Wertorientierte Wirtschaftsethik: Das Jenaer Modell 9783495997833, 9783495997826

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Wertorientierte Wirtschaftsethik: Das Jenaer Modell
 9783495997833, 9783495997826

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0 Hinführung
0.1 Wirtschaftsethik – Themen, die alle angehen
0.2 Vorgehensweise
0.3 Wissenschaftstheoretische Klarstellungen
1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze
1.1 Ein Fallbeispiel und seine unterschiedlichen Bewertungen
1.1.1 Der Dieselskandal
1.1.2 Die rechtliche Dimension
1.1.3 Unterschiedliche wirtschaftsethische Bewertungen
1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«
1.3 Grundlegende Kriterien und Methoden
1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze
1.4.1 Wirtschaftsethik in religiösen Traditionen: God’s eye point of view
1.4.2 Wirtschaftsethik in smithscher Tradition: economic point of view
1.4.3 Wirtschaftsethik in kantisch-marxscher Tradition: moral point of view
1.4.4 Das Jenaer Modell: holistic point of view
2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung
2.1 Globale Herausforderungen
2.1.1 Friedenssicherung
2.1.2 Sicherung funktionierenden Wirtschaftens
2.1.3 Klimaschutz
2.1.4 Verantwortung für lebensdienliche globale Institutionen und Regeln
2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)
2.2.1 Menschenrechtsverletzungen
2.2.2 Verletzungen von Arbeitsnormen
2.2.3 Umweltschädigungen
2.2.4 Korruption
2.2.4.1 Abgrenzung der Korruption
2.2.4.2 Formen der Korruption
2.2.4.3 Bewertung der Korruption
2.2.4.4 Überlegungen zur Korruptionsvermeidung
2.2.4.5 Nicht-rationales Verhalten und mögliche Antikorruptionsmaßnahmen
2.2.4.6 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung
2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene
2.3.1 Menschenrechte
2.3.2 Arbeitsnormen
2.3.3 Umwelt
2.3.4 Korruptionsbekämpfung
2.3.5 Fazit
2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens
2.4.1 Interessen und die Frage der Corporate Social Responsibility (CSR)
2.4.2 Alternativen
2.4.3 Optionen
2.4.4 Standards der Legitimität
2.4.5 Kommunikation
2.4.6 Beziehung
2.4.7 Selbstverpflichtung
2.5 Ernst Abbes Carl-Zeiss-Stiftung als historisches Beispiel
3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung
3.1 Herausforderungen für Führungskräfte
3.1.1 Führungskräfte als Autoritäten und die Gefahr des Missbrauchs der Autorität
3.1.2 Führungsstile als Herausforderung
3.1.3 Auf dem Weg zu einer achtsamen Führung
3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung
3.2.1 Verantwortung im Unternehmen
3.2.2 Anforderungen an Führungskräfte und die Bedeutung der Achtsamkeit
3.2.2.1 Leistungsfähigkeit und Leistungswerte
3.2.2.2 Entscheidungsstärke und Kooperationswerte
3.2.2.3 Kommunikationsstärke und Kommunikationswerte
3.2.2.4 Konkrete moralische Werte
3.2.2.5 Achtsamkeit als Grundkompetenz
3.2.3 Personenfolgeneinschätzung (PFE)
3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte
3.3.1 Eine achtsame Weltethik-Charta – GEC
3.3.2 Ziele und Rolle der GEC
3.3.3 Basisregeln
3.3.4 Regeln zum Wohle der Aktionäre: Wirtschaftliche Dimension
3.3.5 Regeln zum Wohle der Stakeholder I: Soziale Dimension
3.3.6 Regeln zum Wohl der Stakeholder II: Ökologische Dimension
3.3.7 Umsetzung des Entwurfs
3.3.8 Konkretion
3.4 Beispiel einer gelungenen globalen Lösung: das Montreal-Protokoll
Zitierte Literatur
Register

Citation preview

Angewandte Ethik Marktwirtschaft und Moral

4

Reyk Albrecht | Martin O’Malley Antje Klemm | Nikolaus Knoepffler

Wertorientierte Wirtschaftsethik Das Jenaer Modell

https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

Angewandte Ethik Marktwirtschaft und Moral Herausgegeben von Nikolaus Knoepffler | Peter Kunzmann | Reinhard Merkel Ingo Pies | Anne Siegetsleitner | Florian Steger Wissenschaftlicher Beirat: Reiner Anselm | Carlos Maria Romeo Casavona Klaus Dicke | Matthias Kaufmann | Jürgen Simon Wilhelm Vossenkuhl | LeRoy Walters Band 4

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Reyk Albrecht | Martin O’Malley Antje Klemm | Nikolaus Knoepffler

Wertorientierte Wirtschaftsethik Das Jenaer Modell

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99782-6 (Print) ISBN 978-3-495-99783-3 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

Vorwort

»Alle vernünftigen Bemühungen der Einzelnen auf sozialem Gebiet können [...] nur darauf hinzuwirken versuchen, dass das gesamte Wirt­ schaftsfeld allmählich weniger Wüste werde – und dieses kann nur die organisatorische Aktion des Staates zuwege bringen.« Ernst Abbe1

Die zunehmende Globalisierung, verstärkt durch Digitalisierung und immer größere Wirtschaftszonen, stellt eine wertorientierte Wirtschaftsethik vor ganz neue Herausforderungen. Nicht mehr nur, wie der Jenaer Unternehmer Ernst Abbe annahm, wird die organisatorische Kraft des Staates benötigt, sondern letztlich der Weltgemeinschaft. Dies hat uns die weltweite Corona-Pandemie in einer dramatischen Weise vor Augen geführt. Nicht nur die Verletz­ lichkeit von Warenströmen und unternehmerische Abhängigkeiten hat diese Krise in einer kaum zuvor vorstellbaren Weise offengelegt, sondern auch gezeigt, dass sie nur durch gemeinsames Handeln und koordinierte Organisation in den Griff zu bekommen ist. Aber auch die Klimaänderung und das gewaltige Gefälle zwischen armen und reichen Menschen weltweit sind Hinweise für die Notwendigkeit lebensdienlicher globaler Regelungen. In diesem Buch gehen wir aber nicht nur der Frage globaler Regelungsstrukturen nach, sondern widmen uns auch den Heraus­ forderungen auf unternehmerischer Ebene. Dabei legen wir einen besonderen Fokus darauf, wie Führungskräfte unter den heutigen Bedingungen wertorientiert Verantwortung übernehmen können. Es basiert auf Beiträgen, die aus langjährigen Lehrerfahrungen mit Stu­ dierenden des Masters Angewandte Ethik und Konfliktmanagement und Studierenden aus der Psychologie, die das Corporate-SocialResponsibility-Zertifikat bei uns erwerben, aber auch im Dialog mit Führungskräften aus der Wirtschaft entstanden sind. Ausdrücklich möchten wir darauf verweisen, wie viel wir den Publikationen von Ingo Pies und den gemeinsamen, seit 2003 jähr­ 1

Abbe (1921 [1894]), 54.

5 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

Vorwort

lich stattfindenden Workshops mit dem von ihm geleiteten Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der Martin-Luther-Universität Halle-Witten­ berg verdanken. Auch möchten wir Marieke Kötzing, Heike Schaft, Ulrich Schnei­ der, Lena Schaefer, Helene Straube und Jakob Schmidt für die sorgfäl­ tigen Korrekturen sowie Fabian Wahl und Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber für die ausgezeichnete Betreuung danken. Wir nennen unsere wertorientierte Wirtschaftsethik Jenaer Modell, weil sie in besonderer Weise von den bahnbrechenden Sozial­ reformen des Jenaer Unternehmers Ernst Abbe inspiriert ist. Deshalb widmen wir es auch in besonderer Weise allen Menschen, die in Thüringen unternehmerisch tätig sind. Jena, 31. Oktober 2022 Reyk Albrecht, Martin O‘Malley, Antje Klemm und Nikolaus Knoepffler

6 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

Inhaltsverzeichnis

0 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0.1 Wirtschaftsethik – Themen, die alle angehen . . . . . .

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0.2 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0.3 Wissenschaftstheoretische Klarstellungen

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze . . . . . . . . . . . . . .

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1.1 Ein Fallbeispiel und seine unterschiedlichen Bewertungen 1.1.1 Der Dieselskandal . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die rechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Unterschiedliche wirtschaftsethische Bewertungen

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.3 Grundlegende Kriterien und Methoden . . . . . . . . .

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze . . . . . . . . . 1.4.1 Wirtschaftsethik in religiösen Traditionen: God’s eye point of view . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Wirtschaftsethik in smithscher Tradition: economic point of view . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Wirtschaftsethik in kantisch-marxscher Tradition: moral point of view . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Das Jenaer Modell: holistic point of view . . . . .

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Globale Herausforderungen . . . . . . . . . . . 2.1.1 Friedenssicherung . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Sicherung funktionierenden Wirtschaftens 2.1.3 Klimaschutz . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1.4 Verantwortung für lebensdienliche globale Institutionen und Regeln . . . . . . . . . . . . . 2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Menschenrechtsverletzungen . . . . . . . . . . . 2.2.2 Verletzungen von Arbeitsnormen . . . . . . . . . 2.2.3 Umweltschädigungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4.1 Abgrenzung der Korruption . . . . . . . 2.2.4.2 Formen der Korruption . . . . . . . . . . 2.2.4.3 Bewertung der Korruption . . . . . . . . 2.2.4.4 Überlegungen zur Korruptionsvermeidung 2.2.4.5 Nicht-rationales Verhalten und mögliche Antikorruptionsmaßnahmen . . . . . . . 2.2.4.6 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung 2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Arbeitsnormen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Korruptionsbekämpfung . . . . . . . . . . 2.3.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.5 Ernst Abbes Carl-Zeiss-Stiftung als historisches Beispiel

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2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Interessen und die Frage der Corporate Social Responsibility (CSR) . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Standards der Legitimität . . . . . . . . . . 2.4.5 Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 2.4.6 Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.7 Selbstverpflichtung . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte . . . . . . . . . 3.1.1 Führungskräfte als Autoritäten und die Gefahr des Missbrauchs der Autorität . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Führungsstile als Herausforderung . . . . . . . . 3.1.3 Auf dem Weg zu einer achtsamen Führung . . . .

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung . . 3.2.1 Verantwortung im Unternehmen . . . . . . . 3.2.2 Anforderungen an Führungskräfte und die Bedeutung der Achtsamkeit . . . . . . . . . 3.2.2.1 Leistungsfähigkeit und Leistungswerte 3.2.2.2 Entscheidungsstärke und Kooperationswerte . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Kommunikationsstärke und Kommunikationswerte . . . . . . . . 3.2.2.4 Konkrete moralische Werte . . . . . . 3.2.2.5 Achtsamkeit als Grundkompetenz . . 3.2.3 Personenfolgeneinschätzung (PFE) . . . . . .

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte . . . . . 3.3.1 Eine achtsame Weltethik-Charta – GEC . . . . . 3.3.2 Ziele und Rolle der GEC . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Basisregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Regeln zum Wohle der Aktionäre: Wirtschaftliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Regeln zum Wohle der Stakeholder I: Soziale Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Regeln zum Wohl der Stakeholder II: Ökologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7 Umsetzung des Entwurfs . . . . . . . . . . . . . 3.3.8 Konkretion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.4 Beispiel einer gelungenen globalen Lösung: das MontrealProtokoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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0 Hinführung

0.1 Wirtschaftsethik – Themen, die alle angehen Am 15. August 2021 fiel die Hauptstadt Kabul als letzte große Stadt kampflos, wie viele andere Städte Afghanistans zuvor, in die Hände der Taliban. Der bis dahin in Kabul amtierende Präsident floh mit einem Hubschrauber, der mit Geld und weiteren Schätzen beladen war. Dieser Hubschrauber ist Symbol einer durch und durch korrupten herrschenden Elite, für die kaum einer der von den US-Truppen und ihren verbündeten Alliierten ausgebildeten Soldaten bereit war zu kämpfen. Eines der großen Themen der Wirtschaftsethik lässt sich hervor­ ragend an diesem Ereignis ablesen. Staatliche korrupte Strukturen fallen in sich zusammen, wenn sie einem mächtigen, von einer Idee beseelten Gegner gegenüberstehen. Wie wahrscheinlich ist es dann, dass Unternehmen langfristig bestehen können, wenn ihr Fundament ohne Wertorientierung ist, sie die Belegschaft nicht wirklich hinter sich haben und sie einem Wettbewerb ausgesetzt sind, also mit Konkurrenten konfrontiert werden, die von einer Idee beseelt sind? Neben diesem klassisch zu nennenden Problem erfolgreichen unternehmerischen Wirkens, das sich bis in die Anfänge von Hoch­ kulturen nachweisen lässt, konfrontiert das 21. Jahrhundert eine Wirtschaftspolitik mit ganz neuen, globalen Herausforderungen. Die Covid-19-Pandemie hat wie in einem Brennglas die Abhängigkeit der Wirtschaft von weltweiten Ereignissen gezeigt. Umgekehrt hat die Unterbrechung von Warenströmen aufgrund von Lockdown-Maß­ nahmen gezeigt, wie anfällig globalisiertes Wirtschaften ist und wie vielen Abhängigkeiten heutige Unternehmen ausgesetzt sind. Als russische Truppen in der Ukraine einfielen, bekamen Fahrzeugher­ steller Probleme, weil die Fertigung von Kabelbäumen, die in der Ukraine hergestellt werden, aufgrund der Kriegssituation nicht mehr im üblichen Rahmen funktionierte. Wenn mit Indien der Haupther­ steller von Antibiotika ausfällt, gibt es gesundheitliche Krisen. Sollte China in einen heißen Konflikt mit Taiwan eintreten, bricht der Chip­

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0 Hinführung

markt zusammen, da der größte Hersteller von Mikrochips TMSC in Taiwan situiert ist und seine Fertigung auch in Festlandchina hat. Sollte sich die Klimaerwärmung verstärken, ist mit Umweltkatastro­ phen zu rechnen, die alles Bisherige in den Schatten stellen. Für den Handel würde dies einschneidende Konsequenzen haben. Darüber hinaus setzt der globalisierte Warenverkehr Anreize, die Produktion dorthin auszulagern, wo Arbeitskräfte am billigsten und gesetzliche Vorgaben am lockersten sind. Auch hierfür können nur globale Lösungen funktionieren, zumal es einen Zusammenhang zwi­ schen Armut und wirtschaftlichen Potenzialen gibt. Dass der Kongo, einer der rohstoffreichsten Staaten der Welt, eine der ärmsten Bevöl­ kerungen hat, zeigt, dass es bisher keine globalen Strukturen gegen Ausbeutung gibt. Zugleich macht dies deutlich, was es bedeutet, wenn nationale Strukturen von Korruption und bürgerkriegsähnli­ chen Zuständen zerfressen sind, sodass die einheimische Bevölkerung sich auf keine funktionierenden Institutionen verlassen kann. Zudem verändern technologische Durchbrüche wie die Digita­ lisierung ganze Wirtschaftszweige. Die aufkommende Elektromo­ bilität wird zusammen mit einer sich entwickelnden Möglichkeit autonomen Fahrens ebenfalls disruptiv für bestimmte Branchen sein. Hier sind in den jeweiligen Führungspositionen Personen gefragt, welche die Zeichen der Zeit zu deuten verstehen und so dafür sorgen, dass ihre Unternehmen Entwicklungen nicht verschlafen. Klassische Beispiele sind Agfa und Kodak, die den Zug der digitalen Kamera verpasst haben. Nokia, das noch um das Jahr 2006 fast zwei Drittel des Handymarktes beherrschte, verlor binnen kürzester Zeit nicht nur die Marktführerschaft, sondern musste das komplette Geschäftsfeld aufgeben. Apples Erfindung des Smartphones und Googles geniales Betriebssystem Android, dessen Vorzüge Samsung sofort erkannte, bedeuteten Nokias »Handytod«. Dies zeigt, dass auch die besten Strukturen und Regeln nichts nützen, wenn die Ideen und die Flexi­ bilität fehlen, sich Neuem zu öffnen. Aber auch das Versagen von Führungskräften zeigt deutlich, welche Bedeutung auch Verantwor­ tung auf der Handlungsebene hat. Die Entscheidung von Daimlerchef Schrempp, Chrysler zu übernehmen, kostete das Unternehmen etwa 50 Milliarden Euro und wird von nicht wenigen seinem Charakter zugeschrieben. Eine Personenfolgeneinschätzung für Führungskräfte in einer gewissen Analogie zur Technikfolgenabschätzung scheint deshalb ebenfalls dringend nötig zu sein.

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0.2 Vorgehensweise

Die akademische Wirtschaftsethik, das sollten die Beispiele gezeigt haben, verfolgt das Ziel, wesentliche wirtschaftliche und unternehmerische Herausforderungen zu behandeln, die ethisch von Bedeutung sind. Damit berührt sie Themen, die für uns alle in dieser globalisierten Welt von Bedeutung sind, denn wir alle sind Mitglieder einer Menschheitsfamilie, ob wir das wollen oder nicht.

0.2 Vorgehensweise Die Herausforderungen und Themen geben uns die Vorgehensweise vor.2 Im ersten Kapitel werden nach der Darstellung eines exempla­ rischen Falls die Begriffe »Ethik«, »Moral«, »Ethos« und »Recht« erläutert. Daran schließt sich die Vorstellung wesentlicher ethischer und wirtschaftsethischer Ansätze an. Dabei werden wir auch einen »eigenen«3 wirtschaftsethischen Ansatz entwickeln. Dieser Ansatz weiß sich dem politischen weltweiten Konsens im Blick auf Men­ schenwürde und Menschenrechte verbunden und hat vor diesem Hintergrund eine ordnungsethische Zielrichtung. Hier greifen wir auf ordonomische Überlegungen zurück, wie sie Pies in die akademische Diskussion eingeführt hat. Im zweiten Kapitel behandeln wir globale und unternehmerische Herausforderungen in Anlehnung an die Struktur des Global Com­ pact der Vereinten Nationen, nämlich Menschenrechtsverletzungen, Verletzungen von Arbeitsnormen, Umweltschädigungen und, auf­ grund seiner besonderen Bedeutung im Unternehmenskontext in besonderer Ausführlichkeit, das Problemfeld der Korruption. Zudem benennen wir in Anlehnung an das Harvard Negotiation Program sieben wesentliche Elemente, wie unternehmerisches Handeln zum gegenseitigen Vorteil aussehen kann. An der Unternehmerpersön­ 2 Wir haben in diesem Buch versucht, strukturell eine enge Verbindung zu dem eben­ falls bei Alber erschienenen Lehrbuch von Mitautor Knoepffler zur Medizinethik Den Hippokratischen Eid neu denken. Medizinethik für die Praxis herzustellen. Dies wird in den folgenden Abschnitten deutlich, die teilweise wörtlich aus dem Medizinethikbuch übernommen, aber für die Bereichsethik der Wirtschaftsethik angepasst sind. Bis in die Abbildungen hinein haben wir uns um diesen Wiedererkennungswert bemüht, um so eine »Lehre aus einem Guss« zu präsentieren. Zugleich aber ist es dadurch möglich, dieses Buch auch ohne jede Kenntnis des Medizinethikbuchs zu lesen. 3 Allerdings ist dabei »eigener Ansatz« im Sinn von Wittgensteins Vorwort zum Tractatus (1984) zu verstehen: »Wieweit meine Bestrebungen mit denen anderer Philosophen zusammenfallen, will ich nicht beurteilen.« (ebd., 9).

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0 Hinführung

lichkeit von Ernst Abbe exemplifizieren wir, wie unternehmerische Verantwortung konkret werden kann, wie ein Unternehmer soziale Gerechtigkeit in seinem Unternehmen implementiert hat und dabei zugleich erfolgreich sein konnte. Im dritten Kapitel arbeiten wir heraus, wie eine Führung im Dienst lebensdienlicher Unternehmen aussehen sollte. Wir themati­ sieren dabei die Herausforderungen für die Führenden, ihre spezifi­ sche Verantwortung und weisen nach, warum eine Personenfolgen­ einschätzung in gewisser Analogie zur Technikfolgenabschätzung von großem Wert ist, um diese Verantwortung abzusichern. Dabei thema­ tisieren wir, was für eine große Bedeutung eine Personenfolgenein­ schätzung hat. Nach einer Übersicht zu Verantwortungsdimensionen der Führung wird die Bedeutung einer »achtsamen« Führung heraus­ gearbeitet, die gelungenes Selbstmanagement mit einem gelingenden Führen von Mitarbeitenden und einer Achtung der Share- und Stake­ holder verbindet. Das Beispiel einer gelungenen globalen Regelung, das MontrealProtokoll, schließt unsere Überlegungen zu einem wertorientierten Wirtschaften ab.

Grundlagen der Wirtschaftsethik Begriffsklärung und -analyse

Ethische und wirtschaftsethische Hauptpositionen

Grundlegende Normen und Werte

Wirtschaftsethische Herausforderungen Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Korruptionsvermeidung als globale Herausforderungen

Unternehmerische Herausforderungen

Führungsverantwortung und Personenfolgeneinschätzung

Abbildung 1: Übersicht zur Struktur des Buchs

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0.3 Wissenschaftstheoretische Klarstellungen

0.3 Wissenschaftstheoretische Klarstellungen Bevor mit der Klärung grundsätzlicher Begriffe begonnen werden kann, sind einige wissenschaftstheoretische Klarstellungen nötig, um Missverständnisse auszuräumen und falschen Erwartungen vor­ zubeugen. So hat eine akademische Wirtschaftsethik nicht die Aufgabe, ihre Adressaten zu besseren Menschen zu machen. Dies wäre wünschens­ wert, wenn man vielen Satiresendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Glauben schenken würde, die oftmals Unternehmer als profitgierig, selbstbezogen und ohne soziale Verantwortung karikie­ ren. Doch dieses Vorurteil wird sehr vielen nicht gerecht, die in Unternehmen Verantwortung tragen und hohe moralische Ideale vertreten. Ihr unternehmerisches Ideal besteht zwar oftmals nicht darin, Menschen helfen zu wollen, aber sie sind in vielen Fällen von einer Idee oder einem Projekt beseelt. Der Wunsch, den Gewinn des Unternehmens zu maximieren, steht dabei nicht an erster Stelle. Wir wollen sie darum auch nicht wie kleine Kinder behandeln, die man mit moralischen Appellen zur Einsicht bringen will, sondern sie mit Hilfe ethischer Überlegungen und Differenzierungen bei einer eigenen, verantworteten Entscheidung unterstützen. Eine aka­ demische Wirtschaftsethik kann beispielsweise helfen, sich eigener Grundannahmen bewusst zu werden und so besser zu verstehen, woher eigene moralische Einstellungen herrühren. Wirtschaftsethik ist auch nicht mit rechtlichen Vorgaben für die Wirtschaft und Complianceregeln zu verwechseln. Wer die Überzeu­ gung vertritt, dass geltendes Recht letztgültig ethische Streitfragen entscheidet, reduziert Ethik auf Recht und begeht damit einen legalis­ tischen Fehlschluss. Warum dies ein Fehlschluss ist, zeigt folgendes Beispiel. Wer in den Niederlanden lebt, der darf nach dem niederlän­ dischen Recht legal Cannabis in „Coffeeshops“ auch zu nichtmedizini­ schen Zwecken verkaufen und damit Geld verdienen. Der legalistische Fehlschluss besteht darin, aus der rechtlichen Zulässigkeit des Canna­ bisverkaufs in kleinen Mengen in den Niederlanden zu schließen, dass damit der Cannabisverkauf auch ethisch allgemein unter bestimmten Regulierungen erlaubt sei. Aus der Aussage »Cannabisverkauf ist in den Niederlanden rechtlich zulässig« wird fälschlicherweise die Aussage: »Damit ist das Verkaufen von Cannabis ethisch zulässig.« Warum dies ein Fehlschluss ist, lässt sich an einem einfachen Bei­ spiel zeigen. Wer im Frühjahr 2022 zwischen den Niederlanden und

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0 Hinführung

Deutschland pendelte, hätte nach dieser Doktrin logischerweise bei jedem Grenzübertritt seine ethische Position wechseln müssen, denn in Deutschland war der Cannabisverkauf außer aus medizinischen Gründen rechtlich verboten. Daraus würde sich ergeben: »Damit ist Cannabisverkauf ethisch verboten.« Doch die Ethik hat gerade den Anspruch, Zulässigkeit bzw. Nicht-Zulässigkeit von bestimmten Handlungen in einer Weise zu begründen, die nicht von den Zufäl­ ligkeiten geltender Gesetzgebung abhängig ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass Gesetze unerheblich wären. Sie entbinden nicht von der eigenen Verantwortung. Die ethisch verwerflichen Rassegesetze des Dritten Reichs genügen, um zu verstehen, warum Gesetze allein ethische Fragen nicht beantworten können. Ebenfalls verfehlt ist die Annahme, dass eine Wirtschaftsethik in den meisten Konfliktsituationen eindeutige Antworten bereitstellen könne. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr kann den unterneh­ merisch Tätigen vor Ort die Letztverantwortung nicht abgenommen werden. Da verschiedene Religionen und Weltanschauungen mitein­ ander um die letzte Wahrheit ringen, muss es mit Notwendigkeit bei manchen Streitfällen unterschiedliche Lösungsangebote geben. Diese beanspruchen zwar universelle Gültigkeit, sind aber in vielen Fällen nur für die Anhänger der entsprechenden Religionen überzeugend. Dies sollte jedem einleuchten, der weiß, wie unterschiedlich die drei großen monotheistischen Weltreligionen Jesus von Nazareth einschätzen. Für einen orthodoxen Juden ist Jesus von Nazareth ein am Kreuz gescheiterter Prophet. Seine Hinrichtung bedeutet nach der hebräischen Bibel das Scheitern vor Gott. Für einen Christen ist Jesus der Sohn Gottes und Messias, der die Menschheit durch sein Leiden am Kreuz erlöst und durch seine Auferstehung den Tod besiegt hat. Für einen gläubigen Muslim ist Jesus zwar ein großer Prophet, der jungfräulich empfangen wurde, aber nicht Sohn Gottes. Seine Botschaft wird durch das Wort Gottes, wie es Mohammed empfangen hat und wie es im Koran niedergeschrieben ist, überbo­ ten. Juden finden die Letztbegründung moralischer Normen in der Thora (hebräisch für Weisung, niedergeschrieben in den ersten fünf Büchern der Bibel), Christen im Evangelium Jesu (griechisch für frohe Botschaft, niedergeschrieben im Neuen Testament) und Muslime im Koran (arabisch für Rezitation). Vor diesem Hintergrund bewerten Vertreterinnen und Vertreter dieser Religionen beispielsweise das Zinsnehmen unterschiedlich, weshalb muslimische Banken sich an das Zinsverbot im Koran strikt halten. Das biblische Zinsverbot dage­

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0.3 Wissenschaftstheoretische Klarstellungen

gen ist durch die weichere Haltung heutiger jüdischer und christlicher Autoritäten für ihre Religionsangehörigen nicht mehr bindend. Zudem stehen die heiligen Schriften unterschiedlichen Interpre­ tationen offen, sodass die verschiedenen Konfessionen, im Chris­ tentum beispielsweise Protestanten und Katholiken, noch einmal unterschiedliche Anthropologien haben, also den Menschen unter­ schiedlich verstehen. Während beispielsweise Katholiken davon aus­ gehen, dass Menschen zwar immer vom Bösen verführt werden kön­ nen, aber sich doch mit Gottes Hilfe für den rechten Weg entscheiden können, ist nach der klassischen lutherischen Theologie der Mensch von Natur aus vollständig verdorben und kann nur im Vertrauen auf Gottes Gnade gerettet werden. Luthers Menschenbild ist demnach viel pessimistischer. In säkularen Weltanschauungen wird ebenfalls von unterschied­ lichen Menschenbildern ausgegangen. In der vorklassischen griechi­ schen Zeit war die Ethik von Grundhaltungen, altertümlich Tugenden genannt, geprägt, die damaligen Ehrenkodizes entsprachen. In der klassischen griechischen Philosophie, wie sie insbesondere Aristote­ les (384–322 v. Chr.) entwarf, ging es um Grundhaltungen, die not­ wendig waren, um glücklich zu werden. Denker in dieser Tradition betonten bis in die Zeiten von Machiavelli (1469–1527), dass zu die­ sem Glücklichsein aber immer auch die Fortuna gehörte. Dagegen verankerte die stoische Philosophie alles in einer Grundhaltung, die auch Unglück so ertragen ließ, dass ein tugendhafter Mensch immer glücklich zu nennen war. Im Christentum und Islam, die eng mit die­ ser Tradition verbunden sind, verbürgt Gott, dass der tugendhafte Mensch zum ewigen Seelenheil gelangt. Ein Bruch mit diesen Ethiken stellt die neuzeitliche Philosophie dar. Während beispielsweise für Hobbes (1588–1679) und die ihm folgende vertragstheoretische Tra­ dition der Mensch im Naturzustand dem Menschen ein Wolf ist, er also eigeninteressiert seinen eigenen Vorteil sucht, ohne dass dies getadelt wird, geht Rousseau (1712–1778) von einem Menschenbild aus, wonach der Mensch von Natur aus gut ist und erst durch Systeme korrumpiert wird. Nach Kant (1724–1804) und Rawls (1921–2002) steht der Mensch vor der Wahl, sich für das Gute oder Böse zu ent­ scheiden, sich als moralisches Subjekt aus praktischer Vernunft heraus für menschendienliche Regeln zu entscheiden oder eben aus bösem Willen sein Eigeninteresse zu verabsolutieren. Die Wirtschaftsethik ist je nach dem vorausgesetzten Menschen­ bild faktisch in eine Vielzahl unterschiedlicher wirtschaftsethischer

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0 Hinführung

Ansätze zerfallen, die eine Fülle sehr differenzierter Methodologien gebrauchen und teilweise in keinem Austausch miteinander stehen. So ist bezeichnend, wie selten bei uns eine wirtschaftsethische For­ schung rezipiert wird, die weder englisch- noch deutschsprachig ist, und wie schwierig sich selbst der Austausch zwischen praktischer Phi­ losophie mit wirtschaftsethischer Ausrichtung und einer Wirtschafts­ ethik in wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten gestaltet. Zudem werden oftmals von Theologinnen und Theologen publizierte wirt­ schaftsethische Überlegungen von philosophischer Seite ignoriert und selbst interkonfessionell und interreligiös wenig zur Kenntnis genommen. Dazu kommt, dass auch Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Recht einschlägige, gerade ethisch höchst bedeutsame Überlegungen publiziert haben, die ebenfalls verdienen, berücksichtigt zu werden. Auch dieses Buch, das einen einführenden Charakter hat, ist von derartigen Einschränkungen betroffen. Vier Personen, die gemeinsam verschiedene Disziplinen, nämlich Philosophie, Theologie, Betriebs­ wirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre sowie Politikwissenschaf­ ten repräsentieren, können selbst gemeinsam die entsprechende Literatur zu den einzelnen Themen kaum überblicken und den Dis­ kussionen folgen, zumal sich diese eben nicht nur auf die einschlägi­ gen wirtschaftsethischen Fachjournale beschränken. Die Beiträge in diesem Buch haben darum nicht den Anspruch, zu den einzelnen The­ menfeldern die bestehende Diskussion vollständig wiederzugeben. Vielmehr besteht das Anliegen darin, die jeweiligen systematisch bedeutsamen Fragestellungen herauszuarbeiten, die entsprechenden Konflikte zu analysieren und für diese, soweit dies überhaupt möglich ist, Lösungsangebote zu entwickeln. Wenn Leserinnen und Leser dadurch zum eigenen Weiterdenken Anregungen finden, hat das Buch seinen wesentlichen Zweck erfüllt.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Thales (624–544 v. Chr.), einer der sieben Weisen des antiken Grie­ chenlands, ist den meisten aus dem Mathematikunterricht durch sei­ nen berühmten Lehrsatz bekannt, wonach ein Dreieck rechtwinklig ist, wenn die Hypotenuse genau dem Durchmesser des Kreises ent­ spricht, während die beiden, zueinander rechtwinkligen Katheten durch den Halbkreis begrenzt werden. Mathematisch korrekt müsste man sagen: Die Scheitel aller rechten Winkel über einer Strecke AB liegen auf dem Kreis mit dem Durchmesser AB. Wer die Geschichte der abendländischen Philosophie studiert, lernt seine Theorie, dass das Wasser der Urstoff von allem sei, als erste vorsokratische Lehr­ meinung kennen. Dagegen wissen nur wenige von seiner unterneh­ merischen Leistung, von der Aristoteles (384–322 v. Chr.) in seiner Politik erzählt:4 Aufgrund seiner astronomischen Kenntnisse vermu­ tete Thales eine reiche Olivenernte im kommenden Jahr. Im Winter davor mietete er in Milet und Chios alle Ölpressen sehr günstig, die er dann nach der Ernte viel teurer weitervermieten konnte. Man könnte dies als klassisches kapitalistisches Vorgehen beschreiben, ähnlich einem heutigen Verhalten, Aktien zu erwerben, von denen eine Gewinnsteigerung erwartet wird. Dahinter könnte der Wunsch stehen, das Kapital zu vermehren, eine Motivation, die Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik als Pleonexia (griechisch für Mehrha­ benwollen), weil sie eine Form von Ungerechtigkeit darstelle, verur­ teilt.5 Doch nach Aristoteles steckte hinter dem Handeln von Thales nicht diese ungerechte Motivation, sondern das Anliegen nachzuwei­ sen, dass ein Philosoph, dem manche vorwerfen, eine brotlose Kunst zu betreiben, wenn er nur will, ein Vermögen machen kann. Obwohl seit Platon (428–348 v. Chr.) wirtschaftsethische The­ men in akademischer Philosophie und Theologie behandelt werden, 4 5

Vgl. Aristoteles (1957), 1259a. Vgl. Aristoteles (1894), 1129a32.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

hat sich eine eigenständige Disziplin der Wirtschaftsethik erst in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends entwickelt. Doch was ist unter »Wirtschaftsethik« genauer zu verstehen? Worin unterscheidet sie sich von Complianceregeln, vom Ethos ehr­ barer Kaufleute und moralischen Einstellungen von Unternehmerper­ sönlichkeiten und Mitarbeitenden in Unternehmen? Das folgende Fallbeispiel kann helfen, diese Unterschiede zu verstehen. Es bietet sich deshalb an, weil es systematisch höchst aufschlussreich und zugleich von höchster Aktualität ist. Seine unterschiedliche Bewer­ tung, sei diese rechtlich, sei diese aufgrund eines ungeschriebenen Berufsethos, sei diese aufgrund religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen, wird verdeutlichen, warum es mehrere wirtschafts­ ethische Positionen gibt.

1.1 Ein Fallbeispiel und seine unterschiedlichen Bewertungen 1.1.1 Der Dieselskandal Der VW-Konzern mit seinen zwölf Marken ist europaweit der größte Automobilproduzent und verkauft weltweit seit Jahren neben Toyota die meisten Fahrzeuge. Während Toyota seit den 90er Jahren des letz­ ten Jahrtausends als Vorreiter der Entwicklung von Hybridfahrzeugen angesehen wurde, machte sich VW insbesondere in den USA durch besonders effiziente Dieselmotoren einen Namen. Im September 2015 räumte die Volkswagen AG ein, dass sie über Jahre eine Software eingesetzt hatte, mit deren Hilfe sie nur auf dem Prüfstand die Abgasnormen einhielt.6 In der Folgezeit stellte sich bei Abgastests im Fahrbetrieb heraus, dass nicht nur Fahrzeuge des VW-Konzerns, sondern praktisch Fahr­ zeuge auch aller anderen Hersteller von Dieselfahrzeugen deutlich höhere Abgasmengen ausstießen. Die Abgasemissionen lagen dabei bei manchen Fahrzeugen anderer Hersteller sogar über denjenigen von Fahrzeugen der VW-Gruppe, wobei aber nur VW der Einsatz der sogenannten Defeat-Software nachzuweisen war. 6

Zur Geschichte des Dieselskandals vgl. Ewing (2017).

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1.1 Ein Fallbeispiel und seine unterschiedlichen Bewertungen

1.1.2 Die rechtliche Dimension Die US-amerikanische Umweltbehörde hatte im September 2015 eine »Notice of violation« an die Volkswagen Group of America gerichtet. In dieser wurde VW eine Verletzung des Clean Air Act vorgeworfen. Im Normalbetrieb sorgte die Software dafür, dass die Abgasreinigungsanlage in deutlich vermindertem Umfang lief, sodass die entsprechenden Fahrzeuge teilweise mehr als das Zehnfache der zulässigen Menge an Stickoxiden ausstießen. Im Folgemonat folgten Ermittlungen durch die Federal Trade Commission wegen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht, da VW irreführende Werbung geschal­ tet hatte. Das Unternehmen hatte aggressiv für diese Technologie unter dem Label »Clean-Diesel« geworben, da Dieselmotoren in der US-Bevölkerung das Image einer schmutzigen Form der Mobilität hatten. Berühmt und mittlerweile berüchtigt ist ein VW-Werbeclip7, in dem sich drei ältere Damen darüber streiten, wie dreckig der VW-Diesel sei, den sich eine der drei Damen gekauft hatte. Mit einem weißen Taschentuch, das diese an den Auspuff des VWs hält, dessen Motor läuft, scheint sie zu beweisen, dass keinerlei Partikel ausgeschieden werden. Aber nicht nur gegen die VW-Group, sondern auch gegen einzelne Manager wurde ermittelt. Der VW-Group ist es mit Hilfe von Strafzahlungen, großzügigen Abfindungen von Käufern der Fahrzeuge und der Bereitschaft, sich finanziell im Umfang von zwei Milliarden Dollar am Ausbau eines Ladesäulennetzwerks zu beteiligen, gelungen, die Verfahren weitgehend zu einem Ende zu bringen. Dagegen müssen einzelne Manager bis heute damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, wenn sie amerikanischen Boden betreten. So erging es beispielsweise Oliver Schmidt, der im Dezember 2017 wegen Verschwörung zum Betrug und Verstößen gegen Umweltge­ setze zu einer siebenjährigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von fast einer halben Million Euro verurteilt wurde. Auch in anderen Staaten ermittelten Staatsanwälte, freilich nicht nur gegen die Volkswagen AG, sondern auch gegen andere Konzerne, in Frankreich z. B. gegen Renault. Erst infolge der Aufdeckung des Fehlverhaltens ist es mittler­ weile in den USA und der EU vorgeschrieben, den Ausstoß von Abgasen nicht mehr nur auf dem Prüfstand, sondern im Realbetrieb Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=pDI0jFZRnLU (zuletzt eingese­ hen: 06.04.2022).

7

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

zu messen. Fiat ist als Konsequenz aus der Entwicklung von Diesel­ fahrzeugen komplett ausgestiegen, da es die geforderten Werte für Neufahrzeuge im Realbetrieb nicht für machbar hält, ohne die eigenen Preisgrenzen zu sprengen. Wie aber ist dieser Abgasskandal ethisch zu bewerten, bei dem die Volkswagen AG und andere Unternehmen, ihre Kunden mit falschen Angaben täuschten, den Schutz von Menschen und Umwelt verletzten sowie alle Schlupflöcher ausnutzten, die ihnen die gelten­ den Regelungen ließen?

1.1.3 Unterschiedliche wirtschaftsethische Bewertungen Für die Medien sind die Schuldigen ausgemacht. Es sind die gierigen Manager, die skrupellos den Gewinn ihrer Unternehmen und damit ihren eigenen Gewinn maximieren wollten. Sie haben aus purem Eigeninteresse die Gesundheit von Menschen aufs Spiel gesetzt und die Umwelt geschädigt. Wirtschaftsethiken, die auf das Verhalten der Einzelnen abzielen, schlagen in die gleiche Kerbe und verdammen den Egoismus der handelnden Personen. Oftmals betonen religiöse und utilitaristische Ethiken diesen Aspekt und appellieren positiv an den Einzelnen, sich für das Wohl aller einzusetzen. Diese Bewertung ist jedoch sehr einseitig, weil sie sich nur auf die Akteure auf der Handlungsebene fokussiert. Sie übersieht nämlich die Schuld eben dieser Medien selbst, vernachlässigt also die Diskursebene. Hatten diese doch über Jahre bei ihren eigenen Fahrzeugtests – jede größere Tageszeitung hat mindestens einmal die Woche eine Mobilitätsru­ brik, in der ein Fahrzeug nach einer Probefahrt bewertet wird – darauf verzichtet, die Werksangaben zu den Abgasen zu überprüfen. Manche Tests waren (und sind bis heute) so schlampig, dass nicht einmal der angegebene Verbrauch auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft wird, wonach sich der CO2-Ausstoß bemisst. Damit ist die vierte Gewalt, wie die Medien oft genannt werden, gerade ihrer kritischen Funk­ tion nicht nachgekommen, sondern hat im Gegenteil das Spiel der Unternehmen mitgespielt.8 Bis heute bekommen nicht nur private, 8 Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass einige Medien 2014 erste Zweifel an den Herstellerangaben veröffentlichten, aber auch dies ist im Licht der davor seit Jahren laufenden Betrügereien sehr spät gewesen und wurde nicht wirklich sorgfältig wissenschaftlich unterlegt.

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1.1 Ein Fallbeispiel und seine unterschiedlichen Bewertungen

sondern auch die öffentlich-rechtlichen Medien milliardenschwere Werbegelder aus der Automobilindustrie. Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum sich der öffentliche Diskurs bis zur Aufdeckung des Skandals kaum damit beschäftigt hat, ob die auf dem Papier geforderten Grenzwerte in der Praxis überhaupt mit der verfügbaren Technik einzuhalten waren und bis heute Testberichte oftmals sehr beschönigend sind. Als Konsequenz gab es keinen »Druck« auf die Politik, die von ihr aufgestellten Regeln zur Eindämmung von Abgasen auch hinreichend zu überprüfen. So wird verständlich, warum das Kraftfahrzeugbun­ desamt die Herstellerangaben nicht in einem Realtest überprüfte. Es war, so scheint es, weder politisch gewollt noch forderte dies die Öffentlichkeit. Das damalige Argument gegen Realtests, dass die Bedingungen zwischen einzelnen Fahrzeugen notwendigerweise aufgrund von Wetter, unterschiedlichen Fahrenden usw. nicht iden­ tisch sein können, zeigt seine Widerlegbarkeit allein schon durch die Tatsache, dass es mittlerweile möglich gemacht wurde. Dass aber auch niemand von den Herstellern das Argument gegen Realtests in Frage stellte, also der Wettbewerb in dieser Hinsicht unter Konkurrenten versagte, legt die Vermutung nahe, dass es hier ein »kooperatives Spiel« zwischen den Herstellern zum Schaden der Allgemeinheit gegeben hat. Wirtschaftsethiken, bei denen die Diskursebene eine zentrale Rolle spielt, werden hier das Versagen beleuchten. Sie werden einfordern, Diskurse mehr und mehr der Einflussnahme von macht­ vollen Einzelnen, Gruppen (hier den Herstellern) und sogar inter­ essierten Nationen zu entziehen, damit in einem herrschaftsfreien Diskurs von den Betroffenen die bestmöglichen Regelungsvorschläge gefunden werden. Diese sind anschließend auf der Regelebene zu implementieren. Derartige Wirtschaftsethiken gehen von einem sehr optimistischen Menschenbild aus, wonach Menschen aufgrund ihrer Vernunft bereit sind, miteinander herrschaftsfrei die bestmöglichen Lösungen zu finden. Dagegen werden Wirtschaftsethiken, die die Regelebene als systematischen Ort der Moral identifizieren, insbesondere die Regel­ setzung der Politik kritisieren. Sie gehen davon aus, dass Menschen eigeninteressiert sein dürfen und werden verstehen, warum sich alle Hersteller an diesem »kooperativen Spiel« aus Eigeninteresse zum Schaden der Allgemeinheit beteiligt haben. Dieses Eigeninteresse hätte durch entsprechende Regeln eingehegt werden müssen, sodass es auf diese Weise gemeinschaftsdienlich wird. Diejenigen, die für

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

die Regelsetzung die Hauptverantwortung tragen, werden sich fragen lassen müssen, wie es zu rechtfertigen ist, dass mittlerweile zwei ehe­ malige Verkehrsminister den Lobbyverband der Automobilindustrie, nämlich den Verband der Automobilindustrie e. V., als Präsidenten geleitet haben und auch die jetzige Präsidentin dieses Verbands als ehemalige Staatsministerin im Bundeskanzleramt als politisch bestens vernetzt gelten kann. Jedenfalls zeigen die entsprechenden Regelungen und das Versagen beim Durchsetzen der mit den Rege­ lungen beabsichtigten Mitwelt- und Umweltziele, also der Minderung von Schadstoffemissionen wie Stickoxiden und die Reduzierung des Ausstoßes des Treibhausgases Kohlendioxid, welche Macht diejeni­ gen besaßen, denen andere Ziele wichtiger waren. Anders formuliert: Es gab auch ein wesentliches Versagen auf der Regelebene. Wir werden im Folgenden ausführlich den Zusammenhang der drei Ebenen behandeln und unterschiedliche Wirtschaftsethiken zu verorten versuchen. Unser eigener Ansatz, das sei hier bereits vorweggenommen, wird holistisch, also ganzheitlich (griechisch: to holon = das Ganze, die Gesamtheit), alle drei Ebenen in ihrer Bedeu­ tung für ein wertorientiertes Wirtschaften berücksichtigen.

1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht« Die unterschiedliche ethische Bewertung eines in der Sache klaren Falls, nämlich eines Regelbruchs mit schädlichen Konsequenzen für die Mit- und Umwelt, zeigt: Jede Bewertung ethischer Art ist immer eingewoben in ein Netz von Überzeugungen. Das Zentrum dieses Netzes bilden dabei fundamentale Einstellungen und Vor­ stellungsmuster, die wiederum, wenn mehrheitsfähig, in rechtliche Bestimmungen und entsprechende Complianceregeln Eingang gefun­ den haben.9 Wenn also bestimmte ethische Positionen und damit verbundene Vorstellungen von moralischen Werten auf unterschiedlichen welt­ anschaulichen Überzeugungen beruhen, in unserem Fall insbeson­ dere auf divergierenden Menschenbildern und Vorstellungen einer wohlgeordneten Gesellschaft, so ist es selbstverständlich, dass der Dieselskandal nicht nur auf eine einzige Weise bewertet wird. 9

Die folgenden Abschnitte sind teilweise identisch mit Knoepffler (2021a), 27–41.

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«

Bevor wir die für die deutschsprachige Diskussion wesentlichen, unterschiedlichen wirtschaftsethischen Ansätze behandeln, stellt sich jedoch noch zuvor die Frage, was eigentlich unter Ethik zu verstehen ist und wie sich die Begriffe »Ethik«, »Moral« und »Recht« mit den damit verbundenen Begriffen »Ethos« und »Compliance« unterschei­ den. Der Philosoph, Universalgelehrte und Arzt Aristoteles (384–322 v. Chr.) prägte als Erster in seinem Buch Ethika Nicomacheia, der Ethik für seinen Sohn Nikomachos, den Begriff »Ethik« (griechisch: ethos = Sitte, Gewohnheit). Er verstand dabei »Ethik« als Teil der politischen Wissenschaft, die besonders die Fragen nach dem moralisch Guten und dem Rechten thematisiert. Heute wird der Begriff »Ethik« in vielfältiger Weise gebraucht, oftmals synonym mit dem Begriff der »gängigen moralischen Über­ zeugungen« (lateinisch: mos = Sitte, Gewohnheit). Dieser Sprach­ gebrauch findet sich in den Feuilletons vieler Zeitungen. »Mora­ lisch« und sein Synonym »ethisch« bezeichnen dann das »sittlich Gute«. Die Gegenbegriffe sind »unmoralisch« bzw. »unethisch«. In diesem Sprachgebrauch ist das Unmoralische bzw. Unethische das sittlich Schlechte. In der gegenwärtigen akademischen philosophischen und theo­ logischen Ethikdiskussion hat sich im Unterschied hierzu weitgehend durchgesetzt, »Ethik« als eine Fachdisziplin zu verstehen, die, je nachdem ob es sich um philosophische oder theologische Ethik han­ delt, auch als »Moralphilosophie« bzw. »Moraltheologie« bezeichnet wird. Sie thematisiert die Sprache der Moral, rechtfertigt ethische Normen und entwickelt konsistente ethische Theorien. Davon zu unterscheiden ist die Moral, womit die von einer Gesellschaft als gut anerkannten Normen, Ideale, Werte und die damit verbundenen Einstellungen gemeint sind. Im weitesten Sinn kann man hier von Moral als einer gesellschaftlichen »Konvention« (lateinisch: conve­ nire = übereinkommen) sprechen. Der Einzelne ist dann moralisch, wenn seine persönliche Einstellung mit dieser gesellschaftlichen Konvention übereinstimmt. Ein Spezialfall der Moral ist das Ethos, das beispielsweise im Ethos des ehrbaren Kaufmanns Normen und Wertvorstellungen einer bestimmten Berufsgruppe enthält. Davon zu unterscheiden ist das Recht, das, wenn es als positives Recht Gesetz wird, verbindliche Normen aufstellt. Meist stellen diese Gesetze gesellschaftliche Wert- und Normkompromisse dar. Etwas verein­ facht gesprochen: Das Recht ist in vielen Fällen die kodifizierte Moral

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

bestimmter Gesellschaften. Dabei »hinkt« das Recht in dem Sinn manchmal »hinterher«, dass die Gesellschaft in ihren moralischen Vorstellungen oftmals bereits neue Einsichten aufgenommen hat und für richtig hält, während die Gesetze noch die Vorstellungen vergan­ gener Zeiten widerspiegeln. So sah das Bürgerliche Gesetzbuch noch bis in die fünfziger Jahre in der alten Bundesrepublik vor, dass der Ehe­ mann alle wichtigen finanziellen Entscheidungen treffen und sogar für seine Frau einen Arbeitsvertrag kündigen konnte. Dazu kommt noch eine weitere Differenz. In bestimmten Fällen widerspricht eine Rechtsbestimmung eines Staats der Regelung eines anderen Staats und dennoch ist dieser Unterschied nicht ethisch begründet. So ist es moralisch unerheblich, ob es ein Rechts- (Deutschland) oder ein Linksfahrgebot (Japan) gibt. Wichtig (und moralisch bedeutsam) ist allein, dass es zum Schutz der Verkehrsteilnehmer derartige Regelun­ gen gibt. Darum ist auch die Compliance mit diesen Regeln von einer großen Bedeutung, also die Regeltreue, da ohne diese beispielsweise eine sichere Teilnahme im Verkehr, um beim gerade genannten Bei­ spiel zu bleiben, nicht gewährleistet ist. In Unternehmen gehört zur Compliance dabei nicht nur die Regeltreue gegenüber den geltenden Gesetzen, sondern auch gegenüber den jeweiligen Unternehmensleit­ linien bzw. internen Regelungen. Damit lassen sich die fünf Begriffe in folgender Weise voneinan­ der abgrenzen:

Ethik

Moral

Ethos

Recht

Compliance

Akademische Disziplin

gesellschaftliche „Konvention“ bzw. Normen, Ideale und Werte

gruppenspezifische „Konvention“

verbindliche Normen

Regeltreue von Unternehmen

Reflexionsarbeit zur Klärung von moralischen Begriffen, Erarbeitung von Normen usw.

gesellschaftliche und persönliche Wertvorstellungen und Normen

gruppenspezifische Wertvorstellungen und Normen

Wert- und Normkompromisse, oft zu Gesetzen geworden

unternehmerische Umsetzung von Wert- und Normkompromissen

Abbildung 2: Ethik, Moral, Ethos, Recht, Compliance

Diese Bestimmungen von »Ethik«, »Moral«, »Ethos«, »Recht« und »Compliance« sind nicht unumstritten. Für einige Philosophen in der Tradition sprachanalytischer Ethik (griechisch: analysis = Auflö­

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«

sung) kann »Ethik« als Wissenschaftsdisziplin nichts anderes als eine Begriffsklärung der Sprache der Moral sein. Ethik, so verstan­ den, leistet keine Normenbegründung und Normenvermittlung. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Reflexion ethischer Begriffe, Krite­ rien, Normen oder Handlungsprinzipien, um diese in ihrer Bedeutung zu analysieren und damit zu klären. Sie ist also strikt nicht-normativ. Dahinter kann die Überzeugung stehen, Normen und Werte entzö­ gen sich ganz prinzipiell wissenschaftlicher Reflexion, weil ethische Aussagen nicht verifiziert oder falsifiziert werden können. Allerdings kann diese Tradition mit ihrem eigenen Ansatz nicht mehr begründen, warum sie Wissenschaft auf die Kenntnis von verifizierbaren Fakten reduziert, denn genau diese Annahme selbst ist nicht mehr verioder falsifizierbar. Es ist auch möglich, eine normative Ethik als Wissenschaftsdis­ ziplin abzulehnen, wenn man davon ausgeht, dass alle moralischen Einstellungen ähnlich zu Geschmacksempfindungen nicht kognitiv (lateinisch: cognoscere = (vernunftmäßig) erkennen) sind. Der Preis einer solchen Konzeption ist jedoch hoch. Die Kriegsbegeisterung in allen europäischen Nationen zu Beginn des Ersten Weltkriegs würde, da allgemein geteilt, diesen Krieg moralisch »rechtfertigen«. Dieser Non-Kognitivismus lässt sich darum praktisch zurückweisen, es sei denn, man hielte eine allgemeine Kriegsbegeisterung für ein hinreichendes Kriterium, einen Krieg zu führen. Eine weitere Position, die nicht weiter berücksichtigt werden soll, ist der ethische Relativismus in seinen unterschiedlichen Spiel­ arten. Der ethische Relativismus vertritt die Überzeugung, dass es keine universell gültigen ethischen Standards und Prinzipien gibt: »Alle gehaltvollen ethischen Werte sind [...] Kulturwerte. Kulturwerte erkennt man daran, dass ihre soziale Akzeptanz durch gesellschaft­ liche Kräfteverhältnisse zustande kommt. [...] Von der Ethik zu ent­ wickeln wäre, statt illusorischer Universalmaximen, eine Theorie der Kulturwerte.«10 Der ethische Relativismus ist dabei nicht mit der Annahme zu verwechseln, dass viele unserer speziellen Normen kulturabhängig sind und nur in einer bestimmten historischen Situation sowie für einen begrenzten Anwendungsbereich Gültigkeit besitzen. Dies ist unbestritten. Der ethische Relativismus ist viel radikaler: Alle Nor­ 10

Vgl. Schurz (1995), 175.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

men sind danach kulturabhängig. Es gibt keine einzige Norm, die immer und überall gilt. Der ethische Relativismus ist auch nicht mit dem allgemeinen Relativismus zu verwechseln. Die These des allgemeinen Relativis­ mus, es gebe keine absoluten Wahrheiten, hätte, falls sie zutreffen würde, zur Folge, dass man auch für sie selbst keinen absoluten Wahrheitsanspruch geltend machen könnte. Gegen einen derartigen Einwand ist ein ethischer Relativismus immun, da er nur die einge­ schränkte Behauptung geltend macht: Es gibt keine absolut gültigen ethischen Normen. Diese Aussage bezieht sich auf normative Aus­ sagen, ist selbst aber deskriptiv, sodass sie nicht unter ihr eigenes Verdikt fällt. Allerdings vertreten manche einen ethischen Relativismus, der nicht konsistent ist: »Moralisch« bedeutet dann dasselbe wie »mora­ lisch für eine bestimmte Gesellschaft« und zugleich fordern sie, dass gegenüber den unterschiedlichen kulturellen Moralnormen Toleranz zu üben ist. Diese allgemeine Forderung lässt sich vom relativisti­ schen Ansatz nicht begründen. Sie könnte wiederum nur für eine bestimmte Gesellschaft gelten. Folgendes Beispiel kann dies verdeut­ lichen: In Deutschland ist es Banken erlaubt, Zinsen zu nehmen, im Iran dagegen untersagt. Nach dem relativistischen Ansatz wäre es also im Iran auch moralisch unzulässig, Zinsen zu nehmen, weil in dieser Kultur die Gesetze den moralischen Konsens der betreffenden Gesellschaft ausdrücken. Dagegen wäre das Zinsnehmen in unserer Gesellschaft moralisch erlaubt. Aus Toleranzgründen seien beide Positionen aber aus ethischer Sicht zu akzeptieren. Diese Toleranzfor­ derung jedoch stellt eine allgemeine, nicht relative Forderung auf, die der ethische Relativismus als System nicht ermöglicht.11 Selbst wenn man diesen Fehler vermeidet, also auf die Toleranz­ überlegung verzichtet, bekommt man ein gravierendes Problem, das sich in einem Praxistest zeigt: Nehmen wir an, die zitierte These »Alle gehaltvollen ethischen Werte sind Kulturwerte. Kulturwerte erkennt man daran, dass ihre soziale Akzeptanz durch gesellschaftli­ che Kräfteverhältnisse zustande kommt«, wäre korrekt; dann ließe sich auf der Grundlage dieser These die Behauptung aufstellen: Frauen weitgehend von bestimmten Bildungsmöglichkeiten auszuschließen sowie körperliche Strafen einschließlich Verstümmelungen und der Todesstrafe sind in einer Gesellschaft, in der die Scharia gilt, durch 11

Vgl. Williams (2012), 20f.

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«

gesellschaftliche Kräfteverhältnisse sozial akzeptiert und deshalb im Sinne eines derartigen ethischen Relativismus in einer solchen Gesellschaft moralisch geboten. In gewisser Weise sind evolutive Ethiken eine Spielart des ethi­ schen Relativismus. Sie gehen davon aus, dass wir unsere Normen und Werte im Rahmen unserer Angepasstheit an die gegebenen Umstände entwickelt haben und weiterentwickeln. Das Ziel besteht darin, Leben bzw. Überleben der Art zu gewährleisten. Darum sind Werte und Normen wandelbar, je nachdem was die Lebensverhält­ nisse erfordern. Das Individuum spielt dabei eine zu vernachlässi­ gende Rolle, da es der Evolution nach Meinung der Hauptvertreter dieser Richtung um das Überleben der jeweiligen Art geht. Für diese Spielart des ethischen Relativismus gilt darum ebenfalls, dass sie äußerst problematische Konsequenzen hat, da grundlegende Rechte des Individuums immer relativiert sind. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich moralische Wertungen zwi­ schen Personen, Kulturen, Gruppierungen usw. nicht unterscheiden oder evolutive Einflüsse völlig unwichtig wären, sondern es geht um eine Ablehnung der These, alle Werturteile seien nur für die jeweiligen »Gläubigen« nachvollziehbar, sodass wir schließlich doch wieder bei einem kulturellen Relativismus landen würden. Ein Grund hierfür liegt in der menschlichen Fähigkeit, sich in andere Kulturen in einem gewissen Maße hineinzudenken.12 Darüber hinaus haben wir Menschen zumindest den Anspruch, uns im rational motivierten Dialog auf gemeinsame Werte zu verständigen.13 Dies ist in einer zusammenwachsenden Welt heute nötiger denn je. Jede Entscheidung ist auch eine Selbstdarstellung der Person, die diese Entscheidung trifft, und damit Ausdruck ihrer Persönlich­ keit. Wenn sie wahrhaftig ist und ihr Leben nicht fremdbestimmen lässt, wird jede ihrer Entscheidungen Ausdruck ihrer Lebenswahr­ heit, fachsprachlich ihrer Fundamentaloption sein. Auch die eigene Lebensgeschichte dient beispielsweise als ein Interpretationsrahmen. 12 Vgl. Isaiah Berlin (1988): On the Pursuit of the Ideal, hier zitiert nach Putnam (1994; eigene Übersetzung): »Gemeinschaften mögen einander in vielerlei Hinsicht ähnlich sein, […]; wonach sie streben, was sie fürchten und was sie verehren ist selten ähnlich. Diese Sichtweise wurde kultureller oder moralischer Relativismus genannt. Das ist kein Relativismus. Mitglieder einer Kultur können […] die Werte, Ideale und Lebensformen einer anderen Kultur oder Gesellschaft, selbst aus anderen Zeiten und Orten, verstehen.« (Pragmatism and Relativism, 192). 13 Jürgen Habermas hat sein Lebenswerk diesem Anliegen gewidmet.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Wer aus einer Unternehmerfamilie kommt, wird aufgrund der eige­ nen Lebensgeschichte staatliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben anders bewerten als jemand, der aufgrund seiner Lebensumstände auf die Solidarität des Gemeinwesens angewiesen ist. Wichtig ist für eine möglichst gute Entscheidung in Konfliktsituationen, sich diese eigenen Voraussetzungen bewusst zu machen, um in einer gewis­ sen Distanz zur eigenen Lebensgeschichte die Entscheidungsfindung möglichst objektiv anzugehen. Jede Person steht also in einer ursprünglichen Weise selbst in der Verantwortung. Sie kann sich nicht ausschließlich auf eine bestehende rechtliche Norm berufen, wenn sie nicht zu einem Legalisten werden will. Gesetze können nicht von der Letztverantwortung entbinden. Gerade die unzureichenden Regelungen zum Schutz von Mit- und Umwelt im Rahmen des Dieselskandals, zumindest im Bereich der EU, sind ein klarer Hinweis dafür, dass der Einzelne nicht von seiner persönlichen Verantwortung entbunden werden kann. Die eigene Perspektivenhaftigkeit, die Eingebundenheit jedes einzelnen Entscheidenden in seine Mitwelt und Kultur ist zwar eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende Bedingung für eine Entscheidung. Aufgrund der menschlichen Fähigkeit, dem besseren Argument mit guten Gründen zu folgen14, soll deshalb davon aus­ gegangen werden, dass es trotz unterschiedlicher Perspektiven allge­ meingültige moralische Prinzipien geben kann, die für die meisten Religionen und Weltanschauungen zumindest in gewissen Grenzen anschlussfähig sind. Auf diese Weise lässt sich eine Art gemeinsame »Grundperspektive« für ethische Bewertungen zumindest bestimm­ ter Konfliktfälle finden. Diese grundsätzliche Voraussetzung allgemeingültiger morali­ scher Prinzipien darf allerdings nicht so verstanden werden, als ob damit geleugnet würde, dass wir in einer pluralen Welt leben. Die Annahme von einigen allgemeingültigen moralischen Prinzipien ist also nicht mit einer philosophischen oder theologischen Letzt­ begründung zu verwechseln, wie diese Religionen oder bestimmte Weltanschauungen anbieten. Doch sollten selbst Vertreterinnen und Vertreter, die sich zu einer derartigen Letztbegründung bekennen, in einer pluralen Welt bemüht sein, ihre handlungsleitenden Kriterien in einer Weise kognitiv zu vermitteln, dass auch Nicht-Vertreter der entsprechenden Glaubensrichtungen sich mit ihren Argumenten aus­ 14

Vgl. Nida-Rümelin (2020), 76–86.

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«

einandersetzen und diesen Argumenten möglicherweise zustimmen können, ohne die dahinterstehende Letztbegründung zu teilen. In der akademischen Ethik werden üblicherweise zwei große Klassen von Ethiken unterschieden, nämlich deontologische (to deon = das, was man tun muss) und teleologische (griechisch: telos = Ziel) Ethiken. Max Weber (1864–1920) klassifizierte deontologische Ansätze als Gesinnungsethiken.15 Diese Klasse von Ethiken achtet auch auf die innere Qualität von Handlungen, unabhängig von den Folgen, und auf die Gesinnung, die zu diesen Handlungen führt, in den Worten Kants: den guten Willen. Kant (1724–1804) ist der bekannteste säkulare Vertreter einer deontologischen Ethik. Alle Normen haben nach Kant dem von ihm »kategorisch« genannten Imperativ zu folgen, einem Imperativ, der unabhängig von Raum und Zeit für alle mit Vernunft begabten Wesen unbedingt gilt, nämlich so zu handeln, dass die Richtschnur der Handlung ein allgemeines, ausnahmslos geltendes Gesetz ist. So ist es nach Kant ausnahmslos verboten, zu lügen oder sich das Leben zu nehmen, also ganz unab­ hängig von allen Folgen, allein deshalb, weil es kein allgemeines Gesetz geben dürfte, das es erlauben würde, zu lügen oder sich das Leben zu nehmen. Eine Handlung ist also dann moralisch gut, wenn sie diesen Imperativ erfüllt und aus gutem Willen, also aus reiner Pflicht vollzogen wird. Eine pflichtgemäße Handlung entspricht die­ sem Imperativ. Wenn sie jedoch nicht aus Pflicht, sondern aus anderen Motiven vollzogen wurde, ist sie zwar nicht unmoralisch, aber mora­ lisch wertlos. Wenn ein Bäcker oder Brauer hervorragende Produkte herstellt, einfach weil er das als seine Aufgabe ansieht, also aus reinem gutem Willen, so handelt diese Person nach Kant moralisch. Wenn eine solche Person dagegen diese Produkte aus anderen Motiven herstellt, beispielsweise um ihren finanziellen Gewinn zu steigern, so hat diese pflichtgemäße Handlung keine persönlich zurechenbare moralische Qualität. Theologische Ethiken gehören ebenfalls zur Gruppe deontologischer ethischer Ansätze, denn göttliche Gebote gelten unabhängig von ihren Folgen. Der Mensch hat sich der göttli­ chen Offenbarung zu öffnen. Viele religiöse moralische Vorschriften werden dabei zugleich naturrechtlich begründet. Wir entdecken in der sorgfältigen Analyse unserer Menschennatur die ihr entsprechenden Normen und Werte, die nach religiöser Deutung der Ewige/Gott/ Allah in diese Natur hineingelegt hat. 15

Vgl. Weber (1919).

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Weber unterscheidet von dieser Klasse deontologischer Ethiken die von ihm »Verantwortungsethiken« genannten ethischen Ansätze, denen es um die Folgen einer Handlung geht. Webers Begrifflichkeit ist insofern irreführend, als auch diejenigen Ethiken, die er als Gesin­ nungsethiken bezeichnet, beanspruchen, verantwortliches Handeln einzufordern. Deshalb hat sich international durchgesetzt, teleologi­ sche, d. h. folgenorientierte Ansätze (Verantwortung für die Folgen einer Handlung) von deontologischen, d. h. gesinnungsorientierten Ansätzen (Verantwortung für den eigenen guten Willen, der sich auch daran bemisst, ob bestimmte Handlungen in sich schlecht sind), zu unterscheiden. Ein Beispiel für in sich schlechte Handlungen im Verständnis bestimmter deontologischer Ethiken wären das Foltern von Menschen, selbst wenn dadurch ein entführtes Kind gerettet werden könnte, oder auch die Versklavung von Menschen, selbst wenn dadurch insgesamt mehr Menschen profitieren könnten. In der Wirtschaftsethik verurteilt beispielsweise die christliche Natur­ rechtsethik ausdrücklich eine Form des Wirtschaftens als intrinsisch schlecht, die sich ausschließlich auf die Kräfte des Marktes verlässt und damit keine Rücksicht auf Menschenwürde und Menschenrechte nimmt. Dies wäre auch im Blick auf die Verantwortlichen für den Dieselskandal formulierbar, da die betreffenden Personen billigend die gesundheitliche Schädigung von Menschen in Kauf genommen haben. Wie gesagt, wären davon nicht nur Verantwortliche der Volks­ wagengroup gemeint, da auch die anderen Hersteller ähnlich hohe Ausstoßmengen bei ihren Fahrzeugen im Realbetrieb hatten. Ihnen war nur der Einsatz einer Defeat-Software, also ein klarer Regelbruch, nicht nachzuweisen. Der bekannteste teleologische Ansatz ist der Utilitarismus (latei­ nisch: utilis = nützlich), dessen Grundprinzip lautet: Maximiere den Nutzen der größtmöglichen Zahl. Handlungen (Aktutilitarismus) bzw. Regeln (Regelutilitarismus) sollen also dem größtmöglichen Nutzen dienen. Mittlerweile haben sich eine Fülle verschiedener For­ men des Utilitarismus entwickelt. Eine utilitaristische Wirtschafts­ ethik, wie sie sich aus Peter Singers Ansatz herleiten lässt, würde jede Handlung verurteilen, bei der nicht das größte Wohl der größten Zahl im Blick ist, also ebenfalls die Handlungen aller Verantwortlichen im Dieselskandal. Aber auch die aus der aristotelischen Tradition kommende eudai­ monistische Ethik ist folgenorientiert. Ihr geht es jedoch nicht um eine Nutzenmaximierung, sondern darum, dass der Einzelne ein

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1.2 Ethik in Differenz zu »Moral«, »Ethos«, »Compliance« und »Recht«

gutes Leben findet, ein Leben, das »unter einem guten Stern steht« (griechisch: eu = gut; daimon = Gott, Geistwesen). Eine wesentliche Aufgabe besteht dabei nach griechischer Überzeugung darin, gute Gewohnheiten, altertümlich Tugenden genannt, auszubilden. An die­ ser Stelle würden Wirtschaftsethiken ansetzen, welche beispielsweise die Bedeutung eines Managereids betonen, der ein Ethos beinhaltet, das sich an lebensdienlichen Einstellungen orientiert. Darüber hinaus gibt es ethische Ansätze, die sich unter dem Begriff der Vertragstheorien zusammenfassen lassen. Im Unterschied zur klassischen aristotelischen Tugendethik werden Vertragstheorien zwar ebenfalls geschlossen, um ein gelingendes Zusammenleben und dem Einzelnen ein gutes Leben zu ermöglichen, aber die Mit­ glieder einer Vertragsgemeinschaft entwickeln diese Normen und Werte selbst. Es gibt in diesem Sinn kein universelles Telos wie beispielsweise die Glücksmaximierung der größtmöglichen Zahl. Vielmehr geht es darum, sich gegenseitig zu ermöglichen, handeln zu können, um die Ziele zu erreichen, die der Einzelne anstrebt. Insofern sind Vertragstheorien pragmatisch ausgerichtet (griechisch: pragma = Handlung, Sachverhalt, Umstände). Sie richten sich nach dem Sachverhalt, den konkreten Umständen. Bei Vertragstheorien in der hobbesschen Tradition (Hobbes 1588–1679) geht es darum, von einem Naturzustand auszugehen, in dem alle nur ihr Eigeninteresse im Sinn haben und zum Schutz des eigenen Lebens bereit sind, Verträge zu schließen. Davon zu unterscheiden sind Vertragstheore­ tiker wie Rawls (1921–2002): Ausgehend von einem »Schleier des Nichtwissens«, aufgrund dessen vernünftige Personen nicht wissen, welchen Platz sie später in der Gesellschaft einnehmen werden, einigen sich diese auf grundlegende Gerechtigkeitsgrundsätze.16 Von den teleologischen und vertragstheoretischen Ansätzen sind deontologische Ansätze zu unterscheiden. Diese können, wie wir oben kurz angedeutet haben, religiös sein. Sie sind dabei mit einer Betonung des Mitleids verbunden, die ihre Ursprünge bereits in der Hebräischen Bibel beim Propheten Amos im achten vorchristlichen Jahrhundert hat, der die wirtschaftlichen Missstände seiner Zeit anprangerte, sowie in der neutestamentlichen Tradition, die sich beispielhaft in der Geschichte vom barmherzigen Samariter findet.

16 Vgl. die ausführliche Darstellung von Rawls (1999) im Zusammenhang mit dem Ansatz von Ulrich.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Alternativ dazu haben sich auch weitere Ethiken entwickelt wie beispielsweise die Kasuistik (lateinisch: casus = Einzelfall), die von den Einzelfällen her moralische Bewertungen versucht, aber damit ohne übergeordneten ethischen Bezugsrahmen willkürlich bleibt17 oder auch der Intuitionismus (lateinisch: intueri = schauen), der über­ zeugt ist, man müsse von gewissen selbstevidenten moralischen Prin­ zipien ausgehen. Klassische Vertreter einer derartigen Ethik waren Moore und Ross. Der Intuitionismus hat jedoch damit zu kämpfen, dass intuitiv von praktisch fast allen Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft getragene Einsichten sich zu einem späteren Zeitpunkt als nicht mehr evident erweisen. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Bewertung der Homosexualität, die Vertreter dieses Ethiktyps Anfang des 20. Jahrhunderts als »intuitiv« verwerflich ablehnten. Im Folgenden bleiben die letztgenannten beiden alternativen Theorien darum unberücksichtigt. Utilitaristisch, z. B. Bentham Teleologische Ansätze

Evolutiv, z. B. Wilson Eudaimonistisch, z. B. Aristoteles

Kognitivistische Ansätze

Naturzustand, z. B. Hobbes Vertragstheorien „Schleier des Nichtwissens“, z. B. Rawls Deontologische Ansätze

Formale Pflichtethiken, z. B. Kant Naturrechtsethiken/ religiöse Ethiken/Mitleidsethiken

Abbildung 3: Ethische Theorien (vereinfacht)

Gemeinsam ist allen diesen ethischen Ansätzen, dass sie kognitiv handlungsleitende Kriterien, Werte, Normen und Handlungsprinzi­ pien zu entdecken bzw. zu entwickeln versuchen. Ob es sich dabei um Entdeckungen von Prinzipien handelt, die in der menschlichen Vernunftnatur liegen wie bei religiösen Ethiken oder Kant, oder um Entwicklungen, entscheidet sich vor dem Hintergrund der zugrunde liegenden Theorie. Insbesondere Vertragstheorien legen aber auch einen besonderen Wert auf ordnungsethische Überlegungen, was, wie

Vgl. die jesuitische Kasuistik des 17. Jahrhunderts, die scharf von Pascal kritisiert und von Papst Innozenz XI. 1679 verurteilt wurde.

17

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1.3 Grundlegende Kriterien und Methoden

wir zeigen werden, gerade für eine Wirtschaftsethik unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen von zentraler Bedeutung ist.

1.3 Grundlegende Kriterien und Methoden Allen wissenschaftlichen Ethiken ist gemeinsam, dass sie das Konsistenzkriterium berücksichtigen. Wer ein moralisches Urteil hinsichtlich einer bestimmten Situation trifft, muss, um konsistent zu sein, das gleiche Urteil hinsichtlich einer Situation fällen, die der ersten in allen nicht-moralischen Einzelheiten gleicht. Wenn beispielsweise eine Person in einer bestimmten Situation ein moralisches Urteil fällt und dementsprechend handelt, dann muss diese Person unter vergleichbaren Umständen ein vergleichbares moralisches Urteil treffen und danach handeln. Wichtig ist dabei, dass das Konsistenzprinzip eine andere Stoßrichtung hat als die goldene Regel, nach der man andere so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Die goldene Regel legt nämlich eine bestimmte Handlung oder Unterlassung aus einer anderen Zielsetzung heraus nahe. Die Motivation ist nicht die Konsistenz des eigenen Denkens und Handelns, sondern die Hoffnung, von anderen gut behandelt bzw. nicht geschädigt zu werden. Allerdings gibt es in unserer Welt keine Situation, die einer ande­ ren in allen nicht-moralischen Einzelheiten vollständig gleicht. Des­ halb ist eine gewisse Abstraktionsleistung nötig, um vergleichbare Situationen zu schaffen. Hierin besteht eine wesentliche Problematik, Urteils- und Handlungskonsistenz zu überprüfen. Kognitive Ethiken nützen als akademische Disziplinen zudem bestimmte Methoden. Mithilfe der oben kurz angesprochenen sprach­ analytischen Methode geht es darum, zentrale ethische Begriffe wie z. B. »gut«, »Handlung« usw. zu klären. Mithilfe hermeneuti­ scher (griechisch: hermeneuein = auslegen) Deskription (lateinisch: describere = beschreiben) werden moralische Einstellungen beschrie­ ben. Diese Beschreibung dient zur Interpretation, wie moralische Einstellungen unsere Lebenswelt mitgestalten. Dieser methodische Zugang erhebt keinen Anspruch darauf, Normen zu entwickeln oder die Qualität von Geltungsansprüchen zu bewerten. Insofern bieten die analytische und die hermeneutische Methode ein notwendiges, jedoch kein hinreichendes Werkzeug ethischen Arbeitens.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Eng mit der hermeneutischen Methode ist eine narrative ethi­ sche Methode (lateinisch: narrare = erzählen) verbunden, bei der Einsichten in Werte und der Sinn von Handlungen durch Erzählungen erschlossen werden. Im Akt des Erzählens und in der Rezeption des Erzählten kann ein Wertbewusstsein erfahren werden. Berühmte Erzählungen in dieser Hinsicht bieten insbesondere die Heiligen Schriften vieler Religionen. Die Frankfurter Schule hat mit der kritischen (griechisch: krinein = urteilen, entscheiden) Methode eine weitere ethische Methode etabliert. Werte und Regeln sollen in einem herrschaftsfreien, ratio­ nalen Diskurs gefunden werden, bei dem sich die besten Argumente durchsetzen, während schlechtere Argumente ausscheiden. Diese Methode reklamiert auch eine diskursethisch orientierte Wirtschafts­ ethik für sich. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich aus der Wirtschafts­ ethik kommend ein weiterer methodischer Zugang entwickelt.18 Die­ ser arbeitet insbesondere ordonomisch (lateinisch: ordo = Ordnung, griechisch: nomos = Gesetz). Es geht darum, das Hauptaugenmerk nicht nur auf die Handlungsebene der einzelnen Akteure zu lenken, sondern auf die Regelebene und die Ebene der öffentlichen Debatten, die wesentlich beeinflussen, welche Regeln zustande kommen.

Abbildung 4: Ordonomische Grundstruktur19 Das ordonomische Programm hat insbesondere Ingo Pies an der Universität Halle entwickelt. Vgl. z. B. Pies (2011), Pies et al. (2018). 19 Nach Pies (2022), 29. 18

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

Die entscheidende Grundfrage hierbei lautet: Wie lässt sich Moral unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen implementieren (durchsetzen), d. h., wie sind Institutionen und Regelwerke zu gestal­ ten, damit sie dauerhaft stabil bleiben, wenn man wie Hobbes von eigeninteressierten Akteuren ausgeht? Die Antwort hierauf kann nur sein: Die Regelungen müssen zum gegenseitigen Vorteil sein, sodass ihnen eigeninteressierte Akteure zustimmen können.

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze Während sich die Methoden der Ethik ergänzen, schließen sich teleo­ logische und deontologische Ansätze aus. Selbst die teleologischen Ansätze widersprechen sich aufgrund des unterschiedlichen Telos. Beispielsweise ist das Telos »Gesamtnutzen« nicht mit dem Telos einer eudaimonistischen Ethik zu verwechseln. Darüber hinaus beto­ nen manche Ansätze die Handlungsebene, während andere Ethiken ihren Fokus auf den Ordo, also auf die Diskurs- und Regelebene, legen. Es gibt darum eine Pluralität ethischer Ansätze. Aufgrund dessen ist es selbstverständlich, dass es nicht nur einen, sondern verschiedene wirtschaftsethische Ansätze gibt.

1.4.1 Wirtschaftsethik in religiösen Traditionen: God’s eye point of view Die heiligen Schriften der drei Weltreligionen thematisieren viele wirtschaftsethisch relevante Themen. Das gemeinsame Band aller Weltreligionen besteht darin, vor allem auf der Handlungsebene zu argumentieren. Wer sich unmoralisch verhält, wer seinen Nächsten ausbeutet, der wird bestraft. Bezeichnend hierfür ist bereits die Predigt von Amos, einem Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr., die in der Hebräischen Bibel aufbewahrt ist: »So spricht der Herr: Um der drei, ja der vier Frevel willen derer von Israel will ich es nicht zurücknehmen, weil sie die Unschuldigen um Geld und die Armen um ein Paar Schuhe verkaufen. Sie treten den Kopf der Armen in den Staub und drängen die Elenden vom Wege. Sohn und Vater gehen zu demselben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entheiligen. Und bei allen Altären strecken sie sich aus auf

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

den gepfändeten Kleidern und trinken Wein vom Gelde der Bestraften im Hause ihres Gottes.« (Amos 2,6–8).

Gott sieht nämlich all diese Ungerechtigkeiten und wird diese bestra­ fen: »Siehe, ich will’s unter euch schwanken machen, wie ein Wagen voll Garben schwankt, sodass, wer schnell ist, nicht entfliehen noch der Starke etwas vermögen soll, und der Mächtige soll nicht sein Leben retten können. Die Bogenschützen sollen nicht standhalten, und wer schnell laufen kann, soll nicht entrinnen, und wer da reitet, soll sein Leben nicht retten, und wer unter den Starken der mannhafteste ist, soll nackt entfliehen müssen an jenem Tage, spricht der Herr.« (Amos 2,13–16)

In den Evangelien werden die Armen seliggesprochen. Ungerechtig­ keiten werden scharf verurteilt. Wer sich nicht um den Nächsten kümmert, dem wird ewige Verdammnis angedroht, so beispielsweise in der zentralen Perikope vom Endgericht: »Dann wird [der Menschensohn/König] auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet.« (Mt 25,41–43)

Und in der 14. Sure des Koran heißt es: »An dem Tag, da die Erde zu einer anderen Erde verändert werden wird, und (ebenso) die Himmel, und da sie vor Allah erscheinen werden, dem EINEN, dem Allbezwinger. An jenem Tag wirst du die Übeltäter in Ketten zusammengebunden sehen. Ihre Kleider werden aus Pech sein, und das Feuer wird ihre Gesichter überdecken, damit Allah jeder Seele vergelte, was sie erworben hat. Gewiss, Allah ist schnell im Abrechnen. Dies ist eine Botschaft an die Menschen, damit sie dadurch gewarnt werden und damit sie wissen, dass Er nur ein Einziger Gott ist, und damit diejenigen bedenken, die Verstand besitzen.« (14,48–52)

In allen Fällen ist den Weltreligionen eine Botschaft gemeinsam: Ungerechte Handlungen werden im Jenseits mit schrecklichen Strafen vergolten werden, weshalb es sich für alle Menschen lohnt, sich gerecht zu verhalten. Das bedeutet für die Wirtschaftsethik, dass die Implementationsstrategie der Regeln mit Hilfe einer göttlichen

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

Bestrafung funktioniert. Gott sieht alles und kann darum auch alles beurteilen. Der ehrliche Kaufmann ist darum niemals der Dumme, selbst wenn sich seine Ehrlichkeit möglicherweise nicht im Dies­ seits auszahlt. Damit lässt sich das religiöse Paradigma (vereinfachend) so zusammenfassen: ● ● ● ●

Diskursebene: Appell an faires und barmherziges Handeln, z. B. Gleichnis vom barmherzigen Samariter (s. unten); Regelebene: 10 Gebote und weitere göttliche Forderungen (Thora, Evangelien, Koran); Handlungsebene: Handeln nach Gottes Geboten Implementation: Gottes Gericht, God’s eye point of view.

Dahinter steht die Überzeugung, dass der Mensch Geschöpf und Ebenbild Gottes ist und sich dementsprechend zu verhalten hat: »Wenn Menschen sich als Geschöpfe Gottes verstehen, so das meta­ physisch begründete Ideal, leben sie auch im Kontext Wirtschaft – unabhängig von dem bloß rechtlich Erzwingbaren – anders miteinan­ der, als hielten sie sich für austauschbare Zufallsprodukte der Evolu­ tion. Der Mensch ist aus christlicher Sicht zugleich von seiner Natur aus ein moralisches Wesen, das Verantwortung für sich und andere übernimmt, soweit er es kann.«20

Bis heute wird von kirchlichen Autoritäten in dieser Weise argumen­ tiert. Papst Franziskus appelliert an Barmherzigkeit in der Wirtschaft nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters und bezeichnet das jetzige globale Wirtschaften in seiner Enzyklika Evangelium Gaudii mit »Diese Wirtschaft tötet.«21 Dabei zeigt gerade das Gleichnis vom barmherzigen Samari­ ter einen wesentlichen Unterschied zwischen derartiger religiöser Argumentation und heutigen Überlegungen, um wirtschaftliche Ver­ hältnisse lebensdienlich zu gestalten. Der barmherzige Samariter kümmert sich um den Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, die ihn auf dem Weg nach Jericho überfallen haben. Die Stärken dieses Ansatzes: Es entspricht der Intuition vieler Menschen, besonders auf die Handlungsebene zu achten und hier moralische Urteile zu fällen sowie die menschliche Fähigkeit der Sympathie, des Mitempfindens mit den Bedürftigen, ernst zu neh­ 20 21

Nass (2020), 251. Vgl. Hemel (2007). Franziskus (2013), Nr. 53 (hier zitiert nach DH 5128).

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men. Jedoch besteht die entscheidende Schwäche darin, dass die Implementationsstrategie, also die Durchsetzung der Appelle auf der Handlungsebene, die Realität Gottes in der von den heiligen Schriften verkündeten Form voraussetzt. Heute würde man sich deshalb im Blick auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wohl vor allem die Frage stellen: Wie können wir die Straße nach Jericho sicher machen, sodass niemand mehr unter die Räuber fällt? Es ginge also nicht um Appelle auf der Hand­ lungsebene, sondern darum, die Strukturen zu ändern. Allerdings hat beispielsweise die katholische Soziallehre vor dieser Realität nicht ganz die Augen verschlossen. So schreibt beispielsweise Papst Johannes Paul II: »[Die freie Marktwirtschaft] stellt sich freilich nicht gegen den Markt, sondern muss von den Behörden des Staates in angemessener Weise geregelt werden, um die Bedürfnisse der ganzen Gesellschaft zu erfüllen.«22 Geschieht eine solche Anpassung der Strukturen im Bereich der Wirtschaft, wie es die liberale Tradition nahezulegen scheint, mittels der »invisible hand«, also aus den Eigenkräften der Wirtschaft, oder tötet eine solche Wirtschaft, wie es Papst Franziskus behauptet?

1.4.2 Wirtschaftsethik in smithscher Tradition: economic point of view Die heute dominierende Form des weltweiten Wirtschaftens folgt in vielen Staaten dem Paradigma des Liberalismus, wenn man die meisten, zumindest bis 2010 vergebenen Nobelpreise für Wirtschaft berücksichtigt. Hier sind vor allem neoliberale Ökonomen ausge­ zeichnet worden. Die Grundidee dieses Ansatzes hat bereits Adam Smith (1723–1790) in seinem bahnbrechenden Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations formuliert: Wenn »perfekte« Freiheit zugelassen wird, werden sich die Waren (und Dienstleistungen usw.) bei ihrem natürlichen Preis einpendeln, was ansonsten Regelungen verhindern würden, die genau diese Freiheit einschränken und so beispielsweise staatlich ermöglichte Monopole schaffen. In einem solchen Fall werden die Waren über ihrem natür­ lichen Preis, also dem Preis, der sich bei vollkommener Konkurrenz einstellen würde, verkauft. Umgekehrt können verfehlte Regelungen 22

Johannes Paul II. (1991), Nr. 35, zitiert nach DH 4903.

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

dazu führen, dass Waren unter ihrem natürlichen Preis zu verkaufen sind, womit der Verkaufende also Verlust macht und sich viele aus dem Markt zurückziehen. Das führt dazu, dass das entsprechende Gut knapp wird. Wenn nämlich diese »perfekte« Freiheit gegeben ist, würde niemand eine Ware unter ihrem natürlichen Preis verkaufen. Verlangt ein Staat dies dennoch, dann muss die knappe Ware ratio­ niert werden. Herrscht »perfekte« Freiheit, folgt daraus in den Worten von Smith: »[…] the quantity brought to market would soon be no more than sufficient to supply the effectual demand. Its market price, therefore, would soon rise to the natural price. This at least would be the case where there was perfect liberty.«23

Smith verbindet diese Überlegungen zur Notwendigkeit einer frei­ heitlichen wirtschaftlichen Ordnung mit einer anthropologischen Grundüberzeugung, die in der heutigen Ökonomik mit Hilfe des Begriffs »Homo oeconomicus« zusammengefasst wird, also einem handelnden Subjekt, das sein Eigeninteresse verfolgt, seinen Nutzen entsprechend der eigenen Präferenzen maximieren will, die nach Smith darin bestehen, das eigene Glück zu befördern, was das Glück der Familie, Freunde und des eigenen Landes miteinschließt. Adam Smith hat dieses Menschenbild bereits in seinem moralphilosophi­ schen Hauptwerk A Theory of Sentiments ausgearbeitet: »The administration of the great system of universe, however, the care of the universal happiness of all rational and sensible beings, is the business of God and not of man. To man is allotted a much humbler department, but one much more suitable to the weakness of his powers, and to the narrowness of his comprehension; the care of his own happiness, of that of his family, his friends, his country.«24

Geht man von dieser anthropologischen Voraussetzung zumindest methodisch aus, so hat dies für wirtschaftsethische Überlegungen weitreichende Folgen: »It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest.

23 24

Smith (1998 [1776]), 61. Smith (1759).

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

We address ourselves, not to their humanity, but to their self-love, and never talk to them of our own necessities, but of their advantages.«25

Smith geht also auch im Wirtschaftsleben vom Eigeninteresse der Betroffenen aus. Er möchte Wohlstand nicht durch Appelle der Nächs­ tenliebe erreichen, sondern dadurch, dass sich die Solidarität mit den Bedürftigen von selbst ergibt, selbst dann, wenn alle ihrem eigenen Interesse folgen: »Every individual is continually exerting himself to find out the most advantageous employment for whatever capital he can command. It is his own advantage, indeed, and not that of the society, which he has in view. But the study of his own advantage, naturally, or rather necessarily leads him to prefer that employment which is most advantageous to society.«26

Dies hat er in seiner berühmten Überlegung zur »invisible hand« zusammengefasst: »As every individual, therefore, endeavours as much as he can both to employ his capital in the support of domestic industry, and so to direct that industry that its produce may be of the greatest value, every individual necessarily labours to render the annual revenue of the society as great as he can. He generally, indeed, neither intends to promote the public interest, nor knows how much he is promoting it. By preferring the support of domestic to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. Nor is it always the worse for the society that it was not part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the public good. It is an affectation, indeed, not very common among merchants, and very few words need be employed in dissuading them from it.«27

Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, also perfekte Freiheit gege­ ben ist, sorgt das Eigeninteresse dafür, dass wie durch eine unsichtbare Hand Wohlstand für alle erreicht wird. Hegel hat diesen Gedan­ 25 26 27

Smith (1998 [1776]), 22. Ebd., 289. Ebd., 291f.

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

ken in seiner Rechtsphilosophie in die Formel gegossen: »In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller andern um [...]«28. Smith verbindet also die Überlegungen zur Freiheit mit der anthropologischen Annahme des Homo oeconomicus, der von einer unsichtbaren Hand geführt, das Interesse der Gesellschaft befördert, also – modern gesprochen – Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft realisiert. Das saysche Theorem der klassischen Öko­ nomik, wonach das bei freier Konkurrenz sich einspielende Preis-, Lohn- und Zinsniveau automatisch zur Vollbeschäftigung führt, d. h., sich die Arbeit ihr Angebot schafft, führt diese Überlegungen konse­ quent weiter. Das Beispiel Russlands in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts zeigt die Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung. Hier gelang es der russischen Führung, die sich von amerikanischen, aus der neoliberalen Chicago-School stammenden Beratern von der Idee einer möglichst wenig regulierten Marktwirtschaft im Sinne einer »perfekten« Freiheit überzeugen ließ, nicht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dafür sorgten, dass es zu einer solidarischen und gerechten Gesellschaft kam. Die Folgen dieser Fehleinschätzung sind bis heute wirksam, weil wirtschaftliche Fehler durch eine aggressive Politik repariert werden sollen. Wenn der Neoliberalismus es also für unzumutbar hält, vom Einzelnen einen Einsatz für Solidarität und soziale (und ökologische) Gerechtigkeit einzufordern, weil dies nicht mit den methodischen Annahmen des Homo oeconomicus und perfekter Freiheit vereinbar ist, wie lässt sich dann dennoch in diesem methodischen Paradigma eine Lösung finden? Eine Korrektur dafür hat John Maynard Keynes (1883–1946) vorgeschlagen. Der Staat hat in Zeiten von Arbeitslosigkeit die Auf­ gabe, in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen, d. h. durch variables Nachfrageverhalten des öffentlichen Sektors zum Ausgleich einer ungenügenden effektiven Nachfrage der Privaten gegebenenfalls auch durch Haushaltsdefizite (Defizitfinanzierung) den Wirtschaftspro­ zess zu beeinflussen. Hintergrund ist die Überzeugung: In Zeiten von unausgelasteten Kapazitäten, in denen beispielsweise Preissenkun­ gen oder Zinssenkungen »ins Leere« laufen und somit eine (struktu­ 28

Hegel (2013 [1821]), § 199.

43 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

relle) Arbeitslosigkeit verstetigt wird, sollte der Staat eine Nachfrage schaffen, die dazu führt, diese Kapazitäten zu nutzen. Allerdings ist auch diese Korrektur wiederum in Frage gestellt worden, da staatliche Eingriffe die Tendenz zeigen, sich nicht mehr zurückzuziehen, selbst dann nicht, wenn sich die Verhältnisse wie­ der geändert haben. Nach Buchanan (1919–2013) fällen politische Entscheidungsträger oft öffentliche Entscheidungen (public choices) aus Eigeninteressen und tendieren dazu, immer mehr in ihren Regulierungsbereich einzuschließen. Sie haben eine Tendenz zur Bürokratisierung und Entgrenzung der Staatsgewalt. Darum müssen die Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Reformen der Regeln der Entscheidungsfindung in der Demokratie so gestaltet sein, dass Regierungen einen stärkeren Anreiz verspüren, im Interesse der Bevölkerung zu handeln (verfassungsmäßige Begrenzungen der Staatsgewalt). In Deutschland hat im Rahmen dieses smithschen Paradigmas mit Überlegungen zu einer funktionierenden Rahmenordnung in Anlehnung an Buchanan besonders Karl Homann wegweisende Lösungsvorschläge entworfen, um abzusichern, wie unter der Annahme des Homo oeconomicus dennoch Solidarität und Gerech­ tigkeit gesichert werden können, denn Homann bestimmt Wirt­ schaftsethik ausdrücklich als »allgemeine Ethik mit ökonomischer Methode«29. Es geht darum, »den Gegenstand ›Moral‹ in terms of economics zu rekonstruieren«30. Dabei konzipiert er seinen Ansatz als Ökonomik im Sinne einer Theorie von Interaktionen jeglicher Art. Die so verstandene Ökonomik betrachtet er »nicht als Gegensatz zur Ethik, sondern als Fortsetzung der Ethik, aus der sie entstanden ist, mit anderen, besseren Mitteln«31. Warum sind diese Mittel besser? Sie sind besser, weil die klassische, oftmals religiös geprägte Ethik die Frage der Begründung in den Vordergrund stellt und die Imple­ mentationsfrage entweder ausblendet oder unzureichend behandelt. Sie versucht Lösungen auf der Handlungsebene über Appelle zu erreichen. Dies funktioniert unter modernen Bedingungen jedoch nicht. Vielmehr gilt es auf der Regelebene, also bei den Institutionen 29 Homann/Lütge (2004), 19. Die Überlegungen zu Homann sind teils wörtlich Knoepffler (2007) entnommen. Kursivierungen sind gemäß dem jeweiligen Origi­ nal wiedergegeben. 30 Homann/Lütge (2004), 19. 31 Ebd., 22.

44 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

anzusetzen. Die entscheidende Grundfrage lautet dann: Wie lässt sich Moral unter modernen Bedingungen implementieren (durchsetzen), d. h., wie sind Institutionen zu gestalten, damit sie angesichts eigenin­ teressierter Akteure dauerhaft stabil bleiben, also zum gegenseitigen Vorteil sind? Hierbei wird »Vorteil« in offener Weise verstanden: Vorteile sind »all das, was die Menschen selbst als Vorteile ansehen, Einkommen und Vermögen also ebenso wie Gesundheit, Muße, ein ›gutes Leben‹ oder die Realisierung eines vernünftigen Lebensplans in Gemeinschaft mit anderen«32. Hintergrund dieses ordnungsethischen Programms ist die Über­ zeugung, dass Moral und Eigeninteresse nicht gegeneinander aus­ gespielt werden dürfen und dass die Ordnungsethik der Handlungs­ ethik, die Regelebene der Handlungsebene vorgeordnet ist, oder anders formuliert: »Der systematische Ort der Moral in einer Markt­ wirtschaft ist die Rahmenordnung«33. Der Grund hierfür ist, dass eine Moral, die Menschen dazu führt, systematisch gegen ihr Eigeninteresse zu handeln, nicht funktioniert: »Menschen befolgen moralische Normen im Normalbetrieb moder­ ner Gesellschaften dann und nur dann, wenn sie davon – zwar nicht im Einzelfall, aber – in der Sequenz von Einzelfällen individuelle Vorteile erwarten können.«34 Daraus folgt unter der Annahme des Grundsatzes, dass vom Einzelnen nicht mehr verlangt werden darf, als er vermag: »Die Ethik muss dem Einzelnen zeigen, dass die Befolgung der moralischen Regeln – wenn auch nicht im Einzelfall, so aber doch – über die Sequenz der Einzelfälle individuelle Vorteile erwarten lässt: Denn nur dann kann erwartet werden, dass die Einzelnen im Alltag das auf breiter Front auch tun, was sie tun sollen.«35 Aus diesem Grund stellt Homann sein Konsistenzpostulat auf: Handlungsebene und Regelebene, Handlungsethik und Ordnungs­ ethik müssen miteinander konsistent sein, damit Handlungen und Handlungsbedingungen (Rahmenordnung) ›passen‹.36 Diese Konsis­ tenz ist dadurch zu erreichen, dass die moralischen Regeln Aussicht auf eine kollektive Selbstbindung haben: »Glaubwürdig ist eine solche 32 33 34 35 36

Ebd., 20. Homann/Blome-Drees (1992), 35. Kursiv im Original. Homann/Lütge (2004), 20. Ebd., 20. Vgl. ebd., 30f.

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kollektive Selbstbindung aber nur dann, wenn die Befolgung der ins Auge gefassten moralischen Regeln im Eigeninteresse aller Adressaten liegt«37. Anders formuliert: »Damit wird die anreizkompatible Imple­ mentierbarkeit zur Bedingung der normativen Gültigkeit«38. Dahinter steht die Überzeugung, dass Moral nicht auf der Ebene des Einzelnen, sondern nur gemeinsam realisiert werden kann. Von daher müssen Problemlösungen in den jeweiligen konkreten konflikthaltigen Situationen ansetzen. Damit unterscheidet sich der Ansatz von Homann sowohl von appellativen Ethiken als auch weite­ ren, noch zu behandelnden ethischen Ansätzen. Konflikthaltige Situa­ tionen sind nach Homann durch Regeln bzw. Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass der kollektive Gesamtnutzen mit dem subjektiven Eigeninteresse der einzelnen Akteure übereinstimmt. Homann ist dabei der (bestreitbaren) Überzeugung: »Sämtliche Probleme dieser modernen Welt, von denen wir unter 1.1 ausgegangen waren, lassen sich als soziale Fallen interpretieren.«39. Da praktisch alle moralischen Probleme nach Homann soziale Fallen sind – »Robinson braucht, solange er auf der Insel allein ist, keine ›Moral‹«40 – bietet es sich, wie bereits eingangs gesagt, an, Ethik mit ökonomischer Methode zu betreiben bzw. Ökonomik als bessere Form von Ethik zu verstehen. Die moralischen Probleme sind darum als soziale Fallen im Sinne von Dilemmatastrukturen zu analysieren. Eine Dilemmastruktur ist das Paradigma von Konfliktsituationen, in denen Eigeninteres­ sen konfligieren. Der »Witz« derartiger Fallen besteht darin, dass der Einzelne, indem er versucht, seinen (subjektiven) Nutzen zu maximieren, letztlich ein schlechteres Ergebnis realisiert, als wenn er kooperiert hätte. Das berühmte Beispiel hierfür ist das Gefange­ nendilemma: Zwei Gefangene, denen man nur eine kleine Straftat nachweisen kann (unerlaubter Waffenbesitz), die man aber wegen einer größeren Straftat (versuchter Bankraub) belangen möchte, was aber ein Schuldeingeständnis voraussetzt, könnten durch gemeinsa­ mes Schweigen das für beide immerhin zweitbeste Ergebnis erzielen Ebd., 51. Ebd., 51. 39 Ebd., 50. Dabei schränkt Homann unter 1.1. ein: »Noch kein ›ökonomischer Imperialismus‹ hat je bestritten, dass es andere sinnvolle Fragestellungen gibt, die mit anderen als ökonomischen Methoden untersucht werden, z. B. Fragen nach den letzten Bausteinen der Materie, nach dem menschlichen Genom oder nach den Strukturen moderner Lyrik« (ebd., 19). 40 Ebd., 33. 37

38

46 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

(welches gleichzeitig das kollektiv beste erzielbare Ergebnis darstellt). Wenn nur einer den Bankraub zugibt, kann er für sich jedoch das beste Ergebnis herausholen, da er als Kronzeuge der Anklage anschließend freikäme, sein Kollege dagegen bekommt die Höchststrafe wegen seines hartnäckigen Leugnens (10 Jahre). Bekennen jedoch beide die größere Straftat, dann bekommen sie zwar nicht die volle Strafe, aber eine deutlich höhere Strafe (8 Jahre), als wenn man sie nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes belangen könnte (1 Jahr). Die soziale Falle besteht nun darin, dass es für jeden Einzelnen spieltheoretisch die dominante Strategie ist zu bekennen. Denn bekennt der andere nicht, kommt man frei, bekennt der andere jedoch, so bekommt man wenigstens nur acht statt der zehn Jahre. Institutionenökonomisch gesprochen: Einerseits können sich beide nicht »binden« und vor allem lässt sich andererseits eine Bindung »nicht durchsetzen«, so dass die Opportunitätskosten der nicht-kooperativen Lösung sehr niedrig sind, wodurch sich die dominante Strategie ergibt. Freilich lässt dieses klassische Beispiel noch nicht die soziale Problematik in voller Schärfe sichtbar werden, denn es ist ja gerade im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, dass diejenigen, die eine Bank ausrauben wollen, dafür konsequent zur Rechenschaft gezogen wer­ den. Diese Falle hat also einen guten Sinn. Ähnliches gilt für vergleich­ bare Strukturen, die zum Wohl der Konsumenten Kartellabsprachen zwischen Unternehmen verhindern sollen. Aber es lassen sich auch andere Beispiele anführen, die eindeutig das reine selbstschädigende Verhalten, dem durch derartige Strukturen Anreize gesetzt sind, zeigen. Denken wir an die Situation im Gesundheitswesen, bei der Anreize bestehen, nicht notwendige Leistungen anzubieten (Ärzte), in Anspruch zu nehmen (Patienten), zu finanzieren (Krankenkas­ sen).41 In Deutschland verdoppelte sich innerhalb eines Jahres (1995 auf 1996) die Zahl der einfachen Vestibularisprüfungen, bei denen herausgefunden werden soll, ob jemand in bestimmter Umgebung Schwindelanfälle bekommt, nachdem durch die Erhöhung der Punkt­ zahl von 250 auf 1250 die Vergütung von 12,50 DM auf 62,50 DM stieg, um dann auf diesem hohen Niveau zu verharren. Es ist im Eigeninteresse der Ärzteschaft, aber auch ihrer Patien­ ten, die eine möglichst große Sicherheit wünschen, möglichst viele Leistungen für sich aus dem System zu erhalten. Darum ist es so 41

Das folgende Beispiel ist Knoepffler/Daumann (2018), 84–89 entnommen.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

wichtig, Regeln so aufzustellen, dass man vom Eigeninteresse der betroffenen Ärzte und Patienten ausgeht, nicht einfach davon, dass sie nur das jeweils Nötige tun bzw. einfordern werden.42 Der moralische Appell, Ärztinnen und Ärzte sollten nur das Nötige anbieten, Patien­ ten nur das Nötige nachfragen, ignoriert die Anreizsituation, die im Folgenden genauer beschrieben werden soll. Mittelfristig führt das gerade beschriebene Verhalten zu uner­ wünschten Konsequenzen. Die Anreizstruktur lässt sich auch als klas­ sisches Gefangenendilemma43 darstellen. Aus Sicht der Leistungsan­ bieter (Tabelle 1) kann eine höhere Punktzahl für die Leistung dazu führen, dass das Angebot dieser Leistung ausgedehnt wird, eben weil ein Anreiz gesetzt wird, auch dann die Diagnostik anzubieten, wenn diese abrechnungstechnisch zulässig, aber nicht wirklich nötig ist. Unter der Annahme, dass das Budget gedeckelt ist, führt die Leistungsausdehnung zu einem fallenden Punktwert. Auf diese Weise resultiert aus individuell rationalem Verhalten der betreffenden Ärzte eine nicht intendierte negative Folgewirkung für dieselben: Sie schä­ digen sich also in gewisser Weise durch die Leistungsausdehnung selbst, da nunmehr die Vergütung für den einzelnen Punkt, also der Punktwert, abfällt. Dabei würden sich alle besserstellen, wenn wirklich nur nötige Schwindeldiagnostiken durchgeführt würden. Spieltheoretisch ist es jedoch eine dominante Strategie, auch unnötige Diagnostiken anzubieten, denn wenn der betreffende Arzt A die Diagnostik anbietet, Arzt B aber nur die wirklich nötigen, dann bekommt A mehr von dem Budget. Wenn aber B auch unnötig diagnostiziert, so verliert A wenigstens nicht so viel. Allerdings lan­ den damit beide notwendigerweise in der Konstellation, dass sie bei Allerdings könnte man einwenden: Die Frage aus Sicht der Patienten ist doch, ob die Untersuchung medizinisch sinnvoll ist. Eine nicht sinnvolle Untersuchung ist auch nicht im Eigeninteresse des Patienten. Sicherheit mag ein Argument sein, aber damit allein könnte man alle Untersuchungen rechtfertigen. Man muss auch das Komplikationsrisiko, den Zeitaufwand etc. berücksichtigen. Könnte also nicht vor der Erhöhung der Punktzahl (implizit) rationiert worden sein? Selbst wenn man Letzteres unterstellt, erklärt dies nicht die drastische Erhöhung der Fallzahlen. Diese lässt sich vielmehr damit erklären, dass es ein breites Spektrum gibt, was als »sinnvoll« zu gelten hat. Hier tendieren nicht wenige Patienten dazu, möglichst viel Sicherheit zu erhalten. Das zeigt die große Macht der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, denn sie können ihre Patienten hier wesentlich beeinflussen. 43 Vereinfachend wird hier methodisch so getan, als ob nur zwei Akteure auf der Anbieterseite im Spiel sind. In Wirklichkeit handelt es sich um sehr viele Akteure, wodurch sich der große kollektive Schaden der Ressourcenverschwendung erklärt. 42

48 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

gedeckeltem Budget mittelfristig nicht mehr verdienen als zuvor, aber mehr Arbeit investiert haben. Damit stellen sie sich schlechter, als wenn sie nur nötige Verstibularisprüfungen durchgeführt hätten. Sie werden dann als einen möglichen Ausweg nach gewinnträchtigeren Möglichkeiten suchen. Arzt A führt unnö­ tige Vestibularisprü­ fung durch

Arzt A führt diese unnötige Prüfung nicht durch

Arzt B führt unnö­ Arzt A und B bekom­ tige Vestibularisprü­ men Leistung bezahlt, fung durch aber die Budgetierung stellt sie langfristig nicht besser

Arzt B verdient mehr, Arzt A weniger

Arzt B führt diese unnötige Prüfung nicht durch

Arzt A und B erhalten kein zusätzliches Geld, aber sparen Zeit

Arzt A verdient mehr, Arzt B weniger

Tabelle 1: Angebotsseite

Vertiefung Lassen Sie uns das nochmals anhand einer Auszahlungsmatrix ver­ deutlichen (siehe folgende Tabelle 2). Gehen wir vereinfachend davon aus, dass zwei Praxen (A und B) existieren und pro Praxis medizinisch sinnvoll 60 Vestibularisprüfungen angeboten werden sollten. Die Kapazitäten ermöglichen aber die Ausdehnung bis auf 120 Prüfungen pro Praxis. Pro Vestibularisprüfung sollen – wie bereits oben erwähnt – 1250 Punkte vergeben werden. Das gesamte Budget, das für beide Ärzte zur Verfügung steht, betrage 7.500 DM.44 Nehmen wir zudem an, dass jedem der beiden Ärzte pro Prüfung 15 DM an Kosten

44 Da das Fallbeispiel aus der Vor-Euro-Zeit stammt, wird eine DM-Berech­ nung durchgeführt.

49 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

entstehen.45 Wenn nun beide Ärzte nur die 60 medizinisch sinnvollen Prüfungen durchführen, beträgt der Punktwert – andere Leistungen sollen hier vernachlässigt werden: PW 120 = 7.500 DM = 0,05  DM   120∗1250 Punkt Damit hat der Arzt pro erbrachter Vestibularisprüfung einen Gewinn von: g PW 120 = 0,05  DM ∗1250 − 15 DM = 47,50 DM  Punkt Der Gesamtgewinn des Arztes beträgt bei Erbringung von 60 Prüfun­ gen dann 2.850 DM. Dehnt nun Arzt A seine Leistungen auf 120 Prüfungen aus, während Arzt B bei den medizinisch indizierten 60 Prüfungen bleibt, fällt der Punktwert entsprechen ab: PW 180 = 7.500 DM = 0,033  DM   180∗1250 Punkt Damit verändert sich auch der Gewinn, den der Arzt pro erbrachter Vestibularisprüfung erzielt: g PW 180 = 0,033  DM ∗1250 − 15 DM = 26,67 DM  Punkt Für Arzt A ergibt sich dann ein Gesamtgewinn von G A PW 120 = 26,67 DM∗120 = 3200,40 DM  Arzt B erzielt dann nur noch einen Gewinn von GB PW 120 = 26,67 DM∗60 = 1600,20 DM  Vice versa ergibt sich dann für Arzt A ein Gewinn von 1600,20 DM und für Arzt B ein Gewinn von 3200,40 DM, wenn beide die Rollen vertauschen. Wenn nun beide nicht nur die medizinisch indizierten Leistun­ gen anbieten, sondern jeweils 120 Prüfungen erbringen, fällt der Punktwert noch weiter: PW 240 = 7.500 DM = 0,025  DM   240∗1250 Punkt Damit ergibt sich ein Gewinn pro erbrachter Vestibularisprüfung von g PW 240 = 0,025  DM ∗1250 − 15 DM = 16,25 DM  Punkt Jeder Arzt erzielt dann mit seinen Vestibularisprüfungen nur noch einen Gesamtgewinn von G A/B PW 240 = 16,25 DM∗120 = 1950,00 DM  45

Darum sprechen wir im Folgenden von »Gewinn«, nicht von Umsatz.

50 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

Damit erhalten wir die folgende Auszahlungsmatrix. Die Werte des Arztes B sind dabei in kursiv gehalten. Arzt A führt unnötige Vestibularis prüfung durch

Arzt A führt diese unnötige Prüfung nicht durch

Arzt B führt unnö­ 1950,00 DM tige Vestibularisprü­ 1950,00 DM fung durch

1600,20 DM 3200,40 DM

Arzt B führt diese unnötige Prüfung nicht durch

2850,00 DM 2850,00 DM

3200,40 DM 1600,20 DM

Tabelle 2: Auszahlungsmatrix der Angebotsseite Versetzen wir uns einmal in die Lage des Arztes A. Geht er davon aus, dass der Arzt B 60 Prüfungen durchführt, so erhält A, wenn er selbst 60 durchführt, einen Gewinn von 2850 DM. Wenn A aber die Anzahl auf 120 steigert, erhält er einen Gewinn von 3200,40 DM. Es ist also für ihn sinnvoll, in diesem Fall die Anzahl auf 120 zu erhöhen. Geht er davon aus, dass B 120 Prüfungen durchführt, dann erhält er für seine 60 nur noch 1600,20 DM. Bietet er allerdings 120 Prü­ fungen an, dann kann er einen Gewinn von 1950,00 DM realisieren. Auch in diesem Fall ist es für A besser, 120 Prüfungen durchzuführen. Das Gleiche lässt sich nun in unserem einfachen Beispiel für den Arzt B zeigen; auch er wird – egal was A tut – 120 Prüfungen durchführen. Wir haben es also mit einer suboptimalen Lösung zu tun, da sich beide besserstellen würden, wenn sie jeweils nur die medizinisch indizierten Prüfungen, also jeweils 60 Prüfungen, durchführen würden. Die Nachfrageseite setzt dem Anreiz des Arztes, die Leistun­ gen auszudehnen, im Falle eines vollständigen Sachleistungsprinzips keinen Widerstand entgegen, zumal für den Nachfrager die Inan­ spruchnahme zusätzlicher Leistungen keine zusätzlichen direkten Ausgaben nach sich zieht und die Inanspruchnahme zusätzlicher Leistungen vielleicht sogar einen Zusatznutzen vermuten lässt. Häu­ fig ist die Notwendigkeit einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme im Herrscherwissen des behandelnden Arztes und kann vom Patienten nicht beurteilt werden. Umso leichter ist es dann, den Patienten zu veranlassen, mehr Leistungen nachzufragen.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Lassen Sie uns das ebenfalls anhand einer Auszahlungsmatrix verdeutlichen. Nehmen wir an, der Patient A hat aus der Inanspruch­ nahme einer beliebigen medizinischen Leistung einen Nutzen im Gegenwert von 100 €. Sein Krankenversicherungsbeitrag betrage ebenfalls 100 €. Nun hat er die Möglichkeit, eine zusätzliche Leis­ tung in Anspruch zu nehmen, die ihm aber, da sie medizinisch nicht unbedingt indiziert ist, nur noch einen Nutzen von zusätzlich 50 € bringt. Wenn nun alle anderen Patienten im Krankenversicherungs­ system derartige Zusatzleistungen in Anspruch nehmen, dann erhöhe sich der Krankenversicherungsbeitrag auf 200 €. Damit findet sich der Patient A der folgenden Auszahlungsmatrix gegenüber: Andere Patienten Patient A

nimmt nur medizinisch nimmt darüber indizierte Leistungen hinaus Leistungen in Anspruch in Anspruch

Nimmt nur medizi­ nisch indizierte Leis­ (100–100)= tungen in Anspruch 0

(100–200)= -100

Nimmt darüber hinaus Leistungen in Anspruch

(150–200)= -50

(150–100)= 50

Tabelle 3: Auszahlungsmatrix der Nachfrageseite Was wird Patient A nun tun? Geht er davon aus, dass alle anderen Patienten sich mit der Inanspruchnahme der medizinisch indizierten Leistungen bescheiden, dann stellt er sich besser, wenn er darüber hinaus noch weitere Leistungen in Anspruch nimmt (50>0). Wenn er aber davon ausgeht, dass die anderen Patienten ebenfalls zusätz­ liche Leistungen in Anspruch nehmen (sie sind ja in der gleichen Entscheidungssituation wie er), dann ist es für ihn ebenfalls sinnvoll, zusätzliche Leistungen in Anspruch zu nehmen (-50>-100). Da man davon ausgehen kann, dass sich alle Patienten in einem derartigen Setting so verhalten, wird das Ergebnis sein, dass die Patienten ein verstärktes Leistungsangebot der Ärzte also eher begrüßen und gerne darauf zugreifen, obgleich sich die Patienten insgesamt besserstellen

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

würden, wenn sie nur die medizinisch indizierten Leistungen in Anspruch nähmen (0>-50).46 Homann bietet als Lösung für derartige soziale Fallen nun Fol­ gendes an: 1. Die Akteure werden methodisch als Homines oeconomici konstruiert, d. h., der Homo oeconomicus dient als Hauptanalys­ einstrument für diese Fragestellung sozialer Fallen im Sinne eines Theoriekonstrukts. Er ist damit nur im Rahmen derartiger sozialer Fallen einsetzbar. 2. Die Lösung besteht darin, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass beispielsweise im Falle des Gesundheitswesens die dominante Strategie nicht mehr darin besteht, möglichst viele Leis­ tungen aus dem System herauszuholen. Eine Umänderung besteht darin, sozusagen die Kosten des Gebrauchs von nicht notwendi­ gen Gesundheitsleistungen individuell so spürbar werden zu lassen (anteilige Zuzahlungen usw.), dass die Nutzenpunkte dahin führen, diese Leistungen nicht mehr in Anspruch zu nehmen. »Spieltheore­ tisch heißt das, dass wir jetzt ein Spiel mit anderen Regeln, und das heißt: ein anderes Spiel, spielen. [...] Mit anderen Auszahlungen [...] spielen wir ein anderes Spiel.«47 Lösungsziel und Hauptaufgabe akademischer Wirtschaftsethik ist darum nach Homann ein Auffinden von neuen (Spiel-)Regeln für Dilemmata, die erfolgreich in diese Situationen implementiert werden können, statt eine Begründung von Handlungsnormen. Dies ist der systematische Ort der Moral, die als eine Moral zum gegensei­ tigen Vorteil konzipiert ist und nach dem gerade Ausgeführten auch als einzige wahrhaft Moral sein kann, weil »das Motiv für Moral nur das individuelle Vorteilsstreben sein kann.«48 Eine wichtige Voraussetzung, um diese Änderung von Spielre­ geln durchsetzen zu können, ist der grundsätzliche Konsens aller Betroffenen. Dieser Konsens ist nur möglich, wenn die Änderung zum gegenseitigen Vorteil ist. Wenn sie zum gegenseitigen Vorteil ist, verwirklicht sie den Grundgedanken einer Solidarität aller. Homann ist überzeugt: »Die grundlegende Idee der abendländisch-christlichen 46 Allerdings dürfte es für Patienten deutlich schwieriger sein, einzuschätzen, ob eine Untersuchung nötig ist oder nicht. Gerade in der defensiv ausgerichteten Medizin gibt es verstärkt Anreize, im Übermaß abzusichern. 47 Homann/Lütge (2004), 45. 48 Homann/Lütge (2004), 52.

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Ethik, die Solidarität aller Menschen, ist in die Methode einer positiven Wissenschaft [der Ökonomik] inkorporiert.«49 Eine wichtige Folge dieser Überlegungen ist zugleich: Die Hand­ lungen der Einzelnen können unter Voraussetzung dieser Regeln im Grundsatz moralfrei ablaufen: Moralisch beurteilt werden kann nur noch ein Verfahren, nicht eine Verhaltensweise, ein Handlungsergeb­ nis.50 Im Ergebnis lässt sich festhalten: Die analytischen Werkzeuge der Ökonomik erlauben es herauszufinden, welche von der Ethik vorgeschlagenen Regeln implementierbar sind und welche nicht. Die traditionelle, religiöse Ethik fungiert als Heuristik: Die Ideale der ethi­ schen Tradition dienen dazu, die Inhalte der Spielregeln aufzufinden. Karl Homanns ordnungsethischer Ansatz ist sowohl von großer aktueller Bedeutung als auch von entscheidender systematischer Relevanz, denn oftmals wird in den Medien und damit im öffentlichen Diskurs zunehmend in die »Appell-Falle« getappt. Sie klagen (inter­ national agierende) Unternehmen an, sich unsozial zu verhalten, wenn diese Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, um ihre Gewinne zu maximieren, sich nicht ökologisch zu verhalten, wenn sie nicht klimaneutral produzieren usw. Sie fordern »mehr Moral« in der Wirt­ schaft, was aber im Rahmen dieser Appelle nichts anderes bedeutet als weniger Gewinn als unter den gegebenen Bedingungen möglich wäre zu erzielen. Damit zeigen sie nur, dass sie Wirtschaftsunternehmen immer noch unter dem Paradigma von Hauswirtschaften verstehen, in denen es nicht vorrangig um Gewinn, sondern um ein insgesamt gutes Auskommen und Leben geht und neben »Gewinn« viele weitere Werte im Spiel sind. Sie tun immer noch so, als hätten sie es mit konkreten Individuen zu tun, ohne anzuerkennen, dass unter den jetzigen Bedingungen Manager nach dem Gewinn des Unternehmens bewertet werden: Manager werden ausgetauscht, wenn sie nicht erfolgreich sind. Sie sind nichts anderes als Angestellte mit einer spezifischen Aufgabe. Wenn sie diese erfüllen, werden sie weiter beschäftigt, wenn nicht, »gefeuert«. Sie sind ersetzbar. Diejenigen, die an Unternehmen appellieren, andere Werte zu berücksichtigen als Gewinnmaximierung (im Rahmen vorgegebener, Ebd., 54. Vgl. ebd., 29: »Moralisch bedenkliche, ja empörende Zustände der Welt dürfen nicht länger auf den bösen Willen der Akteure, ihren ›Egoismus‹ oder ihre ›Profitgier‹ zurückgeführt werden, sie sind vielmehr als Folge einer unzweckmäßigen oder fehlenden Ordnung der Wirtschaft zu betrachten.« 49

50

54 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

gesetzlich festgelegter Bedingungen), haben das ökonomische Para­ digma einfach nicht begriffen. Sie fordern etwas Unmögliches. Sie ähneln Menschen, die bei einer Fußballweltmeisterschaft appellieren, doch auch einmal eine kleine Nation aus einem bisher noch nie erfolg­ reichen Erdteil diese Weltmeisterschaft gewinnen zu lassen, z. B. die Elfenbeinküste. Sie begreifen nicht, dass die Regeln im Fußballspiel nicht vorsehen, dass eine Mannschaft einer anderen Mannschaft aus Nächstenliebe den Sieg gönnt. Und sie begreifen nicht, dass eine solche Einstellung die Pointe des Spiels zerstören würde: Wenn das Ziel des wettbewerblich verfassten Spiels nicht mehr darin besteht, im Rahmen der geltenden Fairnessregeln zu gewinnen, verliert eine Fußballweltmeisterschaft schlicht ihren ursprünglichen Sinn. Es ist ein großes Verdienst Homanns und seiner Schule, ent­ gegen der naiven Überzeugung der Appellierenden immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir unter den gegebenen Bedingungen nur verantwortlich Ethik betreiben können, wenn wir an das ökonomi­ sche Paradigma (Eigeninteressiertheit der Akteure) anschlussfähig bleiben. Ansonsten kommen wir dazu, Moral und Eigeninteresse gegeneinander auszuspielen und rufen damit Unternehmen zu einem sie selbst schädigenden »Verhalten« auf. Allerdings lässt sich die Frage stellen, ob es folgendes Paradox nicht nur mit Blick auf das Fußballspiel, sondern auch mit Blick auf den Unternehmenserfolg gibt. Die Mannschaft, die nur verbissen den Sieg sucht, ohne Spaß am Spiel selbst zu haben, wird nicht zwangsläufig am erfolgreichsten sein. So ist auch nicht gesagt, dass das Unterneh­ men, das nur den Profit maximieren will, am erfolgreichsten ist. Gerade Unternehmer wie Steve Jobs und Elon Musk haben gezeigt, dass auch einfach die Freude an besonders innovativen Produkten zu Unternehmenserfolgen führen, also noch andere Werte im Spiel sein können. Freilich würde das Homann auch nicht bestreiten wollen, weil sein Gewinnmaximierungsprinzip erlaubt, auch derartige Kriterien als subjektive Präferenzen, als Eigeninteresse zu reformulieren. Homanns Ansatz ist zudem von sehr großer systematischer Relevanz, weil er für den von den Appellierenden unterstellten Konflikt von Moral und Eigeninteresse – im Fall der international agierenden als Aktiengesellschaften verfassten Unternehmen besteht das Eigeninteresse in der Gewinnmaximierung – eine bessere Lösung vorschlägt. Diese Lösung ist im Rahmen der Wirtschaftsethik das eigentlich Bewahrenswerte. Sie lautet nochmals zusammengefasst: Statt auf der Handlungsebene dazu aufzufordern, appellierend ein

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

möglicherweise selbstschädigendes Verhalten zu verlangen, entwi­ ckelt er seinen Lösungsansatz auf der Regelebene. Er strukturiert derartige Konflikte zwischen Moral und Eigeninteresse als Gefange­ nendilemmatasituationen. Seine Lösung setzt also auf der Regelebene (Bedingungsebene) an: Indem die Regeln geändert werden, wird ein neues Spiel gespielt, bei dem Eigeninteresse und sozial gewünschtes Verhalten in Einklang geraten. Wer also beispielsweise möchte, dass globale Unternehmen soziale Pflichten im eigenen Land wahrneh­ men, darf nicht mehr nur national denken, sondern muss an globalen Regeln arbeiten, die überall soziale Mindeststandards einfordern. Trotz der systematischen Relevanz des ordnungsethischen Ansatzes sind einige entscheidende Schwächen dessen zu beseitigen. Homann gebraucht seine Begrifflichkeit oftmals nicht eindeutig. So definiert er anfangs Moral als »einen Komplex von Regeln und Normen, die das Handeln der Menschen bestimmen oder bestimmen sollen und deren Übertretung zu Schuldvorwürfen gegen sich selbst bzw. gegen andere führt«51. Dieser Moralbegriff ist dabei offen für unterschiedliche ethische Typen wie deontologische und teleologische Ethiken, in die anschließend auch eingeführt wird. Doch bald darauf scheint der Moralbegriff nicht mehr in diesem weiten formalen Sinn verstanden zu werden, sondern auf »Solidarität« eingeengt zu sein: »Noch anders und theoretisch formuliert: Moral und Ökonomie, Solidarität und Wettbewerb scheinen im Handlungsvollzug in einer Marktwirtschaft mit Wettbewerb in einem unlösbaren Gegensatz zu stehen.«52 So kennt eine utilitaristische Ethik keine moralischen Werte, sondern nur das eine moralische Prinzip der Glücksmaximie­ rung der größtmöglichen Zahl. Anders formuliert: Immer wieder legen die Kontexte der Verwendung des Begriffs »Moral« nahe, dass dieser Moral im Sinne eines Altruismus/Moralismus auf der Hand­ lungsebene zu bestimmen scheint. Dann ist Moral notwendigerweise unter Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen selbstschädigend, z. B. wenn man Arbeitsplätze in Deutschland schafft, obwohl Litauen in der Gesamtsumme billiger wäre und so einen höheren Gewinn möglich machen würde. Wenn die Konkurrenz in Litauen produziert, hat sie einen Wettbewerbsvorteil. Ähnliches gilt für die Begriffe von »Vorteil« und »Eigeninter­ esse«. Hier wird einerseits ein weiter Begriff veranschlagt, der sowohl 51 52

Homann/Lütge (2004), 12. Ebd., 25.

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

den ehemaligen Präsidenten Donald Trump als auch die verstorbene Ordensschwester Mutter Theresa einschließt, andererseits wird doch eine Einengung vorgenommen, die erlaubt, den »Homo oeconomi­ cus« als Analyseinstrument zu verwenden. ●



Definition im Sinne des Homo oeconomicus: Entscheidungsträ­ ger, der in rationaler Weise seine eigenen Interessen (Präferen­ zen) maximiert – Mutter Theresa maximiert rational ihre Präferenz, den Armen und Kranken zu helfen – Donald Trump maximiert rational seine Präferenz, seine Weltsicht gegen alle anderen durchzusetzen Konsistenzpostulat für Entscheidungen – Mutter Theresa handelt nicht mehr konsistent, wenn sie Reichen eher hilft als Armen. – Donald Trump handelt nicht mehr konsistent, wenn er Fridays for Future unterstützt.

Aber ist dies überzeugend? Während nämlich für global agierende Unternehmen der »Homo oeconomicus« als Analyseinstrument her­ vorragend geeignet ist, taugt dieses Instrument in vielen weiteren Kontexten gerade nicht – und zwar nicht nur im Blick auf Ordens­ schwestern, sondern auch im Bereich von Wirtschafts- und Unterneh­ mensethik. Hier kommen oftmals »Vorteilsüberlegungen« ins Spiel, die nicht mehr mit Kategorien des Rationalen oder des Eigeninter­ esses reformuliert werden können. So könnte ein mittelständischer Unternehmer, der emotional mit Deutschland und Deutschlands »Wohlergehen« sehr verbunden ist, in Deutschland Arbeitsplätze schaffen, wohl wissend, dass er in Litauen in der Gesamtsumme profitabler sein könnte. Das bedeutet aber auch: Das »Gefangenen­ dilemma« ist nicht das, sondern nur ein Paradigma für das Prob­ lem konfligierender Eigeninteressen (Mutter Theresa ist eventuell schlecht informiert). Hauptgrund für diese Uneindeutigkeit ist die prinzipielle Unklarheit. Was meint Homann, wenn er schreibt: »Sämtliche Pro­ bleme dieser modernen Welt, von denen wir unter 1.1 ausgegangen waren, lassen sich als soziale Fallen interpretieren«53? Geht Homann davon aus, dass zwar nicht alle, aber alle moralisch relevanten Pro­ bleme dieser modernen Welt letztlich soziale Fallen darstellen? In 53

Homann/Lütge (2004), 50.

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1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

diesem Fall wäre seine Aussage schlicht falsch. Es gibt moralische Probleme in dieser modernen Welt, die nicht mehr als soziale Fallen darstellbar sind. Zwar lässt sich beispielsweise ein Terrornetzwerk in vielen Bezügen »in terms of economics« rekonstruieren, aber mögli­ cherweise entgeht dabei ein ganz wesentlicher Faktor, nämlich der Faktor bestimmter Überzeugungen, die nicht mehr auf falsch gesetzte Regeln rückführbar sind, sondern deren Gründe nicht mehr erklärbar sein müssen. Wenn Homann aber die Einschränkung akzeptiert, seine Konzeption sei für eine bestimmte Problemstellung entwickelt, wofür andere Aussagen sprechen54, dann wäre es angebracht, deutlicher sichtbar zu machen, welche Problemstellungen er ausnimmt, um Missverständnisse zu vermeiden. Ethik ist dann eben mehr als eine Heuristik für Inhalte von Normen und Regeln. Sie behält eine funda­ mentale Aufgabe auch für Implementationsfragen. Die Ökonomik behält für diese eine wesentliche Funktion, aber sie hat – gegen bestimmte homannsche Äußerungen – keinen Alleinvertretungsan­ spruch als Analyseinstrument. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Homanns Ansatz hat die Stärken, das Eigeninteresse der Betroffenen ernst zu nehmen und die Bedeutung der Implementation von Regeln (cf. manche falsche Regel­ setzungen, die zum Dieselskandal führten) in den Fokus zu rücken. Allerdings scheint er den Begriff des Einzelinteresses unspezifisch zu verwenden, weshalb Nida-Rümelin sogar von einer Falsifizierung des Dogmas »Homo oeconomicus« im Sinn des Gefangenendilemmas spricht55, weil es eben Handlungen ganz verschiedenen Typs gibt, die wiederum abhängig von gewählten Optionen sind: ● ● ● ●

Fundamentaloption = Lebenssinn Langfristige Optionen, z. B. Berufswahl, Partnerwahl usw. Optionen mittlerer Reichweite, z. B. Autokauf Handlungsoptionen, z. B. lieber Eis als Kuchen zum Nachtisch

Prominent wird die These, alles würde Marktmechanismen unter der methodischen Annahme des Homo oeconomicus gehorchen, von religiöser Seite kritisiert: »Wie der Staat zu Zeiten des alten Kapitalismus die Grundrechte der Arbeit verteidigen musste, so müssen nun im neuen Kapitalismus 54 55

Vgl. Homann/Blome-Drees (1992), 34ff. Vgl. Nida-Rümelin (2020), 132–141; 355f.

58 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

sowohl er (der Staat) als auch die gesamte Gesellschaft die gemeinsa­ men Güter verteidigen, die im übrigen den Rahmen bilden, innerhalb dessen allein jeder rechtmäßig persönliche Ziele verfolgen kann. Hier befindet sich eine andere Grenze des Marktes: Es gibt gemeinsame und qualitative Bedürfnisse, die mit Hilfe seiner Regeln und Einrichtungen nicht erfüllt werden können. Es gibt menschliche Erfordernisse, die sich seiner Logik entziehen. Es gibt Güter, die auf Grund ihrer Natur weder verkauft noch gekauft werden können.«56

Es gibt diese guten Gründe, den »economic point of view« in Frage zu stellen und einen völlig anderen Ansatzpunkt für eine Wirtschafts­ ethik zu wählen, wie es Peter Ulrich getan hat. Dabei stellt er sich in eine philosophische Tradition, die von Kant über Marx bis zu Rawls und Habermas reicht.

1.4.3 Wirtschaftsethik in kantisch-marxscher Tradition: moral point of view Peter Ulrichs Ansatz geht von der kantischen Überzeugung aus, dass wir Menschen vernünftige Personen sind, die aus diesem Grund einen moralischen Sinn haben. Dabei versteht Kant den guten Willen des Menschen als zentralen, ebenfalls aller Erfahrung vorgängigen, nicht empirisch wahrnehmbaren Ausgangspunkt seiner praktischen Vernunft, sodass er auch von transzendentaler Freiheit spricht.57 Dieser gute Wille, der allein eine Handlung zu einer moralischen macht, ist damit der Gegenpart zum eigeninteressierten Willen, der nach Kant amoralisch, also zwar nicht notwendig unmoralisch, aber auf jeden Fall nicht moralisch ist. Der gute Wille erweist sich dabei als ein Handeln aus Pflicht. Dieses lässt sich im Unterschied zum pflichtgemäßen Handeln nicht empirisch feststellen. Wir wissen bei­ spielsweise nicht, wenn uns ein Verkäufer nicht übervorteilt, ob er dies aus Pflicht tut, d. h., kein Eigeninteresse im Spiel ist, oder ob er diese pflichtgemäße Handlung des Nichtübervorteilens deshalb vollzieht, weil er ansonsten Nachteile für sein weiteres Geschäft befürchtet, also 56 Johannes Paul II. (1991), Nr. 40, zitiert nach DH 4907. Suchanek (2015) hat diese Kritik in seiner Unternehmensethik, die ursprünglich von Homann sehr beeinflusst war, berücksichtigt. 57 Vgl. die einschlägigen Texte, die in Knoepffler (2019), 113–131 zusammenge­ stellt sind.

59 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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aus Eigeninteresse handelt. Maßgabe des Handelns aus Pflicht, also des moralischen Handelns, ist der kategorische, d. h. der ohne jede Bedingung geltende Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«58. Dabei ist das allgemeine Gesetz strukturell als Naturgesetz zu denken. Dieser Imperativ kann nach Kant deshalb auch so lauten: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Wil­ len zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.«59 Dabei ist dieser Imperativ nicht von außen an den Einzelnen herangetragen, sondern entspringt der eigenen praktischen Vernunft, und damit auch dem eigenen guten Willen, nicht aber den eigenen Neigungen, modern formuliert: Der Imperativ entspringt gerade nicht dem Eigeninteresse. Kant spricht deshalb auch von Autonomie, von Selbstgesetzgebung (griechisch: autos = selbst, nomos = Gesetz): Die praktische Vernunft ist autonom, weil die Regeln gemäß dem kategorischen Imperativ aus ihr selbst entspringen. Sie ist autonom, weil diese Regeln in derselben Ausnahmslosigkeit wie Naturgesetze geltend eben Gesetzescharakter haben; denn alle vernünftigen Lebewesen partizipieren an dieser praktischen Vernunft. Sie ist in diesem Sinn allen gemeinsam. Diese Autonomie nennt Kant auch Freiheit des Willens: »was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein.«60 Karl Marx (1818–1883) hat die zumindest augenscheinlich geschichtsmächtigste Philosophie verfasst. Seine Philosophie hat einerseits die sozialistische Bewegung auf der ganzen Welt begründet, sie hat andererseits, ob freilich seinen Intentionen folgend sei dahin­ gestellt, im realen Sozialismus leninistischer Prägung für mehr als siebzig Jahre die Weltpolitik grundlegend mitbestimmt. Marx hat in seiner Philosophie eine außergewöhnliche Synthese vollbracht: Er verbindet zentrale Gedanken der hegelschen Philoso­ phie (historische Dialektik), feuerbachscher Religionskritik (Materia­ lismus), der Arbeitswertlehre der klassischen Volkswirtschaftslehre von Smith und Ricardo und dem utopischen Sozialismus eines Owen, Saint-Simon und Fourier. Sein eigentliches Ziel besteht darin, Phi­ losophie praktisch werden zu lassen; denn die praktisch gewordene Kant (1968 [1785]), 421. Ebd., 421. 60 Ebd., 446f. Dieser Autonomiebegriff ist also nicht mit einem heutigen Autonomie­ begriff zu verwechseln, der Autonomie mit Selbstbestimmung des Einzelnen gleich­ setzt. 58

59

60 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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Philosophie wird dafür sorgen, dass das Proletariat, die Arbeiter und Bauern, eigentlich alle kleinen Leute, ihre Lage erkennen und ihr wirkliches Glück anstreben. Hieraus speist sich auch ein Teil seiner Religionskritik, denn er wirft der Religion vor, Opium des Volkes zu sein und so zu verhindern, dass die Arbeiter und Bauern wieder Herren ihrer eigenen Arbeit werden. Wie ist die gesellschaftliche Situation? Arbeiter und Bauern sind nach Marx durch die Kapitaleigner ihrer Arbeit entfremdet; denn sie genießen weder den Mehrwert der Arbeit noch das Pro­ dukt als solches. Stattdessen werden sie ausgebeutet. Der zentrale Gedanke lautet: »[...] Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegen­ stand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomi­ schen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständli­ chung als Verlust des Gegenstandes und Knechtschaft unter dem Gegen­ stand, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung. [...] In der Bestimmung, dass der Arbeiter zum Produkt seiner Arbeit als einem fremden Gegenstand sich verhält, liegen alle diese Konsequenzen. Denn es ist nach dieser Voraussetzung klar. Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, umso mächtiger wird die fremde, gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, umso ärmer wird er selbst, seine innere Welt, umso weniger gehört ihm zu eigen. Es ist ebenso in der Religion. Je mehr der Mensch in Gott setzt, je weniger behält er in sich selbst. Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand.«61

Vor dem Hintergrund des sog. Manchester-Kapitalismus des neun­ zehnten Jahrhunderts, wo Kinderarbeit und Verelendung weiter Mas­ sen und die Verarmung der bäuerlichen Schichten immer mehr zunah­ men, zeigt sich das wahre Anliegen der Philosophie von Marx: Es geht um ein sofortiges Handeln, um diese Missstände zu beseitigen. Da dies weder von den Herrschenden und Kapitaleignern, weder von kirchlichen Autoritäten noch der Kathederphilosophie zu erwarten steht, also nicht von der zu seiner Zeit existierenden bürgerlichen Gesellschaft als solcher, ruft Marx das Proletariat zur Revolution auf. Im Schema der dialektischen Geschichtsphilosophie Hegels, die er für seine Zwecke modifiziert, deutet er diese Revolution als notwendigen 61

Marx (2019 [1844]), 5.

61 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

geschichtlichen Schritt, der zur Vollendung der Geschichte in der klas­ senlosen Gesellschaft führen wird. Ein weiterer zentraler Unterschied zur hegelschen Geschichtsphilosophie besteht dabei darin, dass Marx den Primat der Materie, der Produktionsverhältnisse, über den Geist, die Gesellschaft, als grundsätzliches Dogma seiner Philosophie bei dieser Deutung beibehält. Beeinflusst von Marx und von Kants formaler Ethik, aber ohne dessen metaphysische Annahmen eines transzendentalen Faktums der Vernunft, formuliert Jürgen Habermas seine Diskursethik: »Die diskursethische Erklärung der Vernunftmoral ist ein Vorschlag zur Detranszendentalisierung des kantischen Begriffs der Autonomie. Damit wird der Gebrauch der praktischen Vernunft vom intelligiblen Ich auf eine intersubjektiv ausgeübte Selbstgesetzgebung in prakti­ schen Diskursen umgestellt, gleichzeitig bleibt aber das einzelne Sub­ jekt die Instanz, die über Handeln und Unterlassen entscheidet.«62

Systematischer Ausgangspunkt ist hierbei die wechselseitige Aner­ kennung der am Gespräch – Habermas spricht von »Diskurs« – betei­ ligten Menschen. Dies ist die eigentliche Pflicht jedes Gesprächsteil­ nehmers. Zwischen ihnen ist als Vernunftwesen eine grundsätzliche Verständigung möglich. Dabei kommt ein klassisches Argument zum Tragen: Wer diese wechselseitige Anerkennung als mündiges Subjekt bestreitet, begeht in diesem Akt des Bestreitens einen pragmatischen Selbstwiderspruch, weil er sein Gegenüber gerade in diesem Bestrei­ ten für würdig hält, dass mit diesem argumentiert wird. So ist jedes faktische Argumentieren ein Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation zwischen mündigen Subjekten. Dabei ist Habermas davon überzeugt, dass mündige und damit vernünftige Subjekte in einem herrschafts­ freien Diskurs diejenigen Normen finden werden, die alle Betroffenen einschließlich der damit verbundenen Folgen akzeptieren können. In der Diskursethik tritt an die Stelle des kantischen kategorischen Imperativs das Verfahren der moralischen Argumentation. Sie stellt den Grundsatz auf, dass nur diejenigen Normen Geltung beanspru­ chen dürfen, die die zwanglose Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmende eines praktischen Diskurses finden könnten. John Rawls (1921–2002) hat praktisch zeitgleich mit Habermas eine Theorie der Gerechtigkeit mit großer Wirkmächtigkeit für eine »Einhegung« des Eigeninteresses und damit auch von unternehme­ rischem Handeln entworfen, von der er überzeugt ist, dass sie die 62

Habermas (2019), 762.

62 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

zwanglose Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmenden eines praktischen Diskurses finden könnte. Wäre das soziale Zusammenleben ein Nullsummenspiel bzw., korrekt formuliert, ein Spiel mit konstanten Summen wie beispiels­ weise das Schachspiel, dann würde nur eine gleiche Verteilung als gerecht gelten können, denn was der eine gewinnt, verliert der andere. Da jedoch die sozialen und ökonomischen Grundgüter variabel sind, kann der Vorteil des einen zugleich auch der Vorteil des anderen sein. Das soziale Zusammenleben ist also nicht als Nullsummenspiel zu verstehen. Ungleichverteilung von sozialen und ökonomischen Gütern kann beispielsweise über Wirtschaftswachstum zu größeren Vorteilen für die am meisten Benachteiligten in einer Gesellschaft führen als eine Gleichverteilung. Auf Grund dessen formuliert Rawls als Lösung des Problems einer optimalen Verteilung sozialer und ökonomischer Güter das Differenzprinzip: »Das Differenzprinzip [difference principle] bedeutet faktisch, dass man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozia­ len und wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplemen­ taritäten dieser Verteilung ermöglicht werden. Wer von der Natur begünstigt ist, sei es, wer es wolle, der darf sich der Früchte nur so weit erfreuen, wie das auch die Lage der Benachteiligten verbessert. [...] Niemand hat seine besseren natürlichen Fähigkeiten oder einen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient. Doch das ist natürlich kein Grund, diese Unterschiede zu übersehen oder gar zu beseitigen. Vielmehr lässt sich die Grundstruktur so gestalten, dass diese Unter­ schiede auch den am wenigsten Begünstigten zugutekommen«63.

Rawls erläutert das Prinzip in folgender Weise: »Beispielsweise sind die größten Vermögens- und Einkommensun­ terschiede zulässig, wenn sie nötig sind, damit die Aussichten der am wenigsten Bevorzugten auch nur im geringsten steigen. Doch gleichzeitig sind Ungleichheiten zugunsten der Bevorzugteren verbo­ ten, wenn die am schlechtesten Gestellten den geringsten Nachteil davon haben«64.

Zum Verständnis dieses Prinzips ist dabei zu beachten, dass Rawls die natürlichen Voraussetzungen der einzelnen Personen als mora­ 63 64

Rawls (2021), 122f. (korrigierte Übersetzung). Ebd., 181.

63 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

lisch neutrale Tatsachen versteht, während er die Art, wie sich die Institutionen angesichts dieser Tatsachen verhalten, als gerecht oder ungerecht bezeichnet. Liegt Ungerechtigkeit vor, dann verlangt das Differenzprinzip eine Umverteilung von den Bessergestellten zu Gunsten der am schlechtesten Gestellten. Nehmen wir ein extremes Beispiel: Einem Reichen, der einen riesigen Vorrat an Essen hat, würde davon etwas weggenommen – also eine Umverteilung zu seinen Ungunsten vorgenommen, wenn dies der einzige Weg wäre, einem Verhungernden das Leben zu retten. Mit dieser Forderung stellt sich Rawls, das ist in diesem Zusammenhang entscheidend, gegen ein in der Ökonomie bekanntes Prinzip: das nach dem italienischen Soziologen und Mathematiker Vilfredo Pareto (1848–1923) benannte Pareto-Prinzip. Es besagt: Ein Optimum ist dann erreicht, wenn keine Veränderung mehr möglich ist, ohne dass ein Betroffener bzw. eine betroffene Dimension benachteiligt werden. Nach Rawls ist jedoch die soziale Gerechtigkeit wichtiger als die Pareto-Optimalität, ansonsten wäre jede Schlechterstellung faktisch Begünstigter ausgeschlossen.65 Umverteilungen müssen dabei einen Zeithorizont beachten. Sie dürfen nicht zu kurzfristig angesetzt werden, denn sonst gehen langfristige Vorteile gerade auch für die am wenigsten Begünstigten verloren. Andererseits müssen sie in deren Lebensspanne stattfinden. Außerdem muss dafür Sorge getragen werden, dass durch gewisse Einsparungen jede Zeit für nachfolgende Generationen Vorsorge leis­ tet.66 »In den Wirtschaftswissenschaften bezeichnet man in einem Zustandsvergleich eine Verteilungsstruktur T dann als ›pareto-besser‹ im Vergleich zu einer Verteilungs­ struktur S, wenn sich in T mindestens eine Person besser stellt als in S und alle anderen Personen sich in T im Vergleich zu ihrer Lage in S nicht verschlechtert haben. Ist hingegen ein Verteilungszustand so geartet, dass es unmöglich ist, die Position eines Individuums zu verbessern, ohne zugleich die Lage eines anderen zu verschlechtern, dann bezeichnet man ihn als ›pareto-optimal‹ . Gehen wir von einer bestimmten Anzahl nicht vermehrbarer Güter aus, die auf eine bestimmte Anzahl von Personen zu verteilen ist, so ist jede denkbare Verteilungsstruktur pareto-optimal, da jede Verbesserung eines Individuums im Vergleich zur Ausgangszuteilung die Verschlech­ terung mindestens eines anderen Individuums im Vergleich zur Ausgangszuteilung impliziert. Nicht jede dieser möglichen pareto-optimalen Verteilungen würde man jedoch als gerecht bezeichnen. Das zeigt sich schon daran, dass selbst noch ein Zustand, in dem einer alles besitzt, ..., die Bedingung der Pareto-Optimalität erfüllt, denn die Besserstellung der Habenichtse verlangt Umverteilung, und Umverteilung besagt, dass dem, der alles hat, etwas genommen werden muss« (Kersting (1993), 56). 66 Rawls spricht in diesem Zusammenhang von einem Spargrundsatz zugunsten kommender Generationen: »Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten (inequalities) 65

64 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

Rawls versteht das System, das aus dem Differenzprinzip folgt, als ein System der demokratischen Gleichheit. Das bedeutet: Die gerechte Gesellschaft gibt jeder Person die Möglichkeit, besonders aber den am schlechtesten Gestellten, einen vernünftigen Lebensplan zu realisieren. Auf das Wirtschaftssystem übertragen heißt dies, dass beispielsweise Unterschiede in der Bezahlung der Beschäftigten dann zulässig sind, wenn davon die am schlechtesten Gestellten profitieren. Dieser Grundgedanke und die ihn begründende Theorie stellt ein philosophisches Ereignis ersten Ranges dar, weil es mit der Überzeu­ gung bricht, dass es darum geht, die Nutzensumme zu maximieren. Dies wird vielfach als Kriterium wünschenswerter sozioökonomischer Institutionen betrachtet. Damit wird aber gerade keine besondere Rücksicht auf die schlechter Gestellten genommen. Wie aber ist ein solches System durchzusetzen? Wie können sozioökonomische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das Differenzprinzip implementieren? Hier geht Rawls davon aus, dass wir als Menschen einen Gerechtigkeitssinn haben.67 Er geht also von einem Primat der Ethik vor der Ökonomie aus. Unsere wohl­ überlegten, von Vorurteilen gereinigten Gerechtigkeitsvorstellungen würden nach eingehender Analyse unterschiedlicher Gerechtigkeits­ urteile zum Differenzprinzip führen. Dieses wohlerwogene durch den Gerechtigkeitssinn gerechtfertigte Differenzprinzip (und freilich auch die hier nicht besprochenen anderen Teile der Gerechtigkeitsgrund­ sätze) illustriert Rawls mit folgender Urzustandskonstruktion: Menschen, die keinen Neid kennen, würden sich in einem Urzu­ stand, der sie als gleich und frei bestimmt, unter dem »Schleier des Nichtwissens« über ihre spätere Stellung in der Gesellschaft, über ihre dortigen Fähigkeiten wie Intelligenz und Körperkraft auf das Differenzprinzip einigen; denn damit würden sie sich absichern. Da sie nicht wissen, welche Rolle sie in der Gesellschaft einnehmen und welche Fähigkeiten sie besitzen, ist es für sie von Vorteil einem Prinzip zuzustimmen, das denjenigen Vorteile bringt, die am schlechtesten gestellt sein werden. Außerdem würden sie keinen Zeitraum in der Geschichte besonders auszeichnen, da sie ja nicht wüssten, wann sie geboren werden. Sie würden also die intergenerationelle Gerechtig­ keit berücksichtigen. müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen« (Rawls (2021), 336). 67 Ebd., 66.

65 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Zur Begründung der Sinnhaftigkeit des Differenzprinzips führt Rawls heuristisch die Maximinregel aus der Ökonomie an: Diese Regel empfiehlt für Entscheidungen unter Unsicherheit, also wenn keine Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen bestimmter Ergebnisse berechenbar sind, diejenige Alternative zu wählen, »deren schlecht­ möglichstes Ergebnis besser ist als das jeder anderen«68. Die Men­ schen würden durch die Wahl der Alternative »Besserstellung der am schlechtesten Gestellten« in diesem Sinn der Maximinregel fol­ gen. Da sie nicht wissen, wo sie in der Gesellschaft ihren Platz fin­ den, optimieren sie das schlechtmöglichste Ergebnis, nämlich in der Gesellschaft am schlechtesten gestellt zu sein. Die Menschen würden also im Urzustand das Differenzprinzip aus Vorteilserwägungen in der Grundstruktur ihrer Gesellschaft vertraglich verankern. Dieses Prinzip und damit eine gerechte soziale Grundstruktur wären im Interesse aller Betroffenen. Haben wir es also im Sinne von Smith mit reinen Vorteilserwägungen zu tun? Hat Rawls mit dieser Urzu­ standskonstruktion Abschied von einer philosophischen Begründung sozialer Gerechtigkeit genommen? Im Gegenteil: Er hat die Bedingungen des Urzustands gemäß sei­ ner philosophischen Grundüberzeugung konstruiert. Wörtlich heißt es: »Diese Bedingungen sollen offenbar die Gleichheit zwischen Menschen als moralischen Personen (moral persons) darstellen, als Wesen mit einer Vorstellung von ihrem Wohl (good) und einem Gerechtigkeitssinn (sense of justice).«69 Die Personen des Urzustands werden also, das ist hierbei eine entscheidende Pointe, so konstruiert, dass sie moralischen Personen mit einer Vorstellung von ihrem Wohl und einem Gerechtigkeits­ sinn entsprechen. Deswegen ist Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit im Unterschied zu Smith dezidiert philosophisch und nicht ökonomisch. Rawls blendet nämlich auf diese Weise die subjektiven Präferenzen aus. Wie der Urzustand illustriert, herrscht auf der Prinzipienebene bezüglich der Präferenzen für Grundgüter Interessenidentität. »Unter dieser Voraussetzung wird die ökonomisch-egoistische Perspektive in die moralische Perspektive transformiert.«70 Hier wird auch Rawls‘ kantisches Erbe deutlich: Der Kunstgriff »Schleier des Nichtwissens« erlaubt Rawls, die Menschen des Urzu­ 68 69 70

Rawls (2021), 178. Ebd., 36 (korrigierte Übersetzung). Vgl. ebd., 29. Anzenbacher (1997), 99.

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

stands so zu konstruieren, dass durch die Ausblendung spezifischer subjektiver Präferenzen nur noch jene Motivationen als rational übrigbleiben, die der kantischen Idee einer allgemeinen Gesetzge­ bung entsprechen. Deshalb kann jeder seinen Vorteil nur als jeder­ manns Vorteil denken. Damit kommen sie zu demselben Ergebnis wie moralische Personen mit einem Gerechtigkeitssinn. Mit diesem geschickten Zug bietet Rawls eine Lösung für das Implementations­ problem an, ohne die Moralität aus der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie zu verabschieden. Peter Ulrich stellt sich in diese Tradition und vertritt den Primat der Ethik vor der Ökonomie. In der von ihm »integrativ« genannten Wirtschaftsethik geht es um eine ethisch-kritische Reflexionsorien­ tierung, einen »moral point of view«71. Es geht darum, auch unter den Bedingungen moderner Gesellschaften der Vernunftethik Vorrang vor der Ökonomie zu geben, also die einzelnen Akteure in der Wirt­ schaft als verantwortliche, moralische Subjekte ernst zu nehmen. Dies geschieht aber im Unterschied zu klassischen Modellen nicht durch moralische Appelle, sondern dadurch, die Akteure als Teilnehmer an einem vernünftigen Diskurs bzw. Dialoggeschehen zu verorten. Das Ziel ist die »Transformation der ökonomischen Vernunft«, die, hierin ist sich Ulrich mit den meisten Wirtschaftsethikern einig, nur institutionentheoretisch zu lösen ist. Dabei wendet sich Ulrich ausdrücklich gegen eine Form der Transformation, die entweder Moral auf der Handlungsebene ökonomisiert oder die umgekehrt die Moral als korrektive Eingrenzung der ökonomischen Rationalität durch Überordnung von rein appellativen moralischen Ansprüchen definiert. Vereinfacht gesagt: Ulrich möchte ernst nehmen, dass wir in modernen Gesellschaften leben, in denen reine Appelle nicht wei­ terhelfen. Andererseits will er jedoch den Einzelnen nicht aus seiner moralischen Verantwortung entlassen. Das integrative Element der Konzeption Ulrichs besteht genau darin, der ökonomischen Rationa­ lität nicht das letzte Wort zu lassen, sondern sie in einen ethischen Rahmen einzupassen, der aber eben nicht ein appellativer bleibt. Dies kann nach seiner Überzeugung dann gelingen, wenn wir als moralische Subjekte in einer Diskursgemeinschaft die moralischen Normen und Werte aushandeln, statt sie uns durch eine angeblich ökonomische Sachlogik vorgeben zu lassen, und wenn wir Sanktions­ mechanismen festlegen. Gerade der Öffentlichkeit kommt darum 71

Ulrich (2016), 135.

67 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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eine besondere Rolle zu. Die »unbegrenzte allgemeine Öffentlich­ keit aller mündigen (Wirtschafts-)Bürger [ist] aus diskursethischer Sicht als die gedankliche ›Meta-Institution‹ (Apel) oder der (oberste) systematische Ort der unternehmensethischen Legitimation zu begrei­ fen«72. Die kommunikativ-ethische Rationalität gibt die eigentliche Zielrichtung an, die letztlich in der Wahrung der Subjektstellung und Würde des Menschen auch im Arbeits- und Wirtschaftsprozess besteht. Darum können sich auch Führungskräfte nicht auf eine rein ökonomische Sachlogik berufen. Im Gegenteil tragen sie für diese »Meta-Institution« eine wesentliche Verantwortung. Der Ort der Moral ist darum in diesem Modell ein im Diskurs erreichter, normativer Unterbau, den alle betroffenen »(Wirtschafts-)Bürger« festsetzen. Ethik ist der Ökonomik vorgeordnet und hat »eine andere, sozialökonomische Rationalität«73 zu schaffen. Pies hat sehr gut herausgearbeitet, warum gerade der einge­ forderte Diskurs so oft scheitert. Viele nicht angemessene Regeln entstehen, wie das Beispiel mit der Auszahlung für Vestibularisprü­ fungen gezeigt hat, weil die Fiktion des herrschaftsfreien Diskurses übersieht, dass es sehr häufig, wenn eigene Interessen berührt sind, zu Ergebnissen kommt, die diejenigen durchsetzen, die in den Aus­ handlungsprozessen am geschicktesten agieren oder die größte Macht haben. Der moral point of view ist in gewisser Weise blind dafür, dass die Teilnehmer des Diskurses meist eigeninteressiert sind und damit gerade leider weder dem besten Argument folgen noch aus Pflicht entscheiden. Das Eigeninteresse der Betroffenen wird nicht hinreichend berücksichtigt. Zudem konnte Pies74 sehr gut zeigen, wie sehr gerade die Medien den moralistischen Fehlschluss der Appellititis, so sein Terminus, begehen. Dabei wird die institutionelle Regelebene übersprungen. Es werden also auf der Handlungsebene Forderungen aufgestellt, die unter den Bedingungen der Rahmenord­ nung für die Akteure selbstschädigend sind. Als Ausgangspunkt wer­ den hier oft Unternehmensskandale genommen, ohne die für diese Skandale verantwortlichen systemisch verfehlten Anreizstrukturen auf der Regelebene in Betracht zu ziehen. Wenn alle Hersteller von Dieselfahrzeugen überhöhte Abgaswerte um das bis zu Zwanzigfache hatten, auch wenn nur dem Volkswagenkonzern eindeutig ein Rechts­ 72 73 74

Ulrich (2016), 485. Ebd., 135. Vgl. Pies (2021).

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

bruch nachgewiesen werden konnte, dann waren entweder die Regeln zu unbestimmt oder die Durchsetzung der Regeln nicht hinreichend bedacht worden. Der zweite moralistische Fehlschluss, der auf der Diskursebene begangen wird, von Pies dirigistischer Fehlschluss genannt, fordert Regeländerungen, die mittelfristig zu Fehlanreizen führen, also das, was verbessert werden soll, noch schlimmer macht. Ein Beispiel dafür war die Abstimmung in Berlin, Wohnungen zu verstaatlichen, ohne zu berücksichtigen, dass damit für Private der Anreiz gesetzt wird, dort nicht mehr in Mietraum zu investieren. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die große Stärke dieses Ansatzes darin besteht, den Menschen als Person praktischer Ver­ nunft ernst zu nehmen, der bereit ist, nach menschendienlichen Lösungen auf den Ebenen von Wirtschaft, Unternehmen und Führung zu suchen. Die Schwäche besteht darin, systematisch das Gewicht des menschlichen Eigeninteresses zu unterschätzen, weswegen es nötig ist, den Ansatz von Ulrich mit dem Ansatz von Homann zusammenzudenken und einen holistic point of view zu entwickeln.

1.4.4 Das Jenaer Modell: holistic point of view Die bisher behandelten Ansätze enthalten wichtige Einsichten, die im Jenaer Modell der Wirtschaftsethik fruchtbar gemacht werden kön­ nen. Religiöse Ethiken, die bis heute für viele Menschen bedeutungs­ voll sind, betonen die Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln und stellen das Mitgefühl für die Mitmenschen in den Mittelpunkt. Nach Homann dagegen ist die herausragende Bedeutung des Eigen­ interesses für wirtschaftsethische Überlegungen ernst zu nehmen. Die Regelebene ist darum von wesentlicher Bedeutung bezüglich der als Homines oeconomici zu modellierenden Wirtschaftssubjekte. Von Ulrich ist jedoch zu lernen, dass Ethik nicht ausschließlich mit ökono­ mischer Methode zu betreiben ist, sondern gerade die Regelebene einer transökonomischen, ethischen Grundlagenreflexion bedarf und zudem ganz wesentlich davon abhängig ist, wie die Diskursebene gestaltet ist. Der systematische Ort der Moral ist darum eben nicht nur die Regelebene, welche die als Homines oeconomici modellierten Wirt­ schaftssubjekte »domestiziert«, sondern ebenfalls die Handlungsund Diskursebene: Jeder Kapitaleigner und Arbeitgeber, jeder Mana­ ger und sonstige Arbeitnehmer bleibt für seine Handlungen auch

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dann moralisch verantwortlich, wenn die Regelebene diese gerade nicht reguliert. Wenn Regeln, aus welchen Gründen auch immer, lebensfeindlich sind, kann sich der Einzelne nicht darauf berufen, dass er nur den Regeln gefolgt ist. Zugleich kann sich auch niemand aus der Verantwortung für den öffentlichen Diskurs »stehlen«, der ganz wesentlich die Weichen für die Regelungen legt. Der öffentli­ che Diskurs ist nämlich in zweierlei Hinsicht gefährdet: einerseits einen moralistischen Fehlschluss zu begehen, also von einzelnen Wirtschaftsakteuren Handlungen zu verlangen, die für diese selbst­ schädigend sind, wenn Regeln nicht entsprechend gesetzt und durch­ gesetzt werden, anderseits einen normativistischen Fehlschluss zu begehen, also darauf hinzuwirken, dass nicht angemessene Regelun­ gen beschlossen oder nicht angemessene Umsetzungsmechanismen für diese Regelungen eingeführt werden. Ein mittlerweile klassisches Beispiel hierfür war die Einführung von Kraftstoffen auf Basis von Biomasse. Als Folge davon wurden Felder, die bisher für die Herstel­ lung von Nahrungsmitteln zur Verfügung standen, für die Produktion von Pflanzen für Biomasse genutzt, wodurch es zu einem Preisanstieg für Lebensmittel kam. Gerade die Ärmsten der Armen konnten sich nicht mehr hinreichend Lebensmittel kaufen, was zu Hungersnot in manchen Gegenden der Welt führte.

Abbildung 5: Moralistischer und normativistischer Fehlschluss75

Der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft ist in einer solchen Wirtschaftsethik darum sowohl die Öffentlichkeit, wo der Diskurs zur Regelfindung stattfindet, die Rahmenordnung, wo der 75

Die Abbildung ist entnommen aus Pies (2022), 241.

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1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

Regelsetzungsprozess zu einem Ergebnis geführt hat, als auch die Handlungsebene, auf der die Akteure wirtschaftlich agieren. Dabei wird ein holistischer Ansatz vertreten: Die grundlegenden Werte und Normen, Menschenwürde in Verbindung mit Menschenrechten, also das Prinzip der Personalität, Gerechtigkeit und damit verbunden die Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität, die helfen, sozial ver­ antwortliches unternehmerisches Handeln zu verwirklichen, sowie Nachhaltigkeit und die damit verbundenen Regeln, die eine ökolo­ gisch ausgerichtete Wirtschaft absichern, sind das Fundament. Dabei kommt es auch entscheidend darauf an, in der Umsetzung bereits die Diskurs- und Regelebene so zu gestalten, dass Moral und Eigeninter­ esse möglichst kompatibel werden. Ganz wesentlich ist in diesem holistischen Ansatz, dass die Strukturen untersucht werden, innerhalb derer Entscheidungen getroffen werden, um die Effizienz von Regelsystemen bei der Abstimmung von normativen Werten und Regierungspraxis zu för­ dern. Die holistische Wirtschaftsethik inkorporiert die Verfassungs­ ökonomie, die auf die Systemeffizienz achtet, d. h. auf die Festlegung umsetzbarer und durchsetzbarer Regelsysteme, die effizient mit legi­ timen normativen Zielen in Einklang gebracht werden. Die Regelset­ zung, ein Gestaltungsprozess, zielt darauf ab, Systeme zu schaffen, die durch die Integration der zentralen ethischen Grundsätze und Normen der Gesellschaft einen optimalen individuellen und sozialen Wert erzielen. Ein erfolgreiches Design ist eines, das individuelle und soziale Ziele klar als überlappend und nicht als widersprüchlich darstellt. Schlecht konzipierte Systeme stellen die Interessen der Füh­ rungskräfte gegen die Interessen der Mitarbeiter oder die Interessen der Branche gegen die Interessen der Gesellschaft und der Sozialnor­ men. Die Gestaltung wirksamer Regeln erfordert ein Verständnis der subjektiven Präferenzen der einzelnen Akteure, der Geschäfts­ prinzipien und der ethischen Werte, die die soziale Zusammenarbeit leiten und den öffentlichen Wert fördern. Es sollte offensichtlich sein, dass die holistische Wirtschaftsethik ein wertegeladener Ansatz ist, der Konsensprinzipien der Menschenwürde und der Menschenrechte sowie demokratische Prozesse zur Schaffung und Aufrechterhaltung der Legitimität von sozialen Regelsystemen voraussetzt. Das Prinzip der Menschenwürde bedeutet hierbei, dass allen Menschen auch im Bereich der Wirtschaft eine Würde zukommt, die keinen Preis kennt. Insbesondere bedeutet dies, dass jeder Ein­ zelne in wirtschaftlichen Beziehungen als Subjekt und prinzipiell

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gleich anerkannt wird. Niemand darf vollständig instrumentalisiert werden; niemand ist nur eine »human ressource« bzw. Humankapi­ tal. Diese Würde wird nicht nur zugeschrieben, sondern anerkannt. Diese Würde ist darum eng mit grundlegenden Menschenrechten verbunden, weswegen Arbeitsbedingungen diesen Menschenrechten Rechnung tragen müssen. So kommt jedem Menschen ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu, weswegen Arbeitsbedingungen so zu gestalten sind, dass sie das Leben und die körperliche Unversehrtheit nicht verletzen. Wenn in Fabriken die grundlegenden Sicherheitsmaßnah­ men fehlen, sodass bei einem Brand viele Arbeiterinnen ums Leben kommen, so ist dies ein besonders gravierendes Beispiel für die Verletzung dieses Menschenrechts. Aber auch wenn Arbeitende aus­ gebeutet werden, weil sie unter schlechten Arbeitsbedingungen teils 14 Stunden täglich gezwungen sind, tätig zu sein, so verstößt dies gegen das grundlegende Recht, hinreichend Erholung von der Arbeit zu haben. Kinderarbeit, z. B. die Teilnahme als Schauspieler in einer Fernsehserie oder einem Kinofilm, darf nur gebilligt werden, wenn dadurch die Entwicklung des Kindes nicht gefährdet ist und die geforderten Arbeiten kindgemäß sind. Die Rahmenordnungen, global wie national, sind deshalb so zu gestalten, dass die notwendigen Bedingungen für jeden gegeben sind, seine eigene Lebensgeschichte schreiben zu können. Sie müssen also für Arbeitnehmer hinreichend Freiräume schaffen. Zudem müssen diese Ordnungen auch so gestal­ tet sein, dass jeder das mit der Menschenwürde verbundene Persön­ lichkeitsrecht, selbstständig in Freiheit unternehmerisch tätig zu sein, entfalten kann. Wer die Achtung der Menschenwürde und diese grundlegenden Rechte negiert, handelt selbstwidersprüchlich, weil er dann im Akt dieses Nicht-Achtens, also pragmatisch in einem derartigen Hand­ lungsvollzug, den Anspruch auf die Achtung der eigenen Menschen­ würde preisgibt. Diese Achtung ist aber die notwendige Bedingung dafür, selbst ungefährdet leben und arbeiten zu können, weil die Menschenwürde das Fundament der Menschenrechte ist. Also ist es für jeden Einzelnen sinnvoll, die Menschenwürde der anderen als notwendige Bedingung für Handlungsvollzüge zu achten. Deshalb hat der Einzelne einen sehr guten Grund, einen freiheitlichen Rechts­ staat zu wollen, der entsprechende Rahmenbedingungen schafft, und sich dafür einzusetzen, dass dieser freiheitliche Rechtsstaat mit der Anerkennung der Menschenwürde, die Selbstbestimmung auch

72 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

in wirtschaftlichen Zusammenhängen ermöglicht, dauerhaft beste­ hen bleibt.76 Vor diesem Hintergrund fordert eine holistische Wirtschafts­ ethik, dass jede Person auf allen drei Ebenen, auf der Diskurs-, Regelund Handlungsebene, der Verantwortung nachkommt, sich dafür einzusetzen, dass die Menschenwürde und die damit verbundenen Menschenrechte gewahrt bleiben. Dies entspricht den ersten beiden Forderungen des United Nations Global Compact77: »1. Unternehmen sollen den Schutz der internationalen Menschen­ rechte unterstützen und achten. 2. Unternehmen sollen sicherstellen, dass sie sich nicht an Menschen­ rechtsverletzungen mitschuldig machen.«

Damit verbunden sind ein Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsver­ ständnis, welche die Richtung für ein wertorientiertes Wirtschaften weisen, ohne eine Selbstschädigung der Akteure in diesem Gesche­ hen einzufordern. Gerechtigkeit ist zugleich ein Menschenrecht und eine Men­ schenpflicht. Die Verpflichtung zur Gerechtigkeit ergibt sich aus fol­ gender einfacher und oft übersehener Überlegung: Wer beansprucht, aufgrund seines Subjektstatus zugleich als Gleicher geachtet zu wer­ den, hat die Verpflichtung, den anderen aufgrund dessen Subjektsta­ tus als Gleichen zu achten. Täte er dies nicht, beginge er performativ (lateinisch: performare = vollziehen) einen Widerspruch. Er würde aufgrund seines Subjektstatus vom anderen Achtung als Gleicher verlangen, diese aber zugleich umgekehrt dem anderen verweigern, obwohl diesem der gleiche Subjektstatus zukommt und er genau die gleiche Forderung nach Achtung als Gleicher aufgrund des ihm zukommenden Subjektstatus verlangen kann. Diese Verpflichtung hat eine individualethische und eine sozi­ alethische Dimension. Man könnte sie unter dem Begriff der Ver­ antwortung des Einzelnen, aber auch der institutionalisierten Verant­ wortung, insbesondere wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Institutionen, für eine gerechte Welt thematisieren.78 Vgl. dazu ausführlich Knoepffler (2021a), 41–45. Hier zitiert nach: https://www.globalcompact.de/ueber-uns/united-nations-glo bal-compact (zuletzt eingesehen am 19.04.2022). 78 Es steht außer Frage, dass diese ethische Forderung nicht mit einer rechtlichen Interpretation der Menschenwürde im Grundgesetz verwechselt werden darf. Hier ist 76 77

73 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Die grundlegende Herausforderung bei der Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips besteht darin, dass nicht nur die grundsätzli­ che Gleichheit im Hinblick auf Würde und Rechte, sondern auch die faktische Ungleichheit unter uns Menschen zu beachten ist.79 So wäre ein reiner Gerechtigkeitsegalitarismus (lateinisch: aequalitas = Gleichheit) in allen Belangen, wonach alle in allem das Gleiche zu bekommen haben, schlicht unsinnig. Das liegt an den unterschiedli­ chen Geschmäckern und Vorlieben. Diese Form der Gleichmacherei (umgangssprachlich) verfehlt den Sinn des Gerechtigkeitsprinzips. Auch würde beispielsweise eine völlig gleiche Entlohnung unter­ schiedlicher Tätigkeiten ohne jede Rücksicht auf ein meritokratisches (lateinisch: merere = verdienen) Element, also ohne eine angemes­ sene Berücksichtigung des Geleisteten, eher als ungerecht empfun­ den. Dagegen wäre ein gerechtigkeitstheoretischer Inegalitarismus im Hinblick auf das Recht auf Leben nicht hinnehmbar: Alle Men­ schen haben das gleiche Recht auf Leben. Soziale Gerechtigkeit von Individuen und Institutionen realisiert sich durch Solidarität, also das Mittragen der Schwächeren, und Subsidiarität, also der Eigenverantwortung jedes Einzelnen für sein Leben, sofern er dazu fähig ist. Die Gerechtigkeit hat eine weitere Dimension, die erst in jün­ gerer Zeit unter dem Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit wieder in den Vordergrund gerückt ist. Unproblematisch ist eine entsprechende Auslegung des Gerechtigkeitsgrundsatzes, sofern die Generationen bereits leben. Eltern schulden ihren Kindern Fürsorge, Kinder schulden ihren hilfsbedürftigen Eltern Fürsorge. Doch die diachrone Dimension sollte noch viel weitgehender gefasst werden. Es gibt nicht nur eine Verantwortung für das individuelle und soziale Wohl der heute existierenden Menschen, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen. Dahinter steht die Überzeugung, wie kostbar und schutzwürdig das menschliche Leben überhaupt ist. Jonas hat darum den Imperativ formuliert:

herrschende Meinung, dass dieser Würdeanspruch ebenso wie die mit ihm verbun­ denen Grundrechte keine Pflichtdimension beinhaltet. Allerdings kann eigens wie bei der in Art. 14 II GG festgelegten Sozialbindung im Fall des Grundrechts auf Privatei­ gentum praktisch eine dem Recht korrespondierende Pflicht rechtlich verbindlich sein: »Eigentum verpflichtet«. 79 Vgl. zu den folgenden Überlegungen Rawls (1999 [1971]), Höffe (1994, 2002 und 2004) und Horn (2003, 92–100).

74 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

»›Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‹, […] oder einfach: Gefährde nicht die Bedingungen für den infiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden«.80 Es erscheint daher als angemessener, aufgrund dieses großen Zeithorizonts auf den Begriff der intergenerationellen Gerechtigkeit zu verzichten und stattdessen den gerade in dieser Hinsicht bereits auch international eingeführten Begriff der Nachhaltigkeit zu verwen­ den. Gemäß dem gerade zitierten Imperativ ist auch Nachhaltigkeit (sustainability) bzw. nachhaltige Entwicklung (sustainable develop­ ment) eine Menschenpflicht. Der Begriff »Nachhaltigkeit« stammt aus der Forstwirtschaft, ursprünglich eingeführt von Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), und stellt ein Bewirtschaftungsprinzip dar, wonach nicht mehr Holz geerntet werden soll, als jeweils nachwachsen kann. Als ethisches Konzept wurde es nach und nach erweitert und wird heute so ver­ standen, dass es praktisch alle Bereiche menschlichen Lebens, die eine Zukunftsdimension haben, berührt. Seine weltweite Bedeutung bekam das Prinzip durch den Brundtland-Report (1987), benannt nach der Vorsitzenden der World Commission on Environment and Development (WCED). Hier wird Nachhaltigkeit in folgender Weise bestimmt: »Nachhaltige Entwicklung [sustainable development] ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu gefährden, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürf­ nisse befriedigen können.«81 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stimmte diesem Bericht zu und verlieh ihm internatio­ nale Bedeutung. Eine konkretisierende Auslegung des Prinzips der Nachhaltig­ keit erfolgt im sogenannten Drei-Säulen-Konzept. Dieses Konzept bewertet eine Entwicklung nach ihren Folgen für die ökologische, ökonomische und soziale Dimension menschlichen Handelns. Eine holistische Sichtweise der Nachhaltigkeit erweitert das Verständnis nachfolgender Generationen auf die Mit- und Umwelt, berücksichtigt in diesem Sinn die Retinität, die Vernetzung nicht nur der Menschen und ihrer Kinder und Kindeskinder, also der nachfolgenden Genera­ tionen, sondern auch die Vernetzung von uns Menschen mit der Jonas (2003), 36. Hier zitiert nach: https://www.are.admin.ch/are/de/home/medien-und-publi kationen/publikationen/nachhaltige-entwicklung/brundtland-report.html, zuletzt eingesehen 22.07.2022. 80

81

75 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1 Wertorientiertes Wirtschaften – zentrale wirtschaftsethische Ansätze

Mitwelt, also den anderen Lebewesen auf diesem Planeten, als auch der Umwelt, also den nicht lebendigen »Schätzen« unserer Erde. Darum ist ein nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten von sehr großer Bedeutung. Daraus ergibt sich: Eine holistische, an dem Wertkomplex Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientierte Wirt­ schaftsethik vermeidet die Engführungen einer appellativen Ethik, die den Menschen als Homo religiosus konstruiert und vor allem die Handlungsebene in den Blick nimmt, einer Ethik mit ökonomischer Methode (»economic point of view«), die den Menschen methodisch als Homo oeconomicus konstruiert und die Rahmenordnung als systematischen Ort der Moral ausweist, aber auch einer Ethik, die den Menschen als moralisches Subjekt konstruiert und von einem »moral point of view« ausgeht und damit besonders die Diskursebene hervor­ hebt.

Abbildung 6: Gegenüberstellung der Ansätze

Die holistische Wirtschaftsethik nimmt die Gesamtheit von Prinzi­ pien und Situation in ihren vielfältigen Bezügen in den Blick. Dies geschieht auf dreifache Weise: »(a) zunächst im Sinne der Abhängigkeit der einzelnen Normen vom Gesamtzusammenhang der Werte und Normen, die sich wechselseitig stützen müssen, wenngleich nicht im strengen Sinne der Systemphilo­ sophie. (b) Ferner folgt aus der semantischen Analyse von ›gut‹ ein evalua­ tiver Holismus: Die Güte des Ganzen ist nicht auf die Summe der Teile zurückführbar.

76 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

1.4 Pluralität wirtschaftsethischer Ansätze

(c) Da das menschliche Handeln zu dieser Güte beitragen soll, haben Normen die diesem Ziel entsprechenden Handlungsweisen zum Gegenstand.«82

Dabei gilt: Jede Anwendung der Ethik auf einen besonderen Sektor menschlicher Handlungsmöglichkeiten muss sich sozusagen an den »Spielregeln« orientieren, die in ihm gelten. Allgemein gesprochen: Spielregeln existieren nicht in einem geschichtsleeren Raum, sondern sind immer in eine Tradition eingebunden und aus konkreten Entste­ hungs- und damit Diskurskontexten erwachsen, die sich teilweise über sehr lange Zeiträume bewährt haben. Umgekehrt können sich die »Spielregeln« durch ihre konkrete Anwendung mit der Zeit wan­ deln. Sogar das gesamte moralische »Gebäude« kann entscheidende Veränderungen erfahren. Denn aufgrund seines Vorverständnisses legt der Handelnde die Regeln aus und kann sie in der Interpretation im Lauf der Zeit vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen umdeuten, und eventuell besser verstehen. Die dieses Kapitel abschließende Grafik verdeutlicht, allerdings in vereinfachender Weise, wie der holistische Ansatz versucht, Elemente anderer Ansätze in sich aufzu­ heben.

Abbildung 7: Vereinfachende Zuordnung zu den ethischen Ansätzen

82

Siep (2004), 26.

77 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Vor dem Hintergrund globaler Bedrohungen können Rahmenord­ nungen nicht mehr nur national oder regional sein. Der Einmarsch russischer Truppen in der souveränen Ukraine, als Angriffskrieg völkerrechtlich unzulässig, lässt das Risiko eines die Welt zerstören­ den Kriegs mit thermonuklearen Waffen als schrecklichstes Szenario wieder aufleben. Aber nicht nur die Friedenssicherung, sondern auch die Sicherung einer menschenfreundlichen Weltwirtschaft, sodass niemand mehr verhungern und niemand mehr auf die handlungsnot­ wendigen Grundgüter verzichten muss, sowie eines lebensdienlichen Klimaschutzes stellen die Politik vor Herausforderungen, die nur noch durch globale Rahmenordnungen zu lösen sind. Das bisherige Versagen einzelner Staaten bei der Sicherung von Menschenwürde und Menschenrechten, von Gerechtigkeit und Nach­ haltigkeit, ist ein Indiz dafür, wie weit die derzeitige Politik noch von der Schaffung weltumspannender menschenfreundlicher Strukturen und damit einschließlich rechtsstaatlicher Rechtsstrukturen entfernt ist. Die Folgen dieser fehlenden transnationalen Strukturen lassen sich gut an drei ganz unterschiedlichen Konflikten mit einer globalen Dimension illustrieren, die alle auch zentral die Wirtschaft betreffen: der Friedenssicherung, der Sicherung angemessener Lebensbedin­ gungen für alle Menschen, die gemäß der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ein fundamentales Menschenrecht darstellt, und des schonenden Umgangs mit unserem Klima als notwendiger Bedingung für unser Leben auf dieser Erde.

2.1 Globale Herausforderungen 2.1.1 Friedenssicherung Der Krieg Russlands gegen die Ukraine gefährdet in einer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannten Weise die internationale

79 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Friedenssicherung. Im Moment spielt die russische Seite ein klassi­ sches Nullsummenspiel (das klassische Beispiel ist das Schachspiel): Was ich gewinne, verlierst du, was du gewinnst, verliere ich. Deshalb wurde beim Rückzug aus besetzten Gebieten um Kiew auch massiv zerstört, damit der Gegner möglichst nichts mehr zurückerhält. Wer ein Nullsummendenken lebt, ist blind für die Chance einer Koopera­ tion, die zwar auch Verzicht bedeutet, aber dennoch beide Seiten bes­ serstellen würde, also das Nullsummenspieldenken aufzubrechen vermag. Die russische Politik lässt sich zudem als reale Machtpolitik einordnen, die erstmals von Thukydides (460–395 v. Chr.) im Melierdialog beschrieben wurde. Die Athener lassen den Bewohnern der Insel Melos, die im Krieg zwischen Athen und Sparta neutral blei­ ben wollen, nur die Wahl, auf Athens Seite zu treten oder aber auf­ grund von Athens Stärke vernichtet zu werden: Der Stärkere hat immer Recht. Der Appell der Melier, gemeinsam eine faire Lösung zu suchen, wird ignoriert. Zudem hat Russland mit diesem Angriffskrieg endgültig den völkerrechtlichen Vertrag mit der Ukraine gebrochen, die auf ihre Atomwaffen zugunsten der eigenen territorialen Integrität verzichtet hatte. Da aber keine internationale, externe Sanktionsinstanz für diesen Vertrag realiter vorhanden ist, da Russland im Sicherheits­ rat der UN ein Vetorecht hat, handelt es sich – spieltheoretisch83 betrachtet – um einen unvollständigen Vertrag mit der Strategie der Selbstbindung. Die folgende Graphik zeigt an, wo wir uns beim einseitigen Brechen des Vertrags befinden:

83 Der Begriff »Spieltheorie« hat nichts mit einer Verharmlosung des schrecklichen Krieges zu tun, sondern ist Terminus technicus für die Beschreibung des Sachverhalts.

80 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

1, 1

erwidern

Spieler 1 vertrauen

2,-1

ausnutzen

Spieler 2

0, 0

nicht vertrauen

keine Selbstbindung

Spieler 1 Selbstbindung nicht vertrauen

0, 0

Spieler 2 vertrauen

ausnutzen

0,-1

Spieler 1 erwidern

1, 1

Abbildung 8: Vertrauensspiel84

Leider hat Russland (Spieler 1) das Vertrauen der Ukraine (Spieler 2) ausgenutzt, weswegen die Ukraine Schaden erleidet (-1), während Russland trotz möglicher Landgewinne insgesamt aufgrund von Sanktionen usw. letztlich nichts gewinnen wird (0). Für die Ukraine bedeutet diese Situation aber, dass sie einem neuen Vertrag mit Russland nur wird zustimmen können, wenn gewährleistet wäre, dass externe, effektive Sanktionen verhindern, dass sich ein solcher russischer Angriffskrieg wiederholen kann. Gäbe es funktionierende internationale Institutionen zur Frie­ denssicherung, könnten diese helfen, das Dilemma eines unvollstän­ digen Vertrags zu überwinden. Wenn Russland für seinen Angriffs­ krieg durch funktionierende internationale Institutionen sanktioniert würde, wenn also nicht so bedeutende Staaten wie China, Indien oder der Technologieführer Israel sich wie in der derzeitigen Krise der Sanktionen enthalten würden, dann könnte das bestehende Dilemma des unvollständigen Vertrags aufgebrochen werden. Dies gilt jedoch nicht nur für derartige bilaterale Konflikte, sondern lässt sich auch als Mittel gegenüber Staaten denken, die sich der Sicherung der Menschenrechte, der Gerechtigkeit oder der Nach­ haltigkeit verweigern, um daraus für die herrschende Klasse bzw. das 84

Hier nach Lütge/Uhl (2018), 99. Vgl. Pies (2022), 132.

81 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Land billigere Produkte durch geringeren Umweltschutz zu schaffen. Werden die Herrschenden weltweit empfindlich sanktioniert, dann werden sie es sich nicht mehr leisten können, Menschenrechte zu verletzen oder den Umweltschutz zu vernachlässigen. Doch diese Möglichkeit für Sanktionen ist nur gegeben, wenn es wirkmächtige globale Strukturen gibt.

2.1.2 Sicherung funktionierenden Wirtschaftens »Die ganz großen Krisen der Weltwirtschaft haben bisher stets ihren Ausgang an den Finanzmärkten genommen«, so titelte im Rahmen der Finanzkrise, die in der Pleite der Lehman Brothers kulminierte, die Welt am Sonntag85, um dann auf die Politik zu verweisen, die derartige Krisen zu vermeiden helfen könnte. Noch weiter gingen damals führende Ökonomen aus Europa und den USA, die in einem Appell, abgedruckt in der Financial Times Deutschland86, ausdrücklich nach einer transnationalen Regulierung der Finanzmärkte riefen. Damit stellten sie sich gegen die klassische neoliberale Lehre, wie sie beispielsweise prominent Hayek (1899–1992) vertrat. Er vertrat die Position, dass Regierungen sich nicht in die Kontrolle der Infla­ tion und andere Wirtschaftsangelegenheiten einmischen sollten; eine Ausnahme sei die Einschränkung der Geldmenge. Wie kommt es zu dieser Wende? Warum kann nicht nur, sondern muss eine wertorientierte Wirtschaftsethik für globale Strukturen und globale Regulierungen der großen Unternehmen optieren, wenn sie von den Prinzipien der Menschenwürde, der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit ausgeht? Überlässt man das Wirtschaften den freien Kräften des Marktes, kann es wie beispielsweise im Fall der Krise der Finanzmärkte in Folge des Schwarzen Oktober 1929 zu einem Sog der Abwärtsspirale kommen, der viele Banken und mit ihnen die Existenz vieler kleiner und großer Unternehmen und die finanzielle Lebensgrundlage vieler Menschen vernichtet. Die Sogwirkung beginnt, wenn Kredite billig sind. Unternehmen und »Häuslebauer« erhalten günstige Kredite. Damit steigen Aktienkurse und Hauspreise. Gefährlich wird es, wenn die Aktienkurse und die Hauspreise nur noch eine Spekulationsblase 85 86

Ausgabe vom 5.10.2008, 35. Ausgabe vom 6.10.2008, 26.

82 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

bilden, also Unternehmen bzw. Häuser überbewertet sind. Können dann die Kredite nicht mehr bedient werden, weil die Zinsen gestiegen sind, müssen beispielsweise Häuser versteigert werden, der Preis für Häuser verfällt. Entspricht der Wert der Häuser nun nicht mehr den aufgenommenen Krediten, fallen die Kredite aus bzw. können nur zum Teil gerettet werden. Dabei verlieren viele Menschen »ihr Dach über dem Kopf«. Das Vertrauen der Banken in Kreditnehmer und der Menschen, die als Kreditgeber den Banken Geld geliehen haben, in die Banken nimmt ab. Unternehmen erhalten nicht nur für gewagtere Investitionen kein Geld mehr, sondern auch gesunde Unternehmen erhalten für notwendige und gut abgesicherte Investitionen keines mehr. Sie können sich beispielsweise dann keine Rohstoffe für ihre Produkte kaufen und können so gegen jede wirtschaftliche Logik in die Insolvenz getrieben werden. Damit können weniger Menschen Arbeit erhalten und angemessen verdienen. Es wird weniger konsumiert. Die Nachfrage sinkt und damit beginnt eine Rezession, die erneut Unternehmen gefährdet und mit ihnen die dort befindlichen Arbeits­ plätze. Einzelne Staaten sind bei der Lösung derartiger Probleme meist überfordert, denn die Finanzmärkte agieren global. Aber damit nicht genug: Die Finanzmärkte sind nur ein Beispiel, wie das freie Spiel der Kräfte versagen kann. Allein durch die CoronaPandemie sind zusätzlich etwa 150 Millionen Menschen in absolute Armut gestürzt worden87, sodass derzeit knapp 800 Millionen Men­ schen weniger als 1,90 $ täglich zur Verfügung haben88. Es steht zu erwarten, dass der Krieg in der Ukraine, die eine der »Kornkammern« der Erde ist, die Nahrungsmittelpreise für Weizen so in die Höhe treiben wird, dass es zu zusätzlichen Hungersnöten kommen wird. Darüber hinaus fehlt es in vielen Staaten im Gesundheitswesen am Nötigsten. Während mittlerweile in Deutschland Impfstoff ver­ fällt, gibt es Staaten, bei denen aus Mangel an Impfstoff kaum gegen Corona geimpft werden konnte. Emanuel et al. hatten bereits 2020 eine gerechte Verteilung des Impfstoffs eingefordert, um dadurch »Standard Expected Years of Life Lost (SEYLL) zu sichern.89 87 Vgl. https://www.welt.de/finanzen/article217344032/Weltbank-Cor ona-stuerzt-150-Millionen-zusaetzlich-in-absolute-Armut.html (zuletzt eingesehen am 15.07.2022). 88 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/armut-corona-oxfam-kinder-1.5 183057 (zuletzt eingesehen am 15.07.2022). 89 Vgl. Emanuel et al. (2020). An diesen Beitrag ist auch die folgende Tabelle ange­ lehnt.

83 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Phasen Hauptziel Kriterien der Vertei­ lung

Vorrang

Priorisierung

Phase 1 Reduktion Verhinderung Vorrang für von vorzei­ SEYLL die, die am tigem Tod meisten Lebenszeit verlieren würden, Gleichheit aller Men­ schen in dieser Hin­ sicht

Priorität der Staaten, die mehr SEYLL je Impfstoffdosis retten würden

Phase 2 Reduktion von erns­ ten wirt­ schaftli­ chen und sozialen Schäden

Reduktion absoluter Armut Verhinderung eines fallen­ den BIP

Vorrang für die Ärms­ ten der Armen

Priorität der Staaten, die mehr Armut, Verluste beim BIP und Ver­ luste von SEYLL ohne den Impfstoff erleiden wür­ den

Phase 3 Beendi­ gung der Übertra­ gung von Covid-19

Ranking der Übertra­ gungsraten

Vorrang für die am schlechtes­ ten Gestell­ ten

Priorität für die Staaten, die die höchsten Übertragungs­ raten haben

Tabelle 4: Gerechte Verteilung eines Impfstoffs Durch das Fehlen funktionierender globaler Strukturen ist diese Forderung trotz einiger »karitativer« Initiativen bestimmter Staaten nicht entscheidend umgesetzt worden. Solange Menschen weltweit verhungern oder an Krankheiten sterben, die aus Mangel an einer gerechten weltweiten Verteilung von Gesundheitsgütern nicht ausreichend vermieden oder therapiert

84 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

werden, stellt sich nachdrücklich die Frage, wie globale Strukturen mit dem Ziel eines lebensdienlichen Wirtschaftens beschaffen sein sollten, damit Papst Franziskus mit seinem bereits zitierten Satz: »Diese Wirtschaft tötet«, nicht Recht behält.

2.1.3 Klimaschutz Auch im Blick auf die Frage des Klimaschutzes gehören Unternehmen mit ihrem Ausstoß des Klimatreibhausgases Kohlendioxid zu den großen Gefährdern.

Abbildung 9: Weltweiter Ausstoß von CO2-Emissionen nach Sektoren bis 202090

Gerade an China, der Werkbank der Welt, lässt sich dies sehr gut ablesen, insbesondere wenn man den Zeitraum von 1960 bis zum Beginn der Corona-Pandemie überblickt.

90 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/167957/umfrage/verteilung-de r-co-emissionen-weltweit-nach-bereich/ (zuletzt eingesehen am 19.04.2022).

85 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Abbildung 10: Chinas Steigerung der CO2-Emissionen bis 201891

Die Wirtschaft befördert derzeit ganz wesentlich eine Klimaerwär­ mung, deren Folgen nach Schätzungen von Rückversicherungen ver­ mutlich die Weltgemeinschaft und hier insbesondere die Ärmsten der Armen teuer zu stehen kommen werden, wenn nicht rasch und wirksam gehandelt wird, das heißt ein Wirtschaften und überhaupt menschliches Leben so gestaltet wird, dass unsere Emissionen klima­ neutral werden. Zu Recht hat darum die Weltgemeinschaft diese Gefahren sehr ernst genommen. In mehreren Konferenzen hat sie Vorgaben erarbeitet. Am bedeutsamsten sind hierbei das 1997 verab­ schiedete Kyoto-Protokoll, das im Rahmen der United Nations Frame­ work Convention on Climate Change (UNFCCC) abgeschlossen wurde und das Pariser Klimaabkommen von 2015. Das Kyoto-Protokoll trat im Februar 2005 in Kraft, nachdem auch Russland dieses Protokoll ratifizierte, wodurch das für das In-Kraft-Treten nötige Quorum erreicht worden ist, nämlich die Ratifizierung durch mindestens 55 Staaten, die für mindestens 55 Prozent der Emissionen verantwortlich sind. Darin verpflichteten sich die unterzeichnenden Industrieländer, ihre Gesamtemission von sechs Treibhausgasen gegenüber 1990 in der Zeit von 2008 bis 2012 um insgesamt 5,2 Prozent zu senken. Zugleich enthält das Protokoll Bestimmungen zur Umsetzbarkeit der https://chineseclimatepolicy.energypolicy.columbia.edu/en/emissions-sector-a nd-source, dort auch weitere Quellenverweise (zuletzt eingesehen am19.04.2022).

91

86 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

Ziele. Ein wesentliches Mittel hierbei ist die Ermöglichung eines Handels mit Emissionszertifikaten. Ein Land, das mehr emittiert als zugelassen, kann sich von einem Land, das weniger emittiert, derar­ tige Zertifikate kaufen, um so seine festgelegte Quote einzuhalten. Zudem dürfen die Industrieländer ihre Verpflichtungen auch dadurch erfüllen, dass sie in Entwicklungsländern für eine Emissionsreduktion sorgen, z. B. durch Aufforstungsprogramme. Dies sieht nach einem »Kuhhandel« aus, dient aber der Effizienz, genauer dem gezielten Mitteleinsatz: Statt große Summen dort zu investieren, wo ein ohne­ hin hoher Standard nur noch mühsam verbessert werden kann, sollten die Mittel dahin fließen, wo sie den Standard effizient heben können. Allerdings hatten die USA als zweitgrößter Verursacher von Emissionen das Kyoto-Protokoll nicht ratifiziert. China als größter Verursacher von Emissionen war ebenso wie Indien aufgrund des Status eines Entwicklungslandes nicht zur Reduktion von Emissionen verpflichtet. Da die Entwicklungsländer bisher noch wenig in den Genuss von bestimmten Gütern kamen, die Emissionen hervorrufen, z. B. von Autos, haben sie ökonomisch und sozial in diesem Bereich einen Nachholbedarf. Aus diesem Grund haben die unterzeichnenden Staaten zum Schaden der ökologischen Dimension die genannte Ver­ einbarung abgeschlossen. Das Pariser Abkommen sieht jetzt Zeitho­ rizonte vor und auch die USA sind nach dem Administrationswechsel dem Abkommen wieder beigetreten. Damit implizierte das Kyoto-Protokoll und führt das Parisab­ kommen zu einer unerwünschten Konsequenz: Staaten, die nicht unterzeichnen bzw. die sich wie die USA unter Trump wieder aus dem Abkommen zurückzogen und Nicht-Industrieländer haben einen Anreiz, die unterzeichnenden Industrieländer bezüglich der ökologischen Dimension »auszubeuten«, indem sie beim Umwelt­ schutz nicht kooperieren, also selbst die umweltschädlichen Emissio­ nen nicht reduzieren. Der ehemalige US-Präsident hatte in seiner Ausstiegsrede aus dem Pariser Abkommen genau in diesem Sinn argumentiert: dass sich die USA selbst schädigen, weil andere Staa­ ten geringere Beiträge zu leisten hätten. Seine Schlussfolgerung, selbst weniger für die Klimaziele zu tun, weil andere weniger tun müssen, kann jedoch als selbstzerstörerisch interpretiert werden. Denn nur, wenn die Weltgemeinschaft schnell, effektiv und fakten­ basiert zusammenarbeitet, kann die Klimaveränderung noch auf ein »beherrschbares« Maß begrenzt werden. Dies liegt im Eigeninteresse aller Beteiligten. Im Unterschied zu klassischen Dilemmatastruktu­

87 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

ren, bei denen sich alle Beteiligten kollektiv selbst schädigen, wenn für den Einzelnen die Nicht-Kooperation die dominante Strategie darstellt, haben wir es hier mit einseitigen Strukturen zu tun. Die unterzeichnenden Industrieländer haben nämlich einer Kooperati­ onsvorleistung zugestimmt. Die Nicht-Industrieländer und die nichtunterzeichnenden Industrieländer kamen nun in den Genuss der dadurch bewirkten ökologischen Vorteile, ohne selbst etwas dafür beitragen zu müssen. Es bestand dann die dominante Strategie im Sinne ökonomischer Rationalität darin, selbst keine oder wenig Mittel für den Umweltschutz aufzuwenden, wenn dies vorteilhafter ist, wie die folgende Matrix annimmt. In ihr ist der Gewinn der Emissionsreduktion für die unterzeichnenden Industrieländer mit einem Nutzenpunkt bewertet, für die anderen mit vier, wenn diese nicht kooperieren, obwohl insgesamt bei gemeinsamer Kooperation gemeinsam sechs Nutzenpunkte, also ein höherer Nutzen, zu realisie­ ren wären. Nicht-Industrieländer; nicht unterzeich­ nende Industrieländer kooperieren nicht unterzeich­ nende Industrie­ länder (Kooperation)

Nicht-Industrieländer, nichtunterzeichnende Industrieländer kooperieren

1;4

3;3

Tabelle 5: das einseitige Klimaschutzspiel Erneut fehlt es an globalen Strukturen, die eine Kooperation aller Staaten erzwingen könnten. Eine der Hauptaufgaben besteht darum darin, diese Strukturen zu schaffen, also in dieser Hinsicht die Verein­ ten Nationen als vereinte Nationen wirkmächtig zu realisieren. Durch Sanktionierung der Nicht-Kooperation könnte das einseitige »Spiel« umgeändert werden und bekäme die Struktur eines Spiels, bei dem in Anlehnung an das Gefangenendilemma nun positiv gewendet die dominante Strategie darin besteht, zum Wohl des Klimas und damit zum Wohl einer lebensdienlichen Welt miteinander zu kooperieren.

88 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

Staat A kooperiert Staat B kooperiert Staat B kooperiert nicht

Staat A kooperiert nicht

3;3

1;0(4–4)

0(4–4);1

-3(1–4);-3(1–4)

Tabelle 6: Kooperation als dominante Strategie aufgrund funktionieren­ der globaler Strukturen Dabei besteht zugleich eine wichtige Aufgabe darin, das Prinzip der Subsidiarität zu achten, also diese Institutionen in ein »Check and Balance«, in ein gutes Gleichgewicht von Macht und Kontrolle zu bringen, um einen Weltstaat zu verhindern, der sich in seinem Machtbedürfnis verabsolutieren könnte. Entstehende und entstan­ dene Diktaturen zeigen, wie gefährlich nämlich die Herrschaft einer Person oder einer kleinen Gruppe von Personen sein kann, wenn die Gewaltenteilung aufgehoben und eine Abwahl praktisch unmöglich ist. Aber nicht nur in der Politik, sondern bereits auf der Ebene global agierender Unternehmen und anderer Organisationen lässt sich feststellen, wie leicht die zuständige Zentrale gegen dieses Prinzip der Subsidiarität verstößt und Macht und Einfluss beansprucht, die ihnen gerade nicht zukommen.

2.1.4 Verantwortung für lebensdienliche globale Institutionen und Regeln Es sind globale Strukturen nötig, die ein transnationales Gewaltmo­ nopol sowohl in zwischenstaatlichen Beziehungen gegen Aggresso­ ren sichern, die, wie die Ereignisse in der Ukraine erkennen lassen, die Menschenwürde- und Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Staaten durch Aggressoren wirksam bekämpfen können und zudem weltweiten Herausforderungen wie Pandemien, Klimaänderung und Armut mit wirksamen Maßnahmen begegnen können. Bereits 1963 hatte Papst Johannes XXIII. kritisiert, dass die damaligen Institutio­ nen nicht hinreichen. »In unseren Tagen [...] wirft das Gemeinwohl aller Völker einerseits schwierige Fragen von höchster Tragweite auf, besonders bezüglich der Wahrung von Sicherheit und Frieden in der ganzen Welt. Anderseits

89 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

können die Lenker der einzelnen Nationen, da sie unter sich gleichbe­ rechtigt sind und obgleich sie sehr viele Kongresse veranstalten und ihre Anstrengungen vervielfältigen, um geeignetere Rechtsmittel zu finden, die Probleme doch nicht in genügender Weise lösen. Deshalb sind bei dem heutigen Zustand der menschlichen Gesellschaft sowohl die staatliche Organisation als auch der Einfluss, über welchen die ein­ zelne Staatsgewalt bei allen übrigen Nationen des Erdkreises verfügt, als ungenügend anzusehen, um das gemeinsame Wohl aller Völker zu fördern.«92

Diese Aussage hat vor dem Hintergrund der derzeitigen Machtlosig­ keit der Vereinten Nationen auch heute nichts an Aktualität verloren. Sein damaliger Lösungsvorschlag ist darum weiterhin bedenkens­ wert: »Da aber heute das Gemeinwohl aller Völker Fragen aufwirft, die alle Nationen der Welt betreffen, und da solche Fragen nur eine politische Autorität lösen kann, deren Vollmacht, Form und Mittel von gleichem Ausmaß sind, und deren Aktionsradius sich so weit erstreckt wie der ganze Erdkreis: so folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, dass eine universale politische Gewalt eingesetzt werden muss.«93

Damit das Gewaltmonopol dieser universalen politischen Gewalt gesichert ist, müssten alle Staaten auf Atom- und sonstige Massen­ vernichtungswaffen verzichten und ihr militärisches Potenzial de facto auf eine reine Grenztruppe, quasi eine Grenzpolizei, reduzieren. Ein Staat, der einen Krieg beginnt, sollte deshalb analog zu einem Men­ schen, der einen anderen Menschen überfällt, rasch und konsequent von der Weltgemeinschaft durch eine internationale Streitmacht in seine Schranken gewiesen und zugleich scharf sanktioniert werden können. Hierbei sollten in Analogie zu einem Polizeieinsatz die internationalen Spielregeln klar und transparent sein. Zugleich wäre das Gewaltmonopol in einer Weise zu gestalten, dass die jeweiligen Befehlshaber nicht die Macht hätten, dieses Gewaltmonopol zu nutzen, um eine eigene autoritäre Militärdiktatur globalen Stils durchsetzen zu können. Das globale Gewaltmonopol sollte darum auch für innerstaatliche Konflikte verbindlich sein, wenn die grundlegenden Rechte von dort lebenden Menschen verletzt wür­ den, also ein Staat sein innerstaatliches Gewaltmonopol missbraucht

92 93

Johannes XXIII. (1963), hier zitiert nach DH 3992. Johannes XXIII. (1963), hier zitiert nach DH 3993 (Übersetzung korrigiert).

90 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.1 Globale Herausforderungen

oder nicht mehr imstande ist, seine innerstaatlichen Konflikte selbst zu lösen. Vor dem Hintergrund international agierender Verbrechersyndi­ kate sollte in Ergänzung zu diesem militärischen Gewaltmonopol noch an eine internationale Polizei mit analogen Vollmachten zum US-amerikanischen FBI gedacht werden, die den spezifischen Auftrag hat, diesen Verbrechersyndikaten das Handwerk zu legen. Diese universale politische Gewalt sollte zudem für Grundgüter wie Nahrung, Gesundheit und Bildung gemäß internationaler Soli­ darität Strukturen errichten, die alle Staaten verpflichten, je nach Möglichkeit für diese Grundgüter Sorge zu tragen. Bedürftige Staaten hätten damit einen Anspruch auf Hilfeleistungen durch reichere Staaten. Die Geldflüsse wären jedoch durch die Vereinten Nationen zu kontrollieren. Ein effektives Management der Hilfen wäre zu gewährleisten. Staaten, die diese Hilfen in Anspruch nehmen, hätten sich diesem Management zu unterwerfen. Staatsführer, die in ihrem Land keine Versorgung mit Grundgütern gewährleisten, zugleich aber internationale Hilfe verweigern, sind gemäß einem klar reglementier­ ten Verfahren vor einen internationalen Gerichtshof zu stellen, der sie wegen Verletzung der Menschenrechte anklagt. Es wären auch globale Institutionen zu schaffen, die effektiv Unternehmen und Organisationen kontrollieren, sofern dies nicht die einzelnen Staaten übernehmen können (Subsidiaritätsprinzip), wobei die universale politische Gewalt den Institutionen diese Auf­ gaben zuweisen sollte. Diese Institutionen haben dafür Sorge zu tragen, dass Unternehmensleitungen und die Unternehmen selbst, die notwendige Handlungsbedingungen ihrer Mitarbeit verletzen (z. B. Hungerlohn, die Gesundheit schädigende Arbeitsbedingungen, Korruption), für ihr Fehlverhalten streng sanktioniert werden. Damit lassen sich die Aufgaben so zusammenfassen:

91 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Globale Verantwortung für Gewaltmonopol

Wohlfahrtsvereinbarungen

Klimavereinbarungen

sorgen durch Rahmenordnungen für Frieden

Armutsbekämpfung

Klimaschutz

für die Sicherung und Mehrung des Gemeinwohls (synchron und diachron)

des individuellen Wohls

mit korrespondierenden Pflichten von Teilsystemen (hier der Wirtschaft)

Einzelpersonen (hier der Führungskräfte der Wirtschaft)

Abbildung 11: Globale Verantwortung

Um dieser Verantwortung zumindest in gewisser Weise nachzukom­ men, hat die real existierende Organisation der Vereinten Nationen den »Global Compact« 1999 ins Leben gerufen. International herrscht insofern auf gesellschaftlich-unternehmerischer Seite Einigkeit, als sich führende Unternehmen zum Ethos des Global Compact der Vereinten Nationen bekennen. Diese Unternehmen haben sich zur Initiative Global Compact der Vereinten Nationen verpflichtet. Er enthält zehn Regeln, die als eine mögliche Umsetzung der hier zugrunde gelegten Werte und Normen verstanden werden können. Die Unternehmen verpflichten sich darin, die Menschenrechte zu wahren, gerechte Arbeitsbedingungen zu realisieren, die Umwelt zu schützen und keine Korruption zuzulassen.94

Vgl. https://www.globalcompact.de/ueber-uns/united-nations-global-compact (zuletzt eingesehen am 05.07.2022).

94

92 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC) 2.2.1 Menschenrechtsverletzungen Es gibt Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen, die auf den ersten Blick als solche sichtbar zu sein scheinen. Ein klassisch zu nennendes Beispiel ist der Ford-Pinto-Skandal. Ende der sechziger Jahre hatte sich der damalige Präsident des amerikanischen Automobilkonzerns Ford entschieden, einen Klein­ wagen zu bauen, um den Marktinteressen zu entsprechen. Dieser Wagen, später als Ford Pinto verkauft, sollte billig und sparsam sein. Der Präsident setzte als Preislimit für diesen Wagen 2000 US $ fest. Jedoch zeigte sich in der Testphase, dass der Tank einen ernsten Defekt hatte. Bei Auffahrunfällen über 40 km/h bestand die große Gefahr, dass die Türen blockierten, der Tank riss und das Fahrzeug in Flammen aufging. Die Passagiere waren also, ohne darüber informiert zu sein, dem Risiko ausgesetzt, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Zur gleichen Zeit begann in den USA die Diskussion über die Sicherheit im Straßenverkehr. Die Lobby dieses und anderer Fahrzeughersteller verhinderte jedoch mehr als acht Jahre lang, dass es durch die Regie­ rung zu Sicherheitsregulierungen kam. Eines der Mittel, mit denen der Automobilhersteller seine Lob­ byarbeit verrichtete, war die folgende Kosten-Nutzen-Rechnung, die zeigt, dass es billiger wäre, Personen in ihren Autos verbrennen zu lassen: Kosten einer Tankver­ besserung

Kosten bei Unfällen

Kostenauf­ stellung

11 Mio Pkw à 11 US $ 180 verbrannte Personen à 1,5 Mio LKW à 11 US $ 200 000 US $ 180 Verletzte à 67 000 US $ 2100 zerstörte Autos à 700 US $

Kosten­ summe

137 Mio US $

49,5 Mio US $

Tabelle 7: der Pinto-Skandal

93 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Diese Kosten-Nutzen-Analyse erwies sich im Nachhinein als falsch. Es gab mehr Tote und Verletzte, der Automobilhersteller musste viel höhere Summen als angenommen an Betroffene oder deren Angehörige zahlen, als diese Analyse öffentlich bekannt wurde. Auch war das Renommee sehr beschädigt. Das eigentliche Vergehen in den Augen der Öffentlichkeit und mancher Ethiker wie Lenk/Maring bestand darin, die Menschen­ würde und die Menschenrechte der Betroffenen nicht geachtet zu haben. So haben Lenk/Maring95 dieses Verhalten von Ford als eine »horrend inhumane Nichtbeachtung prädistributiver Rechte Betroffe­ ner (Recht auf Leben, Unversehrtheit, Gesundheit)« bezeichnet. Ford habe mit dieser Kalkulation, Menschenleben zu verrechnen, gegen das genannte fundamentale Prinzip der mit der Menschenwürde verbun­ denen Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit verstoßen. Das Prinzip der personalen Würde verbietet nämlich, dass ein Mensch nur als Mittel gesehen wird. In dieser Kosten-Nutzen-Analyse wird aber das Leben eines Menschen gegen finanzielle Werte aufgerech­ net. Diese Analyse und die aus ihr entspringende Verhaltensweise waren nicht individualverträglich, weil sie das Leben von Menschen absichtlich bedrohten und aufs Spiel setzten. Darüber hinaus ist diese Verhaltensweise des Unternehmens nicht sozialverträglich, weil in dieser Kosten-Nutzen-Analyse die sozialen Auswirkungen, die nicht mehr quantifizierbar sind, übersehen werden: das Leid der Verwandten, der Verlust von Kindern oder Eltern usw. Allerdings ließe sich die Frage stellen, ob diese Kritik wirklich berechtigt ist, denn bei jedem Fahrzeug muss gerechnet werden, welcher Aufwand an Sicherheitsmaßnahmen angemessen ist. Der Bau der Fahrzeuge mit unsicherem Tank könnte dann in einer Güter­ abwägung ethisch werden, wenn das Unternehmen dem Kunden diese Problematik offengelegt und gegen einen Aufpreis einen besseren Tank angeboten hätte, sofern die entsprechende Zulassungsbehörde die Genehmigung für das Fahrzeug auch mit einem unsicheren Tank erlauben würde. Es gibt ein sehr ähnliches Beispiel. Seit Jahren war allgemein bekannt, dass ESP als Antischleudertechnik eine signifi­ kante Anzahl von teilweise tödlich endenden Unfällen verhindern hilft. Dennoch wurde und wird bis heute teilweise im nichteuropäi­ schen Ausland diese Technik gerade in Kleinwagen oft gar nicht oder nur gegen Aufpreis angeboten und den entsprechenden Fahrzeugen 95

Lenk/Maring (1998), 15.

94 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

werden von den entsprechenden Ämtern bis heute die Zulassung aus­ gesprochen. Auch gilt allgemein, dass die Insassen eines Kleinwagens, selbst wenn dieser mit den besten verfügbaren Sicherheitssystemen ausgestattet ist, bei einem Unfall mit einem entgegenkommenden großen Fahrzeug ein viel höheres Risiko haben, schwer zu verunglü­ cken, als die Insassen des anderen Fahrzeugs. Vor diesem Hintergrund trifft die Kritik von Lenk/Maring, aber auch der empörte Aufschrei der Öffentlichkeit nicht den eigentlichen Punkt: Intransparenz bezüglich eines Sicherheitsrisikos. In diesem Sinn ist der Umgang der Automobilhersteller mit den Angaben zu den Abgasen, die nur auf dem Prüfstand erreicht wurden, in Wirklichkeit aber um ein Vielfaches höher lagen, ethisch noch ver­ urteilenswerter. Hier wurde den Kunden und Behörden nicht nur ein Risiko verheimlicht, sondern mindestens ein Hersteller hat offen­ sichtlich durch den Einbau einer Defeat-Software nachweislich betro­ gen. Aber die Behörden müssen sich die Frage gefallen lassen: Warum durften noch bis 2019, also vier Jahre nach Aufdeckung des Die­ selskandals, in Deutschland Fahrzeuge nach derselben Euro-6-Dieselnorm, bei der die Abgaswerte nur auf dem Prüfstand, nicht aber im Realbetrieb erreicht werden müssen, zugelassen werden. Auch bei den Kraftstoff Verbrauchswerten stimmen praktisch alle Autozeitschriften und Tester einschließlich des ADAC darin überein, dass die Pkw im realen Betrieb gegenüber dem alten Europäischen Standardtest den Wert um 30–50 % überschritten. Was die Stickoxide angeht, so hat eine im Oktober 2017 von der Zeitschrift Auto-Motor-Sport veröf­ fentlichte Übersicht folgendes Ergebnis gezeigt (nur einige Beispiele): Renault Captur dci 110: 1,336 g/km, d. h. um den Faktor 16,7 über dem erlaubten Grenzwert (Normwert Euro 6 für Stickoxide bei Diesel: 0,08 g/km); Subaru Outback 2.0D: 1,133 g/km, um den Faktor 14,16 zu viel; Hyundai i40 CRDi: 0,684, um den Faktor 8,55 zu viel; Mini Cooper D 1.5: 0,379, um den Faktor 4,74 zu viel; VW Golf 1,6 TDI: 0,29 g/km, um den Faktor 3,63 zu viel; BMW 118d: 0,18, um den Faktor 2,25 zu viel.96 Die Zeitschrift Autotest veröffentlichte in ihrer Februarausgabe 2018 eine bemerkenswerte Übersicht, die zeigt, wie sehr die Herstel­ ler sich »politisch korrekt«, in diesem Fall gemäß den politischen 96 Vgl. https://www.auto-motor-und-sport.de/testbericht/real-abgastest-s auber-diesel-nox-grenzwert-fahrvebot-eu6/#laborwert (zuletzt eingesehen am 22.02.2018).

95 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Vorgaben legalistisch verhalten haben, indem sie nur auf dem Prüf­ stand, nicht aber im realen Fahrbetrieb die Grenzwerte einhielten:97 Grenzwert (in mg NOx/km)

Realer Ausstoß

Euro 3

500

803

Euro 4

250

674

Euro 5

180

906

6b98

250

507

Euro 6d-Temp

80

168

Euro 6d

80

120

Euro

Tabelle 8: Übersicht zum realen Ausstoß Erst ab Euro 6d-Temp muss der Wert im Realbetrieb gemessen werden (ab 1. September 2017 für neue Modelle, ab 1. September 2019 für alle Neuwagen). Selbst dann erlaubt die Politik noch den mehr als doppelten Wert des festgesetzten Grenzwerts, und selbst beim ab 1. Januar für alle neuen Modelle (Neuwagen ab 1. Januar 2021) gül­ tigen Grenzwert darf die Überschreitung bei 50 % liegen, eine Über­ schreitung, die derzeit auch für neu zugelassene Pkw im Blick auf den CO2-Ausstoß und die Verbrauchsangaben gilt. Hier zeigt sich, dass Motoren entwickelt wurden, die geltende Vorschriften brachen, weil – ein klassisches Politikversagen – es für das Übertreten der Vorschriften für die Hersteller, also die Chefs, Mit­ arbeiter und Eigner, keine Sanktionen gab. Alle machten mit. Selbst die Presse als vierte Gewalt hat sehr lange dazu geschwiegen und in den Testberichten vieler Autozeitschriften siegten selbst im Jahr 2017 noch Fahrzeuge, die eklatant sowohl im Kohlendioxidausstoß als auch im Schadstoffausstoß die Normen überschreiten. Beispielsweise lagen im Jahr 2016 die Werte für den Fiat 500x 2.0 Cross 4x4 beim 17,2-Fachen des Erlaubten (1380 mg/km NOx).99 Aber auch die Fahrzeuge fast aller anderen Hersteller hatten teils ähnlich überhöhte Werte. Mittlerweile ist beispielsweise Fiat kom­ Rosin, F. (2018): Aktuell. Neue Abgasnorm Euro 6d. In: Autotest 2/2018, 78f. Anm.: Es gibt kein 6a. 99 Vgl. https://www.autobild.de/artikel/diesel-abgas-forderung-nach-strafsteuer -fuer-suv-7187543.html (zuletzt eingesehen am 06.04.2022).

97

98

96 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

plett aus der Entwicklung von Dieselmotoren ausgeschieden. Hier haben Unternehmen entweder nachweislich (Volkswagen) oder mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Kunden über die Sauberkeit ihrer Dieselmotoren getäuscht und dabei billigend in Kauf genommen, dass durch die Abgasemissionen Menschen gesundheitlich durch Feinstaub und Stickoxide geschädigt wurden. Damit haben sie einer­ seits das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Betroffenen ver­ letzt, andererseits alle getäuscht, die Kunden, die Öffentlichkeit, die zuständigen Behörden. Zugleich haben sie einen großen Schaden im Renommee genommen, hohe Strafzahlungen auferlegt bekommen und einzelne Personen im Unternehmen sind der Verfolgung durch Strafbehörden ausgesetzt. Die körperliche Unversehrtheit von Menschen interessierte nicht. Fast alle spielten lange Zeit mit: Politik, Hersteller, Medien sowie alle, die die Fahrzeuge benutzten, wobei die Konsumenten sich wohl auf die Fehlinformationen der angeblichen Fachpresse verließen. Das entbindet die Konsumenten zwar nicht völlig von ihrer Verant­ wortung, zumal die meisten die Fahrzeuge auch nach Aufdeckung des Skandals weiter benutzen, aber die Hauptverantwortung für das Fehlverhalten liegt bei der Politik und den Herstellern. Nicht nur haben also die Unternehmen auf der Handlungsebene unmoralisch gehandelt, auch die Regelsetzung hat versagt, weil sie nur eine Überprüfung auf dem Prüfstand und nicht im Realbetrieb forderte. Auch hier ist von einem moralischen Versagen derjenigen zu sprechen, die für die Regeln verantwortlich waren, aber auch derer, die unkritisch diese Regeln weiter so unvollständig ließen. Aber zusätzlich gab es, wie in der Einleitung ausführlich beschrieben, ein Diskursversagen, da die Medien erst nach Aufdeckung des Skandals selbst anfingen, Realtests durchzuführen und die Unternehmensan­ gaben zu überprüfen. Es gab und gibt weitere unternehmerische Spannungsfelder. Die Tabakindustrie hat systematisch die Schäden des Rauchens bagatelli­ siert und erst nach langen Jahrzehnten und vielen Prozessen hat hier ein Umdenken eingesetzt, wobei allerdings Unternehmen bis heute diese schädlichen Substanzen verkaufen dürfen.

97 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Berichte der New York Times100 vom Dezember 2019 und der Süddeutschen Zeitung101 vom August 2020 lassen erkennen, dass chi­ nesische Wissenschaftler mit Hilfe von CRISPR-Werkzeugen, die sie von westlichen Firmen bekamen, Genprofile von Minderheiten in China, z. B. Uiguren, erstellt haben, die auch von den chinesischen Behörden missbraucht werden können, um diese zu verfolgen. Es sind diese Berichte, die die Aktualität der ersten beiden Prinzipien des Global Compact zeigen. Unternehmen befinden sich dabei oftmals im Spannungsfeld, gar nicht wissen zu können, ob beispielsweise die CRISPR-Technologie, die sie einer Firma in Singapur verkaufen, nach China weiterverkauft und dort für nichtbeabsichtigte Zwecke einge­ setzt wird. Wie soll ein Unternehmen darauf reagieren? Genügt es, in den Verträgen ausdrücklich zu verlangen, dass die Techniken nicht missbräuchlich verwendet werden dürfen?

2.2.2 Verletzungen von Arbeitsnormen Die Neue Zürcher Zeitung102 berichtet, dass Uiguren zu Zwangsarbeit verpflichtet werden, um Produkte auch für westliche Firmen herzu­ stellen. Dabei ist es oftmals den Zwangsarbeitern unter Androhung hoher Strafen verboten zuzugeben, dass sie nicht freiwillig arbeiten. Zudem verlangt die chinesische Regierung in manchen Fällen von Unternehmen in Xinjiang, also im Gebiet der Uiguren, Fabriken zu betreiben. Sollten diese Unternehmen ihre Geschäfte in China aufge­ ben? Auch die Arbeitsbedingungen in Katar wurden im Vorfeld der dort stattfindenden Weltmeisterschaft heftig kritisiert. Amnesty International veröffentlichte dazu Anfang April 2022 folgende Pres­ semitteilung: »Für den Bericht ›‚They Think that we’re machines‘: Forced labour and other abuses of migrant workers in Qatar’s private security sector‹ ‘ sprach Amnesty International mit dem Sicherheitspersonal von acht 100 Vgl. https://www.nytimes.com/2019/12/03/business/china-dna-uighurs-xin jiang.html (zuletzt eingesehen am 06.04.2022). 101 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/wissen/china-uiguren-genforschung-foren sik-1.4996645 (zuletzt eingesehen am 06.04.2022). 102 Vgl. https://www.nzz.ch/international/uiguren-in-china-us-firma-profitiert-v on-moeglicher-zwangsarbeit-ld.1649468 (zuletzt eingesehen am 06.07.2022).

98 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Firmen. In mindestens sechs dieser Firmen stellte Amnesty dabei Elemente von Zwangsarbeit fest: So mussten die Arbeiter_innen gegen ihren Willen und unter Androhung von Strafen Arbeit verrichten. Manche von ihnen mussten bis zu 84 Wochenstunden arbeiten – und das mit dem Wissen der katarischen Regierung. Mindestens drei der Firmen liehen Sicherheitspersonal an WM-Projekte und Veranstaltun­ gen der FIFA aus, auch hier erlitten einige der Wachmänner Zwangsar­ beit.«103

Katar hat die Ausbeutung von Angestellten sogar zugegeben, aber privaten Unternehmen die Schuld an den Verletzungen von Arbeits­ normen zugewiesen.104 Wie ist mit dieser Verletzung grundlegender Arbeitsnormen umzugehen? Darüber hinaus gibt es vielfältige prekäre Arbeitsverhältnisse, selbst in Deutschland. So werden beispielsweise die Arbeitsbedin­ gungen bei Amazon von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) heftig kritisiert: »Der Job bei Amazon ist hart. Viele KollegInnen sagen, sie fühlen sich dabei als Teil einer Maschine. Entsprechend hoch ist die Krankenquote (an manchen Tagen teilweise bis zu 20 % und darüber). Muskel- und Skeletterkrankungen und psychische Erkrankungen sind dabei vor­ herrschend. Amazon arbeitet nach dem Prinzip ›Standard Work‹, d. h. alle Arbeitsprozesse werden nach bestimmten Regeln und an jedem Standort gleich durchgeführt. Das System nimmt dabei keine Rücksicht auf die Unterschiede unter den Menschen (d. h. z. B. ein kleinerer Mensch arbeitet an einem Tisch, der für ihn eigentlich nicht geeignet ist oder ein älterer Kollege muss genauso viel kommissionieren wie ein jüngerer usw.).«105

Im Zusammenhang mit der Coronakrise wurden auch die teilweise unwürdigen Arbeitsbedingungen in der deutschen Fleischindustrie bekannt. So haben große Unternehmen gezielt kleinere aufgekauft und dann ihre unternehmerische Verantwortung mit großen Folgen für die Arbeitsnormen an Subunternehmen delegiert.

https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/katar-zwangsarbeit-im -sicherheitssektor (zuletzt eingesehen am 07.07.2022). 104 Vgl. dazu beispielsweise die Meldung von n-tv.de vom 7. April 2022: https://w ww.n-tv.de/sport/fussball/Unter-grossem-Druck-gibt-Katar-Ausbeutung-zuarticle23252227.html (zuletzt eingesehen am 07.07.2022). 105 https://www.verdi.de/themen/geld-tarif/amazon/++co++217910b4-68ca-11e 4-a52a-5254008a33df (zuletzt eingesehen am 07.07.2022). 103

99 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

»So liegen ihre Arbeitszeiten – nicht offiziell, aber in der Praxis – oft weit jenseits der Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes. Durch Ver­ änderung der Arbeitszeiten (z.B. durch das Streichen von Pausen), erhobenen ›Gebühren‹ für Werkzeuge oder ›Strafen‹ für angebliche oder tatsächliche Fehler drücken Subunternehmen zudem die Löhne.«106

Darüber hinaus wird der Arbeitsschutz aufgrund des hohen Arbeits­ tempos und fehlender hinreichender Ausbildung nicht ernst genom­ men, was schwere Arbeitsunfälle nach sich zieht.107 In diesem Zusam­ menhang genügten die bisherigen Vorschriften nicht, sodass der bundesdeutsche Gesetzgeber 2021 nachjustierte und ein Gesetz zur Verbesserung des Arbeitsschutzes auf den Weg brachte und ab 1. Januar 2021 Werkverträge und Leiharbeit verbot.108 Umstritten ist zudem, inwieweit befristete Verträge zulässig sind, da diese von Betroffenen oftmals als sehr belastend empfunden werden. Allerdings gibt es Berufsfelder, z. B. in der Wissenschaft, in der derartige Befristungen zur Laufbahn gehören, weil die Stellen oftmals Qualifikationsstellen sind, die zu einer Dissertation oder Habilitation führen sollen. Aber auch im Bau- und Gastgewerbe gibt es allein aufgrund jahreszeitlicher »Flauten« Gründe, Beschäftigun­ gen zu befristen.

2.2.3 Umweltschädigungen Darüber hinaus werden seit Jahren die Umweltschäden, die Unter­ nehmen verursachen, thematisiert, ohne dass bis heute – weltweit gesehen – einschneidende Maßnahmen erfolgt sind, die eine neutrale Klimabilanz ermöglichen würden. Dazu kommen durch fehlende Rücksicht auf geltende Vorschriften ausgelöste Umweltkatastrophen, beispielsweise am 20. April 2010 die »Deepwater-Horizon-Katastro­ phe«, bei der sich etwa 800 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko ergossen und elf Menschen starben. Die Erdölbohrplattform war nach einer Explosion in Brand geraten und gesunken. Die Maßnahmen https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/migration-i n-staedtischen-und-laendlichen-raeumen/325067/migration-und-arbeit-in-der-fle ischindustrie/ (zuletzt eingesehen am 07.07.2022). 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. ebd. 106

100 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

zum Verschließen des Lecks dauerten 87 Tage. Dabei hätte der sog. »Blowout Preventer« das Bohrloch sofort verschließen müssen, aber aufgrund von menschlichem/unternehmerischem Versagen109 war der Dichtgummi, der vier Wochen vorher beschädigt worden war, nicht ausgewechselt worden, die Batterien der Steuerungseinheit waren leer, es gab ein Leck in der Hydraulik usw. Darüber hinaus hatte die British Petroleum (BP), die maßgeblich an diesem Projekt beteiligt war, auf wesentliche Sicherheitsmaßnah­ men bezüglich des Bohrlochs verzichtet, z. B. entgegen einer Emp­ fehlung das Bohrloch nur einfach statt doppelwandig verkleidet, an Zentrierhülsen gespart (nur sechs statt 21) usw. BP musste allein wegen der Umweltschäden über 20 Milliarden Dollar Strafe zahlen. Dazu kamen hohe Summen in Vergleichen mit geschädigten Privat­ personen und Firmen. Wie wenig aber alle beteiligten Firmen an dieser Katastrophe begriffen hatten, was hier geschehen war, zeigt sich an der Eigentü­ merfirma von Deepwater Horizon, der Firma Transocean, die den Führungskräften trotz dieser Katastrophe Millionen-Boni auszahlte, was an die Banken in der Bankenkrise erinnerte, die ihren Top-Mana­ gern trotzdem hohe Boni ausschüttete.

2.2.4 Korruption Korruption erscheint als eine unvermeidliche und zeitlose Kompo­ nente wirtschaftlicher (und politischer) Systeme. Im Januar 2011 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung110 eine Zusammenfassung des Siemenskorruptionsskandals, dessen Aufdeckung mit einer Großraz­ zia im November 2006 einen Höhepunkt erreichte. Insgesamt 4300 illegale Zahlungen konnten Siemens nachgewiesen werden. Zudem galten mehr als 300 Projekte als problematisch, »von Kraftwerken in Israel bis hin zu fälschungssicheren Ausweisen in Argentinien«. 2,5 Milliarden kosteten allein die Strafzahlungen, dazu kamen hohe Aufwendungen für Anwälte und Compliance-Maßnahmen. Vgl. im Folgenden https://de.wikipedia.org/wiki/Deepwater_Horizon (zuletzt eingesehen am 06.04.2022). 110 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/siemens-korruptionsaffaere-da s-ist-wie-bei-der-mafia-1.1046507 (zuletzt eingesehen am 06.04.2022). Die Zitate sind diesem Zeitungsartikel entnommen. 109

101 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Vor dem Hintergrund der dargestellten ethischen Prinzipien sowie bestehender nationaler und internationaler Verurteilungen der Korruption ist es ethisch geboten, wirksame Maßnahmen gegen korruptes Verhalten zu entwickeln. Doch ist dies möglich? Wie kann der Korruption erfolgreich begegnet werden? Ein Weg dazu sind wir­ kungsvolle, also durchsetzungsfähige gesetzliche Regelungen. Im Rahmen gesetzlicher Regelungen zum Problemfeld ›Korrup­ tion‹ wird zwischen Wählerbestechung, Abgeordnetenbestechung sowie der Bestechung und Bestechlichkeit im öffentlichen Dienst und im geschäftlichen Verkehr differenziert. Letztere steht im Fokus dieses Kapitels.

2.2.4.1 Abgrenzung der Korruption Auf eine Legaldefinition kann zur Klärung des Begriffs »Korrup­ tion« nicht zurückgegriffen werden.111 Für Transparency Interna­ tional bedeutet Korruption »the abuse of entrusted power for private gain«112. Dieser Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil kann gegen bestehende Gesetze verstoßen, muss es jedoch nicht. Die Definition schließt Verhaltensweisen wie den Machtmiss­ brauch von Vorgesetzten gegenüber ihren Mitarbeitern ein und Dölling weist darauf hin, dass bei einer solchen Definition »auch Unterschlagung und Untreue erfasst werden und damit die Grenze zu den Eigentums- und Vermögensdelikten unscharf wird.«113 Wieland hält fest, dass der Begriff der Korruption sowohl im Sinne von »Bestechung« als auch in einem »weiteren Sinne [als] sittliche Verdorbenheit«114 verwendet wird. Für die nachfolgenden Überlegungen ist eine weitere Eingrenzung des Begriffes sinnvoll. Im »Lagebild Korruption Bundesrepublik Deutschland« wird Korruption durch das Bundeskriminalamt durch folgende Kriterien präzisiert: »Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats

Vgl. auch Dölling (2007b), 2. https://www.transparency.org/en/what-is-corruption (zuletzt eingesehen am 07.04.2022). 113 Dölling (2007b), 3. 114 Wieland (2002), 77.

111

112

102 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

● ● ● ● ● ●

zugunsten eines anderen, auf dessen Veranlassung oder aus Eigeninitiative zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit Eintritt oder in Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit (in amtlicher oder politischer Funk­ tion) oder für ein Unternehmen (betreffend Täter als Funktionsträger in der Wirtschaft).«115

Damit sind zentrale Elemente dessen ausgesagt, was unter Korruption zu verstehen ist. Es bleibt jedoch die Frage, inwieweit der »Eintritt oder [die] Erwartung des Eintritts eines Schadens oder Nachteils« ein notwendiges Element der Korruption darstellt. Döllings in diesem Sinne weniger voraussetzungsreiche Definition lautet: »Im Kern geht es bei der Korruption darum, dass eine Person, die bestimmte Aufgaben wahrzunehmen hat, für ein Handeln oder Unterlassen im Rahmen der Aufgabenerfüllung unzulässige Vorteile erhält.«116 Diese Definition fokussiert sich auf den zentralen Aspekt der Korruption und ist gleichsam für verschiedenste Sachverhalte anwendbar und wird darum auch hier zur Grundlage genommen.

2.2.4.2 Formen der Korruption In Anlehnung an Homann117 und Viebranz118 kann Korruption in die Sprache der Prinzipal-Agent-Theorie übertragen werden. Dabei wird eine Dreierbeziehung sichtbarer, die auch bei dem hier gewählten Korruptionsverständnis vorausgesetzt werden soll, da sie Korrupti­ onshandlungen noch klarer fasst. Neben einer Person, welche eine bestimmte Aufgabe im Auftrag einer anderen oder mehrerer anderer ausführen soll und welche als Agent bezeichnet werden kann, ist dies der Auftraggeber oder auch Prinzipal. Hinzu tritt eine als 115 BKA (2004), 69f. Die Korruptionshandlung kann dabei mit Begleitdelikten wie z. B. »Betrugs- und Untreuehandlungen, Urkundenfälschung, wettbewerbsbeschrän­ kende[n] Absprachen bei Ausschreibungen, Strafvereitelung, Falschbeurkundung im Amt, Verletzung des Dienstgeheimnisses und Verstöße[n] gegen strafrechtliche Nebengesetze« verbunden sein« (ebd., 6). 116 Dölling (2007), 3. 117 Homann (1997), 192. 118 Viebranz (2010), 34f.

103 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Klient bezeichnete Person. Das Spezifische an der Korruption ist vor diesem Hintergrund, dass »[d]er Agent [...] mit einem weiteren Akteur (im folgenden Klient genannt) einen Tausch ein[geht], der nicht im Interesse des Prinzipals ist und bei dem er ein Tauschgut anbietet, über das er nur aufgrund der spezifischen Position [bzw. Auftragsbeziehung] verfügt.«119 Graphisch kann diese Beziehung zwischen Prinzipal (P), Agent (A) und Klient (K) noch einmal in folgender Weise dargestellt werden:

Abbildung 12: Das Korruptionsverhältnis120

Aus Sicht des hier vertretenen Korruptionsverständnisses handelt in der dargestellten Situation jedoch nicht nur der Agent korrupt, sondern auch der Klient. Letzteres ist auch dann der Fall, wenn der Klient vom Agenten zu einer entsprechenden Handlung genötigt wird. Damit lässt sich Korruption in folgender Weise definieren: Korruption ist die Verletzung des Vertrauens eines Auftraggebers zur Gewährung unzulässiger Vorteile an einen Dritten sowie die Ebd., 34f. Ebenfalls an dieser Stelle schreibt Viebranz: »Der Tausch zwischen Bestochenem [Agent] und Bestechendem [Klient] liegt nicht im Interesse des Prinzi­ pals, läuft also entgegen dem Vertrag, der zwischen ihm und seinem Agenten besteht«. Das Problem entsteht durch eine Informationsasymmetrie zwischen Prinzipal und Agenten, welche durch Letzteren ausgenutzt werden kann. Zu beachten ist, dass Klienten gleichzeitig auch Agenten anderer Prinzipale sein können, welche wiederum gewollt oder ungewollt Vorteile aus dessen Handlung(en) ziehen können (vgl. Wie­ land (2002), 87f). 120 Pies et al. (2005), 139. 119

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Initiierung und Beteiligung an einer solchen Vertrauensverletzung. Korruption ist vor diesem Hintergrund die Verletzung des Vertrauens eines Auftraggebers. Die Erreichung eigener Ziele ist dabei nicht zwingend mit einer Korruptionshandlung verbunden, obwohl dies einen wesentlichen Auslöser für diese Handlung darstellen kann. Aufbauend auf diesen Unterscheidungen lassen sich vier Grund­ formen der Korruption unterscheiden:121 1.

2.

3.

4.

Unter »unechten Geschenken« werden Zuwendungen zusam­ mengefasst, welche »auf die Schaffung eines allgemeinen Wohl­ wollens und die Sicherung der allgemeinen Geneigtheit des Agenten für die Zukunft abzielen.« Problematisch ist die Abgren­ zung zu echten Geschenken, bei denen keine Gegenleistung erwartet wird. Oft gibt es eine Grauzone zwischen klar korruptem Verhalten und angemessenen Freundlichkeiten. Unter Schmierzuwendungen werden Zuwendungen verstanden, welche für eine »konkrete, pflicht- und routinemäßige Handlung oder Unterlassung des Agenten geleistet werden.« Zweck ist es zumeist, »bürokratische Routineentscheidungen zu beschleu­ nigen«. In diesem Zusammenhang kann Korruption auch als Schmiermittel (»grease«) verstanden werden. Im Gegensatz zur Schmierzuwendung »beziehen sich die eigent­ lichen (fast immer strafbaren) Bestechungszuwendungen auf spezifische, pflichtwidrige Handlungen oder Unterlassungen des betreffenden Agenten« (z. B. Beschaffungskorruption). Bei Erpressungszuwendungen wird anders als in den bisher dargestellten Fällen »[d]ie Vorteilszuwendung [...] vom Agenten selbst initiiert, der Kraft seiner wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Machtposition einem Dritten direkt oder implizit mit einem Übel droht und ihn dadurch zur Entrichtung nicht geschul­ deter Geld- oder anderer Zuwendungen zwingt.«

Daneben können strafbare Vorfelderscheinungen der Korruption auf­ treten. Diese setzen Bestechungshandlungen voraus, beispielsweise wenn jemand dafür Geld nimmt, dass er seinen Einfluss beim zustän­ digen Amtsträger geltend macht.122 Insgesamt lassen sich die Formen der Korruption in folgender Weise darstellen: Vgl. Androulakis (2006), 48ff. Hier sind auch die folgenden Zitate entnommen. Vgl. Androulakis (2006), 60. Weitere Fälle wie Favoritismus oder ungerechtfer­ tigte Bereicherung können nach Androulakis ebenfalls unterschieden werden.

121

122

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Abbildung 13: Formen von Korruption123

2.2.4.3 Bewertung der Korruption Die Positionen zum Umgang mit dem Problemfeld Korruption lassen sich in vier Kategorien zusammenfassen.124 1. 2. 3.

Moralisten wenden gegen Korruption ein, dass sie »einen Verfall von Moral und Sitten der Gemeinschaft zur Folge« habe. Aus Sicht der Kulturalisten ist Korruption nicht grundsätzlich zu verurteilen, da es eine »traditionelle Mentalität des Geschenke­ gebens und -nehmens« gäbe. Aus funktionalistischer Perspektive hängt die Bewertung der Korruption von ihren Konsequenzen ab. Hier wird Korruption überwiegend als vorübergehender und eher förderlicher Fak­

Eine umfassendere Erläuterung bietet Albrecht (2015a), 41ff. Vgl. Pritzl/Schneider (1999), 310ff. Hier sind auch die folgenden Zitate entnom­ men.

123

124

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

4.

tor gesellschaftlichen Wandels hin zu »modernen Gesellschaf­ ten« angesehen.125 Dem halten Postfunktionalisten entgegen, dass die These der Förderung positiven gesellschaftlichen Wandels angesichts his­ torischer Beispiele in Entwicklungsländern sowie dem Vorkom­ men in modernen westlichen Gesellschaften kaum als haltbar angesehen werden kann.126

Unabhängig von den dargestellten kurzen Positionszusammenfas­ sungen zur allgemeinen Bewertung von Korruption ist im Hinblick auf Korruptionshandlungen vor dem Hintergrund praktisch aller ethischen Ansätze auf die grundsätzliche Pflicht zu verweisen, sich an bestehende nationale und internationale Gesetze sowie Unterneh­ mensregeln gegen Korruption zu halten. Denn die rechtlichen Bestim­ mungen gegen die Korruption können als Umsetzung von ethischen Normen in diesem Feld verstanden werden, die praktisch von allen bedeutsamen ethischen Ansätzen vertreten werden. Dies entspricht auch den hier dargestellten führungsethischen Grundregeln. In den meisten Ländern ist Korruption geächtet. In Deutschland beispielsweise sind zentrale Arten wie Bestechlichkeit, Bestechung, Vorteilsnahme und Vorteilsgewährung gemäß § 108b und 108e StGB, §§ 299ff StGB sowie §§ 331ff StGB Straftatbestände. Straftaten im Amt sind in den §§ 331 bis 335 StGB geregelt. Bestechung und Bestechlichkeit sind dabei nach § 334 und § 332 StGB strafbar. Laut § 331 (Vorteilsnahme) und § 333 StGB (Vorteilsgewährung) sind dabei auch Handlungen strafbar, welche der Amtspflicht entsprechen, aber unrechtmäßig Leistung und Gegenleistung verknüpfen. § 335 StGB regelt besonders schwere Fälle der Korruption und Bestechlich­ keit. Im Zuge des Korruptionsgesetzes finden die dargestellten Gesetze auch auf jene Personen Anwendung, die »Aufgaben der öffentlichen Verwaltung«127 wahrnehmen – auch wenn sie nicht Amtsträger im klassischen Sinne sind.128

Vgl. u. a. Bayley (1966) oder Leff (1964). Vgl. auch Pritzl (1997). Der Blick in die wirtschaftsethische Literatur offenbart, dass oftmals einfach vorausgesetzt wird, dass Korruption zu verurteilen oder uner­ wünscht ist (beispielsweise Dietzfelbinger (2002), 159f). 127 § 11 Abs. 2 u. Abs. 4 StGB. 128 Vgl. auch Pritzl/Schneider (1999), 316. 125

126

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Straftatbestände im Bereich des wirtschaftlichen Wettbewerbs sind in den §§ 298 bis 302 StGB geregelt. Während wettbewerbsbe­ schränkende Absprachen bei Ausschreibungen nach § 298 StGB straf­ bar, aber nur im weiteren Sinne zur Korruption zu zählen sind, gehö­ ren Bestechlichkeit und Bestechung (§ 299 StGB) zu den zentralen Korruptionshandlungen.129 Neben den gesetzlichen Regelungen einzelner Länder130 stel­ len auch Regelungen auf internationaler Ebene Korruption unter Strafe. Dies sind u. a. das Gesetz zur Bekämpfung der internationalen Bestechung (IntBestG) und das EU-Bestechungsgesetz (EUBestG). Eine nicht justiziable Verurteilung der Korruption zeigt sich, wie wir gesehen haben, in der 10. Regel des Global Compact. Im Einklang mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen und Initiativen wie dem Global Compact, dem viele global agierende Unternehmen beigetreten sind, verurteilen die meisten Großunter­ nehmen Korruption explizit in ihren Unternehmensverfassungen oder vergleichbaren Dokumenten. Siemens, das besonders durch den eingangs erwähnten Korruptionsskandal betroffen war, hat darum als Maxime ausgegeben: Keinerlei Toleranz gegenüber Korruption, Wettbewerbsverstößen sowie anderen Verstößen gegen anwendbares Recht – und wo es doch dazu kommt, konsequentes Reagieren.131

129 Auch Wähler- und Abgeordnetenbestechung sind gemäß § 108b und § 108e des StGB strafbare Handlungen. § 300 StGB geht auf besonders schwere Fälle ein und in §§ 301 und 302 StGB finden sich weitere Detailregelungen. 130 Vgl. z. B. Pritzl/Schneider (1999), 316ff. 131 Vgl. https://new.siemens.com/de/de/unternehmen/nachhaltigkeit/complianc e.html (zuletzt eingesehen am 29.04.2022). Mit Blick auf Siemens-Lieferanten heißt es im Code of Conduct ausdrücklich: »Tolerate no form of and do not engage directly or indirectly in any form of corruption or bribery and do not grant, offer or promise anything of value to a government official or to a counterparty in the private sector to influence official action or obtain an improper advantage. This includes to renounce from giving or accepting improper facilitation payments.« (https://assets.new.siem ens.com/siemens/assets/api/uuid:5a61e2f1-d2c8-4c21-8e11-ccea7f6b8e84/CoC-B rochure-en.pdf?ste_sid=68ac0488596b3b5defa36e91749ed196, zuletzt eingesehen am 07.04.2022). Die zitierte Stelle findet sich auf der fünften Seite der Broschüre.

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Zudem hatte Siemens aufgrund des Korruptionsskandals ein sehr differenziertes Compliancesystem aufgebaut:

Abbildung 14: Das Compliance-System von Siemens, das nach dem Skandal aufgebaut wurde132

Vergleichbare Regelungen und Compliance-Systeme haben viele weltweit agierende Unternehmen eingerichtet. Doch wie kann entsprechend dieser Regelungen regelkonformes Verhalten gewährleistet werden? Klassische Überlegungen zur Regel­ durchsetzung verweisen auf Belohnungs- und Bestrafungssysteme und setzen rationale Akteure voraus.133

Abbildung aus: http://www.nci-net.de/Archiv/Recht/Korruption/SiemensKorruption-Aufklaerer.png, mittlerweile nicht mehr zugänglich. 133 Vgl. hierzu auch Becker (1990); French/Raven (1959), 150ff. und Knoepffler/ Albrecht (2009), 472f. 132

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2.2.4.4 Überlegungen zur Korruptionsvermeidung Begreift man Korruption als rationale Strategie, so modelliert man die Akteure nach den Charakteristika des klassischen Homo oecono­ micus. Kernanforderungen an das rational handelnde Subjekt sind: ● ● ● ● ●

ein widerspruchsfreies Zielsystem, rationale Entscheidung, Nutzenmaximierung, Anwendung von Minimal-, Maximal- bzw. ökonomischem Prin­ zip, vollständige Information.

Korruption ist unter diesen Annahmen als Handlung modelliert, die auf einem widerspruchsfreien Zielsystem beruht (z. B. dem Primat des Geldverdienens), unter Anwendung von Minimal-, Maximalbzw. ökonomischem Prinzip erfolgt (also ein System nutzt, um Risiko und Nutzen in ein perfektes Verhältnis zu bringen) und bei der vollständige Information (z. B. über die zu erwartenden Vorteile und mögliche Sanktionen) besteht. Rational ist Korruption für den entsprechenden Akteur aber erst dann, wenn die zu erwartenden Vorteile die zu erwartenden Nachteile übersteigen (positiver Erwar­ tungsnutzen).134 Wie die Bundeskriminalamt-Statistik verdeutlicht135, ist Korrup­ tion sowohl auf der Nehmer- als auch auf der »Geberseite« mit einer Reihe von Vorteilen verbunden. Auf Nehmerseite wurden dabei folgende Vorteile registriert:

134 Werden beide Akteure als rational angenommen, so kommt es erst zu Korruption, wenn sich Agent und Klient einen Vorteil davon versprechen. Der Schaden, welcher dem Prinzipal entsteht, ist für die Entscheidung (nur) insoweit relevant, wie ein wirksamer Sanktionsmechanismus existiert. 135 Die Broschüre des BKA und die folgenden Zahlen und Abbildungen finden sich unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lag ebilder/Korruption/korruption_node.html (zuletzt eingesehen am 07.04.2022).

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Abbildung 15: Vorteile Korruption – Nehmerseite136

Auf der Geberseite (Klient) können Korruptionshandlungen als ratio­ nal verstanden werden, wenn man sie z. B. als ein Schmieren eines nicht effizient arbeitenden Systems begreift. Korruption ist dabei rational, wenn die Einsparungen, welche sich aus der Beschleunigung von (Geschäfts-)Prozessen, z. B. durch schnellere behördliche Geneh­ migungen, ergeben, höher sind als die Korruptionsaufwendungen und Risiken.

136 Bundeslagebild Korruption 2020, 14, hier zitiert nach: https://www.bka.de/Shar edDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Korruption/ korruptionBundeslagebild2020.pdf;jsessionid=C5981F5198A545942F425ED9FD96 7003.live302?__blob=publicationFile&v=4, zuletzt eingesehen am 29.07.2022).

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Abbildung 16: Vorteile Korruption – Geberseite137

Aus Sicht des Klienten kann Korruption auch als Weg zur Sicherung eines Wettbewerbsvorteils beschrieben werden. Wettbewerber kön­ nen andere Unternehmen oder Kollegen sein.138 Spieltheoretisch ließe sich die Entscheidungssituation in folgender Auszahlungsma­ trix darstellen139.

Ebd., 16. Wieland (2002, 89) betont zu Recht, dass ein Klient in seiner Rolle als Agent eines anderen Prinzipals durchaus »nicht mehr allein der Betrüger, sondern [...] selbst ein durch seinen Prinzipal Betrogener sein [kann]. Nämlich dann, wenn sich sein Prinzipal auf seine Kosten exkulpiert, ohne seinem Agenten Anreize (z. B. Bonisysteme, Karriereplanungen) zu korruptionsfreiem Handeln zu liefern.« 139 Der erste Wert steht für die Auszahlung des Klienten und der zweite Wert für die des Konkurrenten. Dabei wird nur die Nutzenveränderung durch Korruption dar­ gestellt und der jeweilige Erwartungsnutzen für Klienten und Wettbewerber (der Wert vor bzw. nach dem Komma) bei den verschiedenen möglichen Handlungsalternativen ist in Zahlenwerte übersetzt. 137

138

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Wettbewerber

Klient

N(icht-Korruption)

K(orruption)

N

0,0

-2,1

K

1,-2

-1,-1

Tabelle 9: Korruption als Wettbewerbsvorteil Korrumpieren beide nicht, so hat keiner einen Wettbewerbsvorteil oder -nachteil (0,0). Korrumpieren beide, so hat keiner einen Vorteil, aber beide tragen das Risiko von Sanktionen z. B. in Höhe eines (negativen) Nutzenpunktes (-1,-1). Korrumpiert nur einer der bei­ den, so besitzt dieser zwar Kosten, aber auch Wettbewerbsvorteile gegenüber seinem Konkurrenten, die im hier angenommenen Fall so groß sind, dass sie das Risiko von Sanktionen übertreffen. Die summierten Auszahlungen wären dann (1,-2) oder (-2,1). Klient oder Wettbewerber könnten in einer solchen Konstellation einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Aus der weiteren Analyse der Matrix wird deutlich, dass es für beide Akteure immer vorteilhafter ist, sich für Korruption zu entscheiden (»1« im Vergleich zu »0« oder »-1« im Vergleich zu »-2«), unabhängig davon, wie sich der jeweils andere entscheidet. Korruption stellt unter den gegebenen Annahmen die dominante Strategie dar. In zwei weiteren Fällen kann Korruption damit auch als ratio­ nale, jedoch eher defensive Strategie beschrieben werden. Sie dient zunächst dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit. Dies ist zum einen bei den oben erwähnten Erpressungszuwendungen der Fall und zum anderen in einer Situation, in der davon ausgegangen werden muss, dass auch Konkurrenten zum Mittel der Bestechung greifen. Dazu kommt: Aus Sicht des Nehmers (Agent) erscheinen die Kosten der Korruption im Falle unechter Geschenke und Schmierzuwendungen nicht hoch, da von ihm keine direkt pflichtwidrige Handlung gefordert wird. Bei entsprechender Entlohnung kann Korruption damit als klar rationale Handlung rekonstruiert werden. Handelt es sich auf der anderen Seite um Bestechungs- oder gar Erpressungszuwendungen, so erfolgt zumeist eine pflichtwidrige Handlung, welche verschleiert werden muss und unter Umständen hart sanktioniert wird. Hier fällt eine Rationalitätsvermutung (vor allem in Bezug auf die Kriterien »Nutzenmaximierung« und »voll­

113 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

ständige Information«) schwerer, ist aber bei entsprechend hoher Gegenleistung dennoch möglich. Die Überlegungen zeigen, dass sich bestimmte Korruptionsarten sehr gut mit der Annahme rationalen Verhaltens beziehungsweise konkreter, unter Anwendung der Annahmen des Homo-oeconomi­ cus-Modells, beschreiben lassen, auch wenn Korruption, wie die spiel­ theoretische Darstellung zeigt, zu einer kollektiven Selbstschädigung führt (-1,-1 statt 0,0).140 Eine Reihe von Beispielen lässt jedoch an der Rationalität von Korruptionshandlungen im Sinne des Homo-oeconomicus-Modells zumindest zweifeln. Auf Unternehmensebene sind dies beispiels­ weise die Korruptionsfälle bei Siemens. Das Unternehmen musste sich im Zuge der Affäre nicht nur einer Geldbuße in Deutschland von 596 Mio. Euro unterwerfen, es war zudem zu einem Vergleich in den USA gezwungen, bei dem es an die Börsenaufsicht 350 Mio. Dollar und an das Justizministerium 450 Mio. Dollar bezahlte. Daneben musste Siemens einen Vergleich mit der Weltbank schließen, welcher eine Strafzahlung von 75 Mio. Euro und einen Verzicht auf die Teil­ nahme an Ausschreibungen beinhaltete. Alle weiteren Strafen zusam­ men beliefen sich auf die eingangs genannte Summe von 2,5 Milliar­ den Dollar. Korruption wäre jedoch auch dann als individuell rationale Handlung vorstellbar, wenn sie dem eigenen Unternehmen schadet. Da Beispiele zeigen, dass Korruption auch auf der individuellen Ebene mit erheblichen Risiken für die Klienten und Agenten verbunden sein kann, ist jedoch zu fragen, ob diese Annahme sinnvoll ist. So bezahlte der ehemalige Siemens-Zentralvorstand Johannes Feldmayer für seine Beteiligung an der Bestechung von Arbeitnehmervertretern einen so hohen Preis, dass sein Verhalten im Rückblick nicht mehr als rational bezeichnet werden kann: Im Zuge des Skandals verlor Feld­ mayer seine Position, wurde zu einer Haftstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt. »Der Manager, der in die Justizvollzugs­ anstalt Bamberg eingeliefert wird, war einer der Großen der Industrie, 140 Insgesamt sind bei einer Modellierung der Korruptionsentscheidung in der dargestellten Form die Rahmenbedingungen in Form von Sanktionsmechanismen ein wichtiger Faktor. Pies (2002, 36f) betont hierbei die Bedeutung der Differenzierung von Strafen, »die das kriminelle Interesse an Geheimhaltung konterkariert.« Insoweit lässt sich auch die Aussage Wielands (2002, 89) verstehen: »Die Ebene der Prinzipale, zumindest was die auftragnehmende Seite angeht, ist damit der zentrale Akteur in der Korruption, nicht der von ihnen beauftragte Agent.«

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der, so schien es lange, noch Größeres werden konnte. Es war eine Karriere wie aus dem Lehrbuch [...]«141. Obwohl Korruption seit 1999 auch als Steuerhinterziehung strafbar war (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 10 EStG) und die Korruptionsgesetze Ende der 1990er Jahre deutlich verschärft worden waren, schloss Feldmayer 2001 einen Rahmenver­ trag mit dem damaligen AUB-Chef Schelsky und der Konzern wies zwischen 2001 und 2006 ungerechtfertigte Zahlungen in Höhe von 30,3 Mio. Euro an diesen an.142 Auch am Beispiel Klaus-Joachim Gebauers lassen sich individu­ elle Risiken korrupten Verhaltens sehr drastisch nachweisen: »Die meisten früheren Kollegen behandeln ihn, als hätte er die Kleiderläuse oder eine ansteckende Krankheit. Gebauers Welt war zwar schon vorher eigentlich porös und verlogen, doch nach außen strahlend und vor allem sehr exklusiv und fein. Als Bindeglied zwi­ schen Vorstand und Betriebsrat in Europas größtem Autokonzern organisierte der VW-Personalmanager, von drei Sekretärinnen und zwei Fachreferenten unterstützt, die Treffen des Gesamtbetriebsrats. [...] Gebauer veranstaltete Luxusreisen, organisierte Luxusfrauen und buchte Luxusabsteigen – und alles auf Firmenkosten. [... So] endete die Affäre [...] für den früheren Personalmanager [...] ruinös. Gebauer erhält heute eine gesetzliche Rente in Höhe von 1.500 Euro. Ansprüche gegen VW auf Zahlung einer Betriebsrente sind aufgrund der fristlosen Kündigung entfallen. Die Zwangsversteigerung des Hauses wurde angeordnet. Ihm bleibt nichts.«143

An der Rationalität dieser Korruptionsentscheidung darf also zumin­ dest gezweifelt werden, denn langfristig hat sich für Gebauer Korrup­ tion nicht ausgezahlt. Wie diese beiden Beispiele zeigen, kann Korruption den betei­ ligten Personen nicht nur materiell schaden. Darüber hinaus wird soziale Anerkennung zerstört. Doch bereits bevor das Fehlverhalten aufgedeckt wird, zwingt Korruption zu Vertuschung, Lüge, Verschlos­ senheit und Täuschung und ist damit Hindernis für ein zufriedenes Leben. In einer Reihe von Fällen erscheinen Korruptionshandlungen damit sowohl auf Unternehmens- als auch individueller Ebene nicht Leyendecker (2009), 125. Vgl. ebd., 128. Der Fall ist auch aus einer anderen Perspektive für die Korrupti­ onsbetrachtung interessant. Selbst wenn Feldmayer nicht um die Korruptionsabsicht bei diesen Vorgängen gewusst hätte, so wäre er seinen zentralen Kontrollpflichten nicht nachgekommen. 143 Leyendecker (2009) 200; 228f. 141

142

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als rationale Strategie. Die teils sehr hohen Risiken und das Schadens­ potenzial, welches den aufgeführten vergleichsweise eher geringen Vorteilen gegenübersteht, fasst nachfolgende Tabelle zusammen: Unternehmen

Führungskraft

Direkt

Strafzahlungen, Schadensersatz, Umsatz- und Ergebnisver­ luste, sinkender Börsenwert

Verlust von Position(en) und Einkommen, Strafverfolgung und -zahlungen

Indirekt

Verlust von Reputation und Attraktivität, Wirkung auf Mitarbeiter: Demotivation, Nachahmung, Loyalitätsverlust

Verlust von Ansehen, Status und Einfluss, Negativ-Image, Ausgrenzung (Familie)

Tabelle 10: Schadenspotenzial von Korruption Die gerade beschriebenen Korruptionshandlungen lassen sich auf Grundlage der strengen Annahmen des Homo-oeconomicusModells nur schwer erklären und sind in diesem Sinn nicht mehr rein rational erklärbar, wenn man die Annahme macht, dass sich nicht rein rational verhält, wer eines der folgenden Kriterien verletzt: 1.

»Einstellungen und Präferenzen sollten den grundlegenden Regeln der Logik und der Wahrscheinlichkeitstheorie entspre­ chen. Einstellungen und Präferenzen sollten kohärent sein. Einstellungen und Präferenzen sollten nicht auf der Grundlage immaterieller oder irrelevanter Faktoren gebildet oder verän­ dert werden. Einstellungen und Überzeugungen sollten nicht mit der Person bekannten, empirischen Beobachtungen unvereinbar sein, ein­ schließlich ihrer eigenen bewussten Handlungen.«144

2. 3. 4.

Doch ist diese Rationalitätsannahme korrekt? Wäre dann nicht jede Teilnahme an einer Lotterie irrational, bei der die Auszahlung auf­ grund der involvierten Stellen (Betreiber der Lotterie, Verkäufer 144

Wilkinson (2008), 391 (eigene Übersetzung).

116 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

der Lose usw.) notwendigerweise unter der Einzahlung liegt? Dabei wird jedoch übersehen, dass es um subjektive Erwartungswerte der betreffenden Person geht. Die Teilnahme an einer Lotterie kann deshalb genauso rational sein wie das Mitwirken an Korruption: im Fall der Lotterie, weil beispielsweise die Spannung, vielleicht zu gewinnen, als subjektiv wertvoll erfahren wird, im Fall der Kor­ ruptionshandlung, weil hier der direkte Gewinn höher eingeschätzt wird als die Möglichkeit, erwischt zu werden. Damit stellen diese Handlungen zwar im objektiven Sinn ein irrationales Verhalten dar, aber widersprechen nicht dem Homo-oeconomicus-Modell, bei dem die subjektiven Erwartungswerte entscheidend sind.

2.2.4.5 Nicht-rationales Verhalten und mögliche Antikorruptionsmaßnahmen Ursachen (eines objektiven) irrationalen Verhaltens können fünf Hauptkategorien und zusätzlich dem Wunsch nach Anerkennung zugeordnet werden:145 Eine Reihe von Untersuchungen belegt systematische Fehler im logischen Denken von Menschen (»reasoning«), welche vor allem dem ersten Kriterium der Rationalität zuwiderlaufen (Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie). Wie bereits angesprochen, basieren viele Urteile auf der Grundlage einfacher Faustregeln, welche zwar schnelle Urteile ermöglichen, aber oftmals einfache Wahrscheinlich­ keitsgesetze ignorieren, beispielsweise wenn bei Korruptionshand­ lungen immer größere Risiken (ohne entsprechend steigende Gegen­ leistung) eingegangen werden, weil es bis zu diesem Zeitpunkt ja immer »gut ging«. Untersuchungen zeigen, dass auch bei Entscheidungen und Handlungen (»choice«) systematische Verletzungen vor allem in Bezug auf das zweite und dritte Kriterium rationalen Handelns (Kohä­ renz und Unabhängigkeit von immateriellen oder irrelevanten Fak­ toren) erfolgen. Wenn Menschen Referenzpunkte falsch auswählen oder z. B. nur allmählich an sich wandelnde Situationen anpassen, können aus der Fehleinschätzung Fehlentscheidungen resultieren. Daneben besteht bei Menschen die Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne (»loss-aversion«). Damit verbunden ist die 145 Vgl. ebd., 392ff. Kahneman (2012) hat eine sehr gute Übersicht mit vielen Beispielen für die folgenden systematischen Fehler gegeben.

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»sunk cost fallacy«, d. h., die Weigerung, Fehlinvestitionen aufzuge­ ben. Dies kann dazu führen, dass an Handlungen festgehalten wird, da bereits viel in eine entsprechende Alternative investiert wurde. Diese im Entscheidungsprozess (»choice«) auftretenden Irrationalitä­ ten können sich auf die Korruption entscheidend auswirken. Wird für die eigene Nutzenbewertung als Bezugspunkt (»reference point«) z. B. eine seit langen Jahren übliche Geschäftspraxis der Korruption gewählt, so kann dies zu korruptem Verhalten verleiten, weil man neue gesetzliche Korruptionsregeln einfach nicht in Rechnung stellt und für die Überlegungen nicht berücksichtigt. Verlustaversion, z. B. die Angst, den Job zu verlieren, wenn man nicht schnell genug große Aufträge bekommt, kann Korruptionsentscheidungen begünstigen. Die »sunk cost fallacy« kann in diesem Zusammenhang dazu beitra­ gen, dass ein korruptes Verhalten auch dann fortgesetzt wird, wenn erkannt wurde, dass dieses Verhalten dem eigenen Nutzen nicht dient. Auch können Entscheidungen von irrelevanten Faktoren beein­ flusst werden. Zentral ist der »anchoring effect«, bei dem Entschei­ dungen von Aspekten abhängig gemacht werden, die zwar im Bewusstsein der betreffenden Person sind, aber nichts mit der Ent­ scheidung zu tun haben, wie beispielsweise die gewählte Telefonnum­ mer bei der Zahlungsbereitschaft für ein Produkt. Die menschliche Tendenz zum »anchoring« kann zu Fehleinschätzungen aufgrund irrelevanter Bezugspunkte führen, beispielsweise wenn im Freundesund Bekanntenkreis Steuerhinterziehung als Kavaliersdelikt gesehen wird. Dann wird man dies zum Anlass nehmen, es mit den Gesetzen selbst nicht so genau zu nehmen und eigenes korruptes Verhalten nicht als »schlimm« anzusehen Wie bereits dargestellt, ist es für Menschen nicht immer einfach, den Nutzen einer Handlung einzuschätzen (»nature of utility«). Dies kann auch zu irrationalem Verhalten führen – hauptsächlich durch eine Verletzung des vierten Rationalitätskriteriums (Vereinbarkeit mit empirischen Beobachtungen). Speziell wird die Tatsache ignoriert, dass die Befriedigung bestimmter Wünsche, wie z. B. der Kauf eines neuen Fernsehgerätes, nur sehr kurzzeitiger Natur ist. Die Tendenz zu ignorieren, dass die Befriedigung bestimmter Wünsche nur eine sehr kurzzeitige Befriedigung verspricht, kann zur Überbewertung des Korruptionsnutzens, z. B. der Bezahlung einer Urlaubsreise, führen. So riskiert der korrupte Beamte für eine »geschenkte« Urlaubsreise möglicherweise seine Pension – ein an sich völlig irrationales Ver­ halten, das aber dennoch vorkommt und dem bei der Korruptions­

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

bekämpfung Rechnung zu tragen ist. Eine zentrale Rolle bei Fehlein­ schätzungen spielen also die sogenannten »visceral factors«, weshalb nicht nur das Nachgeben in Blick auf bestimmte Wünsche, sondern auch Emotionen wie Wut, Angst, Neid, Wunsch nach Anerkennung usw. die Beteiligung an Korruption fördern können, beispielsweise, wenn sich jemand im Unternehmen nicht hinreichend geschätzt fühlt. Gier stellt ebenfalls einen wesentlichen Antriebsfaktor für korruptes Verhalten dar, z. B. die Gier nach möglichst viel Geld oder auch Macht. Gier kann dazu führen, dass große, individuelle Gefahren übersehen oder ignoriert werden. Neid auf die Erfolge des Kollegen kann zu korruptem Verhalten verführen. Der »above average effect« kann dabei zur Selbstrechtfertigung dienen, da man mit der Korruption z. B. nur die ungerechte Verteilung der Gehälter im Unternehmen ausgleichen wollte. Mitleid bzw. Loyalitätsgefühle auf der anderen Seite können dazu veranlassen, die Korruptionshandlungen von Kol­ legen oder Vorgesetzten zu verschweigen. Das vierte Rationalitätskriterium ist auch durch Selbsttäuschung (»self-deception«) gefährdet. Eine menschliche Tendenz besteht darin, Intentionen den Handlungen nachträglich anzupassen, um einen Widerspruch zwischen diesen beiden zu vermeiden, also eine kognitive Dissonanz aufzulösen. Gleichzeitig neigen Menschen zur Selbstüberschätzung (»self-serving bias«). Der vermutlich weitrei­ chendste bekannte Fall ist jedoch das Verhalten der zuständigen Personen im Reaktor von Tschernobyl im Jahr 1986. Sie stellten alle Sicherheitsmaßnahmen ab, weil sie glaubten, auch ohne diese, allein aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung, die geplanten Versuchsdurch­ läufe zügig abarbeiten zu können.146 In ähnlicher Weise, wenn auch nicht mit den gleichen dramatischen Folgen, kann Selbstüberschät­ zung dazu führen, dass Risiken der Korruption ignoriert werden: Man glaubt, dass man geschickt genug ist, nicht entdeckt zu werden. Dieses Fallbeispiel kann auch für ein weiteres irrationales Verhal­ ten als Beleg herangezogen werden, das sogenannte Gruppendenken (»groupthink«). Dieses bedeutet, dass Individuen in Gruppen dazu tendieren, ihre eigenen Einschätzungen zum Wohle der Gruppenko­ häsion zu relativieren oder gar aufzugeben. In Tschernobyl wollte die Gruppe möglichst rasch Feierabend machen und darum nicht durch »unnötige« Sicherheitsmaßnahmen Zeit »verschwenden«. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Verhalten der Thiokol-Gruppe der 146

Vgl. Dörner (2002), 47–57.

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NASA. Die Ingenieure der Gruppe hatten vor zu niedrigen Außen­ temperaturen beim Start der Challenger gewarnt. Die NASA wollte jedoch starten. Die Manager der Gruppe schlossen die Ingenieure aus und überredeten den einzigen Manager, der weiterhin gegen den Start war, »seinen Ingenieurshut abzusetzen und seinen Managementhut aufzusetzen.«147 Er ließ sich überreden. Die Challenger zerschellte. Die Tendenz, sich am Verhalten anderer anzulehnen, kann in einem korrupten Umfeld dazu führen, dass Akteure in korruptes Verhalten verwickelt werden, obwohl sie nie selbst aktiv geworden wären (»man rutscht so rein«). Die nicht-rationalen Verhaltenskomponenten müssen also bei der Korruptionsprävention beachtet werden. Fehlende oder nicht bewusste Informationen zu Korruptionsfolgen können Korruption für einen Akteur trotz hoher Strafen attraktiv erscheinen lassen, da sie, wie oben dargestellt, kurzfristig eine Reihe von Vorteilen bietet. Die Tatsache, dass Menschen zumeist überfordert sind, alle relevanten Informationen zu beschaffen oder zu verarbeiten, kann dazu führen, dass gesetzliche Regelungen und damit verbundene Sanktionen ins Leere laufen, da sie den handelnden Personen nicht bewusst sind oder – irrationalerweise – unterschätzt werden. Dazu kommen weitere Gründe, warum Menschen sich an Kor­ ruption beteiligen. »Contrast effects« können zur Gewöhnung an zusätzliche Einnahmen durch Korruption führen und dazu beitragen, dass Korruption immer weiter ausgeweitet wird, um mit steigenden Einnahmen das Zufriedenheitsniveau zu halten (»treadmill effect«). »Mental accounting« kann die Entscheidung für Korruption begüns­ tigen, wenn die Korruptionssituation z. B. als letzte Chance für einen Karriereaufstieg eingeordnet wird. Auch Heuristiken können zu Fehleinschätzungen des Korruptionsnutzens führen, wenn z. B. eine Einladung zu einem Essen in einem Sternerestaurant im Zusam­ menhang mit einem Kaufauftrag als normale, kleine Gefälligkeit eingestuft wird, obwohl sie gravierende Folgen haben kann und z. B. den Straftatbestand der Bestechung erfüllt. Der »satisficing effect« führt zwar nicht dazu, dass Korruptions­ handlungen erfolgen, wenn der Erwartungsnutzen negativ ist, er kann jedoch bedeuten, dass sich Individuen an Korruptionshandlungen 147 Übersetzung der Verfasser. Original: »to take off his Engineering hat and put on his management hat.« (http://www.bernd-leitenberger.de/schlamperei.shtml; zuletzt eingesehen am 15.07.2010).

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

beteiligen, da dies z. B. der gängige und einfachere Weg ist, um ein Geschäft abzuschließen, obwohl ein konsequentes Ablehnen der Korruption insgesamt auch das individuelle Optimum darstellte. Die Tendenz zur Reziprozität kann in zweifacher Weise zur Korruption beitragen. Zum einen baut die Korruptionsmethode der »unechten Geschenke« auf diese Verhaltensdisposition. Zum anderen kann Reziprozität dazu verleiten, bei dem Versuch, einen an die Kon­ kurrenz verlorenen Kunden wiederzugewinnen, auch vor Korruption nicht zurückzuschrecken. Eine Ungleichaversion (»inequity aversion«) kann auf der einen Seite zu einer Förderung »fairen Verhaltens« beitragen und damit eine Kraft gegen Korruption darstellen. Auf der anderen Seite kann sie aber auch zur innerlichen Rechtfertigung von Korruption beitragen und somit fördernder Faktor für korruptes Verhalten sein, wenn z. B. davon ausgegangen wird, dass sich alle anderen Wettbewerbs­ teilnehmer korrupt verhalten. Das starke Bedürfnis nach sozialer Anerkennung kann Menschen dazu verleiten, Bestechungsleistungen anzunehmen, die ihr Selbstwertgefühl ansprechen, so z. B. gemein­ same Urlaubsreisen oder auch die Einladung zu einem teuren Abend­ essen.

2.2.4.6 Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung Vor dem Hintergrund rationaler Verhaltensanteile spielen Beloh­ nung und Bestrafung bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns eine wichtige Rolle für die Korruptionsbe­ kämpfung. Da zu deren Bedeutung und Gestaltung bereits weitrei­ chende Ausführungen existieren148, soll hier nur der wichtige Grund­ gedanke kurz zusammengefasst werden: Rahmenbedingungen, z. B. in Form von sanktionierten Regeln, sind wichtig bei der Korruptions­ bekämpfung, da sie die Nutzenkalkulation rationaler Akteure wesent­ lich verändern können. Weil sich rationale wirtschaftliche Akteure nutzenmaximierend verhalten, wählen sie die Korruption, wenn der Erwartungsnutzen höher ist als in dem Fall, in dem sie diese ablehnen. Ihnen kann darum sehr deutlich gemacht werden, warum korruptes Verhalten nicht nur unternehmens- sondern auch selbstschädigend, also irrational ist, wie bereits oben gezeigt wurde: Korruptes Verhalten führt bei Aufdeckung nicht nur zum Verlust der eigenen Position im 148

Vgl. hier z. B. die angesprochenen Veröffentlichungen von Pies.

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

Unternehmen und führt zur einer Strafverfolgung, sondern impliziert einen Verlust von Ansehen und Einfluss sowie führt, wie das beschrie­ bene Beispiel Gebauers zeigte, auch zur Ausgrenzung. Korruption kann zudem dadurch bekämpft werden, dass entwe­ der der zu erwartende persönliche Schaden noch weiter erhöht wird (z. B. durch Strafen) oder indem man die Attraktivität für rechtskon­ formes Verhalten durch positive Anreize steigert. So können z. B. klare, langfristige Karriereaussichten der Verlockung entgegenwir­ ken, aufgrund kurzfristiger Vorteile Korruptionshandlungen zu bege­ hen, da ein Akteur die positiven Aussichten nicht gefährden möchte. Da aber auch das nicht-rationale Verhalten von großer Bedeu­ tung ist, wie die obigen Beispiele und die Ergebnisse der »behavioral economics« zeigen, ist dem bei einer Korruptionsbekämpfung, die erfolgreich sein will, Rechnung zu tragen. Um beispielsweise den »satisficing effect« zu berücksichtigen, muss die Alternative, nicht zu korrumpieren, die einfachere Wahl darstellen, um vorgegebene Ziele zu erreichen. Neben Kontrollmechanismen spielen dabei Leistungs­ vorgaben sowie die Erfolgsbewertung (tendenziell eher langfristig als kurzfristig) eine wesentliche Rolle. Feindliche Einstellungen gegenüber Konkurrenten innerhalb und außerhalb des Unternehmens sollten vor dem Hintergrund der Reziprozität (»reciprocity«) nicht gefördert werden, um Korruption keinen Nährboden zu geben. Gefühlen der Benachteiligung, einer der wichtigen Quellen für eine Anfälligkeit für Korruption, kann ent­ gegengewirkt werden, indem ungerechtfertigte Unterschiede in der Würdigung der Arbeitsleistung (z. B. durch Entlohnung) vermieden und gerechtfertigte Unterschiede begründet werden. Im Rahmen der Unternehmenskultur ist es wesentlich, auch soziale Präferenzen zu berücksichtigen. Als Gegengewicht zu dem starken Bedürfnis, zu einer sozialen Gruppe zu gehören, und einem möglichen Gruppendenken sollte Kritikfähigkeit gefördert werden. Zum anderen muss beachtet werden, dass Menschen, welche sich sozial abgelehnt fühlen, zu schlechten Entscheidungen tendieren und bereit sind, ein besonders hohes Risiko (z. B. in Form von Kor­ ruption) einzugehen, um die Anerkennung zurückzugewinnen. Zur Korruptionsvermeidung könnte man damit beitragen, dass soziale Anerkennung (auch) im Unternehmen nicht allein von beruflichem Erfolg abhängig ist. Wird ein Mensch missachtet oder hat er das Gefühl, missachtet zu werden, so ist er korruptionsanfälliger.

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2.2 Unternehmerische Herausforderungen und der Global Compact (GC)

Auch kann die Kommunikation der Wertschätzung der Arbeit eines Arbeitnehmers vor dem Hintergrund der »Verlustaversion« zur Verhinderung oder zumindest zur Verringerung von Korruption beitragen. In Bezug auf die »sunk cost fallacy« ist zu fragen, ob eine offene Fehlerkultur, in der klar kommuniziert wird, dass Fehler auch in Bezug auf Korruption möglich, aber klar offenzulegen sind, einer »Zero-Tolerance«-Politik vorzuziehen ist. Dem »above average effect« und dem »self-serving bias« als Formen des Selbstbetrugs (»self-deception«) und fördernden Faktor der Korruption kann durch klare Kommunikation der Leistungen aller Gruppenmitglieder entgegengewirkt werden. Für die Korruptionsprävention ist es grundlegend, mit Mitarbei­ tern im Gespräch zu bleiben, realistische Ziele zu vereinbaren und auch die Chance für eine spätere Anpassung an schwierigere Markt­ verhältnisse zu kommunizieren, um Angst und Furcht als »visceral factors« entgegenzuwirken. Dabei ist es unumgänglich, Worten auch Taten folgen zu lassen und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Unternehmenskultur sollte zudem zu guten Arbeitsbe­ dingungen und zur Vermeidung von »emotionalen Notlagen« beitra­ gen, da diese als schwerwiegender Faktor für irrationales Verhalten angesehen werden müssen.149 Eine reflektierte, auf Werten basierende und zugleich realistische Unternehmenskultur ist darum ein wichtiger Gesichtspunkt in der Korruptionsprävention. Sie kann bestimmte Verhaltensdispositionen entschärfen und so vor allem die Ausbruchswahrscheinlichkeit von Korruption verringern. Wäre ein Akteur entsprechend den Kriterien des Homo-oecono­ micus-Modells rational, so wäre dessen Aufklärung unnötig, da er vollständige Informationen besäße. Vor allem vor dem Hintergrund möglichen irrationalen Verhaltens stellen Aufklärungsmaßnahmen jedoch einen wichtigen Gesichtspunkt der Korruptionsprävention dar. Durch die begrenzten Verarbeitungskapazitäten des menschli­ chen Geistes ist über Sanktionen und andere negative Folgen der Korruption kontinuierlich aufzuklären.150 Gerade in Bezug auf den dargestellten »satisficing effect« ist aufzuzeigen, warum der Verzicht auf Korruption als (langfristig) bessere Alternative anzusehen ist.

149 150

Vgl. Wilkinson (2008), 408ff. Hier leisten »Compliance-Schulungen« einen bedeutenden Beitrag.

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Gleichzeitig ist es vor diesem Hintergrund wichtig, einen gangbaren Weg zu erfolgreichen Geschäftspraktiken ohne Korruption zu weisen. Die Korruptionsprävention sollte ebenso unterstützt werden, indem menschliche Wahrnehmungs- und Entscheidungsprobleme aufgezeigt werden, z. B. die Fehleranfälligkeit von Entscheidungsheu­ ristiken, die Existenz und die Nachteile des »contrast effects« sowie die menschliche Tendenz, den langfristigen Nutzen aus dem Auge zu verlieren. In Bezug auf die Entscheidungsfindung (»reasoning«) kann an Beispielen deutlich gemacht werden, worin klare, logische Denkfehler bestehen, die zu einer Unterschätzung der Korruptionsfolgen führen. Durch beispielhaftes Aufzeigen dieser Fehler kann gleichzeitig die Stichprobenbasis vergrößert werden. Auch in Bezug auf die Wahlent­ scheidung (»choice«) kann anhand von Beispielen über die negativen Folgen falscher Referenzpunkte, Verlustaversion und »sunk cost fal­ lacy« sowie den »anchoring effect« aufgeklärt werden. Von besonderer Bedeutung ist auch die Aufklärung im Zusam­ menhang mit der Nutzenbewertung (»nature of utility«). Der zu einer falschen Nutzenbewertung führenden Vernachlässigung vergangener negativer Korruptionserfahrungen (z. B. bei Siemens) kann entge­ gengewirkt werden, indem diese wach gehalten und damit gleichsam als Chance genutzt werden, erneute Korruptionsfälle zu vermeiden. Auch in Bezug auf die »visceral factors« kann Aufklärung einen Beitrag leisten, um Korruption zu vermindern. Drei Punkte sollten besonders beachtet werden:151 1.

Obwohl Emotionen und Motivatoren (z. B. die Freude über einen Korruptionsvorteil) nur sehr vorübergehender Natur sind, kön­ nen sie Zukunftsentscheidungen in starkem Maße beeinflussen. Die Vergänglichkeit wird bei der Nutzenbewertung oftmals nicht in Rechnung gestellt, so z. B. die Freude über einen kostenlosen Urlaub. Die Tatsache, dass sich Korruption vor diesem Hinter­ grund oftmals auch individuell nicht lohnt, sollte herausgearbei­ tet werden. Gleichzeitig unterschätzen Menschen oft, wie stark Faktoren wie Angst, Gier und Impulsivität auch zukünftige, eigene Entschei­ dungen beeinflussen können und treffen z. B. nicht rechtzeitig genug eigene Maßnahmen gegen eine »Korruptionsversuchung« wie durch eine Selbstverpflichtung, die eigene Arbeit jederzeit

2.

151

Vgl. Wilkinson (2008), 414f.

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2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene

3.

kontrollierbar zu halten oder immer das eigene Essen zu zahlen. Entsprechende Schutzmechanismen sollten aufgezeigt und emp­ fohlen werden. Weil Menschen dazu neigen, den Einfluss zu unterschätzen, den die genannten Faktoren auf ihr vergangenes Verhalten hatten, sind reine Abschreckungsmaßnahmen als Versuch, Korruption zu verhindern, wenig sinnvoll.

Das Problemfeld »Korruption« sowie die drei anderen großen Heraus­ forderungen, denen sich Unternehmen ausgesetzt sehen, sind in einer globalisierten Welt jedoch niemals nur durch einzelne Unternehmen zu lösen, weil ohne eine funktionierende globale Ordnung dasjenige Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil hat, das Menschenrechte wahrt, gute Arbeitsbedingungen schafft, Umweltschutz betreibt und Korruption vermeidet. Kann vor diesem Hintergrund der Global Compact als ein Lösungsvorschlag für Unternehmen angesehen werden, der diesem Anliegen Rechnung trägt und das »ehrliche« Unternehmen schützt?

2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene Eine international beachtete Initiative in diesem Bereich stellt der Global Compact der Vereinten Nationen dar, der am 31. Januar 1999 offiziell von UN-Generalsekretär Kofi Annan in einer Rede anlässlich des Weltwirtschaftsforums in Davos allen interessierten Unterneh­ mensführern angeboten wurde. Unternehmen können sich im Rah­ men des »Global Compact« zu zehn allgemeinen Prinzipien beken­ nen. Von Teilnehmern dieses »Global Compact« wird ein jährlicher Fortschrittsbericht in Bezug auf die Umsetzung dieser Prinzipien ver­ langt, was zugleich dafür sorgen soll, dass Unternehmen, die die Prin­ zipien des Global Compact beachten, einen Reputationsgewinn und keine Nachteile haben.

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2.3.1 Menschenrechte Prinzip 1: Unternehmen sollen den Schutz der internationalen Men­ schenrechte unterstützen und achten. Prinzip 2: Unternehmen sollen sicherstellen, dass sie sich nicht an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig machen. Die Frage der praktischen Wirksamkeit stellt sich in besonderem Maße mit Blick auf die ersten beiden Prinzipien. Bei deren näherer Untersuchung ist festzustellen, dass das erste Prinzip eine so allge­ meine Norm formuliert, dass praktisch nicht deutlich wird, wie die Norm konkret angewendet werden soll.152 Zudem stellt sie in ihrer grundlegenden Formulierung eine Überforderung dar, da sie eine genuin politische Aufgabe zu rasch auch zu einer unternehmerischen Verantwortung erklärt.153 Das zweite Prinzip ist sehr deutungsoffen. Auch die näheren Erläuterungen bringen nur unzureichende Klarheit darüber, was in der Verantwortung eines Unternehmens oder einer Führungskraft liegt und was nicht und können so eine latente Überforderung nicht beseitigen. Bedeutet das Prinzip, dass sein Unternehmen nicht in Ländern investieren darf, die Menschenrechte verletzen oder zu verletzen scheinen? Macht man sich bereits mitschuldig, wenn man nicht all seinen Einfluss nutzt, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern? Was heißt das Prinzip für das Verhältnis zu Partnern in autoritär geführten Staaten, in denen das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf politische Partizipation eingeschränkt sind? Wie ist in diesem Zusammenhang z. B. der Handel mit China zu bewerten? In Deutschland wird Unternehmen die Umsetzung dieser Prin­ zipien vorgeschrieben, denn es gilt ab 1. Januar 2023 das Lieferket­ 152 Folge dieser allgemeinen Formulierung ist auch, dass in den Erläuterungen zu Prinzip eins z. B. Aspekte der fairen Entlohnung erwähnt werden. Dies wirft die Frage auf, warum nicht auch die Prinzipien im Bereich Arbeitsnormen darunter gefasst werden oder andersherum die faire Entlohnung nicht Teil der Arbeitsnormen ist. 153 Auch wenn die Initiative in der näheren Erläuterung selbst auf dieses Problem verweist (vgl. http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples /principle1.html; zuletzt eingesehen am 19.04.2022), erscheint die Verantwortung von Unternehmen noch unzureichend geklärt. So sollen diese z. B. auf der einen Seite Menschenrechtsprobleme in ihrer Lieferkette erkennen und vermeiden, andererseits wird Unternehmen eingeräumt, in Ländern mit Menschenrechtsproblemen zu arbei­ ten und dort Menschenrechtsregelungen zu fördern. Eine deutlich schwächere Forde­ rung.

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2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene

tensorgfaltspflichtengesetz, das alle in Deutschland ansässigen Unternehmen mit mindestens 3000 Beschäftigten verpflichtet, bestimmte Sorgfaltspflichten im eigenen Geschäftsbereich und in der Lieferkette zu erfüllen. Ein Jahr später wird dies auch für alle Unter­ nehmen mit mindestens 1000 Beschäftigten zur Pflicht.

2.3.2 Arbeitsnormen Prinzip 3: Sie sollen die Versammlungsfreiheit respektieren und das Recht auf Tarifverhandlungen anerkennen. Prinzip 4: Sie sollen jegliche Form von Zwangsarbeit abschaffen. Prinzip 5: Sie sollen Kinderarbeit grundsätzlich verbieten. Prinzip 6: Sie sollen keinerlei Diskriminierung in Bezug auf Arbeit und Beschäftigung zulassen. Die Prinzipien drei und vier sind erneut sehr weich formuliert und tragen Idealnormcharakter. In den Erklärungen zu Prinzip drei werden Vorschläge unterbreitet, wie verantwortungsvolles Handeln aussehen kann – die Hinweise bleiben aber explizit unverbindlich. Auch wenn die Erklärung zu Prinzip vier eine nützliche Differen­ zierung verschiedener Formen der Zwangsarbeit bietet, bleibt der Inhalt zum Teil unbestimmt. Ob Produkte, die von Strafgefangenen hergestellt werden, einer Zwangsarbeit entspringen, hängt vielfach von der konkreten Ausgestaltung eines kaum zu überprüfenden Strafgefangenensystems ab. Prinzip fünf ist für sich allein genommen unklar, da der Begriff »Kinderarbeit« deutungsoffen ist. Wie ist beispielsweise die Mitarbeit von Kindern in Filmproduktionen zu bewerten? Wäre nicht viel lebensdienlicher ein Prinzip, das Kinderarbeit nur unter den Bedin­ gungen erlaubt, dass es nach festgelegten Kriterien Kindern nicht schadet und in einer Reihe von Kontexten sogar einen Beitrag zu ihrer Ausbildung und zur Linderung von großer Not darstellt? Erst die weitere Definition des Begriffes »Kinderarbeit« auf den Internetseiten des Global Compact macht klar, dass durchaus nicht jede Arbeit von Kindern durch das Prinzip untersagt sein soll.154 Vgl. https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc/mission/principles/princi ple-5 (zuletzt eingesehen am 26.09.2022).

154

127 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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Auch im Blick auf konkrete Arbeitsnormen gibt es eine Fülle staatlicher Vorgaben, die allerdings international ganz unterschied­ lich ausfallen. Deswegen gibt es starke Anreize für global agierende Unternehmen, arbeitsintensive Stellen dorthin zu verlagern, wo die staatlichen Vorgaben besonders niedrigschwellig sind. Darum sind hier sowohl transnationale Vorgaben gefordert als auch eigene unter­ nehmerische Verantwortung geboten.

2.3.3 Umwelt Prinzip 7: Sie sollen Umweltprobleme mit Umsicht lösen. Prinzip 8: Sie sollen Initiativen auf den Weg bringen, die die Verant­ wortung gegenüber der Umwelt fördern. Prinzip 9: Sie sollen sich für die Entwicklung und Verbreitung umweltfreundlicher Technologien einsetzen. Die Prinzipien sieben bis neun zum Umweltschutz sind sehr weich formuliert und lassen fast jeden möglichen Auslegungsspiel­ raum zu. Auch wenn die weiterführenden Erklärungen zu diesen Prinzipien eine bessere Idee vermitteln, was die Verantwortung einer Führungskraft in diesem Bereich sein könnte, bleibt diese Verantwor­ tung eher vage definiert. Die Prinzipien sind damit ohne bindende Kraft. Zur Verwirrung in Bezug auf die Verantwortung trägt bei, dass in den Erläuterungen zu Prinzip acht auch ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsziele angesprochen werden.155 Deswegen verwundert es nicht, dass gerade in Staaten wie China und Indien die CO2-Emissionen in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sind und viele Unternehmen ihre energieintensive Produk­ tion in Staaten verlagern, in denen es nur wenige Umweltauflagen gibt. Hier zeigt sich ein klassisches Versagen auf der Regelebene, das durch eine wirksamere Bepreisung von Klimatreibhausgasen verändert werden müsste.

Vgl. https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc/mission/principles/princi ple-8 (zuletzt eingesehen am 26.09.2022).

155

128 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.3 Der Global Compact als ein Lösungsvorschlag auf Unternehmensebene

2.3.4 Korruptionsbekämpfung Prinzip 10: Globale Unternehmen sollen gegen alle Formen der Korruption einschreiten, einschließlich Erpressung und Bestechung. In den Ausführungsbestimmungen wird insbesondere die Imple­ mentierung von Compliancestrukturen angemahnt, weil diese »die Effektivität und Effizienz steigern sowie damit einhergehend zur Optimierung von Prozessen beitragen. Ein korruptionsfreier und fairer Wettbewerb ist die Grundlage für ein nachhaltiges Wirtschafts­ wachstum und stabilisiert die globale Weltwirtschaft.«156. Letztlich wird dadurch die Reputation von Unternehmen gestärkt, Vertrauen möglich und damit auch unvollständige Verträge zukunftssicher. Damit scheint das zehnte Prinzip auf den ersten Blick eindeutig zu sein. Jedoch kann die Auslegung des Begriffes »Korruption« vor dem Hintergrund kultureller Unterschiede zu Schwierigkeiten füh­ ren: Was in der einen Kultur eine unabweisbare Freundschaftsgabe darstellt, wird in einer anderen als Bestechungsversuch verstanden.

2.3.5 Fazit Insgesamt enthält der Global Compact sehr wichtige Prinzipien und gibt Unternehmen einen Kompass für wertorientiertes Wirtschaften an die Hand. Wie allerdings der Dieselskandal, aber auch Korrup­ tionsskandale und Menschenrechtsverletzungen, die Unternehmen tolerieren oder sogar aktiv begehen, zeigen, fehlt ein Regelwerk von Sanktionen, das diese Prinzipien durchzusetzen vermag. Hintergrund hierfür ist, dass der Global Compact keine Regulierungsinitiative im eigentlichen Sinn zu sein beabsichtigt, sondern vielmehr als Lern­ plattform zu verstehen ist. Darum bleibt eine Regulierungsinitiative ein Desiderat, weswegen es sinnvoll ist, Anleihen beim Project on Negotiation (PoN) und dem Mutual Gains Approach (MGA) der Harvard University zu machen, die aufgrund ihrer Strukturmerkmale für Verhandlungen helfen, Wege zu finden, wie ein wertorientiertes Wirtschaften realisiert werden kann. 156 https://www.globalcompact.de/themen/korruptionspraevention (zuletzt eingesehen am 05.04.2022).

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens Die holistische, wertorientierte Wirtschafts- und Unternehmensethik fragt danach, was wir tun sollen, um die Prinzipien des Global Com­ pact umsetzen zu können. Mit dieser praktischen und pragmatischen Betonung von Umsetzungselementen bzw. Strukturelementen eines wertorientierten Wirtschaftens wird ein Weg gewiesen, das Null­ summendenken zu überwinden. Während die übliche akademische Vorgehensweise die Verteidigung von Positionen fördert und während zudem in weltanschaulich umstrittenen Fragen gern sogenannte Pro­ pheten auftreten, um mit dem Finger auf nach ihrer Überzeugung mögliche Gefahren zu deuten oder blinde Flecken in der Debatte aufzudecken, geht es im wertorientierten Ansatz dagegen darum, alle Handlungen darauf hin zu bewerten, ob sie in der betreffenden Situation den größtmöglichen Wert realisieren, konkret ob sie dazu dienen, Menschenrechte zu wahren, Arbeitsbedingungen zu verbes­ sern, die Umwelt zu schützen und Korruption zu vermeiden. Es geht also darum, für alle Beteiligten und Betroffenen einschließlich unserer Mit- und Umwelt lebensdienliche Entscheidungen zu treffen, um möglichst alle besserzustellen.

2.4.1 Interessen und die Frage der Corporate Social Responsibility (CSR) Das Interesse global agierender Unternehmen besteht darin, Gewinne zu machen, mit dem Schlagwort von Milton Friedman: »The busi­ ness of business is business.«157 Diesen vielzitierten Satz hatte er unter dem berühmt-berüchtigten Titel »The Social Responsibility of Business is to Increase Its Profits« 1970 in der New York Times veröffentlicht. Friedman verneinte in diesem Beitrag jede Form von sozialer Verantwortung von Unternehmen als Entitäten, die über eine instrumentelle Corporate Social Responsibility (CSR) hinausgeht, mit den Worten: 157 New York Times vom 13. September 1970, 17, hier zitiert nach: https://www.n ytimes.com/1970/09/13/archives/a-friedman-doctrine-the-social-responsibilityof-business-is-to.html (zuletzt eingesehen am 08.04.2022).

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2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

» […] that business has a ›social conscience‹ and takes seriously its responsibilities for providing employment, eliminating discrimina­ tion, avoiding pollution and whatever else may be the catchwords of the contemporary crop of reformers. In fact they are – or would be if they or anyone else took them seriously – preaching pure and unadulterated socialism. Businessmen who talk this way are unwitting puppets of the intellectual forces that have been undermining the basis of a free society these past decades.«158

Dahinter steht seine Überzeugung, dass nur natürliche Personen soziale Verantwortung haben können, ohne damit in Frage zu stellen, dass staatliche Maßnahmen sinnvoll und notwendig sind.159 Damit würden auch Selbstverpflichtungen von Unternehmen im Sinn des späteren Global Compact als verfehlter sozialistischer, die Freiheit verneinender Weg abgelehnt, es sei denn sie wären im Eigeninteresse der Unternehmen selbst. Es wird also eine freiwillige Corporate Social Responsibility (CSR), die sich fast in wortgleichem Sinn, wie von Friedman definiert, im Grünbuch der Europäischen Kommission als »Concept whereby companies integrate social and environmental concerns in their business operations and in their interactions with their stakeholders on a voluntary basis«160 finden lässt, dann als verfehlt eingeschätzt, wenn sie altruistisch motiviert ist. Was die gesellschaftliche Forderung nach einem derartigen altruistischen Ver­ halten übersieht, besteht darin, dass ein Manager in einem solchen Fall »nicht sein eigenes Geld für philanthropische Zwecke ausgibt, sondern das Geld anderer Menschen«161, nämlich der Shareholder als Unternehmenseigentümer, ausgibt. Dies bedeutet aber nichts anderes als eine »Veruntreuung der vom Manager treuhänderisch zu verwaltenden – und per Auftrag zu vermehrenden – Unternehmens­ ressourcen«, es sei denn die Shareholder selbst hätten die CSR-Maß­ nahmen abgesegnet. Ebd., 17. Pies (2016, 266–291) hat überzeugend herausgearbeitet, dass Friedman eine staatliche Alternative zur CSR vorgeschlagen hat, nämlich eine sogenannte »Negative Einkommenssteuer« (285) verbunden mit Bildungsgutscheinen mit dem Ziel, gerade die Armen und wenig Gebildeten zu unterstützen und auf diese Weise die Demokratie zu festigen. 160 Hier zitiert nach Lütge/Uhl (2018), 212. Das Grünbuch entstand ebenfalls etwa 30 Jahre nach Friedmans Artikel. 161 So fasst Pies (2016, 288) treffend Friedmans Position zusammen. Hier auch das folgende Zitat. 158

159

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Eine derartige gesellschaftliche Forderung auf der Diskursebene weist vielmehr auf ein Diskursversagen hin. Nach Friedman hat vielmehr die politische Rahmenordnung dafür zu sorgen, dass Unter­ nehmen in ihrem Handeln sozial verantwortlich agieren. Er lehnt also eine explizit genannte CSR ab, wonach Unternehmen Aufgaben über­ nehmen, die in Wirklichkeit Staatsaufgaben sind, wenn diese nicht im Interesse der Unternehmen selbst sind. Friedman hätte dagegen nichts gegen eine instrumentelle CSR, die dazu dient, Gemeinden zu unterstützen, damit sich dort besser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für das Unternehmen finden lassen: »[I]t may well be in the long-run interest of a corporation that is a major employer in a small community to devote resources to providing amenities to that community or to improving its government. That may make it easier to attract desirable employees, it may reduce the wage bill or lessen losses form pilferage or sabotage or have otherwise worthwhile effects.«162

Darum wären menschendienliche Maßnahmen, wie im Stiftungssta­ tut der Carl-Zeiss-Stiftung festgelegt, auch für Friedman eine Unter­ nehmensaufgabe, weil Abbe selbst immer wieder betont, dass die Maßnahmen dazu führen werden, zufriedenere und bessere Mitarbei­ tende zu gewinnen bzw. für das Unternehmen zu erhalten. Ernst Abbe als die für Carl-Zeiss zur damaligen Zeit hauptverantwortliche Füh­ rungsperson, hat dieses Statut allerdings wohl nicht nur aus diesem Grund verfasst,163 sondern auch aus Gründen, die heute unter die Formen einer integrativen bzw. ethisch genannten CSR164 fallen. Ein Stakeholdermanagement im Sinne von »Fair-Trade-Maßnahmen« würden nur dann zum Verständnis Friedmans gehören, wenn diese dem Unternehmen nützen. Vom Global Compact blieben dann die Regeln, die dem Unternehmen instrumentell nützlich sind, z. B. die 10. Regel gegen Korruption, weil es im Eigeninteresse der Unterneh­ men ist, Korruption zu verhindern, da diese langfristig schädliche Folgen hat. Allerdings haben gerade Unternehmen, die durch einzelne Per­ sonen gegründet und wesentlich geprägt werden, beispielsweise Tesla durch Elon Musk, auch weitergehende Interessen, beispielsweise das Interesse, etwas Besonderes zu schaffen, Neues zu entdecken 162 163 164

Friedman (1970). Darauf wird noch ausführlich einzugehen sein. Vgl. Lütge/Uhl (2018), 219f.

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2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

usw. oder wie eben Ernst Abbe die besten optischen Geräte herzu­ stellen und zugleich bestmögliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, die zugleich menschliche Grundbedürfnisse berücksichtigen. Auch diesen Unternehmen geht es im Sinn Friedmans darum Gewinne zu erzielen, aber nicht Gewinne zu maximieren. Es geht ihnen also nicht um Profitmaximierung, sondern Profitabilität. Darüber hinaus gibt es weltweit agierende Non-Profit-Organi­ sationen, die keine Gewinnerzielungsabsicht haben, sondern soziale und/oder ökologische Ziele verfolgen. Dennoch benötigen auch diese Organisationen hinreichender finanzieller Mittel, aber die ökonomi­ sche Dimension ist in diesem Fall nur instrumentell.

2.4.2 Alternativen Nimmt man Friedman zum Ausgangspunkt, so gibt es bei der Interes­ sensauslegung keine Alternative zur Profitmaximierung. Allerdings hatte bereits die genauere Analyse gezeigt, dass diese Profitmaximie­ rung nicht in einer Weise eng gefasst werden sollte, wie es beispiels­ weise bei der Berechnung im Ford-Pinto-Skandal der Fall war, bei dem die Kosten für Schadensersatzzahlungen für Menschenleben gegen die Kosten einer Tankverbesserung gegengerechnet wurden. Viel­ mehr hätte ein langfristig profitorientiertes Unternehmen den Image­ schaden einkalkuliert. Darüber hinaus zeigen gerade die Beispiele der Unternehmen wie Tesla oder Carl-Zeiss, dass die Alternative zur Profitmaximierung Profitabilität sein kann, bei der neben der ökono­ mischen Dimension auch die soziale und ökologische Dimension um ihrer selbst willen berücksichtigt werden. Wir haben also die Alter­ nativen Profitmaximierung und Profitabilität. Im zweiten Fall kann das Paretokriterium hilfreich sein, weil es zumindest einen klaren Hinweis gibt, wann bestimmte Maßnahmen paretoinferior und damit unerwünscht sind, wenn also ein Produkt, sein Herstellungsverfahren oder der Ort der Herstellung usw. entweder zu Menschenrechtsver­ letzungen führt oder die Arbeitsbedingungen verschlechtert oder dem Klima schadet oder Korruption befördert. Eine dritte Alternative wäre Gemeinnützigkeit, wenn es also nicht darum geht, Gewinne zu erzielen, sondern nur so viel zu erwirtschaften, dass das »ideelle« Ziel erreicht werden kann. Hier zählen also nur die soziale und/ oder ökologische Dimension, während die ökonomische Dimension nur instrumentell von Bedeutung ist, d. h., das Unternehmen muss

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2 Wirtschaft im Dienst einer lebensdienlichen globalen Ordnung

ökonomisch nachhaltig wirtschaften, weil es ansonsten insolvent gehen wird. Unternehmen haben zu entscheiden, welche Produkte sie her­ stellen wollen, wie sie diese herstellen wollen, wo sie diese her­ stellen wollen usw. Zählt nur die Profitmaximierung, müssen sie entscheiden, wie die langfristige Dimension der Entscheidungen für bestimmte Produkte ausfällt, da es möglich sein kann, dass bestimmte Produkte zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund gesetzlicher Bestimmungen unverkäuflich werden. Ein Beispiel aus dem Auto­ mobilbau kann verdeutlichen, welche Konsequenzen sich aus den Alternativen ergeben, wenn folgende Annahmen gelten: 1. 2. 3.

Weltweit werden zu einem bestimmten Stichtag keine Verbren­ nerfahrzeuge mehr neu zugelassen. Verbrennerfahrzeuge sind umweltschädlich und aufgrund der Abgase auch gesundheitsschädlich. Die Umstellung auf Nicht-Verbrennerfahrzeuge ist mit hohen Investitionen verbunden.

Alternativen

Alternative 1

Alternative 2

Alternative 3

Profitmaximierung

Profitabilität

Gemeinnützigkeit

Herstellung von Verbrennerfahrzeugen bis zum Stichtag, sofern dies die Profite maximiert

Marktstart von NichtVerbrennerfahrzeugen vor dem Stichtag, solange dies profitabel genug ist.

Herstellung ausschließlich von Nicht-Verbrennerfahrzeugen aus gemeinnützigem Interesse

Ausschließliche Berücksichtigung der ökonomischen Dimension, die soziale und ökologische Dimension sind nur instrumentell

Berücksichtigung aller drei Dimensionen mit Vorzugswürdigkeit der ökonomischen Dimension.

Vorzugswürdigkeit der sozialen/ökologischen Dimension, die ökonomische Dimension ist nur instrumentell

Abbildung 17: Alternativen

134 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

Dieser Entscheidungsbaum gibt noch keine eindeutige Lösung an, da selbst im Fall der Profitmaximierungsstrategie nicht klar ist, ob es nicht im mittel- und langfristigen ökonomischen Interesse eines Automobilherstellers sein kann, auf die Herstellung von Nicht-Ver­ brennerfahrzeugen umzusteigen. Vielmehr verdeutlicht die Darstel­ lung nur, dass je nach Alternative die ökonomische, soziale bzw. ökologische Dimension um ihrer selbst willen oder nur instrumentell von Bedeutung ist. Damit zeigt sich auch, wo sich Wege trennen können, wenn man das grundsätzliche Interesse der Gesellschaft am Schutz des Menschen bzw. am Schutz seiner Menschenwürde und den damit verbundenen Rechten auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung einerseits und die unterschiedlichen Inter­ essen von Unternehmen/Non-Profit-Organisationen (Gewinnmaxi­ mierung/Profitabilität/Gemeinnützigkeit) andererseits berücksich­ tigt.

2.4.3 Optionen In vielen Fällen sind vor dem Hintergrund dieser Alternativen bestimmte Optionen kontrovers, beispielsweise stehen viele Auto­ hersteller vor der Entscheidung, ob sie auf die Batterietechnologie setzen sollen, den Wasserstoffantrieb bevorzugen wollen oder weiter auf Verbrenner setzen. Während die Volkswagen AG die Entschei­ dung traf, voll auf Elektromobilität mit Batterien zu setzen und damit versucht, Tesla nachzueifern, haben andere Firmen wie BMW oder Toyota Mischstrategien bevorzugt. Dadurch aber, dass die Politik in diesen Entscheidungsprozess eingegriffen hat und in vielen Staaten eine Förderung der Elektromobilität auf Batteriebasis erfolgt sowie ein Verbot für einen Neuwagenverkauf mit Verbrennermotoren ab einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen wurde, haben die Herstel­ ler eine Verschiebung in ihrem Entscheidungsprozess erfahren, denn sie mussten diese neuen rechtlichen Vorgaben berücksichtigen. Je nach Alternative gilt: Eine Option, also eine Entscheidungs­ möglichkeit, ist dann die vorzugswürdige, wenn sie den Gewinn maximiert (Alternative 1), hinreichend profitabel ist (Alternative 2) oder die soziale und/oder ökologische Dimension stärkt, ohne das Überleben der Organisation zu gefährden (Alternative 3). Ein Fahr­ zeughersteller, der seine Gewinne maximieren möchte, hätte dann mehrere Optionen. Er könnte an seiner bisherigen Gewinnstrategie

135 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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festhalten und deshalb weiter Verbrenner bauen. Dazu müsste er politisch Einfluss nehmen, ein Verbot dieser Fahrzeuge zu verhindern, indem er einerseits die Möglichkeit von klimaneutralen Kraftstoffen (e-fuels) betont und andererseits die Schädlichkeit der alternativen Technologie möglichst übertreibt, beispielsweise die Umweltschäden des Lithiumabbaus betont und die Umweltschäden bei der Gewin­ nung von Erdöl kleinredet. Allerdings ist diese Option nicht ungefähr­ lich, da zwar die Kompetenz in der herkömmlichen Technologie groß ist, aber eine Änderung der Rahmenbedingungen das Risiko birgt, dass diese Technologie nicht mehr verkauft werden kann. Darum bietet sich als weitere Option an, das Alte nicht zu lassen, aber das Neue auszuprobieren. Auch hier wird die Lobbyarbeit darin bestehen, den neuen Weg möglichst nicht als attraktiv herauszustrei­ chen, sondern die Vorteile der bisherigen Technologie zu betonen. Das Risiko dieser Mischstrategie besteht darin, am Ende in keinem der beiden Bereiche eine Führungsrolle einzunehmen, sodass die Kunden sich den Herstellern zuwenden, die in einem der beiden Bereiche am kompetentesten erscheinen und durch die Konzentration auf eine Technologie auch das beste Preis-Leistungs-Verhältnis werden anbieten können. Ein Unternehmen, das auf eine neue Technologie setzt wie Tesla, wäre ein Beispiel für die dritte Option, nämlich konsequent auf eine neue Antriebstechnologie zu setzen, wenn es Tesla nur um die Gewinnmaximierung ginge. Hier lohnt sich eine Lobbyarbeit gegen Verbrenner. Der volle Einsatz für eine neue Technologie bedeutet, dass sich ein Unternehmen dem Risiko aussetzt, dass diese Techno­ logie noch nicht ausgereift ist und es Durchbrüche bei anderen Kon­ kurrenten gibt, sodass die eigenen Produkte auf einmal nicht mehr konkurrenzfähig sind. Andererseits besteht die große Chance darin, den bisherigen Verbrennermarkt zu übernehmen und der langsamer umsteigenden Konkurrenz voraus zu sein. Eine weitere Option besteht darin, das Geschäftsfeld aufzugeben. Ein gutes Beispiel hierfür waren Nokia und Siemens, die beide das Geschäftsfeld der Mobiltelefone aufgaben, als sie feststellten, dass sie nicht mehr konkurrenzfähig produzieren konnten (Siemens), bzw. erkannten, dass sie Neuentwicklungen verschlafen hatten, sodass ihre Produkte nicht mehr nachgefragt wurden (Nokia). Nokia ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie schnell ein Weltmarktführer seine Position einbüßen kann, was allen eine Warnung sein kann, die immer noch auf die herkömmliche Verbrennertechnologie setzen.

136 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

Alternative 1: Gewinnmaximierung

Option1

Option 2

Herstellung von Fahrzeugen mit Verbrennermotoren

Herstellung von Verbrennern und Nicht-Verbrennern

Option 3 Herstellung von NichtVerbrennern

Option 4 Aufgabe des Geschäftsfelds

Lobbyarbeit gegen das Verbot von Verbrennern

Lobbyarbeit gegen das Verbot von Verbrennern

Lobbyarbeit gegen Verbrenner

Verzicht auf Lobbyarbeit im Bereich "Fahrzeuge"

Konsequent auf das Erprobte setzen

Versuch, alles gleichzeitig zu schaffen

Voller Einsatz für die neue Technologie

Voller Einsatz für ein anderes Geschäftsfeld

Risiko, dass das Geschäftsfeld wegbricht

Möglichst alle Wege offenlassen - Risiko des "Nicht Fisch, nicht Fleisch"

Risiko rascher Entwicklung der neuen Technologie

Risiko der Aufgabe eines Marktes

Stärke bisheriger Expertise

Chance, auf verschiedene Szenarien reagieren zu können

Chance auf Markführerschaft in der neuen Technologie

Chance einer Fokussierung auf andere Produkte

Abbildung 18: Optionen

2.4.4 Standards der Legitimität Wie bereits oben behandelt, ist der wertorientierte Ansatz nicht mit einer relativistischen Ethik zu verwechseln, weil er auf fundamentalen Werten (Menschenwürde und mit ihr verbundenen Menschenrech­ ten, auf Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit) basiert. Aber diese Werte müssen in der jeweiligen Situation neu verstanden werden, wenn man nicht in einer Positionierung des absoluten Ja oder Nein landen möchte, an deren Ende immer nur Sieg oder Niederlage stehen kön­ nen. Damit verbunden ist eine grundsätzliche Achtung der geltenden Gesetze, Regulierungen, Industrie- und Sicherheitsstandards sowie ungeschriebener öffentlicher Vereinbarungen. Die eigenen Interessen haben insofern ihre Grenzen, als keine Interessen zu verwirklichen sind, die derartige Übereinkommen (ohne gemeinsame Bereitschaft zu ihrer Änderung) brechen. Es geht aber nicht nur um Werte dieser prinzipiellen Natur, sondern auch um konkrete Werte im Prozess, nämlich um einen fairen und konstruktiven Umgang miteinander.

137 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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Am Beispiel des Umgangs mit der neuen Möglichkeit des auto­ nomen Fahrens zeigt sich, wie ein solches Finden von Standards der Legitimität gelingen kann, die Unternehmen in diesem Feld Rechts­ sicherheit geben, die Öffentlichkeit »mitnimmt« und so einerseits Gewinnmöglichkeiten für Unternehmen ermöglicht, andererseits zugleich sozial und ökologisch vorzugswürdig sein kann. Am 20. Mai 2021 hat der Deutsche Bundestag einem Gesetz­ entwurf zum automatisierten Fahren (Stufe 4) zugestimmt, der in Deutschland vollautomatisiertes Fahren ermöglicht. Bei dieser Stufe kann der Fahrer dem Fahrzeug die völlige Kontrolle überlassen, hat aber noch die Möglichkeit, diese Kontrolle wieder zu übernehmen. Das Fahrzeug kann also selbständig fahren, Gefahrensituationen ein­ schätzen und damit die Insassen vollständig zu Passagieren machen. Das Gesetz basiert wesentlich auf Überlegungen, die eine vom Bun­ desministerium für Verkehr und Digitales eingesetzte Ethikkommis­ sion zu dieser Thematik im Juni 2017 vorgelegt hat.165 Ein derartiges autonomes und dafür notwendigerweise vernetz­ tes Fahren könnte die Zahl der Verkehrstoten und Schwerverletzten deutlich verringern, denn die häufigste Unfallursache ist menschli­ ches Fehlverhalten. Eine vom MIT (Cambridge/Mass) 2019 veröf­ fentlichte Vorlesung zum State of the Art des Autonomen Fahrens lässt anfangs einen Timer ablaufen, der zeigt, dass alle 23 Sekunden ein Mensch weltweit im Straßenverkehr stirbt.166 Das vollautomatisierte Fahren hilft auf den ersten Blick, die mit der Menschenwürde eng verbundene eigene Selbstbestimmung in noch besserer Weise zu realisieren. Einer der Gründe für den Erfolg des Automobils besteht darin, Mobilität für das einzelne Individuum unkompliziert gemacht zu haben. Man entscheidet selbst, wann man zu welcher Zeit wohin fahren kann. Die vollautomatisierte Mobilität im Blick auf das eigene Auto erweitert die Freiheitsgrade, die bisher nur die privilegierte Personengruppe in Anspruch nehmen konnte, die sich einen Fahrer leisten konnte. Sie verbindet die Freiheiten des eige­ nen Fahrens, nämlich die Zeiten des Fahrens selbst bestimmen zu kön­ nen und einen eigenen privaten Raum zu haben, also beispielsweise nicht in überfüllten Zügen sitzen zu müssen, mit den Freiheiten, die man schon heute auf Bahnfahrten oder Flugreisen genießen konnte, 165 In diesem Beitrag nehme ich teilweise wörtlich eigene Überlegungen aus Knoe­ pffler (2020 und 2021b) auf. 166 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sRxaMDDMWQQ (zuletzt eingese­ hen am 24.05.2021).

138 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

nämlich die Zeit für anderes als das Fahren zu nutzen. Was das Prinzip der Selbstbestimmung angeht, so hat das vollautomatisierte Fahren auch noch den großen Vorteil, dass Menschen, die bisher aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Verfasstheit nicht selbst ein Auto fahren konnten, durch diese Technik befähigt werden, ihre Mobilität auszuweiten. Sie gewinnen dadurch neue Freiheitsmöglichkeiten. Zudem entlastet das automatisierte Fahren physisch und psychisch, da man nicht mehr die ganze Zeit aufmerksam auf den übrigen Verkehr achten muss und so viel entspannter fahren kann. Allerdings birgt die vollautomatisierte Mobilität auch Gefähr­ dungen für die Selbstbestimmung. Unter der Annahme, dass das vollautomatisierte Fahren deutlich sicherer sein dürfte als das Selbst­ fahren, könnte der Gesetzgeber paternalistisch eventuell zu einem späteren Zeitpunkt verbieten, selbst fahren zu dürfen, wenn die Tech­ nik ausgereift ist. So wie bereits heute die Gurtpflicht vorgeschrieben ist, ließe sich auch denken, dass auf öffentlichen Straßen nur noch erlaubt ist, vollautomatisiert zu fahren. In diesem Fall würde also die Selbstbestimmung in einen Konflikt mit Nichtschadens- und Fürsorgeprinzip geraten. Vollautomatisiertes Fahren ermöglicht auf den ersten Blick einen größeren Raum an Privatsphäre, denn die Angewiesenheit auf andere Verkehrsmittel bzw. auf Taxis u. ä. wird reduziert, insbesondere für die Menschen, die noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, selbst zu fahren. Zugleich gibt es jedoch ganz neue Herausforderungen für das mit der Selbstbestimmung eng verbundene Persönlichkeitsrecht auf die eigene Privatsphäre und die eigenen Daten. Die für das Gelin­ gen vollautomatisierten Fahrens nötige Vernetzung zwischen den Fahrzeugen, also die Kommunikation der Fahrzeuge untereinander, verlangt einen Datenaustausch. Daten als die neue Währung sind damit in der Hand derer, die die Vernetzung gewährleisten. Bereits heute ist die Befürchtung groß, dass damit die Person noch gläserner und überwachbarer wird. Umgekehrt kann falsch verstandener Daten­ schutz einen sinnvollen Austausch von Daten verhindern, weswegen u. a. die Corona-App in Deutschland so wenig wirksam war. Es wird also erneut zu einer wichtigen Balance zwischen Selbstbestimmungsund Nichtschadens- sowie Fürsorgeprinzip kommen. Darüber hinaus erfordern vollautomatisierte Systeme im Stra­ ßenverkehr den Einsatz einer Vielzahl von Techniken, die zur Verlet­ zung der Privatsphäre auch anderer Menschen führen können. Wenn beispielsweise in der derzeitigen Generation von Fahrzeugen der

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Firma Tesla die eingebauten Kameras das Geschehen aufzeichnen, das sich in und um das Fahrzeug herum abspielt, so werden dadurch Men­ schen möglicherweise in Situationen filmisch festgehalten, die diese für privat erachten. Freilich können die Aufnahmen auch helfen, Van­ dalismus, Diebstahl usw. zu verhindern167, aber sie gefährden ande­ rerseits die Privatsphäre und können sogar für eine Spionagetätigkeit genutzt werden. So verbietet die chinesische Regierung aus diesem Grund »parkende Teslas auf Regierungsgelände«168, wie in einem Bericht der Rheinischen Post am 21. Mai 2021 zu lesen war. Vor diesem Hintergrund sind die ausführlichen Überlegungen des Ethik-Kommissionsberichts Automatisiertes und vernetztes Fahren zur »Verwertung von Daten zwischen Sicherheit, Privatautonomie und informationeller Selbstbestimmung«169 von großer Bedeutung, in denen einerseits Datensicherheit gewährleistet wird, andererseits die Verkehrsteilnehmer aber auch die Möglichkeit haben, Daten preiszugeben, um auf diese Weise beispielsweise bei einem Unfall Hilfe zu erhalten. Auf den ersten Blick scheint die Anwendung des vollautomati­ sierten Fahrens auch im Blick auf den Schutz der Betroffenen unein­ geschränkt zu bejahen zu sein. So haben vollautomatisierte Systeme den großen Vorteil, viel rascher und zielführender in kritischen Situa­ tionen entscheiden zu können. In diesem Sinn sind auf den ersten Blick derartige Systeme vollautomatisierten Fahrens auf jeden Fall menschlichen Fahrern vorzuziehen, da derzeit in der Minute drei Menschen weltweit im Straßenverkehr ihr Leben lassen. Die Ethikkommission von 2017 hat bereits in ihrer zweiten Regel betont, wie wichtig die »Verminderung von Schäden im Sinne einer positiven Risikobilanz ist«170. Im Zusammenhang lautet diese Regel: »2. Der Schutz von Menschen hat Vorrang vor allen anderen Nütz­ lichkeitserwägungen. Ziel ist die Verringerung von Schäden bis hin zur vollständigen Vermeidung. Die Zulassung von automatisierten Systemen ist nur vertretbar, wenn sie im Vergleich zu menschlichen Vgl. https://teslamag.de/news/polizei-warnt-tesla-raeder-los-angeles-gefragt -sentry-mode-aktivieren-30327, (zuletzt eingesehen am 26.05.2021). 168 https://rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/angst-vor-spionage-china-ver bietet-parkende-teslas-auf-regierungsgelaende_aid-58297407 (zuletzt eingesehen am 26.05.2021). 169 Ethik-Kommission Automatisiertes und vernetztes Fahren (2017), 24. 170 Ebd., 10. 167

140 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

Fahrleistungen zumindest eine Verminderung von Schäden im Sinne einer positiven Risikobilanz verspricht.«

Diese Regel benennt einen fundamentalen Grundsatz für alle sich daran beteiligenden Unternehmen, nämlich den Vorrang des Schutzes von Menschen vor allen Nützlichkeitserwägungen, wobei offengelas­ sen wird, was unter Nützlichkeitserwägungen zu verstehen ist. Klar wird hier ausgesprochen, dass die neuen Systeme menschlichem Verhalten überlegen sein müssen, und zwar in dem Sinn, dass der­ artige Systeme weniger Schäden anrichten, als wenn Menschen die Fahrzeuge geführt hätten. Dies ist eindeutig belegbar, wenn derartige Systeme entsprechend den Spezifikationen arbeiten. Automatisierte Systeme reagieren schneller in Gefahrensituationen. Sie benötigen keine Reaktionszeit wie der Mensch, um überhaupt zu handeln. Sie schätzen Situationen aufgrund der Programmierung objektiver ein und können damit auch im Blick auf die Gefährdungen und Schäden im Normalfall bessere Entscheidungen treffen. Allerdings gibt es im Blick auf Standards der Legitimität drei wesentliche Konflikte: 1. 2. 3.

das Safety-Problem, also dass technische Systeme versagen kön­ nen; das Security-Problem, also dass technische Systeme durch Men­ schen manipulierbar sind; das Abwägungsproblem, also die Frage, was zu tun ist, wenn Menschenleben gegen Menschenleben steht.

Was das Safety-Problem angeht, so ist beim vollautomatisierten Fahren der Stufe 4 so lange eine mögliche Lösung gegeben, wie das System im Falle eines drohenden Ausfalls den Wagen mit Warnblink­ anlage an den Straßenrand fährt. Sollte der Fahrer imstande sein, die Kontrolle über das Fahrzeug selbst zu übernehmen, kann er dann ohne die Systeme weiterfahren. Dagegen muss das System so sicher sein, dass es beispielsweise aufgrund eines Funktionsfehlers nicht selbstständig in den Gegenverkehr steuert, die Spur verlässt usw. Wer herkömmliche Spurassistenten und adaptive Abstandsregler kennt, weiß, wie unzuverlässig diese Systeme derzeit in vielen Fahrzeugen noch sind. Vollautomatisiertes Fahren erfordert hier einen ganz ande­ ren technischen Aufwand und eine völlig andere Sicherheitsstruktur. Dies gilt auch für die »security«. Wenn Hacker im Frühjahr 2021 eine zentrale Treibstoffpipeline in den USA lahmlegen und

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nur gegen die Zahlung eines »Lösegelds« wieder freigeben171, dann wird die Frage dringlich, wie das vollautomatisierte Fahren gegen kleinere und größere Gefährdungen, die von Menschen ausgehen, geschützt werden kann. Es ist nämlich eine Binsenwahrheit, dass kein System, das mit dem Internet verbunden ist, vollständig gegen Hacker geschützt werden kann. Zudem können Menschen auch ohne jede böse Absicht in automatisierte Systeme eingreifen und dafür sorgen, dass diese entgegen ihren Spezifikationen nicht mehr hinreichend arbeiten. Die bekanntesten Fälle sind die beiden Kernkraftunglücke in Tschernobyl und Fukushima. In Tschernobyl hatte das Team nach und nach die wesentlichen Sicherheitsvorkehrungen abgeschaltet und so erst die Katastrophe ermöglicht.172 In Fukushima waren wesent­ liche Wartungsarbeiten nicht durchgeführt worden, weswegen die Notstromversorgung nicht funktionierte.173 Aber selbst die Proble­ matik des vollautomatisierten Fahrens ist in Science-Fiction-Filmen schon angedacht worden. Im Film I, Robot gibt es am Anfang eine Szene, in welcher der Hauptdarsteller, der in einem vollautomatisiert fahrenden Pkw sitzt, selbst wieder das Steuer übernimmt und im Lauf der Szene fast einen Unfall verursacht, weil er eben nicht ganz so schnell reagieren kann wie das System. Im späteren Verlauf des Films rettet ihn jedoch die Übernahme des Steuers davor, Opfer eines Anschlags zu werden. Neben Safety- und Security-Problemen gibt es zudem das zen­ trale Problem der Güterabwägung, wen das System in bestimmten Situationen retten sollte, ob einprogrammiert werden darf oder sogar soll, dass das Fahrzeug versucht, im Entscheidungsfall die Anzahl der Opfer zu minimieren. Die Kommission stellt hierzu fest: »8. Echte dilemmatische Entscheidungen, wie die Entscheidung Leben gegen Leben sind von der konkreten tatsächlichen Situation unter Einschluss ›unberechenbarer‹ Verhaltensweisen Betroffener abhängig. Sie sind deshalb nicht eindeutig normierbar und auch nicht ethisch zweifelsfrei programmierbar. Technische Systeme müssen auf Unfall­ vermeidung ausgelegt werden, sind aber auf eine komplexe oder Vgl. https://www.nzz.ch/wirtschaft/gekaperte-benzinpipeline-im-amerika nischen-osten-nimmt-den-betrieb-wieder-auf-ld.1625011?reduced=true (zuletzt eingesehen am 27.05.2021). 172 Vgl. Dörner (2002), 47–57. 173 Vgl. https://www.bfs.de/DE/themen/ion/notfallschutz/notfall/fukushima/u nfall.html (zuletzt eingesehen am 27.05.2021).

171

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intuitive Unfallfolgenabschätzung nicht so normierbar, dass sie die Entscheidung eines sittlich urteilsfähigen, verantwortlichen Fahrzeug­ führers ersetzen oder vorwegnehmen könnten. Ein menschlicher Fah­ rer würde sich zwar rechtswidrig verhalten, wenn er im Notstand einen Menschen tötet, um einen oder mehrere andere Menschen zu retten, aber er würde nicht notwendig schuldhaft handeln. Derartige in der Rückschau angestellte und besondere Umstände würdigende Urteile des Rechts lassen sich nicht ohne weiteres in abstrakt-generelle Ex-Ante-Beurteilungen und damit auch nicht in entsprechende Pro­ grammierungen umwandeln.«174

Interessanterweise endet der Abschnitt mit der Empfehlung: »Es wäre gerade deshalb wünschenswert, durch eine unabhängige öffentliche Einrichtung (etwa einer Bundesstelle für Unfalluntersu­ chung automatisierter Verkehrssysteme oder eines Bundesamtes für Sicherheit im automatisierten und vernetzten Verkehr) Erfahrungen systematisch zu verarbeiten.«175

Diese Empfehlung lässt erahnen, dass den Mitgliedern der Kommis­ sion nicht ganz wohl dabei ist, das Problem ohne jede Lösung zu lassen, zumal sie in der neunten Regel auch jede Quantifizierungs­ überlegung ablehnen, also das Aufrechnen von Menschenleben. Sie akzeptieren nicht, dass beispielsweise einprogrammiert wird, dass im Konfliktfall die Rettung von zwei Menschenleben der Rettung nur eines Menschenlebens vorzuziehen ist. Auch werden Qualifi­ zierungsüberlegungen, wonach die Rettung eines zehnjährigen Kin­ des gegenüber der Lebensrettung eines 95-Jährigen vorzugswürdig wäre, zurückgewiesen. »9. Bei unausweichlichen Unfallsituationen ist jede Qualifizierung nach persönlichen Merkmalen (Alter, Geschlecht, körperliche oder geistige Konstitution) strikt untersagt. Eine Aufrechnung von Opfern ist untersagt. Eine allgemeine Programmierung auf eine Minderung der Zahl von Personenschäden kann vertretbar sein. Die an der Erzeugung von Mobilitätsrisiken Beteiligten dürfen Unbeteiligte nicht opfern.«176

Das mag der Grund sein, warum die Kommission zu diesen Über­ legungen der Zulässigkeit eines gleichen Risikos für alle doch aus­ 174 175 176

Ethik-Kommission Automatisiertes und vernetztes Fahren (2017), 11. Ebd., 11. Ebd., 11.

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drücklich betont, dass sie es ablehnt, »dass es zulässig sein könnte, eine Person zu opfern, um mehrere zu retten. Sie qualifiziert die Tötung bzw. schwere Verletzung von Personen durch autonome Fahrzeugsysteme ausnahmslos als Unrecht«177. Allerdings hilft dies Unternehmen, die entsprechende Systeme programmieren müssen, nicht weiter. Es gibt Situationen, in denen es zu tragischen Unfällen kommen kann, ohne dass dabei bereits von einem Unrecht gesprochen werden sollte. Begeht wirklich ein autonomes Fahrzeugsystem ein Unrecht, verletzt also das Unternehmen, das das Programm dafür geschrieben hat, Standards der Legitimität, wenn auf einmal auf der Landstraße ein Autofahrer aus dem Gegenverkehr ausschert und zum Überholen ansetzt, sodass es zum Zusammenstoß kommt? Vor diesem Hintergrund lässt sich darum die von den Kommissi­ onsmitgliedern betonte Möglichkeit einer Entscheidungsfreiheit des Einzelnen, das eigene Leben zu opfern, wenn nur dadurch das Leben anderer Menschen gerettet werden kann, verstehen, mit der sie die Problematik abzumildern suchen. »Der Fahrer eines Wagens fährt eine Straße am Hang entlang. Der vollautomatisierte Wagen erkennt, dass auf der Straße mehrere Kinder spielen. Ein eigenverantwortlicher Fahrer hätte jetzt die Wahl, sich selber das Leben zu nehmen, indem er über die Klippe fährt oder den Tod der Kinder in Kauf zu nehmen, indem er auf die im Stra­ ßenraum spielenden Kinder zusteuert. Bei einem vollautomatisierten Auto müsste der Programmierer oder die selbstlernende Maschine entscheiden, wie diese Situation geregelt werden soll.«178

Hier wird dem Einzelnen die Möglichkeit gelassen, das Leben der Kinder zu retten, während ein Einprogrammieren einer solchen Ent­ scheidung zur Selbstaufopferung als problematisch angesehen wird. In allen diesen Fällen übersieht die Kommission einen entschei­ denden Punkt: Vollautomatisierte Systeme können in Konfliktsitua­ tion mit hoher Wahrscheinlichkeit bessere, d. h. weniger Schaden bewirkende Entscheidungen treffen als Menschen, die normalerweise in derartigen Situationen überfordert sind und deshalb in der Mehr­ zahl dazu neigen, nicht die bestmögliche Entscheidung zu treffen. Die Öffentlichkeit wird deshalb, sollte ein solcher Fall eintreten, nicht nur die Standards der Legitimität hinterfragen, die eine derartige Abwä­ gung verunmöglichen, sondern auch die betreffenden Unternehmen 177 178

Ebd., 18. Ebd., 16 (im Original kursiv).

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an den Pranger stellen, die für die fehlende Programmierung aufgrund gesetzlicher Vorgaben verantwortlich sind. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus dem Spannungs­ feld von Fürsorge und Selbstbestimmung. Das vollautomatisierte Fahren ermöglicht Personen, die sonst nicht selbstständig ein Fahr­ zeug bewegen dürften, dass diese auch diese Mobilität ohne Fahrer genießen können. Dieses Fahren bietet einen größeren Schutz und kann in diesem Sinn als klassische Realisation des Fürsorgeprinzips verstanden werden. Doch leider hat diese positive Seite auch eine negative Kehrseite. Diese Fürsorge kann nämlich mit dem Prinzip der Selbstbestimmung im Sinne eigenverantwortlicher Handlungs­ freiheit in Konflikt geraten. Bereits heute weiß jeder Autofahrer, wie sehr er von elektrischen Helferlein gegängelt wird. Ist der Gurt nicht angelegt, piepst das System ebenso wie in dem Fall, in dem bei vorhandenem Spurhalteassistenten das Lenkrad nicht kraftvoll gehalten wird, um nur zwei Beispiele zu nennen. Wir haben also einen Konflikt zwischen »Bevormundung« durch technische Systeme und Eigenverantwortlichkeit. Der (noch abstellbare) Spurhalteassistent droht, das Fahrzeug an den Rand zu fahren und zu stoppen, wenn das Lenkrad nicht übernommen wird. Bald könnten Müdigkeitswarner und Alkoholtester das Fahren des Fahrzeugs unmöglich machen, es sei denn, es fährt vollautomatisiert. Diese Fürsorge ist in der Sache plau­ sibel, sofern das System wirklich funktioniert und doch geraten wir in das klassische Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Pater­ nalismus. Dieser Paternalismus ist im Straßenverkehr üblich. Jede Geschwindigkeitsbegrenzung ist eine paternalistische Zumutung, denn es wird unterstellt, dass die fahrende Person nicht imstande ist, die Situation selbst einzuschätzen und entsprechend die Geschwin­ digkeit anzupassen. In diesem Sinn erscheint das vollautomatisierte Fahren nur als konsequente Fortführung der bereits existierenden paternalistischen Grundhaltung des Staats in Angelegenheiten des Verkehrs aus Fürsorge für seine Bürgerinnen und Bürger. Zudem erleichtert eine solche »Fürsorge« die Klärung der Haf­ tungsfragen, was vor allem für die beteiligten Unternehmen von großer Wichtigkeit ist. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass darauf geachtet wird, dass Unternehmen die Haftung nicht einfach von ihren Systemen auf die Fahrer abwälzen dürfen. Das technische System darf darum nicht abrupt die Kontrolle an den Fahrer zurückgeben, weil dies zur Folge hätte, »dass der Fahrer keinen

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Nutzen mehr aus dem hochautomatisierten Fahren ziehen könnte«179. Ausführlich behandelt die Kommission in den Diskussionsergebnis­ sen, wer alles Träger der Verantwortung sein könnte und macht Vorschläge, wie »die Verantwortung für Software und Infrastruktur ausgestaltet und aufgeteilt werden«180 könnte. Diese Überlegungen sind von praktischer Bedeutung, ethisch nicht kontrovers und deshalb als Lösungsangebote sehr sinnvoll und haben auch Eingang in die Gesetzgebung von 2021 gefunden. Vollautomatisiertes Fahren erfüllt auf den ersten Blick ein wesentliches Gerechtigkeitskriterium. Jeder Mensch kann ein solches Fahrzeug benutzen, unabhängig von seinen Fähigkeiten. Allerdings wirft das vollautomatisierte Fahren zumindest bezüglich des Indivi­ dualverkehrs zugleich eine entscheidende Gerechtigkeitsfrage auf. Aufgrund der Kosten können sich zumindest in näherer Zukunft nicht alle diese Systeme leisten. Damit verschärft sich die exis­ tierende Gerechtigkeitsproblematik des bestehenden Individualver­ kehrs, denn bereits jetzt können sich einige kein eigenes Fahrzeug leisten. Zudem weiß jeder, dass Passagiere eines Kleinwagens beim Zusammenstoß mit einer Oberklassenlimousine oder einem SUV einem viel höheren gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind. Insofern verstärkt das vollautomatisierte Fahren im Individualverkehr diese Problematik. Jedoch bedeutet dies nicht, dass derartige Formen des Fahrens nicht möglich sein sollten, da es sich nicht alle leisten können. Es soll nur deutlich werden, dass jeder Fortschritt, den sich nur einige leisten können, immer neu Gerechtigkeitsfragen aufwirft. Das vollautomatisierte und vernetzte Fahren birgt große Chan­ cen, aber auch spezifische Risiken und Konfliktfälle. Während bestimmte Dilemmatasituationen wie die sogenannte Trolleyproble­ matik, bei der jede Form einer Güterabwägung für den Konfliktfall beispielsweise von der Ethikkommission von 2017 abgelehnt wird, also im Zweifelsfall nicht das Retten von zwei Menschenleben gegen­ über einem Menschenleben angemahnt wird, eher akademisch zu sein scheinen, gibt es zwischen der Selbstbestimmung und der Ver­ meidung von Schäden sowie der Fürsorge für die Betroffenen in mehrfacher Hinsicht ein Spannungsverhältnis. Es besteht eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit, dass das Pendel spätestens dann, wenn die Technik zuverlässig sein wird, in Richtung von Nichtschaden 179 180

Ebd., 21. Ebd., 28.

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und Fürsorge ausschlagen wird, also der Fahrer bzw. die Fahrerin letztlich zu einem Passagier degradiert wird, ohne die Möglichkeit zu haben, selbst noch das Steuer zu übernehmen, oder so stark in der Haftung sein wird, dass sich das Risiko des Selberfahrens nicht mehr lohnt. Auf jeden Fall wird vernetztes Fahren noch striktere Geschwindigkeitsbegrenzungen einfordern, damit die Systeme über­ haupt gut miteinander kommunizieren können. Auch kann der nötige Datenaustausch die Privatsphäre der Fahrenden gefährden. Darüber hinaus stellen sich weitreichende Safety- und Security-Fragen, insbe­ sondere bezüglich des Abgreifens von Daten, aber auch bezüglich der Übernahme der Fahrzeugkontrolle durch Unbefugte. Vermutlich werden die zukünftigen Entwicklungen immer neu das Anpassen von Haftungsregelungen nötig machen. Wie sehr hier die Gesetzgebung im Fluss ist, zeigen die interna­ tionalen Vorgaben. Die Stufe 3, also das hochautomatisierte Fahren, bei dem der Fahrer das System nicht mehr dauerhaft, sondern nur nach Aufforderung durch das System, überwachen muss, ist gerade für das Fahren auf Autobahnen ideal. International war bis 2022 jedoch nur eine Geschwindigkeit bis 60 km/h für diese Stufe zulässig, weswegen der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2021 dieses Fahren nur bis zu dieser Geschwindigkeit ermöglicht hat, weswegen der Einsatz des hochautomatisierten Fahrens auf Autobahnen praktisch nur bei sehr dichtem, langsamem Verkehr sinnvoll ist. Deshalb sind Bestrebungen der Novellierung (Fahren bis 130 km/h) überfällig. Das Gesetz von 2021 regelt auch vollautomatisiertes Fahren der Stufe 4. Es wird sich zeigen, ob es damit dieses Fahren auch für den Individualverkehr in hinreichender Weise öffnet. Jeder verlorene Tag führt dazu, dass Men­ schenleben und die Gesundheit im Straßenverkehr in vermeidbarer Weise gefährdet werden. Solange der Gesetzgeber nicht bereit ist, auf Autobahnen ein generelles Tempolimit einzuführen und dieses sowie Abstandsrege­ lungen streng zu kontrollieren, sind bisherige automatisierte Systeme überfordert. Solange der Gesetzgeber zögert, klare Rahmenbedingun­ gen für den Einsatz dieser neuen Technik zu setzen und auch nicht hinreichend bereits vorhandene Regeln durchsetzt, sterben Menschen im Straßenverkehr, die hätten gerettet werden können, wenn die bereits heute vorhandenen technischen Möglichkeiten zum Fahren der Stufe 3 umgesetzt worden wären. In gewisser Weise spielt die fehlende Rechtssicherheit den Unternehmen in die Hände. Sie müssen derzeit noch nicht haften,

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denn beim autonomen Fahren der Stufen 1 und 2 liegt die Letztver­ antwortung immer beim Fahrer. Dennoch ist es den Herstellern erlaubt, Techniken einzubauen, die ihre Kunden dazu verführen, sich während der Fahrt ablenken zu lassen. Viele Fahrzeuge enthalten Systeme, die per Touch zu bedienen sind, also angeschaut werden müssen. Selbst Grundfunktionen wie das Verstellen der Temperatur sind nicht mehr durch einfache Schalter möglich, was die Fahrenden dazu verführt, sich während der Fahrt dem Touchscreen zuzuwenden. Dieses Verhalten birgt ein hohes Risiko und hat auch schon zu schwe­ ren Unfällen und zur Verurteilung der den Unfall verursachenden Fahrenden geführt, ohne dass das Unternehmen, das eine solche »Gefährdung« einbaute, belangt wurde. Das Oberlandesgericht in Karlsruhe hat Ende Juli 2020 in seinem Leitsatz des letztinstanzlichen Urteils, in dem es das Fahrverbot für einen Teslafahrer bestätigte, der aufgrund der Bedienung des Touchscreens einen Unfall verursachte, die derzeitige Rechtslage klar benannt: »Der fest im Fahrzeug der Marke Tesla eingebaute Berührungsbild­ schirm (Touchscreen) ist ein elektronisches Gerät i. S. d. § 23 Abs. 1a S. 1 u. 2 StVO, dessen Bedienung dem Kraftfahrzeugführer nur unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift gestattet ist, ohne dass es darauf ankommt, welchen Zweck der Fahrzeugführer mit der Bedienung ver­ folgt. Auch die Einstellung der zum Betrieb des Kraftfahrzeugs not­ wendiger [sic!] Funktionen über Touchscreen (hier: Einstellung des Wischintervalls des Scheibenwischers) ist daher nur gestattet, wenn diese mit einer nur kurzen, den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wet­ terverhältnissen angepassten Blickzuwendung zum Bildschirm bei gleichzeitig entsprechender Blickabwendung vom Verkehrsgeschehen verbunden ist.«181

Andererseits jedoch wirft diese fehlende Rechtssicherheit die Unter­ nehmen auch zurück, weil verfügbare technische Möglichkeiten nicht erprobt und so auch keine wichtigen Erfahrungswerte gesammelt werden können. Eine Ausnahme von der Regel ist der Autobauer Tesla, der einen Autopiloten zur Verfügung stellt, der im Gegensatz zur Konkurrenz den Fahrer nicht permanent durch aufdringliches 181 OLG Karlsruhe, Urteil vom 31. Juli 2020 (1 Rb 36 Ss 832/19). Dass der Volks­ wagenkonzern derartige Systeme einbauen darf, die in den einschlägigen Autozeit­ schriften sehr große Kritik wegen der schwierigen und zudem teilweise unzuverläs­ sigen Bedienung bekommen (vgl. z. B. https://www.youtube.com/watch?v=WD1G BnP1PgU, zuletzt eingesehen am 28.05.2021), ist vor diesem Hintergrund unver­ ständlich.

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2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

Piepsen gängelt, wenn man die Hände vom Lenkrad nimmt. Dadurch hat Tesla bereits über eine Milliarde Kilometer Erfahrung seiner Fahrer ansammeln können, auch wenn der Fahrende laut Gesetz, wie zitiert, verpflichtet bleibt, das Verkehrsgeschehen hinreichend im Blick zu behalten. Insgesamt lässt sich festhalten: Die neuen technischen Mög­ lichkeiten werden dazu führen, dass der Straßenverkehr sicherer wird. Es ist aufgrund des Lebensschutzes und des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit moralisch geboten, vollautomatisierte Systeme möglichst rasch verfügbar zu machen, ein Ansporn für Unternehmen, dieses lukrative Feld in Angriff zu nehmen, zumal die Bewertung der Unternehmen an der Börse, die sich in dieser Hinsicht engagieren, sehr hoch ist. Allerdings sollten selbst vollautomatisierte Systeme (Stufe 5) so eingestellt sein, dass in Notfällen Passagiere das Steuer übernehmen können oder zumindest das Fahrzeug zum Stehen bringen können. Die immer bestehende Möglichkeit von fehlerhaften Autonomisierungssystemen und die Möglichkeit, diese Systeme zu hacken, stellen ein immenses Sicherheitsrisiko dar. Wenn in Situationen, in denen ein Fahrer eines vollautomatisierten Wagens merkt, dass – banal gesagt – etwas mit der Technik nicht stimmt (z.B. Geschwindigkeitsüberschreitungen usw.), muss es möglich sein einzugreifen. Eine solche Situation zu erkennen, ist eine menschliche Fähigkeit, die berücksichtigt werden sollte. Wie bedeutsam dies sein kann, zeigte sich beispielsweise im Kalten Krieg, als der sowjetische Offizier Stanislaw Petrow einen Nuklearalarm korrekterweise als Fehlalarm einschätzte und keinen unmittelbaren Vergeltungsschlag anordnete und damit mutmaßlich Millionen von Menschenleben rettete. Beim automatisierten Fahren geht es zwar nicht um Millionen von Menschenleben, aber jedes Menschenleben zählt und verdient darum einen derartigen Schutzmechanismus.

2.4.5 Kommunikation Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal wertorientierten Wirtschaf­ tens betrifft die Kommunikation zwischen Wirtschaftssubjekten. Die klassische Positionierung besteht entweder darin, den eigenen Stand­ punkt möglichst widerspruchsfrei und rational zu begründen, oder aber darin, diesen Standpunkt emphatisch wie eine Glaubensüberzeu­ gung zu vertreten. Wer diese Überzeugung nicht teilt, wird entweder

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als dumm kategorisiert oder als jemand, der einfach nicht begreifen will, worum es eigentlich geht. Er sieht die Zusammenhänge nicht, welche die »Eingeweihten« verstehen. Die »Kommunikation« im Bereich der Grünen Gentechnik ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Unternehmenskommunikation versagen kann. So veröffentlichte beispielsweise der Münchner Merkur am 20. Juni 2009 auf der ersten Seite des Bayernteils einen Beitrag von Thomas Schmidt mit dem Titel »Agro-Gentechnik macht Bauern abhängig«182. Der Artikel selbst beginnt mit den Worten: »Der USKonzern Monsanto steht wegen seinem gentechnisch veränderten Saatgut immer wieder in der Kritik, doch niemand wählt so deutliche Worte, wie die indische Umweltschützerin Vandana Shiva. Sie wirft dem Unternehmen Genozid an 200.000 indischen Bauern vor.« Der Beitrag dann weiter: »An 200.000 Bauern, die von Reichtum träum­ ten, doch ihre Samen alljährlich teuer vom Monopolisten Monsanto kaufen mussten, mehr und mehr Pestizide auf ihren Feldern aus­ brachten, in Abhängigkeit und Schulden verfielen und sich schließlich verzweifelt das Leben nahmen.«183 Der Autor des Beitrags lässt sowohl den Begriff »Genozid« wie die Zahl von 200.000 Bauern als Opfer der Firma Monsanto, die mittlerweile vom Bayer-Konzern auf­ gekauft ist, stehen, ohne die Richtigkeit bzw. Angemessenheit seiner Formulierungen zu überprüfen. Der Begriff »Genozid« bezeichnet einen international geächteten Völkermord. Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 260 die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Convention pour la prévention et la répression du crime de génocide, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide). Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte diese Konvention im Februar 1955. Wäre der Vorwurf des Genozids korrekt, müsste die Bayer AG international geächtet werden. Zudem wären zumindest die Vorstände vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzuklagen. Auch die Angabe der Zahlen, die in dem Beitrag genannt werden, ist falsch, denn das u. a. von Deutschland http://www.merkur-online.de/nachrichten/bayern/monsanto-genozid-an-b auern-mm-364408.html (zuletzt eingesehen am 09.04.2022). Der Beitrag ist also mehr als zwölf Jahre nach der Erstveröffentlichung immer noch unter demselben unangemessenen Titel des Links abrufbar. Vgl. auch Knoepffler et al. (2013), 120ff. 183 Dem Satz fehlt das Prädikat. Vermutlich hätte der erste Abschnitt »[...] Genozid an 200.000 indischen Bauern« nicht mit einem Punkt, sondern einem Komma enden sollen, dann wäre der folgende Teil eine Apposition. 182

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2.4 Weiterführung: Strukturmerkmale wertorientierten Wirtschaftens

und anderen Staaten finanzierte International Food Policy Research Institute (gegründet 1975) kommt in einer sorgfältigen, den wissen­ schaftlichen Standards genügenden Studie zu dem Ergebnis, »dass BtBaumwolle [in Indien] weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für bäuerliche Selbsttötungen ist. Deshalb sollte der Anbau nicht für den Anstieg von Selbsttötungen bei Bauern verant­ wortlich gemacht werden«.184 Offensichtlich ziehen in Indien die Kleinbauern ganz im Gegensatz zu der Behauptung Shivas sogar einen beträchtlichen wirtschaftlichen Nutzen aus der Grünen Gen­ technik.185 Von diesen Untersuchungen hat der betreffende Journalist des Münchener Merkurs jedoch keine Kenntnis genommen. Wie sein Bei­ trag zeigt, nimmt er vielmehr in Kauf, durch den Gebrauch von Wor­ ten wie »Genozid« schlimmste Assoziationen insbesondere bei deut­ schen Leserinnen und Lesern zu wecken, ohne darauf hinzuweisen, dass die Aussagen von Frau Shiva nicht der Wahrheit entsprechen. Im Gegenteil wird die Autorität ihrer Aussagen dadurch verstärkt, dass der Artikel fortfährt: »Die Trägerin des alternativen Nobelpreises tourt durch Europa, spricht vor tausenden von Zuhörern, warnt vor genmanipulierten Pflanzen.« Indem ihre Auszeichnung als alterna­ tive Nobelpreisträgerin erwähnt wird, entsteht der Eindruck, ihren Äußerungen besonders vertrauen zu können. Gleichzeitig wird die Kritik verallgemeinert und mit einem weiteren Kritikpunkt verbun­ den: »Gestern legte sie einen Zwischenstopp in München ein, denn Mons­ anto ist auch in Bayern Thema. Zuletzt erhitzte die Debatte um die Maissorte MON 810 die Gemüter im Freistaat, dessen Anbau Bundes­ landwirtschaftsministerin Ilse Aigner schließlich verbot. Eingeladen hatte das Netzwerk Zivilcourage, dessen Sprecher Christoph Fischer betonte: »Unser aller Lebensgrundlagen werden durch die Agro-Gen­ technik gefährdet In Bayern entstehe eine Basisbewegung, die sich notfalls auch mit ›zivilem Ungehorsam‹ verteidigen müsse.«186

Wenn der Anbau von Bt-Baumwolle 200.000 Menschen in den Tod getrieben hätte, dann wäre ziviler Ungehorsam gegen einen solchen Anbau sicher berechtigt. Doch auf einmal geht es nicht mehr nur Gruère et al. (2008), 42. Vgl. Gruère/Sengupta (2011). 186 http://www.merkur-online.de/nachrichten/bayern/monsanto-genozid-an-ba uern-mm-364408.html (zuletzt eingesehen am 09.04.2022). 184 185

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um den Anbau von Bt-Baumwolle in Indien, nicht mehr nur um Monsanto, sondern um Widerstand gegen Firmen, die »die Kontrolle der Zukunft« übernehmen wollen. Dabei werden Äußerungen des kanadischen Gentechnikgegners Percy Schmeiser wiedergegeben: »Monsanto strebe die ›totale Kontrolle‹ über die Farmer an und würde diese sogar anstiften, sich gegenseitig zu bespitzeln, ob der Nachbar Genpflanzen ohne Lizenz ausbringt. Es herrsche eine ›Kultur der Angst‹«.187 Wie sehr diese Form einer nicht funktionierenden Kommuni­ kation zwischen bestimmten Unternehmen (wie im konkreten Fall Monsanto) und der Öffentlichkeit Unternehmen schaden kann, hat die Bayer AG nach der Übernahme von Monsanto erfahren müs­ sen. Aber der in dieser Kommunikation transportierte Vorwurf des Genozids gegen eine Firma, die gentechnisch veränderte Pflanzen herstellt, wirkt in anderen Bereichen weiter. Da die Angst nicht auf die Grüne Gentechnik beschränkt ist, sondern die Gentechnik über­ haupt betrifft, verwundert es nicht, dass im Rahmen des Streits um Impfungen gegen das Coronavirus von manchem Gegner der Impfung erneut die kommunikative »Keule« des Genozids hervorgeholt wird, beispielsweise gegen die Firma Pfizer (und damit auch den deutschen Kooperationspartner Biontech), weil ihr mit Hilfe der Gentechnik hergestellter Impfstoff angeblich einen Genozid an Geimpften zur Folge habe.188 Im Unterschied zu diesen verfehlten Formen von Kommunika­ tion gibt es jedoch gerade für Situationen, in denen ein Unternehmen Fehlverhalten zu kommunizieren hat, auch die Möglichkeit einer

Ebd. Der Leser erfährt in dem Beitrag nichts darüber, wie Schmeiser zum Gegner Monsantos wurde. Auf Schmeisers Feld hatte es 95 bis 98 Prozent angebauten Raps auf einer Fläche von etwa 4 km² gegeben, der gentechnisch veränderter Monsanto-Raps (roundup ready) war, ohne dass Schmeiser Lizenzgebühren gezahlt hatte. Monsanto verklagte ihn wegen Verletzung des Patentrechts, da ein solches Ernteergebnis nicht Ergebnis einer Auskreuzung von den angrenzenden Feldern von Bauern, die Bt-Mais anbauten, sein konnte. Er wurde 2004 verurteilt, ohne aber Schadensersatz an Mons­ anto zahlen zu müssen, da er nicht von diesem Raps profitiert habe. 2008 verklagte umgekehrt Schmeiser Monsanto wegen fortgesetzter Kontaminierung seiner Felder durch gentechnisch veränderten Raps. Monsanto ging auf alle seine Forderungen ein, sodass es nicht zum Prozess kam. 188 Vgl. z. B. https://greenpass.news/todliche-chargen-und-autopsien-enthullen -den-genozid-durch-covid-19-impfungen-uncut-news-ch/ (zuletzt eingesehen am 09.04.2022) als ein Beispiel für diese diffamierende Behauptung. 187

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Kommunikation, die zerstörtes Vertrauen wieder aufbaut. Diese Auf­ gabe hatte auch der VW-Konzern zu bewältigen. Drei Aspekte des VW-Skandals waren aus ethischer Sicht leicht zu verstehen und zu verurteilen: 1. 2. 3.

Manipulation regulativer Tests, um die Normkonformität wider­ zuspiegeln, Management, das diese Manipulation entweder fördert oder zumindest toleriert, vorsätzliches und heimliches Aussetzen der Öffentlichkeit gegenüber gefährlichen Schadstoffen.

Es handelte sich um klare Verstöße gegen rechtliche, ethische und geschäftliche Grundsätze, und in diesem Sinne ist dieser Skan­ dal ein tragisches Versagen des unternehmens- und führungsethi­ schen Urteilsvermögens. Angesichts der tragischen Situation ist die interessantere Frage für die Kommunikation folgende: Wie sollten VW und jedes andere Unternehmen, das ein vergleichbares Fehlverhalten zeigt, kommuni­ zieren, um eine neue Vertrauensbasis zu schaffen? Um diese Frage zu beantworten, bietet Lawrence Susskinds Dealing with an Angry Public189 sechs Prinzipien, die sowohl VW als auch alle Unternehmen, die in einer ähnlichen Situation sind, leiten können. 1. 2.

3.

4.

189

Die Bedenken aller Beteiligten sind öffentlich in einer Weise anzuerkennen, die sie akzeptieren können. Die gemeinsame Tatsachenfeststellung muss gefördert werden. Angesichts der Komplexität der Software und der Tatsache, dass VW das Vertrauen der Öffentlichkeit zu Recht eingebüßt hat, müssen externe Experten, die das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen, in den Prozess einbezogen werden. Es sollten mögliche Verpflichtungen anerkannt und Schadenser­ satz angeboten werden, einerseits den Eigentümern der betroffe­ nen Dieselfahrzeuge, andererseits weiteren Betroffenen. Verfehlt wäre, die Öffentlichkeit zu bitten, einfach abzuwarten und gedul­ dig zu sein. Zudem ist Verantwortung von denjenigen zu übernehmen, die den Betrug veranlasst haben. Der Rücktritt einer Führungskraft ist nur dann hilfreich, wenn wir wissen, wie sie in das Fehlverhal­ Vgl. Susskind (1996).

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ten verwickelt war. Deshalb sollte man bei diesem Thema das Passiv »Es wurden Fehler gemacht« vermeiden. Das Unternehmen, das sich falsch verhalten hat, muss von nun an in einer Weise handeln, die so vertrauenswürdig ist, dass das verlorene Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Das bedeutet, dass so schnell wie möglich alle Fakten an die Öffentlichkeit kommen sollten, egal wie peinlich oder schädlich das auch sein mag. Der größte Fehler besteht darin, den Prozess der Tatsachener­ mittlung in die Länge zu ziehen und damit die Medien in den kommenden Monaten mit Nachrichten zu füttern. Schließlich müssen die langfristigen Beziehungen, die für den langfristigen Erfolg von VW unerlässlich sind, wiederhergestellt werden.

2.4.6 Beziehung Kommunikation ist eng verbunden mit Beziehung. Wir Menschen als soziale Naturen sind immer schon auf Miteinander und Zusam­ menarbeit ausgerichtet. Gerade Wirtschaftsinteraktionen setzen ein grundsätzliches Vertrauen voraus. Das wird daran sichtbar, dass wir alle in dieses Vertrauensgeschehen eingebunden sind, für das symbolisch buntes Papier steht, das wir als Tauschmittel anerken­ nen, nur weil wir darauf vertrauen, dass wir uns für dieses Papier, Geld genannt, wichtige Güter eintauschen können. Der wertorien­ tierte Ansatz zielt darauf ab, dieses Strukturelement als wichtigen Baustein zu begreifen, ohne den keine gute Unternehmenspraxis zu erreichen ist. Die bisherigen Versuche von Diskurskreisen sind leider aufgrund der kommunikativen Grundstruktur einer jeweiligen Positionierung oftmals nicht dazu genutzt worden, echte Beziehungen aufzubauen. Statt eines abstrakten herrschaftsfreien Diskurses geht es um das immer vorhandene soziale Beziehungsgeflecht, in dem verhandelt wird.

2.4.7 Selbstverpflichtung Beziehung lebt davon, dass sich alle Beteiligten verpflichten, gemein­ sam erarbeitete Verhandlungslösungen mitzutragen und sich nicht gegenseitig durch eine einseitige Interpretation aus den eigenen

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Zusagen zu stehlen. Wenn es beispielsweise Unternehmen gibt, die bei einer so einfachen Sache wie der Angabe, welches Fleisch in einer Lasagne enthalten ist, falsch etikettieren, ohne dass dies den Behörden auffällt, warum sollte es dann angebracht sein, dass wir der Versicherung der Ungefährlichkeit gentechnisch veränderter Pflanzen oder Impfstoffe vertrauen, obwohl doch wohl das korrekte Etikettieren deutlich einfacher sein sollte als das Herstellen der betreffenden Pflanzen und Impfstoffe. Die Selbstverpflichtung der Unternehmen muss darum einer­ seits an den geltenden Gesetzen und Regelungen Maß nehmen, andererseits aber auch an eigenen Wertmaßstäben und Interessen des Unternehmens. Dafür tragen diejenigen eine besondere Verantwor­ tung, die in Unternehmen Führungspositionen innehaben. Dafür ist Ernst Abbes unternehmensethische Leistung der Überführung des Unternehmens Carl-Zeiss in Stiftungseigentum ein hervorragendes historisches Beispiel.

2.5 Ernst Abbes Carl-Zeiss-Stiftung als historisches Beispiel Einige der heute als vorbildhaft geltenden Großunternehmen in Deutschland verfügen über eine lange Firmengeschichte und Tradi­ tion. Dabei ist wenig bekannt, dass es schon vor mehr als 100 Jahren Unternehmern gelang, mit besonderem sozialem Engagement die Lebens- und Arbeitssituation ihrer Angestellten über das damalige Normalmaß hinaus zu verbessern sowie eine besondere Verantwor­ tung für die gesamte Gesellschaft zu zeigen. Zu nennen wären hier beispielsweise Robert Bosch, Heinrich Freese, Alfred Krupp, Werner von Siemens sowie Ernst Abbe.190 Sie alle waren Vorreiter bei der Einführung von Betriebskrankenkassen, Achtstundentag, Arbeit­ nehmervertretungen, Gewinnbeteiligungen und Pensionen bzw. Wit­ wenrenten. Eine herausragende Rolle in diesem Zusammenhang kommt dem Wissenschaftler und Unternehmer Ernst Abbe zu. Er ging in sei­ nen Bestrebungen, eine sozial und ökonomisch nachhaltige Situation 190 Robert Bosch (1861–1942) Gründer des gleichnamigen Elektrotechnik-Konzerns; Heinrich Freese (1853–1944) Jalousien-Fabrikant; Alfred Krupp (1812–1887) Mitbe­ gründer der heutigen ThyssenKrupp AG; Werner von Siemens (1816–1892) Erfinder und Begründer der heutigen Siemens AG und Ernst Abbe (1840–1905) Gründer der Carl-Zeiss-Stiftung.

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der Firma Carl-Zeiss zu schaffen, noch einen Schritt weiter als andere. Durch seine Überführung des Unternehmens in Stiftungseigentum, verhinderte er eine einseitige Orientierung am Gewinn. Im Statut dieser Stiftung fixierte er Rechtsansprüche für die Arbeitnehmer der Unternehmen, der Bevölkerung der Region und der Universität und wurde somit seiner unternehmerischen Verantwortung nicht nur durch die (damals übliche) paternalistische Gewährung einiger Sozialmaßnahmen gerecht. Im Kontext heutiger wirtschaftswissen­ schaftlicher und ethischer Auffassungen ließe sich behaupten, dass er durch das »Vorleben« und Vermitteln seiner Wertvorstellungen von Sozialverträglichkeit und Menschenwürde die Entwicklung einer wirklichen Corporate Identity im damaligen Unternehmen Carl-Zeiss initiierte. Ebenso war er sich seiner weitreichenden gesellschaftlichen Verantwortung als Unternehmer, die wir heute unter dem Schlagwort Corporate Citizenship einordnen, bewusst. Die von ihm errichtete Carl-Zeiss-Stiftung ist bis heute die alleinige Eigentümerin des Carl-Zeiss-Konzerns. Sein Stiftungsstatut hat im Laufe der Zeit zahlreiche Änderungen und Neufassungen ein­ zelner Passagen erfahren, bildet jedoch bis heute die rahmengebende Unternehmensverfassung für die Stiftungsunternehmen. Es ist zu vermuten, dass diese institutionellen Regelungen eine Formung und Normierung individuellen Verhaltens ermöglichten, welches gleich­ zeitig moralischen und ökonomischen Ansprüchen genügt. Auch über 100 Jahre nach Ernst Abbes Tod präsentiert sich der Konzern Carl-Zeiss mit sehr guter Wettbewerbsposition und Reputation. Wer war eigentlich diese im Sinn einer wertorientierter Wirtschaftsethik vorbildhafte Person? Ernst Carl Abbe wurde am 23. Januar 1840 in Eisenach geboren. Sein Vater war Spinnmeister und Fabrikaufseher.191 Dessen Arbeit­ geber, der Besitzer der Spinnerei von Eichel in Eisenach, erkannte früh die Begabung Ernst Abbes. Er stiftete das Schulgeld und ermöglichte ihm so den Besuch des Realgymnasiums. Nach dem Abitur nahm Abbe an der Universität Jena das Studium der Mathematik und Physik auf. In Göttingen setzte er seine Studien fort und promovierte. Zurückgekehrt nach Jena habilitierte er im Sommer 1863. Sieben Jahre später, im Jahr 1870, wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und las über Mathematik, Physik und Astronomie.192 Zuvor, 191 192

Vgl. Wittig (1989), 8ff. Vgl. ebd., 8ff.

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im Jahr 1866, hatte ihn bereits der Mechaniker Carl Zeiss für eine wissenschaftliche Zusammenarbeit gewinnen können.193 Zu dieser Zeit hatte Carl Zeiss durch die Qualität der in seinen Werkstätten gefertigten einstufigen und später zweistufigen Mikroskope bereits Weltruf erlangt. Am 31. März 1876 trat Ernst Abbe mit einer Vermögenseinlage von 33.356 Mark und 68 Pfennig als stiller Teilhaber in die mecha­ nische und optische Fabrik des Carl Zeiss ein.194 Mit diesem Tag begann die unternehmerische Existenz des Universitätsprofessors Ernst Abbe. Zunächst charakterisierte er seine stille Teilhaberschaft selbst als »mit gewissen Mehrrechten« ausgestattet. Im Jahr 1883 änderte sich sein Status; zusammen mit Carl Zeiss und dessen Sohn Roderich wurde er mit in das Geschäft einbezogen und betrieb es mit ihnen »auf gemeinsame Rechnung und Gefahr und unter gleichmä­ ßiger persönlicher Beteiligung an der Geschäftsführung und der bis­ herigen Firma«195. Beim Eintritt Abbes im Jahr 1876 trug die Werkstätte noch einen weitgehend handwerklichen Charakter und Carl Zeiss führte sein Unternehmen in einer streng patriarchalischen Weise. Die Arbeitszeit der 60 Arbeiter war von morgens 6 bis abends 19 Uhr, 13 Stunden mit einer Frühstückspause von 15 Minuten und einer Mittagspause von einer Stunde. Um für ein gutes Betriebsklima zu sorgen, veran­ staltete er jährliche Betriebsausflüge per Pferdewagen und lud in den Zeiss‘schen Familiengarten mit Bewirtung und sonstigen Festlichkei­ ten auf Firmenkosten ein.196 Abbe trieb die Modernisierung und Vergrößerung des Betriebes voran. Die Werkstatt wandelte sich unter seinem Einfluss zum Großbetrieb und ermöglichte die Fertigung von Präzisionsmikroskopen in großen Stückzahlen. Um die Zusammen­ arbeit mit Otto Schott zu vereinfachen, finanzierte Abbe im Jahre 1882 aus privaten Mitteln die Einrichtung eines glastechnischen Labo­ ratoriums mit mehreren größeren Schmelzöfen in Jena.197 Um die Schmelzversuche in größerem Maßstab in Abbes Privatlaboratorium durchführen zu können, siedelte Schott noch im gleichen Jahr nach Jena über und gründete 1884 das »Glastechnische Laboratorium 193 194 195 196 197

Vgl. Stolz (1993), 30. Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel (1993), 448. Ebd., 448. Vgl. Henkel (2002), 337. Vgl. Hellmuth/Mühlfriedel (1996), 96.

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Schott & Genossen«.198 Die »Genossen« waren Ernst Abbe, Carl und Roderich Zeiss. Im Todesjahr Ernst Abbes war das Unternehmen auf knapp 1.400 Mitarbeiter und einen Umsatz von über 5 Millionen Mark gewachsen.199 Sein unternehmerisches Selbstverständnis wird im folgenden Zitat deutlich: »Das fernere Gedeihen der hiesigen Unternehmungen unter dem Gesichtspunkt des lokalen wirtschaftlichen Interesses und die Fort­ dauer einer gemeinnützigen Wirksamkeit derselben zugunsten der praktischen Optik und der hieran beteiligten wissenschaftlichen Ange­ legenheiten sind durchaus konnexe Dinge, und beides zusammen ist von einer einzigen Bedingung abhängig, nämlich dieser: dass der gewöhnliche Zweck privater Geschäftstätigkeit, der bloße Gelder­ werb, niemals die maßgebende Richtschnur der Verwaltung dieser Institute werde – dass vielmehr jener Zweck immer bewußter Weise untergeordnet bleibe der Rücksicht auf die Pflichten des überkomme­ nen Berufs.«200

Abbes unternehmerische Grundsätze und seine Lebensauffassung äußerten sich auch in dem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Verhalten gegenüber den Arbeitern und Angestellten. Noch 1876 wurde die Arbeitszeit von 13 auf 12 Stunden reduziert. Und gemäß seinem Motto: »Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Mensch sein«201, realisierte er bereits 1901 erstmalig in Deutschland den Achtstundentag. Die Gründung einer Zeiss-Kran­ kenkasse garantierte jedem Betriebsangehörigen im Krankheitsfall freie Behandlung durch einen Kassenarzt sowie den kostenlosen Bezug von Medikamenten. Doch diese Neuerungen genügten Abbe nicht. Er erkannte die Probleme, die sich für die Mitarbeiter aus der wachsenden Arbeitsteilung und fortschreitenden industriellen Ent­ wicklung ergeben würden. Auch gelenkt durch sein soziales Gewissen reifte in ihm die Idee, das Unternehmen aus rein privaten Kapitalbin­ dungen herauszuheben. Er war der Überzeugung, die Werke seien zu einem »öffentlichen Gut« geworden, dessen »Erhaltung, Fortbildung und dauernde Sicherung folglich eine Sache von öffentlichem Inter­ Vgl. Wittig (1989), 102ff. Vgl. https://www.zeiss.de/corporate/ueber-zeiss/geschichte/ernst-abbe.html, eingesehen am 03.05.2022. 200 Schomerus (1940), 45. 201 Abbe (1906), 238. 198

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esse sei.«202 Hierbei sei betont, dass er stets die Marktwirtschaft als zwar reformbedürftig, aber für die einzige mögliche Gesellschaftsord­ nung des Industriezeitalters hielt und das Unternehmertum für eine unverzichtbare Einrichtung. Trotz einiger Berührungspunkte mit der Sozialdemokratie hielt er stets am Wesen des Kapitalismus und seinen bürgerlich-demokratischen Anschauungen fest.203 Durch regelmäßi­ gen Urlaub in den Alpen lernte er die schweizerische Demokratie kennen, die ihm stark imponierte. Nach dem Tod Carl Zeiss‘ im Jahr 1888 und dem Ausscheiden Roderich Zeiss‘ aus der aktiven Geschäftsführung 1889 übernahm Ernst Abbe die alleinige Leitung der Werke und traf eine grund­ sätzliche Entscheidung. Er erarbeitete ein Stiftungsstatut, das den langfristigen Fortbestand des Unternehmens unabhängig von priva­ ten Eigentümerinteressen ermöglichte und in bis dahin ungekann­ tem Ausmaß die persönlichen Rechte der Mitarbeiter innerhalb des Betriebes sicherte. Leitend war für ihn dabei folgende Überlegung: »Ich habe mir nur gesagt, wenn du jetzt Leiter eines Unternehmens wirst, wo so viele von dir abhängig sein werden, so soll das Arbeitsver­ hältnis in diesem Unternehmen so sein, dass auch ein Mann wie du selber in ihm als Arbeiter tätig sein könnte, ohne dass dein Stolz daran Anstoß nehmen müsste.«204

Er selbst übergab sein beträchtlich gewordenes Vermögen bis auf einen Pflichtteil, den er für die Familie behielt, in das Stiftungsver­ mögen und gab ihr, zu Ehren des Firmengründers, den Namen CarlZeiss-Stiftung. Damit gelangten das Zeiss-Werk und später auch das Schott-Werk vollständig in Stiftungsbesitz. Abbe übernahm zunächst die wichtigsten Leitungsfunktionen. Aufgrund seiner Aufsehen erregenden Neuerungen schlugen ihm nun sowohl die Sympathien der fortschrittlich Denkenden als auch der erbitterte Widerstand konservativer Kreise entgegen. So unterstellte man ihm aus dem konservativen Unternehmerlager, er arbeite auf die schrittweise Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft hin. Die kommunistische Arbeiterbewegung hielt seine Stiftungskonstruktion gar für einen bloßen Trick, um über Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse hinwegzutäuschen. In der 202 203 204

Lemuth/Stutz (2005), 40. Vgl. Wittig (1989), 115f. Henkel (2003), 16.

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Tat soll eine kurze Antwort auf die Frage, ob ethische Motive, ausgeprägter Geschäftssinn oder eine glückliche Kombination von beidem Grundlage für diese ungewöhnlichen Maßnahmen waren, versucht werden. In der Betrachtung seiner Lebensgeschichte, seiner Persönlichkeit und seiner politischen und sozialen Auffassungen lassen sich nämlich Aufschlüsse über seine Motive finden. Biographen beschreiben ihn einhellig als eine Persönlichkeit mit wissenschaftli­ chem Ehrgeiz, Fleiß und einem hohen Maß an Selbstdisziplin, sowie den Grundzügen der Einfachheit, Sparsamkeit und Unverdrossenheit. Schon bedingt durch seine eigenen Erfahrungen mit den einfachen Lebensverhältnissen und Problemen der Arbeiter während seiner Kindheit, wie z. B. der frühe körperliche Verschleiß seines Vaters, »mit 48 Jahren in Aussehen und Haltung ein Greis«205, war er frühzeitig sehr interessiert an sozialen Fragen und belegte während seines Stu­ diums zusätzlich Vorlesungen in Politik, Philosophie und Soziologie. Er strebte nach einer ihm möglichen Universalität der wissenschaftli­ chen und philosophischen Bildung. So beschäftigte er sich intensiv mit den philosophisch-historischen Darstellungen Kuno Fischers (1824– 1907), der ihn zur Auseinandersetzung mit der theoretischen und praktischen Philosophie Kants angeregt hatte.206 Gleichermaßen wie die moralphilosophischen Anschauungen Kants beschäftigten ihn die Vorstellungen Schopenhauers, die sich zu dieser Zeit zu verbreiten begannen. Wenn auch von Abbe selbst nicht schriftlich dokumentiert, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass seine humanistische und demokratische Grundhaltung (gezeigt durch sein Lebenswerk) ihre Grundlage in der Akzeptanz Kants kategorischen Imperativs als »moralisch-praktisches Gesetz« des menschlichen Handelns findet. Untermauert wird die Annahme, dass Abbe sich durch Kants Philoso­ phie in seinem Handeln leiten ließ, durch die Äußerungen von Felix Auerbach.207 Er versichert, dass Abbe seine Handlungen nicht als »hervorragende Wohltätigkeit« verstand, sondern »aus Pflicht gegen sein Unternehmen, dessen Angestellte und die Gesamtheit«208 han­ delte. Auch Schopenhauers Mitleidsethik und seine Betonung der drei Grundtriebfedern der menschlichen Handlungen könnten Abbes 205 206 207 208

John (1993), 460. Vgl. Schröpfer (1993), 219. Felix Auerbach (1856–1933) war Physiker und Biograf Ernst Abbes. Auerbach (1925), 201.

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2.5 Ernst Abbes Carl-Zeiss-Stiftung als historisches Beispiel

soziales Empfinden beeinflusst haben. Zumindest ist es hier doku­ mentiert, dass er diese Abhandlungen für die moralphilosophische Bildung für empfehlenswert hält, jedoch letztlich dieser pessimisti­ schen Anschauung über die Gesellschaft nicht zustimmen kann.209 Darüber hinaus ist Abbe fasziniert von dem humboldtschen Ver­ such, ein ganzheitliches, mannigfaltig strukturiertes Weltbild auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Erfahrungen, die auf exak­ ten Beobachtungen und experimentellen Untersuchen beruhen, zu erschließen.210 Es ist sicher, dass Abbes philosophische Einsichten in hohem Maße die Motivationsstruktur seines praktischen Handelns bestimm­ ten. In seiner späteren Tätigkeit als Unternehmer wird dies deutlich in seiner Ansicht, dass die moralische Pflicht des Unternehmers gegenüber seinen Angestellten in mehr als dem zu zahlenden Lohn besteht. Abbes Begriff von persönlicher Würde spiegelt sich im Stif­ tungsstatut und den darin garantierten persönlichen Rechten für die Mitarbeiter wider. Bei der Lektüre der Biographien und Aufzeichnungen über Ernst Abbe wird jedoch eines ganz deutlich: Sein Leben gehörte der Wissen­ schaft. Schon in den Jahren während des Abiturs zeigten sich seine hohe Begabung und sein großes Interesse für die Naturwissenschaf­ ten und das Forschen. Mit 23 Jahren begann er seine Lehrtätigkeit als Privatdozent. Aufgrund seiner ungewöhnlichen Tüchtigkeit erhielt er unter Fürsprache des Kurators der Universität Jena eine jährliche zusätzliche Zuwendung zu seinem Gehalt, um seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestreiten zu können.211 Der glückliche Zusammen­ schluss mit Carl Zeiss ermöglichte ihm dann zwar die Erzielung eines ausreichenden Einkommens und später eines großen Vermögens, aber vor allem seine wissenschaftliche Forschungsarbeit technisch umzusetzen und weiterzuentwickeln. Auch als Mitinhaber der Firma Zeiss war er weiter als ordentlicher Honorarprofessor tätig und übernahm sogar zeitweise die Fakultätsgeschäfte. Zugunsten anderer verzichtete er allerdings auf seine Besoldung als Universitätslehrer und Direktor der Sternwarte. Außerdem wurde unter seiner Leitung die Forschung und Entwicklung im Unternehmen durch die Einstel­ lung wissenschaftlicher Mitarbeiter integriert. 1886 begann er sogar 209 210 211

Vgl. Schröpfer (1993), 229f. Vgl. Cotta (1851), 34. Vgl. Gerth (2005), 23.

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mit einer jährlichen Zahlung an die Universität Jena, welche sich dann bis zum Jahr 1905 auf 2 Millionen Mark belief.212 Felix Auerbach schreibt in seiner Biographie: »Das erste, woran er dachte, als er anfing über erhebliche Mittel zu verfügen, war die Wissenschaft in Lehre und Forschung.«213 Mit der Übernahme der alleinigen Verantwortung für die Firma und seinem zunehmenden Alter, stellte sich für ihn auch bald die Frage der Nachfolge. Abbe selbst hatte keinen Sohn und als warnen­ des Beispiel sieht er das Schicksal des Fraunhofer‘schen Betriebs in Benediktbeuern. Weil man dort nicht rechtzeitig über eine Nach­ folge nachgedacht hatte, gingen mit Fraunhofers Tod die meisten der dort erzielten Erkenntnisse über Fernrohroptik und Schmelzen neuer Glassorten verloren.214 Dies wollte Abbe in Jena verhindern, er wollte das Erreichte erhalten und dauerhaft sichern. So hatte er ursprünglich vor, die Universität als Universalerben für sein Vermö­ gen einzusetzen. Da dies jedoch rechtlich nicht möglich war, entschied er sich für die Rechtsform der Stiftung. Abbe hatte erkannt, dass der Garant für eine langfristige wissenschaftlich, technisch, finanziell und sozial abgesicherte Existenz des Unternehmens in der weiteren Diversifizierung, der engen Zusammenarbeit mit den Wissenschaf­ ten zur Erzielung von Innovationen und einer hoch qualifizierten, mit dem Unternehmen fest verbundenen Belegschaft zu finden ist. Als Konsequenz verfügte er die Gewinnverwendung gleichermaßen für den Werksausbau, die Universität und die betriebliche Sozialpolitik. Wobei später die Erfüllung sozialer Pflichten noch auf die Stadt Jena und ihre Bevölkerung ausgeweitet wurde. Als Fazit dieser Erkenntnisse lässt sich vermuten, dass Abbe den Fortbestand des Unternehmens aus Eigeninteresse, nämlich der Wei­ terführung seines Lebenswerks, sicherte. Gleichzeitig verwirklichte er damit aber auch die rechtliche Verankerung der Interessen der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit. Unterstützt durch sein sozialkulturelles Engagement wurde aus der damals eher kleinen Stadt Jena eine moderne Industriestadt. Schon allein durch das Wachs­ tum seiner Betriebsstätten stieg die Einwohnerzahl Jenas von 1890 bis 1910 um das Dreifache.215 Die Carl-Zeiss-Stiftung unterstützte 212 213 214 215

Vgl. Henkel (2003), 17. Auerbach (1918), 415. Vgl. Henkel (2002), 341. Vgl. Lange (1993), 428.

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großzügig die Baugenossenschaften, um den Bau von Eigenheimen für die Beschäftigten voranzutreiben. Das 1908 eingeweihte neue Universitätshauptgebäude wurde ebenfalls zur Hälfte aus Stiftungs­ mitteln finanziert. Es folgten der Bau des Volkshauses mit Lesesaal, des Volksbades und der Kinderklinik.216 Nicht zuletzt durch den Neubau des Zeiss-Hauptwerkes (heute Campus der Universität und Goethegalerie) und der Neuansiedlung zahlreicher neuer Händler und Gewerbetreibender veränderte sich das Stadtbild unter Abbes Einfluss grundlegend. Man kann abschließend sagen, dass er mit seinen verantwor­ tungsvollen Entscheidungen, seiner praktischen Weitsicht und der ausgeprägten Toleranz in Denken und Handeln ein zukunftswei­ sender Vertreter der sich damals in Deutschland herausbildenden neuen Unternehmergeneration war, die gekennzeichnet von der Able­ gung des autokratischen bzw. patriarchalischen Führungsstils die Entwicklung eines neuen Ethos des Unternehmers begründete und damit bis heute für alle Führungspersönlichkeiten ein Vorbild ist und exemplarisch verwirklicht, was eine wertorientierte holistische Wirtschaftsethik einfordert. Insofern können wir es wagen, diese Wirtschaftsethik als Jenaer Modell zu titulieren.

Vertiefung: Das Statut der Carl-Zeiss-Stiftung Dieser Anhang stellt kurz die zentralen Inhalte des Statuts der CarlZeiss-Stiftung in seiner Erstfassung von 1896 vor. Das Statut der Carl-Zeiss-Stiftung trat am 1. Oktober 1896 in Kraft, sah aber die Möglichkeit gewisser Änderungen innerhalb von 10 Jahren vor. Vor Ablauf dieser gesetzten Frist sind einige geringfü­ gige Verbesserungen vorgenommen worden, so dass eine endgültige Fassung am 5. Dezember 1905 vorlag. An dieser Stelle soll zum ein­ führenden Verständnis der § 1, der einen Überblick über die wesent­ lichen Aufgaben der Stiftung gibt, wiedergegeben sowie einige der wichtigsten Punkte genannt werden. Gegliedert ist das Statut in IX Titel, welche insgesamt 122 Paragrafen umfassen. Es erklärt die Bezie­ hungskonstruktion Staat – Stiftung – Stiftungsunternehmen; beinhaltet Regelungen zur strukturellen und prozessualen Organisa­ 216

Vgl. Wittig (1989), 77.

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tion des Unternehmens, Dienstvereinbarungen, Vergütungsregelun­ gen, sonstige Arbeitnehmerrechte und Festlegungen zur Überschuss­ verwendung. Mit diesem Inhalt entspricht das Statut der in der Ökonomie üblichen Definition der Unternehmensverfassung als Gesamtheit der konstitutiven und langfristig angelegten Regelungen für die Steuerung der Unternehmensaktivitäten.217 Eine Unterneh­ mensverfassung ergibt sich weitgehend durch die in der Gesetzge­ bung verankerten Rechtsnormen und wird ergänzt durch interne nichtgesetzliche Regelungen. Der größte Teil des Stiftungsstatuts von 1896 besteht aus diesen nichtgesetzlichen Regelungen, da der damals bestehende gesetzliche Regelungsrahmen für Abbes Vorstellungen nicht ausreichte. Wie bereits dargestellt, ist Abbes unternehmerische Vision daher als hauptsächliche Basis dieser Unternehmensverfas­ sung anzusehen. Seine normativen Orientierungsmuster finden ihren Niederschlag im Wortlaut des Statuts, in allgemeiner Formulierung bereits im § 1 über die Zwecke der Stiftung:

Ȥ 1 Zwecke der Stiftung. Die Zwecke der Carl-Zeiss-Stiftung sind: A. im Rahmen der Stiftungsbetriebe 1.

Pflege der Zweige feintechnischer Industrie, welche durch die Optischen Werkstätte und das Glaswerk unter Mitwirkung des Stifters in Jena eingebürgert worden sind, durch Fortfüh­ rung dieser Gewerbsanstalten unter unpersönlichem Besitztitel; im besondern: Dauernde Fürsorge für die wirtschaftliche Sicherung der genann­ ten Unternehmungen sowie für Erhaltung und Weiterbildung der in ihnen gewonnenen industriellen Arbeitsorganisation – als der Nahrungsquelle eines zahlreichen Personenkreises und als eines nützlichen Gliedes im Dienst wissenschaftlicher und praktischer Interessen; Erfüllung größerer sozialer Pflichten, als persönliche Inhaber dauernd gewährleisten würden, gegenüber der Gesamtheit der

2.

3.

217

Vgl. Korff (1999), 149.

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in ihnen tätigen Mitarbeiter, behufs Verbesserung ihrer persön­ lichen und wirtschaftlichen Rechtslage. B. außerhalb der Stiftungsbetriebe 1. 2. 3.

Förderung allgemeiner Interessen der oben genannten Zweige feintechnischer Industrie im eigenen Wirkungskreis der Stif­ tungsbetriebe wie außerhalb derselben; Betätigung in gemeinnützigen Einrichtungen und Maßnahmen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung Jenas und seiner nächs­ ten Umgebung; Förderung mathematisch-naturwissenschaftlicher Studien in Forschung und Lehre.

Die unter A bezeichneten Zwecke sind durch die Stiftung ausschließ­ lich vermöge statutengemäßer Verwaltung ihrer Gewerbsinstitute und innerhalb dieser zu erfüllen. Die unter B benannten Aufgaben sollen der Stiftung obliegen als dem Nutznießer der Erträgnisse, welche ihre Unternehmungen übrig lassen mögen, nachdem den ersten Aufgaben in ihnen genügt ist.«218 Des Weiteren finden sich folgende Inhalte im Stiftungsstatut: Titel I: – Zwecke, Name, Domizil und Organe der Stiftung219 Zu Ehren des Firmengründers gab Ernst Abbe der Stiftung den Namen Carl-Zeiss-Stiftung und legte als Ort ihres rechtlichen Sitzes die Stadt Jena fest. Weiter bestimmt er in diesem ersten Titel, dass die oberste Leitung stets einer Stiftungsverwaltung obliegen soll, welche demjenigen »Department des Großherzoglichen Sächsischen Staatsministerium« zustehen soll, dem auch die Angelegenheiten der Universität Jena unterstellt sind. Die Stiftungsverwaltung ernennt die Vorstände der Unternehmen und einen Stiftungskommissar, der zur ständigen Vertretung der Stiftungsverwaltung in den Betrieben bestimmt ist.

Abbe (1906), 264. Für die Titel, die hier ohne Anführungszeichen angegeben sind, und die darunter zitierten Passagen (in Anführungszeichen) werden die Einzelverweise nicht aufge­ führt, sondern können leicht im Original (Abbe (1906)) aufgefunden werden. 218

219

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Titel II: – Organisation und Rechte und Pflichten der Geschäftsleitung, Verwaltungsvorschriften, Persönliche Verhältnisse der Vorstandsmit­ glieder Neben der genauen Abgrenzung der Befugnisse von Geschäftsleitung (gemeint ist der Vorstand) und Stiftungskommissar, ist in diesem Titel auch ein Mitbestimmungsrecht weiterer Geschäftsangehöriger festgelegt: »[...] muss den jeweils beteiligten Beamten und den sonst in der Angelegenheit sachverständigen Geschäftsangehörigen Gelegenheit zur eingehenden Meinungsäußerung und angemesse­ nen Mitwirkung gegeben werden«. Von besonderem Interesse sind in diesem Titel weiterhin die Regelungen zu den persönlichen Ver­ hältnissen der Vorstandsmitglieder. So kann Vorstandsmitglied nur werden, wer bereits mindestens zwei Jahre im Betrieb tätig war. Vorstandsmitglieder dürfen in keiner Form gewinnabhängige Bezüge erhalten und bei Pflichtverletzungen oder Vernachlässigung ihrer »Obliegenheiten« entstehen für sie die gleichen Rechtsfolgen wie für alle anderen Betriebsangehörigen auch. Titel III: – Arbeitsgebiete und Leistungen der geschäftlichen Tätigkeit der Stiftungsbetriebe In Titel III bestimmte Ernst Abbe als Arbeitsgebiet der Stiftungsun­ ternehmen die Zweige der Optik, Glastechnik, Instrumentenbau und verwandter Industrien und verfügte das Betreiben gewerblicher Unternehmen anderer Art für »dauernd ausgeschlossen«. Für ebenso »unbedingt ausgeschlossen« erklärte er den Verkauf oder die Abtre­ tung der Betriebe oder Teile von ihnen. Sollte die Fortführung eines Betriebes ohne Schädigung der übrigen Stiftung nicht mehr möglich sein, so ist dieser endgültig aufzulösen. Hohe Brisanz hat § 40, in welchem Abbe als wirtschaftliches Ziel der Stiftungsunternehmen die Steigerung des Gesamtertrages, welcher dem »ganzen in ihnen ver­ einigten Personenkreis« zusteht, sieht und ausdrücklich nicht in einer Erhöhung des Reingewinns oder der Betriebsüberschüsse. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht zunächst ebenfalls verblüffend scheint der in § 44 getroffene Verzicht auf Patentnahme auf neue wissen­ schaftliche Erkenntnisse und Erzeugnisse, der explizit mit der andern­ falls zu erwartenden Beschränkung des Wettbewerbs begründet wird. Titel IV: – Zweck und Verwaltung des Reservefonds Aus den Überschüssen der Stiftungsbetriebe soll ein vom sonstigen Geschäftsvermögen abgesonderter Reservefonds gebildet werden, in

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dem das Deckungskapital für alle tatsächlich erwachsenen Renten­ verpflichtungen, Mittel zur Betriebserweiterung sowie allgemeine Rücklagen für eventuelle Betriebsausfälle oder Verluste enthalten sind. In § 50 ist festgesetzt, welche Höhe an Vermögensansammlung der Reservefonds nicht überschreiten darf. Titel V: – zulässige Inhalte der Dienstverträge, Arbeitszeit, Kran­ kenkasse, Arbeitervertretungen, Lohnregelungen, Urlaub, Pensionsan­ spruch, Kündigungsfristen und Abgangsentschädigung Der zweite Teil des Statuts ist wirtschafts- und unternehmensethisch von besonderer Bedeutung. In Titel V und VI regelte Abbe die Rechts­ verhältnisse und allgemeinen Interessen der Arbeiter und Angestell­ ten der Stiftungsbetriebe und traf damit Entscheidungen für die betriebliche Sozialpolitik. So forderte er z.B. die Neutralität bei Anstellung und Beförderung, d.h., jeder Angestellte »muss jederzeit ohne Ansehen der Abstammung, des Bekenntnisses oder der Partei­ stellung« gleichbehandelt werden. Er reduzierte die Tagesarbeitszeit auf 9 Stunden (später sogar nur 8 Stunden) und entschied, dass nie­ mand zu Überstunden oder Feiertagsarbeit verpflichtet oder angehal­ ten werden kann. § 64 ermöglichte die geheime Wahl einer Arbeiter­ vertretung, die das Recht hat, »in allen Angelegenheiten ihres Betriebes auf ihren Antrag von der Geschäftsleitung gehört zu wer­ den«. Neben der Auflistung der Krankenkassen- und Pensionsleis­ tungen beinhaltet dieser Abschnitt auch die Regelung der so genann­ ten Abgangsentschädigung. Dies war ein klagbarer Anspruch gegen die Firma auf Gewährung einer Entschädigung für den Verlust der Stellung. Titel VI: – Beamtengehälter, Vergütung für besondere Leistungen, Gewinnbeteiligung In diesem Abschnitt des Statuts traf Abbe genaue Festlegungen bezüglich der Vergütungen für die Geschäftsleitung sowie die anderen Angestellten und Arbeiter. Von besonderer Relevanz ist die in § 94 festgelegte Begrenzung der Gehälter der Geschäftsleitung. Die rela­ tive Höhe ihrer Bezüge orientiert sich am durchschnittlichen jährli­ chen Arbeitseinkommen »der in gewöhnlichem Lohnverhältnis ste­ henden Arbeiter aller Stiftungsbetriebe« und darf das Zehnfache dessen nicht überschreiten. Weiter finden sich in diesem Titel Rege­ lungen zur Vergütung besonderer Leistungen im Sinne einer Prämie sowie die Erläuterungen zur eingeführten Gewinnbeteiligung. Dieser

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Lohn- und Gehaltszuschlag soll »ganz gleichmäßig an alle, die im Laufe des Geschäftsjahres als Arbeiter oder Beamte im Dienst der Firma standen«, gewährt werden. Ausdrücklich hiervon ausgeschlos­ sen sind die Mitglieder der Geschäftsleitung. Titel VII: Verteilung und Erläuterung der Verwendung von Überschüssen Nachdem die unter § 1 Absatz A aufgeführten Stiftungszwecke ihre volle Erfüllung gefunden haben, sollen die noch verbleibenden Über­ schüsse für die unter Absatz B genannten Zwecke verwendet werden. Als konkrete Betätigung der Carl-Zeiss-Stiftung werden an dieser Stelle unter anderem aufgezählt: die Unterstützung wissenschaftli­ cher Versuche und Studien, die von Bedeutung für die feintechnische Industrie sind; das Heranziehen begabter Personen zu höherer Aus­ bildung und Aufwendungen zugunsten gemeinnütziger Einrichtun­ gen und Veranstaltungen in Jena. In § 104 legte Abbe ausdrücklich dar, dass die Stiftung auch in diesen Betätigungsfeldern strenge Neu­ tralität gegenüber allen politischen und religiösen Parteien zu wahren hat. Titel VIII: Zusammensetzung der Rechnungskommission, Verfahren bei der Rechnungslegung Die jährliche Rechnungslegung der Stiftungsverwaltung ist einer Kommission, bestehend aus dem Kurator der Universität Jena, einem vom akademischen Senat nominierten Vertrauensmann, einem Ver­ trauensmann der Stadt Jena und dem ältesten Vorstandsmitglied der jeweils bestehenden Stiftungsbetriebe, vorzulegen. Titel IX: Schlussbestimmungen Die in diesem Titel formulierten Regelungen für die Fälle der Sta­ tutenänderung und Auflösung der Stiftung erwiesen sich im histori­ schen Entwicklungsprozess der Stiftung und ihrer Unternehmen als von besonderer Tragweite. Eine Statutenänderung ist möglich, wenn die »rechtlichen Grundlagen oder technischen und ökonomischen Bedingungen« sich in einem solchen Maß verändert haben, dass eine strenge Aufrechterhaltung der Bestimmungen des Statuts unmöglich oder zweckwidrig wird. Die Stiftungsverwaltung wird in einem sol­ chen Fall ermächtigt, das Statut insoweit abzuändern, »als geboten ist, um die vorher genannten Anstände zu beseitigen«. Bevor Änderun­ gen in Wirksamkeit gesetzt werden, müssen sie der Geschäftsleitung und dem Personal der Stiftungsbetriebe, den in Deutschland lebenden

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Nachkommen des Stifters, den Mitgliedern der Rechnungskommis­ sion, der Universität Jena und den Gemeindebehörden von Jena und Wenigenjena (heutiges Jena-Ost) bekannt gegeben werden. Jeder aus diesem genannten Personenkreis ist gleichzeitig dazu legitimiert, eine Abänderung des Statuts, die ihm ungerechtfertigt erscheint, im Wege der Klage gegen die Stiftungsverwaltung anzufechten. Über diese neun Titel hinaus verfasste Ernst Abbe im Jahr 1900 ein Ergänzungsstatut, dessen Wortlaut im vollen Umfang nachträglich Bestandteil des Statuts wurde. Sein Inhalt erläutert noch einmal das besondere Verhältnis zwischen Carl-Zeiss-Stiftung und Universität Jena. Insbesondere wird hierin die konkrete Zweckbestimmung des Universitätsfonds, nämlich die Unterstützung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Lehrfächer und die Festsetzung der regelmäßigen Jahresleistungen, beschrieben. Bemerkenswert hierbei ist, dass die Förderung wissenschaftlicher Studien und Forschungen unabhängig davon erfolgt, ob die Forschungsergebnisse unmittelbar für die Stiftungsbetriebe von Nutzen sein werden. Es handelt sich also nicht nur um eine Unterstützung wirtschaftsnaher oder gar in Auftrag gegebener Projekte, sondern auch um die Förderung reiner natur­ wissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die erwähnte regelmäßige finanzielle Überweisung soll sich zusammensetzen aus einem regel­ mäßigen jährlichen Betrag und außerordentlichen Zuschüssen, deren Höhe von der Stiftungsverwaltung nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Überschüsse festgelegt wird. In Artikel 8 und 9 des Ergän­ zungsstatuts erläutert Ernst Abbe in einer konkreten Aufzählung, für welche Maßnahmen jeweils die regelmäßigen Jahresleistungen bzw. außerordentliche Zuschüsse Verwendung finden sollen.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Führung findet in einer Welt geprägt von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit statt. Hierfür steht das inzwischen oft zitierte Akronym »VUCA« (volatile, uncertain, complex, ambi­ guous). Dies ist verbunden mit dem Verlust alter Gewissheiten und Strukturen (z.B. im Bereich der Religion) und globalen Herausforde­ rungen, u.a. ökologisch (z.B. Klimawandel), politisch (z.B. Ukraine­ krieg) und wirtschaftlich (z.B. im Zuge von SARS-CoV-2). Dabei vertiefen sich alte Problemlagen und neue kommen hinzu. Für Schar­ mer lassen sich drei zentrale Felder identifizieren, in denen akuter gesellschaftlicher Handlungsbedarf besteht: ökologisch, sozial und spirituell (ecological, social, spiritual divide).220 Digitale Technologien und Vernetzung ermöglichen ganz neue Produkte und schnellere Prozesse und damit auch mehr materiellen Wohlstand und Flexibilität. Die Herausforderungen bestehen oftmals weniger in der Frage des Könnens als in der Frage des Wollens und Sollens. Exemplarisch hierfür steht die Gentechnik und die Frage des Transhumanismus. Diese Grundfrage betrifft aber auch eine Reihe weiterer Aspekte unserer Arbeitswelt.

3.1 Herausforderungen für Führungskräfte Die beschriebene Gegenwart in all ihrer Unsicherheit und Verände­ rung stellt bisher in diesem Umfang nicht gekannte neue Herausfor­ derungen an Organisationen und an deren Führungskräfte. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung nennt eine Reihe konkreter Beispiele. In ihrer Studie »Zukunftsfähige Führung. Die Gestaltung von Führungskompetenzen und -systemen«221 listen Birgit Gebhardt, 220 221

Vgl. Scharmer (2018), 4. Vgl. Gebhardt/Hofmann/Roehl (2015).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Josephine Hofmann und Heiko Roehl auf, warum sich Führung verändern muss. Zentral für den hier behandelten Kontext sind drei der genannten Punkte. Als erstes die bereits angesprochene Unbere­ chenbarkeit der Handlungsfelder: »Wesentliche gesellschaftliche Rahmenbedingung für Führung ist heute eine Charakterisierung der Organisationsumfelder, die unter dem Kürzel VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) beschrieben wird. [...] Unsicherheit und Komplexität erschweren ins­ besondere längerfristiges, planvolles Entscheiden.«222

Als zweite wesentliche Herausforderung für die Zukunftsfähigkeit der Führung ist der Umgang mit einem zunehmenden Flexibilisierungs­ druck benannt: »Die rasant wachsende internationale Verflechtung und Arbeitsteilig­ keit [...] führen zu einem raum- und zeitübergreifenden Anpassungs­ druck in den Unternehmen und in der Folge in den Privathaushalten. Die Flexibilisierung von Arbeit in ihren räumlichen, zeitlichen und strukturellen Dimensionen steht in enger Interdependenz mit ein­ schneidenden Veränderungen unserer Produktions- und Arbeitstech­ nologien.«223

Als dritte benannte Herausforderung für die Führung soll hier die Notwendigkeit, aber vor allem auch Möglichkeit grundsätzlich neuer Geschäftsmodelle hervorgehoben werden: »In der Netzwerkgesellschaft werden ganz neue und andere Geschäfts­ modelle möglich. Diese durch Vernetzung und Digitalisierung gepräg­ ten Möglichkeiten verändern große Bereiche unserer Volkswirtschaft und stellen bisherige Branchenkompetenzen, Ertragsmöglichkeiten, Ressourcenkombinationen, Erwerbsbiographien und Leistungsprofile grundlegend infrage. Neue Marktakteure erfinden auf Grundlage der Vernetzung die Spielregeln ganzer Branchen neu.«224

Die Herausforderung, mit nicht erwarteten Änderungen umzugehen, flexibel auf die jeweiligen Anforderungen zu reagieren und sich neuen Geschäftsmodellen zu stellen, sind für viele Führungskräfte nicht neu – die Intensität und Häufigkeit entsprechender Anforderungen jedoch oftmals schon. Daneben treten weitere klassische Herausforderungen

222 223 224

Gebhardt/Hofmann/Roehl (2015), 6. Ebd., 8. Ebd., 8.

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

der Führung wie der Umgang mit unterschiedlichsten Stakeholdern und deren Bedürfnissen oder auch Anforderungen im Bereich der eigenen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, der Selbstfüh­ rung oder auch der Entscheidungs- und Kommunikationsstärke.225 Eng verknüpft sind diese Herausforderungen mit dem angemessenen Umgang mit Autorität.

3.1.1 Führungskräfte als Autoritäten und die Gefahr des Missbrauchs der Autorität Das Grundverständnis von Führung im Kontext von Organisationen definiert das Gabler Wirtschaftslexikon als »durch Interaktion ver­ mittelte Ausrichtung des Handelns von Individuen und Gruppen auf die Verwirklichung vorgegebener Ziele; [es] beinhaltet asymmetri­ sche soziale Beziehungen der Über- und Unterordnung.«226 Eine wesentliche Herausforderung für Führungskräfte besteht darin, wie sie ihrer Beziehung der Überordnung gerecht werden, wie sie ihre Autorität realisieren. Dabei kann man nach Bochénski Autorität als eine dreistellige Relation zwischen dem Träger der Autorität, hier der Führungskraft, einem Subjekt der Autorität, hier den »Untergebenen« und einem Gebiet der Autorität, hier bestimmte Bereiche im Unternehmen, verstehen. Dabei lässt sich unterscheiden, ob die Führungskraft wesentlich weisungsbefugt ist (deontische Auto­ rität) oder eine epistemische Autorität hat, also in einem bestimmten Unternehmensbereich das entsprechende Wissens-Know-how hat. In beiden Fällen kann eine Führungskraft ihre Autorität missbrauchen.

Vertiefung: Bochénskis wesentliche Thesen zum Begriff »Autorität« Bochénski geht es darum, die Frage zu beantworten, was Autorität eigentlich ist.227 Dabei analysiert er in einem ersten Schritt die »Grundstruktur der Autorität«228 (1.). Siehe auch Albrecht (2018), 135–156. Alisch (2005), 1121. 227 Vgl. Bochénski (1988), 14. Wir haben darauf verzichtet, Kursivierungen des Originals zu übernehmen. 228 Ebd., 14–23. 225

226

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

1.1. Die Autorität ist eine Relation. 1.2. Die Autorität ist eine dreistellige Relation zwischen einem Träger, einem Subjekt und einem Gebiet. 1.3. T ist eine Autorität für S im Gebiet G genau dann, wenn S prinzipiell alles, was ihm von T mit Behauptung mitgeteilt wird und zum Gebiet G gehört, anerkennt. Diese ersten Sätze dienen dazu, zu zeigen, dass Autorität als eine Relation, und zwar eine dreistellige Relation verstanden werden muss, bei der es also drei Elemente gibt, den Träger der Autorität (T), das Subjekt der Autorität (S), also denjenigen, der die Autorität anerkennt, und das spezifische Gebiet (G), auf dem T Autorität gegenüber dem S hat. Dabei muss T S etwas mitteilen können, damit S seine Autorität anerkennen kann. Vor diesem Hintergrund expliziert Bochénski Autorität im zwei­ ten Schritt »Gebiet, Subjekt und Träger der Autorität«229 (2.) 2.1. Das Gebiet der Autorität ist nicht real, sondern ideal. Das Gebiet der Autorität ist hierbei nicht real gedacht, z. B. Wetterer­ eignisse, über die ein Meteorologe spricht, sondern ideal, d. h. die mit Aussagen bzw. Mitteilungen übermittelte Bedeutung der Inhalte der Aussage des Meteorologen über das Wetter als Träger der Autorität. 2.2. Das Gebiet der Autorität ist eine Klasse von idealen Gebilden. Da die Bedeutungen nicht auf einen Satz beschränkt sein müssen, sondern T normalerweise über eine Autorität bezüglich einer Fülle von Bedeutungen von Inhalten verfügt, nennt Bochénski das Gebiet der Autorität eine »Klasse von idealen Gebilden«. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

Das Subjekt der Autorität ist ein bewusstes Wesen. Das Subjekt der Autorität ist ein Einzelwesen. Der Träger der Autorität ist ein bewusstes Wesen. Der Träger der Autorität ist ein Einzelmensch.

Strittig sind die Sätze 2.3. bis 2.6.. Während nämlich Bochénski davon überzeugt ist, dass Autoritäten bewusste Wesen und zudem einzelne Individuen sein müssen, scheint doch einiges dafür zu sprechen, dies zu bezweifeln. Für die meisten Menschen ist das Navigations­ system eine Autorität, die den Weg weist und dem man, freilich nicht bedingungslos, folgt. Dies sollte man normalerweise aber auch 229

Ebd., 23–30.

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

nicht gegenüber einer menschlichen Autorität tun (s. unten). Darüber hinaus lehnt Bochénski es ab, Kollektiven Autorität zuzuerkennen. Doch gerade parlamentarische Demokratien zeigen, dass die Auto­ rität oftmals nicht von einzelnen Personen ausgeht. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts in seinen Entscheidungen ist nicht an einen einzelnen Verfassungsrichter gebunden, sondern ergibt sich aus der Entscheidung des Kollektivs der Richter, die auch mit knap­ per Mehrheit fallen kann. Die Autorität hat also das Gericht, nicht das einzelne Individuum. Analog gilt dies für Entscheidungen von Parlamenten, aber auch Vorstandsentscheidungen in Unternehmen. Bochénski behauptet allerdings das Gegenteil und exemplifiziert dies mit folgendem Beispiel: »Es gab eine Abstimmung. Die Mehrheit der Parlamentarier hat für das Gesetz gestimmt. Nun gibt es im Parlament einen Präsidenten. Dieser stellt die Mehrheit fest und erklärt, dass das Gesetz angenommen worden ist. Er – der Präsident, also ein Einzelmensch – handelt hier gemäß einer Regel, die er und auch die anderen akzeptiert haben. Es ist eine vernünftige, gut bewährte Regel – aber eine Regel kann keine Autorität sein. Der Träger ist der Präsident allein.«230

Jedoch liegt hier ein Fehler vor. Die Autorität hat das Gesetz hinter den Gesetzen, wonach ein Gesetz dann verabschiedet ist, wenn die Mehrheit der Parlamentsmitglieder sich dafür entschieden hat. Der Präsident stellt nur das Ergebnis fest. Es ist jedoch das Kollektiv, das hier die legislative Autorität hat. Ähnliche Verfahrensregeln gibt es in manchen Unternehmen. Anschließend kommt Bochénski auf die »Eigenschaften der Autorität im Allgemeinen«231 (3.) zu sprechen: 3.1. Niemand ist, in keinem Gebiet, für sich selbst eine Autorität, d.h. die Träger-Subjekt-Autorität-Beziehung ist irreflexiv. Dieser Satz will nur eine Aushöhlung des Autoritätsbegriffs vermei­ den: Man kann für sich selbst keine Autorität sein. Selbstbestimmung ist nicht dasselbe wie Autorität. 3.2. Ist A Träger und B Subjekt der Autorität in einem Gebiet, so ist es logisch möglich, dass B Träger und A Subjekt in einem

230 231

Ebd., 30. Ebd., 31–41.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

anderen Gebiet ist, d. h. die Träger-Subjekt-Relation ist, im Allgemeinen, nicht asymmetrisch. Dieser Satz lässt sich sehr leicht erklären. Die Diplomkauffrau ist für die Wirtschaftsethikerin im Bereich der Betriebswirtschaftslehre, die Wirtschaftsethikerin für den Unternehmer im Bereich der ethischen Theorien und Empfehlungen die jeweilige Autorität. Darum kann die Diplomkauffrau folglich in diesem ethischen Gebiet nicht die Autori­ tät für die Wirtschaftsethikerin sein und umgekehrt, wie 3.3. festhält: 3.3. Ist T eine Autorität für S im Gebiet G, dann ist S keine Autorität für T in G, d. h. die Autorität (genauer: die Träger-Subjekt-Rela­ tion) ist innerhalb desselben Gebiets asymmetrisch. 3.4. Ist A eine Autorität für B im Gebiet G und B für C in demselben Gebiet, dann ist auch A eine Autorität für C in G. Auch dieser Satz lässt sich leicht verstehen. Wenn der Trainer für den Co-Trainer die Autorität für Trainingsanweisungen ist, der Co-Trainer aber für die Spieler, dann ist natürlich auch der Trainer in Blick auf die Trainingsanweisungen Autorität für die Spieler. In diesem Fall entstehen klassische Autoritätskonflikte, wenn sich die Autoritäten desselben Gebiets widersprechen. Wenn beispielsweise zwei Wirt­ schaftsethiker unterschiedliche Empfehlungen abgeben, wird es für die Subjekte der Autorität schwierig, welchem Rat er folgen soll. 3.5. Es gibt wenigstens einen Menschen, der eine Autorität in wenig­ stens einem Gebiet für alle anderen Menschen ist. 3.6. Jeder Mensch ist in wenigstens einem Gebiet eine Autorität für alle anderen Menschen. Die Sätze 3.5. und 3.6. gelten beispielsweise nach Bochénski für Schmerzempfindungen. Allerdings lässt sich fragen, ob hier der Begriff der Autorität noch seinen Sinn erfüllt. Ist seine Annahme, dass das Kleinkind eine Autorität im Blick auf seine Magenschmerzen ist, wirklich angemessen? Allerdings lässt sich der Satz in dem Sinn ver­ teidigen, dass man sagen muss: Das Kind weiß am besten, wie sich seine Schmerzen anfühlen, und kann verlangen, dass wir dieses Wis­ sen anerkennen, also in diesem Sinn seine Autorität in diesem Gebiet akzeptieren. Daraus ergibt sich logisch Satz 3.7.: 3.7. Kein Mensch ist für irgendeinen anderen Menschen eine Auto­ rität in allen Gebieten.

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

Allerdings ließe sich logisch ein allwissendes Wesen vorstellen, das dann sogar noch besser als das Kind selbst wüsste, was dessen Schmerzen genau sind. Dann würde unter dieser Annahme gelten: 3.8. T ist Träger der Autorität im Hinblick auf alle Subjekte und in allen Gebieten genau dann, wenn T Gott ist. Doch 3.8. kann eher als religiöser Einschub (des Dominikanerpaters Bochénski) interpretiert werden. Denn es ist vielmehr Schritt 3.9., der sich logisch an 3.7. anfügt. Wenn kein Mensch für irgendeinen anderen Menschen – und man kann ergänzen, auch im Blick auf sich selbst – eine Autorität in allen Gebieten sein kann, dann folgt logisch: 3.9. Der Träger einer Autorität missbraucht die Autorität, wenn er sie im Hinblick auf ein Subjekt oder auf ein Gebiet auszuüben versucht, für welches bzw. in welchem seine Autorität unbe­ gründet ist. Hierbei bleibt eine Missbrauchsmöglichkeit, die gerade im Die­ selskandal von entscheidender Bedeutung war, umstritten: Miss­ braucht eine Autorität ihre Autorität auf ihrem Gebiet, wenn sie die Gehorsamsbereitschaft der Subjekte der Autorität für Zwecke nützt, die wesentliche Werte verletzen oder handelt es sich bei Wertfragen um ein anderes Gebiet? Diese Problematik wird noch klarer werden, wenn die Unterscheidung von epistemischer und deontischer Autori­ tät im Folgenden erläutert ist. So stellt Bochénski nämlich bei der Behandlung der »Arten der Autorität«232 (4.) fest: 4.1. Das Gebiet der Autorität ist eine Klasse von Sätzen oder eine Klasse von Weisungen. Hierbei ist der Begriff »Weisungen« weit zu verstehen. Wenn der Vater seinem Sohn zeigt, wie man einen Reifen wechselt, so zeigt er hier seine Autorität im Reifenwechseln. 4.2. Jede Autorität ist entweder eine epistemische oder eine deonti­ sche Autorität. Man kann eine Autorität im Bereich des Wissens sein (epistemisch von griechisch: episteme = Wissen) oder im Bereich der Weisungen (to deon = das, was man tun muss), also der Feldwebel gegenüber den Soldaten. 232

Ebd., 41–47.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Die weiteren Sätze sind selbsterklärend. 4.3. Der Träger der deontischen Autorität in einem Gebiet kann gleichzeitig Träger der epistemischen Autorität auf dem ent­ sprechenden Gebiet sein. 4.4. Es ist wünschenswert, dass der Träger der deontischen Autorität gleichzeitig auch Träger der epistemischen Autorität auf dem entsprechenden Gebiet ist. 4.5. Deontische Autorität in einem Gebiet und epistemische Autori­ tät in einem ihm entsprechenden fallen nicht notwendig zusam­ men. Anschließend geht Bochénski vertieft auf die beiden Typen der Auto­ rität ein, beginnend mit der epistemischen Autorität (5.).233 5.1. T ist eine epistemische Autorität für S im Gebiet G genau dann, wenn S prinzipiell jeden Satz anerkennt, der ihm mit Behauptung von T mitgeteilt wird und zum Gebiet G gehört. Bochénski ist hier etwas ungenau, denn es geht nicht nur um Sätze, wie das obige Beispiel des Reifenwechsels verdeutlichte, sondern es gibt auch nonverbal kommunizierbares Wissen. Zudem muss das »prinzipiell« richtig verstanden werden. Natürlich ist der Professor für seine Studierenden prinzipiell die Autorität, aber diese können dennoch in manchen Fällen ein größeres Wissen in einer Materie des Fachs haben. In diesem Sinn sind auch die weiteren Sätze zu verste­ hen. 5.2. T ist eine epistemische Autorität für S im Gebiet G genau dann, wenn die Wahrscheinlichkeit jedes zu G gehörenden Satzes – auf den Stand des Wissens von S bezogen – durch die Mitteilung dieses Satzes durch T an S wächst. Wenn der Professor den Studierenden einen Satz aus seinem Fach­ gebiet als wahr mitteilt, so wächst für die Studierenden als Subjekt der Autorität die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Satz im Gebiet G wahr ist. 5.3. Die Anerkennung der größeren Kompetenz und der Wahrhaf­ tigkeit des Trägers auf dem Gebiet ist eine notwendige Bedin­ gung der Anerkennung der epistemischen Autorität. 233

Vgl. ebd., 47–57.

178 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

Beim Dieselskandal war der Vorgesetzte für die Ausführenden ein­ deutig eine epistemische Autorität in diesem Sinn. Sie vertrauten ihm, dass der Einsatz der entsprechenden Software begründet war und vertrauten seinem Wissen und seiner Wahrhaftigkeit. 5.4. Die Annahme einer epistemischen Autorität ohne jede Begrün­ dung ist aus moralischen Gründen zu verwerfen. Die Mitarbeitenden hatten gute Gründe, die epistemische Autorität anzuerkennen. Immerhin handelte es sich um eine angesehene Füh­ rungskraft. Die weiteren Thesen Bochénskis führen dies weiter aus, weswegen gleich zu den Überlegungen zur deontischen Autorität weitergegangen werden soll. 7.1. T ist eine deontische Autorität für S im Gebiet G genau dann, wenn es ein Ereignis Z solcher Art gibt, dass (1) S wünscht, dass Z verwirklicht werde, (2) S glaubt, dass die Ausführung durch S aller ihm durch T mit Behauptung mitgeteilten und zum Gebiet G gehörenden Weisungen eine notwendige Bedingung dieser Verwirklichung ist. Genau dies war der Fall beim Dieselskandal. Der Mitarbeitende hatte sich freiwillig entschieden, am Betrug mitzuwirken. Die Weisungen des Vorgesetzten wurden darum von S aufgrund der Anerkenntnis der Autorität von T als bindend interpretiert. Trotz Zweifeln mancher S, befolgten alle die Weisungen, was Bochénski auch ausdrücklich als Kennzeichen deontischer Autorität formuliert: 7.2. Ob der in der Annahme der deontischen Autorität vorausge­ setzte Glaube richtig und begründet ist, ist für das Bestehen der Autorität selbst belanglos. Auch seine weitere Analyse trifft den Kern dessen, was unter deon­ tischer Autorität zu verstehen ist und was eine der wesentlichen Herausforderungen einer guten Führung darstellt. 7.3. Die faktische Ausführung aller zum Gebiet des Trägers der Autorität gehörenden Weisungen durch das Subjekt ist keine notwendige Bedingung für das Bestehen der deontischen Auto­ rität. 7.4. T ist eine deontische Autorität für eine Gruppe von Menschen K im Gebiet G genau dann, wenn alle oder wenigstens die meisten Mitglieder dieser Gruppe die Autorität anerkennen.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

7.5. T ist eine deontische Autorität für S, als zur Gruppe K gehörend, im Gebiet G genau dann, wenn es ein Ereignis Z solcher Art gibt, dass S glaubt, die Durchführung aller Weisungen von T, die zu G gehören, durch die Mehrheit der Mitglieder von K sei eine notwendige Bedingung der Verwirklichung von Z – und S gleichzeitig diese Verwirklichung will. Genau dies glaubten die Mitarbeitenden beim Einsatz der DefeatSoftware. Sie vertrauten darauf, dass der Vorgesetzte auch mit Blick auf involvierte Wertfragen die deontische Autorität war und damit auch die Letztverantwortung hatte. Freilich hätten sich die Mitar­ beitenden fragen können, ob der Vorgesetzte wirklich auch diese Autorität hatte, also mögliche Körperverletzungen durch einen über­ höhten Schadstoffausstoß anweisen darf. Warum akzeptierten sie ihn als Träger deontischer Autorität? Die Antwort kann man mit Bochénski geben. 7.6. Wer die deontische Autorität eines T in einem G verwirft, leugnet entweder, dass es ein Ziel gibt, das nur unter Annahme dieser Autorität zu erreichen ist, oder dass die Ausführung der Weisungen des T eine notwendige Bedingung zum Erreichen des Zieles ist, oder er leugnet beides. 7.7. Die Annahme einer deontischen Autorität ohne jede Begrün­ dung ist aus moralischen Gründen zu verwerfen. 7.8. Die Annahme einer Autorität ist genau dann begründet, wenn der Glaube an die Notwendigkeit dieser Annahme begrün­ det ist. Bochénski beendet seine Analyse mit Überlegungen zur Delegation von Autorität und zu Arten der deontischen Autorität, die aber für unsere Fragestellung nicht mehr entscheidend sind. Vielmehr gilt es festzuhalten, dass Führung immer Hierarchien voraussetzt, in der die Führungsperson entweder epistemische oder deontische oder beide Autoritäten in sich vereint.

3.1.2 Führungsstile als Herausforderung Geht eine Führungsperson davon aus, dass sich Mitarbeitende aus­ schließlich opportunistisch verhalten, so wird sie eine transaktionale Führung bevorzugen, da sie selbst im Spannungsfeld eigener Aufga­

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

benziele steht, die auf sie Druck erzeugen: Ziel ist die Anpassung der Mitarbeiter an das von ihnen Verlangte, sodass die gewünschten Aufgaben erfüllt werden. In diesem Sinn hat die Führungsperson das Selbstverständnis, die Aufgabenziele nur gegen den opportunis­ tischen Gruppendruck durchsetzen zu können. Die Führungsperson unterstellt also diesen Gegendruck. Mitarbeitende sind Rollenträger, sind »Humankapital«, das es zu nutzen gilt, damit die Unternehmens­ ziele effizient erreicht werden. Es gibt eine asymmetrische Beziehung zwischen Führungsperson und Mitarbeitenden, die eine echte Partizi­ pation und Kooperation auf Augenhöhe ausschließt, weil angenom­ men wird, dass die Mitarbeitenden nur unter Druck Leistung bringen: »Der Mensch ist Mittel. Punkt«, wie Ulrich dies zusammenfasst.234 Geht sie jedoch eher davon aus, dass sich Mitarbeitende trotz opportunistischer Anlage über ihre soziale Anlage für das Unterneh­ men motivieren lassen, wird es ihr um eine transformative Führung gehen. Sie wird das Ziel verfolgen, die Konversion/habituelle Verän­ derung der Mitarbeitenden unter Zurückdrängung des Opportunis­ mus zu erreichen. Dies kann sie entweder aufgrund ihres Charismas bewirken oder auch durch partizipatives Einbeziehen der Mitarbei­ tenden, um diese für die Sache zu gewinnen. Mitarbeitende werden als Personen respektiert, die einen eigenen Subjektcharakter haben, sodass trotz bestehender Hierarchien von Führungsperson zur mitar­ beitenden Person in dieser Hinsicht eine symmetrische Beziehung besteht. »Der Mensch ist Mittelpunkt.«235 Unter der Annahme, dass Mitarbeitende intrinsisch motiviert sind, also Opportunismus keine Rolle spielt, wird sich die Führungs­ person noch mehr zurücknehmen und einen kooperativen Führungs­ stil bevorzugen können. Sie wird Entscheidungen in gemeinschaft­ licher Abstimmung treffen, sich selbst also eher in der Rolle der moderierenden Person sehen, es sei denn, sie hat den Mitarbeitenden epistemische Kompetenzen voraus, die sie einzubringen hat. Ein derartiger, partizipativer Führungsstil wird darauf abzielen, Arbeitszufriedenheit durch Partizipationsangebote zu erreichen, die Anforderungen mit Fähigkeiten der Mitarbeitenden in Einklang brin­ gen.

234 https://www.forum-wirtschaftsethik.de/grundzuege-der-fuehrungsethik (zuletzt eingesehen am 09.04.2022). 235 Ebd.

181 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Leistungspotential

Anforderungen der Arbeit Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden

Leistungsanerkennung

Leistung gemeinsame Zielsetzung durch Partizipation

Motivation

Abbildung 19: Wirkungen eines partizipativen Führungsstils

Je anonymer oder streng hierarchischer eine Unternehmensstruk­ tur ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich ein transaktionaler Führungsstil durchsetzt, der aber Menschen zu Mitteln degradiert und deshalb unter heutigen Bedingungen unangemessen zu sein scheint. Dagegen wird gerade in kleineren Start-ups der kooperative Führungsstil mit flachen Hierarchien bevorzugt, ein Führungsstil, der sich normalerweise ab einer gewissen Unternehmensgröße nicht durchhalten lässt. In vielen Fällen wird darum der transformationale Führungsstil angemessen sein236, der keine übersteigerten Erwar­ tungen an das Verhalten der Mitarbeitenden stellt, aber diese den­ noch nicht nur als Unternehmensmittel, als Ressource, einschätzt, sondern als echtes Gegenüber respektiert. Bereits hier besteht für die Führungsperson die Herausforderung herauszufinden, welche Führungsform angemessen ist, um die Unternehmensziele unter Wahrung der grundsätzlichen, im Global Compact genannten Werte erreichen zu können. Eine solche Führung sollte sich als »achtsame« Führung erweisen.

3.1.3 Auf dem Weg zu einer achtsamen Führung Die klassische empirische Studie von Jackall (1988), die das Verhalten von Führungskräften untersuchte, zeigt, dass Mitarbeiter in erster Linie auf die Erwartungen von Führungskräften reagieren, weil diese die Anreizstrukturen setzen und die wichtigsten Überprüfer der Vgl. zu diesem Führungsstil ausführlich Bass/Riggio (2006). Es lassen sich zudem noch weitere Formen der Führung unterscheiden. Siehe dazu z.B. Neuber­ ger (2002). 236

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

ethischen Compliance sind. Diese Erkenntnis zeigt, dass es unan­ gemessen ist, Mitarbeiter mit ethischen Grundsätzen und Regeln zu belasten, die den von ihren Vorgesetzten und/oder der Branche gesetzten Anreizstrukturen zuwiderlaufen.237 Zum einen erfordert die Zielsetzung einer Verbesserung morali­ schen Handelns daher eine Analyse auf der Systemebene, d. h. auf der Ebene der Regelsetzung. Die Regelstrukturen sind auf die per­ sönlichen Anreize der Mitarbeiter abzustimmen, um das Verhalten der Mitarbeiter nachhaltig so zu verändern, dass auch die Kernwerte guter Geschäftspraktiken realisiert werden. Vereinfacht ausgedrückt, sollten Unternehmen Geschäftsregeln so gestalten, dass sie wirksame Anreize für ethische Praktiken schaffen und Anreize für unethische Praktiken verringern. Dabei sollte die branchenweite Festlegung von ethischen Regeln darauf abzielen, die Regelsysteme an den Werten auszurichten, die der Gesellschaft zugutekommen. Dadurch erhalten die einzelnen Unternehmen einen Anreiz, Systeme zu entwickeln und zu integrieren, die nicht nur die Einhaltung ethischer Grundsätze, sondern auch die Steigerung des gesellschaftlichen Nutzens im Ein­ klang mit den Zielen der Branche gewährleisten. Zum anderen integriert die achtsame Führung Prinzipien des persönlichen Wohlbefindens in die Kriterien zur Bewertung wirk­ samer ethischer Regeln. Der Diskurs über Achtsamkeit in der Füh­ rung betont die Bedeutung zentraler Charaktereigenschaften von Führungskräften, z. B. Gelassenheit, Konzentration, innere Stabili­ tät, Offenheit, Vertrauen, Authentizität und Achtung grundlegender moralischer Regeln.238 Die buddhistischen, benediktinischen und ignatianischen Tradi­ tionen bilden die Grundlage für die vorliegende Darstellung der achtsamen Führung, die hier für pluralistische Unternehmenskon­ texte präsentiert wird. Die religiösen Führungstraditionen sind in humanistischen Grundwerten verwurzelt, die mit den Grundsätzen der Menschenwürde und der Menschenrechte übereinstimmen, und diese Traditionen betonen sowohl die persönliche Entfaltung als auch das gesellschaftliche Gedeihen auf der Grundlage von Fairness, ver­ antwortungsvoller Haushalterschaft und Gerechtigkeit. Obwohl die klassischen Texte dieser Traditionen religiöse Führungspersönlichkei­

237 238

Eine Übersicht zu weiteren Diskussionen findet sich in Lange et al. (2018). Vgl. Knoepffler/Albrecht (2011a), Gonzalez (2013), Schmidt (2020).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

ten als Zielpublikum hatten, bleibt die Weisheit der Anleitung, die nun in die achtsame Führung integriert ist, relevant.239 Was die Grundüberzeugungen für Mensch und Gesellschaft angeht, unterscheiden sich die religiösen Führungstraditionen deut­ lich von dem individualistischen Paradigma, das oft mit dem Neo­ liberalismus in Verbindung gebracht wird.240 Nichtsdestotrotz bie­ tet uns unser zeitgenössischer Kontext von Pluralismus, Toleranz und demokratischer Legitimität konsensfähige normative Prinzipien der Menschenwürde und der Menschenrechte. Die buddhistischen und christlichen Traditionen bieten ebenso Ressourcen wie die säku­ laren humanistischen. Und wir können diese Traditionen danach beurteilen, welche Früchte sie bei der Schaffung persönlicher und gesellschaftlicher Werte in unserem heutigen Kontext tragen. Die Ordo-Verantwortung zum Beispiel navigiert durch Fragen des Plura­ lismus, indem sie die Ebenen des Einhaltens, des Setzens und der Entdeckung von Regeln oder der Theorie unterscheidet. Dieser prag­ matische Ansatz bewahrt die Integrität des öffentlichen normativen Diskurses und ist gleichzeitig offen für die ethischen Einsichten der religiösen Traditionen. Achtsame Führung ist ebenfalls ein »säkularer Ausdruck« bud­ dhistischer Erkenntnisse und plädiert dementsprechend für Füh­ rungsverantwortung auf allen regelrelevanten Ebenen. Führung besteht aus organisatorischem, branchenspezifischem und marktbe­ zogenem Fachwissen. Und sie besteht auch in den Charaktereigen­ schaften, die Enthusiasmus und Entschlossenheit hervorbringen, sowie in der Umsicht und Weisheit, die für rechtzeitige Initiativen und die Reaktion auf Krisen und Chancen notwendig sind. Achtsame Führung konzentriert sich auf solche individuellen Charaktereigen­ schaften und fördert gleichzeitig die Bedingungen, die in unserer modernen pluralistischen Welt für die Schaffung von geschäftlichen und sozialen Werten am förderlichsten sind. Eine achtsame Führung fördert den wirtschaftlichen Erfolg mit vernünftigen Regeln, die so strukturiert sind, dass sie Anreize für die Wirtschaft und den sozialen Wert schaffen. Beispiele für histo­ rische Regelsysteme sind die Regeln von Benedikt von Nursia aus dem sechsten Jahrhundert und die Konstitutionen von Ignatius von Loyola aus dem sechzehnten Jahrhundert. In beiden Fällen handelt 239 240

Vgl. Benedikt von Nursia (1931), Ignatius de Loyola (1991), Saunders (2008). Vgl. zum Paradigma Nass (2018), 135–137.

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

es sich um sorgfältig ausgearbeitete Regeln, die auf umfassenden Erkenntnissen über menschliche Fähigkeiten und Grenzen beruhen. Wenn Regelsysteme nach dem Erfolg der Institutionen, die sie regeln, beurteilt werden können (Langlebigkeit, institutionelles Wachstum, gesellschaftliche Auswirkungen), dann waren beide Regelsysteme außerordentlich wirksam. Die Themen, die von den relativ einfachen Regelsystemen abgedeckt werden, könnten als »Personal-Ressour­ cen«-Themen bezeichnet werden. Dazu gehören die Auswahl neuer Mitglieder der Organisation, die Auflistung der Eigenschaften eines guten Abtes/Oberen, die Strukturierung der Tageszeiten nach kurzen Reflexionsphasen und die Strukturierung der Entwicklung der Fähig­ keiten der Mitglieder nach den besten Methoden der Wissenschaft. Benedikts System ist nach wie vor ein Modell für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit, Gebet und Leben. Und Ignatius‘ Tech­ niken der zweimal täglichen Selbstreflexion (das Examen) spiegeln solide zeitgenössische Ratschläge für eine achtsame Praxis wider. Die achtsame Führungskraft, in unserer Zeit der achtsame CEO eines Global Players der Wirtschaft, erfüllt sehr einfache, aber gleichzeitig schwierige Anforderungen. Achtsamkeit rät dazu, sich unserer gegenwärtigen Umgebung bewusst zu sein. Die Bedeutung des Substantivs »Geist« in Acht­ samkeit findet sich in den Warnungen: »Achte auf deinen Schritt« oder »Achte auf deinen Kopf«; es bedeutet, aufmerksam, bewusst, vorsichtig, wachsam zu sein. Die Praxis der Achtsamkeit bedient sich täglicher Übungen, die durch Wiederholung zu Gewohnheiten wer­ den. Ähnlich wie die täglichen Meditationsregeln von Benedikt und Ignatius fördert die Achtsamkeit sehr einfache Praktiken der zentrier­ ten Reflexion, der Rückbesinnung auf die jüngsten Erfahrungen und der Priorisierung künftiger Aufgaben. Eine achtsame Führungskraft übernimmt diese Praktiken für sich selbst und gibt ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, ebenfalls solche Gewohnheiten zu entwickeln. Im Unternehmenskontext ist eine solche Investition in die Mitarbeiter sinnvoll, gerade wenn man an psychische Erkrankungen wie das Burn-out-Syndrom denkt. Scharmer betrachtet solche stress- und arbeitsbedingten Krankheitstendenzen in Essentials of Theory U und schlägt vor, dass sie Ausdruck einer spirituellen Kluft sind.241 Er 241

Vgl. Scharmer (2018).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

beschreibt auch zeitgenössische soziale und ökologische »Abgründe«, die durch verantwortungsvolle Führung angegangen werden müssen. Achtsamkeit ist eine kultivierbare Geisteshaltung, die auf kon­ krete Probleme ausgerichtet ist; dies unterstützt das praktische Den­ ken – die Tugend der Klugheit. Wir konzentrieren uns auf ein bestimmtes Thema, studieren es, experimentieren, erkennen über­ geordnete Prinzipien und anwendbare Theorien und erproben prak­ tische Anwendungen zur Problemlösung. Solche die Wissenschaft unterstützenden Gewohnheiten helfen vor allem CEOs, Vordenker und Trendsetter zu sein. Die philosophischen Traditionen, die Benedikt und Ignatius beeinflusst haben, charakterisieren die Tugend der Klugheit mit Ana­ logien zum Sehen. Der Mensch mit Klugheit – oder praktischer Weisheit – sieht den weiten Horizont möglicher Handlungen sowie die möglichen Folgen jeder Entscheidung. Von zentraler Bedeutung für diese Traditionen ist die Charakterisierung einer solchen Weisheit als Tugend, die eine gewohnheitsmäßige Charaktereigenschaft und keine rein rationale Tätigkeit ist. Die buddhistische Tradition, die ins­ besondere die zeitgenössische Achtsamkeitspraxis prägt, ist ebenfalls auf eine Form der Erleuchtung ausgerichtet, die menschliche Vernunft und affektive (emotionale) Fähigkeiten integriert. Der Name Buddha selbst bedeutet der Erleuchtete. Alle drei Traditionen haben beein­ druckende Organisationen hervorgebracht, die ihre grundlegenden Einsichten weiterhin zum Ausdruck bringen. Weltlichere Beispiele für Führungspersönlichkeiten, die »geistige Rationalität« zum Aus­ druck bringen, werden von einigen in Steve Jobs oder Elon Musk gesehen. Ihre praktischen und wissenschaftsbasierten Unternehmen sind Ausdruck der Integration von Vernunft und Emotion durch ihre Führungskräfte, und die Unternehmenswerte sind in einer transzen­ dierenden Vision vereint. Analoge Parallelen von traditionell-spirituellen und moderngeschäftlichen Lehren lassen sich aus zeitgenössischen verhandlungs­ theoretischen Ansätzen ziehen.242 Eine Führungskraft bringt acht­ same Führung zum Ausdruck, indem sie die Bedürfnisse, Anliegen, Ziele, Wünsche und Ängste aller Beteiligten respektiert. Die effektive Führungskraft übt nicht nur Weisungen von oben nach unten aus. Vielmehr reflektiert die achtsame Führungskraft über die unterschied­ lichen Interessen, die scheinbar widersprüchliche Positionen begrün­ 242

Vgl. Ignatius (1991), 606ff. Zu modernen Theorien vgl. Rogers et al. (2019).

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3.1 Herausforderungen für Führungskräfte

den. Reflektierende und phantasievolle Praktiken ermöglichen es, den potenziellen Wert von sich überschneidenden, tiefgreifenden Interes­ sen sowie von potenziell unterschiedlichen Interessen zu erkennen. So müssen Führungskräfte beispielsweise in der Lage sein, die poten­ zielle Gefahr eines Risikos, aber auch dessen wertschöpfendes Poten­ zial zu beurteilen. Die gesamte Versicherungsbranche generiert Wert auf der Grundlage unterschiedlicher Interessen in Bezug auf Risiken. Führungsqualitäten und Reflexionsvermögen sind subtil und können scheinbar nicht erlernt werden. Dennoch können Managementprak­ tiken, die auf solche Fähigkeiten abzielen, identifiziert und imple­ mentiert werden. Und die Wirksamkeit solcher Praktiken, die ein Achtsamkeitstraining beinhalten, kann mit empirischen Methoden gemessen werden. Studien über Verhandlungspraktiken zeigen, dass ein kombiniertes Theorie-Praxis-Training Führungskräften dabei hel­ fen kann, ihre Einstellungen, Handlungen und Bewertungskriterien von Operationen auf Wertschöpfung, Maximierung des gemeinsa­ men Gewinns und Effizienz auszurichten. Eine solche Einstellung, die durch Übungen wie das Achtsamkeitstraining gestärkt wird, ist offen für das Wertschöpfungspotenzial, das durch die Zusammenarbeit in vertrauensvollen Geschäftsbeziehungen und durch Handlungen entsteht, die sowohl in der Wirtschaft als auch in der breiten Öffent­ lichkeit als legitim wahrgenommen werden. Auf globaler Ebene wissen aufmerksame Führungskräfte, dass die einzelnen Unternehmen ein Interesse daran haben, branchenweite und internationale ethische Standards umzusetzen – Standards, die effizient und effektiv sind, damit sie ihrer Verantwortung nachkom­ men. Was aber ist ihre Verantwortung, wofür sind sie verantwort­ lich usw.?

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung 3.2.1 Verantwortung im Unternehmen Verantwortung ist eine vielstellige Relation, die sich in folgender Weise darstellen lässt:

wer •Individuum •Korporation/ Institution •Gesellschaft/ Staat

wie

wem gegenüber

•Verursachung •Zurechnung •Haftung

•Gewissen •anderen Individuen •Institutionen

Verantwortungswas

dimensionen

wann

•Handlung •Unterlassung •Resultate/ Produkte

•prospektiv •aktuell •retrospektiv

weswegen •Normen und Werte •Gesetze

wofür •vorhersehbare Folgen •unvorhersehbare Folgen

Abbildung 20: Verantwortungsdimensionen

Beginnen wir mit den Personen, dem Wer243, das sich im wirtschaft­ lichen Bereich zu verantworten hat.244 Es sind alle, die an Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang mit der Herstellung und Dieser Aspekt wird im nächsten Abschnitt vertieft. Bei den Ausführungen zur Verantwortung folgen wir Ropohls (1994, 109ff.; 1996, 75ff.) Matrix verschiedener Verantwortungstypen. Dabei beschränken wir die

243

244

188 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

dem Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen beteiligt sind, seien es Individuen im Unternehmen, aber auch die Unternehmen als juristische Personen, aber auch alle, die für eine Rahmenordnung ver­ antwortlich sind, die Unternehmen in ihrem wirtschaftlichen Wirken »einhegen«, insbesondere Journalisten und Politiker. Vor diesem Hintergrund besteht die Notwendigkeit des Einzel­ nen, sein eigenes Gewissen zu bilden, wenn man das Gewissen als eigene Letztinstanz versteht, in einer bestimmten Situation eine Ent­ scheidung zu treffen, eine Handlung zu vollziehen oder zu unterlas­ sen.245 Die Person verantwortet auf diese Weise eine Tätigkeit bzw. die Unterlassung. Das Gewissen reflektiert die eigene Lebensgeschichte, die eingebettet ist in das jeweilige Umfeld der Person. Wie bereits der lateinische Begriff »conscientia« andeutet, ist Gewissen immer mit einem »Wir« verbunden und steht niemals allein. In diesem Sinn ist »Gewissen« ein dialogischer Begriff, in dem der Einzelne in eigener Verantwortung seine Lebensgeschichte mit den anderen, seiner Mitund Umwelt vollzieht. Darum ist es eine Notwendigkeit, dass der Einzelne seinem Gewissen zu folgen hat. Doch damit ergibt sich ein Problem: Wenn die Handlung, bei­ spielsweise das Mitwirken im Dieselskandal, vom Gewissen befohlen wird, weil die betreffende Person davon überzeugt ist, sie müsse der Autorität, in diesem Fall der Unternehmensleitung, gehorchen und deshalb glaubt, das objektiv Gute zu vollziehen, so ist diese Hand­ lung vor dem Gewissen nicht nur gerechtfertigt, sondern gefordert. Doch ist dies wirklich angemessen? Selbst wenn die Mitwirkenden beim Dieselskandal der befehlenden Autorität folgten, weil sie aus Gewissensgründen den Gehorsam gegenüber der Autorität über die ethische Norm, einen anderen Menschen nicht zu schädigen, setz­ ten, können sie damit nicht entschuldigt werden. Es stimmt einfach nicht, wenn sie mit Berufung auf ihr Gewissen, das ihnen befahl, der Autorität zu folgen, die Schuld, ausschließlich der befehlenden Autorität geben. Ihre eigentliche subjektive Schuld besteht nämlich genau darin, dass sie ihr Gewissen nicht hinreichend gebildet haben, also sich nicht klar gemacht haben, wie verwerflich es ist, einen Menschen gefährlichen, im konkreten Fall gesundheitsschädlichen Emissionen auszusetzen. Betrachtung jedoch gerade nicht auf technikethische Fragen und nehmen Änderungen im Detail vor. 245 Zur Begriffsgeschichte vgl. Gerl-Falkovitz (2010), 1020–1035.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Was heißt das genauer? Jeder Mensch hat nicht nur Verantwor­ tung dafür, seinem Gewissen als Letztinstanz zu folgen, sondern auch sein Gewissen immer neu fortzubilden. In Hegels nicht einfa­ cher Zusammenfassung: »Das Gewissen ist als diese Einheit des subjektiven Wissens, und dessen was an und für sich ist, ein Heiligtum, welches anzutasten Frevel wäre. Ob aber das Gewissen eines bestimmten Individuums, dieser Idee des Gewissens gemäß ist, ob das, was es für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden. Was Recht und Pflicht ist, ist als das an und für sich Vernünftige der Willensbestimmungen wesentlich weder das besondere Eigentum eines Individuums [...], sondern wesentlich von allgemeinen, gedachten Bestimmungen, d. i. in der Form von Gesetzen und Grundsätzen. Das Gewissen ist daher diesem Urteil unterworfen, ob es wahrhaft ist oder nicht, und seine Berufung nur auf sein Selbst ist unmittelbar dem entgegen, was es sein will, die Regel einer vernünfti­ gen, an und für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise.«246

Während bedingungsloser Gehorsam für Kleinkinder, die Gefahren nicht einschätzen können, sinnvoll ist, hat ein erwachsener Mensch sein Gewissen weiterzuentwickeln. Das bedeutet, er hat die Verpflich­ tung, sich von vielfältigen Drucksituationen zu emanzipieren, die die eigene Entscheidungsfähigkeit manipulieren und in eine Richtung lenken, die nicht menschendienlich ist. Es geht also gerade darum, sich nicht fremdsteuern zu lassen, sei es von staatlichen Organen, sei es von unternehmerischen Autoritäten, sei es von Moden, die gerade im Umlauf sind. Sonst bleibt das Gewissen an gerade gültige Konventionen gebunden und vermag nicht, den Blick auf das wahre Gute zu lenken, was nach unserem Verständnis in diesem Fall das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der von den Emissionen Geschädigten betraf. Es geht also gerade darum, sich aus der infantilen Abhängigkeit gegenüber Autoritäten zu lösen, damit die eigene Gewissensentschei­ dung als wirklich eigene übernommen und erfahrbar wird und nicht nur ein Epiphänomen familiärer oder sozialer Umweltbedingungen darstellt. Dabei stehen Führungskräfte der Wirtschaft in einer beson­ deren Verantwortung, da ihre Entscheidungen eine große Hebelwir­ kung entfalten und weit in die Zukunft reichen können.

246

Hegel (2013 [1821]), § 137.

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

Damit verbunden ist eine weitere Dimension der Verantwortung, das Wann. Verantwortung kann im Vorhinein zu einer Handlung bzw. Unterlassung, im Vollzug der Handlung und retrospektiv wahr­ genommen werden. Sie kann zudem in einer Weise vollzogen werden – das Wie der Verantwortung –, in der der Einzelne und/oder die Gruppe bzw. die Gesellschaft als Akteure das Handeln bzw. Unterlas­ sen direkt verursacht haben. Es kann aber auch sein, dass Handlungen oder Unterlassungen jemandem (teilweise) zugerechnet werden, der diese nicht selbst vollzogen hat. In bestimmten Fällen haftet sogar nicht die Person, die einen Schaden verursacht hat, sondern diejenige, der man den Schaden zurechnet. Es muss nicht einmal persönliche Schuld im Spiel sein. So haftet eine Führungskraft in vielen Fällen auch für das Fehlverhalten ihrer Mitarbeiter. Diese Überlegungen führen zum zweifachen Objekt der Verant­ wortung: dem Was und dem Wofür. Dabei bilden Handlung oder Unterlassung und das intendierte Produkt bzw. Resultat das Was der Verantwortung (Bsp. Rüstungsgüter). Die vorhersehbaren und unvorhersehbaren Folgen der Handlung, die über das intendierte Pro­ dukt bzw. Resultat hinausgehen, bilden dagegen das Wofür (zum Bei­ spiel wirksame, aber mit Nebenwirkungen behaftete Medikamente). Eine weitere Verantwortungsdimension wird durch die Fragen nach dem Wovor bzw. dem, Wem gegenüber Verantwortung zu rea­ lisieren ist, deutlich. Hier sind verschiedene Institutionen, beispiels­ weise Gerichte, denkbar. Es kann sich jedoch auch um das persönliche Gewissen oder Dritte handeln, seien es Individuen oder Gruppen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es hier eine Verantwortungskon­ zentrik gibt.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Globale Verantwortung für die Mit- und Umwelt (als Weltbürger) Nationale Verantwortung (als Staatsbürger) Verantwortung für das Unternehmen Verantwortung für die Nächsten (Familie, Freunde)

Selbstverantwortung

Abbildung 21: Verantwortungskonzentrik

Jeder Einzelne hat eine Verantwortung für sich selbst, dann für die Nächsten, erst an dritter Stelle steht das Unternehmen. Dies entspricht zumindest der klassischen philosophischen Tradition, während das Christentum hier radikaler denkt und Familienbande zugunsten der Verkündigung der Botschaft aufzugeben empfiehlt.247 Mit dem Weswegen wird die Frage angesprochen, welche Nor­ men, Werte oder Gesetze die Verantwortung begründen und letztlich auch, wie Verantwortung zu konkretisieren ist. Im konkreten Fall sind dies einerseits die Werte des Global Compact, andererseits aber auch persönliche Werte, die für die folgende Personenfolgeneinschätzung von entscheidender Bedeutung sind und den Nachhaltigkeitsdimen­ sionen zugeordnet werden können: ●



die soziale Dimension, womit die direkten Wirkungen des eige­ nen Handelns oder auch Unterlassens auf andere Menschen und das menschliche Zusammenleben insgesamt berücksichtigt wer­ den, die ökologische Dimension, womit die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevanten Wirkungen des eigenen

Vgl. z. B. Mk 3,35: »Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.«

247

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung



Handelns oder auch Unterlassens auf die Umwelt berücksich­ tigt werden, die ökonomische Dimension, womit die für Menschen und das menschliche Zusammenleben relevanten wirtschaftlichen Fol­ gen des eigenen Handelns oder auch Unterlassens berücksich­ tigt werden.

Im Zuge der ihnen übertragenen Verantwortung stehen Führungs­ kräfte vielfach unter Organisations- und Ergebnisdruck. An sie werden Anforderungen auf unterschiedlichen Ebenen gestellt (z.B. von Seiten der Mitarbeiter oder der Geldgeber). Gleichzeitig ste­ hen sie unter besonderer Beobachtung (z.B. durch Mitarbeiter oder andere Führungskräfte). Sie sind dabei aufgefordert immer wieder auf Veränderungen zu reagieren (z.B. Veränderung der Konkurrenzoder Arbeitsmarktsituation) und somit den Organisationserfolg zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang sind besonders vier Fähigkeiten von großer Bedeutung, um angemessen den Aufgaben in Unternehmen nachkommen zu können und für die mitarbeitenden Personen als Autorität tiefer gehende Anerkennung zu erfahren. Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft bilden die Vorausset­ zung für die Aneignung von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie für die aktive Gestaltung von Strukturen. Selbstführung ist eine wesentliche Grundlage sowohl für Leis­ tungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft als auch für die Überzeu­ gungsstärke. Diese basieren zu einem großen Teil auf Ergebnissen gelingender Selbstführung wie Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, Integrität und Ausstrahlung. Entscheidungsstärke ist eng mit den Aspekten Willenskraft und Überzeugungsstärke verbunden und somit zentral für die Autorität einer Führungskraft. Führen bedeutet mit Blick auf diese Qualität vor allem auch Entscheidungen zu treffen und Klarheit zu vermitteln. Kommunikationsstärke ist ebenso eng mit der Überzeugungs­ stärke verbunden und von besonderer Bedeutung für die Autorität einer Führungskraft. Sie muss situationsgerecht angemessen kom­ munizieren, den richtigen »Ton« treffen. Es geht darum, herauszufin­ den, wie das Gegenüber gestimmt ist – erst dadurch wird Autorität als demokratisch und legitim wahrgenommen.

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3.2.2 Anforderungen an Führungskräfte und die Bedeutung der Achtsamkeit 3.2.2.1 Leistungsfähigkeit und Leistungswerte Die eigene Leistungsfähigkeit wird im Zeitalter der Digitalisierung zu einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal. Daten und Infor­ mationen lassen sich leicht kopieren – gute Mitarbeitende und Füh­ rungskräfte nicht. Für diese Leistungsfähigkeit gewinnen wiederum bestimmte Aspekte an Bedeutung: In einer Zeit, in der Ideen in immer kürzeren zeitlichen Abschnit­ ten Wirklichkeit werden können und der Wettbewerbsvorteil somit im täglichen Umgang mit neuen Herausforderungen und der Entwicklung neuer Lösungen besteht, ist Ideenreichtum und Kreativität sowie Kommunikations- und Vermittlungsfähigkeit zentral für die Leistungsfähigkeit. Eine wichtige Grundlage hierfür bildet geistige Flexibilität sowie Fokussierung und Präsenz. Diese Form der Leistungsfähigkeit in Zeiten des permanenten latenten »Multitasking« für sich und die Mitarbeiter zu erhalten, ist somit eine zentrale Herausforde­ rung für Führungskräfte. Die Frage lautet: Wie können wir die Fokussierung inmitten der potenziell unbegrenzten Aufgaben und Möglichkeiten behalten? Für den Umgang mit Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkei­ ten, wie sie im Zuge der Digitalisierung und Beschleunigung immer mehr zur Normalität werden, ist Ambivalenzkompetenz und Ambiguitätstoleranz von entscheidender Bedeutung.







Bereits Ende des 19. Jahrhunderts benennt beispielsweise das Statut der Carl-Zeiss-Stiftung die zentralen Leistungswerte Erfahrung, Wis­ sen und Kompetenz: »Zu Vorstandsmitgliedern können nur Personen bestellt werden, wel­ che Fachmänner sind in Ansehung entweder wissenschaftlicher oder technischer oder kaufmännischer Interessen des betreffenden Betriebs und bei bestehenden Stiftungsbetrieben nur solche, die außerdem min­ destens schon zwei Jahre innerhalb der letzten vier Jahre bei einem der Betriebe als obere Beamte oder als Sozien der Stiftung tätig waren.«248 248

Abbe (1906), § 26.

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

Erfahrung ist als Leistungswert besonders hervorzuheben, da in der Kombination von Erfahrung und Wissen die Grundlagen für Kompetenz gelegt sind, d.h. die Fähigkeit, Herausforderungen in der richtigen Weise anzugehen. In der philosophischen Tradition ist der Wert der Kompetenz mit der Tugend der Klugheit verbunden. Dabei stehen Überlegungen zu »Klugheit«, »Urteilskraft« oder auch zum »Theorie-Praxis-Verhältnis« noch nicht in einem spezifisch ethischen Kontext. So schreibt Kant: »Dass zwischen Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüp­ fung und des Überganges von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch so vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen; denn zu dem Verstandesbegriff, welcher die Regel enthält, muss ein Actus der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und da für die Urteilskraft nicht wiederum Regeln gegeben werden können, wonach sie sich in der Subsumtion zu richten haben (weil das ins Unendliche gehen würde), so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt.«249

Die ethische Dimension der Werte »Erfahrung« und »Kompetenz« verdeutlicht folgender Umstand aus dem Bereich des Rechts. Nicht jeder Sachverhalt ist und kann gesetzlich geregelt werden. Gleich­ zeitig gibt es Fälle, in denen eine buchstabengetreue Auslegung von Gesetzen größtes Unrecht bewirkt. Von daher erschließt sich der alte Gedanke: Das Verabsolutieren des Rechts kann größtes Unrecht bewirken.250 Die Fähigkeit, in den beschriebenen Fällen eine angemessene Entscheidung zu treffen, basiert auf Erfahrung und Kompetenz und wird in der politischen und der Rechtsphilosophie seit Platon (Politikos) unter dem Begriff der Tugend der Epikie behandelt, also der Tugend, das Geziemende und Angemessene (gr. epieikeia, lateinisch: aequitas) für die konkrete Situation bei der Auslegung des Gesetzes zu treffen. Diese Fähigkeit zeichnet den gerechten Bürger aus, sie ist das bessere Gerechte. Darum nennt Thomas die Epikeia ausdrücklich eine Tugend.251 Das Gleiche gilt analog in der Anwendung von Normen ganz unterschiedlichen Typs. Hier zeigt sich die Bedeutung der Leistungs­ Kant (1968 [1793]), 275. So zitiert bereits Cicero (1994, 33) den alten Grundsatz: »summum ius saepe summa iniuria«. 251 Vgl. Korff (1979), 29ff. 249

250

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werte Erfahrung und Kompetenz. Ebenso deutlich wird im genannten Beispiel die Bedeutung des Werts der Flexibilität; welche aber weit darüber hinausgeht. Flexibilität ist wesentlich für die Anpassung an sich ständig verändernde Rahmenbedingungen und gleichsam Voraussetzung der Kreativität. Diese wiederum hat eine große Bedeutung, weil sie es einer Führungskraft ermöglicht, bei wichtigen Weichenstellungen die neuen Wege oder Lösungen zu finden, die dem Unternehmen eine erfolgreiche Zukunft ermöglichen. Ohne Entscheidungsfähigkeit kann es wiederum nicht gelingen, (rechtzeitig) neue Wege zu beschreiten. Der Wert der Entscheidungs­ fähigkeit dürfte deshalb im Bereich der Führung den klassischen Tugenden des Mutes und der Tapferkeit entsprechen. Obwohl der Mensch die Zukunft zwar in gewisser Weise antizipieren kann, ist er aufgrund seiner Endlichkeit und Begrenztheit nicht imstande, alle Folgen einer praktischen Anwendung, aber auch – was sehr wichtig ist – des Verzichts auf eine Anwendung, vorwegzunehmen. Es braucht also Mut, gefahrenbehaftete Entscheidungen zu treffen. Dabei zeichnet es eine Führungskraft aus, nicht zu viel, aber eben auch nicht zu wenig zu riskieren. Gleichzeitig muss die Entscheidungsfähigkeit mit der Eigen­ schaft einer Führungskraft verbunden sein, aus Fehlern zu lernen und dies auch bei ihren Mitarbeitern zuzulassen. Das schafft innere Frei­ heit für Entscheidungen und fördert gleichzeitig Kreativität und Kom­ petenz. Flexibilität und Kreativität benötigen auf der anderen Seite, sozu­ sagen als ihr Gegenstück, die Beharrlichkeit. Sonst besteht die Gefahr, Vorhaben bereits bei kleineren Widerständen abzubrechen und auf diese Weise das Unternehmen zu gefährden. Damit verbunden ist die Fähigkeit, die richtige Balance zwischen Flexibilität und Beharrlich­ keit im Blick auf unternehmerische Arbeitsfelder zu finden. Das rechte Maß verhindert, dass ein Unternehmen zu rasch expandiert (Bsp. Schleckers Krise im Jahr 2004) oder aber fälschlicherweise darauf verzichtet, neue Geschäftsfelder zu erschließen (XEROX PARC und die fehlende Verwertung revolutionärer Technologien). Unter die zentralen Leistungswerte zählen auch Disziplin und der mit der Disziplin verbundene Fleiß. Das Sprichwort »ohne Fleiß kein Preis« gibt eine grundlegende Menschheitserfahrung wieder. Obwohl gerade die Genialität oftmals darüber entscheidet, ob eine Unternehmung gelingt oder nicht, bleibt Genialität ohne Erfahrung

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

und Kompetenz, welche oftmals harter Arbeit geschuldet sind, zielund wirkungslos. Wie lässt sich das Gesagte in Bezug auf die Grundwerte zusam­ menfassen? Leistungswerte sind eng mit ökonomischer Nachhaltig­ keit verbunden. Die Bedeutung dieser Nachhaltigkeitsdimension als Grundlage für Menschenwürde, Menschenrechte und Gerechtigkeit wurde bereits angesprochen. Gleichzeitig zeigen die Ausführungen, dass Leistungswerte wie etwa Erfahrung und Kompetenz auch direkte Bedeutung für die Verwirklichung von Menschenwürde, Menschen­ rechten sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit in ihren drei Dimen­ sionen besitzen. Aufgrund der Bedeutung der Leistungsfähigkeit rückt die Erhal­ tung der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zunehmend in den Fokus. Dies ist eng mit dem Konzept der Resilienz verbunden. Die Wirtschaftspsychologin Jutta Heller beschreibt die Notwendig­ keit dieser Schlüsselkompetenz insbesondere für Führungskräfte mit den Worten: »Fast jeder Tag bringt im Unternehmensalltag Veränderungen; und die kommen selten als warmer Rückenwind. Eher blasen sie uns ins Gesicht. Das Klima wird rauer [...]. Der innere und äußere Druck für Führungskräfte in solchen Situationen steigt. Innerlich entstehen Entscheidungsnöte, Ambivalenzen, die je nach Situation zudem als Krise empfunden werden können.«252

Eine Stärkung der Resilienz hängt mit einem unter dem Begriff »Burn-out« zusammengefassten Problemfeld zusammen. Dieses fin­ det in vielen Organisationen vermehrt Beachtung und wird wiederum mit der im Zuge der Digitalisierung auftretenden Beschleunigung in Verbindung gebracht. Auch wenn sich verschiedenste Definitionen unterscheiden lassen,253 stimmen diese darin überein, dass Burn-out die Erschöpfung einer Person beinhaltet oder beschreibt und eng mit Stress verbunden ist. Gerade Leistungsträger fallen durch Burn-out oftmals für längere Zeiträume oder sogar endgültig aus. Ansätze zur Erklärung von Burn-out verweisen deutlich auf die oben beschriebene Arbeitsverdichtung, Mehrfachbelastungen, Zeitmangel, Erosion der Normalarbeit, Flexibilität, permanente Erreichbarkeit und ähnliche

252 253

Heller (2015), 11f. Ehresmann (2016), 20f.

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der oben angesprochenen und mit der Digitalisierung verbunde­ nen Punkte.254 Viele Führungskräfte bewegen sich zudem in einem spontanen, spannungs- und risikoreichen Umfeld. Im Zuge von Digitalisierung und Beschleunigung wird das Handlungsfeld von Führungskräften noch anspruchsvoller. Durch die Verknüpfung bisher getrennter (Geschäfts-)Felder werden zukünftige Entwicklungen noch schwe­ rer planbar. Veränderungen geschehen immer schneller. Ergebnisse müssen oftmals rascher als bisher erzielt und Entscheidungen oft­ mals zügiger getroffen werden. Durch Digitalisierung ist Arbeit und Erreichbarkeit rund um die Uhr möglich (24/7). Vor diesem Hintergrund gewinnt die Selbstführung als Basis von Leistungswerten an Bedeutung. Dies gilt nicht nur mit Blick auf die Selbstorganisation oder das Zeitmanagement, sondern in besonderer Weise auf den Umgang mit Stress. Der beschriebene Handlungskon­ text ist verbunden mit typischen Stressauslösern (Stressoren) wie: äußere Umstände (z.B. Lärm, Unruhe), Ereignisse von außen (z.B. Arbeitsaufgaben), negative Gefühle (z.B. Anspannung, Angst), Worte eines anderen (z.B. Vorwurf, Kritik), Wahrnehmungen (z.B. Aktenberge), aktuelle Gedanken (z.B. Sorgen).

● ● ● ● ● ●

Hierdurch können Stressreaktionen auf verschiedenen Ebenen her­ vorgerufen werden. Dies können Reaktionen im Körper wie z.B. die Beschleunigung des Herzschlages, beobachtbare Verhaltensverände­ rungen wie z.B. der Verzicht auf Pausen oder auch das Auslösen von Gedanken und Emotionen wie z.B. Unruhe und Ungeduld sein.255 Die beschriebenen Reaktionen erfolgen entsprechend vorhande­ ner und evolutionsgeschichtlich geprägter Muster und lassen sich oftmals in die Kategorien Kampf (Fight), Flucht (Flight) oder Erstarren (Freeze) einordnen. Diese Verhaltensmuster führen jedoch in vielen Fällen nicht zu einem situationsangemessenen Verhalten. Durch diese automatischen Wahrnehmungs- und Verhaltens­ muster verliert die Führungskraft zudem Kontrolle über das eigene Verhalten und die Situation. Sie wird vom aktiven Gestalter zum Spielball der Situation. Hierdurch werden eine Selbstführung und 254 255

Ebd., 42. Siehe auch Kaluza (2017), 11ff.

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damit auch die Führung anderer und die Ausübung von Autori­ tät unmöglich. Gerade unter den beschriebenen Bedingungen der Digitalisie­ rung ist die Fähigkeit der Selbstführung im Sinne der Impulskontrolle (z.B. in Bezug auf Kommunikation, Konflikte, Optionen, digitale Medien) daher von ganz besonderer Bedeutung für die erfolgreiche Führung anderer.256 Der bewusste anstatt des reaktiven Umgangs mit konstanter bzw. disruptiver Veränderung sowie das Angebot von Orientierung für andere wird zur wesentlichen Aufgabe von Füh­ rungskräften.

3.2.2.2 Entscheidungsstärke und Kooperationswerte Gerade in von starker Unsicherheit geprägten Handlungskontexten ist es zentral, dass Führungskräfte ihrer Verantwortung nachkommen und Entscheidungen treffen. Diese Aufgabe wird jedoch durch die beschriebene Entwicklung erschwert. Zum einen wird eine klare Situationseinschätzung durch eine wachsende Komplexität und Ver­ änderungsgeschwindigkeit schwieriger. Zum anderen steht in einem Handlungsfeld, in dem immer mehr Entscheidungen pro Zeiteinheit getroffen werden können und müssen, für jede Entscheidung im Durchschnitt weniger Zeit zur Verfügung. Dies kann zum einen die Qualität der Entscheidungen beeinflussen und die Vielzahl der Entscheidungen kann zum anderen die knappe Ressource der Ent­ scheidungskraft überfordern (Decision fatigue). Hiermit ist ein weiterer Aspekt verbunden. Selbst ein einziger Tag ist unter den beschriebenen Bedingungen fast nicht vorher zu planen. Prioritäten müssen immer wieder neu gesetzt werden. Hierzu braucht es eine innere Klarheit der Führungskraft in Bezug auf eigene Werte und Ziele. An Bedeutung für die Entscheidungsstärke gewinnt daher auch die Reflexion von und Orientierung an eigenen Werten. Hier zeigt sich auch die enge Verbindung der Entscheidungsstärke mit Kooperationswerten. Kooperationswerte sind neben den Leistungswerten ein wesent­ licher Verantwortungsbereich einer Führungskraft, da Koopera­ 256 Gerade im Zeitalter von Digitalisierung und Beschleunigung ist es wichtig, dass Führungskräfte Präsenz und Ruhe auf die Mitarbeiter ausstrahlen können – oft geschieht jedoch genau das Gegenteil (z.B. Ungeduld, blinder Aktionismus, aggressive, gereizte Kommunikation etc.).

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tionswerte die Voraussetzungen für den Zusammenhalt einer Organisation schaffen. Aus diesem Grund werden sie auch als Kohä­ sionsfaktoren bezeichnet. Ein wichtiger Kooperationswert ist die Loyalität. Diese bezeich­ net die grundsätzliche Bereitschaft, sich mit den Zielen des eigenen Unternehmens, der eigenen Vorgesetzten und Mitarbeiter zu identi­ fizieren und an deren Erfolg mitzuarbeiten. Der Wert der Loyalität ist in diesem Sinne eng mit dem Wert des Vertrauens verbunden.257 Nur wenn eine Führungskraft sowohl der Leistung als auch der Loyalität eines Mitarbeiters vertrauen kann, kann sie delegieren und so Mitarbeiter fördern und selbst das rechte Maß von Arbeit und Erholung finden. Diese Logik gilt auch umgekehrt – nur wenn sich ein Mitarbeiter auf die Loyalität seiner Führungskraft und seines Unternehmens verlassen kann, ist er bereit im wahrsten Sinne des Wortes »alles« zu geben (z. B. Arbeitskraft, Informationen). Loyalität und Vertrauen sind gleichzeitig mit Zuverlässigkeit verbunden. Führungskräfte und Mitarbeiter können sich nur dann vertrauen, wenn sie sicher sind, dass der jeweils andere zuverlässig ist.258 Die Zuverlässigkeit hat mehrere Facetten: Eine Arbeit gilt als zuverlässig erledigt, wenn sie korrekt abgearbeitet ist und die mit ihr verbundenen Pflichten eingehalten wurden. Der zuverlässige Mitar­ beiter oder auch die Führungskraft zeichnen sich gleichzeitig dadurch aus, dass sie, wenn sie etwas nicht in der vorgesehenen Zeit beenden können, rechtzeitig darüber informieren und Gründe erläutern. Ein weiterer wesentlicher Kooperationswert ist Unparteilichkeit. Sie stellt eine wesentliche Ergänzung des Wertes der Loyalität dar, indem sie fordert, die Unterstützung des einen nicht auf Kosten eines anderen zu verwirklichen. Sie ist damit gleichsam ein Fundament für Vertrauen und langfristige Kooperation, da sie Verlässlichkeit auch in schwierigen Zeiten einer Kooperationsbeziehung verspricht. Der Kooperationswert Unparteilichkeit wird durch den Wert des Gönnenkönnens ergänzt. Dieser meint die innere Freiheit, dem ande­ ren die jeweilige Bezahlung, die Rolle im Unternehmen usw. nicht zu neiden, sondern sich über dessen Erfolg zu freuen. Seine Bedeutung für gelingende Kooperation kann nicht überschätzt werden. 257 Zu dessen großer Bedeutung in der Organisationsforschung siehe z. B. Kramer/ Cook (2004). 258 Zu weiteren »Feinden« des Vertrauens siehe z. B. Galford/Seibold Drapeau (2002), 43ff.

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Mit den Fähigkeiten, anderen etwas gönnen und ihnen unpar­ teilich begegnen zu können, ist gleichsam das Fundament eines gerade in der Führungsbeziehung bedeutsamen Wertes grundgelegt: der Konfliktfähigkeit.259 Wer sich bewusst ist, dass er dem anderen unparteilich begegnen und diesem etwas gönnen kann, wird Konflikte aushalten, ohne sich selbst den Vorwurf machen zu müssen, aus falschen Motiven Streit vom Zaun gebrochen zu haben. Der Konflikt hat dann einen Grund in der Sache und nicht in der Person. Hierdurch fällt es leichter, eine für beide Seiten tragfähige oder sogar vorteilhafte Lösung (Win/Win) zu finden.260 Konfliktfähigkeit ist zugleich Voraussetzung und Folge von Durchsetzungsfähigkeit. Wer nicht bereit ist, Konflikte auszuhalten, wird sich auf lange Sicht nicht durchsetzen können. Wer umgekehrt die Fähigkeit hat, sich durchzusetzen, wird die Kraft haben, Konflikte zu akzeptieren und auch eigene Positionen in Frage zu stellen. Für langfristige Kooperationen ist das konstruktive Austragen von Kon­ flikten elementar. Der Wert der Rücksichtnahme ergänzt die Konfliktfähigkeit. Wer rücksichtsvoll ist, wird sich in Konflikten so verhalten, dass der andere sein Gesicht wahren kann und so die Brücke für weitere Koopera­ tionen erhalten bleibt. Freilich erschöpft sich Rücksichtnahme nicht darin. Es gibt nämlich über Konflikte hinaus eine Fülle von Gelegen­ heiten, sich als rücksichtsvoll zu erweisen und damit Kooperationen zu fördern. Wer die genannten Kooperationswerte verwirklicht, erweist sich als eine souveräne Persönlichkeit. Diese Souveränität bildet in diesem Sinne das Fundament der genannten Werte, da sie es erlaubt, sich sowohl unparteilich Konflikten zu stellen als auch sich selbst zurück­ zunehmen und anderen etwas zu gönnen und damit Vertrauen zu geben und zu erarbeiten. Wie lässt sich das Gesagte in Bezug auf die Grundwerte zusam­ menfassen? Im Unternehmenskontext sind die Kooperationswerte direkt mit ökonomischer Nachhaltigkeit verbunden. Die Verwirk­ lichung der Kooperationswerte trägt jedoch gleichzeitig sehr direkt dazu bei, Menschenwürde, Menschenrechte sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Führungsalltag zu verwirklichen. Loyalität, Unparteilichkeit, Gönnenkönnen und Rücksichtnahme bilden zen­ 259 260

Vgl. Hentze et al. (2005), 393ff. Vgl. auch Covey (1990), 204ff.

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trale Grundlagen der Gerechtigkeit und sind lebendiger Ausdruck der Achtung der Menschenwürde.

3.2.2.3 Kommunikationsstärke und Kommunikationswerte Unter den beschriebenen Rahmenbedingungen wächst auch die Bedeutung einer angemessenen Kommunikation. Dies hat verschie­ dene Gründe: Durch die gestiegene Zahl der Interaktionen im selben Zeitabschnitt wird aus Zeitgründen oftmals eher knapp kommuni­ ziert. Zudem werden neue Kommunikationsmedien eingesetzt, wel­ che dazu verleiten, weniger von Angesicht zu Angesicht zu kommuni­ zieren. Hierdurch ist eine zunehmende Zahl von Missverständnissen möglich, da bei einer derartigen medialen Kommunikation weniger Kommunikationssignale empfangen werden können. Arbeitsdichte und schnelle Veränderungen erfordern somit neue Kompetenzen vor allem im Bereich der angemessenen Kommunika­ tion und dem Umgang mit Konflikten. Hier gilt es zu antizipieren, zu realisieren und auch angemessen zu reagieren, sonst wird Zusam­ menarbeit schnell ineffizient und soziales Kapital geht verloren. An Bedeutung gewinnt daher auch die Bewusstheit in der Kommunika­ tion. Ein weiterer Punkt ist zu beachten. Die Beratung und Förderung von Kreativität der Mitarbeiter wird gerade durch Digitalisierung und Beschleunigung und die oben beschriebene Entwicklung besonders bedeutsam. Im Zuge der Digitalisierung wird vernetztes Arbeiten zum Standard und die Fähigkeit, durch angemessene Kommunikation die jeweiligen Partner zu begeistern, als Führungskraft zu beraten, zu fördern und ihre Kreativität zu unterstützen, ist wesentlich für die eigenen Erfolge und somit auch für die eigene Autorität. Führungs­ stärke entsteht in diesen Kontexten durch angemessene Kommuni­ kation und Kommunikationsstärke. Diese ist dabei wieder eng mit Kommunikationswerten verknüpft. Unter Kommunikationswerten versteht man für die Kommu­ nikationsfähigkeit einer Person allgemein als zentral angesehene Faktoren. Kooperations- und Kommunikationswerte sind eng mitein­ ander verbunden. Da jede soziale Interaktion der Mitteilung und Verbindung bedarf, gehören Kommunikationswerte als Grundlage

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für Leistung und Zusammenarbeit in die zentrale Verantwortung der Führungskräfte.261 Achtung und Respekt vor anderen Personen ist Voraussetzung, damit es überhaupt zu einer Kommunikation kommen kann. Der Begriff »Kommunikation« besagt in seiner Grundbedeutung, dass man gemeinsam ans Werk geht (lateinisch: cum = gemeinsam; munus = das Werk, die Aufgabe). Um wirklich gemeinsam ans Werk zu gehen, ist es nötig, einander zu achten und auf diese Weise Gemein­ samkeit zu schaffen. Wer sein Gegenüber nicht achtet, mag zwar mit diesem zusammen eine Aufgabe angehen, aber das Werk wird letztlich nicht als gemeinsames empfunden. Wer mit einem anderen redet, ohne ihn zu respektieren, redet über ihn hinweg, spricht nicht mit ihm, sondern mit sich selbst oder im schlechtesten Fall gegen die andere Person. Achtung oder Respekt zeigen sich deshalb auch in einer Kommu­ nikation, die zugleich geprägt ist von Offenheit und Verschwiegenheit. Nur wer sich dem anderen öffnet, zeigt ihm Achtung. Nur wenn andererseits die Grenzen des Gegenübers ernst genommen werden und ihm deshalb nur die Offenheit zugemutet wird, die er auch verkraften kann, ist wirklicher Respekt realisiert. Respekt bedeutet nämlich wörtlich »wiederholt hinschauen«. Wer wiederholt auf den anderen schaut, wird die richtige Balance zwischen Offenheit und Verschwiegenheit finden und ihn damit überhaupt erst zur Kommu­ nikation einladen. Verschwiegenheit hat darüber hinaus noch eine weitere Dimen­ sion: Wahre, respektvolle Kommunikation zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Beteiligten wissen, was von dem Gesagten nach außen dringen darf und was unter ihnen vertraulich bleiben soll (dabei ist z. B. der Verrat von Geschäftsgeheimnissen nach § 17 UWG sogar strafbar). Ohne zuverlässige Verschwiegenheit des anderen werden oftmals gerade die wichtigen Informationen nicht kommuniziert. Gleichzeitig verlangt gute und gewinnbringende Kommunika­ tion nach Klarheit, die mit gesunder Vorsicht gepaart ist, um andere nicht zu verletzen. Insgesamt gilt es in der Kommunikation Nähe zu anderen herzustellen, ohne die jeweils angemessene Distanz zu verlieren. Dies erfordert ein hohes Maß an Sensibilität.262 Vgl. auch Hentze et al. (2005), 376ff. Die interkulturelle Kommunikation birgt hierbei besondere Herausforderungen (vgl. Bolten 2007). 261

262

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In der Vorsicht zeigt sich sinnvolle Distanz, in der Klarheit ein wichtiger Aspekt von Nähe. Dies gilt analog für Verschwiegenheit und Offenheit. Der Respekt vor anderen kann auch daran gemessen wer­ den, wie freundlich mit dem Gegenüber gesprochen wird. Wesentlich ist hier der Wert des Zuhörenkönnens.263 Wer dem anderen zuhört, gewinnt nicht nur wertvolle Informationen und stellt nicht nur die richtigen Fragen, sondern er zeigt der anderen Person: »Was du mir zu sagen hast, ist wichtig und verdient Aufmerksamkeit«. Achtung, Respekt, Verschwiegenheit sowie Sensibilität und Zuhörenkönnen ermöglichen ökonomisch erfolgreiche und damit nachhaltige Kommunikation in einem Unternehmen. Gleichzeitig realisieren sie die Grundwerte Menschenwürde, Menschenrechte sowie Gerechtigkeit im Kontext der Kommunikation. Sie sind des­ halb so bedeutsam, da ein Großteil unserer Lebensäußerungen und auch unserer Lebenswirklichkeit von Kommunikation (gesprochenes Wort, Medien) bestimmt wird.

3.2.2.4 Konkrete moralische Werte Die Wahrung bestimmter moralischer Werte gehört zur Kernverant­ wortung einer Führungskraft, da sie die Grundlage für ein menschli­ ches Miteinander innerhalb und außerhalb des Unternehmens bildet und dabei gleichzeitig auch eine ökonomische Bedeutung besitzt.264 Die Gesetzestreue ist in gewisser Weise Grundlage aller konkre­ ten moralischen Werte. Wer sich konform mit Gesetzen verhält, erfüllt das moralische Minimum, wenn man unterstellt, dass die Gesetze grundlegenden ethischen Prinzipien nicht widersprechen. Die ökonomische Bedeutung der Gesetzes- und Regeltreue zeigen die vielfältigen Bemühungen im Bereich Compliance.265 Eine ebenfalls fundamentale moralische und auch ökonomische Bedeutung hat der Wert der Vertragstreue. Das mittelalterliche Prinzip »Pacta sunt servanda« gilt bis heute (vgl. auch § 242 BGB). Wer Ver­ träge bricht, erweist sich als unzuverlässiger Partner und zeigt in vie­ len Fällen, wie wenig er sein vertragliches Gegenüber respektiert. Kant266 ging so weit, jede Lüge als einen impliziten Vertragsbruch zu 263 264 265 266

Vgl. z. B. Covey/Merrill (2006), 208ff.; Johnson (1996), 91ff. Vgl. z. B. Lennick/Kiel (2005); Sison (2003). Siehe auch Wieland/Steinmeyer/Grüninger (2010). Vgl. Kant (1968 [1797]).

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

verstehen und deshalb aufs Schärfste zu missbilligen. Selbst einem Amokläufer, der fragen würde, ob sich eine bestimmte Person im Raum befände, weil er diese töten möchte, müsse wahrheitsgemäß geantwortet werden. Wenn nämlich nur in einem Fall eine Ausnahme zugelassen wäre, könnten wir anderen nicht mehr vertrauen. Zu leicht ließe sich immer ein Grund finden, einen Vertrag zu brechen, wie sich auch leicht ein Grund finden ließe, das Gegenüber zu belügen. Der Wert der Vertragstreue ist eng mit dem moralischen Wert der Ehrlichkeit verbunden. Diese besitzt wiederum eine direkte Ver­ bindung zur Authentizität. Wer authentisch ist, verstellt sich nicht und ist ehrlich mit sich selbst. Wer authentisch ist, hat es nicht nötig, sich zu verstellen oder zu lügen, und wird nur Verträge eingehen, die er auch zu halten vermag. Um zu dieser Form von Authentizität zu gelangen, ist Beson­ nenheit vonnöten. Der moralische Wert der Besonnenheit ist auch deshalb von solcher Bedeutung, da ohne ihn die Gefahr groß ist, das Augenmaß zu verlieren und z. B. »ungewollte Grausamkeiten« zu begehen oder eigene Fähigkeiten falsch einzuschätzen und auf diese Weise in Situationen zu gelangen, die eine Überforderung darstellen und dazu verleiten, Verträge zu brechen, zu lügen und sich zu verstellen.267 Die Achtung der anderen Person, welche als Kommunikations­ wert des Respekts zum Ausdruck kommt, ist in Form von Fairness oder gar Fürsorge zugleich ein moralischer Wert. Dabei ist Fairness das geforderte Minimum, Fürsorge das Ideal.268 Wer Mitarbeiter führt, von dem ist, ebenso wie im Bereich des Sports, Fairness gefordert. Fürsorge wird zwar erwartet, aber kann nicht in der gleichen Weise verlangt werden. Fürsorge kennt viele Formen. Ein wesentlicher Aspekt besteht darin, vergeben zu können. Auch wenn in der Wirtschaft nicht gelten kann, dass einem Mitarbeiter immer wieder vergeben wird, hat im Normalfall jeder eine zweite Chance verdient. So erscheinen Baga­ tellkündigungen als entweder überzogen oder als willkommener Vor­ wand, was auch dem Ansehen und dem Vertrauen der Führungskraft schaden kann. Ein weiterer zentraler moralischer Wert besteht in der Fähigkeit, das richtige Maß zu bewahren. Wer zu gierig ist, gefährdet nicht nur 267 268

Vgl. Milgram (2009); Langer (1989), 48ff. Vgl. Albrecht (2008), 105ff.

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sein Unternehmen oder seine eigene Position, sondern bewirkt u. U. auch, dass aufgrund seiner Gier Menschen in ähnlicher Position unter Generalverdacht gelangen. Auch andersherum gilt: Wer zu wenig verlangt oder zu wenig tut, bedroht den Bestand des Unternehmens und gefährdet seine Position. Moralität gründet in einer starken Persönlichkeit. Eine starke Persönlichkeit findet Sinn in ihrem Leben, weiß sich Ziele zu setzen und vermag zu unterscheiden, was Mittel und was Zweck ist. Insofern kann man sagen, dass Sinnorientierung wesentlich für moralisches Verhalten ist.269 Gleichzeitig ist Sinnorientierung Basis für den Leis­ tungswert »Beharrlichkeit« und den Kooperationswert »Zuverlässig­ keit«. Von den moralischen Werten der Gesetzestreue, der Vertrags­ treue und der Fairness führt ein direkter Weg zu den Grundwerten »Gerechtigkeit« und »Achtung von Menschenrechten«. Die Werte »Authentizität«, »Fürsorge«, »Vergebenkönnen« und die Einhaltung des rechten Maßes verwirklichen die Grundwerte »Menschenwürde« und »Nachhaltigkeit«. All dies wird getragen von der Sinnorientie­ rung einer starken Persönlichkeit. Wie die Beispiele zeigen, spielen die genannten moralischen Werte gleichzeitig eine wesentliche Rolle für die ökonomische Nachhaltigkeit. Modellhaft lassen sich zentrale Werte im Hinblick auf die Füh­ rungsverantwortung im dargestellten Werteviereck systematisieren:

269

Vgl. auch Frankl (1994).

206 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

Leistungswerte

Kooperationswerte

•Erfahrung •Wissen •Kompetenz (Klugheit) •Kreativität •Flexibilität •Beharrlichkeit •Aus-Fehlern-Lernen •Disziplin/Fleiß •Entscheidungsfähigkeit

•Loyalität •Konfliktfähigkeit •Durchsetzungsfähigkeit •Rücksichtnahme •Gönnen-Können •Zuverlässigkeit •Unparteilichkeit •Souveränität •Vertrauen

Kommunikationswerte

Moralische Werte

•Respekt •Offenheit •Verschwiegenheit •Klarheit •Vorsicht •Nähe und Distanz •Zuhören-Können •Freundlichkeit •Sensibilität

•Gesetzestreue •Vertragstreue •Fairness •Authentizität/Ehrlichkeit •Besonnenheit •Fürsorge •Vergeben-Können •Rechtes Maß halten •Lebenssinnorientierung

Abbildung 22: Werteviereck (in Anlehnung an Wieland)270

Einige Werte können verschiedenen Bereichen zugeordnet werden. So ist der Kooperationswert »Zuverlässigkeit« eng mit dem moralischen Wert »Vertragstreue« verbunden und besitzt eine moralische Kompo­ nente. Umgekehrt ist die Ehrlichkeit ein wichtiger Kommunikationsund Kooperationswert. Die dargestellte Auswahl zentraler Werte ist für den jeweiligen Anwendungskontext zu ergänzen und zu konkreti­ sieren. Gleichzeitig ist zu beachten, dass das Herz dieses Wertevierecks der grundlegende Wertekomplex von Menschenwürde, Menschen­ rechten sowie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit ist:

270

Vgl. Wieland (2007), 100 unter Zuhilfenahme von Detzer (1992), 12ff.

207 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Abbildung 23: Grundwerte

Allerdings können diese Werte konfligieren. Betrachten wir eine typische Situation.271 Einem Mitarbeiter eines Konzerns wird eine Führungsposition in einer wirtschaftlich schwächelnden Tochterfirma angeboten. Das Angebot ist sehr ehrenvoll, denn es bedeutet, dass dieser Mitarbeiter für einen im kommenden Jahr frei werdenden Vorstandsposten vorgesehen ist, wenn er den Job zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten durchführt. Der Auftrag lautet: Saniere die Toch­ terfirma. Das ist nur möglich, wenn er verdiente Mitarbeiter dieser Tochterfirma entlässt. Die Sachlage wird dadurch noch besonders herausfordernd, dass der junge Mitarbeiter weiß, dass nicht die Toch­ terfirma ihre problematische Lage verursacht hat, sondern der Fehler genau bei dem Vorstand liegt, der seine Zukunft in den Händen hält. Wie soll sich der aufstrebende Mitarbeiter verhalten, wenn er weiß, dass es keine Alternativen gibt? Nimmt er den Job an, kann er die Arbeitsplätze nicht erhalten, einfach deshalb, weil die Konzernmutter dafür kein Geld zur Verfügung stellen wird und das Produkt nicht ergiebig genug ist. Lehnt er den Job ab, so wird er zwar nicht seinen Job verlieren, er wird aber Einbußen in seiner Karriere hinnehmen müssen. Statt in den Vorstand aufzusteigen, wird er nicht einmal mehr zur oberen Führungsebene gehören. Wesentliche Werte kollidieren hier miteinander. Einerseits exis­ tieren Leistungswerte, die einen wichtigen Grund dafür liefern, sich auf diese neue Aufgabe im Sinne des Vorstands einzulassen, anderer­ 271

Das folgende Beispiel ist einer uns bekannten Person konkret so widerfahren.

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

seits moralische Werte wie die Fürsorge, die dem entgegenstehen. Kommunikations- und Kooperationswerte sind in sich gespalten, da Unklarheit darüber besteht, ob in dem Falle dem Vorstand oder den Mitarbeitenden der Tochterfirma Respekt und Loyalität entgegenge­ bracht werden sollte. Letztlich sind die Hauptwerte, die miteinander kollidieren, der moralische Wert der Fürsorge versus dem Leistungs­ wert des eigenen Aufstiegs. Diese Wertekollision lässt sich in der Realität meist nicht dadurch auflösen, dass man den Vorstand überzeugt und die Arbeitsplätze rettet. In vielen Fällen ist es auch nicht so, dass die Entlassungen sogar nötig sind, um den Erhalt des Gesamtunternehmens zu sichern. Wenn ein Management der Werte mehr sein soll als Sophis­ mus, also ein raffiniertes Rechtfertigen eigenen Tuns, ein cleveres Durchsetzen eigenen Erfolgs, wenn neben der institutionellen die Handlungsebene von entscheidender Bedeutung ist und der Ein­ zelne sich nicht aus der Verantwortung stehlen kann, indem er auf bestimmte Zwänge verweist, dann muss er eine Entscheidung treffen, die sich an seinen Idealen orientiert. Wenn sein Ideal ausschließt, für Leistungswerte den Wert der Fürsorge preiszugeben, sollte er sich ein anderes Unternehmen suchen, in dem er seine Ideale besser umsetzen kann. Er weiß zwar, dass sich immer ein ehrgeiziger, nach Aufstieg strebender Mitarbeiter finden lässt, aber dennoch ist er es in diesem Fall sich und seinen moralischen Werten schuldig, diesen Weg einzuschlagen. Auch wenn er dadurch weder Strukturen noch konkrete Unternehmensentscheidungen ändern kann, so hat er doch die Möglichkeit, mit seinen Idealen im Einklang zu bleiben. Geht er dagegen davon aus, dass er diesen Preis, Mitarbeitende zu entlassen, zahlen muss, um größere Verantwortung im Unternehmen überneh­ men und es mittelfristig so ausrichten zu können, dass Leistungswerte und Fürsorge vereinbar werden, könnte er im Unternehmen freilich im Wissen weitermachen, im konkreten Fall eine unangemessene, aber unvermeidbare Entscheidung mitzutragen. Dies nämlich ist das eigentliche Ziel eines Wertemanagements, daran mitzuwirken, dass unsere Welt lebensdienlicher und damit menschenfreundlicher wird, also derartige Entscheidungen nicht aus­ schließlich der eigenen Karriere unterzuordnen.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

3.2.2.5 Achtsamkeit als Grundkompetenz Um die genannten Werte besser zu entwickeln, um also gerade in Konfliktsituationen die angemessene Entscheidung zu treffen, trai­ nieren immer mehr Führungskräfte die für diese Werte wesentliche Fähigkeit, ihr Leben in Achtsamkeit zu gestalten. Das Achtsamkeits­ training ist zu einem Mega-Trend geworden.272 Eine stetig wachsende wissenschaftliche Grundlage bestätigt eine Vielzahl positiver Effekte der Achtsamkeitspraxis.273 Auch wenn die Forschung zur Anwen­ dung der Achtsamkeit noch in den Anfängen steckt und zum Teil noch mit Unzulänglichkeiten behaftet ist, gibt es eine Reihe positi­ ver Befunde.274 Die bereits skizzierte Transformation der Arbeitswelt ist beson­ ders relevant für Menschen in ihrer Rolle als Führende. Zum einen betrifft dies den bewussten Umgang mit den neuen Optionen. Die Vielzahl von Möglichkeiten und hier vor allem diejenige, zu jeder Zeit und an jedem Ort zu arbeiten, führt nicht nur zu dem Gefühl, nie fertig zu sein, sondern tatsächlich zu einer Arbeitswirklichkeit, in der Prozesse nahtlos ineinander übergehen und natürliche Endpunkte nicht mehr erreicht werden. Die von vielen verinnerlichte Philosophie »erst die Arbeit, dann das Vergnügen« trägt immer seltener Früchte oder verschiebt diese in eine unbestimmte und von vielen externen Widrigkeiten abhängige Zukunft. Das Würdigen von Erreichtem wird immer seltener, da Ergebnisse vorläufig bleiben. Die Kultur des Feier­ abends ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Strafe des Sisyphos der griechischen Mythologie erscheint als gesamtgesellschaftliche Grundstimmung – wir werden nicht mehr fertig. Für viele Menschen ist eine permanente Erreichbarkeit gewähr­ leistet. Diese enge Vernetzung und ständige Erreichbarkeit erschwert es, dem eigenen Arbeitsrhythmus zu folgen. Klingelnde Telefone, gefüllte Mail-Postfächer und schnelle vernetzte Prozesse lassen län­ gere ungestörte Arbeitsphasen seltener werden. Online sein entspricht heute für viele dem Normalzustand. Smartphones sind oftmals ein ständiger Begleiter. Damit ist neben der permanenten Vernetzung auch eine permanente Aufnahme von Vgl. Horx (2015). Siehe z. B. Hempel et al. (2014). 274 Zur aktuellen Forschungslage zur Wirkung der Achtsamkeit siehe auch folgende Meta-Studien: Sedlmeier/Loße/Quasten (2018); Young et al. (2018). Zur unter­ schiedlichen Wirkung verschiedener Übungsformen siehe Kok/Singer (2017). 272

273

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Informationen möglich. Nicht die Knappheit von Informationen, sondern deren Fülle wird zum neuen Problem. Hinzu kommt das »addictive software design« der mobilen Geräte, welches es noch schwerer macht, die Informationen in angemessener Weise zu konsu­ mieren. Die Vielzahl der gleichzeitig zu bearbeitenden Prozesse und die Verdichtung der Arbeitsaufgaben, welche von Rosa treffend als Beschleunigung beschrieben wird, bei gleichzeitiger Komplexität und Abhängigkeit von anderen Personen oder Rahmenbedingungen führt fast zwangsläufig zu vielfältigen ungeplanten und unangenehmen Erfahrungen im Verlauf eines Arbeitstages (daily hassles).275 Dies bildet wiederum den Nährboden für chronischen Stress. Für einige besteht die Arbeit in einem permanenten Krisenmodus, welcher nach und nach die intrinsische Motivation zerstört. Dies ist auch mit Blick auf die Gesundheit beachtenswert, da viele Krankheiten damit assoziiert sind, beispielsweise ein deutlich höheres Risiko für einen Herzinfarkt. Die technischen Fortschritte überwinden eine Vielzahl von räum­ lichen und zeitlichen Grenzen. Diese Entgrenzung birgt zum einen eine Suchtgefahr. Ein vielleicht bereits bestehender Hang zu übermä­ ßiger Arbeit kann noch weiter ins Extreme ausgelebt werden und körperlich wie auch sozial gesunde Grenzen dauerhaft überschreiten. Die Herausforderung einer solchen interessierten Selbstgefährdung ist auf den Agenden der Krankenkassen angekommen.276 Die Entgrenzung betrifft zum anderen bisher voneinander getrennte Lebenssphären. Privatleben und Arbeit verschwimmen immer mehr und die Fähigkeit, überall und immer zu arbeiten, wird von uns selbst, von Kollegen oder Vorgesetzten immer wieder auch als Sollen interpretiert. Ein weiterer Aspekt der beschriebenen Arbeitswelt ist nicht nur das häufige Auftreten von ungeplanten Ereignissen, sondern auch die schnelle und zum Teil disruptive Veränderung ganzer Berufsfelder. In dieser Arbeitswelt leistungsfähig und up-to-date zu bleiben stellt eine eigene Herausforderung dar und erscheint mit dem klassischen Konzept des lebenslangen Lernens nur unzureichend beschrieben. Möglicherweise sind in einer solchen Arbeitswirklichkeit auch meh­

275 276

Vgl. Rosa (2005), 124–137; (2016), 13–68. Vgl. z. B. AOK (2020).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

rere unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen – mit entsprechend viel­ seitigen Ansprüchen und notwendigen Abgrenzungen. Neben diesen Entwicklungen der jüngeren Geschichte ist die Führungsrolle seit jeher mit verschiedenen Herausforderungen und Stressauslösern verbunden. Zu nennen ist hier u.a. die Notwendigkeit Konflikte zu klären, Systemdynamiken auszubalancieren oder auch die Sandwichpositionen für mittlere Führungskräfte. Neben der Führungsrolle sind oft weitere Rollen zu erfüllen. Gerade in der Phase des Erwerbslebens befinden sich viele auf einer »Autobahn des Lebens« mit einer gleichzeitigen Verantwortung für Karriere, Eltern, Kinder, Partner oder Ehrenamt. Es gilt viele Bälle erfolgreich in der Luft zu halten. Die beschriebene Arbeitswelt erfor­ dert damit eigene und zum Teil bisher nicht im Fokus stehende Kom­ petenzen. Wie kann eine Grundhaltung entwickelt und gestärkt werden, die Führungskräften einen kompetenten und gesunden Umgang mit diesen Herausforderungen ermöglicht? Eine mögliche Antwort auf diese Fragen gibt Otto Scharmer im Rahmen seiner internationalen Beratungspraxis in global agierenden Unternehmen. »Die knappste Ressource in Ländern wie Deutschland ist nicht techni­ sches oder praktisches Wissen – es ist Transformationswissen, also die Fähigkeit, sich selbst zu sehen, zu reflektieren und zu entwickeln als Individuum, Team, Institution und System.«277

Dieses Transformationswissen bezeichnet Scharmer auch als »verti­ kale Alphabetisierung«.278 Vor diesem Hintergrund gibt es eine Reihe von Pionieransätzen zur Integration von Achtsamkeitsprogrammen in Organisationen. Dies erfolgt sowohl Bottom-up als auch Topdown. Beispiele sind Google, General Mills, Upstalsboom und SAP. Auch bei Bosch gibt es unter der Leitung von Petra Martin (Leite­ rin des Kompetenzzentrums Leadership) umfangreiche MindfulnessProgramme im Bereich Robert Bosch Automotive Electronic (AE). Aus einigen dieser Initiativen entwickeln sich Institute, welche die Ansätze in weitere Organisationen tragen. Prominente Beispiele sind das aus der Google Initiative entstandene »Search Inside Yourself Scharmer (2015), 231. Scharmer (2018) in https://www.huffpost.com/entry/education-is-the-kindli ng-of-a-flame-how-to-reinvent_b_5a4ffec5e4b0ee59d41c0a9f, zuletzt aufgerufen am 08.04.2022. 277

278

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Leadership Institute« und das aus den Programmen bei General Mills hervorgegangene »Institute for Mindful Leadership«. Das Thema ist auch im »Olymp« der Weltwirtschaft angekom­ men. So stellten sowohl John Kabat-Zinn als auch Richard Davidson und Tanja Singer ihre Achtsamkeitsforschung und Praxis anlässlich des »World Economic Forum« 2015 in Davos vor. Die meistrezip­ ierte Definition stammt dabei von Kabat-Zinn. Achtsamkeit ist »the awareness that emerges through paying attention on purpose, in the present moment, and nonjudgmentally to the unfolding of experience moment by moment.«279 Auch an nationalen und internationalen Hochschulen (z.B. Jena, Oxford) steigt das Interesse an der Erforschung und Umsetzung von Achtsamkeitspraxis. Immer mehr wird Achtsamkeit hierbei auch als Grundlage und Bedingung guter Führung verstanden und an (Wirt­ schafts-)Hochschulen zumeist unter dem Begriff »Mindful Leader­ ship« gelehrt. Beispiele sind hier die Drucker Management School (USA) und die Maastricht University (Niederlande) sowie die Univer­ sität Witten/Herdecke und die Universität Jena in Deutschland.280 Im Rahmen dieser Entwicklung entstehen erste umfangreichere Konzepte des Mindful Leadership durch Janice Maturano281 oder auch Paul J. Kohtes und Nadja Rosmann282. Auch die von Claus Otto Scharmer283 entwickelte »Theorie U« kann in dieser Weise verstanden werden. Diese Konzepte konzentrieren sich auf unterschiedliche Teil­ aspekte der Umsetzung von Mindful Leadership. Was sind damit Elemente der Achtsamkeit?284 Zentral ist eine echte Präsenz mit allem, was da ist. Diese Präsenz ist nicht mit Urteilen identifiziert und nimmt die Dinge von Moment zu Moment immer wieder frisch mit Anfängergeist wahr. Achtsamkeit geschieht über die eigenen Sinne. Diese echte Besinnung ermöglicht eine Fokus­ Kabat-Zinn (2013), 145. Das Modellprojekt »Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft« ent­ wickelt und erforscht unter dem Titel »Mindful Leadership @ University« Kurse für Führungskräfte an Thüringer Hochschulen. Das Projekt wurde gemeinsam initiiert von der Ernst-Abbe-Hochschule Jena, der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie der Technischen Universität Ilmenau. Weiterführende Informationen unter: www.ach tsamehochschulen.de (zuletzt aufgerufen am 29.04.2022). 281 Vgl. Marturano (2015a und b). 282 Vgl. Kohtes/Rosmann (2014). 283 Vgl. Scharmer (2018). 284 Vgl. Albrecht (2015b), 132f. Vertiefend siehe auch Brown/Creswell/Ryan (2012); Ie/Ngnoumen/Langer (2014). 279

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verschiebung vom »Tun« im Sinne eines Erledigens zu einem »Sein« und ist damit eng mit Lebendigkeit und Genussfähigkeit verbunden. Grundlage einer so beschriebenen Präsenz ist es, Abschweifen zu bemerken und in diesem Sinne Aufmerksamkeit zu üben. In diesem Prozess entsteht Selbstwahrnehmung und -erkenntnis. Indem diese Präsenz bereit ist alles so wahrzunehmen, wie es ist, beinhaltet sie neben Offenheit und der Fähigkeit, Vorurteile loszulassen auch Zuwendung, Akzeptanz und Achtung. Gleichzeitig bringt sie ein Vertrauen sich selbst und dem Entstehen gegenüber zum Ausdruck. Achtsamkeit ist hierbei eine (natürliche) Grundhaltung, die Menschen bereits in unterschiedlichem Maße mitbringen und kulti­ viert haben. Achtsamkeit ist zudem unabhängig von der äußeren Form ihrer Praxis und kann sowohl in Achtsamkeitsübungen auftre­ ten als auch in ganz alltäglichen Aktivitäten. Achtsamkeit muss somit nicht mit bestimmten Techniken verbunden werden, wobei diese die Einübung einer entsprechenden Grundhaltung unterstützen können. Achtsamkeit in der hier verwendeten Form ist kein neues Wort für »richtig« im Sinne fester Moralvorstellungen und starrer Vorga­ ben. Achtsamkeit bedeutet hier jedes Mal aufs Neue hinzuschauen, hinzuspüren. Was ist jetzt da und was ist jetzt angemessen? Was bedeutet dies für das Verständnis von Mindful Leadership? Mindful Leadership bedeutet in der wörtlichen Übersetzung achtsame Führung. Mindful Leadership ist damit entsprechend des dargestell­ ten Verständnisses von Achtsamkeit eine (natürliche) Grundhaltung, welche Menschen bereits in unterschiedlichem Maße mitbringen und kultiviert haben und in ihr Führungshandeln integrieren. Mindful Leadership ist zudem unabhängig von der äußeren Form und kann in ganz unterschiedlichen Führungsaktivitäten zum Ausdruck kommen. Mindful Leadership muss somit auch nicht an bestimmte Führungs­ techniken gebunden sein. Auch hier können diese die Einübung einer entsprechenden Grundhaltung jedoch unterstützen. Diese Grundhal­ tung der Führung zeichnet sich durch die oben dargestellten Charak­ teristika der Achtsamkeit aus: ● ● ● ● ● ●

echte Präsenz, nicht mit Urteilen identifizieren, Anfängergeist, Besinnung, Lebendigkeit und Genussfähigkeit, Seins-Orientierung,

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● ● ● ● ● ●

Abschweifen bemerken, Aufmerksamkeit, Selbstwahrnehmung und -erkenntnis, Offenheit und Loslassen, Zuwendung, Akzeptanz und Achtung sowie Vertrauen.

Doch ist Achtsamkeit überhaupt erlernbar und ist es damit für alle Führungskräfte als praktischer Weg der Führung zugänglich? Wie sind die wissenschaftlichen Befunde? Nach Siegel gilt: »This lifeenhancing facility of the mind develops as a skill that promotes flex­ ibility and resilience, within ourselves and within our relationships with others. The basic ingredients of well-being and compassionate social living are, in fact, teachable.«285 Auch viele weitere Studiener­ gebnisse, z.B. die von Daniel Goleman und Richard J. Davidson286, zeigen, dass Achtsamkeit mithilfe von Übungen systematisch gestärkt werden kann. Mit MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction/Stressbewäl­ tigung durch Achtsamkeit) existiert ein anerkanntes Übungsfor­ mat. Das achtwöchige Schulungsprogramm baut auf traditionellen Achtsamkeitsübungen auf und umfasst Übungen zu achtsamer (Körper-)Wahrnehmung, achtsamer Kommunikation und achtsamer Bewegung. Zudem werden Hintergründe zu Stress, Stressentstehung und Prävention sowie Achtsamkeit vermittelt. Wichtig ist neben den Übungen immer auch der Austausch zu den eigenen Erfahrungen mit der Achtsamkeitspraxis.287 Das Programm wird in zahlreichen wissenschaftlichen Studien empirisch untersucht und ist im Verlauf der letzten 35 Jahre gut erforscht worden. Nachweise für dessen Wirksamkeit liegen sowohl auf Ebene subjektiver Angaben von Probanden und beobachteter Ver­ haltensveränderungen als auch auf Ebene der Hirnfunktionalität und Hirnstruktur sowie körperlicher Marker, wie z.B. peripherer körperli­ cher Reaktionen, Stresshormonen und Immunparametern, vor.288 Ziele des Achtsamkeitstrainings sind es, die Aufmerksamkeit zuverlässig zu lenken, die Gegenwart bewusst wahrzunehmen und die eigenen Reaktionsweisen auf Ärger und Stress spüren, überprüfen 285 286 287 288

Siegel (2007), 259. Vgl. Goleman/Davidson (2018). Vgl. Kabat-Zinn (2013), der dieses Programm entwickelt hat. Vgl. beispielhaft bezüglich Krebserkrankungen: Piet et al. (2012).

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und ggf. verändern zu können. Daneben sollen eigene Denkmuster und stressverschärfende Einstellungen kennengelernt werden – auch um diese zu verändern. Das Training dient ebenfalls dazu, Kontakt zu den eigenen Körperempfindungen aufzunehmen, Bedürfnisse zu erkennen und zu lernen, für sich sorgen zu können. Auf der Grundlage des MBSR-Programms entstanden weitere Trainingsformate wie das Search-Inside-Yourself-Programm (SIY), das Erkenntnisse der emotionalen Intelligenz integriert. Das »Trai­ ning Achtsamkeit am Arbeitsplatz« (TAA) nutzt unter anderem Aspekte der Progressiven Muskelentspannung und arbeitet mit kür­ zeren Übungsformaten, um Achtsamkeitsübungen besser in den Arbeitsalltag integrieren zu können.289 Insgesamt ist damit festzuhalten, dass die Grundhaltung des Mindful Leadership mit Hilfe von speziellen Trainings gestärkt wer­ den kann. Abhängig vom Führungskontext existieren bereits ver­ schiedene Trainingsprogramme. Inwieweit kann dies jedoch unter den Bedingungen der Digitalisierung und Beschleunigung einen Beitrag zur Stärkung der weiter oben beschriebenen Faktoren personaler Autorität sowie eines gelingenden Wertemanagements leisten? Mindful Leadership mit Hilfe von MBSR fördert die kognitive Leistungsfähigkeit und stärkt die Resilienz aufgrund neuroprotekti­ ver Wirkungen. Zudem wird Flexibilität, Ideenreichtum und Krea­ tivität gestärkt, verbunden mit einer besseren Präsenz. Grundlage einer echten Präsenz ist es, ein Abschweifen zu bemerken und in diesem Sinne Aufmerksamkeit zu üben. In diesem Prozess werden eigene Verhaltensmuster deutlicher und es entstehen Selbstwahrneh­ mung und Selbsterkenntnis. Indem diese Präsenz bereit ist alles so wahrzunehmen, wie es ist, beinhaltet sie neben der Praxis der Offen­ heit und der Fähigkeit, Vorurteile loszulassen, auch Zuwendung, Akzeptanz und Achtung. Gleichzeitig bringt sie ein Vertrauen sich selbst und dem Entstehen gegenüber zum Ausdruck. Die Kultivie­ rung der Selbstwahrnehmung bildet somit die Basis für Selbstregu­ lation, Selbstfürsorge und Selbsterkenntnis. Ist die Grundhaltung zugewandt, akzeptierend und achtungsvoll, prägt dies die Qualität des Verhältnisses zur und des Verhaltens in der Welt. Es wurde von Rüdiger Standhardt und Cornelia Löhmer entwickelt. Das Projekt »Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft« entwickelt diese Formate weiter, um sie an Hochschulen zielgenau einsetzen zu können. Weiterführende Informationen finden sich unter www.achtsamehochschulen.de (zuletzt aufgerufen am 31.07.2022). 289

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In Bezug auf die beschriebene Herausforderung von Selbstkon­ trolle und Selbststeuerung bietet die Stärkung der Achtsamkeit und das Kennenlernen eigener Verhaltensmuster die Chance, in entschei­ denden Situationen nicht in alte Muster und Automatismen zu verfallen, sondern immer wieder prüfen zu können, welche Reak­ tion angemessen und zielführend ist. Gepaart mit der Stärkung der Offenheit und Kreativität entsteht so eine höhere Chance auf geeignetere Lösungen.290 Achtsamkeit kultiviert einen klaren unverstellten Blick auf die aktuelle Situation. Die damit verbundene Offenheit ermöglicht es, Muster schneller zu bemerken und die Kontextabhängigkeit von Entwicklungen und Entscheidungen besser erkennen zu können und so gerade mit Blick auf eine wachsende Vernetzung angemessener zu reagieren und zu agieren. Gleichzeitig wird durch den unverstellten Blick klarer, wann eine Entscheidung überhaupt notwendig oder möglich ist. Somit wird die Entscheidungslast reduziert. Achtsamkeit trägt durch die mit ihr verbundene Klarheit auf der anderen Seite auch dazu bei, schneller zu erkennen, dass unter bestimmten Umständen Entscheidungen getroffen werden müssen und unterstützt damit die Entscheidungsstärke. Auch die durch Acht­ samkeit geförderte Intuition kann hier eine große Hilfe darstellen.291 Die gesteigerte Sensibilität für die Kontextabhängigkeit von Entscheidungen unterstützt eine neue »Fehlerkultur« und kann die Erkenntnis fördern, dass Entscheidungen, die in der Vergangenheit richtig schienen, nicht aufgrund persönlicher Fehler, sondern auf­ grund neuer Rahmenbedingungen verändert werden müssen. Auch dies kann entlasten und den Mut fördern, sich neuen Bedingungen anzupassen. Unterstützt wird dies durch die mit der Achtsamkeit verbundene Bewusstheit, Reflexion und Orientierung an eigenen Werten. Dies ist eng mit dem Begriff der Integrität verbunden, welche die Entscheidungsstärke und die personale Autorität in hohem Maße unterstützen kann. Im Zuge des Achtsamkeitstrainings kann es auch zu einer sin­ kenden Identifikation mit Selbstbildern kommen und ein echtes Selbstbewusstsein kann entstehen. Die mögliche Rolle der Achtsam­ keit beschreibt Bill George in folgender Weise: 290 Bei Albrecht (2015b), 137f. finden sich hierbei noch einmal ausführlichere Über­ legungen zur Bedeutung der Selbstkontrolle und zur förderlichen Rolle der Achtsam­ keit. 291 Vgl. Kohtes/Rosmann (2014), 135ff.

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»When you are mindful, you’re aware of your presence and the ways you impact other people. You’re able to both observe and participate in each moment, while recognizing the implications of your actions for the longer term. And that prevents you from slipping into a life that pulls you away from your values.«292

Die mit der Achtsamkeit verbundene Präsenz mit allem was da ist, ist auch für eine gelingende Kommunikation von entscheidender Bedeu­ tung. Sei es eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht oder auch eine Kommunikation in elektronischer Form. Es bedeutet nicht nur eine Präsenz mit den Signalen des Kommunikationspartners, sondern auch eine Präsenz mit den eigenen inneren Prozessen und Reaktionen. Diese Präsenz kann es ermöglichen, nicht in reaktive Verhaltensmuster zu fallen, sondern in Kenntnis eigener Muster angemessen zu kommunizieren. Gleichzeitig hilft die wachsende Bewusstheit eigener Muster dabei, auch die Muster anderer Kommunikationspartner eher zu erkennen und würdigen zu können. Für eine gelingende Kommunikation ist es auch hilfreich, sich nicht mit Urteilen zu identifizieren oder auch diese Identifizierung bewusster wahrzunehmen und in diesem Sinne in ein offenes Gespräch eintreten zu können. Ting-Toomey293 stellt den Unterschied zwischen einem »Mindless stereotyping« und einem »Mindful ste­ reotyping« im Kontext der interkulturellen Kommunikation dar. Die zentrale Veränderung der Achtsamkeit besteht hierbei nicht darin, dass keine Vorurteile vorhanden sind, sondern dass die Bereitschaft dafür besteht, neue Informationen offen aufzunehmen und vorge­ fasste Kategorien zu verändern. Durch eine gestärkte Präsenz in der Kommunikation entsteht Selbstwahrnehmung und -erkenntnis auch für das eigene Kommuni­ kationsverhalten. Indem diese Präsenz bereit ist alles so wahrzuneh­ men, wie es ist, beinhaltet sie wie bereits erwähnt neben Offenheit und der Fähigkeit, Vorurteile loszulassen, auch Zuwendung, Akzep­ tanz und Achtung des Kommunikationspartners. Gleichzeitig bringt sie ein Vertrauen sich selbst und dem Entstehen gegenüber zum Ausdruck. All dies sind Charakteristika sowohl der Achtsamkeit als auch einer gelingenden Kommunikation. 292 Bill George, Harvard Business School, Ehemaliger CEO Medtronic in Gelles (2015), 184. 293 Vgl. Ting-Toomey (1999).

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Die wachsende Fähigkeit »zu sein«, fördert dabei auch die für die Kommunikation zentralen Elemente der Geduld und des Zuhö­ rens. Neben dem Sprechen ist das Zuhören(können) von zentraler Bedeutung für Führung und Autorität. Zentral ist hierbei auch der angemessene Umgang mit Konflikten, seien es eigene Konflikte oder Konflikte zwischen Mitarbeitern oder anderen Stakeholdern. Auch hier kann die soeben beschriebene Grundhaltung sehr unterstützend sein. Von daher ist es von großer Bedeutung einzuschätzen, ob Perso­ nen, die für Führungsaufgaben vorgesehen sind, achtsame Menschen sind, die grundlegende Anforderungen an Führungskräfte verwirkli­ chen. Vergleichbar einer Technikfolgenabschätzung ist vor diesem Hintergrund eine Personenfolgeneinschätzung von Nöten.

3.2.3 Personenfolgeneinschätzung (PFE) Eine Personenfolgeneinschätzung überprüft im Unterschied zu einem Assessment-Center, ob Führungskräfte in Unternehmen bzw. Perso­ nen, die für Führungsaufgaben in Unternehmen vorgesehen sind, dieser Aufgabe charakterlich vor dem Hintergrund eines eng mit einer Kultur der Achtsamkeit und den Grundlagen einer Achtsam­ keitspraxis verbundenen Wertegerüsts gewachsen sind. Zu diesem Zweck sind der Stand und die Entwicklungsmöglichkeiten mittels einer Einschätzung mittelbarer und unmittelbarer Folgen aufgrund von Charakterzügen und Wertegerüst der betreffenden Person zu bestimmen. Diese Folgen sind nicht mit den definierten Werten und Zielen im üblichen Sinn von Assessment-Centern abzugleichen, son­ dern mit denen einer wertorientierten Führung im Sinn der MindfulLeadership-Wertorientierung, die, wie oben gezeigt, auf eine lange Tradition zurückgreifen kann, von Benedikt von Nursia über Igna­ tius von Loyola bis hin zur Existenzanalyse und psychoanalytischen Erkenntnissen.294 In dieser Tradition werden als ein gemeinsamer Nenner wesentliche Risikofaktoren (Fehlhaltungen) von Menschen thematisiert, die Fehlentscheidungen begünstigen und so Personen, um das Beispiel der Benediktregel aufzugreifen, für eine bestimmte Position (Abt) als ungeeignet erscheinen lassen.295 Eine PFE versucht 294 295

Vgl. Ignatius de Loyola (1991), Frankl (1994). Vgl. Benedikt von Nursia (1931), Kap. 64.

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also, wesentliche Risikofaktoren, aufgrund derer Führungskräfte und Mitarbeiter gegen Regeln verstoßen oder Werte nicht leben, zu identifizieren. Sie hat damit einerseits ein zugleich bescheideneres und andererseits ambitionierteres Ziel als ein Assessment-Center, weil sie auf folgende Ausschlusskriterien hin prüft: ● ● ● ● ● ● ● ●

Angst (Gegenpol: Souveränität) Aufgeregtheit (Gegenpol: Ausgeglichenheit) Maßlosigkeit (Gegenpol: Augenmaß) Engstirnigkeit (Gegenpol: Offenheit) Eifersucht/Neid (Gegenpol: Gönnenkönnen) Argwohn (Gegenpol: Vertrauen) Theatralik/Eitelkeit (Gegenpol: Authentizität) Sinndissonanz (Gegenpol: Sinnerfülltheit) Personenfolgeneinschätzung (PFE)

Analyse von Stand und Entwicklungsmöglichkeiten

Abschätzung von mittel- und unmittelbaren Folgen (Charakterzügen und Wertegerüst)

Bewertung dieser Folgen aufgrund definierter Werte und Ziele

Erarbeitung von Weiterbildungs- und Fördermaßnahmen bzw. alternativ Empfehlung, sich nicht als Führungskraft zu versuchen

Abbildung 24: Personenfolgeneinschätzung

Ein sinnvolles Analyseverfahren könnte das Gefährdungspotenzial von Führungskräften, nicht nur in Unternehmen, sondern beispiels­ weise auch beim Militär, in folgender Weise untersuchen:296 ● ●

biographische Interviews, um objektive Fakten zu ermitteln, critical incident interview, um das Verhalten in Erfolgs- und Misserfolgssituationen auf dessen Ursachen hin herauszuarbei­ ten,

Wir danken posthum Andreas Eisele, der entscheidend an der Entwicklung dieses Verfahrens beteiligt war.

296

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● ●

vertiefendes Persönlichkeitsinterview, um gezielt bestimmte Aspekte aus Leben und Umfeld in die Bewertung einzubezie­ hen sowie ein psychometrisches Verfahren, das mit Hilfe von Fragen darauf abzielt, Motivation und Sinn in der Arbeit, bio-psy­ cho-soziale Belastung, stressfördernde Einstellungen, stressför­ dernde Verhaltensmuster, Salutogenese und somatoforme Stö­ rungen zu erkennen.

Aus den Analyseergebnissen ist ein vertrauliches Gutachten zu erstellen und im Rahmen eines Feedbackgesprächs zu erläutern. Der Führungskraft werden besondere Lernfelder aufgezeigt und Handlungsempfehlungen gegeben. Diese erstrecken sich von Wei­ terbildungsmaßnahmen und Training über Coaching bis hin zur Übertragung von Projekten und zu (Förder-)Versetzungen. Optional erfolgt nach einer vereinbarten Zeit ein Follow-up-Gespräch, in dem die Lernfortschritte evaluiert werden. Auf der Identifikation dieser Risikofaktoren basiert die Durch­ führung des ersten und elementaren Schrittes einer PFE. Ziel ist es, das »Wer der Verantwortung« in seiner Verantwortungsbelastbarkeit einzuschätzen, d. h. in seiner Fähigkeit, den angesprochenen Werten als »Weswegen der Verantwortung« gerecht zu werden. In welchem Verhältnis stehen die genannten Risikofaktoren zu einem verantwortungsvollen Führungsverhalten? Angst wirkt sich negativ auf verschiedene Leistungswerte aus. Insbesondere die Werte »Kreativität« und »Flexibilität«, aber auch die Entscheidungsfähigkeit werden durch Angst eingeschränkt. Ängstli­ ches Verhalten kann dazu führen, bestimmte Ideen gar nicht erst zuzulassen oder umzusetzen oder in kritischen Situationen Entschei­ dungen auf die lange Bank zu schieben und so den Bestand des Unternehmens zu gefährden. Auch die Kooperations- und Kommunikationswerte werden durch Angst bedroht. Angst verhindert Offenheit und führt zu über­ triebener Vorsicht, sie lässt Sensibilität für die Bedürfnisse des ande­ ren kaum zu. Der besonders wichtige Kooperationswert »Vertrauen« kann in einem Klima der Angst nicht entstehen. Wer ängstlich ist, wird nicht souverän auftreten und wird Konflikt- und Durchsetzungs­ fähigkeit vermissen lassen. Angst gefährdet aber auch die Verwirklichung moralischer Werte: Wer ängstlich ist, dem fällt es schwer, authentisch zu sein, das heißt, sich zu zeigen, wie er ist. Angst behindert ebenso die Fürsorge

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für andere, weil der Ängstliche auf sich fokussiert ist und deshalb den anderen kaum im Blick hat. Ein weiterer Risikofaktor ist die Aufgeregtheit. Wer aufgeregt ist, dem gelingt es oft nicht, Kompetenz zu zeigen, also in der entspre­ chenden Situation das Richtige zu tun und somit einen zentralen Leistungswert umzusetzen. Auch wird er kaum dem anderen zuhören können und somit wesentliche Kommunikationswerte wie Freund­ lichkeit und Sensibilität vermissen lassen. Aufgeregtheit steht im Gegensatz zum Kooperationswert der Souveränität und lässt Zweifel an der Zuverlässigkeit einer Person entstehen. Sie kann dazu führen, dass in wichtigen Situationen Unruhe und sinnloser Aktionismus ausgelöst wird, obwohl beharrliche und geduldige Führung vonnöten gewesen wäre. Maßlosigkeit stellt einen der gefährlichsten Risikofaktoren dar. Insbesondere moralische Prinzipien und Werte sind durch Maßlosig­ keit bedroht. Wer maßlos ist, neigt dazu, durch seine Gier lebensdien­ liche Grenzen zu überschreiten und dabei womöglich auch Gesetze zu verletzen, Verträge zu brechen und sich unfair zu verhalten. Somit kann Maßlosigkeit auch die Existenz des Unternehmens gefährden.297 Ganz andere Werte sind durch Engstirnigkeit bedroht. Neben dem Kommunikationswert Offenheit, der mit Engstirnigkeit per Defi­ nition nicht vereinbar ist, sind dies auch andere. Wer engstirnig ist, ist meist weder kreativ noch flexibel, häufig unfähig, aus Fehlern zu lernen, und missachtet damit wichtige Leistungswerte. Engstirnig­ keit steht im Gegensatz zu den Kooperationswerten Souveränität und Vertrauen. Oft fehlen dem engstirnigen Mitarbeiter oder der engstirnigen Mitarbeiterin bzw. der engstirnigen Führungskraft auch Freundlichkeit und die Bereitschaft zur Fürsorge für andere. Engstir­ nigkeit kann wichtige Innovationen verhindern und Innovatoren aus dem Unternehmen vertreiben. Während ein engstirniger Mensch oft anderen etwas einfach deshalb nicht gönnen kann, weil dies seinen Horizont überschreitet, bewirken die Risikofaktoren von Eifersucht und Neid ein aktives Missgönnen. Eifersucht und Neid können das Teamwork zerstören und erfolgreiche Kooperationen verhindern. Informationen fließen nicht, Verleumdungen treten auf. Der andere wird als Gegner gese­ hen. Neid bedroht praktisch alle Kooperations- und Kommunikati­ onswerte. Es ist auch eine wesentliche Triebfeder, moralische Werte 297

Vgl. Leyendecker (2009).

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

zu verletzen und wichtige Prinzipien zu missachten. Neid verträgt sich nicht mit Fairness und Fürsorge. Er erlaubt es kaum, vergeben zu können. Starker Neid kann auch dazu führen, Gesetze zu brechen. Es entsteht eine Atmosphäre von Argwohn und Misstrauen. Der Risikofaktor »Argwohn« bedroht zwar kaum moralische Werte, wie z. B. die Gesetzestreue, aber er kann Ehrlichkeit und Vertrauen verhindern. Gleichzeitig untergräbt er verschiedenste Leis­ tungs-, Kooperations- und Kommunikationswerte. Argwohn verhin­ dert Offenheit und Transparenz. Er bewirkt übergroße Vorsicht und schränkt grundlegend die Fähigkeit ein, Kompetenz zu erwerben. Wer argwöhnisch ist, wird sich zudem in Konflikten häufig falsch verhalten und Souveränität vermissen lassen. Auch wird er kaum authentisch sein. Noch weniger authentisch ist, wer für Theatralik bzw. Eitelkeit anfällig ist. Indem eine solche Person mehr vorgeben möchte, als sie ist, oder doch wenigstens die Neigung hat, eigene Fähigkeiten besonders herauszustellen, gefährdet sie in grundsätzlicher Weise eine gute Kommunikation und verhindert eine gelingende Koopera­ tion. Eitelkeit und Theatralik können dazu führen, dass mögliche Chancen einer Korrektur von Fehlentscheidungen überspielt und Krisen weggeredet werden, ohne angemessen zu reagieren. Oft sind die genannten Risikofaktoren insgesamt ein Zeichen dafür, dass Lebenssinnorientierung nicht ausreichend ausgebildet ist und sogenannte Sinndissonanzen vorhanden sind. Wer nicht weiß, wofür er eigentlich lebt, erscheint besonders gefährdet, die dargestell­ ten Werte zu missachten. Sinndissonanzen sind Ursache von innerer Kündigung, Burn-out-Syndrom oder gar existenzgefährdendem Ver­ halten bis hin zur Selbsttötung und sie lassen die Einhaltung von Werten als bedeutungslos erscheinen. Im Bereich der Korruption erscheint die PFE durch ihr Analyse­ instrumentarium als eine sinnvolle Maßnahme, auf die dargestellten Ursachen irrationalen Handelns zu reagieren. Dies gilt insbesondere für die aufgezeigten »visceral factors«. Die in diesem Bereich beobachteten Verhaltensweisen können mit den Worten der PFE zumeist auch als Fehlhaltungen verstanden werden. Die Fehlhaltung »Angst« ist auch ein visceral factor. Ver­ lustaversion kann eng mit Angst in Verbindung gebracht werden, welche wiederum zur sunk-cost fallacy einschließlich der Unfähigkeit, Fehlinvestitionen einzugestehen, führt – ähnlich bei der Fehlhaltung der Maßlosigkeit, welche als Gier einen visceral factor bildet.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Ein direktes Gegenüber besitzt auch die Fehlhaltung des Neids. Sie ist dabei eine negative Seite des zu beobachtenden Verhaltensmus­ ters der Ungleichaversion (»inequity aversion«). Die Fehlhaltung der Aufgeregtheit ist wiederum eng mit dem Faktor der Furcht verbunden und die im Bereich »self-deception« und speziell die als »Selbstbestätigung« (»self-serving bias«) bezeichnete Verhaltensweise steht in engem Zusammenhang mit Eitelkeit. »Men­ tale Buchführung« (»mental accounting«) kann als Bezeichnung für Schubladendenken und Engstirnigkeit verstanden werden. Gruppendenken ist Ausdruck von Sinndissonanz. Sinndissonanz kann gleichzeitig als Urgrund von visceral factors wie Angst/Furcht, Gier oder Eifersucht angesehen werden, denn wer nicht weiß, was der Sinn seines Lebens ist, besitzt kein relativierendes Element, um solche Faktoren zu kontrollieren. Der Fokus auf Verhaltensmuster im Rahmen der Personalaus­ wahl liefert auch sinnvolle Ansatzpunkte für Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten, zur Förderung gerechter Arbeitsbedingungen, Protektion des Klimas sowie Verhinderung von Korruption, sozusa­ gen bereits im Vorfeld. Durch die Ausrichtung an zentralen moralischen und nicht mora­ lischen Werten sowohl im eigenen Verhalten als auch durch die Forderung und Förderung von Mitarbeitern folgt eine Führungskraft ihrer Verantwortung in Bezug auf den zentralen Wertekomplex Men­ schenwürde, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Verschiedenste Faktoren können dazu führen, dass die darge­ stellten personenbezogenen Werte missachtet werden. Aus den beschriebenen Gründen greifen dabei klassische Steuerungsmecha­ nismen wie Belohnung und Bestrafung oftmals nur bedingt. Die Missachtung ist umso gefährlicher, je verantwortungsvoller und wichtiger die Aufgabe einer Person ist. Darum ist es insbesondere bei Führungskräften wichtig, Risikofaktoren rechtzeitig aufzufinden, um sowohl das Unternehmen als auch die Führungskraft zu schützen. Die dargestellten Maßnahmen und vor allem die Durchführung einer PFE müssen durch konkrete Lösungswege ergänzt werden, um nicht allein die Option der Selektion zu besitzen. Das Führungskräf­ tetraining spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Eine erste Art von Trainingsmaßnahmen kann gemeinsam mit Aufklärungsmaßnahmen darauf abzielen, die Sensibilität für irratio­ nale Verhaltensbestandteile zu erhöhen. Im Bereich »Reasoning« sind praktische Übungen denkbar, die die menschliche Tendenz zu

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3.2 Verantwortung und Personenfolgeneinschätzung

logischen Fehlern offenlegen. In ähnlicher Weise sind im Bereich der Nutzenbewertung (»nature of utility«) Übungen möglich, durch die die schnelle Vergänglichkeit positiver Bedürfnisbefriedigungen bewusst gemacht wird, z. B. durch das Führen eines Tagebuches mit besonderem Fokus auf Neuerwerbungen bzw. durch die Reflexion auf solch positive Erfahrungen und deren heutiger Relevanz. Eine weitere Art von Trainingsmaßnahme kann darauf abzielen, ein Gegengewicht zu den dargestellten »visceral factors« zu schaffen und sowohl direktes Fehlverhalten z.B. in Bezug auf Korruption zu verhindern als auch Handlungen von Führungskräften, welche Korruption begünstigen, zu vermeiden. Wie bereits dargestellt, ist Selbstkontrolle eine knappe Ressource. Die »visceral factors«, die in jedem Menschen vorhanden sind, können bei einer Erschöpfung der Selbstkontrolle, welche gerade bei der hohen kognitiven Belastung von Führungskräften möglich ist, die Kontrolle übernehmen und zu irrationalem und auch selbstschädigendem Verhalten führen: »Unachtsamkeit begrenzt unsere Kontrolle, indem sie uns daran hin­ dert, intelligente Entscheidungen zu treffen. [...] Während einige Leute denken, dass Achtsamkeit eine Menge Arbeit bedeutet, zeigt die Forschung [...], dass Achtsamkeit zu Gefühlen der Kontrolle, größerer Handlungsfreiheit und weniger Burnout führt.«298

Dies erinnert an Jahrhunderte alte Traditionen der Geistesschulung und es erscheint lohnenswert zu prüfen, wie diese auch für die Korruptionsbekämpfung und weitere alltägliche Herausforderungen des Führungsalltages fruchtbar gemacht werden können. Insgesamt bildet die Achtsamkeit in Bezug auf eigene Denk- und Handlungsmuster ein wesentliches Gegenmittel, um problematische irrationale Handlungen zu verhindern und beschränkt rationales Ver­ halten zu kontrollieren. Gleichzeitig kann die Veränderung riskanter Denkmuster nur als mittel- bis langfristiger Prozess angesehen wer­ den, da diese häufig sehr tief im Denken und Handeln verwurzelt sind. Auf diese Weise werden zumindest diejenigen Anreize zu problema­ 298 Übersetzung der Verfasser. Original: »Mindlessness limits our control by pre­ venting us from making intelligent choices. […] While some people think that mindfulness takes a lot of work, the research […] shows that mindfulness leads to feelings of control, greater freedom of action, and less burnout.« (Langer (1989), 202). Nach Muraven/Baumeister/Tice (1999) kann die Selbstkontrolle bereits nach zwei Wochen mit Hilfe von Übungen, die sich auf die Verbesserung der Haltung konzentrieren, gesteigert werden.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

tischem Handeln bekämpft, die von irrationalen oder emotionalen Faktoren bestimmt werden. Verantwortung auf persönlicher Ebene entbindet jedoch gerade nicht davon, ebenso auf der Regelebene der Verantwortung nachzu­ kommen. Deshalb wollen wir hierfür ein Regelwerk für Führungs­ kräfte vorschlagen, das den Global Compact weiterdenkt.

3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte Das hier vorgeschlagene Regelwerk bewahrt die Stärken des Global Compact der Vereinten Nationen und entwickelt den Global Compact zu einer Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte weiter, die dazu dienen kann, die großen globalen Herausforderungen anzuge­ hen. Die vorgeschlagene Charta besteht aus zehn Regeln, die mehr als nur erstrebenswert sind. Jede Regel wird dann erstens mit einem entsprechenden Mechanismus zur Überprüfung der Einhaltung der Regeln und zweitens mit einer passenden Leitlinie für achtsames, wertorientiertes Führen verbunden. Das Projekt, einen Prozess auf Systemebene (in Form eines Regelsatzes) als wirksames Instrument zur Förderung ethischer und sozialer Werte zu entwerfen, hat in den letzten zehn Jahren von einem internationalen Netzwerk von Exper­ ten aus einer Vielzahl von Disziplinen unter der Schirmherrschaft des Global Applied Ethics Institute profitiert.299 Die Global Ethics Charta (GEC) würde die institutionellen Res­ sourcen eines relativ großen Unternehmens erfordern, doch die in das GEC integrierte Logik und Prinzipien sind auch für kleinere Organisationen relevant. Die Differenzierung der Ordo-Verantwortung auf Diskurs-, Regel- und Handlungsebene respektiert die geschätzten spirituellen Traditionen, die die gegenwärtigen sozialen Normen in unserem pluralistischen Kontext prägen. Diese Traditionen aus Ost und West sind im Ansatz der achtsamen Führung für Unternehmen entwickelt worden. Der Vorschlag der GEC ist einzigartig, da er das kreative Potenzial für die Verwirklichung persönlicher, geschäftlicher und gesellschaftlicher Werte durch die Integration dieser beiden Ansätze – achtsame Führung und Ordo-Verantwortung – erkennt. 299

Vgl. http://gaei.org/ (zuletzt aufgerufen am 29.04.2022).

226 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

3.3.1 Eine achtsame Weltethik-Charta – GEC Der UN Global Compact hat sich seit seiner Einführung im Jahr 2000 zu einem wichtigen ethischen Standard für Unternehmen in aller Welt entwickelt. In seinen zehn Grundsätzen werden die für die Wirtschaft relevanten Erklärungen und Werte der Vereinten Nationen wirksam formuliert und gebündelt. Weitere Stärken des UN Global Compact sind, wie wir gesehen haben, die Flexibilität bei der Anwen­ dung der Regeln und die Prägnanz der Regeln. Allerdings berück­ sichtigt er nicht ausreichend das Problem der Regelumsetzung, wie der Siemens-Korruptionsskandal und der Volkswagen-Dieselskandal exemplarisch zeigen. Unternehmen und andere Organisationen ver­ pflichten sich freiwillig zu seinen Prinzipien, ohne sich einer externen Überprüfung zu unterziehen, um in der Gunst des Paktes zu bleiben. Es gibt keine Dokumentation der Rechenschaftspflicht. Die korporative Struktur des Jesuitenordens, die in seinen Kon­ stitutionen aus dem 16. Jahrhundert dargelegt ist, zeigt, wie institu­ tionelle Regeln sowohl Freiheit als auch Verantwortlichkeit für die Mitglieder bieten können. Wirksame Regeln legen eher Mindestan­ forderungen und klare Ziele fest als detaillierte Beschränkungen, und sie verlangen Transparenz und Rechenschaftspflicht im Rahmen eines Managements mit klar abgegrenzter Verantwortung. Dieser Managementansatz hängt von einem Ausbildungsprozess ab und kann auf dieser Grundlage das kreative Freiheitspotenzial der Men­ schen maximieren, die Regeln nach ihren eigenen Vorstellungen zu interpretieren. Der offiziellere Name der Jesuiten lautet interessanter­ weise »Die Gesellschaft Jesu«, und ihre organisatorischen Handlungs­ standards sind untrennbar mit dem Telos der Gesellschaft – ihrer Mission – verbunden. Diese Standards bieten keine einfache »Checkthe-boxes«-Erfüllungsformel. Vielmehr fand das, was wir heute als ethischen Überprüfungsprozess und Sanktionierung bezeichnen wür­ den, im Rahmen eines Diskurses statt, der das Handeln zumindest im Prinzip wieder auf den Unternehmensauftrag ausrichtete. Persönliche Schulungen, klare Zuständigkeiten und die Klarheit des Auftrags leiteten den regelmäßigen Prozess der Überprüfung und Reform. Der Global Compact der Vereinten Nationen ist ein Regelwerk, das durch schwache Mechanismen zur Einhaltung der Regeln durch die Mitglieder eingeschränkt wird. Das Regelwerk ist ineffizient, weil es keine effektive Möglichkeit gibt, die Prinzipien des Regelkatalogs

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

zu kennen, zu zertifizieren oder durchzusetzen.300 Die Ziele der UNIntervention sind bewundernswert, werden aber durch die struktu­ relle Umsetzung beeinträchtigt. Andere Nicht-UN-Gruppen sind ein­ gesprungen, um die Lücke zu füllen. Ein wirksamer Ansatz ist Presencing.org, das solide Führungsprinzipien und -praktiken ent­ wickelt und die Ziele des UN Global Compact teilt. Solche Ansätze ersetzen jedoch nicht den institutionellen Bedarf an robusteren Regel­ werken. Der UN Global Compact kann daher als möglicher Ausgangs­ punkt für die Suche nach einem geeigneten Satz ethischer Regeln dienen, bedarf aber einer sorgfältigen Umgestaltung, um umsetzbare Regeln zu finden, die die Erkenntnisse der Ansätze der Ordo-Verant­ wortung und der achtsamen Führung unterstützen und nutzen.

3.3.2 Ziele und Rolle der GEC Die GEC soll umfassend sein in dem Sinne, dass sie das breite Spektrum der ethischen Herausforderungen behandelt, mit denen Unternehmen konfrontiert sind. Darüber hinaus sollen die Regeln klar, konkret, intern überprüfbar und mit den Unternehmenszielen vereinbar sein. Sie sind breit genug angelegt, um branchenübergrei­ fend anwendbar zu sein, und konkret genug, um von den Unterneh­ men glaubwürdig umgesetzt zu werden. Den Führungskräften wird ein praktisches Instrument an die Hand gegeben, das auf achtsamen Praktiken beruht und die Geschäftstätigkeit unterstützt und gleichzei­ tig den gesellschaftlichen Wert nachhaltig fördert. Das zweite und damit verbundene Ziel baut auf dem ersten Ziel auf. Wie könnte man nach der Formulierung des Regelentwurfs ein solches Instrument optimal einsetzen, um die angemessene Aus­ führung der jeweiligen Regeln zu gewährleisten? Da eine wichtige Herausforderung in der Anwendung ethischer Grundsätze und Werte besteht, ist dieses zweite Ziel entscheidend und ebenso wichtig für das Gesamtziel der Übung, ein praktisches ethisches Instrument zu schaf­ fen. Wie jeder Unternehmer weiß, erfordert die Entwicklung eines klugen Instruments eine ebenso geniale Strategie für die Umsetzung.

300

Vgl. Knoepffler/Albrecht (2011b).

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

Ein solides Regelwerk unterstützt achtsame Führungskräfte, indem es ethische Grundprinzipien für konkrete unternehmerische Entscheidungen bietet. Diese Regeln ergänzen andere Literatur zu achtsamer Führung, die sich vor allem auf die innere Haltung von Füh­ rungskräften bezieht (z.B. präsent sein, Verantwortung übernehmen, mitfühlend sein).301 Ähnlich wie die klassischen Regeln (Zehn Gebote, die ethischen Regeln des Buddhismus, der benediktinischen und ignatianischen Tradition) offenbaren diese Regeln grundlegende ethische Prinzipien, die die Basis für Achtsamkeit als offene und wache Präsenz gegenüber allen Beteiligten ermöglichen. Eine wichtige Folge der Globalisierung ist, dass multinationale Unternehmen die Regierungsfähigkeit der einzelnen Staaten belas­ ten. Gegenwärtig sind die Einnahmen vieler Unternehmen größer als die der Staaten, wenn man sie nur als Wirtschaftseinheiten betrach­ tet. Indem sie auf globaler Ebene agieren, können Unternehmen bestimmte nationale Vorschriften umgehen oder Produktionsstätten und Dienstleistungszentren dort wählen, wo Arbeits-, Steuer-, Regu­ lierungs- und andere Kosten am niedrigsten sind. Große Unterneh­ men und ihre Führungskräfte gewinnen immer mehr Einfluss auf Völker, Kulturen und die Natur, während der unabhängige Einfluss von Politik und Religionen abnimmt. Wachsender Einfluss bedeutet auch wachsende Verantwortung. Achtsame Unternehmensleiter sehen sich zunehmend in der Verantwortung, ethische Verantwortung zu übernehmen. Zumindest auf der Ebene der Regeln gibt es für sie Anreize, die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen einzuhalten, aber keine wirksamen Anreize, über die Einhaltung hinauszugehen. Der UN Global Com­ pact hat zu Recht die wesentlichen Werte der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Gerechtigkeit hervorgehoben. Dennoch ist dieser Rahmen für Wirtschaftsführer und Unternehmen nicht ausrei­ chend, denn er steht im Widerspruch zu einem achtsamen Ansatz und der Kreativität, die er bieten kann. Die Grundsätze des UN Global Compact neigen dazu, ethisches Handeln in einen Gegensatz zu Unternehmenszielen zu stellen, z. B. Geschäfte zu niedrigsten Kosten zu machen. In jedem Fall sind die ethischen Instrumente oft zu abstrakt oder ihre Regeln sind nicht überprüfbar und bieten keinen ausreichenden Anreiz für die Umsetzung. Dies gilt auch für die 301

Vgl. Bunting (2016); Gonzalez (2013).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

vielen ethischen Richtlinien, die für das innerbetriebliche Verhalten vorgeschlagen wurden. Ein vorgeschlagener Eid für Manager, analog zum hippokratischen Eid der Ärzte, wäre zu kurz gegriffen, da er sich lediglich auf die Rechenschaftspflicht des Einzelnen konzentriert, ohne die systematischen Zwänge ethischen Handelns zu berücksich­ tigen und ohne der Bedeutung der Achtsamkeit der Mitarbeiter Rechnung zu tragen. Diese Charta macht die wesentlichen Werte des Global Com­ pact der Vereinten Nationen umsetzbar und geht über den Compact hinaus, indem sie Werte des persönlichen Wohlbefindens für Mitar­ beiter und ihre Führungskräfte integriert. Der GEC-Katalog ist in vier Kategorien unterteilt, beginnend mit den Verpflichtungen gegenüber dem Gesetz, den grundlegenden menschlichen Prinzipien der Men­ schenrechte und der Menschenwürde. Die Regeln 4 und 5 befassen sich mit den Anteilseignern und legen Grundsätze für den ethischen Umgang innerhalb der Unternehmensstruktur fest. Die folgenden fünf Regeln »Zum Nutzen der Stakeholder« sind so aufgebaut, dass sie die wichtige Rolle der Unternehmen in der Gesellschaft berücksichti­ gen. Fragen der Entlohnung (Regel 6), der Beschäftigungsstabilität (Regel 7) und der Arbeitsbedingungen (Regel 8) haben Auswirkun­ gen auf die gesamte Gesellschaft und müssen entsprechend behandelt werden. Die letzten beiden Regeln behandeln Fragen der ökologi­ schen Nachhaltigkeit. Die zehn Regeln des Katalogs sind klar und konkret formuliert. Wer sie liest, sollte genau auf die Elemente der Regelüberprüfung achten. Darin unterscheiden sie sich von bloßen Anspruchsnormen. Es geht darum, dass die Grundsätze und Werte der Regeln konkret mit Benchmarks und öffentlich erkennbaren Indikatoren verknüpft werden müssen. Dies ist ein anspruchsvolles Ideal, aber durch das Streben nach diesem Ideal wird ein immer besseres Verständnis der ethischen Grundsätze und Werte sowie eine immer größere Chance, von ihnen zu profitieren, erreicht. Die Überprüfung der Regeln würde bedeuten, dass das teilnehmende Unternehmen jährlich einen Bericht vorlegt, der nach den Anforderungen der Regeln strukturiert ist. Dieser Jahresbericht, der der Öffentlichkeit zugänglich wäre, enthält hauptsächlich Materialien, die bereits von den meisten mittleren und großen Unternehmen erstellt werden. In Anbetracht des breiten Publikums, an das die Berichte gerichtet sind, gibt es einen eingebau­ ten Anreiz, sie an die standardisierte Struktur des GEC anzupassen und sie so für dieses breite Publikum verständlich zu machen.

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

Die hohe Kunst der Regelgestaltung erfordert Praktikabilität und Transparenz bei der Überprüfung der Regeln. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht den Unterschied zwischen angestrebten und konkreten Regeln. Angesichts der Bedeutung der Flüssigkeitszufuhr für die Gesundheit könnte eine anzustrebende Regel lauten: Jeder Mensch sollte ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen. Diese Vor­ schrift ist einfach, legitim und unbürokratisch, aber sie ist lediglich eine Zielvorgabe. Es wäre jedoch sehr aufwändig, von der Person zu verlangen, dass sie einen idealen Flüssigkeitsstand aufrechterhält, der nur mit aufdringlichen und teuren medizinischen Geräten, die die Blutwerte messen, überwacht werden kann. Eine konkretere und überprüfbare Regel wäre: Jeder Mensch sollte täglich mindestens das Äquivalent von 5 Gläsern Wasser trinken. Die Überprüfung der Regel wäre einfach und würde die tatsächliche Wasseraufnahme pro Tag erfassen. Doch die Regel selbst wäre schwerfällig, für die meisten Menschen ungeeignet und daher unpraktisch und unelegant. Zu viele Variablen würden die Einhaltung erschweren. Menschen haben im Winter und im Sommer einen unterschiedlichen Flüssigkeitsbe­ darf. Die Menschen unterscheiden sich in ihrer Körpergröße, ihrer Zusammensetzung und ihrem Aktivitätsniveau und haben daher einen unterschiedlichen Flüssigkeitsbedarf. Eine gute Flüssigkeitsre­ gel müsste daher all diese Variablen vorwegnehmen und die Regel so strukturieren, dass sie ihnen auf möglichst elegante Weise Rechnung trägt. Dies erfordert eine Kreativität, die das Entwerfen von Regeln zu einer hohen Kunst macht. Gleichzeitig muss die Umsetzung der Regeln den Kerngedanken der achtsamen Führung respektieren, d. h., die Regel sollte auf die Situation und den Zweck der Regel abgestimmt sein. Anstatt nur blind den Buchstaben der Regel zu befolgen – Konformität – müssen Führungskräfte manchmal auch außerhalb des Buchstabens der Regel handeln, während sie den beabsichtigten Zweck der Regel erfüllen. In unserem Beispiel mit der Trinkregel könnte eine Wüstenwanderung mit begrenzten Wasserressourcen eine Rationierung erfordern, bis die Gruppe sicher in der Nähe einer reichhaltigen Wasserquelle ist. Eine gute Regelgestaltung eröffnet Raum für die kreative Umsetzung klar formulierter Ziele. Die Wissenschaft der angewandten Ethik profitiert in hohem Maße von den praktischen Erfahrungen der Führungskräfte in der Wirtschaft. Die folgenden Regeln tragen dieser Erfahrung Rechnung und würden weiterhin von der Partnerschaft profitieren, die in der

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

vorgeschlagenen Umsetzung des Regelmechanismus vorgeschlagen wird. Das Regeldesign integriert bewusst die Traditionen und Einsich­ ten aus dem Buddhismus (Silas), Benedikt (Regel) und Ignatius (Kon­ stitutionen). Achtsame Führung ist mehr als soziale Verantwortung – auch wenn sie natürlich Verantwortung für die Gesellschaft bedeu­ tet. Sie bietet Praktiken, die persönliche, geschäftliche und soziale Verantwortung in Gewohnheiten der Intentionalität integrieren – Gewohnheiten der Wachsamkeit, der Vorsicht, der Behutsamkeit, der Klugheit und des klaren Sehens. Und schließlich, obwohl die Regeln zentrale Elemente der achtsamen Führung zum Ausdruck bringen, sind sie nicht als vollständige Erklärung dieses wachsenden Bereichs gedacht.

3.3.3 Basisregeln Regel 1: Gesetzestreue Führungskräfte verpflichten sich und ihre Unternehmen, die Regeln der Länder, in denen sie tätig sind, zu befolgen. Sie müssen die nationalen und internationalen Gesetze einhalten. Achtsame Führung: Wenn Gesetze mit anderen Gesetzen kol­ lidieren, haben die Führungskräfte die Verantwortung, einen politi­ schen Prozess zur Harmonisierung der Gesetze zu fördern. Für die Zeit, in der der Konflikt besteht, müssen sie einen Weg finden, die wahre Bedeutung der verschiedenen Gesetze zu verstehen, oder sie müssen die Geschäftsmöglichkeit eigenverantwortlich aufgeben. Überprüfung der Regeln: Unternehmen weisen intern stabile Maßnahmen zur Einhaltung der Vorschriften nach, berichten über abgeschlossene und anhängige Gerichtsverfahren, verfügen über Maßnahmen zur Meldung von Missständen (Ombudsmann oder gleichwertige Stelle).

Regel 2: Achtung der Menschenrechte Führungspersönlichkeiten verpflichten sich, bei ihren geschäftlichen Aktivitäten die grundlegenden Menschenrechte zu schützen (insbe­ sondere Leben, körperliche Unversehrtheit, Versammlungsfreiheit, Nicht-Diskriminierung, keine Zwangsarbeit, keine schädigende oder

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

verletzende Kinderarbeit). Besonders wichtig für diese Regel sind die Definitionen der Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Achtsame Führung: Führungskräfte achten auf die Einhaltung der Menschenrechte nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern auch in den Lieferketten, von denen sie abhängig sind. Wesentlich sind dabei aus Sicht der Führungskraft: ●





die Gefahren für Leben und Gesundheit durch die von ihr zu verantwortenden Produkte und Dienstleistungen (hier geht es z. B. auch um eine korrekte Produktinformation), die von ihr zu verantwortenden Gefahren für Leben und Gesund­ heit bei der Herstellung von Produkten (z. B. in Bezug auf verwendete Materialien) und auch die Gefahren für Leben und Gesundheit bei der Herstellung von Vorprodukten, deren Verwendung von ihr zu verantworten ist.

Eine Führungskraft besitzt bei Herstellung und Verkauf von Produk­ ten und Dienstleistungen eine Verantwortung gegenüber: den eige­ nen Mitarbeitern, indirekten Mitarbeitern302, Lieferanten und Part­ nern sowie Kunden und der Gesellschaft (auch Menschen, die keine direkten Kunden sind, könnten durch Produkte gefährdet werden). In einer Regel zusammengefasst beinhaltet diese Verantwortung, keine die physische oder psychische Gesundheit ernsthaft gefährdenden Produkte und Dienstleistungen anzubieten, keine entsprechenden Herstellungsweisen anzuwenden und keine entsprechenden Vorpro­ dukte zu verwenden. In Bezug auf die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit ist es für eine Führungskraft wesentlich, unangemessene Einschrän­ kungen oder Gefährdungen für Mitarbeiter und Kollegen zu vermei­ den durch: ● ●

die von ihr zu verantwortende Unternehmenskultur und institu­ tionellen Regelungen (z. B. in Bezug auf Karrierewege) sowie Leadershipmethoden (z. B. die verwendeten Machtinstru­ mente) oder

302 Ob eine Führungskraft einen Menschen innerhalb oder außerhalb des Unterneh­ mens beauftragt, erscheint für die ethische Bewertung irrelevant.

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung



sonstiges zwischenmenschliches Verhalten (z. B. im direk­ ten Mitarbeitergespräch).

Überprüfung der Regeln: Interne Berichte und Audits der Lieferkette, Berichte von Regierungen, NGOs usw., Berichte des Ombudsmannes oder einer gleichwertigen Instanz.

Regel 3: Lebenserhaltende Produkte und Dienstleistungen Die Staats- und Regierungschefs verpflichten sich, keine Produkte herzustellen oder Dienstleistungen anzubieten, die in internationalen Konventionen verurteilt werden, insbesondere Waffen wie Landmi­ nen, Streumunition, chemische und biologische Waffen sowie alle Produkte, die nicht den von internationalen Gremien und spezifischen nationalen Behörden festgelegten Mindeststandards für Gesundheit und Umwelt entsprechen. Achtsame Führung: Die Führungskräfte achten darauf, ihr Unter­ nehmen im Einklang mit den allgemein anerkannten Zielen ihrer Geschäftsmissionen umzugestalten. In diesem Fall skizzieren die Führungskräfte den Weg der Unternehmensplanung und die Ziele für die Entwicklung von mehr lebenserhaltenden Produkten und Dienstleistungen. Eine Führungskraft folgt dieser Verantwortung durch die Verpflichtung zur Achtung grundlegender Menschenrechte. Das bedeutet konkret, sich nicht an unzulässiger Diskriminierung, Zwangs- oder Kinderarbeit, sexueller Belästigung, physischen oder psychischen Übergriffen oder einer Verletzung des Datenschutzes oder der Versammlungsfreiheit zu beteiligen. Gleichzeitig verpflichtet sich die Führungskraft, die Achtung dieser Grundsätze durch ihre Mit­ arbeiter, Zulieferer und Partner so weit wie möglich sicherzustellen. Der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedingun­ gen muss eine Führungskraft gerecht werden bei der Ausgestaltung und Umsetzung: ● ●

von Arbeitsverträgen (z. B. in Bezug auf die Vergütung von Über­ stunden), von Verträgen mit anderen Partnern (z. B. die fristgerechte Bezahlung von Lieferanten),

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

● ●

von Verträgen mit Kapitalgebern (z. B. Prospektgestaltung beim Börsengang) und von Verträgen mit Kunden (z. B. dem Erfüllen von Garantiean­ sprüchen).

Unternehmen haben einen großen Einfluss auf die Verteilung von Gütern und damit auch von Wohlstand. Es wäre jedoch eine Über­ forderung, Unternehmen und Führungskräfte für dessen faire Ver­ teilung direkt verantwortlich zu machen. Es liegt jedoch in der Pflicht einer Führungskraft gegenüber der Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern, bestehende Gesetze zu achten (z. B. in Bezug auf Korruption). Diese Achtung ist notwendig, um möglichst faire Verteilungsbedingungen zu gewährleisten. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft ver­ pflichtet sich zur Einhaltung von Gesetzen der Länder, in denen sie operiert und zur Einhaltung von internationalen Gesetzen. Gleichzei­ tig verpflichtet sie sich, diese Einhaltung auch bei ihren Mitarbeitern, Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicherzustellen. Überprüfung von Regeln: Literatur über Unternehmensmissio­ nen, Regierungsberichte, Berichte von Nichtregierungsorganisatio­ nen, Sachverständigengutachten über Mindeststandards in bestimm­ ten Branchen.

3.3.4 Regeln zum Wohle der Aktionäre: Wirtschaftliche Dimension Regel 4: Langfristiger Erhalt und Ausbau des Unternehmenswertes Die Führungskräfte verpflichten sich, den realen Wert des Unterneh­ mens zu erhalten und zu steigern und Maßnahmen zu ergreifen, die die Verschwendung von Unternehmensressourcen verhindern. Sie bevorzugen eine langfristige Performance des Unternehmens, im Gegensatz zu Quartalszyklen. Achtsame Führung: Führungskräfte fördern Offenheit für neue Entwicklungen, konstruktives Fehlerkulturmanagement, Lernen aus vergangenen Entscheidungen, Authentizität und Kreativität. Eine Führungskraft besitzt dabei vor allem im Rahmen der Geschäftsstra­ tegie (z. B. dem Umgang mit Märkten in Entwicklungsländern), aber auch im Zuge des normalen Geschäftsbetriebs (z. B. im Rahmen gro­

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

ßer Finanzgeschäfte) eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft als Ganzes sowie deren einzelnen Mitgliedern – und dies auch auf internationaler Ebene. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich, keine Akti­ vitäten durchzuführen oder zu unterstützen, die die wirtschaftliche Grundlage eines Landes, einer Region oder auch global ernsthaft gefährden können und dies auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicherzustellen. Die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit gegenüber Kunden und Gesellschaft muss durch eine Führungskraft hauptsäch­ lich im Rahmen der Marktpolitik (z. B. Kartelle, Monopole), aber auch der Verkaufspolitik (z. B. Preisgestaltung) beachtet werden. Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich, keine wettbewerbswidrigen Kartelle zu bilden oder vorhandene Marktmacht auszunutzen, um ungerecht­ fertigte Preise zu erzielen oder Marktzugänge zu beschränken, oder Konkurrenten mit Preisdumping aus dem Markt zu drängen. Bei der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedin­ gungen geht es für eine Führungskraft primär um die Erhaltung der ökonomischen Grundlagen für die Erfüllung von eingegangenen Verträgen und Verpflichtungen. Wie bereits dargestellt, trägt eine Führungskraft Verantwortung für: ● ● ● ● ●

Arbeitsverträge mit Mitarbeitern, Verträge mit anderen Partnern (z. B. Lieferanten), Verträge mit Kapitalgebern (z. B. Banken), Verträge mit Kunden (z. B. Garantien) sowie Verträge mit der Gesellschaft (z. B. mit Kommunen).

Mit welcher Regel kann diese Verantwortung beschrieben werden? Eine Führungskraft verpflichtet sich, den realen Wert des Unterneh­ mens zu erhalten oder zu steigern und die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens zu fördern und eine solche Politik auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicherzustellen. Hierzu gehört explizit die Erhaltung und Förderung der eigenen (Arbeits-)Fähigkeiten sowie die der Mitarbeiter. Auch in der ökonomischen Dimension kann eine Führungskraft die Achtung fairer Verteilungsbedingungen durch politische Aktivi­ täten (z. B. Lobbyarbeit) oder die Unternehmensstrategie gefährden (z. B. durch die Ausnutzung sozialer Sicherungssysteme).

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

Überprüfung der Regeln: Jahresabschlüsse der jüngsten Vergan­ genheit, absolute und mit der Branche verglichene Zahlen zum Eigen­ kapitalwert, Rating der Kreditwürdigkeit, Aktienwert, Vergütungsan­ reize, Investitionen in Forschung und Entwicklung, Verbrauch von Material- und Arbeitsressourcen (Produktivität) – absolut und im Vergleich mit Branchenbenchmarks.

Regel 5: Erhalt und Ausbau des »Humankapitals« – Befähigung der Mitarbeiter Als Spezifizierung von Regel 4 in Bezug auf die Mitarbeiter verpflich­ ten sich die Führungskräfte, die Fähigkeit ihrer Mitarbeiter zu erhalten und zu entwickeln, ihre Aufgaben so kompetent, enthusiastisch und verantwortungsvoll wie möglich für das Unternehmen zu erfüllen. Achtsame Führung: Die Führungskräfte sorgen für eine positive Arbeitsatmosphäre für die Mitarbeiter und geben ihnen Gelegenheit (Zeit, Ermutigung), ihre individuelle »Mission« zu finden – Stärken (Schwächen) der jeweiligen Personen zu erkennen (Personenfolgen­ einschätzung). Eine Führungskraft sollte sich im Rahmen dieser Verantwortung zur Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen (ein­ deutige und begrenzte Arbeitszeit, mind. Einen freien Tag pro Woche, Recht auf Urlaub, Versicherungsschutz im Krankheitsfall) beitragen. Überprüfung der Regeln: Unternehmensberichte mit Angaben zur Leistung der Arbeitnehmer; Budget für die Aus- und Weiterbil­ dung des Personals; Tage für die Weiterbildung.

3.3.5 Regeln zum Wohle der Stakeholder I: Soziale Dimension Regel 6: Gerechte Entschädigung Führungskräfte verpflichten sich, für sich und ihre Mitarbeiter Kri­ terien für die Entlohnung (einschließlich Gehalt, Lohn, Boni usw.) festzulegen, die fair sind und in einem angemessenen Verhältnis zum Erfolg des Unternehmens und zum Wert stehen, den die Arbeit zum Wert des Unternehmens beiträgt. Achtsame Führung: Die Führungskräfte achten auf die individu­ ellen Vergütungs- und Anreizstrukturen. Es wird darauf geachtet, bescheidenes Verhalten vorzuleben und zu belohnen – im Sinne

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

von Anreizen für Gruppen-/Teamanstrengungen. Zudem ist es ver­ pflichtend, eine faire Entlohnung (angemessener Anteil am Wert der Arbeit, klare Kriterien, Verhältnismäßigkeit) zu gewährleisten sowie Verträge mit Geschäftspartnern fair zu gestalten und einzuhalten. Überprüfung der Regeln: Das Unternehmen demonstriert sein Engagement für einen existenzsichernden Lohn für alle Arbeitnehmer und eine anteilige Aufteilung der Vergütungen auf die oberen, mittle­ ren und unteren Einkommensgruppen im Stufenindex des Unterneh­ mens für die Vergütung der Arbeitnehmer. Die Vergütungspakete auf der obersten Führungsebene müssen offengelegt und nachvollziehbar begründet werden. Die Vergütung der Unternehmensleitung sollte an die folgenden (z.B. fünfjährigen) Unternehmensergebnisse gekop­ pelt sein.

Regel 7: Wert des Erhalts der Beschäftigung von Arbeitnehmern Die Führungskräfte erkennen den sozialen Wert des Erhalts der Beschäftigung ihrer Arbeitnehmer an. Damit zeigen sie ihr Engage­ ment für soziale Verantwortung. Achtsame Führung: Führungskräfte setzen Weisheit ein, um das Verhalten der Mitarbeiter im Hinblick auf die Förderung eines posi­ tiven Betriebsklimas zu erkennen. Anreiz- und Korrekturmaßnah­ men sollten eine gruppenerhaltende und lebensbereichernde Atmo­ sphäre fördern. Überprüfung der Regeln: Bericht über beibehaltene und entlas­ sene Arbeitnehmer (absolute Zahlen und prozentualer Anteil an der Gesamtbelegschaft), die Fluktuationsrate im Verhältnis zur Branche und zur Region im gleichen Zeitraum; Begründung und Regel für die Entlassung von Arbeitnehmern, einschließlich Analysen kriti­ scher Ereignisse.

Regel 8: Faire und angemessene Arbeitsbedingungen Die Führungskräfte verpflichten sich, faire und angemessene Arbeits­ bedingungen für ihre Arbeitnehmer und sich selbst zu schaffen. Sie werden aufgefordert, klare und begrenzte Arbeitszeiten, mindestens einen freien Tag pro Woche, ein Recht auf Urlaub für alle, eine Absi­ cherung im Krankheitsfall, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen,

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

stabile Arbeitsplätze (keine Kettenverträge), Chancengleichheit für Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Behinderung, inländi­ sche und ausländische Arbeitnehmer zu schaffen. Achtsame Führung: Eine aufmerksame Führungskraft bringt das Wohlbefinden des Unternehmens und die Stabilität des Arbeitsplat­ zes in Einklang. Überprüfung der Regeln: Interne Berichte, aus denen hervor­ geht, dass die einzelnen Bestimmungen der Vorschrift eingehalten werden; wirksame Mechanismen zur Überwachung der Bedingungen; Berichte des Ombudsmanns. Größere Personalreduzierungen sind im Hinblick auf die Unternehmensziele und die lokalen sozialen Auswirkungen gerechtfertigt.

3.3.6 Regeln zum Wohl der Stakeholder II: Ökologische Dimension Regel 9: Respekt für die Umwelt Führungspersönlichkeiten verpflichten sich, die Integrität der Umwelt und ihrer Ökosysteme zu respektieren. Sie verpflichten sich damit, den Anteil erneuerbarer Energiequellen in ihrem Unternehmen zu erhöhen, besonders erneuerbare oder substituierbare Rohstoffe zu wählen und so den ökologischen Fußabdruck des Unternehmens zu verringern. Achtsame Führung: Die Führungskräfte sorgen für ein Gleichge­ wicht zwischen Umweltschutz und anderen Aufgaben (z. B. Sicher­ heit der Mitarbeiter). Geeignete Hygienemaßnahmen werden z. B. während der Covid-19-Krisen gefunden (höchste Hygienestandards, mehr Abfall). Wesentlich sind: ●





die Umweltgefahren der von einer Führungskraft zu verant­ wortenden Produkte und Dienstleistungen (z. B. chemische Pro­ dukte), die von ihr zu verantwortenden Umweltgefahren bei der Herstel­ lung von Produkten (z. B. die Kontaminierung von Gewässern) und auch die Umweltgefahren bei der Herstellung der von ihr zu verantwor­ tenden Vorprodukte (z. B. damit verbundene Emissionen).

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

Im Zusammenhang mit der ökologischen Verantwortung einer Füh­ rungskraft gegenüber der Gesellschaft als Ganzes sowie deren einzel­ nen Mitgliedern (lokal und global) sollte somit folgende Regel gelten. Eine Führungskraft verpflichtet sich, keine das lokale oder globale Ökosystem ernsthaft gefährdenden Produkte und Dienstleistungen anzubieten, keine entsprechenden Herstellungsweisen anzuwenden und keine entsprechenden Vorprodukte zu verwenden. Auf die Achtung prinzipieller Gleichheit und Freiheit sollte eine Führungskraft vor allem beim eigenen Geschäftsmodell (z. B. im Zusammenhang mit Wasser oder zentralen Lebensmitteln), aber auch bei Großbauvorhaben (z. B. Staudämmen) achten. Diese gesellschaft­ liche Verantwortung kann eine Führungskraft mit der Verpflichtung ernst nehmen, den Zugang zu elementaren Lebensgrundlagen von Menschen wie Luft, Wasser, Nahrung und Wohnraum nicht ernst­ haft einzuschränken. Bei der Verantwortung für faire Vertrags- und Austauschbedin­ gungen geht es in der ökologischen Dimension vor allem um faire Austauschbedingungen mit zukünftigen Generationen. Man könnte sagen, es geht um die Erfüllung eines impliziten intergenerationellen Vertrages. Auch zukünftige Generationen sollen die notwendigen Bedingungen für ein gleiches Recht auf Leben und die physische oder psychische Gesundheit vorfinden. Zentral ist dabei die Verant­ wortung einer Führungskraft für: ●

● ●

die Wiederverwertbarkeit der zu verantwortenden Produkte (z. B. auch der hierfür notwendige Arbeits- und Energieauf­ wand), die Ressourcenverwendung bei der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen (inkl. des Baus von Fabriken) und die Ressourcenverwendung bei den von ihr zu verantwortenden Vorprodukten (z. B. seltene Edelmetalle).

Eine Führungskraft verpflichtet sich zudem zur nachhaltigen Land­ nutzung, der Herstellung weitestgehend recyclebarer Produkte, der weitestgehend möglichen Verwendung erneuerbarer Energien und Nutzung erneuerbarer oder substituierbarer Grundmaterialien im eigenen Unternehmen und dazu, dies auch bei Zulieferbetrieben und Partnern so weit wie möglich sicherzustellen. Überprüfung der Vorschriften: Umweltprüfungen, einschließlich der Prüfung der absoluten Emissionen und des Vergleichs mit der Industrie über einen Zeitraum von drei Jahren. Berichte über schwer­

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

wiegende unerwünschte Ereignisse und Reaktionen auf solche Ereig­ nisse.

Regel 10: Regeln zur Lösung des Problems der Externalitäten Führungspersönlichkeiten nehmen auf lokaler, nationaler und inter­ nationaler Ebene konstruktiv an Diskussionen und Verhandlungen teil, um die Bewältigung ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Herausforderungen zu verbessern. Solche Aktivitäten zielen darauf ab, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und aufrechtzuer­ halten und gleichzeitig schädliche externe Effekte zu reduzieren – nicht darauf, Privilegien für das Unternehmen oder die Branche zu erlangen. Achtsame Führung: Führungskräfte erkennen und übernehmen die Verantwortung für den Umgang mit aktuellen Herausforde­ rungen. Anhaltende dilemmatische Kontexte können kurzfristig geschäftliche Kompromisse erfordern, aber das Bewusstsein für die Herausforderung ist ein Zeichen von Transparenz und ein wichtiger Schritt zur Bewältigung der Herausforderung. Eine Führungskraft kommt zudem ihrer gesellschaftlichen Verantwortung (national und international) im Rahmen politischer Aktivitäten (z. B. Lobbyarbeit) oder auch bei ihrer Unternehmensstrategie (z. B. bei der Nutzung öffentlicher Güter) nach. Eine moralische Führungskraft sollte sich verpflichten, nicht bewusst ökologische Kosten auf andere abzuwäl­ zen und nicht zu versuchen die faire Internalisierung solcher Kosten zu verhindern und dies auch bei Zulieferern und Partnern so weit wie möglich sicherzustellen. Überprüfung der Regeln: Interne und externe Unterlagen zum Nachweis des Handelns der Führungskräfte, z. B. Unternehmenslite­ ratur, Umweltaudits, Berichte von Nichtregierungsorganisationen, Berichte über die politische Lobbyarbeit des Unternehmens.

3.3.7 Umsetzung des Entwurfs Optimal wäre die GEC nicht als eigenständige und statische Liste von Regeln, sondern als ein Instrument innerhalb einer fortlaufen­ den Partnerschaft zwischen aufmerksamen Unternehmensführern, Berufsethikern und der Öffentlichkeit. Der Regeldiskurs ist ebenso

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wichtig wie die Regeln selbst. Ein solches Forum ermöglicht es den Teilnehmern, voneinander zu lernen und zeitnahe und realistische Lösungen für aufkommende Probleme zu entwickeln – Lösungen, die es der Geschäftswelt beispielsweise ermöglichen, eine Selbstregu­ lierung vorzunehmen, die den Bedarf an staatlichen Eingriffen verrin­ gert. Ebenso wichtig ist der Diskurs in der Öffentlichkeit. Der Regel­ entwurf mit seinem Vorschlag für eine standardisierte Berichterstat­ tung ist eine Gelegenheit für das Unternehmen, sein ethisches Han­ deln einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Unternehmen könnte eine eigene Darstellung veröffentlichen, in der es erklärt, wie es seinen Auftrag erfüllt und wie dieser Auftrag mit den gesell­ schaftlichen Werten vereinbar ist. Diese Selbstdarstellung wird durch den Zugang zu den veröffentlichten Materialien durch Experten und Journalisten ausgeglichen. Achtsame Führungskräfte und ihre Institutionen profitieren in vielerlei Hinsicht von solchen Bemühungen. Die Reputation wird ver­ bessert. Achtsame Führungskräfte gewinnen wertvolle Kontakte im internen Ethikforum, und die Unternehmen werden von einem effi­ zienten und umsetzbaren Ethikkodex geleitet. Indem sie die Bestim­ mungen der GEC unter Einbeziehung der Achtsamkeit übernehmen, schließen sie sich einer Gruppe vertrauenswürdiger Unternehmen an. Die Annahme und Weiterentwicklung der GEC beziehen Unter­ nehmen in einen Prozess ein, der eine positive und praktische Antwort auf die radikalen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Heraus­ forderungen gibt, denen sich Gemeinschaften weltweit gegenüberse­ hen. Diese Herausforderungen können nur regelbasiert angegangen werden, um die Grundlagen von Gesellschaft und Umwelt nachhaltig zu erhalten. Der GEC-Ansatz integriert daher die soziale, wirtschaftli­ che und ökologische Dimension. Er schützt die grundlegenden Werte der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Gerechtigkeit und berücksichtigt die Erkenntnisse eines Mindful Leadership, das auf dem Boden der Zehn Gebote, der Silas des Buddhismus, der Bene­ diktsregel und der Konstitutionen des Ignatius von Loyola steht. Die GEC ist bestrebt, diese für unseren eigenen pluralistischen Kontext zu integrieren, um den dringenden und lebenswichtigen Herausforde­ rungen unserer Zeit zu begegnen.

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3.3 Global Ethics Charta (GEC) für Führungskräfte

3.3.8 Konkretion Ganz konkret könnten Unternehmen zur Durchsetzung der Regeln in ihrem Unternehmen ein System aufbauen, das entsprechende Rahmenbedingungen mit angemessenen Belohnungs- und Sankti­ onsmechanismen schafft und so selbst gegenüber bedingt rationalem und irrationalem Verhalten eine präventionsunterstützende Unter­ nehmenskultur hat. Dazu gehört ein Sensibilisieren für nicht-ratio­ nale Verhaltensdispositionen ebenso wie eine Aufklärung über nega­ tive Folgen von Verletzungen der Compliance. Damit verbunden ist eine Personenfolgeneinschätzung, die insbesondere diejenigen Charaktereigenschaften identifiziert, die für eine gute Führung unab­ dingbar sind. Sie findet dasjenige irrationale Verhalten auf, das mög­ licherweise so tief in der Persönlichkeit verankert ist, dass es eine Übernahme von Führungsverantwortung ausschließt. Zudem gehört zur konkreten Umsetzung ein dauerhaftes Training mit einem Fokus auf echter Achtsamkeit.

Abbildung 25: Konkretion im Blick auf den Einzelnen

Damit eine derartige Umsetzung gelingt, muss ein Unternehmen seine Werte kodifizieren, kommunizieren, implementieren und dau­ erhaft organisieren.

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Kodifikation von Unternehmenswerten Leistung

Kommunikation

Kooperation

Moral

Kommunikation von Unternehmenswerten Intra Team

Inter Team

Extra Team

Implementierung/Instrumente des Wertemanagements Complianceprogramm

Werteprogramm

Ethikauditsystem

Personenfolgeneinschätzung

Organisation des Wertemanagements Ethik/Compliance Office

Chefsache

Funktionale Integration (Revision, Qualitätsmanagement)

Abbildung 26: Konkretion auf Unternehmensebene (nach Wieland)303

Auf globaler Ebene ist es im Montreal-Protokoll gelungen, in einem Punkt Klimaschutz durchzusetzen und zugleich dafür zu sorgen, dass damit Menschen nicht mehr durch eine zu geringe Ozonschicht gesundheitlich gefährdet werden.

3.4 Beispiel einer gelungenen globalen Lösung: das Montreal-Protokoll Ein bekanntes Beispiel für einen globalen, gelungenen Regelfin­ dungsprozess ist das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozon­ schicht (1985), ein Rahmenübereinkommen, das zum »Montrealer Protokoll über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen«304 führte. Das Protokoll wurde 1987 vereinbart und 1989 von zahlreichen Staaten ratifiziert. Weitere Staaten folgten sukzessive, so dass das Montrealer Protokoll im Jahr 2009 der erste universell ratifizierte Vertrag war. Nach Ansicht des ehemaligen Generalsekretärs der Vereinten Nationen Kofi Annan ist es »vielleicht das erfolgreichste

303 304

Vgl. Wieland (2007), 99. UN-Resolution 49/114.

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3.4 Beispiel einer gelungenen globalen Lösung: das Montreal-Protokoll

internationale Abkommen, das es bisher gab«.305 Das Protokoll ent­ hält einen Zeitplan für die Beendigung der Produktion und Verwen­ dung von etwa 100 Stoffen, die die Ozonschicht gefährden. Vor der Verabschiedung des Protokolls hatten die Unternehmen gute Gründe, z. B. Kühlschränke mit Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) herzu­ stellen, obwohl sie wussten, dass FCKW die Ozonschicht langfristig gefährdet. Dennoch war diese Strategie rational: Wenn Unternehmen A kein FCKW verwendete, waren die Kosten seiner Produkte höher als die der Produkte der konkurrierenden Unternehmen B bis Z, die FCKW einsetzten. Um einen Wettbewerbsnachteil zu vermeiden und die künftige Rentabilität zu sichern, musste auch A FCKW verwenden. In dem Moment, in dem eine verbindliche Vereinbarung getroffen und Sanktionen für diejenigen eingeführt wurden, die das Protokoll ver­ letzten, konnten alle Unternehmen leicht folgen und hatten Anreize, dies zu tun, da sie nicht mehr befürchten mussten, dass die Konkur­ renten, die noch FCKW verwendeten, davon profitieren würden. Der erste Schritt bei der Ausarbeitung des Übereinkommens und dann des Protokolls war die Diskussion über die Regeln und die rela­ tiven potenziellen Kosten/Nutzen unter den Beteiligten wie Medien, öffentlichen Interessengruppen und nationalen Stellen. Diese Dis­ kussion ist der Diskursebene zuzuordnen. Der Diskurs war erfolg­ reich, da das Risiko, die Ozonschicht zu verlieren und Milliarden von Menschenleben zu gefährden, immer deutlicher wurde. Daher konnten die Konvention und das Protokoll von den entsprechenden Gremien der UNO ausgearbeitet werden. Die Regeln in diesen Doku­ menten werden ordonomisch der Regelebene zugeordnet. Auf der Handlungsebene kommen die neuen Regeln zum Tragen, in diesem Fall im Handeln der Unternehmen, die jetzt Produkte ohne FCKW und etwa 100 andere Stoffe herstellen. Das Montrealer Protokoll ist ein hervorragendes Beispiel für gut funktionierende Ordo-Verant­ wortung und könnte auch als Paradigma in anderen Fällen dienen. Dabei konzentriert sich die Ordo-Verantwortung auf den Regel­ findungsprozess und auf die Institutionen und nicht auf die Taten der Akteure (d.h. »das Spiel«) oder ihre Motivation. Die Meta-MetaEbene sollte sich nicht mit einzelnen Verstößen oder schlechten Akteuren befassen, sondern könnte diese Verstöße als Beispiele nutzen, um rechtliche Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen Hier zitiert nach: https://2009-2017.state.gov/e/oes/eqt/chemicalpollution/ 83007.htm, zuletzt eingesehen: 31.07.2022.

305

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3 Führung im Dienst einer lebensdienlichen Ordnung

zu schaffen, die dem öffentlichen Wohl dienen, indem sie Verstöße verhindern. Auf diese Weise vermeidet die Ordo-Verantwortung moralische Schuldzuweisungen und Sündenbockstrategien, während sie auf kollektiv nützliche Lösungen abzielt.

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Zitierte Literatur

Im Folgenden ist nur die im Text angegebene und direkt verwendete Literatur aufgeführt. Jede weitere Auswahl kann bei der internationa­ len Fülle der Literatur zu den hier gestellten Fragen nur unbefriedi­ gend sein oder würde selbst den Umfang eines Buchs sprengen.306 Die Zitate werden nach der neuen deutschen Rechtschreibung wiedergegeben. Hervorhebungen in Zitaten sind grundsätzlich von den jeweiligen Verfassern. Übersetzte Zitate sind im Literaturver­ zeichnis angegebenen Ausgaben entnommen, es sei denn, wir haben diese als eigene Übersetzung kenntlich gemacht. Als Verlagsort ist immer nur der erste Ort angegeben. Bei den Vornamen wird der Vorname abgekürzt genannt. Fachzeitschriften werden entweder nach den international üblichen Abkürzungen oder mit dem vollständigen Namen einschließlich Nennung der Jahrgangsnummer angegeben. Eine Besonderheit stellen Internetverweise dar. Diese werden nur in besonders wichtigen Fällen im Literaturverzeichnis aufgeführt. Juristische und kirchenamtliche Texte werden nach offiziellen Abkür­ zungen angegeben und sind über die Internetseiten der jeweiligen Organe, z. B. des Vatikans, auffindbar. Biblische Zitate und Abkür­ zungen biblischer Bücher sind nach der Einheitsübersetzung der Jerusalemer Bibel wiedergegeben. Antike und mittelalterliche Texte werden im Text mit den üblichen Kürzeln und Zitationsweisen angegeben und im Literaturverzeichnis mit den Jahreszahlen der Edition aufgeführt. Bei neueren klassischen Werken sind die Erster­ scheinungsdaten in eckigen Klammern beigefügt. Sie werden nach der verwendeten, im Literaturverzeichnis angegebenen Edition mit Seitenzahl zitiert. 306 Eine Besonderheit stellt der Umgang mit eigenen, bereits publizierten Vorarbei­ ten dar, die wir nicht wie Fremdzitate durch Anführungszeichen kennzeichnen, selbst wenn Teile daraus wörtlich übernommen werden. Die entsprechenden Untersuchun­ gen sind jedoch im Literaturverzeichnis aufgeführt. In ihnen findet sich auch in vielen Fällen weiterführende Literatur. Wir folgen hier der traditionellen geisteswis­ senschaftlichen Praxis, wonach es unüblich ist, sich selbst zu zitieren, zumal es für dieses Buch keine Impact-Faktoren wie in den Naturwissenschaften gibt.

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10 Gebote 39, 229, 242, 249 Abbe 5, 6, 14, 132, 133, 155–162, 164–169, 194, 213, 248, 251– 254, 256–258 Abbildung 14, 26, 34, 36, 70, 76, 77, 81, 85, 86, 92, 104, 106, 109, 111, 112, 134, 137, 182, 188, 192, 207, 208, 220, 243, 244 Achatz 248, 253 Achtsamkeit 183, 185, 186, 194, 210, 212–219, 225, 229, 230, 242, 243, 248, 249, 251, 252, 254, 256, 257 Achtsamkeitstraining 187, 210, 215, 217, 248 Achtung 14, 72, 73, 137, 183, 202–206, 214–216, 218, 232– 236, 240 ADAC 95 addictive software design 211 Agent 103–105, 110, 112–114 Agfa 12 akademische Ethik 25, 31 akademische Wirtschaftsethik 13, 15, 53, 130 Akteure 22, 36, 37, 45, 46, 48, 53– 55, 67, 68, 71, 73, 109, 110, 113, 120, 121, 191, 245 Aktien 19, 82, 237 Aktiengesellschaft 55 Aktionäre 235 Albrecht 6, 109, 173, 183, 205, 213, 217, 228, 248, 253, 254, 256

Alisch 173, 248 Allah 31, 38 Altruismus/altruistisch 56, 131 anchoring effect 118, 124 Androulakis 105, 248 Angst 118, 119, 123, 124, 152, 198, 220, 221, 223, 224 Annan 125, 244 Anreiz 12, 44, 46–48, 51, 53, 68, 87, 112, 122, 128, 182–184, 225, 229, 230, 237, 238, 245 Anreizsituation 48 anthropologisch 41, 43 Anzenbacher 66, 248 AOK 211, 248 Appell 15, 22, 39, 40, 42, 44, 46, 48, 54, 55, 67, 68, 76, 80, 82 Appell-Falle 54 Apple 12 Arbeit 43, 49, 58, 61, 72, 83, 99, 123, 124, 127, 158, 172, 185, 197, 198, 200, 210, 211, 221, 225, 237, 238, 258 Arbeitgeberin/Arbeitge­ ber 69, 156 Arbeitnehmerin/Arbeitneh­ mer 69, 72, 123, 132, 156, 162, 237, 238 Arbeitsbedingungen 72, 91, 92, 98, 99, 123, 125, 130, 133, 224, 230, 237, 238 Arbeitslosigkeit 43

259 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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Arbeitsnormen 13, 98, 99, 126–128 Arbeitsschutz 100 Arbeitsteilung 158 Arbeitsverhältnis 99, 159 Arbeitszeit 100, 157, 158, 167, 237, 238 Argument 23, 30, 36, 39, 48, 62, 68, 249 Argwohn 220, 223 Aristoteles 17, 19, 25, 248 Armut 12, 83, 84, 89 Ärztin/Arzt 25, 47–52, 230 Auerbach 160, 162, 248 Aufgeregtheit 220, 222, 224 Augenmaß 205, 220 Ausgeglichenheit 220 Auszahlungsmatrix 49, 51, 52, 112 Authentizität 183, 205, 206, 220, 235 automatisiertes Fahren 138–142, 145–147, 149, 253 Automobilhersteller 20, 93–95 autonomes Fahren 12, 138, 144, 148 Autonomie 60, 62 Autorität 17, 39, 61, 90, 151, 173– 180, 189, 190, 193, 199, 202, 216, 217, 219, 248, 249, 253, 255 – -, deontische 173, 177–180 – -, epistemische 173, 177–180 Banken 16, 28, 82, 101, 236 Bankraub 46 barmherziger Samariter 33, 39, 40 Bass 182, 249, 251 Baumeister 225, 249, 255 Bayer 150, 152, 249 Bayer AG 150, 152 Bayley 107, 249

Becker 109, 249 Bedürfnisse 40, 43, 59, 75, 89, 121, 122, 133, 173, 186, 216, 221, 225 Begründung 27, 44, 53, 66, 179, 180, 238 – -, Letztbegründung 16, 30 Beharrlichkeit 196, 206 Benedikt/benediktinisch 183– 186, 219, 229, 249 Benediktsregel 242 Besinnung 185, 213, 214 Besonnenheit 205 Bestechung 102, 105, 107, 108, 113, 114, 120, 121, 129 Betriebsklima 157, 238 Bewertung 20, 22, 24, 30, 34, 106, 107, 149, 183, 221, 233 Beziehung 71, 89, 103, 104, 154, 163, 173, 175, 181, 187, 200 Bibel 16, 33, 37, 247 Blome-Drees 45, 58, 252 Bochénski 173–180, 249 Bolten 203, 249 Boni 101, 112, 237 Bosch 155, 212 British Petroleum (BP) 101 Brown 213, 249 Brundtland-Report 75 Buchanan 44 Buddhismus/buddhistisch 183, 184, 186, 229, 232, 242 Bunting 229, 249 Bürgerin/Bürger 47, 68, 145, 195 Burn-out 185, 197, 223, 250 Cannabis 15 Carl-Zeiss 132, 133, 155, 156, 159, 162–165, 168, 169, 194, 248, 251

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Carl-Zeiss-Stiftung 132, 155, 156, 159, 162–165, 168, 169, 194, 248, 251 CEO 185, 186, 218 Charaktereigenschaften 183, 184, 186, 243 Charta 226, 227, 230 Chicago-School 43 China 11, 81, 85–87, 98, 126, 128, 140 Chrysler 12 Cicero 195, 249 Compliance 24–26, 101, 109, 123, 129, 183, 204, 243, 258 – -, Complianceregeln 15, 20, 24 – -, Compliancesystem 109 contrast effects 120, 124 Cook 200, 254 Corona/Coronakrise 5, 11, 83–85, 99, 139, 152, 171, 239 Corporate Social Responsibility (CSR) 130–132, 249 Cotta 161, 249, 254 Covey 201, 204, 249 Creswell 213, 249 CRISPR 98 daily hassles 211 Datenschutz 139, 234 Daumann 47, 253 Davidson 213, 215, 251 de Loyola 184, 219, 252 Deepwater-Horizon-Katastro­ phe 100 defensive Strategie 113 Demokratie 44, 131, 159, 175, 252 Denzinger 249, 250, 252 Detzer 207, 249 Deutschland 16, 26, 28, 44, 47, 56, 57, 82, 83, 95, 99, 102, 107, 114,

126, 138, 139, 150, 155, 158, 163, 168, 212, 213 Diener 252 Dienstleistungen 40, 189, 233, 234, 239, 240 Dieselskandal 20, 22, 24, 30, 32, 58, 95, 129, 177, 179, 189, 227 Dietzfelbinger 107, 250 Differenzprinzip 63–66 Digitalisierung 5, 12, 172, 194, 197–199, 202, 216, 248, 253 Dilemma 46, 53, 88, 142, 146, 241 Diskriminierung 127, 232, 234 Diskurs 23, 36, 37, 54, 62, 63, 67, 68, 70, 73, 97, 132, 154, 183, 184, 226, 227, 242, 245, 251, 255 Diskursebene 22, 23, 39, 69, 76, 132, 245 disruptiv 12, 199, 211 Disziplin 18, 20, 35, 196, 226 Dölling 102, 103, 250 dominante Strategie 47, 48, 53, 88, 89, 113 Dörner 119, 142, 250 Drei-Ebenen-Modell – -, Diskursebene 22, 23, 39, 69, 76, 132, 245 – -, Handlungsebene 12, 22, 36, 37, 39, 40, 44, 45, 55, 56, 67, 68, 71, 73, 76, 97, 209, 226, 245 – -, Regelebene 23, 36, 37, 39, 44, 45, 56, 68, 69, 71, 128, 226, 245 Drucker 213, 250 Durchsetzungsfähigkeit 201, 221 economic point of view 40, 59, 76 Ehresmann 197, 250 Eifersucht/Neid 65, 119, 200, 220, 222, 224

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Eigeninteresse 17, 22, 23, 33, 41, 42, 44–48, 55–59, 68, 71, 87, 131, 132, 162 Eigentum 74, 102, 159, 190 Einzelinteresse 58 Elektromobilität 12, 135 Emanuel 83, 250 Emissionen 20, 24, 85–87, 97, 128, 189, 190, 239, 240 Enderle 250 Entgrenzung 44, 211 Entschädigung 167, 237 Entscheidungsfreiheit 144 Entscheidungsstärke 193, 199, 217 Erfahrung 59, 77, 119, 143, 149, 160, 161, 185, 194–197, 211, 215, 225, 231 Erfolg/erfolgreich 11, 14, 53–55, 122, 124, 138, 154, 184, 193, 196, 199, 200, 202, 204, 209, 212, 220, 222, 237, 244, 245 Erpressung 105, 113, 129 Ethik 5, 13, 15, 17, 19, 22, 24–27, 29, 31, 32, 34, 35, 37, 44–46, 54–56, 58, 62, 65, 67, 69, 76, 77, 137, 140, 143, 231, 250–258 – -, deontologische 31–33, 37, 56 – -, eudaimonistische/Tugende­ thik 32, 33, 37 – -, kognitivistisch 30, 34 – -, non-kognitivistische 27 – -, religiöse 25, 33, 44 – -, sprachanalytische 26 – -, teleologische 31, 32, 37, 56 Ethik-Kommission Automatisier­ tes und vernetztes Fahren 140, 143, 250 Ethikkommission 138, 140, 146 ethisch 13, 15, 18, 22, 24, 25, 27– 37, 46, 54, 56, 67, 69, 71, 73, 75, 77, 94, 95, 102, 107, 132, 142, 146, 153, 156, 160, 176, 183, 184,

187, 189, 195, 204, 226–230, 233, 242, 249, 254 ethischer Relativismus 27–29 Ethos 13, 20, 24–26, 33, 92, 163, 253 EU 21, 30, 108 Evangelien 38, 39 evolutiv 29 Ewing 20, 250 Externalitäten 241 Fahrerin/Fahrer 138, 140, 141, 143–145, 147–149 Fairness 183, 205, 206, 223 FCKW 245 Fehlanreiz 69 Fehler 28, 43, 100, 123, 124, 154, 175, 196, 208, 217, 222, 225 – -, Fehlerkultur 123, 217, 235 – -, systematische Fehler 117 Fehlhaltungen 219, 223, 224 Fehlschluss – -, dirigistischer 69 – -, legalistischer 15 – -, moralistischer 68, 70 – -, normativistischer 70 Fehlverhalten 21, 91, 97, 115, 138, 152–154, 191, 223, 225 Feldmayer 114, 115 Festinger 250 Feuerbach 60 Field 257 Finanzkrise 82 Finanzmärkte 82, 83 Fischer, Christoph 151 Fischer, Kuno 160 Fleischindustrie 99 Fleiß 160, 196 Flexibilisierungsdruck 172

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Flexibilität 12, 171, 194, 196, 197, 216, 221, 227 Ford-Pinto-Skandal 93, 133 Forschung 18, 161, 165, 169, 210, 213, 225, 237, 253 Fourier 60 Frankl 206, 219, 250 Frankreich 21 Franziskus 39, 40, 85, 250 Freiheit 40, 42, 43, 59, 72, 131, 196, 200, 227, 233, 236, 240, 249, 251, 254 – -, Versammlungsfreiheit 127, 232, 234 French 109, 250 Frieden 89 – -, Friedenssicherung 79–81 Friedman 130–133, 250 Führung 14, 43, 69, 171–173, 179–184, 186, 196, 199, 212– 215, 219, 222, 226, 229, 232– 235, 237–239, 241, 243, 249, 251, 254 – -, achtsame 182–186, 213, 214, 216, 226, 228, 229, 231, 232, 242, 248, 255 Führungskraft 5, 12, 68, 71, 101, 116, 126, 128, 132, 136, 153, 171– 173, 179–183, 186, 187, 190, 191, 193, 194, 196–200, 202– 205, 210, 212, 213, 215, 219– 222, 224–226, 228–242, 248, 249, 253, 255 Führungsstil 163, 180–182 Führungsverantwortung 184, 206, 243, 253, 254 Fürsorge 74, 139, 145, 146, 164, 205, 206, 209, 221–223 Galford 200, 250 Gebauer 115, 122 Gebhardt 171, 172, 251

Gebote 31, 39 Gefangenendilemma 46, 48, 56, 57, 88 Geld 11, 15, 37, 49, 83, 91, 105, 119, 131, 154, 208 Geldstrafe 21, 114 Gelles 218, 251 Gemeinwohl 89, 90 General Mills 212, 213 Gentechnik 150–152, 155, 171, 253 Gerechtigkeit 33, 43, 44, 62, 65, 66, 71, 73, 74, 76, 79, 81, 82, 137, 146, 183, 197, 201, 204, 206, 207, 224, 229, 242, 252, 253, 256 – -, intergenerationelle 65, 74, 75 – -, soziale 14, 64, 66 Gerechtigkeitsegalitarismus 74 Gerechtigkeitssinn 65–67 Gerl-Falkovitz 189, 251 Gerth 161, 251 Geschäftsmodell 172, 240 Gesellschaft 24, 25, 27–29, 33, 35, 37, 40, 43, 59, 61, 63, 65, 66, 71, 90, 107, 131, 132, 135, 155, 156, 161, 171, 172, 183–185, 191, 210, 213, 216, 226–228, 230, 232, 233, 235, 236, 240–242, 248, 252, 256, 258 Gesetze 16, 25, 28, 30, 102, 107, 137, 192, 204, 222, 223, 232, 235 Gesetzestreue 204, 206, 223, 232 Gesinnung 31, 32 Gesundheit 22, 45, 91, 94, 147, 211, 231, 233, 234, 240 Gewalt 22, 89–91, 96 – -, Gewaltmonopol 89–91 – -, Staatsgewalt 44, 90 Gewinn 15, 22, 31, 50, 51, 54, 56, 88, 117, 130, 133, 135, 156

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Gewinnmaximierung 54, 55, 135, 136 Gewohnheiten 33, 185, 186, 232 Gier 119, 124, 222–224 Global Compact 13, 73, 92, 93, 98, 108, 125, 127, 129–132, 182, 192, 226–230, 251, 253 Global Ethics Charta (GEC) 226– 228, 230, 241, 242 – -, Basisregeln 232 – -, Ökologische Dimension 133, 135, 192, 242 – -, Soziale Dimension 75, 192 Glück 17, 33, 41, 56, 61 Goldene Regel 35 Goleman 215, 251 Gönnenkönnen 200, 201, 220 Gonzalez 183, 229, 251 Google 12, 212 Gott/göttlich 16, 17, 31, 33, 38– 40, 61, 177 groupthink 119 Gruère 151, 251 Grundgüter 63, 66, 79, 91 Grundkompetenz 210 Grundwerte 183, 197, 201, 204, 206, 208 Grüninger 204, 258 Gruppe 20, 23, 31, 89, 119, 122, 173, 179, 180, 191, 224, 228, 231, 238, 242, 245, 254 Habermas 29, 59, 62, 251 Haftungsfragen 145 Handeln/Handlung 5, 13, 19, 31– 33, 35, 39, 56, 59, 61, 62, 69, 71, 75, 77, 103–105, 110, 112– 114, 117, 118, 121, 127, 132, 160, 161, 163, 173, 183, 189, 191– 193, 223, 225–227, 229, 241, 242, 245

Handlungsebene 12, 22, 36, 37, 39, 40, 44, 45, 55, 56, 67, 68, 71, 73, 76, 97, 209, 226, 245 Handlungsoption 58 Hegel 42, 43, 60, 61, 190, 251 Heller 197, 251 Hellmuth 157, 251 Hemel 39, 251 Hempel 210, 251 Henkel 157, 159, 162, 251 Hentze 201, 203, 251 Hermeneutische Methode 35 Heuristik 54, 58, 120, 124 Hippokratischer Eid 230 Ho 161, 251 Hobbes 17, 33, 37 Höffe 74, 252 Hofmann 171, 172, 251 holistic point of view 69 holistisch 24 Homann 44–46, 53, 55–59, 69, 103, 252, 253 Homo oeconomicus 41, 43, 44, 53, 57, 58, 76, 110 Homo religiosus 76 Homosexualität 34 Horn 74, 252 Horx 210, 252 Humankapital 72, 181, 237 Humboldt 161, 249 Hünermann 249, 250, 252 Hunger 64, 70, 79, 83, 84 Ie 213, 252 Ignatius/ignatianisch 183, 184, 186, 219, 229, 232, 242, 252 Imperativ 31, 60, 62, 74, 75, 160 Impfstoff 83, 84, 152, 155

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Implementierung/Implementa­ tion 38–40, 44, 58, 67, 129 Indien 11, 81, 87, 128, 150, 152 individualethisch 73 individuell 45, 48, 53, 71, 74, 114, 115, 119, 121, 124, 156, 184, 237 Industrieländer 86–88 – -, Nicht-Industrieländer 87, 88 inequity aversion 121, 224 Institutionen 12, 37, 44, 64, 65, 68, 73, 74, 81, 89, 91, 156, 185, 191, 209, 226–228, 233, 242, 245 Interessen 57, 68, 71, 130, 132, 135, 137, 155, 162, 164, 165, 167, 186, 194 Intuitionismus/intuitiv 34, 143, 257 Investitionen 83, 134, 185, 237 invisible hand 40, 42 Iran 28 Jackall 182, 252 Japan 26 Jena und Universität Jena 156, 157, 161, 162, 164, 165, 168, 169, 213, 248 Johannes Paul II. 40, 59, 252 Johannes XXIII. 89, 90, 252 John 43, 62, 160, 213, 249, 252, 253, 257 Johnson 204, 252 Jonas 74, 75, 252 Kabat-Zinn 213, 215, 252 Kahneman 117, 252, 253, 257 Kaluza 198, 253 Kapital 19, 202 Kartell 47, 236 Katar 98, 99 Kaufmann 39, 253 Kerber 253

Kernkraft 142 Kersting 64, 253 Keynes 43 Kiel 204, 254 Kinder 15, 74, 75, 94, 127, 144, 190, 212 Kinderarbeit 61, 72, 127, 233, 234 Klemm 6, 253 Klient 104, 110–114 Klima 79, 88, 133, 197, 221, 224 – -, Klimaerwärmung 5, 12, 86, 87, 89, 171 – -, klimaneutral 54, 86, 136 – -, Klimaschutz 79, 85, 244 – -, Klimavereinbarung 14, 86, 244 Klugheit 186, 195, 232 Knoepffler 6, 13, 24, 44, 47, 59, 73, 109, 138, 150, 183, 228, 248, 253–255 Kodak 12 Kodalle 248 Kohtes 213, 217, 254 Kok 210, 254 Kollegen 99, 112, 115, 119, 211, 233 Kommunikation 123, 139, 149, 150, 152–154, 199, 202–204, 215, 218, 219, 223 Kommunikationsstärke 173, 193, 202 Kommunikationswerte 202, 221–223 Kompetenz 136, 178, 181, 194– 197, 202, 212, 222, 223, 255 Konflikt 11, 18, 55, 79, 81, 90, 139, 141, 145, 199, 201, 202, 212, 219, 221, 223, 232 Konfliktfähigkeit 201 Konformität 153, 231 Kongo 12

265 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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Konsistenz/Konsistenzpostu­ lat 35, 45, 57 Konstitutionen 184, 227, 232, 242 Konvention 25, 150, 190, 234, 245 Kooperationswerte 199, 201, 209, 222 kooperatives Spiel 23 Korff 164, 195, 254, 256, 258 Korruption 12, 13, 91, 92, 101–125, 129, 130, 132, 133, 223–225, 235, 248, 252, 255, 256 – -, Bekämpfung 119, 121, 122, 129, 225, 248 – -, Formen 103, 105, 129 – -, Maßnahmen 117 – -, Prävention 120, 123, 124, 248, 250, 258 – -, Vermeidung 110, 122 Kosten-Nutzen-Rechnung 93, 94 Kramer 200, 254 Krankenkasse 47, 155, 158, 167, 211 Kreativität 194, 196, 202, 216, 217, 221, 229, 231, 235 Krieg 11, 27, 79–81, 83, 90, 149, 171 Krupp 155 Kultur 28–30, 129, 152, 210 Kyoto-Protokoll 86, 87 Lange 162, 183, 254 Langer 205, 213, 225, 252, 254 Lebensdienlichkeit 5, 14, 33, 39, 79, 85, 88, 89, 127, 130, 171, 209, 222, 258 lebenserhaltend 234 Leff 107, 254 Legitimität 71, 137, 138, 141, 144, 184 Lehman Brothers 82

Leistungsfähigkeit 173, 193, 194, 197, 216 Leistungswerte 194, 196–199, 208, 209, 221, 222 Lemuth 159, 254 Lenk 94, 95, 254 Lennick 204, 254 Leyendecker 115, 222, 254 Liberalismus 40 Lim 251 Lobby 24, 93, 136, 236, 241 loss-aversion/Verlustaver­ sion 117, 123, 124, 223 Loße 210 Loyalität 200, 201, 209 Lütge 44, 45, 53, 56, 57, 81, 131, 132, 252, 254 Machiavelli 17 Macht 24, 48, 68, 80, 89, 90, 102, 105, 119, 233, 236 Machtpolitik 80 Manager 21, 22, 54, 69, 101, 114, 115, 120, 131, 230, 249, 251, 255 Manchester-Kapitalismus 61 Maring 94, 95, 254 Markt 40, 41, 236, 253 Marktes 32, 59, 82 Marturano 213, 254, 255 Marx 59–62, 255 Maß/richtiges Maß 205 Maßlosigkeit 220, 222, 223 Maximinregel 66 Medien 22, 54, 68, 97, 154, 199, 202, 204, 245 Medtronic 218 Mehrwert 61 Menschenpflicht 73, 75 Menschenrecht 13, 32, 71–73, 79, 81, 91, 92, 94, 125, 126, 130,

266 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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137, 183, 184, 197, 201, 204, 206, 207, 224, 229, 230, 232– 234, 242 Menschenrechtserklärung 79, 233 Menschenrechtsverletzungen 13, 73, 89, 93, 126, 129, 133 Menschenwürde 13, 32, 68, 71–73, 76, 79, 82, 89, 94, 135, 137, 138, 156, 183, 184, 197, 201, 204, 206, 207, 224, 229, 230, 242 mental accounting 120, 224, 257 Merrill 204, 249 Milgram 205, 255 Mindeststandards 56, 234, 235 Mindful Leadership 213, 214, 216, 242, 248, 255 Mindful stereotyping 218 Mindfulness-Based Stress Reduc­ tion (MBSR) 215, 216 Mindless stereotyping 218 Missbrauch 90, 98, 102, 173, 177 Mit- und Umwelt 24, 30, 75, 130, 189 Mitarbeiter 14, 20, 71, 96, 102, 116, 123, 132, 158, 159, 161, 165, 179–183, 185, 191, 193, 194, 196, 199, 200, 202, 205, 208, 209, 219, 220, 222, 224, 230, 233–239, 250 Mitleidsethik 160 Mobilität 12, 21, 22, 135, 138, 143, 145, 254 Monopol 40, 150, 236 Monsanto 150–152 Montreal-Protokoll 14, 244 Moore 34 Moral 13, 24–26, 37, 44–46, 53–56, 67, 71, 106, 252, 254, 255, 257 moral point of view 59, 67, 68, 76

moralisch 15–17, 20, 24, 25, 27– 31, 34, 35, 39, 45, 46, 48, 56, 57, 59, 62, 64, 66, 67, 70, 76, 77, 97, 149, 156, 160, 161, 179, 180, 183, 204–207, 209, 221–224, 241, 246, 255 Moralphilosophie 25, 41, 160, 161 Moraltheologie 25, 254 Motivation 19, 35, 221, 245 – -, intrinsische Motivation 211 Mühlfriedel 157, 251 Muraven 225, 255 Mutter Theresa 57 Nachhaltigkeit 71, 75, 76, 79, 81, 82, 137, 197, 201, 206, 207, 224, 230 Nächstenliebe 42, 55 Nähe 203, 204 Nahrungs-/Lebensmittel 70, 240 NASA 120 Nass 39, 184, 255 nature of utility 118, 124, 225 Naturrechtsethik 32 Naturzustand 17, 33 Neoliberalismus 40, 43, 82, 184 Neuberger 182, 255 Ngnoumen 213, 252 Nida-Rümelin 30, 58, 255 Nokia 12, 136 Normen 16, 25, 27–29, 31, 33–35, 45, 56, 58, 62, 67, 71, 76, 77, 92, 96, 107, 192, 195, 226, 249 Nullsummenspiel 63, 80 Nutzen 32, 37, 41, 46, 51–53, 88, 93, 94, 110, 112, 113, 118, 120, 121, 124, 146, 151, 183, 225, 230, 245 Offenheit 183, 203, 204, 214–218, 220–223, 235

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Öffentlichkeit 23, 67, 70, 94, 95, 97, 138, 144, 152–154, 162, 187, 230, 241, 242 Ökonomik 41, 43, 44, 46, 54, 58, 68 Ökonomische Methode 44, 46, 69, 76 O’Malley 6, 255 Ordnungsethik/ordnungs­ ethisch 13, 34, 45, 54, 56, 248 Ordo-Verantwortung 184, 226, 228, 245 Ordonomik 36, 245, 256 Organisation 5, 89–92, 133, 135, 164, 166, 171, 173, 185, 186, 197, 200, 212, 226, 227, 250, 254 Orientierung 11, 67, 156, 199, 214, 217, 219, 223, 255 Orientierungsmuster 164 Ort der Moral 23, 45, 53, 68– 70, 76 Ott 255 Owen 60 Ozonschicht 244, 245 Pandemie 5, 11, 83, 85, 89 Papst 34, 39, 40, 85, 89 Paradigma 39, 40, 43, 46, 54, 55, 57, 184, 245 Pareto 64 – -, Pareto-Optimalität 64 – -, Pareto-Prinzip 64, 133 Pariser Abkommen 87 Partizipation/partizipativ 126, 181, 182 Paternalismus 139, 145, 156 Patienten 47, 48, 51–53 Person 12, 18, 22, 29–33, 35, 59, 63–67, 69, 73, 89, 93, 97, 103, 107, 115–120, 131, 132, 139, 144, 145, 156, 168, 175, 181, 188,

189, 191, 193, 194, 197, 201– 205, 208, 211, 219, 222–224, 231, 237 Personenfolgeneinschätzung 12, 14, 188, 192, 219, 220, 237, 243, 254 Petrow 149 Pfizer 152 Pflicht 31, 56, 59, 62, 68, 73, 74, 87, 105, 107, 127, 153, 158, 160– 162, 164, 166, 190, 200, 230, 234–236, 240 pflichtwidrige Handlung 105, 113 philanthropisch 131 Philosophie/philosophisch 17–19, 25, 30, 59–61, 66, 67, 160, 161, 186, 192, 195, 210, 249, 251– 253, 255 Pies 5, 13, 36, 68, 70, 81, 104, 114, 121, 131, 255, 256 Piet 215, 256 Platon 19, 195 Pluralismus/Pluralität 37, 184, 226, 242 Politik 18, 19, 23, 43, 79, 80, 82, 89, 96, 97, 123, 135, 160, 229, 236, 249, 258 Politikversagen 96 Präferenzen 41, 55, 57, 66, 67, 71, 116, 122 Präsenz 194, 199, 213, 214, 216, 218, 229 Prävention 215, 243, 248 Preis 22, 27, 40, 43, 70, 71, 82, 83, 93, 94, 114, 128, 136, 196, 209, 236 prekär 99 Primat 62, 65, 67, 110 Prinzipal 103, 104, 110, 112, 114 Prinzipien/Handlungsprinzi­ pien 27, 30, 34, 71, 76,

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82, 98, 102, 125–130, 153, 183, 184, 186, 204, 222, 223, 226, 227, 229, 230, 249 Pritzl 106–108, 256 Privatsphäre 139, 147 Produkte 31, 55, 82, 83, 98, 127, 134, 136, 171, 233, 234, 239, 240, 245 Profit 55, 130, 135, 250 – -, Profitabilität 133, 135 – -, Profitmaximierung 133–135 Proletariat 61 Putnam 29, 256 Quasten 210 Rahmenbedingungen 42–44, 46, 53, 65, 72, 114, 121, 123, 136, 147, 172, 196, 202, 211, 217, 229, 243, 245 Rahmenordnung 44, 45, 68, 70, 72, 76, 79, 132, 189 Raven 109, 250 Rawls 17, 33, 59, 62–66, 74, 253, 256 Rechenschaftspflicht 227, 230 Recht 15, 20, 21, 24, 25, 30, 39, 74, 97, 126, 127, 135, 152, 153, 162, 167, 245, 254 Regel 12, 17, 23, 26, 32, 35, 36, 38, 44–46, 48, 53–56, 58–60, 66, 68, 70, 71, 73, 77, 89, 92, 97, 99, 108, 116, 121, 132, 140, 141, 143, 147, 148, 175, 183, 184, 190, 195, 220, 226–241, 243, 245 Regelebene 23, 36, 37, 39, 44, 45, 56, 68, 69, 71, 128, 226, 245 Regelungen 5, 14, 22, 24, 26, 30, 37, 40, 70, 102, 108, 109, 120, 155, 156, 163, 166–168, 233 Regelwerk 37, 129, 226, 227, 229 Renault 21, 95 Reputation 129, 156, 242

Resilienz 197, 216, 251 Respekt 203–205, 209, 239 Revolution 61 Reziprozität 121, 122 Ricardo 60 Richard 213, 215 Richter 175 Riggio 182, 249 Risiko 79, 93, 95, 110, 113, 122, 136, 140, 141, 143, 146–149, 187, 211, 245, 256 Risikofaktoren 219, 221–224 Robinson 46 Roehl 171, 172, 251 Rogers 186, 256 Ropohl 188, 256 Rosa 211, 256 Rosin 96, 256 Rosmann 213, 217, 254 Ross 34 Rousseau 17 Rücksichtnahme 201 Russland 11, 43, 79–81, 86 Ryan 213, 249 Safety- und Security-Pro­ bleme 141, 142, 147 Saint-Simon 60 säkular 17, 31, 184 Samsung 12 Sandbothe 256 Sanktionen 81, 82, 96, 110, 113, 120, 123, 129, 245 Sanktionsmechanismen 67, 110, 114, 243 SAP 212 SARS-CoV-2 5, 11, 83–85, 139, 152, 171, 239 satisficing effect 120, 122, 123

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Saunders 184, 256 Schaden 23, 48, 81, 87, 97, 103, 110, 122, 133, 144, 191 Schadensersatz 116, 133, 152, 153 Schadenspotenzial 116 Scharmer 171, 185, 212, 213, 256 Schelsky 115 Schleier des Nichtwissens 33, 65, 66 Schmidt 21, 150, 183, 256, 258 Schneider 106–108, 256 Schomerus 158, 256 Schopenhauer 160 Schott 157, 159 Schröpfer 160, 161, 256 Schurz 27, 257 Schwartz 252 Sedlmeier 210, 257 Seibold Drapeau 200, 250 Selbstbestimmung 60, 72, 135, 138–140, 145, 146, 175 Selbstbestimmungs-, Nichtscha­ dens- und Fürsorgeprin­ zip 139, 145 Selbstbindung 45, 80, 258 Selbstführung 193, 198, 199 Selbstkontrolle 217, 225 Selbstschädigung/selbstschädi­ gendes Verhalten 47, 55, 56, 68, 70, 73, 87, 121 – -, kollektive Selbstschädi­ gung 88, 114 Selbststeuerung 217 Selbstverpflichtung 124, 131, 154, 155 Selbstwahrnehmung 214– 216, 218 self-deception 119, 123, 224 self-serving bias 119, 123, 224 Sengupta 151, 251

Sensibilität 203, 204, 217, 221, 222, 224 Shareholder 131 Siegel 215, 257 Siemens 101, 108, 109, 114, 124, 136, 155, 227 Siep 77, 257 Silas 232, 242 Simon 257 Singer 210, 213, 254 Sinndissonanz 220, 223, 224 Sinnerfülltheit 220 Sinnorientierung 206 Sison 204, 257 Sisyphos 210 Skandal 23, 68, 97, 101, 108, 109, 114, 129, 153, 227 Smartphone 12, 210 Smith 40–43, 60, 66, 257 Solidarität 30, 42–44, 53, 56, 71, 74, 91 Sorgfaltspflicht 127 Souveränität 201, 220, 222, 223 soziale Falle 46, 53, 57 sozialethisch 73 Sozialnormen 71 Sozialpolitik 162, 167, 252 Spannungsfeld 97, 98, 145, 180, 248, 253 Spielregeln 53, 54, 77, 90, 172 Spieltheorie 47, 80 spirituell 171, 185, 186, 226 – -, spirituelle Traditionen 226 Stakeholder 14, 173, 219, 230, 237, 239, 257 Standards 27, 137, 138, 141, 144, 151, 187, 227 Statut 132, 156, 159, 161, 163, 165, 167–169, 194, 248

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Steinmeyer 204, 258 Stiftung 156, 162–166, 168, 171, 194, 248, 251, 256 – -, Stiftungsbetriebe 164– 169, 194 – -, Stiftungsstatut 132, 156, 159, 161, 165 – -, Stiftungsunternehmen 156, 163, 166 Stolz 157, 159, 251, 252, 254, 256, 257 Strafen 28, 38, 47, 98–101, 108, 114, 120, 122, 210 – -, Haftstrafe 21, 114 – -, Strafverfolgung 116, 122 – -, Strafzahlungen 21, 97, 101, 114, 116 Stress 197, 198, 211, 215, 253 Stressoren 198, 212 Strukturen 11, 12, 40, 46, 47, 71, 79, 82, 84, 85, 88, 89, 91, 171, 193, 209 Stutz 159, 254 Subjektstatus 73 Subsidiarität 71, 74, 89 Suchanek 59, 257 sunk cost fallacy 118, 123, 124 Susskind 153, 257 System 17, 28, 47, 53, 65, 71, 99, 101, 110, 111, 140–142, 144– 149, 183, 185, 212, 243, 256 Tabelle 48, 49, 51, 52, 83, 84, 88, 89, 93, 96, 113, 116 Taiwan 11 Tesla 132, 133, 135, 136, 140, 148 Thaler 257 Thales 19 Theatralik 220, 223 theologisch 25 Thomas 150, 195

Thora 16, 39 Thukydides 80 Tice 225, 249, 255 Ting-Toomey 218, 257 Transformation 67, 182, 210, 212 Transhumanismus 171 transökonomisch 69 Transparency Internatio­ nal 102, 257 transzendental 59, 62 treadmill effect 120 Trump 57, 87 Tschernobyl 119, 142 Tversky 253, 257 Uhl 81, 131, 132, 254 Ukrainekrieg 11, 79–81, 83, 89, 171 Ulrich 33, 59, 67–69, 181, 249, 258 Umwelt 22, 76, 92, 128, 130, 193, 234, 239, 242 umweltfreundlich 128 Umweltschädigung 13, 87, 100, 101, 134, 136 Umweltschutz 82, 87, 125, 128, 239 UN-Resolution 244 unechte Geschenke 105, 113, 121 United Nations General Assem­ bly 258 United Nations World Commis­ sion on Environment and Deve­ lopment (WCED) 75, 258 Unparteilichkeit 200, 201 Unternehmen 11, 12, 14, 15, 20– 22, 26, 47, 54–57, 69, 73, 82, 85, 89, 91–94, 97–100, 103, 108, 109, 112, 114–116, 119, 122, 125, 126, 128–136, 138, 141, 144, 145, 147–150, 152–162, 164– 166, 168, 172, 173, 175, 181, 183, 186–189, 192, 193, 196, 200,

271 https://doi.org/10.5771/9783495997833 .

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204, 206, 209, 212, 219–222, 224, 226–230, 232–243, 245, 250, 254 Unternehmenskultur 122, 123, 233, 243 Unternehmensleitlinien 26 Unternehmensverfassung 108, 156, 164 Unternehmenswert 186, 235 Upstalsboom 212 Urteil 35, 39, 117, 143, 148, 190, 213, 214, 218 Urteilskraft 195 Urzustand 65–67 USA 20, 21, 82, 87, 93, 114, 141, 213, 250 Utilitarismus 22, 32, 56 Verantwortung 5, 12, 14–16, 30, 32, 39, 67, 69, 70, 73, 74, 89, 92, 97, 99, 126, 128, 130, 146, 153, 155, 156, 162, 187–193, 199, 203, 209, 212, 221, 224, 226, 227, 229, 232–237, 240, 241, 246, 252, 254, 256 – -, globale 92 – -, soziale 15, 131, 232, 238 Verantwortungsdimensionen 14, 188, 191 Verantwortungskonzen­ trik 191, 192 Verbrenner 134–136 Vereinte Nationen 13, 73, 75, 86, 88, 90–92, 125, 150, 226, 227, 230, 244, 245, 258 Verfassungsökonomie 71 Verhalten 19, 22, 48, 54–56, 94, 102, 109, 118, 119, 121, 125, 131, 141, 142, 148, 156, 158, 182, 183, 198, 206, 215, 216, 220, 223– 225, 230, 238, 243 – -, ängstliches 221

– -, bescheidenes 237 – -, faires 121 – -, korruptes 102, 105, 115, 118–121 – -, legalistisches/rechtskonfor­ mes 96, 122 – -, nicht-rationales/irrationa­ les 114, 117–120, 122, 123, 224, 225, 243 – -, rationales 48, 114, 121, 225, 243 – -, selbstschädigendes 47, 56, 223 – -, zwischenmenschliches 234 Verhaltensmuster 198, 216–218, 221, 224 Verlust 41, 61, 84, 94, 116, 117, 121, 167, 171 – -, Ergebnisverlust 116 – -, Umsatzverlust 116 – -, Verlust von Ansehen 116, 122 – -, Verlust von Loyalität 116 – -, Verlust von Positionen 116 – -, Verlust von Reputation 116 Verlustaversion 118, 123, 124, 223 Vernunft 17, 23, 31, 59, 62, 67, 69, 186, 254, 255 Versagen 12, 23, 24, 79, 97, 101, 128, 153 Verschwiegenheit 203, 204 vertikale Alphabetisierung 212 vertragstheoretisch 17, 33 Vertragstreue 204–207 Vertrauen 17, 81, 83, 104, 129, 153, 154, 183, 200, 201, 205, 214– 216, 218, 220–223 Vertrauensspiel 81 Vertrauensverletzung 105 Vestibularisprüfung 47, 49–51 Viebranz 103, 104, 258 visceral factors 119, 123, 124, 223–225

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vollständige Information 110, 114, 123 von Carlowitz 75 Vorgesetzte 102, 119, 179, 180, 183, 200, 208, 211 Vorschriften 31, 96, 100, 229, 232, 240 Vorsicht 203, 204, 221, 223, 232 Vorstandsmitglied 166, 168, 194 VUCA 171, 172 VW 20, 21, 95, 115, 153, 154 Waffen 79, 80, 90, 234 Waren 5, 11, 12, 40, 189 Warenverkehr 12 Weber 31, 32, 258 Weltanschauung 16, 17, 20, 24, 30, 130 Weltreligionen 16, 37, 38 Wert 5, 22, 24, 25, 27–29, 31, 33, 34, 36, 51, 54–56, 67, 71, 76, 92, 94, 96, 123, 137, 177, 182–184, 192, 195, 199, 201, 204, 206– 210, 217, 219, 221–224, 226– 230, 242, 243, 248, 251, 253 Wertemanagement 209 Werteviereck 206, 207 wertorientiert 5 Wettbewerb 11, 23, 56, 129, 248 Wettbewerbsvorteil 56, 112, 113, 194 Wieland 102, 104, 112, 204, 207, 244, 258 Wilkinson 116, 123, 124, 258 Wille 17, 31, 32, 54, 59, 99, 190, 192, 193 Williams 28, 258

Wirtschaftsethik 5, 6, 11, 13, 15– 17, 20, 22–24, 32, 33, 35–38, 40, 44, 55, 59, 67, 69–71, 76, 82, 156, 163, 250, 252–256, 258 – -, Jenaer Modell 69, 71, 73, 75– 77, 130, 163 – -, kantisch-marxsche Tradi­ tion 17, 29, 31, 33, 34, 59–69, 74, 76, 181, 195, 204, 249, 251, 253, 255, 256, 258 – -, religiöse Tradition 16, 37, 38 – -, smithsche Tradition 40–46, 53, 55–60, 66, 69, 76, 103, 252, 253, 257 Wirtschaftswachstum 63, 129 Wittgenstein 13, 258 Wittig 156, 158, 159, 163, 251, 252, 254, 256–258 Wohlstand 42, 171, 235 World Economic Forum 213 Young 210, 258 Zinsen 28, 83 Zuhörenkönnen 204 Zulehner 253 Zusammenarbeit 71, 154, 157, 162, 187, 202, 203 Zuverlässigkeit 200, 206, 207, 222 Zuwendungen 105 – -, Bestechungszuwendun­ gen 105 – -, Erpressungszuwendun­ gen 105, 113 – -, Schmierzuwendun­ gen 105, 113 Zwangsarbeit 98, 99, 127, 232

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