriestandorts und eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit sorgt. Eine Übertragung dieser Systemidee würde natürlich in den meisten Ländern der Peripherie eine

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grundlegende Reform des Bildungswesens erfordern, aber wenn diese ernsthaft angegangen würde, gäbe es einen bedeutenden Ansatzpunkt zur Unterstützung durch die Europäische Union. Dies gilt insbesondere für die Lerninhalte sowie in einer (wahrscheinlich langen) Übergangsphase für das Lehrpersonal. Jedenfalls geht es nicht um eine kurzfristige Hilfe in einem ansonsten unveränderten nationalen System, sondern langfristige Hilfe in Richtung einer nachhaltigen Reform. Soweit zumindest zwei grundlegende Neuausrichtungen der EU-Regionalpolitik. Weitere Reformschritte sind natürlich denkbar, so etwa bei der Förderung von Direktinvestitionen in peripheren Regionen, die stärker als bisher an die Forschungsintensität der entstehenden Industrieproduktion anknüpfen sollte. Im Gegenzug würde die Errichtung von „verlängerten Werkbänken“ sowie Produktionsstätten für ausschließlich regional und na­ tio­nal gehandelte Waren und Dienstleistungen von der EU keine Unterstützung mehr erhalten. All diese Reformvorschläge ergeben sich aus der Logik unserer Problemdiagnose. Bereits diese wenigen Vorschläge würden indes der bisherigen Praxis radikal zuwiderlaufen. Denn die EU hat bisher ihre Regionalpolitik vor allem daran ausgerichtet, besonders benachteiligten Regionen mit Pro-KopfEinkommen unterhalb bestimmter Schwellenwerte Hilfe zukommen zu lassen, etwa beim Aufbau von physischer Infrastruktur in Gestalt von Verkehrswegen und Kommunikationsnetzen. Diese Politik hatte eher Kompensations- als Investitionscharakter, denn sie förderte innerhalb der Peripherie die entlegeneren Randregionen und weit weniger die dortigen Zentren, die in der Zukunft über ein gewisses Innovationspotential verfügen könnten. Dies mag in einer ersten historischen Phase der Integration Europas gerechtfertigt gewesen sein, um in Europa flächendeckend über ein Minimum an funktionsfähigen Verkehrs- und Kommunikationsstruktur zu verfügen; und es mag auch heute noch Restbestände des Investitionsbedarfs geben, die mit Hilfe der Europäischen Union noch abzuarbeiten sind. Für den eigentlichen Aufholprozess der europäischen Peripherie gegenüber dem Zentrum sind diese Investitionen allerdings ohne große Bedeutung. Entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft der Peripherie ist vor allem, was sich in ihren eigenen Zentren und Unterzentren an industrieller Innovationskraft entwickeln könnte. Dies ergibt sich allein schon aus der Verteilung der Bevölkerung: So leben in Griechenland mehr als die Hälfte der Menschen in den beiden urbanen Großräumen Athen und Thessaloniki, in Portugal rund 40 Prozent in Lissabon und Porto. Wichtiger noch ist allerdings die Ballung für das Entstehen und die Verbreitung von Wissen: Es wäre vollkommen lebensfremd zu vermuten, dass „auf dem flachen Land“ jene Standortbedingungen entstehen könnten, die der Peripherie einen Inno-



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vations- und Wachstumsschub ermöglichen – durch industrielle Unternehmensgründungen und Direktinvestitionen. Im Gegenteil, vieles spricht dafür, dass gerade die Ausrichtung der Europäischen Union auf die allerärmsten Regionen lokale Dienstleistungen ohne Innovationspotential besonders bevorzugte, etwa im Bereich des Tourismus und der Wohnungswirtschaft. Es ist durchaus möglich, dass gerade diese Politik das Entstehen der Immobilienblasen des letzten Jahrzehnts befördert hat. In dieser Hinsicht mag die Erfahrung der Deutschen Einheit für die Europäische Regionalpolitik einige wichtige Lektionen liefern. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Beginn des Aufbaus Ost zeigt sich im wiedervereinigten Deutschland sehr deutlich, dass die wirtschaftlichen Kernregionen des Ostens sich einigermaßen stabilisieren. Dies gilt vor allem für das mitteldeutsche Großstädtedreieck zwischen Dresden, Erfurt und Magdeburg mit Chemnitz, Halle / Saale und Leipzig. Dieses Dreieck hat wieder an seine frühere Stellung als industrielles Innovationszentrum Deutschlands angeknüpft, wenn auch auf erheblich bescheidenerem Niveau als vor dem Zweiten Weltkrieg.15 Dagegen fällt es ländlichen Regionen erheblich schwerer, in der Entwicklung voranzukommen, und soweit sie sich erholen, gelingt ihnen dies zumeist nur „im Schlepptau“ benachbarter Ballungsräume, soweit diese nicht allzu weit entfernt liegen. Auch in der Zukunft wird jede weitere wirtschaftliche Erholung Ostdeutschlands ihren Ausgang in den alten (und neuen) Industriezentren nehmen. Analoges gilt in noch größerem Maßstab für die südliche und östliche Peripherie Europas. Diesen Vorschlägen der radikalen Re-Orientierung der EU-Regionalpolitik lässt sich vor allem eines entgegenhalten: Sie verfestigt einen Zustand der Subventionierung vom Zentrum zur Peripherie – bis zu jenem fernen Tag, an dem die Peripherie tatsächlich einigermaßen zum Zentrum aufschließt oder zumindest bei einem Abstand zum Zentrum landet, der den erträglichen regionalen Unterschieden innerhalb der hochentwickelten Industrieländer entspricht. Anders als die traditionelle Regionalpolitik der EU setzen unsere Vorschläge eben nicht auf die einmalige Unterstützung von Investitionen, sondern sie perpetuieren eine Förderung von Institutionen, die als Humus für künftige Innovationskraft angesehen werden, ohne dass man sicher sein kann, dass diese Kraft tatsächlich irgendwann entstehen wird. Wer ein wenig bösartig formulieren will, der könnte behaupten, unsere Vorschläge liefen auf eine Art „investive Transferunion“ hinaus. Dies lässt sich in der Sache nicht bestreiten, wenngleich man auch – terminologisch freund­ licher – von einer Wachstumsunion sprechen könnte. Jedenfalls ist sie die logische Konsequenz der Erkenntnis, dass die bisherige EU-Regionalpolitik, 15  Dazu Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009, Abschnitt 4.3.

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also vor allem Bereitstellung einer physischen Infrastruktur, in der Zukunft noch weniger als in der Vergangenheit helfen wird, die betreffenden Länder auf einen Wachstumspfad zurückzuführen. Sie mag vielleicht helfen, ein gewisses Pro-Kopf-Einkommen (und damit ein gewisses Konsumniveau) abzusichern, aber sie ist hoffnungslos überfordert, wenn es um das Ziel des Schaffens einer innovationskräftigen Industriewirtschaft geht. Im Grunde ist unser Vorschlag eine Art offensive Reaktion auf ein langfristiges „Leben mit Ungleichheiten“, auf das sich die Nationen der Europäischen Union einstellen müssen. Es zeigt sich hier der gewaltige Unterschied zwischen dem Europa der frühen Nachkriegszeit und dem Europa von heute. Damals ging es darum, der größten Industrienation des Kontinents mit dem European Recovery Programme – genannt: Marshall-Plan – auf die Beine zu helfen. Dies gelang bemerkenswert rasch und erfolgreich, und zwar mit durchaus begrenzten Mitteln, die ausschließlich einmaligen investiven Charakter hatten. Der Grund dafür war einfach genug: Die deutsche Industrie war zwar kriegszerstört (und dies im Übrigen viel weniger, als ursprünglich vermutet!), aber die Wachstumsmotoren der Wirtschaft aus der Vorkriegszeit waren unverändert vorhanden: hochqualifizierte Fachkräfte, technische Hochschulen, ein duales Bildungssystem, Zugänge zum Weltmarkt und vieles andere mehr.16 In dieser Situation genügt ein einmaliges Investitionsprogramm, um wirksam zu helfen, und der Marshall-Plan lieferte es. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigte sich, dass die Lage im Osten Deutschlands und Europas viel schwieriger war – im Sinne eines breiten „Flurschaden des Sozialismus“, den die vom Weltmarkt isolierte Planwirtschaft hinterlassen hatte. Und heute zeigt sich in ähnlicher Weise die fehlende industrielle Basis der südlichen Peripherie Europas. Bei dieser Art von Herausforderung scheitert das Modell der einmaligen Investitionsförderung. Es bleibt dann eigentlich nur die politische Alternative zwischen zwei Wegen. Der eine ist die hier beschriebene Wachstumsunion, also der Versuch, an der Wurzel der fehlenden Konvergenz anzusetzen – durch einen Kurswechsel bei der EU-Regionalpolitik und mit viel Ausdauer und Geduld, was die Ergebnisse des Kurswechsels angeht. Der andere besteht darin, weiter zu machen wie bisher oder gar die wenig wirksame bisherige Regio­ nalpolitik zu streichen. Wirtschaftlich könnte dies in der Hoffnung geschehen, dass irgendwann doch der Standortwettbewerb zu einer Revitalisierung der Peripherie führt, auch ohne Unterstützung von außen. Diese Hoffnung hat allerdings keine überzeugende faktische Grundlage. Dies gilt vor allem 16  Dazu Herbert Giersch / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 1994, Kapitel 2 und 3.



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auch mit Blick auf die künftigen Kräfte der Globalisierung: Der Aufstieg großer Entwicklungs- und Schwellenländer zu neuen Industrieregionen wird es für alle Länder in Europa immer schwieriger machen, sich auf Segmente der Billigproduktion zu spezialisieren. Denn diese Plätze in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung werden zunehmend von den dynamischen Neuankömmlingen vor allem aus Asien besetzt. Die Marktkräfte der Weltwirtschaft drohen also, die Divergenz in Europa eher noch zu akzentuieren. Für künftige europapolitische Empfehlungen kommt es somit ganz entscheidend darauf an, ob man eine solche Entwicklung der zunehmenden Divergenz für harmlos oder für gefährlich hält. Das Urteil darüber und seine Begründung gehen zwingend über rein ökonomische Fragen hinaus. Sie betreffen grundsätzliche Fragen der Vision eines künftigen Europa. Und sie betreffen dabei vor allem auch die wirtschaftliche und politische Führungsrolle Deutschlands in einem Europa, das seinen Platz in der künftigen globalen Arbeitsteilung finden und verteidigen muss. III. Die Aufgabe Deutschlands Die Erweiterung der Europäischen Union in den letzten beiden Jahrzehnten hat die Rolle Deutschlands grundlegend verändert. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, das Gewicht des Landes hätte dabei relativ abgenommen: Zwar sorgte die deutsche Wiedervereinigung 1990 für einen Vergrößerung des Landes selbst, so dass es von nun an in der Bevölkerungsgröße eindeutig an der Spitze stand. Doch stieg anschließend die Zahl der Mitgliedsländer Schritt für Schritt von 12 auf 27 an und erreicht 2013 mit dem Beitritt Kroatiens die Zahl 28. Die Union wuchs also weit schneller als Deutschland selbst, egal an welcher Maßzahl man dies festmacht. Insofern teilte Deutschland trotz Wiedervereinigung das arithmetische Schicksal aller älteren Mitgliedsländer, die bei weitgehend unveränderter Bevölkerungsgröße eindeutig eine Abnahme ihres relativen Gewichts in der Union zu beklagen hatten, von Frankreich über Italien bis zu Großbritannien und Spanien. Lange Zeit schien die wirtschaftliche Konvergenz in der Europäischen Union, die zu beobachten war, diesen deutschen Gewichtsverlust sogar noch ökonomisch zu akzentuieren. Deutschlands langsames Wirtschaftswachstum, seine Konzentration auf den Aufbau Ost sowie seine schwierigen internen Reformprozesse stellten zunehmend jene Führungsrolle in Frage, die von vielen internationalen Beobachtern Anfang der 1990er Jahre vom wiedervereinigten Deutschland erwartet worden war, zum Teil mit einem skeptischen Seitenblick auf historische Erfahrungen. Spätestens mit dem Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts hat sich dies grundlegend verändert.

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Hauptanlass dafür ist die Europäische Schuldenkrise, die einen Qualitätssprung der Rolle Deutschlands brachte, weil das Land plötzlich als eine Art Hort der Stabilität und des robusten Wachstums erschien – jedenfalls im Vergleich zur schuldengeplagten südlichen Peripherie des Kontinents. Diese Veränderung wird inzwischen auch von europäischen Politikern ganz offensiv als eine politische Realität formuliert. So forderte der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski Ende November 2011 Deutschland auf, bei der Rettung des Euros eine maßgebliche Führungsrolle zu übernehmen, und zwar im breiten Konsens mit der Politik der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die Rede fand weltweit Beachtung und traf in der internationalen Presse und Politik überwiegend auf Zustimmung. Dieser Stimmungswandel hat tiefe Gründe, die weit über die Probleme der Schulden- und Eurokrise hinausgehen. Um sie zu erkennen, muss man das erreichte Netzwerk der europäischen Integration in den Blick nehmen, wie es sich vor allem in Deutschlands Handelsverflechtung widerspiegelt. Zunächst gilt es dabei festzuhalten: Deutschland ist heute ganz ungewöhnlich stark auf den internationalen Handel ausgerichtet. So liegt die Exportquote, also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der auf die Ausfuhr von Waren zurückgeht, in Deutschland heute weit höher als in den anderen großen Industrieländern wie Frankreich, Großbritannien, Japan und den Vereinigten Staaten; ähnliches gilt für die Importquote, also die Relation des Importwerts zum BIP.17 Ein strukturelles Unikat, das ist die deutsche Volkswirtschaft nach sechs Jahrzehnten der Europäischen Integration. Sie spielt heute – bei der Größe der Bevölkerung und der Höhe des Pro-Kopf-Einkommens nicht überraschend – in der Liga der wirtschaftlichen Großmächte mit. Was ihre Außenhandelsorientierung betrifft, hat sie aber wohl auf Dauer die Struktur eines viel kleineren Landes mit naturgemäß viel stärkerem Gewicht von Aus- und Einfuhren aufgebaut. Deutschland liegt mit seinen Export- und Importquoten in der Größenordnung nördlicher und südlicher Nachbarn wie Dänemark, Finnland und Schweden sowie Österreich und die Schweiz, alle fünf Nationen mit einer Bevölkerung unter 10 Millionen Menschen (und einer ähnlich wettbewerbsfähigen und innovationskräftigen Industrie wie der deutschen). Lediglich die westlichen EU-Nachbarländer Belgien und die Niederlande übertreffen Deutschland in ihrem Fokus auf den Au17  So liegt die Exportquote in Deutschland seit einigen Jahren in der Größenordnung von 40 Prozent – im Vergleich zu Frankreich mit 20 bis 25 Prozent sowie das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Staaten und Japan mit unter 15 Prozent. Bei der Importquote ist das Bild ähnlich, wenngleich die Importquote in Deutschland aufgrund des seit längerem herrschenden Überschusses in der Leistungsbilanz regelmäßig einige Prozentpunkte niedriger ausfällt als die Exportquote.



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ßenhandel, aber das kann nun wirklich nicht verwundern, da es bei ihnen um zwei klassische Handelsnationen geht, die seit Jahrhunderten über höchst leistungsfähige Seehäfen und Binnenwasserwege verfügen, wodurch sie ihre geographische Nähe zu Nordsee, Ärmelkanal und Atlantik bestmöglich nutzen. Die besonders starke Außenorientierung der deutschen Wirtschaft ist dagegen historisch etwas relativ Neues: Die Wirtschaft des Kaiserreichs und der Zwischenkriegszeit produzierte zwar natürlich auch erfolgreich für den Weltmarkt, aber der Grad ihrer globalen Integration entsprach nur in etwa dem, was auch Länder wie Großbritannien oder Frankreich vorzuweisen hatten. Es war erst das Hineinwachsen Westdeutschlands in die internationale Arbeitsteilung ab den 1950er Jahren, das der deutschen Wirtschaft ihren besonders hohen Grad an Offenheit verlieh;18 und es war die Fortsetzung dieses Trends während der letzten beiden Jahrzehnte, der im wiedervereinigten Deutschland diese strukturelle Besonderheit konsolidierte und sogar noch verstärkte. Dabei blieb natürlich der zunächst de-industrialisierte Osten zurück, holte aber zügig auf, nachdem die neuerliche Industria­ lisierung zumindest teilweise gelang.19 Es ist diese einmalige Verbindung von Größe und Offenheit, die der deutschen Wirtschaft im heutigen Europa eine besonders bedeutende Rolle zuweist, weit über ihre reine Größe hinaus. So ist Deutschland – anders als Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien – wirklich für alle Mitgliedsländer der Europäischen Union ein sehr wichtiger Handelspartner, und nicht nur für eine Untergruppe von regionalen Nachbarn. Für die große Mehrzahl der Länder ist es sogar der Handelspartner Nummer eins, und zwar sowohl auf der Import- als auch auf der Exportseite. Besonders große Bedeutung hat dabei die deutsche Wirtschaft für die Nationen des östlichen Mitteleuropas. Rund zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigt sich nämlich sehr deutlich, dass Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und Slowenien, aber auch Rumänien und Bulgarien sich schon sehr stark in die europäische Arbeitsteilung eingegliedert haben, weit stärker noch als West- und Südeuropa in den Jahrzehnten zuvor. Alle genannten Länder weisen für ihre Größe sehr hohe Export- und Importquoten auf, und zwar mit einen durchweg sehr hohen Anteil Deutschlands an ihrem jeweiligen Außenhandel. Dies ist zumindest teilweise die Folge deutscher Direktinvestitionen im östlichen Mitteleuropa, eine Entwicklung, die zumin18  Dazu Herbert Giersch / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 1994, Abschnitte 3.b und 4.b. 19  Dazu ausführlich Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009.

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dest qualitativ dem Aufbau Ost innerhalb Deutschlands ähnlich ist. Offenbar haben viele (west)deutsche Industrieunternehmen Teile ihrer Produktion nach Mitteleuropa verlagert, was sich in einer entsprechend hohen Handelsverflechtung niederschlägt, zum Teil auch durch Export und Import von Vor- und Zwischenprodukten. Ein gewisser Schwerpunkt der Investitionen liegt dabei in der Slowakei und Ungarn, die beide extrem hohe Export- und Importquoten erreichen. Tatsächlich lässt sich eine besonders starke Integration im mittleren Donauraum beobachten, also in jenen Regionen, die sich um die östlichen Bundesländer Österreichs mit dem Großraum Wien gruppieren. Hier zeigt sich auch, dass mit Blick auf Handelsintegration und industrielle Verflechtung im Grunde Deutschland und Österreich zusammen betrachtet werden müssen. Für Österreich selbst ist ohnehin Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner, der rund ein Drittel von Österreichs Exporten nachfragt und fast die Hälfte seiner Importe liefert. Es geht also eigentlich um einen „deutschsprachigen Industrieraum“, der zunehmend mit dem östlichen Mitteleuropa als der dazu gehörigen verlängerten Werkbank zusammenwächst. Dies fällt nur deshalb in den Statistiken nicht gleich ins Auge, weil die österreichische Wirtschaft relativ klein ist und nur ein Bruttoinlandsprodukt in der Größenordnung von elf Prozent des deutschen erwirtschaftet; Österreich rangiert daher selbst bei seinem engsten mitteleuropäischen Nachbarland Slowenien als Handelspartner klar hinter Deutschland, obwohl es ganz offensichtlich in der Region des Donauraums eine ganz zentrale Rolle spielt. All dies macht deutlich: Europa hat sich, was seine interne Verflechtung betrifft, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stark weiter entwickelt und durchaus grundlegend gewandelt. Die Veränderung ging dabei eindeutig zu Gunsten des Gewichts von Deutschland oder, wenn man so will, des deutschsprachigen Raums. Zwar ist völlig klar, dass für Deutschland selbst die neu erschlossenen Regionen der Handelspartnerschaft auch heute noch nicht an erster Stelle stehen. Dafür bleibt das Land mit seinen hochentwickelten westlichen Nachbarn zu eng und unverändert stabil integriert. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass sich die Gewichte verschoben haben, und zwar so, dass Deutschland als Industriestandort nun in alle Richtungen ausgreift, zunehmend auch in den Osten, und dort natürlich auf weit weniger etablierte Konkurrenz trifft als im Westen des Kontinents. Hilfreich ist dabei auch der typisch deutsche Fokus auf klassische Industrien: Vom Maschinen- und Fahrzeugbau über die Elektrotechnik bis hin zu Chemie und moderner Ernährungswirtschaft dominieren dieselben Branchen die Export- und die Importpalette. Dies deutet auf eine ausgeprägte regionale Zerlegung der Wertschöpfungskette hin, wie sie in global agierenden Unter-



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nehmen üblich ist, die jeweils vor Ort die vorhandenen Standortvorteile optimal nutzen.20 Diese Entwicklung gibt Deutschland unweigerlich ein überaus starkes wirtschaftliches und damit auch politisches Gewicht in der Europäischen Union. Für die allermeisten EU-Länder lässt sich feststellen: Deutschland ist die Nation, mit deren Schicksal die eigenen nationalen Wirtschaftsinteressen am stärksten verknüpft sind; und dies hat realwirtschaftliche Gründe, die weit tiefer gehen als jene Bilanz der Solidität und Stabilität, die derzeit als Hauptgrund für Deutschlands Gewicht in der Europäischen Union ausgemacht wird. Umgekehrt gilt dies zumindest in der Summe genauso: Deutschlands Interessen hängen in hohem Maße von dem Schicksal der Gesamtheit der EU-Handelspartner ab. Dabei zählt weniger jedes einzelne Land, das im Bild der außenwirtschaftlichen Verflechtung aus Sicht Deutschlands zumeist klein ausfällt. Es zählt aber das gesamte Netzwerk von Handel und Direktinvestitionen, und zwar als die bei weitem wichtigste einzelne Säule der Integration Deutschlands in die Weltwirtschaft. Immerhin machen die EU-Länder etwa zwei Drittel des gesamten deutschen Außenhandels aus, und zwar sowohl auf der Export- als auch auf der Importseite. Selbst wenn, was zu erwarten ist, die größte Wachstumsdynamik des deutschen Außenhandels künftig in anderen Regionen der Welt liegen wird, bleibt für die nächsten Jahrzehnte der wirtschaftliche Schwerpunkt in Europa von überragender quantitativer Bedeutung. Noch wichtiger ist diese Integration allerdings aus qualitativer Sicht. Sie liefert nämlich erst das realwirtschaftliche Fundament für den Gemeinsamen Markt, der seit 1992 als rechtlicher Rahmen besteht und Freihandel, freien Kapitalverkehr und Freizügigkeit von Arbeitskräften garantiert, aber erst in den letzten Jahren zur gelebten Wirklichkeit wird. Völlig unabhängig davon, wie stark Deutschland in der Zukunft mit den großen Schwellenländern der Welt durch Handel und Direktinvestitionen verflochten sein wird, bleibt der Gemeinsame Markt Europas eine eigene qualitative Dimension, und zwar als Vereinigung räumlich benachbarter Volkswirtschaften, deren natürliche Integration der Erste Weltkrieg für lange Zeit unterbrochen hatte. Im Westen Europas begann die Re-Integration erst in den frühen 1950er Jahren, im Osten sogar erst Mitte der 1990er Jahre. Was sich jetzt schrittweise als wirtschaftliches Zusammenwachsen Europas durch Güterhandel und Direkt­ investitionen vollzieht, ist insofern eine Art historische Rückkehr zu einem Trend der Integration, der früher unter ganz anderen politischen Verhältnissen schon einmal angelegt war, aber dann – jäh und für lange Zeit – gestört wurde. Dies gibt dem Prozess seine politische Tragweite, völlig unabhängig 20  Dazu Karl-Heinz Paqué, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, Abschnitt 5.1.

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davon, ob Deutschland in der neuen globalen Arbeitsteilung noch weitere „Standbeine“ in großen Schwellenländern wie China, Indien, Indonesien oder Brasilien entwickelt. In diesem Sinne hat die Integration Europas tatsächlich weit mehr strukturelle Ähnlichkeit mit dem Zusammenwachsen Deutschlands nach der Deutschen Einheit als mit der Globalisierung im Weltmaßstab. In Europa wie in Deutschland geht es darum, in einem Gemeinsamen Markt ein neues nachhaltiges Gleichgewicht der Arbeitsteilung zu erreichen, und zwar in einem Zustand der umfassenden wirtschaftlichen Freiheiten bei sehr niedrigen Kosten der Mobilität von Arbeit und Kapital; und dies alles in einem geographisch engen Raum mit langer gemeinsamer (und konfliktreicher) Geschichte. In der Welt geht es dagegen um „klassische“ Handelsbeziehungen zwischen Regionen und Nationen, die geographisch weit voneinander entfernt liegen, untereinander nur sehr begrenzte internationale Freizügigkeit zulassen und sich zumeist in Kultur, Sprache und staatlichen Institutionen auch weiterhin stark voneinander unterscheiden. Die Rolle Deutschlands ist in den zwei Sphären – der „europäischen“ und der „globalen“ – eine jeweils völlig andere, und zwar nicht nur quantitativ. In der europäischen Sphäre ist Deutschland mit seiner starken, überall präsenten Wirtschaft ein wesentlicher Akteur des Aufbaus und der Entwicklung, und zwar zusammen mit Österreich insbesondere in den Aufholländern Mittel- und Osteuropas. In der globalen Sphäre ist Deutschland dagegen nichts anderes als einer von vielen Wettbewerbern, die sich um günstige Ausgangspunkte für Handel und Direktinvestitionen bemühen, um die Welt optimal mit Waren und Dienstleistungen beliefern zu können. Es ist schwer vorstellbar, dass sich an dieser qualitativen Grundkonstellation in den kommenden Jahrzehnten Wesentliches ändern wird. Aus diesen unterschied­lichen Rollen ergeben sich unterschiedliche Arten und Grade der politischen Verantwortung Deutschlands und der Handelspartner. Auf globaler Ebene beschränkt sich diese auf das Einhalten der üblichen Regeln des internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehrs, ggf. gekoppelt mit einer gewissen globalen Abstimmung der makroökonomischen Politik im Rahmen von Gipfeltreffen, bei denen regelmäßig und vor allem in Krisenzeiten kommuniziert, koordiniert und kooperiert wird. Auf europäischer Ebene gibt es dagegen durch den erreichten Grad der Integration eine derart starke gegenseitige Abhängigkeit, dass von wirklich autonomer nationaler Politik nicht mehr die Rede sein kann. Dies gilt ganz offensichtlich für die Eurozone, wo jene Länder, die vom Tugendpfad der Stabilität abwichen, sehr harte Anpassungsprogramme durchlaufen mussten bzw. noch durchlaufen. Es gilt aber auch weit darüber hinaus. So zeigt die Entwicklung der Euro-Wechselkurse der nationalen



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Währungen all jener mittel- und osteuropäischen Länder, die 2004 der Europäischen Union beitraten, aber bis heute nicht zur Eurozone gehören, dass keines dieser fünf Länder es seither gewagt hat, eine drastische Abwertung der nationalen Währung gegenüber dem Euro zuzulassen. So gab es im Zeitraum 2004 bis 2011 im Ergebnis Aufwertungen der Währungen von Polen und Tschechien sowie im Wesentlichen einen perfekten „peg“ zum Euro in Litauen und Lettland (dort ab 2005). Lediglich Ungarn nahm im Nachgang der Weltfinanzkrise eine etwas deutlichere Abwertung seiner Währung in Kauf, aber selbst diese bewegte sich im Vergleich zur Dramatik der globalen Ereignisse in einer eher bescheidenen Größenordnung. Von einem allgemeinen Trend zur Abwertung gegenüber dem Euro kann jedenfalls nirgendwo die Rede sein. Es gibt also längst einen „Verbund der externen Stabilität“, der weit über die Eurozone hinausreicht. Die unter Ökonomen beliebte Vorstellung, die Aufholländer der Peripherie sollten sich die Option drastischer Abwertungen bewusst offen halten, wird von den politisch Verantwortlichen dieser Länder anscheinend in der Praxis nicht geteilt. Kurzum: Die Währungsabwertung ist dabei, überall zu verschwinden, zumindest als „natürliche“ politische Option. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Der Preis des Verlusts an stabilitätsorientierter Glaubwürdigkeit im Fall eines Wertverfalls der Währung ist derart hoch, dass dies offenbar die nationale Politik fast nirgends riskieren will. Stattdessen nimmt sie überall harte Maßnahmen der Konsolidierung in Kauf, auch außerhalb der Eurozone. Blickt man auf die Bilanz der internen Geldentwertung in den Ländern, ist diese Haltung absolut nachvollziehbar. Denn auch ohne Abwertung gegenüber dem Euro gibt es in den Ländern noch eine Preisinflation, die deutlich über dem EU-Durchschnitt hinausgeht. Eine „Freigabe“ des Wechselkurses würde also wahrscheinlich sehr schnell in einer beschleunigten Geldentwertung enden, mit langfristig verheerenden Folgen. Die Aufholländer der EU verfolgen also mit der Mitgliedschaft in der Eurozone oder mit einer weitgehenden Bindung ihrer Währung an den Euro eine völlig rationale Strategie des Imports von Stabilität, ohne den sie offenbar um ihren Ruf als attraktiver Wirtschafts- und Investitionsstandort fürchten. Sie übernehmen dadurch im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein hohes Maß an politischer Verantwortung dafür, dass die Integration Europas erfolgreich weitergeht. Sie erfüllen geradezu vorbildlich die Bedingungen des „acquis communitaire“ mit Freihandel, freiem Kapitalverkehr und Freizügigkeit, auch wenn es ihnen harte Anpassungslasten aufbürdet. Es liegt nun in der politischen Logik der Europäischen Union, dass dieser Verantwortung der „Kleinen und Armen“ eine Verantwortung der „Großen und Reichen“ (und namentlich Deutschlands) gegenübersteht. Wie sieht diese Verantwortung konkret aus?

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Bis zur Euroschuldenkrise war die Vorstellung verbreitet, dass sich diese Verantwortung auf zwei wesentliche Eckpunkte beschränken würde: Auf die Bereitstellung eines stabilen ordnungspolitischen Rahmens mit unabhängiger Zentralbank, hohem Vertrauen in den Kapitalmärkten (und damit relativ niedrigen Zinsen) sowie einer ergänzenden Regional- und Kohäsionspolitik der tradierten Art. Dies erwies sich als ein großer Irrtum, wie wir spätestens seit den Rettungsaktionen für Griechenland, Irland und Portugal wissen. Unter dem Druck der internationalen Finanzmärkte kam es zu Stützungskäufen von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank und damit zu einem „Bail Out“, der eigentlich durch den Stabilitätspakt ausgeschlossen sein sollte. Das Endergebnis der Entwicklung ist nach heutigem Stand die dauerhafte Einrichtung einer Fiskalunion mit Koordinierung und Kontrolle der Finanzpolitik sowie einem großzügig ausgestatteten Rettungsfonds. Diese Veränderung des Stabilitätspakts wird in Deutschland heftig kritisiert. Sie gilt im Urteil vieler Wirtschaftswissenschaftler und einiger Politiker als Tor zu einer Kollektivhaftung der Seriösen für die Unseriösen und als erste Stufe zu einer umfassenden „Transferunion“, qualitativ vergleichbar dem Finanzföderalismus innerhalb Deutschlands.21 Richtig daran ist, dass tatsächlich früheres Fehlverhalten im Nachhinein nicht so bestraft wird, wie es der Finanzmarkt ohne politische Intervention täte. Dies geschieht allerdings nur unter einem enormen politischen Druck in Richtung der Konsolidierung, wie er im Rahmen der konditionierten Hilfsprogramme der EU und des IWF verlangt und auch Schritt für Schritt umgesetzt wird. Jedenfalls wirken diese harten Programme nicht gerade wie bequeme Auswege und damit Einladungen für künftiges Fehlverhalten („moral hazard“). Ganz im Gegenteil werden sie weithin als nationale Demütigungen angesehen, die man derzeit hinnehmen muss, aber in der Zukunft möglichst vermeiden sollte. Viel gewichtiger als die Suche nach einem „moral hazard“ ist dagegen die Frage nach den realistischen Alternativen. Was kann die Politik im Kern anderes tun als das, was sie tut, wenn sie den „acquis communitaire“ mit Freihandel, freiem Kapitalverkehr und Freizügigkeit von Arbeitskräften zukunftsfähig machen will? In der Tat sind Fiskalunion und Rettungsfonds ja nichts anderes als die Antwort auf eine allgemeine Fehleinschätzung der Kräfte zur wirtschaftlichen Selbststabilisierung Europas. Es hat sich eben gezeigt, dass die Eurozone eine schwere Finanzkrise einfach nicht überstehen kann, ohne dass es einen „lender of last resort“ gibt, der das System stabilisiert – und das können nur die Regierungen gemeinsam und die Eu21  So – stellvertretend für viele – Hans-Werner Sinn in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Februar 2012, in dem er wörtlich erklärt: „Der Zug ist in Richtung Transferunion abgefahren.“



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ropäische Zentralbank sein. Deren „Geschäftsrisiken“ müssen natürlich von den „Großen und Reichen“ der Europäischen Union garantiert werden, sonst kann eine Stabilisierung nicht zustande kommen. Wer sonst als Deutschland (und seine stabilen Nachbarn) kann dafür die Verantwortung und einen Großteil der Kosten übernehmen? Die Entscheidungslage ähnelt jener Konstellation, in der sich die Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt ihrer globalen Macht in den späten 1940er Jahren befanden. Damals hatten die Amerikaner die Wahl, entweder Europa sich selbst zu überlassen oder einen Teil der Kosten des Wiederaufbaus in Europa zu übernehmen und damit den dortigen Reformprozess in die gewünschte (und nötige!) Richtung zu lenken. Es war letztlich die Wahl zwischen Intervention und Isolation. Sie wählten damals mit dem MarshallPlan die Intervention, nachdem sie in den 1920er Jahren die Isolation gewählt hatten, und zwar aus einer Mischung aus Konservatismus und Selbstunterschätzung. Ähnlich, wenn auch noch gefährlicher ist die Lage für Deutschland heute. Denn immerhin ist Deutschland selbst hoch integrierter Teil des Europäischen Wirtschaftsraums und insofern von allfälligen Instabilitäten oder dem Verfall des Umfelds noch weit mehr betroffen, als dies seinerzeit für die Vereinigten Staaten der Fall war. Es ist deshalb im wohlverstandenen Eigeninteresse Deutschlands, seine Verantwortung zur Stabilisierung Europas zu übernehmen. Viele Skeptiker überzeugt diese pragmatische Sichtweise nicht. Sie pochen auf umfassende „Selbstverantwortung“ für nationales Fehlverhalten. Prima facie klingt dies überzeugend. In letzter Konsequenz plädieren sie damit aber für eine deutsche Politik, die durch Aussetzen der Hilfe billigend in Kauf nimmt, dass die Staaten in Bedrängnis den „acquis communitaire“ aufkündigen und zu massiven Beschränkungen des Kapitalverkehrs greifen. Denn wie anders als durch ein mindestens vorübergehendes Aussetzen dieser Freiheit könnten die betroffenen Länder Attacken der globalen Kapitalmärkte auf ihre Kreditwürdigkeit durchstehen? Auch noch weitergehende Szenarien sind denkbar: Länder wie Griechenland und Portugal könnten gezwungen sein, aus der Eurozone auszuscheiden und mitten in einer turbulenten Finanzkrise die Einführung einer eigenen Währung anzukündigen, was ja tatsächlich in der deutschen Öffentlichkeit als Option ernsthaft diskutiert wird. Ohne massive Kontrollen des Kapitalverkehrs, aber auch Einschränkungen der Freizügigkeit und des Freihandels wäre dies aber kaum denkbar, denn die Menschen würden sich nicht freiwillig von ihren Beständen an Euro (der guten Währung!) trennen, um diese in „Neue Drachmen“ oder „Neue Escudos“ (den schlechten Währungen!) umzuwandeln. Darüber hinaus würden drastische Währungsabwertungen den Realwert der Staatsschulden massiv erhöhen und weitergehende nationale Insolvenzen nach sich ziehen. Deren Signalwirkung für die Finanzmärkte in Europa wäre

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höchst unsicher. Nimmt man die Erfahrungen der Finanzkrise in Südostasien 1997 zum Maßstab, wäre tatsächlich ein „Dominoeffekt“ nicht auszuschließen, bei dem dann auch gefährdete große Länder (Spanien? Italien? Frankreich?) betroffen sein könnten. Die Konsequenz wäre dann der Kollaps der Eurozone. Über den Realitätsgrad dieser Szenarien wird heftig gestritten. Manche halten sie für Horrorphantasien, andere (so auch der Verfasser) für im Kern angemessen und lebensnah. Im Einzelnen gibt es natürlich eine Fülle von weiteren Vorschlägen zur Lösung der Eurokrise – bis hin zum Modell einer „Euro-Ausstiegshilfe“, also dem Bereitstellen von Mitteln für die Einführung einer neuen Währung, oder zur Forderung, Deutschland selbst solle die Eurozone verlassen und mit anderen stabilitätsorientierten Ländern eine starke „Nord-Euro-Zone“ gründen.22 Es kann hier offenbleiben, wie diese Vorschläge in der Sache zu beurteilen sind. Gemeinsam ist ihnen stets eines: Sie zielen darauf ab, die dauerhafte Verantwortung Deutschlands für andere Länder der Eurozone und auch der Europäischen Union insgesamt deutlich zu mindern. Sie folgen dem Motto: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Sie sagen: lieber einen Fehler – die Einführung des Euro in 17 Ländern – rasch korrigieren als mit einer Fehlkonstruktion ewig „weiterwurschteln“. Die Argumentation der Euroskeptiker ist in sich schlüssig, aber in hohem Maße unpolitisch. Sie lässt vollkommen außer Acht, dass Politik ihrem Wesen nach nicht symmetrisch ist. Politik folgt eher der Erkenntnis Mephistos in Goethes Faust: „Das Erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.“ Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, Griechenland und Portugal (und Irland? Spanien? Italien?) nicht in die Eurozone aufzunehmen; aber es ist nun einmal geschehen. Die Rückabwicklung der Entscheidung würde nicht nur Ansteckungsrisiken für andere Länder schaffen. Sie würde auch das klare Signal setzen, dass der „acquis communitaire“, wenn er sich als wirtschaftlich schwierig und fiskalisch teuer erweisen sollte, von den starken EU-Ländern doch zur Disposition gestellt wird. Es wäre ein Zeichen der Kraftlosigkeit der Politik, das innerhalb Europas und weltweit zu einer völligen Neubewertung der Ernsthaftigkeit des EU-Integrationsprojekts führen würde. Die Kosten einer solchen Neubewertung sind natürlich nicht einfach zu messen. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Hauptwiderstand gegen die derzeitige Politik aus den Reihen professioneller Ökonomen kommt, die daran gewöhnt sind, auf quantitative Untermauerung von Argumenten zu bestehen. Es geht aber gleichwohl um reale Kosten, politische und ökonomische, die von einer solchen Neubewertung drohen. 22  So

Hans-Olaf Henkel, Rettet unser Geld!, München 2010.



Integration, Divergenz und Krisen in der Europäischen Union

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Innerhalb der Europäischen Union wäre die Konsequenz relativ klar: Wenn schon die starken EU-Länder nicht mit letzter Konsequenz für den „acquis communautaire“ kämpfen, dann werden es die schwächeren Partner auch nicht tun. Die Bindekraft der EU wird abnehmen – zunächst vielleicht nur schleichend, aber doch kontinuierlich und unaufhaltsam. Dies gilt gerade auch für die Länder in Mittel- und Osteuropa, die noch nicht Teil der Eurozone sind. Ihre Motivation zu harten Reformen speist sich im Wesentlichen aus der Vision, in ein freiheitliches Europa hineinzuwachsen, in dem marktwirtschaftliche Prosperität und fiskalische Stabilität herrscht, aber gleichzeitig die Schwächeren durch die Stärkeren gefördert und unterstützt werden. Eine Perspektive, in der sich ausschließlich die (eng definierten) Interessen und Ordnungsvorstellungen des westlichen Kerns durchsetzen, ist wenig attraktiv. Es bedarf gerade in Krisenzeiten einer Bestätigung des kooperativen Geistes, um die langfristige Vision zu erhalten und zu stärken. Fehlt diese Bestätigung, wird auch in den betreffenden Ländern der politische Widerstand gegen Härten der Modernisierung und Anpassung zunehmen. Europa wird dann langfristig noch viel weiter auseinanderdriften, als es dies derzeit ohnehin schon tut. Es fällt schwer, eine solche Perspektive als politisch wünschenswert anzusehen. Dies gilt vor allem auch mit Blick auf ihre Außenwirkung: Ein Europa, das auseinanderdriftet, wird in der globalen Politik kaum als starker Akteur auftreten können. Dabei stehen in der Weltwirtschaft grundlegende Veränderungen an. So wird die klassische westliche Welt mit ihrem Kern in Europa und Nordamerika massiv an wirtschaftlichem Gewicht verlieren, jedenfalls wenn man es am Anteil der globalen Wirtschaftskraft misst. Dies ist im Wesentlichen ein erfreulicher Trend, ergibt er sich doch aus dem beschleunigten Wachstum jener riesigen Entwicklungs- und Schwellenländer, die sich aus bitterer Armut verabschieden und aus eigener Kraft in die Weltwirtschaft integrieren. Damit droht allerdings auch ein fundamentaler Wandel des weltpolitischen Klimas. Es geht nämlich bei den neuen wirtschaftlichen Großmächten fast durchweg um Länder, in denen freiheitliches Denken und demokratisches Handeln weit weniger gefestigt sind als in den westlichen Industrienationen. Was den Ausbau und Schutz der Prinzipien einer liberalen Weltwirtschaftsordnung betrifft, dürfte von diesen Ländern wohl kaum ein wesentlicher Impuls und Eigenbeitrag zu erwarten sein. Im Gegenteil, ihr zunehmender Einfluss erhöht die Gefahr, dass der erreichte Konsens über die Regeln der Fairness von Freihandel und Wettbewerb erodiert und zerbröselt. Gerade deshalb bedarf es starker – und vereinter – Stimmen des Westens. Ein Scheitern der Europäischen Integration würde diesen Chor der Stimmen maßgeblich schwächen. Es wäre kaum vorstellbar, dass ein wirtschaftlich auseinanderfallendes Europa noch die nötige politische Kraft aufbringen könnte, seinen Einfluss auf die Gestaltung der Welt-

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wirtschaftsordnung zu wahren. Dies gilt gleichermaßen für Fragen der Währungsordnung, des Güterhandels und der Finanzmärkte. Es steht also viel auf dem Spiel. Dies erklärt, dass die Diskussion über das Engagement Deutschlands in diesen Jahren mit einer Leidenschaft geführt wird, wie sie lange nicht für europäische Themen zu beobachten war. Deutschland steht zweifellos vor einer Wegegabelung, und egal welchen Weg die Politik wählt, wird es weit größere Risiken geben, als sie in der Vergangenheit absehbar waren. In gewisser Weise ist dies auch das Ergebnis des eigenen Erfolgs: Vier Jahrzehnte weltwirtschaftliche Integration des Westens und zwei Jahrzehnte zusätzliche Integration des Ostens haben zu einem wiedervereinigten Deutschland geführt, das wirtschaftlich an die traditionellen industriellen Stärken des Wilhelminischen Kaiserreichs anknüpft, aber gleichzeitig viel stärker in die europäische und die globale Wirtschaft eingebunden ist, als dies jemals der Fall war. Das ist eine große Leistung. Es ist eine böse Ironie des Schicksals, dass keine Gelegenheit bleibt, die Früchte dieser Leistung in Gelassenheit zu genießen. Dafür ist das europäi­ sche Umfeld zu spannungsgeladen und zu sehr abhängig von dem, was im westlichen Zentrum des Kontinents passiert. Denn Teil der deutschen Leistung spiegelt sich im zwiespältigen Zustand des Alten Kontinents wieder. Einerseits befindet sich Europa auf gutem Weg zu einer immer dichteren Integration über Handel, Direktinvestitionen und Wanderungen; andererseits gibt es einen gefährlichen Trend zur Zementierung von regionalen Ungleichgewichten mit einem hochindustrialisierten, innovationskräftigen und vollbeschäftigten Zentrum gegenüber einer Peripherie, die in jeder Hinsicht noch zurückhängt und schwächelt. Das ist fast eine Konstellation aus dem raumwirtschaftlichen Lehrbuch, die für eine verantwortungsvolle Führungsrolle des Zentrums spricht, und zwar in einer neuen regionalpolitischen Wachstumsstrategie zugunsten der Peripherie. Gelingt der Weg aus der derzeitigen Schuldenkrise, so ist die künftige Aufgabe vorgezeichnet.

Die Entwicklung der hiesigen politischen Kultur – Modell Deutschland? Von Eckhard Jesse und Tom Mannewitz I. Einleitende Bemerkungen Wer politische Kultur möglichst eingängig zu definieren sucht, gerät in Schwierigkeiten. Dieser gummiartige Begriff ist nicht klar zu fassen. Gleichwohl kommt die Wissenschaft nicht umhin, das Element der politischen Kultur in ihre Analysen einzubeziehen, denn wer die Politik verstehen will, darf sich nicht nur auf die institutionelle Seite beziehen, weil er sonst nicht angemessen die „lebende Verfassung“ verstehen kann. Der Beitrag will die Frage beantworten, ob die hiesige politische Kultur eine Art Modell für die politische Kultur anderer Länder sein kann. Wird vom „Modell Deutschland“1 gesprochen, so bezieht sich dieser Terminus meistens auf die ökonomische Seite. Hier steht hingegen die politische Kultur Deutschlands im Vordergrund. Wer sie als Modell für andere Staaten ansieht, provoziert Skepsis – zum einen wegen der spezifischen Brüche in der deutschen Geschichte, zum anderen wegen der ohnehin schwierigen Übertragbarkeit des Konzepts. Zunächst geht es darum, die Geschichte des Begriffs der politischen Kultur nachzuzeichnen. Dabei stehen naturgemäß die Namen von Gabriel Almond und Sidney Verba im Mittelpunkt. Ihr Buch „The Civic Culture“ aus dem Jahre 1963 machte Furore. In ihm befassen sie sich nicht nur mit der Konzeption der politischen Kultur an sich, sondern auch mit den spezifischen politischen Kulturen in einzelnen Ländern (neben Deutschland Großbritannien, Italien, Mexiko und die USA). Deutschland galt den Autoren weithin als eine „Untertanenkultur“. Im nächsten Abschnitt wird jedoch gezeigt, dass etwa in den 1970er Jahren ein (Werte-)Wandel in Richtung Partizipation und Selbstentfaltung eingetreten ist. Noch vor der deutschen Einheit ließ das Vertrauen in die Leistungen der Demokratie allerdings wieder nach. Die plötzliche Vereinigung zweier gänzlich unterschiedlicher Systeme war eine große Herausforderung – in politischer und wirtschaft­ 1  Vgl. etwa David Gilgen / Christopher Kopper / Andreas Leutzsch (Hrsg.), Deutschland als Modell? Rheinischer Kapitalismus und Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert, Bonn 2010; Richard Deeg, The Comeback of Modell Deutschland? The New German Political Economy in the EU, in: German Politics 14 (2005), S. 332–353.

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licher Hinsicht. Obwohl die Bürger „des Ostens“ sich weithin „am Westen“ orientiert hatten, gab und gibt es zwischen beiden Regionen spezifische Unterschiede (etwa mit Blick auf die Rolle des Staates). Am Beispiel des sich allmählich entwickelnden Patriotismus wird ein gewisser Wandel seit 1990 gezeigt. Abschließend folgt die Begründung, wieso das „Modell Deutschland“ für die politische Kultur nicht in Frage kommt. II. Die Bedeutung und Erforschung politischer Kultur Anders als in der Politik, den Medien und der Gesellschaft, wo politische Kultur oft so viel meint wie gute politische Manieren, bedeutet politische Kultur einem politikwissenschaftlichen Verständnis zufolge nicht politische Kultiviertheit. Vielmehr beschreibt der wissenschaftliche Begriff die subjektive Dimension von Politik, also die persönlichen Orientierungen der Bürger gegenüber dem politischen System. Warum beschäftigen sich Menschen professionell mit politischer Kultur? Wer behauptet, die Erforschung politischer Kultur sei ein recht junger Zweig der Politikwissenschaft, hat Recht und hat doch nicht Recht: Bereits Jean-Jacques Rousseau war von der Bedeutung der subjektiven Dimension von Politik für deren objektive Dimension bewusst. Rousseau interessierte jener Teil politischer Kultur, der sich aus der Religion der Bürger – der Zivilreligion – speiste. Er argumentierte für die „reine und einfache Religion des Evangeliums“2, denn es ist „ja für den Staat sehr wohl wichtig, daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben heißt; aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und seine Glieder nur insoweit, als sie sich auf die Moral beziehen und auf die Pflichten, die derjenige, der sie (die Religion) bekennt, gegenüber den anderen zu erfüllen gehalten ist.“3 Das Christentum sollte die Bürger also lehren, ihre Pflichten und die Gerechtigkeit zu lieben, um der von Rousseau gepriesenen Republik – ein direktdemokratischer Duodezstaat ohne Elemente der Gewaltenteilung – zu Stabilität zu verhelfen. Indirekt geht er von politischer Kultur (der Begriff selbst fällt nicht) als einem Stabilitätsgaranten bzw. Instabilitätsfaktor für das politische System aus. Gleichwohl blieb Rousseau eine Antwort auf die Frage schuldig, was eine politische Kultur überhaupt ist und welche Orientierungen der Bürger für das Überleben der Republik von Bedeutung sind. Jener Aufgabe nahmen sich systematisch und normativ weniger vorbelastet erst die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Sidney Verba 2  Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag. Oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2008, S. 146. 3  Ebd., S. 150.



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und Gabriel Almond in der Mitte des 20. Jahrhunderts an. Wer sich heute mit politischer Kultur beschäftigt, kommt aus zwei Gründen nicht umhin, auf die Grundlagenarbeit „The Civic Culture“ zu verweisen: erstens wegen der Bedeutung als „Erstlingswerk“ des Forschungszweigs, zweitens wegen des intellektuellen Einflusses auf nachfolgende Studien. In der Studie4 von 1963 legten die Wissenschaftler ein Politische-Kultur-Konzept vor, das an Systematik und Analysekraft seinesgleichen suchte. Selten hat eine bestimmte Studie als Startschuss für einen neuen Forschungszweig so nachhaltig gewirkt wie die Analyse von Almond und Verba. Sie brachte eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zu politischer Kultur in Gang, die teils eigene Begriffsverständnisse prägten und sich teils an das „Civic-Culture“Konzept anlehnten. Die Dichte an Studien zu politischer Kultur ist ab 1963 massiv angestiegen, die Ernsthaftigkeit, mit der die Analysen betrieben wurden, war beachtlich. Insofern ist die Politische-Kultur-Forschung also doch ein recht junger Zweig der Politikwissenschaft, der seine Prägung von einer vergleichenden US-Studie erhielt. Aus der Erfahrung des europäischen Faschismus und Nationalsozialismus heraus stellten sich Almond und Verba die Frage, wie es in zivilisierten Staaten wie Deutschland und Italien zu menschenverachtenden Diktaturen kommen konnte. Einig waren sie sich darin: Strukturelle und gelegenheitsorientierte Erklärungsansätze, die etwa auf die Ausgestaltung des Regierungssystems und die Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre rekurrierten, erwiesen sich als unzureichend. Vielmehr bedürfe ein demokratisches politisches System auch eines bestimmten gesellschaftlichen Anteils an Demokraten, um nicht der Instabilität oder gar dem Zusammenbruch anheim zu fallen. Politische Kultur und politische Struktur müssten kongruent sein, soll es nicht zu systembedrohlichen Zuständen kommen. Die Autoren bedienten sich damit des Parson’schen Strukturfunktionalismus. Um ihre Frage zu beantworten, nahmen Almond und Verba fünf Nachkriegsstaaten unter die Lupe: Deutschland, Großbritannien, Italien, Mexiko und die USA. Politische Kultur beschrieb ihnen zufolge keine eigenständige Theorie: „It refers to a set of variables which may be used in the construction of theories. But insofar as it designates a set of variables and encourages their investigation, it imputes some explanatory power to the psychological or subjective dimension of politics“5. Der Politische-Kultur-Begriff erhielt erstmals eine analytische Schärfung von nennenswertem Ausmaß, 4  Siehe Gabriel Almond / Sidney Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. 5  Gabriel Almond, The Intellectual History of the Civic Culture Concept, in: ­Gabriel Almond / Sidney Verba (Hrsg), The Civic Culture Revisited, Newbury Park u. a. 1980, S. 1–36, hier: S. 26.

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denn er umfasst demnach das Wissen, die Gefühle und die Bewertungen der Bürger eines Staates gegenüber dem politischen System: „I defined political culture as consisting of cognitive, affective, and evaluative orientations to political phenomena, distributed in national populations or in subgroups.“6 Außerdem fanden sich die Elemente des politischen Systems (etwa bestimmte Akteure, einzelne institutionelle Bestandteile, wie Wahlen etc.) und einzelne Subsysteme (zum Beispiel das nationale im Gegensatz zum lokalen politischen System oder einzelne Politikfelder) in der Kultur der Bürger wieder. Die Struktur spiegelt sich also in der Kultur wider. Deshalb sei es eine unterkomplexe Annahme, das Wissen, die Gefühle und Bewertungen der Bürger hätten „das“ politische System zum Gegenstand. Vielmehr beziehen sich ihre Orientierungen nach Almond und Verba auf das Selbst (eigene politische Überzeugungen und Interessen), auf die strukturellen Eigenschaften des politischen Systems (bestimmte Systemcharakteristika), auf die Inputmöglichkeiten (etwa die Chancen, eigene politische Ideen umzusetzen), schließlich auf das Ouptut der Politik (in erster Linie die politische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit). Wer alle drei Orientierungsformen mit allen vier Orientierungsobjekten multipliziert, kommt auf eine 12-Felder-Matrix. Sie bildet die politische Kultur eines Landes ab. Vorteilhaft sei eine „Civic Culture“ (ins Deutsche meist mit „Staatsbürgerkultur“ übersetzt) – eine partizipatorische Kultur mit positiven Einstellungen gegenüber Politik, ebenso passiven Elementen, welche den Wunsch nach Wandel des ­politischen Systems ausbremsen und die Demokratie so stabilisieren sollen. Ohne ein gewisses Maß an Folgsamkeit kommt selbst eine Herrschaft des Volkes nicht aus. Wenngleich Almond und Verba die Politische-Kultur-Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts so sehr prägten wie kaum jemand sonst, blieben ihre Ausführungen das Ziel zahlreicher, bisweilen massiver Einwände, sachlicher und persönlicher Kritiken. Deren Auffächerung unterbleibt hier. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, ihre Konzeption von politischer Kultur aufzunehmen und zugleich etwas zu lockern, damit die politische Kultur Deutschlands umfassend dargestellt werden kann. Wir schließen uns deshalb dem „Minimalkonsens“ in der Politikwissenschaft an, demzufolge politische Kultur „die Werte, Einstellungen, Meinungen und schließlich auch das Verhalten der Bürger gegenüber der Welt des Politischen umfasst“7.

6  Ebd.

7  Tilman Mayer / Martina Kortmann, Politische Kultur, in: Irene Gerlach / Eckhard Jesse / Marianne Kneuer / Nikolaus Werz (Hrsg.), Politikwissenschaft in Deutschland, Baden-Baden 2010, S. 181–200, hier: S. 182.



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III. Die politische Kultur Deutschlands seit Ende des Zweiten Weltkrieges Nicht weniger aufschlussreich als die theoretische Konstruktion Almonds und Verbas waren ihre empirischen Befunde. Während den Ländern mit langer Demokratieerfahrung – den USA und Großbritannien – eine partizipative politische Kultur attestiert wurde, kamen Mexiko, Italien und Deutschland deutlich schlechter weg. Vor allem das Nachkriegs- und Wirtschaftswunderland Deutschland der 1950er und frühen 1960er Jahre attribuierten sie mit dem Begriff „Untertanenkultur“: Zwar seien die Westdeutschen zufrieden mit den Leistungen der Demokratie, außerdem bestünde eine solide Kenntnis über das demokratische System – der Marshall-Plan, die Einführung der sozialen Markwirtschaft ebenso wie die Entnazifizierung und politische Bildung begannen, Früchte zu tragen. Eine echte Liebe zur Demokratie sei im Deutschland Adenauers und Erhards aber noch nicht entstanden: Vielfach zeigten sich die Deutschen passiv, ihre politische Teilhabe beschränkte sich auf das Kreuz auf dem Wahlzettel. Es herrschte die Meinung vor: Über Politik redet man nicht, Politik ist ein „schmutziger“ Beruf. Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus dürften wesentlich zur Politikferne der Gesellschaft beigetragen haben; „gebranntes Kind scheut das Feuer“. „Obrigkeitsstaatliches Denken, Konfliktschwäche, Etatismus“8 – das waren die Kennzeichen der deutschen politischer Kultur in der frühen Bundesrepublik. Bis die Deutschen zuverlässige Demokraten werden, würden wohl noch 100 Jahre vergehen, so die vorherrschende Meinung. Damit sei die politische Kultur ähnlich der im Kaiserreich des frühen 20. Jahrhunderts gewesen. In der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Mitte der 1960er Jahre ist von einer „Phase der Wiederherstellung und ersten Festigung der parlamentarischen Demokratie“9 zu sprechen. Von einer die Demokratie stabilisierenden Kultur war allerdings eher wenig zu verspüren: Zu sehr hing deren Bewertung von ihren Leistungen ab, ihre Werte und konstitutiven Mechanismen waren nicht internalisiert. Hätte der Marshall-Plan nicht funktioniert, das „Wirtschaftswunder“ nicht gezündet, um die westdeutsche Demokratie wäre es bei Weitem nicht so gut bestellt gewesen. Die einflussreiche Folgestudie von „The Civic Culture“ erblickte 1980 das Licht der Öffentlichkeit. David P. Conradt kam darin zu einem für Deutschland überraschenden und überaus erfreulichen Urteil, das die Mehr8  Eckhard Jesse, Zwei verschiedene politische Kulturen in Deutschland?, in: ders., Demokratie in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Köln u. a. 2008, S. 166– 192, Köln u. a. 2008 hier: S. 170. 9  So Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 427.

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heit der professionellen Beobachter weithin teilte. „Throughout most of the postwar period, analysts of German political culture have probed the question of how committed Germans were to the liberal democratic system instituted at the command of Western occupiers in 1949. […] This question is far less relevant in the late 1970s than the problem of whether the institutions and processes of liberal democracy are adequate to the participatory needs and policy demands of the population no longer in its democratic infancy. The question is now not whether there is a consensus and strong support for political democracy, but what kind of democracy Germany will have. The emphasis has shifted […] from a concern with the security and stability of democracy to the quality and extent of democracy.“10 Eine partizipative politische Kultur habe in den vergangenen Jahren den Untertanengeist abgelöst und die deutsche Gesellschaft politisch-kulturell an Länder wie die USA und Großbritannien angenähert: Der Zuwachs konventioneller und das Aufkommen unkonventioneller Beteiligungsformen gab einigen Beobachtern gar Anlass zur Adelung des kulturellen Wandels zur „partizipatorischen Revolution“11. Protest- und Friedensmärsche, Anti-AKW- und Anti-Kriegsdemonstrationen, das Aufkommen linksextremistischer K-Gruppen, die Etablierung von Frauenrechtsgruppen, schließlich die „Sponti“-Szene waren Zeichen dieser Zeit. „68er“ – mit diesem Schlagwort ist der wachsende Partizipationswille im Deutschland der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden. Wer diese Erscheinungen als Anstoß der „partizipatorischen Revolution“ betrachtet, sitzt einem Fehlschluss (cum hoc, ergo propter hoc) auf: Proteste, Demonstrationen und „emanzipatorische“ Bewegungen waren vielmehr Begleiterscheinungen eines krassen politisch-kulturellen Wandels, vor allem eines Wertewandels von materialistischen hin zu postmaterialistischen Orientierungen,12 der bereits in den 1950er Jahren eingesetzt hatte und in weniger als zwei Dekaden vonstattenging.13 Seine Ursachen sind laut David 10  Vgl. David P. Conradt, Changing German Political Culture, in: Gabriel Almond / Sidney Verba (Hrsg.) (Anm. 5), S. 212–272, hier: S. 263 f. 11  Max Kaase, Partizipatorische Revolution – Ende der Parteien?, in: Joachim Raschke (Hrsg.), Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung. Opladen 1982, S. 173–189. 12  Siehe hierzu Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Pulics, Princeton 1977. Materialistische Werthaltungen drücken sich etwa in der Präferenz für Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordnung und Sauberkeit als Erziehungsziele, ebenso wie in Sicherheit und Ordnung als vordringliche politische Ziele aus. Postmaterialistische Werthaltungen hingegen betonen vor allem Selbstentfaltung, politische Partizipation und Freiheit. 13  Die Wahlbeteiligung als Indikator für politische Partizipation stieg etwa von 78,5 Prozent im Jahre 1949 auf 86,0 Prozent 1953 und anschließend auf 87,8 Prozent im Jahre 1957. Das Erziehungsziel „Selbstständigkeit“ als Anzeichen für eman-



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Conradt insbesondere in der Nachkriegssozialisation jüngerer Generationen zu suchen, welche die nationalsozialistische Alternative zur Demokratie nicht oder nur unbewusst erlebt hatten; ebenso in der Leistungsfähigkeit der Demokratie (Stichwort: „Wirtschaftswunder“), schließlich in der Modernisierung Deutschlands nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Die Zeit von 1966 bis 1983 ist aufgrund der massiven Zunahme politischer Teilnahmebereitschaft und der tiefgreifenden Veränderung der politischen Kultur als „stärker partizipatorische“14 Phase zu bezeichnen. Nicht zufällig fiel in diese Phase die sozialliberale Koalition. Der politisch-kulturelle Wandel war für die Demokratie allerdings ein zweischneidiges Schwert: Einerseits verfestigten sich demokratische Haltungen in der Gesellschaft. Wo vormals nur die reine Outputorientierung das politische System gestützt hatte, stabilisierten nun eine gestiegene Identifikation mit den demokratischen Prozessen, eine hohe Partizipationsbereitschaft sowie eingeübte Konfliktregelungsmechanismen die Demokratie. Andererseits nahm die gesellschaftliche Polarisierung zu, gesellschaftliche Konflikte breiteten sich aus, und die Maßstäbe für die Politik entfernten sich von dem, was vernünftigerweise von Politik verlangt werden kann. Schließlich erodierte die identitätsstiftende Abgrenzung gegenüber systemfeindlichen Bestrebungen von links – bis heute! Die Abgrenzung zum Rechtsextremismus blieb indes über die Jahre bestehen und ist akzeptierter gesellschaftlicher Common Sense. Seit Mitte der 1980er Jahre ist eine Veränderung zu beobachten: Die Partizipationsbereitschaft, gemessen etwa an der Wahlbeteiligung, der Parteiidentifikation und -mitgliedschaft, ebenso das Vertrauen in politische Institutionen nahmen ab. Die Deutschen, ein „politikverdrossenes“15 Volk? Die Demokratie in einer Legitimitätskrise? Nein! Die Schlagwörter des Wandels sind „Parteienverdrossenheit“ und „Effektivitätskrise“: Die Bindungskraft der Parteien nahm ab, weil die sozialkulturellen Milieus, auf denen Parteimitgliedschaften gefußt hatten (etwa SPD – Arbeitermilieu), im Laufe der Jahre erodierten. In Deutschland lag wie in anderen westlichen Industriestaaten keine Legitimitätskrise vor, sondern „nur“ eine Effektivitätskrise, demokratische Prinzipien eine unverändert hohe Akzeptanz genossen und extremistische Alternativen Minderheitserscheinungen blieben. Die Leistungen der Demokratie hat „das Volk“ zunehmend negativer beurteilt – eine Folge utopischer Bewertungsmaßstäbe oder einer tatsächlich schlechzipatorische Werte verdrängte Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordnung usw. bereits ab den 1950er Jahren. Vgl. Helmut Klages, Idealistischer Realist und Hedomat in Konkurrenz, in: Das Parlament vom 16. Dezember 1994. 14  Rudzio (Anm. 9), S. 434. 15  Siehe etwa Kai Arzheimer, Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffs, Opladen 2002.

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ter gewordenen Leistungsbilanz? Vermutlich traf beides zu: Der Wertewandel veränderte die Erwartungshaltungen der Bürger an die Demokratie und diese hatte mit Ölkrisen, aufgeschobenen Sozialstaatsreformen, massiver Schuldenanhäufung und hohen Arbeitslosenzahlen eine Menge unbewältigter Probleme vor sich. IV. „Ein Staat, eine Nation, zwei Kulturen“16? Die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 stellte die Politikwissenschaft vor die Frage, ob es angesichts der jahrzehntelangen Teilung und der Transformation 1989  /  90 eine oder zwei politische Kulturen in Deutschland gebe. Die These, politisch-kulturelle Gemeinsamkeiten würden aufgrund ähnlicher Modernisierungsprozesse gegenüber den Unterschieden überwiegen,17 blieb eine Minderheitenposition. Zwar ging in der DDR ebenfalls ein Wertewandel vonstatten, seine Tiefe ist jedoch mit der des Wertewandels in der Bundesrepublik nicht gleichzusetzen. Einer anderen These zufolge sei die politische Kultur der östlichen Bundesländer von der westlicher Bundesländer zu Beginn der 1990er Jahre deshalb verschieden, weil sich hier die durch materialistische, leistungsorientierte und autoritäre Haltungen geprägte Untertanenkultur der 1950er Jahre über Dekaden konserviert habe.18 Wahrscheinlichstes Szenario ist vermutlich das folgende: Es gab nicht „die“ politische Kultur der DDR. Vielmehr hat sich im Laufe ihrer 40 Jahre eine „Doppelkultur“19 entfaltet: Die offizielle politische Zielkultur der sozialistischen Staatsführung diktierte, was wünschenswert war: die Lehren 16  Ursula Feist  / Klaus Liepelt, Auseinander oder miteinander? Zum unterschied­ lichen Politikverständnis der Deutschen in Ost und West, in: Hans-Dieter Klingemann / Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen 1990, S. 575–614, hier: S. 582. 17  Siehe Helmut Klages  / Thomas Gensicke, Wertewandel in den neuen Bundesländern. Fakten und Deutungsmodelle, in: Wolfgang Glatzer  /  Heinz-Herbert Noll (Hrsg.), Lebensverhältnisse in Deutschland. Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 301–326. 18  Vgl. Petra Bauer, Politische Orientierungen im Übergang. Eine Analyse politischer Einstellungen der Bürger in West- und Ostdeutschland 1990 / 1991, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 43 (1991), S. 433–453; Peter Gluchowski / Peter Zelle, Demokratisierung in Ostdeutschland. Aspekte der politischen Kultur in der Periode des Systemwechsels, in: Peter Gehrlich / Fritz Plasser / Peter A. Ulram (Hrsg.), Regimewechsel. Demokratisierung und politische Kultur in Ostmitteleuropa, Wien u. a. 1992, S. 231–274. 19  Vgl. Kai Arzheimer / Markus Klein, Gesellschaftspolitische Wertorientierungen und Staatszielvorstellungen im Ost-West-Vergleich, in: Jürgen W. Falter / Oscar W. Gabriel / Hans Rattinger (Hrsg.), Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich, Opladen 2000, S. 363–402.



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des Marxismus-Leninismus und Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit20. Dies erklärt den Ruf der DDR-Bürger als „rote Preußen“21 und die These, die politische Kultur der Ost-Länder habe an die Bundesrepublik der 1950er Jahre erinnert. Die politische Realkultur wiederum wurde nur teilweise durch die sozialistische Zielkultur22 und durch den Westen23 beeinflusst. Sie musste sich in Nischen ausleben24, marxistisch-leninistische Ziele waren wenig internalisiert – die Rufe nach Wiedervereinigung unter den Vorzeichen des Westens unterstreichen dies. Im Ost-West-Vergleich treten Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zutage. Was überwiegt? Offenkundig hat der Westen stärker den Osten geprägt als der Osten den Westen. Doch ganz gleich, wie ein detailliertes Urteil ausfällt: Wie soll eine europäische Einheit funktionieren, wenn Kritiker ständig mentale Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen „vermessen“ und über Unterschiede klagen? Die Identifikation mit der Gemeinschaft, gemessen über den Nationalstolz der Deutschen, liegt seit 1990 unter dem EU-Durchschnitt und nimmt im Westen wie im Osten ähnlich hohe Werte an: 1990 waren 74 Prozent der Westdeutschen und 69 Prozent der Ostdeutschen stolz bzw. sehr stolz, Deutsche zu sein, im Jahre 2000 waren es 67 bzw. 65 Prozent, 2010 69 Prozent bzw. 71 Prozent.25 Die Werte in der Bundesrepublik vor 1990 fielen ähnlich niedrig aus. Im Schnitt war nicht ganz jeder dritte von vier Befragten stolz oder sehr stolz darauf, Deutscher zu sein. Dieser Aspekt politischer Kultur blieb in den vergangenen Jahrzehnten also relativ konstant. Ursächlich hierfür ist allem Anschein nach die historische Belastung durch die Verbrechen des Nationalsozialismus. Ein offensiver Umgang mit Vergangenheitsbewältigung schärfte zwar die Sinne für antidemokratische Gefahren, stand einem, 20  Vgl. hierzu Wilhelm Bürklin, Perspektiven für das deutsche Parteiensystem: Politische Konflikte und die sozialdemokratische Kultur, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993, S. 137–154. 21  Vgl. Wolfgang Venohr, Die roten Preußen. Vom wundersamen Aufstieg der DDR in Deutschland, Erlangen 1989. 22  Vgl. z.  B. Christiane Lemke, Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Opladen 1991. 23  Vgl. Wilhelm Bleek, Die DDR als Teil unseres Selbstverständnisses, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Politische Kultur und deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbewusstsein in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1989, S. 195–221. 24  Siehe Gerd Meyer, Deutschland: Ein Staat – zwei politische Kulturen. Was trennt, was vereint die Deutschen in Ost und West?, in: Der Bürger im Staat 43 (1993), S. 3–12. 25  Siehe Europäische Kommission, Eurobarometer (verschiedene Jahrgänge), Brüssel 1981–2011.

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der Demokratie förderlichen Maß an Nationalstolz jedoch entgegen. Wolfgang Rudzio spricht beim Geschichtsbild gar von einer „Schwachstelle der politischen Kultur“26. Gleichwohl: Deutschland nähert sich dem EU-Durchschnitt an. Das gilt, wie noch zu zeigen sein wird, für den sich allmählich entwickelnden Patriotismus ebenfalls. Die Legitimität der Demokratie ist in West- wie selbst in Ostdeutschland seit jeher überwiegend hoch: 81 Prozent der West- und 61 Prozent der Ostdeutschen hielten 2003 die Demokratie für die beste Staatsform, 2008 waren es 80 (West) bzw. 64 (Ost) Prozent.27 Die Zufriedenheit mit den Leistungen der Demokratie variiert hingegen: So gaben sich 1990 80 Prozent der Westdeutschen, aber nur 49 Prozent der Ostdeutschen demokratiezufrieden, 2000 62 Prozent (West) bzw. 40 Prozent (Ost),28 2010 schließlich 61 (West)29 bzw. 41 (Ost)30 Prozent. Im Westen fügt sich die Demokratieeffektivität nach 1990 nahtlos in die Entwicklung vor der Wiedervereinigung ein: Sie bewegte sich vor 1990 um die 70 Prozent.31 Die unterschiedlich stark ausgeprägte Zufriedenheit mit der Demokratie in Ost und West bot Anlass zur Vermutung, es lägen zwei politische Kulturen vor. Doch vermutlich messen Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen die Leistungsfähigkeit ihres politischen Systems an dessen wirtschaftlichem Output – Arbeitslosenquoten, Inflationsraten, soziale Sicherungen. Aufgrund der politischen und ökonomischen Transformation hat die ostdeutsche Bevölkerung die Leistungen des Staates allerdings nicht immer als befriedigend empfunden. Überdies kamen die von der DDR-Sozialisation beeinflussten Werte zum Tragen, gerichtet auf Gleichheit, Gerechtigkeit und einen starken Staat.32 26  Rudzio

(Anm. 5), S. 438. Bernhard Kornelius / Dieter Roth, Politische Partizipation in Deutschland, Gütersloh 2004, S. 52; Bertelsmann-Stiftung, Demokratie und Integration in Deutschland. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung in Deutschland, unter: http: /  / www. bertelsmann-stiftung.de / bst / de / media / xcms_bst_dms_27957_27958_2.pdf (1.  Oktober 2012). 28  Vgl. Isabell Thaidigsmann, Aspekte politischer Kultur in Deutschland – Legitimitätsvorstellungen und Legitimitätsurteile: „Politische Ordnung“, in: Bettina Westle  /  Oscar Gabriel (Hrsg.), Politische Kultur. Eine Einführung, Baden-Baden 2009, S. 97–136, hier: S. 114. 29  Vgl. Manfred Berger  / Matthias Jung / Dieter Roth, Politbarometer West 2010 (Kumulierter Datensatz inkl. Kurzbarometer). GESIS Datenarchiv, Köln 2012. 30  Vgl. dies, Politbarometer Ost 2010 (Kumulierter Datensatz inkl. Kurzbarometer). GESIS Datenarchiv, Köln 2012. 31  Vgl. Thaidigsmann (Anm. 28), S. 107. 32  Vgl. Dieter Fuchs, Welche Demokratie wollen die Deutschen? Einstellungen zur Demokratie im vereinigten Deutschland, in: Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997, S. 81–114. 27  Vgl.



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Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West finden sich zudem in der Haltung zum Extremismus: Rechtsextremismus wird gesellschaftlich geächtet, Linksextremismus vielfach nicht als antidemokratisch wahrgenommen. Dass der Linksextremismus nicht im Osten Deutschlands prinzipiell abgelehnt wird, wo doch der überwundenen Diktatur eine linksextremistische Ideologie zugrundelag, mag seine Ursache unter anderem in folgendem Umstand haben: Trotz kultureller Unterschiede zwischen einem autoritär-hierarchischen (DDR) und autonom-organisationsfeindlichen Linksextremismus ist beiden das Streben nach Egalitarismus zu eigen. Sie eint die Feindschaft gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat aufgrund eines freiheitsnegierenden Gleichheitsverständnisses. Der Antiamerikanismus hat – bedingt durch antiwestliche Affekte – zumal in Deutschland eine lange, wenn auch keine ehrwürdige Tradition – im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und vor allem im Dritten Reich. Die Absage an den „American way of life“ war aus unterschiedlichen Gründen verbreitet. Auch in der DDR war das Amerikabild negativ besetzt.33 Die „imperialistische“ Großmacht der USA galt als Hauptfeind. Wenn auch die offizielle Ideologie so nicht geglaubt wurde, pflanzten sich Vorurteile fort. So firmierte Adenauer mitunter als „Spalter Deutschlands“. Nach 1945 änderte sich im Westen das bis dahin vorherrschende negative Amerikabild schnell. Binnen weniger Jahre schlug es in ein positives, zum Teil von Idealisierungen nicht freies Bild um. Freilich verstummte antiwestliche Kulturkritik nicht. Ernst von Salomons „Fragebogen“ ist ein wirkungsmächtiges Beispiel aus den frühen fünfziger Jahren.34 Die Folgen der Studentenbewegung für das Amerikabild waren ambivalent. Einerseits richtete sie sich dezidiert gegen die USA mit abstrusen Demonstrationsparolen („USA-SA-SS“), es kam ein „romantischer Rückfall“ (Richard Löwenthal) zum Vorschein, andererseits begünstigte sie eine Verwestlichung, westliche Lebensformen machten sich verstärkt breit. Der Kampf gegen „Amerika“ führte in der Konsequenz vielfach zu einem unintendierten Ergebnis. Im Zuge gegen die „Nachrüstung“ zu Anfang der achtziger Jahre breitete sich eine antiwestliche Grundstimmung aus. Der eine Teil der Friedensbewegung sah in den USA den Hauptfeind, der andere nahm eine Äquidistanz zu den „Supermächten“ ein. Der deutsche „Historikerstreit“ drehte sich nicht nur um die Frage, ob der Nationalsozialismus in mancher Hinsicht eine Reaktion auf den Kommunismus gewesen ist. Eine Facette dieses Streits war auch die Frage nach der Westbindung. Dabei warfen linke Historiker konservativen vor, sich von dieser abzuwenden. Tatsächlich jedoch 33  Vgl. u. a. Jürgen Große, Amerikapolitik und Amerikabild der DDR 1974–1989, Bonn 1999. 34  Vgl. Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Hamburg 1951.

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wurde die Westbindung weder von den sozialdemokratisch noch von den konservativ orientierten Historikern in Frage gestellt, am ehesten von solchen aus dem grün-alternativen Spektrum.35 Diese Diskussionen offenbarten eine gewisse Identitätsschwäche der zweiten deutschen Demokratie. In keinem Land wird der Vorwurf des Antiamerikanismus so schnell erhoben. Ende der achtziger Jahre schien die Bundesrepublik stärker amerikanisiert gewesen zu sein als die DDR sowjetisiert.36 Das vereinigte Deutschland schließlich blieb fest im Westen verankert. In der Bundesrepublik gab es kaum Stimmen, die dagegen Einspruch erhoben. Lothar de Maizière, der erste und letzte freigewählte Ministerpräsident, sprach 1990 mit Genugtuung davon, das vereinigte Deutschland werde östlicher und protestantischer, ohne dies zu spezifizieren. Doch rief die geographische Verlagerung keinen Koordinatenwechsel hervor. Insgesamt ist die Verwestlichung Deutschlands weit fortgeschritten,37 die „Ankunft im Westen“38 erfolgt. Dies steht in keinem Gegensatz zur Existenz antiamerikanischer Strömungen. Wer die Praxis der Bundesrepublik an westlichen Theorien misst, kommt zu einem Zerrbild. Selbstverständlich ergibt sich dabei, wie auch bei anderen westlichen Demokratien, eine Kluft. Der Vergleich sollte sich auf die jeweilige Verfassungswirklichkeit beziehen. Deutschland steht dabei gut da. Von einem Vordringen antiwestlicher Strömungen kann keine Rede sein.39 Sie sind in der politischen Kultur in der Minderheit und zeigen sich in linkem wie rechtem Gewand. Manche Formen sind nicht eindeutig einer bestimmten Richtung zuzuordnen40, etwa der Zynismus gegenüber der „westlichen Wertgemeinschaft“. Heute ist die Linke die stärkste Kraft, die sich antiwestliche Ressentiments zu Eigen 35  Vgl. Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur im Spiegel des „Historikerstreits“. What’s right? What’s left?, Opladen / Wiesbaden 2001. 36  Vgl. zu dieser Thematik Konrad H. Jarausch / Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt a. M. 1997. 37  Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 38  Vgl. Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1999; vgl. auch Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, zwei Bände, München 2000; Heinz Bude  /  Bernd Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999. 39  Diese These wird vertreten bei Richard Herzinger / Hannes Stein, Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte, Reinbek bei Hamburg 1995. 40  Vgl. Armin Pfahl-Traughber, „Antiamerikanismus“ und Antiwestlertum von links und rechts. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Spannungsfeld von Demokratie und Extremismus, in: Eckhard Jesse / Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 193–217.



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macht. Sie stößt im Osten – auch deshalb – auf Resonanz. Ihr fällt es schwer, westliche Werte zu übernehmen, und sie profitiert von denen, die einer offenen Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen skeptisch gegenüberstehen. Was bei der Diskussion um die politische Kultur in Deutschland häufig ignoriert wird, ist die regionale Differenzierung, die von den Orientierungen der Bürger gegenüber der deutschen Demokratie Besitz ergriffen hat: Die politisch-kulturelle „Kluft“ zwischen Ost- und Westdeutschen ist – trotz einiger Differenzen – nicht allzu tief. Starke Gegensätze liegen etwa zwischen den postmaterialistisch geprägten Bundesländern Hamburg, Rheinland-Pfalz und Hessen einerseits und dem vordringlich materialistischen Baden-Württemberg, Sachsen und Berlin (West) andererseits.41 Dass es den „Einheitstyp des Bundesbürgers Ost“ ebenso wenig gibt wie den „Einheitstyp des Bundesbürgers West“, haben Till Heinsohn und Markus Freitag – wenig verwunderlich – durch eine Analyse des interpersonalen Vertrauens bestätigen können.42 V. Wandel der politischen Kultur am Beispiel des Patriotismus In der Bundesrepublik Deutschland galt Patriotismus nach dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus lange als verpönt. Die Monstrosität der Verbrechen erschütterte, die Last der leidvollen Geschichte prägte das Land, rief, nicht verwunderlich, ein Trauma hervor. Eine Negativfixierung auf den Nationalsozialismus dominierte lange. Eine Formulierung wie die vom „Tätervolk“ hatte etwas von Sühnestolz. Die nervöse Frage, was und wie „das Ausland“ von Deutschland denkt, bewegte die nicht vor Selbstbewusstsein strotzenden Gemüter. Wegen der „deutschen Katastrophe“ war das hiesige Nationalbewusstsein so gering wie in keinem anderen Land. Die kommunistische DDR machte es sich einfach – als Sieger stahl sie sich aus der moralischen und materiellen Verantwortung. Viele Intellektuelle verstanden die Bundesrepublik, zumal in den achtziger Jahren, als „postnationale Demokratie“. Die deutsche Frage galt nicht mehr als offen. Die Geschichte schien ihr Schlusswort gesprochen zu haben. „Verfassungspatriotismus“ war die Zauberformel, auf die sich Repräsentanten unterschiedlicher Couleur einigen konnten, wobei unklar blieb, ob diese Art 41  Siehe Tom Mannewitz, It’s the region, stupid. Deutschlands politische Kultur nach der staatlichen Einheit, in: MUT 47 (2012), Heft 10, S. 60–69. 42  Vgl. Till Heinsohn / Markus Freitag, Auch Heterogenität zwischen den Ländern lässt sich zutage fördern. Die neuen Bundesländer aus vergleichender subnationaler Perspektive, in: Astrid Lorenz (Hrsg.), Ostdeutschland und die Sozialwissenschaften. Bilanz und Perspektiven 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, Opladen u. a. 2011, S. 401–418.

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Patriotismus die deutsche Einheit im Besonderen prinzipiell ausschloss.43 Im kollektiven Gedächtnis der Nation haftete stets die negative Erinnerung an das „tausendjährige Reich“. Die Öffentlichkeit scheute lange davor zurück, das Wort Patriotismus in den Mund zu nehmen. Die Gefahr, Patriotismus könne auf „Nationalismus“ hinauslaufen, galt als übermächtig. Dies illustrierte eine beträchtliche Befangenheit in der politischen Kultur des Landes. Mittlerweile ist ein gewisser Wandel eingekehrt. Linke, liberale und – weniger – konservative Intellektuelle haben das Thema aufgegriffen, weder im Sinne einer Warnung vor Nationalismus noch im Sinne überschießender patriotischer Begeisterung. Vielmehr spiegelt sich in diesen Abhandlungen eher eine unbeschwerte Form des Patriotismus wider. Matthias Matussek vom „Spiegel“ prangert in seinem Band „Wir Deutschen“ Verkrampfungen beim Thema Patriotismus an44, Reinhard Mohr vom „Stern“ bekennt sich in einem Großessay zu einem „Deutschlandgefühl“45, Eckhard Fuhr von der „Welt“, nimmt die „Berliner Republik als Vaterland“ wahr.46 Der Schriftsteller Richard Wagner, als Spätaussiedler 1987 von Rumänien in die Bundesrepublik gelangt, spricht vom „Schicksal eines guten Landes“, dem er mehr Selbstbewusstsein wünscht.47 Florian Langenscheidt benennt im Untertitel eines von ihm herausgegebenen Buches „250 Gründe, unser Land zu lieben“48 – ganz ohne Ironie. Die Ursachen für diese nachhaltigen Veränderungen sind höchst vielfältig: die größere zeitliche und innere Distanz zum Dritten Reich nach zwei Generationen; die überraschende deutsche Einheit; die rot-grüne Regierungszeit; die Herausforderung durch neue Probleme und neue Chancen, die etwa mit der Einwanderung verbunden sind. Proteste gegen ein patriotisches Bewusstsein, das in keinem Gegensatz zum Verfassungspatriotismus steht, dürften in der vielbeschworenen „Mitte der Gesellschaft“ nicht mehr ankommen:49 43  Diese Position trifft für Jürgen Habermas zu, nicht jedoch für Dolf Sternberger. Vgl. für Einzelheiten Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, Wiesbaden 2005. 44  Vgl. Matthias Matussek, Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können, Frankfurt a. M. 2006. 45  Vgl. Reinhard Mohr, Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde, Reinbek bei Hamburg 2005. 46  Vgl. Eckhard Fuhr, Wo wir uns finden. Die Berliner Republik als Vaterland, Berlin 2005. 47  Vgl. Richard Wagner, Der deutsche Horizont. Vom Schicksal eines guten Landes, Berlin 2006. 48  Vgl. Florian Langenscheidt (Hrsg.), Das Beste an Deutschland. 250 Gründe, unser Land heute zu lieben, Köln 2006. 49  Vgl. Matthias Rößler (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Deutscher Patriotismus in Europa, Freiburg i. Br. 2006.



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Erstens: Über sechzig Jahre nach dem Ende des von Hitler angezettelten Krieges ist die Auffassung verbreitet: Deutschland hat seine Lektion gelernt. Die junge Generation, die dank ihrer Weltoffenheit fremde Länder kennt, wird zunehmend gewahr, die Liebe zur Heimat schließe nicht kosmopolitisches Denken aus, sondern ein. Verkrampfte Positionen lassen nach, denn viele wissen: Ein negativer Nationalismus ist auch eine Form des Nationalismus. Wer den alliierten Bombenkrieg und die Vertreibung Deutscher nach 1945 zur Sprache bringt, sieht sich weniger als früher mit dem Vorwurf der „Aufrechnung“ konfrontiert. Das weitgehende Verschwinden hergebrachter nationaler Positionen begünstigte eine derartige größere Unbefangenheit. Globalisierung – dieser Umstand mutet paradox an – fördert so Patriotismus. Zweitens: Die deutsche Einheit, der eine friedliche Revolution in der DDR vorausging, führte zu einem mannigfachen Umdenken. Freiheit machte Einheit möglich. Diese rief keinen nationalistischen Furor hervor, auch keine patriotischen Aufwallungen. Sie galt gleichsam als selbstverständlich – im Osten mehr als im Westen. Doch nahm durch den Beitritt der DDR, die in mannigfacher Hinsicht der „deutschere“ deutsche Staat gewesen war und deren Bürger in überwältigender Mehrheit die Einheit gewünscht hatten, auch im Westen das Gefühl von der Zusammengehörigkeit aller Deutschen zu. Zum ersten Mal verlief in Deutschland eine – freiheitliche – Revolution friedlich. Das stärkte nationales Selbstbewusstsein. Die auf den Westen fixierten DDR-Bürger sehnten sich schon deshalb nach der deutschen Einheit, weil sie das weitaus schwerere Los gezogen hatten – politisch und wirtschaftlich. Nach der deutschen Einheit wurde vielen bewusst: Verfassungspatriotismus – die Verteidigung freiheitlicher Werte – ist zwar notwendig, aber für das Gedeihen des Gemeinwesens wohl nicht hinreichend. Drittens: Ein weiterer wichtiger Grund für die Zunahme patriotischer Vorstellungen lag im ungefilterten Regierungswechsel des Jahres 1998. „68er“ wie Joschka Fischer gelangten an die Spitze des Staates, den sie einst abgelehnt, ja bekämpft hatten. Sie söhnten sich mit ihm aus, übernahmen Verantwortung, akzeptierten militärisches Engagement in der Welt und veränderten vielfältig die Gesellschaft. Das förderte die Identifizierung mit dem Gemeinwesen, das zum ersten Mal in der deutschen Geschichte keine Gebietsansprüche an andere Länder hat – eine gute Voraussetzung für weltoffenen Patriotismus in Deutschland. Gerhard Schröder trat betont selbstbewusst auf – sein Wort vom „deutschen Weg“ war für die einen als linker Wilhelminismus ein Stein des Anstoßes, für die anderen ein Stein der Weisen. Die Auffassung gewann an Boden, es sei nicht gut, gegen Nationalismus zu wettern – und zugleich Patriotismus unter Verdacht zu stellen. Wer aufkeimendem Rechtsextremismus den Wind aus den Segeln nehmen will, sollte Patriotismus nicht tabuisieren.

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Viertens: Die massive Konfrontation Deutschlands mit Problemen begünstigte eine gewisse Orientierung an patriotischen Maximen. Die allmählich gereifte Erkenntnis, das Land sei ein Einwanderungsland, blieb nicht ohne Wirkung. Wie können sich Einwanderer mit dem Land identifizieren, wenn es seinen Bürgern schwerfällt? Für Menschen mit „Migrationshintergrund“ ist „Auschwitz“ im Erinnerungshorizont nicht verhaftet. Das Einwandererland Deutschland besitzt im Patriotismus eine Bindekraft, „Parallelgesellschaften“ verschwinden eher. Die naive Auffassung, „Multi-Kulti“ schleife Probleme zwischen unterschiedlichen Kulturen mehr oder weniger automatisch ab, musste ad acta gelegt werden. Freilich: Die Annahme, Patriotismus werde schwerwiegende ökonomische Probleme und politische Krisen mindern, dürfte ein frommer Wunsch sein. Patriotismus ist aber ein Ankerpunkt, der den Menschen in einer unübersichtlicher gewordenen Welt Halt geben kann. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland war ein schönes Beispiel für den verbreiteten Wandel. Die Begeisterung, die nicht nur Fußballfans erfasste, signalisierte eine über Fußball hinausweisende Tiefenströmung. Ein solches Großereignis förderte den Zusammenhalt wie die Zusammengehörigkeit der in einem Lande lebenden Bewohner. Ein friedlich wogendes Fahnenmeer überflutete Straßen, Stadien und Fanmeilen. Das „Wir-Gefühl“ löste Optimismus aus. Was kaum jemand erwartet hatte: Menschen verschiedenartiger Hautfarbe bekannten ihre unverhohlene Sympathie für die deutsche Fußballelf. Weil sie im Lande leben, ob als Ausländer oder als Einwanderer, identifizierten sie sich mit dem Team. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 war dies nicht anders. Arabischstämmige Deutsche hatten in Berlin eine überdimensional große schwarz-rot-goldene Flagge gehisst, die von Autonomen mehrfach heruntergerissen wurde. Dieser bizarre „Flaggenstreit von Neukölln“50 wirft ein bezeichnendes Licht auf deutsche Antideutsche. VI. Die politische Kultur der Bundesrepublik – „Modell“ oder „zur Nachahmung nicht geeignet“? Die politische Kultur der Bundesrepublik unterlag nach dem Zweiten Weltkrieg einem Wandel: Die „stille Revolution“ von einer auf Sicherheit, Ordnung und Wohlstand fixierten Gesellschaft zu einer stärker von Mitbestimmung, Gerechtigkeit und Entfaltung durchdrungenen Gesellschaft veränderte das Anforderungsprofil an die deutsche Demokratie: Neben ihren 50  Vgl. Jens Anker, In Neukölln ist ein Fahnenstreit entbrannt, in: Berliner Morgenpost v. 25. Juni 2010; ders., Neuköllner Deutschland-Flagge wird Politikum, in: Berliner Morgenpost v. 29. Juni 2010,



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wirtschaftlichen und politischen Leistungen zählten zunehmend politische Teilhabechancen der Bürger. Das politische System steht seither in einem Zielkonflikt zwischen Legitimität und Effektivität, der sich nur in begrenztem Maß auflösen lässt. Der Zwang zu schnellen Entscheidungen im Rahmen der europäischen Banken- und Wirtschaftskrise bei gleichzeitiger Forderung vieler Bürger nach Beteiligung des Bundestages verdeutlicht dies. Das Aufkommen der Partei Die Grünen wie die regelmäßigen Rufe nach direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene sind weitere, bleibende Folgen des Wertewandels. Außerdem verstärkte sich durch den politischkulturellen Wandel in den 1960er Jahren die politische Lagermentalität, das Ausmaß politischer Konflikte wird seither dramatisiert, die Äquidistanz zum politischen Extremismus weithin aufgegeben. Die in den 1980er Jahren gesunkene Demokratiezufriedenheit und das abgesackte Institutionenvertrauen können als Indikatoren für einen zweiten Wandel indes nicht herhalten: Sie sind Folgen eines perzipierten Leistungsdefizits der Demokratie wie des gewandelten Maßstabs eines nunmehr „kritischen Bürgers“, mithin Spätfolgen des Wertewandels und einer Veränderung aufseiten der politischen Struktur. Einen politischen Bruch stellte hingegen die deutsche Wiedervereinigung 1990 dar, wenngleich die politisch-kulturellen Folgen in den westlichen Bundesländern minimal waren. Die politische Kultur in Ostdeutschland gleicht sich seit 1990 dem Westen mehr und mehr an: Die nationale Identifikation wie die Demokratielegitimität nehmen zu, die Bürger sind mehrheitlich antirechtsextremistisch, nicht antiextremistisch, postmaterialistische Wertorientierungen sind gestiegen. Allerdings liegen die Beteiligungsquoten bei Wahlen niedriger, das Institutionenvertrauen ist schwächer, das Demokratieverständnis richtet sich stärker auf den Staat aus. Daneben gibt es in der deutschen politischen Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg einige – für die Demokratie ungünstige – Konstanten: Seit Gründung der Bundesrepublik taugt die Abgrenzung zum Rechtsextremismus als identitätsstiftendes Band der Gesellschaft, die nationale Identifikation wiederum nicht oder allmählich nur in begrenztem Maß. Überdies ist die Demokratiezufriedenheit seit Jahrzehnten an die ökonomische Performanz gekoppelt: Wie das Volk die Leistungen der Politik bewertet, hängt in erster Linie von der Situation auf dem Arbeitsmarkt und den Preisen im Supermarkt ab. Allerdings ist damit keine Rückkehr zur politischen Kultur der 1950er Jahre verbunden. „Modell Deutschland“ – so lautetet der griffige Slogan der SPD bei der Bundestagswahl 1976. Und die CDU konterte 1987 mit dem Slogan: „Weiter so. Deutschland“. 1976 stellte die SPD mit Helmut Schmidt den Kanzler, 1987 die CDU mit Helmut Kohl. In den achtziger Jahren war die Vorstel-

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lung auch im Ausland verbreitet, Deutschland könne wegen seines „mittleren Weges“ zwischen dem skandinavischen Wohlfahrtsstaat und dem angloamerikanischen Kapitalismus ein „Modell“ sein. In der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts kam dagegen vermehrt Skepsis auf,51 die mittlerweile dank des Sachverhalts, dass Deutschland gut die Krise um den Euro gemeistert hat, nachhaltig geschwunden ist. Es wird von einem neuen „Modell Deutschland“ gesprochen.52 Wer die Frage zu beantworten sucht, ob Deutschland ein Modell für andere Staaten sein kann, darf nicht pauschal antworten, sondern muss Bereich für Bereich prüfen. Offenkundig fällt das Urteil jeweils anders aus.53 Die politische Kultur Deutschlands ist nach der Wiedervereinigung weithin stabil geblieben. Sie weist, wie erwähnt, neben Schwächen Stärken auf. Gleichwohl muss die Frage, ob sie eine Art Vorbild für politische Kulturen anderer Länder sein kann, negativ beantwortet werden. Zum einen hat Deutschland im 20. Jahrhundert mehrere Systemwechsel mit gravierenden Auswirkungen auf die politische Kultur erfahren. Sie wandelte sich schnell nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und im Zuge des Wohlstandswachstums in den 1950er und 1960er Jahren. Manche deutsche Spezifika (wie etwa die ausgeprägte „Political Correctness“) erklären sich dadurch. Das einst geteilte Land ist besonders „europafreundlich“. Nun wäre es verkehrt, dass andere Staaten mit anderen Erfahrungen sich an Deutschland orientieren sollten, impliziert eine zum Guten gewandelte politische Kultur doch nicht, dass die sie auslösenden Umstände ebenfalls in jeder Facette segensreich sind. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg etwa prägte die deutsche politische Kultur nachhaltig. Zum anderen ist die politische Kultur durch einige nationale „Befindlichkeiten“ bestimmt, die durch historische Konstellationen geprägt sind. Insofern verbietet es sich, die p ­ olitische Kultur eines Landes auf ein anderes zu übertragen. Wie soll das gehen?

51  Vgl. etwa Stefan Aust  / Claus Richter / Gabor Steingart, Der Fall Deutschland. Abstieg eines Superstars, München 2005; Jürgen Beyer (Hrsg.), Von Zukunfts- zum Auslaufmodell? Die deutsche Wirtschaftsordnung im Wandel, Wiesbaden 2003. Siehe zur Einordnung Andreas Rödder, Das „Modell Deutschland“ zwischen Erfolgsgeschichte und Verfallsdiagnose, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 345–363. 52  Vgl. Dominik Haubner  / Erika Mezger / Hermann Schwengel (Hrsg.), Reform­ politik für das Modell Deutschland, Marburg 2009. 53  Vgl. dazu Thomas Hertfelder  / Andreas Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland, Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007.

Deutsche Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im 21. Jahrhundert Von Werner Wnendt Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) ist eine tragende Säule der deutschen Außenpolitik. Ihre Bedeutung hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle, hat im September 2011 seine Konzeption „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in Zeiten der Globalisierung – Partner gewinnen, Werte vermitteln, Interessen vertreten“ vorgestellt. Mit dieser Konzeption passen wir die AKBP an die veränderten Rahmenbedingungen im internationalen Kontext – der Entstehung neuer Kraftzentren, dem Aufstieg neuer regionaler Gestaltungsmächte – an. Dies hat z. B. Auswirkungen auf die regionale Schwerpunktsetzung der Mittlerorganisationen wie dem Goethe-Institut oder dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) sowie die Höhe der finanziellen Mittel, die wir für Schulen und Stipendien zur Verfügung stellen. Bei dieser Neuausrichtung wollen wir Bewährtes erhalten, uns jedoch gleichzeitig den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft stellen. Wir wollen – das zeigt schon der Titel der Konzeption – unter dem Rückgriff auf die Instrumente der AKBP an der Gestaltung der Globalisierung, an der Lösung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mitwirken. Gleichzeitig versuchen wir in diesem Zusammenhang, unsere Werte und Interessen zu vertreten und einzubringen. Es geht uns insbesondere auch darum, mit der AKBP als Element der „soft diplomacy“ die Kernziele der deutschen Außenpolitik noch besser unterstützen zu können. Diese Ziele hat Bundesminister Westerwelle in seiner Neukonzeption klar umrissen: I. Europa stärken, II. Frieden sichern und III. alte Freundschaften pflegen und neue Partnerschaften gründen. I. Die AKBP zielt auch darauf ab, Europa zu stärken Die europäische Integration ist ein Gewinn für alle Menschen auf dem Kontinent. 60 Jahre nach Beginn des europäischen Einigungsprozesses steht die EU mit der Schuldenkrise vor der größten Bewährungsprobe ihrer bis-

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herigen Geschichte. Die Bewältigung dieser Krise bindet derzeit viele Ressourcen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass Europa auch diese Krise meistern wird und wir mit den Instrumenten der AKBP den europäischen Zusammenhalt fördern können. Innerhalb Europas muss die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Ländern ein Schwerpunkt bleiben, der auch in der AKBP stärker zum Tragen kommen soll als bisher. Auch die Türkei ist ein wichtiger Partner in Europa, mit dem wir den engen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch weiter intensivieren werden. II. Die AKBP trägt dazu bei, den Frieden zu sichern Deutsche Außenpolitik ist zuerst und vor allem Friedenspolitik. Den Frieden angesichts globaler Veränderungen und Bedrohungen zu erhalten, ist eine der großen Herausforderungen, die vor uns liegen. Auf globale Herausforderungen kann die internationale Gemeinschaft nur gemeinsam Antworten finden. Ein wichtiger Schlüssel dafür, gemeinsame Lösungsansätze zu finden, liegt in internationalen Bildungs- und Forschungskooperationen. Friedenspolitik im klassischen Sinne umfasst auch Demokratieförderung und einen interkulturellen Dialog. In Nordafrika und der arabischen Welt werden wir Zeugen dramatischer politischer Umbrüche. Sie stellen eine historische Chance für Demokratie und Frieden in der Region dar. Wir wollen die Menschen, die nach Freiheit und Teilhabe streben, unterstützen und ihnen helfen, stabile demokratische Strukturen aufzubauen. Dem Auswärtigen Amt stehen in den Haushaltsjahren 2012 und 2013 jeweils fünfzig Millionen Euro an zusätzlichen Mitteln für die Begleitung der ausgelösten Transformationsprozesse in Nordafrika und Nahost zur Verfügung. Davon werden je zwanzig Millionen Euro für die AKBP bereit gestellt. III. Die AKBP soll es ermöglichen, alte Freundschaften zu pflegen und gleichzeitig neue Partnerschaften einzugehen Europa ist unser Fundament und die transatlantische Partnerschaft unser fester Sicherheitsanker. Diese Bindungen einer engen Wertegemeinschaft zu pflegen, zu bewahren und zu vertiefen ist nicht nur bewährte Tradition, sondern Verpflichtung deutscher Außenpolitik aus ureigenem Interesse. Doch die Welt rückt näher zusammen und nicht nur die ökonomischen Kräfteverhältnisse verschieben sich zunehmend. Der Westen führt längst nicht mehr allein den Taktstock der internationalen Politik. In China, Indien,



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Brasilien ist der Wille, die Zukunft für sich zu gewinnen, fast mit Händen zu greifen. Aber auch z. B. in Vietnam oder in Mexiko und in vielen anderen Staaten ist eine Dynamik spürbar, aus der nicht nur Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten erwächst, sondern auch der Wunsch und Anspruch auf Teilhabe und Mitsprache auf der internationalen Bühne. Das sind die politischen und geopolitischen Rahmenbedingungen, in denen wir die Schwerpunkte unserer AKBP umzusetzen versuchen. IV. Schwerpunkte der AKBP Ein Kernziel der AKBP ist die weltweite Förderung der deutschen Sprache. Sie dient auch der Stärkung des Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorts Deutschland. Derzeit lernen weltweit ca. 14,5 Mio. Menschen Deutsch als Fremdsprache. Jährlich nehmen mehr als 200.000 Personen an Sprachkursen des Goethe-Instituts im Ausland teil. Die bereits 2010 durch Bundesminister Guido Westerwelle ins Leben gerufene Kampagne „Deutsch – Sprache der Ideen“ wird weiter intensiv fortgesetzt, um jungen Menschen im Ausland die Tür zur deutschen Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur zu öffnen. Bildungskooperationen sind ein weiterer Grundpfeiler der AKBP. Das deutsche Auslandsschulwesen nimmt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle ein. Die Begegnung mit Gesellschaft und Kultur des Gastlandes, die Sicherung und der Ausbau der Schulversorgung deutscher Kinder im Ausland sowie die Förderung des Deutschunterrichts im ausländischen Schulwesen stehen dabei im Vordergrund. An 140 Deutschen Auslandsschulen lernen knapp 80.000 Schülerinnen und Schüler, in vielen Fällen bis zum Abitur. Neben Deutschen Auslandsschulen bestehen weitere Kooperationsformen, die insbesondere die Vermittlung der deutschen Sprache und von Kenntnissen über Deutschland in den Mittelpunkt stellen. Die Initiative „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH) umfasst ein Netzwerk von derzeit insgesamt 1.530 Schulen in 124 Ländern mit rund 500.000 Schülerinnen und Schülern. Durch diese Initiative konnte der Deutschunterricht an zahlreichen Schulen in den Partnerländern etabliert oder deutlich verstärkt werden. Darüber hinaus ist die Förderung von Wissenschaft und Forschung ein zentrales Element der AKBP. Die „Initiative Außenwissenschaftspolitik“, die die internationale Vernetzung der deutschen Wissenschaft fördert, wurde 2010 mit Mitteln in Höhe von ca. 43 Mio. Euro im Grundsatz verstetigt. Durch den Pakt für Forschung und Innovation wird die Entwicklung neuer Strategien der internationalen Zusammenarbeit vorangetrieben. Im Wettbewerb um die besten Köpfe weltweit ist der weitere Ausbau von Koopera­

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Werner Wnendt

tionen in den Bereichen Wissenschaft und Forschung von zentraler Bedeutung. Dabei spielen die jährlich über 40.000 über den Deutschen Akademischen Austauschdienst und die Alexander von Humboldt-Stiftung geförderten Studentinnen und Studenten und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland eine sehr bedeutende Rolle. V. Die notwendigen Anpassungen der AKBP an die Bedingungen des 21. Jahrhunderts sind auf einem guten Weg Die hier vorgestellten Weichenstellungen zeigen, dass wir zielorientiert die politischen Vorgaben und Schwerpunktaufgaben umsetzen. Dies tun wir in enger Kooperation und Absprache mit unseren deutschen Partnern. Mit Unterstützung durch den Deutschen Bundestag ist es 2012 auch gelungen, die Mittel für die AKBP auf ein historisches Niveau von 785 Mio. Euro zu erhöhen. All dies unterstreicht unser Bemühen, mit inhaltlichen sowie strukturellen Anpassungen und der Aufstockung finanzieller Mittel die AKBP als Pfeiler unserer Außenpolitik zu stärken. Diesen Weg wollen wir konsequent fortsetzen.

Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende: Eine Zwischenbilanz Von András Masát Der Titel („Modell Deutschland“? Von der geteilten Nation zur Europäischen Union), unter welchem die Herbert Giersch Stiftung und die Gesellschaft für Deutschlandforschung eine interdisziplinäre Konferenz organisiert haben, signalisiert ein sehr aktuelles Thema innerhalb aber auch außerhalb der deutschen Grenzen. Es ist nicht nur für Deutschland wichtig, den bisherigen Weg einzuschätzen: Die Rolle, die Funktion und der Stellenwert Deutschlands in der Europäischen Union sind tatsächlich auch davon bestimmt, in welchem Maße, in welchen Bereichen Deutschland ein glaubhaftes, überzeugendes Modell vermitteln bzw. Modelle in den einzelnen Segmenten der gesamteuropäischen Entwicklung anbieten kann. Darum sind die im Titel der Tagung formulierte Fragestellung sowie ihre Beantwortung von Zeit zu Zeit unumgehbar und notwendig. Im Folgenden wird versucht, über einen bestimmten Bereich, und zwar über die Sprache mit einem Blick „von außen“ zu der geplanten Bestandsaufnahme beizutragen. Die Rolle und Funktion der Sprache in jedem Land gehören zu den engsten und existenziellen Fragen der nationalen Kultur und der nationalen Identität. Die Bedeutung dieser Aspekte nimmt in der fortschreitenden Globalisierung ständig zu: Parallel zu dem Entstehen und der Fortentwicklung eines europäischen Raumes und der multinationalen Regionen wächst auch die Wichtigkeit der Nationsmerkmale. Wie verhält es sich mit dem Deutschen? Soweit ich das beurteilen kann, wird die Sprachenfrage in einem vereinten Deutschland immer (oder vielmehr: immer wieder) aktuell. Wie im Inland, so auch im Ausland steht die Stellung des Deutschen von Zeit zu Zeit im Fokus, mit jeweils anderen Gewichtsverlagerungen: Im Inland sind Deutschkenntnisse einerseits un­ umgängliche Voraussetzung für die erfolgreiche Integration der Migranten und ausländischer Arbeitssuchenden, die sich in Deutschland niederlassen möchten; ebenso wichtig ist aber – andererseits – die bewusste Pflege der Wissenschaftssprache Deutsch in Deutschland selbst: auf Konferenzen, wissenschaftlichen Foren und – wenigstens – in den einheimischen Publikationen. Die internationale Stellung der deutschen Sprache verdient eine ähn­ liche Aufmerksamkeit und bewusste Vorgangsweise. In einem vereinten

172

András Masát

Europa, parallel zu der veränderten, verstärkten Position von Deutschland innerhalb der EU und überhaupt in der Gestaltung der europäischen Politik sind Fragen in unseren Tagen, wie weit Deutsch als Verkehrsprache oder als Amts- bzw. Behördensprache akzeptiert und benutzt werden kann, äußerst aktuell. Hierbei kann eine Sicht „von außen“ sicherlich zu einer ausgewogenen Bestandsaufnahme oder einer nüchternen und objektiven Beurteilung der Lage beitragen. Lassen Sie mich mit der folgenden Behauptung über die Gegenwart starten: Der Gebrauch der deutschen Sprache ist in Europa außerhalb des deutschen Sprachraums unangemessen niedrig. Auch für die Länder in Mittel und Osteuropa, die das Deutsche – noch in der nahen Vergangenheit – traditionell als Verkehrssprache benutzten, trifft diese Feststellung zu.

Die Grundfragen lauten: Wie kam es dazu und was kann und muss unternommen werden, um diese Situation zu verbessern? Demnach werde ich in dem ersten und kürzeren Teil (I.) meines Referats bemüht sein, einen kurzen historischen Überblick zu vermitteln, wobei ich naturgemäß vor allem die ungarischen Positionen schildern werde, um dann im zweiten Teil (II.) über die Möglichkeiten, Chancen für die deutsche Sprache sprechen zu können. Vorausschicken sollte ich vielleicht noch, dass ich als an sprachlichen Fragen interessierter Literaturwissenschaftler mich auf Angaben und Daten der einschlägigen Fachliteratur meiner Kollegen aus dem Bereich Linguistik stütze, um so zu möglichst kompetenten Schlussfolgerungen kommen zu können. I. Rückblick: Russisch und Fremdsprachenunterricht vor und nach der Wende Bis zur zweiten Hälfte der 80er Jahre war das Russische die erste Fremdsprache in den Ländern der Satellitenstaaten der SU und zwar in jedem Schul- und Unterrichtstyp. Russisch als Pflichtfach wurde in Ungarn stufenweise zuerst an den Universitäten, schon etwa ab 1986 und dann ab 1989 in allen Schulen und Schultypen abgeschafft. Danach konnte im Prinzip Fremdsprachenunterricht frei nach gewählten Sprachen gestaltet werden (im Prinzip, denn wo keine Sprachlehrer vorhanden waren, konnte kein Unterricht gegeben werden; es entstand eine landesweite Umschulung der Russisch-Lehrer, indem die Universitäten und Hochschulen verkürzte Englisch-Studien in der Erwachsenenbildung anboten). Schon im Schuljahr 1990 / 91 zeigen die Statistiken in Ungarn, dass neben der noch überwiegenden Zahl Russischlernender an zweiter Stelle die Zahl



Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende

173

der deutschlernenden Schüler wuchs (im Landesmaßstab waren es 165 923), und das Englische die dritte Pflicht-Fremdsprache war (107799). Bei der zweitgewählten Fremdsprache dominierten das Englische und das Deutsche (Englisch: 22 864, Deutsch: 20 094). Deutsch war 1990 bei allen Altersstufen die am meisten beherrschte Fremdsprache, davon zeugt die Tabelle 1 über die Sprachkenntnisse der Bevölkerung in Ungarn aus dem Jahre 1990. Diese günstige Ausgangslage nach der Wende wurde bald durch eine stetig steigende Zahl der Englischlernenden abgeschwächt, bzw. rückgängig gemacht. Ein ähnliches Bild findet man auch in den Gymnasien vor und diese Entwicklung lässt sich auch bald in den sog. Fachmittelschulen (Berufsschulen) feststellen. Der relativ kleine Vorsprung des Englischen nahm in der nächsten Zeit (d. h. in den letzten 20 Jahren) ständig und deutlich zu. Den Gebrauch der deutschen Sprache betreffend waren die MOE Länder bis zur Wende traditionell das größte Areal außerhalb des enger genommenen deutschen Sprachraumes. Diese traditionell herausragende Stellung des Deutschen in diesen Ländern hat sich nach der Wende deutlich abgeschwächt und zugunsten des Englischen zurückentwickelt. Wie kam es dazu? Meiner Ansicht nach entstand für eine kurze Zeit eine tabula rasa in der Zeit um die Wende an der Stelle des Russischen gerade in den MOE Ländern. Dieser relative und zeitbegrenzte Freiraum wurde dann naturgemäß schnell gefüllt, und dabei folgten die ungarischen wie die anderen Schulen aus den Nachbarländern dem allgemeinen Trend. Konkreter formuliert: Sie unterlagen dem europäischen Trend der Fremdsprachenorientierung, die von der Vorherrschaft des Englischen bestimmt waren und sind. Hätte man in dieser Zeit eine einigermaßen ausgewogene regionale Sprachsituation in Bezug auf die Nutzbarkeit und offizielle Stellung des Deutschen vorgefunden, wäre die Auswahl der jeweiligen Pflichtsprache anders ausgefallen. Die Traditionen, die historisch – kulturell-geographischen Beziehungen hätten dominiert. Man fand aber – wie wir alle wissen – ein Europa vor, in welchem das Englische als Amtssprache, aber auch als Sprache der Hightech und – nicht zuletzt – auch der Unterhaltung, der Pop-Musik usw. vorherrschte. Besonders in Ungarn war dieser Umschwung auffallend, wo die sehr starken und lebendigen deutsch-ungarischen historisch-kulturellen Beziehungen durch die spezielle Lage zu Österreich einen zusätzlichen Faktor zugunsten des Deutschen hätten spielen können. Hinzu kommt, dass Ungarn – da man sich mitten in einem indogermanischen „Sprachenmeer“ als einzige finnougrische „Sprach­insel“ befindet – als Vermittlungssprache in der Region

3 687 555

2 596 873

1 959 846

15–39

40–59

60–

941 340

19 954

Deutsch

416 182

453 217

142 781

132 977

166 505

Stand: Volkszählung von Januar 1990.

Nich als Muttersprache

Davon:

10 374 823

2 130 549

–14

Zusammen

Bevölkerung zusammen

Alter

13 793

Englisch

228 931

229 313

19 610

49 622

146 288

1 632

Französisch 52 957

53 204

15 771

12 443

23 358

16 373

16 537

3 419

3 939

8 687

492

Italienisch

Kroatisch 18 297

35 850

13 430

10 770

9 190

2 460

40 625

49 355

19 304

9 911

17 320

2 820

Rumänisch

Beherrschte Sprache

Tabelle 1 Sprachkenntnisse der Bevölkerung in Ungarn

7 137

157 419

13 553

40 022

91 500

1 234

Russisch

733

Serbisch 13 644

16 599

8 243

4 140

3 480

1 996

Slowakisch 56 107

68 852

33 496

21 278

12 082

317

Spanisch 7 137

8 192

773

1 922

5 180

Zigeunerisch 22 933

71 005

3 816

11 791

33 339

22 059

174 András Masát



Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende

175

traditionell die Nutzung der deutschen Sprache gewöhnt war und sich mit den Nachbarländern deutsch verständigte. Man fand aber – mit einer gewissen Übertreibung – ein englisch sprechendes offizielles Europa vor, das alle Anträge, die offiziellen Hinwendungen an die EU-Organe, seien es politischer, ökonomischer und hochschulpolitischer Art, auf Englisch verlangte. Die traditionell bevorzugte Stellung des Deutschen trifft- wenn vielleicht nicht so stark – auf alle MOE-Länder zu: auf Tschechien (siehe u. a. die Traditionen des Prager Deutschen, die deutschsprachige Literatur mit Kafka), auf Rumänien (mit dem dreisprachigen Siebenbürgen und der – trotz Auswanderung – noch starken Stellung der deutschen Sprache), auf die Slowakei und Slowenien (Nähe Österreichs), Kroatien (Deutsch traditionell als erste Fremdsprache). Aber: D(ie) damalige politische Lage in Europa spiegelte diese regionale, traditionell von der deutschen Sprache als lingua franca dominierte sprachliche Situation nicht mehr wider. Eine Entwicklung nahm hier ihren Anfang, in deren Verlauf das Deutsche als Verkehrssprache und so als erste zu erlernende Fremdsprache rasant an Bedeutung verloren hat. Auf der anderen Seite müssen hierbei jedoch auch die Bestrebungen der Bundesrepublik genannt werden, die darauf gerichtet waren, dieser negativen Entwicklung entgegenzuwirken. Nach der Wende wurden Konzepte für die systematische Förderung von Deutsch als Fremdsprache entworfen, siehe Programme der Goethe-Institute, Stipendien, Medienprogramme, Ausund Weiterbildung von Fachkräften, neue Unterrichtsmaterialen und anderes. 1992 wurde von der Bundesregierung und der Kultusministerkonferenz für die Förderung des Deutschen in dem mitteleuropäischen Raum ein Sonderprogramm gestartet, in dessen Rahmen 150 Lehrer von den deutschen Bundesländern in die MOE-Länder entsandt wurden- berichtet Zsófia Szivi in ihrer Diplomarbeit „Motivationsgründe für Deutsch“, (Budapest ELTE, 2008, S. 17.), indem sie sich auf die deutsche einschlägige Literatur1 bezieht. Die oben geschilderte traditionell dominierende Stellung des Deutschen kann nicht mehr zurückgewonnen werden. Aber wir müssen – gemeinsam – in einem Europa der erklärten kulturellen Vielfalt und mit einem essen­ tiellen interkulturellem Austausch fähig sein, neben dem Englischen die ­Position des Deutschen als zweiter Fremdsprache für unsere Region (MOE) zu stärken. 1  Horst Schirmer, Deutsche Kulturpolitik und Ziele der Sprachförderung, in: Joachim Born /  Gerhard Stickel (Hrsg.), Deutsch als Verkehrssprache in Europa, Berlin (= Jahrbuch des Institut für die deutsche Sprache 1992), S. 127–136. Axel Schneider, Die Sprachpolitik deutscher Bundesländer in Mittel- und Ost­ europa und in der GUS, in: Sprachenpolitik in Europa – Sprachenpolitik für Europa, hrsg. vom Institut für Auslandsbeziehungen (= Materialien zum Internationalen Kulturaustausch, Bd. 36) 1997, S. 109–113.

176

András Masát

„In MOE ergibt sich bezüglich des Lernwillens ein relativ großes Volumen für das Deutsche, allerdings mit rückläufiger Tendenz: Vor nicht allzu langer Zeit konnte man noch bescheinigen, dass weltweit in rund 100 Ländern 20 Millionen Menschen Deutsch lernen, davon 13,5 bis 14 Millionen in diesem Areal“ – schreibt der ungarische Germanist Csaba Földes.2 – „Was die gegenwärtige Situation des Deutschen auf intentionaler Bühne betrifft, ist laut Angaben des Netzwerks Deutsch3 davon auszugehen, dass heute weltweit gut 14 Millionen Deutsch als Fremdsprache lernen, von ihnen gut 7,5 Millionen in MOE“. Földes fügt noch hinzu: „Den vergleichsweise größten Anteil von Deutsch als meistgesprochene Fremdsprache kann man – noch – in Ungarn, in Tschechien und in der Slowakei (in dieser Reihenfolge unter den MOE-Ländern) konstatieren.“4 Die folgende Tabelle 2 aus dem Jahre 2006 widerspricht jedoch diesen Angaben: Tabelle 2: Kontaktsprachen Bulgarien Russisch Englisch Deutsch

Estland 35 % 23 % 12 %

Russisch Englisch Deutsch

70 % 39 % 23 %

Russisch Englisch Deutsch

29 % 24 %   6 %

Russisch Englisch Deutsch

28 % 24 % 20 %

Russisch Englisch Deutsch

Lettland Russisch Englisch Deutsch

80 % 32 % 15 %

Russisch Englisch Deutsch

32 % 29 % 25 %

Russisch Englisch Deutsch

49 % 34 % 14 % Polen

Slowakei

Tschechien Russisch Englisch Deutsch

Russisch Englisch Deutsch

Litauen

Rumänien Russisch Englisch Deutsch

Kroatien 66 % 46 %   9 %

29 % 26 % 19 % Slowenien 59 % 57 % 50 %

Ungarn 25 % 23 % 11 %

Anmerkung: Einmal abgesehen von Ihrer Muttersprache: Welche Sprachen können Sie gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten? Die drei meistgesprochenen Sprachen in Prozent. Quelle: Eurobarometer Spezial 243 (2006): Die Europäer und ihre Sprachen, S. 14. 2  Csaba Földes, Wissenschaftssprache Deutsch im Kontext der Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa, in: Claudia Polzin-Haumann / Dietmar Osthus (Hrsg.), Sprache und Sprachbewußtsein in Europa. Beiträge aus der Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik, Bielefeld (Frankreich-Forum; Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes; 19 / 2010), 2011, S. 42 ff. 3  Erhebungen 2010! – Anmerkung von A. M. 4  Ebd., S. 43.



Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende

177

II. Gegenwärtige Tendenzen für die Zukunft Ich glaube, hier können wir vorsichtig optimistisch einige Gedanken formulieren. Mit der zunehmenden Rolle von Deutschland in einem zukünftig starken und politisch-finanziell miteinander eng verbundenen Europa dürften auch eine klarere auswärtige Sprachpolitik und ein mutigerer Sprachgebrauch entwickelt werden. Die Bemühungen um die deutsche Sprache können und müssen früher oder später Früchte tragen, wenn die auswärtige Kulturpolitik Hand und Hand mit einer koordinierten Sprachpolitik (Richtung Sprachförderung) geht. Die Grundidee der kulturellen Vielfalt Europas weist in diese Richtung. Die kulturelle Mannigfaltigkeit setzt nicht nur den Sprachgebrauch und die Sprachpflege der einzelnen Nationen voraus: es geht auch um das Wachhalten des kulturellen Gedächtnisses, d. h. um die Erschließung der historischen soziokulturellen Beziehungen. Bei diesem ständigen Prozess kommt dem Deutschen als traditioneller Vermittlersprache in der Re­gion eine unumgehbare Rolle zu. Kulturhistorisch gesehen verfügt der Donauraum über eine ausgeprägt palimpsestische Struktur. Dabei hat(te) das Deutsche nicht nur als Kontaktsprache sondern als Träger der gemeinsamen, regionalen Identität und historischen Kontinuität die Funktion eines essentiellen Verbindungselementes inne. Die bisher angekündigten Projekte und die Partner der Donauraum-Forschung entlang der Donau weisen auf eine mögliche Renaissance, eine „Revitalisierung“ der deutschsprachigen Forschung und der deutschsprachigen wissenschaftlichen, kulturellen, politischen Projekte in diesem Areal hin. Wie oben betont, kann die frühere Position des Deutschen nicht mehr zurückgewonnen werden. Aber: Die Chancen für eine stärkere Stellung des Deutschen als Sprache in einer größeren Region (MOE, Do­ nauraum) sind vorhanden, und zwar neben der Sprache der Globalisierung (Englisch) und neben der jeweiligen Muttersprache eben als Sprache der Region. Zu dem Bildungswert im Erlernen der deutschen Sprache kommt nämlich spürbar – und historisch gesehen erneut – ein immer stärkerer Gebrauchswert hinzu. Besonders die Bürger in den dem deutschen Sprachraum geographisch nahe liegenden MOE-Ländern wollen und können mit DeutschKenntnissen eine verbesserte „employability“ erreichen, also existenziell davon unmittelbar profitieren. Man spricht – erneut? – von der Wichtigkeit des Wirtschaftsdeutschen im wirtschaftlichen Leben, in der unmittelbaren Produktion der deutschen Betriebe in der Region; ebenso von der der juristischen deutschen Fachsprache im regionalen Rechtsvergleich; von der der deutschen Sprache in den dip-

178

András Masát

lomatischen Verhandlungen; und der des Deutschen als Wissenschaftssprache (lingua academica oder vielmehr: lingua scientiae) im In- und Ausland, wo es einerseits um allgemeine Wissenschaftstraditionen geht, andererseits aber um die Erhaltung der traditionellen Sprache einzelner Wissenschaftsbereiche (wie z. B. Archäologie). In allen diesen Bereichen geht es letzten Endes doch darum, eine – regional – auch deutsch (und nicht nur englisch-) sprechende europäische Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten bzw. mitzugestalten. Sprache transportiert Wertvorstellungen, vermittelt tradierte Denkstrukturen, d. h. das kulturelle Gedächtnis und dessen Denkweisen, Denkinhalte und sprachliche Formen; sie ist bei weitem mehr als eine Grammatik und Liste von Worten. Darum ist es wichtig, gegenwärtige und zukünftig Schüler und Studenten auszubilden, die auch sprachlich auf die der deutschen Sprache innewohnenden Traditionen, Kultur(en) hinweisen, bzw. diese vermitteln können. Im Prozess des weltweiten kulturellen und wissenschaftlichen Transfers ist es demzufolge unerlässlich, das deutschsprachige Bildungssystem auch außerhalb des deutschen Sprachraumes zu stärken. Die Deutsche Schule in Budapest ist z. B. eine wichtige bikulturelle Begegnungsstätte des kulturellen Dialogs, indem neben dem deutschsprachigen Unterricht auch Ungarisch und ungarische Geschichte und Kultur unterrichtet werden und ähnlich ist es m.W. auch in Warschau und in Prag. Ein bisher alleinstehendes Hochschulprojekt in der Region stellt die Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Budapest (AUB) dar. Gegründet von der Republik Ungarn, der Republik ­Österreich, vom Freistaat Bayern, dem Bundesland Baden-Württemberg und der Bundesrepublik Deutschland ist sie ein internationales Hochschulmodell, das seit 10 Jahren auf Master- und Doktor-Ebene in Politik-, Wirtschafts-, Kultur-, Geschichts- und Rechtswissenschaften Ausbildung anbietet. Die Absolventen beherrschen nicht nur die deutsche Fachsprache, sondern durch einen vergleichenden, komparatistischen Aspekt werden sie „fit“5 für ein Europa der Mehrsprachigkeit und der kulturellen Vielfalt. So kann die Universität durch die Unterrichtssprache Deutsch neue, tragfähige und dauerhafte Verbindungen nicht nur zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten der EU sondern auch zu den zukünftigen potenziellen Mitgliedern der EU schaffen. Fassen wir kurz die Voraussetzungen für eine teilweise Rückeroberung ehemaliger Positionen der deutschen Sprache zusammen: – Behutsame, aber entschlossene, koordinierte und konsequente Schritte der auswärtigen Kultur- und Sprachpolitik (stärkere Präsenz und verstärkte Ressourcen für die Goethe-Institute und DAAD-Außenstellen); 5  Siehe den Werbeslogan der Universitätsbroschüre: „Wir machen Sie fit für ­Europa“.



Deutsch in Mitteleuropa vor und nach der Wende

179

– „Sprachloyalität“ – das ist ein komplexer Prozess, hierher gehört z. B. auch die Pflege der Wissenschaftssprache Deutsch im Inland; – Förderung des deutschsprachigen Bildungssystems in In- und Ausland (deutsche Universitäten sollten verstärkt Sprachkurse für ausländische Studenten anbieten, die Förderung der deutschen Schulen im Ausland, der DAAD-Außenstellen und der deutschsprachigen Universität soll weiterhin im Fokus bleiben); – Beibehaltung  /  Verstärkung der Stipendienprogramme für ausländische (Nachwuchs-)Wissenschaftler (Humboldt-Programm, DAAD-Programm). III. Ausblick In unseren Tagen vollzieht sich wieder ein deutlicher Paradigmenwechsel in der europäischen Politik und Wirtschaft. Die Veränderungen werden Folgen auch für die Positionen der deutschen Sprache als Verkehrssprache in Europa, und noch mehr vielleicht in der Region MOE / Donauraum haben. Die Veränderungen im wirtschaftlichen und politischen Bereich bestimmen die Möglichkeiten einer zukünftigen Sprachpolitik, aber wir dürfen keinesfalls passiv zusehen: wir müssen uns dabei proaktiv für die deutsche Sprache einsetzen, für die Sprache von Luther und Goethe, von Beethoven und Mozart, von Kant und Hegel, von Robert Koch und Max Planck, von Caspar David Friedrich und Albrecht Dürer (der übrigens im 16. Jahrhundert Lehrbücher über „Proportionen“ auf Deutsch schrieb, die erst später, nach seinem Tod ins Lateinische übersetzt wurden). Im Internet ist eine Plattform für alle, die die deutsche Sprache bewusst pflegen (= „Deutsche Sprachwelt“). Dieses Internet Forum6 hat ihre Leser aufgefordert, 1000 Gründe für die deutsche Sprache anzugeben. Mit der Liste Ich mag die deutsche Sprache … hat man im Februar 2010 begonnen und bis zum 15. März 2010 hat man schon 1019 Gründe genannt. Diese alle können hier nicht aufgeführt werden, aber lassen Sie mich mit einer Begründung schließen, die mir besonders gefiel: („Ich mag die deutsche Sprache“:) „weil jede Sprache, auch die deutsche, eine ganz einzigartige Denkweise und kulturelle Prägung repräsentiert, die es verdient, erhalten zu werden.“

6  http: /  / deutschesprachwelt.de / forum / 1000.shtml

(12.3.2012).

„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“ 1 Von Annette Julius und Roman Luckscheiter Zwei ganz unterschiedliche Meldungen waren im vergangenen Dezember der deutschen Presse zu entnehmen. Zum einen konstatierte das GoetheInstitut eine „Renaissance der deutschen Sprache“: Teilnehmerzahlen an den von Goethe-Instituten im Ausland angebotenen Sprachkursen seien um bis zu 60 % gestiegen, u. a. weil von der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa betroffene junge Fachkräfte sich zunehmend auch am deutschen Arbeitsmarkt orientieren. Das deutlich gestiegene Interesse an Deutsch sei dabei nicht auf Europa beschränkt.2 Das Statistische Bundesamt teilte dagegen fast zeitgleich mit, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Fremdsprache lernen, sei in den letzten fünf Jahren in vielen Ländern der EU signifikant gesunken – am extremsten in den Niederlanden, wo der Anteil der deutschlernenden Schüler lt. dieser Meldung von 86 % auf 44 % eingebrochen sei.3 „Deutsch wird immer unbeliebter“ titelte daraufhin die Süddeutsche Zeitung.4 Die Frage, welche Stellung die deutsche Sprache heute in der Welt einnimmt, kann selbstverständlich nicht ohne die Berücksichtigung quantitativer Daten – etwa zu den unterschiedlichen regionalen Entwicklungstendenzen von Sprecher- und Lernerzahlen – behandelt werden. Zahlen- und datengestützte Argumentationen stoßen andererseits z.  T. auf erhebliche Schwierigkeiten und Begrenzungen: 1  Für Unterstützung bei der Recherche und der Aufbereitung des Manuskripts danken wir Simone Burkhart, York Rogowsky und Christian Spinner. Für die Erstellung verschiedener Grafiken sind wir Kai Nagel zu Dank verpflichtet. 2  „Goethe-Institut gefragt wie noch nie“, Pressemitteilung des Goethe-Instituts vom 13. Dezember 2011, online: http: /  / www.goethe.de / prs / prm / a011 / de8575221. htm (16.5.2012). 3  „Anteil der Schüler, die Deutsch lernen, seit 2005 in vielen EU-Ländern gesunken“, Pressemitteilung Nr. 467 des Statistischen Bundesamtes vom 14. Dezember 2011, online: https: /  / www.destatis.de / DE / PresseService / Presse / Pressemitteilungen /  2011 / 12 / PD11_467_991.html;jsessionid=7D9E9F98D5456A908562F5B0D0BFEB EC.cae2 (16.5.2012). 4  Tanjev Schulz: „Deutsch wird immer unbeliebter“, in: Süddeutsche Zeitung, 14.  Dezember 2011, online: http: /  / www.sueddeutsche.de / bildung / sprachunterrichtan-europas-schulen-deutsch-wird-immer-unbeliebter-1.1235020 (16.5.2012).

182

Annette Julius und Roman Luckscheiter

– Die Datenlage zur Verbreitung von oder auch Nachfrage nach Deutsch ist alles andere als ideal und fußt z. T. auf Schätzungen, z. T. auf verschiedenen nationalen Statistiken, die wiederum auf jeweils unterschiedlichen Definitionen beruhen. – Zahlenmaterial über Deutschlerner weltweit liegt erst seit 1983 vor, während der Bezugspunkt vieler sprachenpolitischer Debatten zumindest implizit die sehr starke Stellung ist, die die deutsche Sprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte, als Deutsch beispielsweise in Frankreich und den USA unangefochten den Platz der am häufigsten gelernten Fremdsprache einnahm.5 – Z. T. ergeben sich in der öffentlichen Debatte widersprüchliche Eindrücke, wenn Entwicklungen bei bestimmten Untergruppen als pars pro toto genommen werden – es also mal um Schülerzahlen in Gesamteuropa und ein anderes Mal um erwachsene Lerner in ausgewählten Ländern geht, oder auch wenn wichtige kausale Zusammenhänge – vor allem der demographische Faktor – bei der Betrachtung ausgeklammert werden. – Um quantitative Entwicklungen adäquat einordnen zu können, müssen schließlich auch qualitative Faktoren mitbedacht werden, denn Schüler mit einer Pflichtstunde Deutsch pro Woche gehen in die vorliegenden Statistiken in gleicher Weise ein wie ungarische Studierende an der Andrássy-Universität in Budapest, die z. B. ein Jurastudium vollständig auf Deutsch absolvieren. I. Deutsch und andere Sprachen: Eine Bestandsaufnahme Betrachtet man die Zahl der Muttersprachler weltweit, so liegt Mandarin mit geschätzten 1,2 Milliarden Sprechern mit Abstand auf dem ersten Platz. Es steht hiermit um das rund 13fache stärker da als das Deutsche, das mit ca. 90 Mio. Muttersprachlern immerhin noch zu der Gruppe der zehn wichtigsten Muttersprachen der Welt gehört. Spanisch und Englisch sind als Muttersprachen mehr als dreimal so verbreitet wie das Deutsche. Französisch dagegen taucht unter den ersten zehn der häufigsten Muttersprachen nicht auf und liegt lediglich auf Platz 16 – knapp hinter Vietnamesisch und Telugu, das von 70 bis 74 Mio. Menschen in Südindien gesprochen wird.6 5  Vgl. Ulrich Ammon, „Die Verbreitung des Deutschen in der Welt“, in: HansJürgen Krumm / Christian Fandrych / Britta Hufeisen / Claudia Riemer (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch, 2010, S. 89–106, hier S. 91. 6  Vgl. M. Paul Lewis (ed.) (2009), Ethnologue: Languages of the World, Sixteenth edition, Dallas, Tex.: SIL International, http: /  / www.ethnologue.com / .Statistical Summaries: Summary by language size, Table 3 (16.5.2012).



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

183

1400 1200

1213

Millionen

1000

Anzahl Sprecher

800 600 400

329

200

328

221

182

181

178

144

122

90,3

h tsc eu D

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0

Abbildung 1: Die 10 wichtigsten Muttersprachen der Welt

In Europa ist Deutsch dagegen die meistgesprochene Muttersprache. Eine Eurobarometer-Umfrage, die 2005 in den 25 EU-Mitgliedstaaten sowie in Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Türkei durchgeführt wurde, weist rund 18 % der Befragten als deutsche Muttersprachler aus, während Englisch, Italienisch oder Französisch als Muttersprache mit 12 bis 13 % etwa gleichauf liegen. Aufgrund ihrer weiten Verbreitung als Fremdsprache ist Englisch die am häufigsten gesprochene Sprache (siehe Abbildung 2).7 Unter den häufigsten Amtssprachen der Welt nimmt Deutsch einen respektablen sechsten Platz ein, wobei die sieben Länder, in denen Deutsch Amtssprache ist – nämlich Deutschland, Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Luxemburg, Belgien und je nach Zählung auch Italien (Südtirol) – alle in Europa liegen. Englisch ist dagegen in bis zu 53 Ländern auf fünf Kontinenten – also auf allen außer Lateinamerika – Amtssprache. Französisch bringt es auf bis zu 29 Länder auf drei bis vier Kontinenten (wenn man den souveränen Inselstaat im Südpazifik Vanuatu mitzählt). Arabisch ist Amtssprache in 23 Ländern, die alle im Nahen und Mittlern Osten liegen, und bei Spa7  Die Europäer und ihre Sprachen. Eurobarometer Spezial 243. Befragung November – Dezember 2005. Veröffentlichung Februar 2006, Zusammenfassung, S. 4, vgl. http: /  / ec.europa.eu / public_opinion / archives / ebs / ebs_243_sum_de.pdf (16.5.2012).

184

Annette Julius und Roman Luckscheiter

nisch sind es 21 Länder, die, außer Spanien selbst, alle in Zentral- und Südamerika liegen: Tabelle 1 Verbreitetste Amtssprachen in der Welt8 Amtssprachen

Anzahl der Länder (nach Quellen) Banks 2007

Fischer Weltalmanach 2007

1. Englisch

53

50

2. Französisch

26

29

3. Arabisch

23

22

4. Spanisch

21

21

5. Portugiesisch

 8

 8

6. Deutsch

 6

 7

13%

Englisch

38%

18%

Deutsch Französisch

12%

Italienisch

13%

Spanisch

9%

Polnisch

9%

Russisch

6% 0%

14% 14% Muttersprache Fremdsprache

6%

10 %

20 %

30 %

40 %

50 %

50 %

Quelle: Europäische Union, 1995–2012.

Abbildung 2: Verbreitete Mutter- und Fremdsprachen in Europa (EU 27, Kroatien, Türkei)

8  Zitiert nach Ammon: „Die Verbreitung des Deutschen in der Welt“ (vgl. Anm. 5), S. 99.



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

185

absolute Sprecherzahl (in Mio.)

im Verhältnis zu Muttersprachlern Französisch Russisch Englisch Hindi Spanisch Mandarin Portugiesisch Deutsch Bengali Japanisch Koreanisch Arabisch 70 %

60 %

50 %

40 %

30 %

20 %

10 %

0%

0

100

200

Abbildung 3: Sprecherzahl im Verhältnis zu Muttersprachlern9

Während die Angaben zu Amtssprachen noch recht nahe beieinanderliegen und die Abweichungen auf unterschiedliche Definitionen von Amtssprachen zurückgehen dürften, existieren mit Blick auf die Zahl nicht-muttersprachlicher Sprecher ausschließlich Schätzungen, die teilweise um den Faktor 10 auseinander liegen: Bei Englisch ist von zwischen 165 Mio. und über einer Milliarde die Rede – vermutlich aufgrund der Unklarheit, ob Englisch als praktizierte Zweitsprache gezählt wird oder bloße Englischkenntnisse erfasst werden – für Deutsch werden häufig lediglich rund 7 Millionen nicht-muttersprachliche Sprecher genannt. Auch wenn absolute Zahlen also höchstens als Annäherungswerte vorliegen, zeigt Abbildung 3 dennoch sehr plausibel auf, dass es bedeutende Unterschiede beim Verhältnis von mutter- zu fremdsprachlichen Sprechern gibt, und dieses Verhältnis beispielsweise beim Chinesischen viel ungünstiger ist als etwa beim Französischen, Russischen oder eben Englischen. Und dass auch für das Deutsche gilt, dass es seine Bedeutung in der Welt vor allem der hohen Zahl seiner Muttersprachler verdankt.10 Umfangreiches Datenmaterial zum Sprachenlernen und zu Fremdsprachen in Europa liefern zwei Umfragen des Eurobarometers von 2001 und 2006. Erstere beruhte auf einer Befragung in den damaligen 15 Mitgliedsstaaten 9  Vgl. u. a. George Weber, The World’s 10 most influential Languages, in: Language Today, Vol. 2, Dec 1997. Zu Englisch als Zweitsprache siehe auch: The Ethnologue. Languages of the world: http: /  / www.ethnologue.com / show_language. asp?code=eng (16.5.2012) sowie die Rangliste der häufigsten Sprachen der Welt online unter: http: /  / linguversum.de / die-am-meisten-gesprochenen-sprachen-der-welt (16.5.2012) und unter: http: /  / www.weltsprachen.net (16.5.2012). 10  Vgl. Nations online: Most spoken Languages of the World, http: /  / www.nations online.org / oneworld / most_spoken_languages.htm (16.5.2012).

186

Annette Julius und Roman Luckscheiter

Quelle: Europäische Union, 1995–2012.

Abbildung 4: Einmal abgesehen von Ihrer Muttersprache: Welche Sprachen können Sie gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten?

der EU, die zweite wurde in den 25 damaligen EU-Mitgliedsstaaten sowie Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Türkei durchgeführt. Rechnet man die in der Umfrage von 2006 angegebenen Prozentzahlen auf die rund 580 Mio. Einwohner der einbezogenen Länder hoch, so ergeben sich zu diesem Zeitpunkt alleine in Europa rund 81 Millionen fremdsprachliche Deutschsprecher (statt den o. a. 7 Millionen Sprechern weltweit).11 Die gezeigte Grafik legt zudem nahe, dass das Deutsche von einem erweiterten Europa überdurchschnittlich profitiert – der Anteil derjenigen, die außer in ihrer Muttersprache auf Deutsch ein Gespräch führen können, lag 2001 in den 15 alten Mitgliedsstaaten bei lediglich 8 %, in den 29 2006 einbezogenen Ländern sprachen dagegen 14 % der Menschen Deutsch als Fremdsprache, somit liegt Deutsch mit dem Französischen gleichauf. II. Deutsch global: Entwicklungen der letzten dreißig Jahre Einen Überblick über Stand und Entwicklung von Deutsch weltweit geben die Erhebungen der sogenannten „Ständigen Arbeitsgruppe Deutsch als Fremdsprache“ (StaDaF, seit 2010 „Netzwerk Deutsch“), die seit 1983 unter der Koordination des Goethe-Instituts in regelmäßigen Abständen Deutsch11  Aus: Die Europäer und ihre Sprachen. Eurobarometer Spezial 243. Veröffentlichung Februar 2006. S.  13; http: /  / ec.europa.eu / public_opinion / archives / ebs / ebs_ 243_en.pdf (16.5.2012).



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

187

Abbildung 5: Deutschlerner weltweit

lerner (≠ -sprecher) über lokale Arbeitsgruppen in den jeweiligen Ländern erhebt. Diese Erhebungen beruhen z. T. auf amtlichen Statistiken, z. T. aber auch auf Schätzungen. Laut der letzten Erhebung des Netzwerk Deutsch von 2010 wird Deutsch insgesamt von rund 14,5 Mio. Bürgern weltweit als Fremdsprache gelernt – an Schulen, Hochschulen und in der Erwachsenenbildung. Die weit überwiegende Zahl der Deutschlerner konzentriert sich dabei auf zwei Weltre­ gionen – nämlich Europa und die Gemeinschaft unabhängiger Staaten, wo sich rund 83 % all derjenigen finden, die Deutsch als Fremdsprache lernen, davon wiederum zwei Drittel in Europa.12 Betrachtet man die Entwicklung der Deutschlernerzahlen weltweit über die letzten knapp 30 Jahre, so sind diese lt. den Erhebungen des StaDaF zwischen 1983 und 2000 deutlich gestiegen – von 16,6 Mio. auf 20,2 Mio. (also um ca. 20 %), um dann zwischen 2000 und 2010 bis auf 14,5 Mio. wiederum deutlich abzufallen; sie lagen also 2010 um rund 2 Millionen (bzw. 12 %) unter dem Niveau von 1983. Das ist ein wahrnehmbarer, aber kein drastischer Rückgang.13 12  Netzwerk Deutsch (Hrsg.), Statistische Erhebungen 2010. Die deutsche Sprache in der Welt: http: /  / www.daad.de / de / download / broschuere_netzwerk_deutsch /  DeutschlernerzahlenNetzwerk_Tabelle_2010.pdf (16.5.2012). Die in dieser Publikation angegebene Gesamtzahl von 14.042.789 Deutschlernern basierte noch auf lückenhaften Datenbeständen aus einigen Ländern, die inzwischen nachgetragen ­ wurden und daher den hier dargestellten Grafiken zugrunde liegen. 13  Quellen: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt, Bonn 1985 (Erhebung von 1983); Goethe-Institut (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache. Zahlen im Überblick, München 2000 (Erhebung von 1995); Ständige Ar-

188

Annette Julius und Roman Luckscheiter

Abbildung 6: Deutschlerner weltweit seit 1983

Wie auch die folgende Darstellung deutlich zeigt, liegt der Anteil der Deutschlerner in der EU und GUS an den weltweiten Deutschlernern im gesamten Betrachtungszeitraum weit über dem aller anderen Regionen – 1983 und 2010 brachten diese beiden Regionen es gemeinsam auf 84 bzw. 83 %, und zwischen 1995 und 2005 stieg ihr Anteil sogar auf bis zu 88 %. Der zwischenzeitliche Anstieg der Gesamtlernerzahlen von 16,7 auf über 20 Mio. Lerner im Jahr 2000 verdankt sich dabei ausschließlich den Lerner­ zahlen in Europa, und hier vor allem in Mittel- und Südosteuropa sowie der Türkei, die die stetig sinkende Zahl der Deutschlerner in der GUS bis 2000 mehr als ausgeglichen haben und trotz gewisser Rückgänge in den letzten zehn Jahren auch 2010 mit 7,8 Mio. immerhin noch 70 % über dem Niveau von 1983 lagen, als man von 4,6 Mio. Lernern in Europa ausging. Bei der Interpretation des Datenmaterials ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Lernerzahlen in den achtziger Jahren in Mittel- und Osteuropa weitestgehend auf Schätzungen beruhten. Es sind daher Zweifel nicht nur erlaubt, sondern wohl auch angebracht, ob das Auf und Ab in der Entwicklung wirklich so drastisch war wie in den Daten abgebildet – ob die Ler­ nerzahlen in der Sowjetunion mit 9 Mio. 1983 also möglicherweise zu hoch, beitsgruppe Deutsch als Fremdsprache, StADaF (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache. Erhebung 2000, Berlin  /  Bonn  /  Köln  /  München 2003; StaDaF (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache weltweit. Datenerhebung 2005, Berlin / Bonn / Köln / München 2006; Netzwerk Deutsch (Hrsg.), Statistische Erhebungen 2010. Die deutsche Sprache in der Welt, Berlin / Bonn / Köln / München 2010.



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

189

Abbildung 7: Entwicklung Deutschlernerzahlen nach Weltregionen 1983 bis 201014

und die in Mitteleuropa, wo man in Ungarn „nur“ 80.000 (und in den 90er Jahren dann 600.000) Lerner vermutete, zu niedrig angesetzt waren. Gelernt wird Deutsch, wie die folgende Abbildung 8 zeigt, hauptsächlich an Schulen – nur 12 % der Lernenden befanden sich 2010 an Hochschulen, in Sprachkursen des Goethe-Instituts o. ä. Einrichtungen der Erwachsenenbildung.15 Vor diesem Hintergrund ist es aber besonders erstaunlich, dass bei der Interpretation und Diskussion der Daten und Zahlen der Faktor Demographie bislang kaum beachtet wurde: Denn in den Ländern, in denen der Rückgang der Deutschlernerzahlen besonders drastisch ist, haben wir es, aufgrund der jeweiligen demographischen Entwicklungen, oft auch mit deutlich verminderten Schülerzahlen zu tun. So sind beispielsweise in Russland die Deutschlerner im Schulbereich (Primär- und Sekundärschule) von 4 Mio. Lernenden im Jahr 2000 auf 1,6 Mio. Lernende im Jahr 2010 zurückgegangen (= – 60 %), während gleichzeitig die Schülerzahlen insgesamt von 20,2 Mio. Schülern im Jahr 2000 auf 13,1 Mio. Schüler im Jahr 2010 sanken (=  – 35 %).16 Mehr als die Hälfte des Rückgangs ist so also der 14  Quellen:

Vgl. Fußnote 13. Vgl. Fußnote 12. 16  Wir bedanken uns bei Rolf C. Peter (Goethe-Institut) für die Idee, die Lernerzahlen vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung in einigen Ländern 15  Quelle:

190

Annette Julius und Roman Luckscheiter 11 %

1%

Schulen Hochschulen Außeruniversitäre Einrichtungen 88 %

Abbildung 8: Verteilung der Deutschlerner nach Einrichtungen

demographischen Entwicklung geschuldet. Berücksichtigt man nur die Schüler im Sekundarbereich (in dem sich die meisten Deutsch-Schüler befinden), lässt sich die Entwicklung gar mit einem Rückgang um 43 % (von 14,1 Mio. auf 8,05 Mio.) beziffern und der Entwicklung der DeutschSchülerzahlen weiter annähern. Stellt man schließlich dem Rückgang der Schülerzahlen den Rückgang der DaF-Lerner insgesamt von 4,7 Mio. im Jahr 2000 auf 2,3 Mio. (= – 51 %) im Jahr 2010 gegenüber, dann gleicht sich die Kurve der Deutschlerner der demographischen Kurve (– 43 %) weiter an. Der Abwärtstrend wird also durch solche Korrelationen nicht in Gänze erklärt, aber doch sehr deutlich relativiert. Den jeweiligen Anteil der Deutschschüler in der Sekundarstufe in den Jahren 2004 und 2010 hat für die europäischen Länder zuletzt Eurostat erhoben. Die folgende Karte macht sehr deutlich, dass Deutsch in Europa hauptsächlich in den nördlichen, westlichen und östlichen Nachbarländern Deutschlands gelernt wird – am intensivsten im Osten mit Anteilen von zwischen 50 und 80 %. In Südeuropa dagegen liegt der Anteil der deutschlernenden Schüler im einstelligen Prozentbereich – in Spanien bei einem, in Griechenland bei zwei bis drei, in Italien bei immerhin sieben Prozent:17 neu zu bewerten, sowie für seine zahlreichen Hinweise auf weiterführende Datenquellen. Siehe vor allem: Unesco Institute for Statistics: http: /  / stats.uis.unesco.org /  unesco / TableViewer / tableView.aspx (4.6.2012). 17  Quelle für die Abbildungen 10 und 11: Destatis (Statistisches Bundesamt), https: /  / www.destatis.de / DE / PresseService / Presse / Pressemitteilungen / 2011 / 12 / PD11 _467_991.html (22.7.2012) unter Rückgriff auf die Datenbank Eurostat: © Europäi­ sche Union, 1995–2012: http: /  / epp.eurostat.ec.europa.eu / tgm / table.do?tab=table&init =1&language=de&pcode=tps00059&plugin=1 (22.7.2012).



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

191

25

20

Millionern

–35 % 15 Schüler insgesamt

–43 % 10

Schüler im Sekundarbereich

5

–51 %

0 2000

DaF-Lerner insgesamt

–60 % 2010

Deutschlehrer im Schulbereich

Abbildung 9: Demographische Entwicklung vs. Deutschlernerzahlen in Russland

Abbildung 10: Deutschlernerzahlen an europäischen Schulen I

192

Annette Julius und Roman Luckscheiter

Die folgende Abbildung 11 zeigt, wie sich die Deutschlerner an allgemeinbildenden Schulen in der Sekundarstufe II zwischen den Jahren 2004 und 2010 verändert haben. Die südeuropäischen Lernerzahlen lagen in diesem Zeitraum auf einem konstant niedrigen Niveau. Für die Niederlande dagegen wiesen die Eurostat-Daten in der gleichen Zeit einen Einbruch des Anteils der Deutschlerner von vorher 85 auf 44 % aus – eine Entwicklung, die dann maßgeblich zu den eingangs zitierten Schlagzeilen vom Dezember letzten Jahres geführt hat. Eine genauere Ursachenerforschung ergibt jedoch, dass sich in den vergangenen Jahren die Rahmenbedingungen des Fremdsprachenunterrichts in den Niederlanden deutlich verändert worden sind: Bis 2007 erhielten nämlich alle Mittelstufenschüler in den Niederlanden obligatorisch eine Stunde pro Woche Deutschunterricht in der Teilkompetenz Leseverstehen. Wer außerdem andere Fertigkeiten – also Sprech- und Schreibfähigkeit sowie ­ Hörverstehen – trainieren wollte, konnte zusätzlich weitere zwei bis drei Stunden Deutschunterricht belegen. Hiervon machten rund 25 % der Schüler Gebrauch. Seit 2007 gibt es nun nur noch ein integriertes Angebot von Deutsch als Fremdsprache, das aktuell 56 % aller Schüler wahrnehmen. Je nach Lesart kann man also von einer Halbierung oder von einer Verdoppelung der Deutschlerner an niederländischen Sekundarschulen sprechen. Und in der Grundschule ist Deutsch übrigens nach wie vor Pflichtfach für alle Schüler. Qualitative Kenntnisse der Situation in bestimmten Ländern sind also, wie das Beispiel unterstreicht, zuweilen unerlässlich, um Statistiken und insbesondere auffällige statistische Ausschläge interpretieren zu können. Wenn demnach für die Niederlande eine Teilentwarnung gegeben werden kann, und außerdem Deutsch gleichauf mit Französisch den zweiten Platz der in Europa gelernten Fremdsprachen einnimmt, so hat die Globalisierung dennoch qualitativ höchst bedeutsame Veränderungen gebracht: Seinen Platz als erste Fremdsprache, den Deutsch in einer Reihe von Ländern bis vor einiger Zeit noch häufig innehatte, hat es heute flächendeckend an Englisch als der globalen Verständigungssprache abgegeben. Ob Deutsch also in Europa und der GUS weiterhin gelernt wird, hängt nunmehr zunächst davon ab, ob überhaupt eine zweite Fremdsprache in Lehrplänen vorgesehen ist oder zumindest angeboten wird. Hier stehen die Zeichen im Prinzip recht positiv: In 17 der 23 im Bericht „Die Vielfalt des Sprachenlernens in der Europäischen Union“18 an die Europäische Kommission von 2007 ausgewerteten EU-Ländern ist dieser Anteil in den letzten Jahren angestiegen, in nur fünf Ländern ist er gesunken. Abbildung 12 zeigt aber auch, dass etwa in Österreich, Großbri18  Bericht an die Europäische Kommission. Abschlussbericht September 2007: http: /  / ec.europa.eu / languages / documents / study_diversity_de.pdf (22.7.2012).

Abbildung 11: Deutschlernerzahlen an europäischen Schulen II (in %)

„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“ 193

Abbildung 12: Entwicklung des Schüleranteils, der in der Sek. I mehr als eine Fremdsprache erlernt

Quelle: Europäische Union, 1995–2012.

194 Annette Julius und Roman Luckscheiter



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

195

tannien und Tschechien unter 10  % der Schüler überhaupt eine zweite Fremdsprache lernen. Wenn denn dann eine zweite Fremdsprache gelernt wird, so meinen lt. der Eurobarometer-Umfrage von 2006 immerhin 28 Prozent aller Befragten in der EU 27, dass diese Deutsch sein sollte (siehe Tabelle 2). Wie Tabelle 2 ferner zeigt, wünscht die überwältigende Mehrheit der Eltern in allen beteiligten Ländern außer in Luxemburg (und natürlich GB und Irland), dass ihr Kind Englisch als 1. Fremdsprache lernt. Dass Französisch in dieser Umfrage noch vor Deutsch auf dem zweiten Platz der bei Eltern beliebtesten zweiten Fremdsprache landet, liegt nicht zuletzt daran, dass es im bevölkerungsreichen Deutschland so beliebt ist, während die Franzosen Spanisch dem Deutschen bei weitem vorziehen. Zudem bleibt es in Europa bei dem engen Zusammenhang zwischen geographischer Nachbarschaft und präferierter zweiter Fremdsprache. Beide hier zitierten Untersuchungen der EU unterstreichen aber auch, dass für die Entscheidung, welche Fremdsprache gelernt wird, utilitaristische Motive – also der wahrgenommene Wert einer Sprache für die weltweite Verständigung, für den Arbeitsmarkt sowie für den Zugang zu Bildung (und hier vor allem zu Hochschulbildung) – von wachsender Bedeutung sind. Traditionelle Motive – etwa die bildungsbürgerliche Reputation einer Sprache oder auch die Beziehung zu ehemaligen Hegemonialmächten – treten dagegen mehr und mehr in den Hintergrund. Unter Nützlichkeitserwägungen ist also nicht verwunderlich, dass Deutsch vielerorts in harter Konkurrenz nicht nur zum Französischen, sondern auch zum Spanischen, der Verkehrssprache Lateinamerikas, steht. Dass hochqualifizierte Kräfte in Spanien, Griechenland und Italien nun vermehrt Deutsch lernen und ihre berufliche Zukunft nach Deutschland ausrichten, passt andererseits in diesen Trend – und könnte in der Tat ein Vorbote sein, dass in diesen Ländern, wo die Deutschlernerzahlen bislang im niedrigen einstelligen Prozentbereich liegen, mit steigenden Zahlen auch in den Schulen zu rechnen ist. Im Hochschulbereich schlägt sich dieser Trend in einer Verschiebung der Deutschlerner weg von der klassischen Germanistik und hin zum „angewandten“ Sprachenlernen, also Deutsch in Kombination mit anderen Fächern – etwa Jura, Wirtschafts- oder Ingenieurwissenschaft – nieder. Und auch klassisch ausgebildete Germanisten finden zunehmend in angewandten Bereichen Lohn und Brot, etwa im Bankwesen oder in der Wirtschaft. Aus Sicht der Germanistik wird dies oft als ein Prestigeverlust bewertet. Dass man mit Deutsch karrierefördernde Kompetenzen erwirbt, ist aus Sicht der Deutschvermittlung dagegen eine positive Entwicklung, die die Zahl der Deutsch-Studierenden auch in Europa zumindest stabilisieren dürfte.

196

Annette Julius und Roman Luckscheiter Tabelle 2: „Und welche zwei Sprachen sollten Kinder Ihrer Meinung nach lernen, abgesehen von ihrer Muttersprache?“19 Englisch

Französisch

Deutsch

Spanisch

Russisch

EU25

77 %

33 %

28 %

19 %

  3 %

  2 %

  0 %

BE

88 %

50 %

  7 %

  9 %

  0 %

  1 %



CZ

89 %

  9 %

66 %

  4 %

  9 %

  0 %



DK

94 %

13 %

62 %

13 %

  0 %

  0 %

  0 %

DE

89 %

45 %

  3 %

16 %

  6 %

  2 %



EE

94 %

  6 %

22 %

  1 %

47 %

  0 %

  1 %

EL

96 %

34 %

50 %

  3 %

  0 %

  6 %



ES

85 %

44 %

14 %

  4 %

  0 %

  1 %



FR

91 %

  2 %

24 %

45 %

  0 %

  6 %



IE

  3 %

64 %

42 %

35 %

  1 %

  4 %

  0 %

IT

84 %

34 %

17 %

17 %

  0 %

  0 %



CY

98 %

49 %

19 %

  2 %

  4 %

  4 %

  0 %

LV

94 %

  6 %

28 %

  1 %

42 %

  0 %

  0 %

LT

93 %

  6 %

34 %

  2 %

43 %

  0 %

  0 %

LU

59 %

83 %

43 %

  2 %

  0 %

  1 %



HU

85 %

  4 %

73 %

  3 %

  2 %

  2 %



MT

90 %

24 %

13 %

  2 %



61 %



NL

90 %

22 %

40 %

21 %

  0 %

  0 %



AT

84 %

29 %

  2 %

10 %

  4 %

11 %



PL

90 %

  7 %

69 %

  1 %

10 %

  1 %



PT

90 %

60 %

  8 %

  7 %



  0 %



SI

96 %

  6 %

69 %

  3 %

  0 %

12 %

  0 %

SK

87 %

  7 %

75 %

  3 %

  6 %

  1 %

  0 %

FI

85 %

10 %

24 %

  3 %

10 %

  0 %

38 %

SE

99 %

17 %

35 %

31 %

  1 %

  0 %

  1 %

UK

  5 %

71 %

34 %

39 %

  1 %

  3 %



BG

87 %

13 %

49 %

  5 %

14 %

  1 %



HR

82 %

  5 %

69 %

  2 %

  0 %

14 %



RO

64 %

34 %

17 %

  7 %

  2 %

  8 %



TR

72 %

12 %

52 %

  1 %

  2 %

  1 %



  Erste Fremdsprache    

Italienisch Schwedisch

  Zweite Fremdsprache

19  Aus: Die Europäer und ihre Sprachen. Eurobarometer Spezial 243. Veröffentlichung Februar 2006. Zusammenfassung, S. 9; Europäische Union, 1995–2012: http: /  / ec.europa.eu / public_opinion / archives / ebs / ebs_243_sum_de.pdf (16.5.2012).



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

197

Abbildung 13: Deutschlernerzahlen 1983 bis 2010 ohne Europa / GUS20

Zuletzt soll nun ein genauerer Blick auf die Kontinente geworfen werden, in denen Deutsch als Fremdsprache in der Vergangenheit keine oder nur eine geringe Rolle gespielt hat. Wie erwähnt, liegt der Deutschlerneranteil in allen diesen Kontinenten zusammen bis heute bei unter 20 %. Auf diesem (zugegebenermaßen sehr niedrigen) Ausgangsniveau lassen sich aber z. T. erstaunliche positive Dynamiken beobachten. Diese betreffen insbesondere den Nahen und Mittleren Osten, wo sich die Zahl der Deutschlerner seit 1983 verfünffacht hat, Afrika, wo sie um das viereinhalbfache gestiegen ist, sowie, etwas abgeschwächt, Lateinamerika, wo die Steigerungsrate in den letzten knapp dreißig Jahren immerhin bei gut 140 % liegt. Einen Sonderfall stellt Asien da, wo die Lernerzahlen seit den achtziger Jahren um rund 67 % gesunken sind. Wie die folgende Grafik zeigt, verdankt sich die vorher vergleichsweise gute Stellung des Deutschen in Asien im Wesentlichen drei einzelnen Ländern, nämlich Japan, Korea und Indonesien. Japan richtete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich am Wilhelminischen Reich aus, was sich nicht zuletzt auch in der sprachen-, kultur- und bildungspolitischen Orientierung des Landes niederschlug; diese Orientierung wurde auf das zeitweise von Japan kontrollierte Korea entsprechend übertragen. In Indonesien lassen sich eine Reihe von Einflussgrößen identifizieren: War Deutschland in den sechziger Jahren ein beliebtes Ziel für alle, die nach dem Militärputsch das Land verlassen wollten, wurde es 20  Quellen:

Vgl. Fußnote 13.

198

Annette Julius und Roman Luckscheiter

Abbildung 14: Entwicklung Deutschlernerzahlen Asien 1983 bis 201021

in den siebziger und achtziger Jahren aufgrund verstärkter wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu Deutschland besonders attraktiv, bevor die Nachfrage wieder nachließ. Heute profitieren die Deutschangebote an den Universitäten latent von dem Umstand, dass ein Sprachstudium vergleichsweise günstig ist. Der Siegeszug der englischen Sprache einerseits sowie die Orientierung auf andere, in der Region bedeutende Sprachen haben in allen drei Ländern zu Einbrüchen geführt, die auch deutlich drastischer ausfallen als die Rückgänge in Europa. In Indien und China ist dagegen eine umkehrte Entwicklung zu verzeichnen: Deutsch hat hier traditionell so gut wie keine Rolle gespielt, und die Lernerzahlen lagen in den 80er Jahren gerade einmal bei 3.000 Lernern im Reich der Mitte und immerhin 14.000 in Indien. Indien konnte diese Zahlen, wie die folgende Grafik zeigt, in den letzten dreißig Jahren um rund 120 % steigern, in China ist die Zahl der Deutschlerner in der gleichen Zeit um mehr als das Elffache – auf nunmehr rund 42.000 Lerner – gewachsen. Ein Vergleich mit den an deutschen Hochschulen 2010 eingeschriebenen knapp 23.000 chinesischen Studierenden unterstreicht den sehr engen Zusammenhang zwischen Sprachenlernen und konkreten Verwertungszusammenhängen gerade in China. Dass historische Verbindungen für die Ausgangslage bei den Lernerzahlen eine bedeutende Rolle spielen, zeigt der Vergleich zwischen China und Indien einerseits und Brasilien auf der anderen Seite. Die Zahl der deutschstämmigen Brasilianer wird auf 2 bis 5 Mio. geschätzt, und immerhin ge21  Quellen:

Vgl. Fußnote 13.



„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

199

Abbildung 15: Deutschlernerzahlen 1983 bis 2010 in China und Indien22

schätzte rund 600.000 Menschen in Brasilien sprechen Deutsch bis heute als Muttersprache. Entsprechend liegen die Lernerzahlen hier auch heute noch um das Zwei- bis Dreifache über denen in China und Indien.

Abbildung 16: Deutschlerner 1983 bis 2010 in China, Indien und Brasilien23

Wie sich Deutschlernerzahlen entwickeln hängt auch außerhalb Europas in erster Linie mit dem wahrgenommenen „Nutzen“ der Sprache zusammen. 22  Quellen: 23  Quellen:

Vgl. Fußnote 13. Vgl. Fußnote 13.

200

Annette Julius und Roman Luckscheiter

700 000 600 000 500 000 400 000 300 000 200 000 100 000

1998

1999 USA

2000

2001

Großbritannien

2002

2003 Australien

2004

2005

2006

Deutschland

2007

2008

Frankreich

Abbildung 17: Führende Gastländer internationaler Studierender24

Dieser ergibt sich zum einen im Zusammenhang mit Beschäftigungschancen – etwa durch die wachsende Präsenz deutscher Firmen in China und Indien oder auch die aufwachsende Tourismusbranche in diesen Ländern. Von entscheidender Bedeutung ist zweitens die starke Stellung, die deutsche Bildungsangebote in den letzten 15 Jahren erlangt haben. Im Bereich der Hochschulbildung nimmt Deutschland unter den führenden Gastländern für internationale Studierende – trotz deutlicher Zuwächse auch bei den Hauptkonkurrenten USA, Großbritannien und Australien – den vierten Platz weltweit (und den ersten Platz unter den nicht-englischsprachigen Ländern) als Gastland für internationale Studierende ein, vor kurzem überholt von Australien und immer Kopf an Kopf mit Frankreich. Die Zahl von Bildungsausländern an deutschen Hochschulen ist alleine in den letzten zehn Jahren um rund 50 % und in den letzten 20 Jahren sogar 150 % auf aktuell rund 180.000 Bildungsausländer gewachsen, während im gleichen Zeitraum die Studierendenzahlen an deutschen Hochschulen insgesamt „nur“ um 21 bzw. 23 % gewachsen sind. Der Anteil der Studierenden aus Europa und GUS ist dabei über die Jahre stetig zurückgegangen: Vor zehn Jahren lag er bei 57 %, heute kommen „nur“ noch 52 % der Studierenden aus den Ländern Europas und der GUS, in denen die deutsche Sprache traditionell eine starke Stellung hat.25 24  Quelle:

OECD, eigene Darstellung. Statistisches Bundesamt, Hauptberichte; Zusammenstellung der Daten: HIS, März 2012. 25  Quelle:

0

WS 1960/6 1

WS 1970/7 1 WS 1972/7 3 WS 1980/8 1 WS 1990/9 1

WS 2000/0 1

WS 2010/1 1

Welt Europa Asien Naher u. Mittl. Osten GUS Afrika Zentral- und Lateinamerika Nordamerika Australien und Ozeanien

„Deutsch global: Wo stehen wir heute?“

Abbildung 18: Ausländische Studierende in Deutschland 1950 bis 2010

 is WS 1971 / 72 liegen lediglich Gesamtzahlen ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen ohne Differenzierung der Herkunftsländer vor; ab dem B WS 1996 / 97 werden Bildungsinländer und Bildungsausländer getrennt ausgewiesen und beziehen die hier dargestellten Daten nur die Bildungsausländer ein.

WS 1950/5 1

20.000

40.000

60.000

80.000

100.000

120.000

140.000

160.000

180.000

200.000

201

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Annette Julius und Roman Luckscheiter

Dass Deutschland ein interessantes Zielland für internationale Studierende geworden ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass hier im Bereich des internationalen Austauschs ein kooperativer Ansatz verfolgt wird – die Mobilität Deutscher ins Ausland wird ebenso gefördert wie die Mobilität von Ausländern nach Deutschland, deutsche Hochschulen verbinden keine kommerziellen Interessen mit der Aufnahme ausländischer Studierender, institutionelle Hochschulpartnerschaften werden breit gefördert u. v. a. m.; hierdurch konnte gerade in Entwicklungs- und Schwellenländer Vertrauen aufgebaut werden. Wie die folgende Grafik zeigt, liegen die meisten Herkunftsländer ausländischer Studierender zwar in Europa und der GUS, seit einigen Jahren kommt jedoch die mit Abstand größte Gruppe ausländischer Studierender aus China – im WS 2010 betrug ihr Anteil fast 13 %.26 Ein zweiter Faktor, der für die Attraktivität und Reputation des Deutschen außerhalb Europas von großer Bedeutung ist, sind deutschsprachige oder deutschlandbezogene Bildungsangebote im Ausland. Im Schulbereich sind dies zum einen die rund 140 deutschen Auslandsschulen, die in vielen Ländern als hochattraktive, qualitätsorientierte „Marke“ etabliert sind und an denen rund 61.000 nicht-deutsche Schüler lernen. Hinzu kommen rund 870 sogenannte DSD-II Schulen, die jährlich rund 40.000 Deutsche Sprachdiplo­ me der KMK vergeben, sowie weitere 500 sog. Fit-Schulen, an denen das Goethe-Institut seit 2008 insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika das Deutschlernangebot an Schulen qualitativ wie quantitativ ausbaut. Im Hochschulbereich unterstützt der DAAD seit rund zwanzig Jahren deutsche Hochschulen darin, ihre Bildungsangebote ins Ausland zu bringen: Mit rund 40 Projekten im BMBF-geförderten Programm „Studienangebote deutscher Hochschulen im Ausland“, rund dreißig deutschsprachigen Studiengängen, die das Auswärtige Amt in Mittelosteuropa und der GUS fördert, sowie mit ebenfalls AA-finanzierten Einzelinitiativen wie der AndrássyUniversität in Budapest oder der deutschsprachigen betriebswirt- und ingenieurwissenschaftlichen Fakultät FDIBA an der TU Sofia, erreichen DAADgestützte Hochschulprojekte im Ausland aktuell geschätzte 20.000 ausländische Studierende weltweit, darunter alleine rund 6.800 an der Deutschen Universität in Kairo, die alle studienbegleitend Deutsch lernen und vielfach eingebettet in oder im Anschluss an ihr Studium den Weg an eine deutsche Hochschule finden. Schließlich hat die Tatsache, dass deutsche Hochschulen sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren den Ruf (zurück-)erobert haben, eine qualitativ 26  Quelle: Wissenschaft Weltoffen. Daten und Fakten zur Internationalität von Studium und Forschung, hrsg. vom DAAD und HIS, 2011.



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Abbildung 19: Herkunftsländer ausländischer Studierender in Deutschland 2010

hochwertige und gleichzeitig bezahlbare Alternative zu angloamerikanischen Bildungsangeboten zu sein, zu einer wachsenden Zahl von ausländischen Regierungsstipendiaten insbesondere aus Lateinamerika, dem Nahen und Mittleren Osten sowie Zentralasien geführt – rund 2.600 solcher Regierungsstipendiaten betreut der DAAD aktuell. Das bislang spektakulärste Programm dieser Art hat der DAAD vor Kurzem mit Brasilien abgeschlossen: Unter dem Titel „Science without borders“ beabsichtigt die brasilianische Regierung mittelfristig 100.000 Stipendiaten der Naturwissenschaften in die ganze Welt zu verschicken, von denen bis zu 10.000 nach Deutschland kommen und mit Unterstützung des DAAD Deutsch lernen sollen. III. Deutsch global – wo stehen wir heute? Der vorgelegte Überblick zeigt zum einen, dass wir es – anders als es die medial vermittelten Trends suggerieren – in den letzten drei Jahrzehnten alles in allem mit relativ stabilen Deutschlernerzahlen zu tun haben. Deutsch ist – wie auch in früheren Jahren – eine bedeutende kontinentale Verständigungssprache in Europa, die auch auf die an Europa angrenzenden Länder der GUS ausstrahlt. Diesen stabilen Zahlen stehen andererseits bedeutende qualitative Veränderungen gegenüber, die mit Herausforderungen wie Chancen für die deut-

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sche Sprache verbunden sind: Deutsch hat seinen Platz als erste Fremdsprache bis auf weiteres verloren und muss sich als zweite Fremdsprache vor dem Hintergrund eines immer stärker anwendungs- und nutzenorientierten Sprachenlernens behaupten. Wie es die ehemalige Präsidentin des GoetheInstituts, Prof. Dr. Jutta Limbach, einmal formulierte, muss daher unsere Botschaft heute sein: „Englisch ist ein Muss, Deutsch ist ein Plus“.27 Angesichts dieser Herausforderungen sind die insgesamt stabilen Deutschlernerzahlen u. E. ein recht positiver Befund. Man mag zwar bezweifeln, ob die Rede von der „Renaissance“ der deutschen Sprache der Lage wirklich gerecht wird, denn ein „Zurück“ in eine Zeit, in der die deutsche Sprache auch nur in Teilbereichen wie der Wissenschaft ein Anwärter auf den ersten Platz unter den Sprachen der Welt war, ist nicht in Sicht. Es ist aber in der Tat überaus positiv zu werten, dass Deutsch in jenen Ländern und auf Kontinenten, in denen es bis vor kurzem keine oder kaum eine Rolle gespielt hat, deutlich wachsende Lernerzahlen verzeichnet. Diese Zuwächse stehen erstens in Zusammenhang mit wahrgenommenen ökonomischen wie wissenschaftspolitischen Stärken Deutschlands. Gute Bildungsangebote und exzellente Wissenschaft sind und bleiben die effektivsten Instrumente der Sprachförderung. Insbesondere für Schwellenländer gilt, dass wer hier Deutsch lernt, zu den potentiellen Aufsteigern gehört, und eine Sprache, die dem Aufstieg dient oder von der Bildungselite gesprochen wird, dann auch an Reputation gewinnt. Zweitens profitiert die deutsche Sprache davon, dass gerade Entwicklungs- und Schwellenländer sich zunehmend von dem einen Modell verabschieden, an dem sie sich orientieren, und sich z. B. in der Frage, ob sie ihren Nachwuchs in einem angloamerikanischen oder doch in einem kontinentaleuropäischen Bildungssystem ausbilden lassen, nun häufig für eine diversifizierten Weg entscheiden. Deutschland muss also gar nicht das eine Modell sein, nach dem sich einzelne Länder ausrichten (so wie das im 19. Jahrhundert für Japan der Fall war), sondern „nur“ eines der tragfähigen, attraktiven Modelle in Europa und der Welt, damit auch unsere Sprache weiterhin und außerdem an ganz neuen Orten gelernt wird. Die sich hieraus ergebenden Chancen für die deutsche Sprache auch in der Zukunft zu nutzen, ist und bleibt eine Herausforderung: In Indien ergibt sich aktuell die Situation, dass die steigende Nachfrage nach qualifiziertem Deutschunterricht kaum durch entsprechende Lehrkräfte befriedigt werden 27  Jutta Limbach: Ich liebe unsere Sprache. Englisch ist ein Muß, Deutsch ist ein Plus: Plädoyer für eine aktive deutsche Sprachpolitik – im Inland wie im Ausland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.02.05, Nr. 32, S. 36.



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kann – und angesichts der schlechten Bezahlung von Lehrern die wenigen ausgebildeten Germanisten von der Wirtschaft aufgesogen werden. Was Mittlerorganisationen wie der DAAD tun können – Fortbildung von Lehrkräften, Vermittlung von Muttersprachlern, Ermöglichung von Deutschlandkontakten etc. – wollen wir tun und dabei weiterhin einen kooperativen Ansatz wählen, der im Übrigen auch ein Teil des „Modell Deutschland“ in der Auswärtigen Kulturpolitik ist.

Herausgeber und Autoren Apelt, Andreas H.: Dr.; geboren 1958 in Luckau; Studium der Geschichte und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; Promotion zum Thema DDROpposition und deutsche Frage; 1989 Gründungsmitglied und Berliner Landesvorsitzender des Demokratischen Aufbruchs; 1990 Gründungsmitglied und seit 1991 Vorstandsbevollmächtigter der Deutschen Gesellschaft e. V. Bergner, Christoph: Dr.; geboren 1948 in Zwickau; 1967–1971 Studium der Agrarwissenschaften; 1976 Promotion; 1993–1994 Ministerpräsident des Landes ­ Sachsen-Anhalt; 1990–2002 Mitglied des Landtages Sachsen-Anhalt; 1995–1998 Stellv. Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands – seit 2002 als Mitglied im Deutschen Bundestag, seit 2005 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundes­minister des Innern; seit 2006 Bundesbeauftragter für Aussiedlerfragen und na­tionale Minderheiten; seit 2011 Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer. Bettzüge, Marc Oliver: Prof. Dr.; geboren 1969; Studium der Mathematik und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Bonn, Cambridge  /  England und Berkeley / USA mit anschließender Promotion im Fach Volkswirtschaft; seit 2007 Professor für Volkswirtschaftslehre sowie Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI); seit 2011 Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. Börsch-Supan, Axel: Prof.; geboren 1954 in Darmstadt; Direktor Mannheimer Forschungsinstitut Ökonomie und Demografischer Wandel (Mannheim Research Institute for the Economics of Aging, MEA); Direktor Institut für Volkswirtschaftslehre und Statistik, Universität Mannheim; Aufsichtsrat  /  Supervisory Board Member, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim. Seit 2011 ist das Mannheimer Institut Teil des Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. Dann, Otto: Prof. Dr.; geboren 1937 in Gersdorf; Historiker und Schriftsteller; 1974 Habilitation; Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Philosophischen Fakultät, Universität zu Köln; Mitglied des Beirats der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des Politischen Denkens (DGEPD); 1994 Publikation seines Buches „Nation und Nationalismus in Deutschland, 1970–1990“. Haseloff, Reiner: Dr.; geboren 1954 in Bülzig; 1973–1978 Physikstudium an der Universität Dresden und der Universität Berlin; 2002–2006 Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Sachsen-Anhalt; 2006–2011 Minister im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit desLandes Sachsen-Anhalt sowie Präsident des Netzwerkes der Europäischen Chemie-Regionen (ECRN); seit 1990 Mitglied des Landesvorstandes der CDU Sachsen-Anhalt; seit 2008 Mitglied des Bundesvorstandes der CDU; seit 2011 Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Heydemann, Günther: Prof. Dr.; geboren 1950 in Burghausen; 1970–1976 Studium der Geschichte, Germanistik, Sozialkunde, Italienisch an den Universitäten Erlan-

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Herausgeber und Autoren

gen-Nürnberg, Bonn, Pisa, Florenz; seit 1993 Professor am Lehrstuhl für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig; Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.  V.; Mitglied des wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin; seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. Jesse, Eckhard: Prof. Dr.; geboren 1948 in Wurzen; 1971–1976 Studium der Politikwissenschaft und der Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin; 1982 Promotion; 1989 Habilitation; seit 1993 Professor am Lehrstuhl für Politische Systeme, Politische Institutionen an der Universität Chemnitz; 2007–2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP); seit 2010 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Politikwissenschaft. Julius, Annette: Dr.; Studium der Englischen und Russischen Literatur an der Universität zu Köln, der University of Dundee / Schottland und dem Puschkin Institut für Russische Sprache in Moskau / Russland; seit 2001 Vorsitzende der Sektion „Policy Planning and Coordination“ und später der Sektion „Strategy and CrossSectional Programmes“ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) – von 2006 / 2007 bis 2012 Leiterin der Programmabteilung Nord des DAAD und Leiterin des Büros Berlin. Seit 2012 Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Luckscheiter, Roman: Dr.; geboren 1970; studierte Romanistik und Germanistik in Freiburg und Heidelberg, wo er im Jahr 2000 mit einer Dissertation über die Literatur um 1968 und die Postmoderne promoviert wurde. Nach zwei Jahren als PostDoc-Stipendiat des DAAD in Paris war er von 2002 bis 2008 wissenschaftlicher Assistent in der Heidelberger Germanistik. Seit 2008 ist er beim DAAD tätig, zunächst als Leiter des Referats „Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremdsprache“, seit Juni 2012 als Leiter des Referats „Grundsatz- und Querschnittsaufgaben Hochschulprojekte im Ausland“. Mannewitz, Tom: Dr.; geboren 1987 in Wurzen; 2006–2009 Studium der Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden; 2011 Promotion zu linksextremistischen Parteien in Europa; 2009 Freier Mitarbeiter des Marktforschungsinstituts Dr. Hapsel & Partner in Dresden; 2010–2012 Lehrbeauftragter an der TU Chemnitz; seit 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für ­politische Systeme und politische Institutionen an der TU Chemnitz. Masala, Carlo: Prof. Dr.; geboren 1968 in Köln; 1988–1992 Studium der Politikwissenschaft und Deutscher und Romanischer Philologie an den Universitäten in Köln und Bonn; 1996 Promotion; 1998 Ernennung zum Akademischen Rat auf Lebenszeit am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln; seit 2007 Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München; seit 2010 Herausgeber der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB). Masát, András: Prof. Dr.; geboren 1947 in Pöcking; Studium der Germanistik und Hungarologie an der Atilla-József-Universität in Szeged / Ungarn; 1991–1994 Prorektor an der Eötvös Loránd Universität in Budapest / Ungarn und dort ab 1996 Professor für Germanistik und Skandinavistik; 1999–2007 Direktor des Collegium Hungaricum in Berlin; seit 2008 Berufung zum Professor für Angewandte Kulturwissenschaft und Rektor an der Andrássy Universität Budapest / Ungarn.



Herausgeber und Autoren209

Mayer, Tilman: Prof. Dr.; geboren 1953 in Freiburg im Breisgau; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Germanistik an der Universität Freiburg; 1983 Promotion zum Thema Nationstheorie; seit 2001 Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn; 2005–2009 Gründungsdirektor bzw. Geschäftsführender Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft und Soziologie; seit 2007 Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung (GfD), Berlin; seit 2007 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP); seit März 2010 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Paqué, Karl-Heinz: Prof. Dr.; geboren 1956 in Saarbrücken; 1975–1980 Studium der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Saarbrücken, Kiel und der University of British Columbia / Kanada; seit 1996 Professor am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre; seit 2010 Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Magdeburg; 2002–2006 Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt, 2008 Vorsitzender der FDP-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalts; 2003–2007 Mitglied im Bundesvorstand der FDP; seit 2007 stellv. Vorsitzender des Bundesfachausschusses Wirtschaft der FDP; seit 2011 Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“; Vorstandsvorsitzender der Herbert Giersch Stiftung. Plumpe, Werner: Prof. Dr.; geboren 1954 in Bielefeld; 1973–1980 Studium der Geschichte und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bochum; 1985 Promotion und 1994 Habilitation in Bochum; 1998 Gastprofessur an der Keio-Universität Tokio  /  Japan; seit 1999 Professor an der Universität Frankfurt a. M.; Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG). Rödder, Andreas: Prof. Dr.; geboren 1967 in Wissen / Sieg; 1986–1991 Studium der Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bonn, Tübingen und Stuttgart; 1995 Promotion; 2001 Habilitation; seit 2005 Professor für Neueste Geschichte an Universität Mainz; seit 2010 Mitglied des herausgebenden Gremiums der „Historischen Zeitschrift“; wissenschaftlicher Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung, der Stiftung Haus der Geschichte Bonn und des Deutschen Historischen Museums Berlin; Präsident der Stresemann-Gesellschaft. Wnendt, Werner: MinDir; geboren 1952 in Gelsenkirchen; 1972–1976 Studium der Geo- und Rechtswissenschaften an der Universität Bochum; 1982–1985 erster Sekretär in der Deutschen Botschaft in Islamabad / Pakistan; 1995 stellv. Botschafter der Deutschen Botschaft in Tschechien; 2000–2003 Berater für die Außenpolitik des Bundespräsidenten; 2003–2005 Hoher Vertreter für Bosnien Herzegowina in Sarajevo; 2005 Leiter der Mission und Sonderbeauftragter des Generalsekretärs der United Nations Interim Administration Mission in Kosovo; Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes.