Minotaurus im Zeitkristall: Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus [1. Aufl.] 9783839421031

Gibt es einen originären deutschsprachigen Surrealismus in der Geschichte der deutschen Literatur? Detail- und kenntnisr

203 28 19MB

German Pages 356 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Minotaurus im Zeitkristall: Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus [1. Aufl.]
 9783839421031

Table of contents :
Inhalt
I. Grundsteinlegung: Verschwiegene Korrespondenzen im surrealistischen Zauberschloss der Intermedialität
II. Im Foyer – Arp und die Avantgarde
II.1 „Der große Derdiedas“ – Arps mehrstimmiges Ich-Konzept
II.2 „Die Kunstismen“ – Ein Dichter-Künstler zwischen Abstraktion und Surrealismus
II.3 „Maler, Bildhauer und Dichter des Surrealismus“ – Surrealistische Hommagen an Arp
II.4 Erkennungszeichen „Kolumbus“ oder „Was mich unauflösbar mit dem Surrealismus verbindet“ – Arps Liaison mit dem Pariser Surrealismus
II.5 „Place Blanche“ und die surrealistische Künstlerfrau – Arps (auto-) biographische Portraitgedichte
III. Salon und Schreckenskabinett – Alltag, Krieg und Machtpolitik im Zeichen der Moderne
III.1 Die „Normalorganisation“ des bürgerlichen Lebens – Arps Leiden an Normen und Normalitäten der herrschenden Sozialordnung
III.2 Von der „großen Schweinerei“ zum „Großen Sadisten mit allen Schikanen“ – Arps Anti-Bellizismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg
III.3 „Amerika“ und die „Könige vor der Sintflut“ – Supermacht-Politik und Atomkriegsgefahr
IV. Das Atelier der „Wachtraumdichtung“ – Die surrealistische Poetologie Arps
IV.1 „Die ungewisse Welt“ – Melancholische Metamorphosen
IV.2 Selbstbeobachtungen eines „Würfelspielers“ – Die Urszene surrealistischer Poesie und Kuns t
IV.3 „Die Ebene“ und „Die graue Zeit“ – Involutiver Chronotopos und poetische Metasymbolik
IV.4 „Ein Hirsch fährt Gondel“ oder Behörnter Vierfuß, aufrecht – Die Allegorien des surrealistischen Dichter-Künstlers
V. Zum Abschied: Die Gesänge des Minotaurus im Labyrinth der intermedialen Moderne
V.1 Pendel und leerer Raum: Arps abstrakter Surrealismus
V.2 Die Wahrheit des Surrealismus und die moderne Medienkultur
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildungsnachweis

Citation preview

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall

Lettre

Für Ruthi, Lukas und Charlotte

Thomas Lischeid (Prof. Dr. phil.) lehrt und forscht an der Pädagogischen Hochschule Weingarten im Bereich der Wissenschaft und Didaktik deutscher Sprache, Literatur und Medien.

Thomas Lischeid

Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: André Masson: Das Labyrinth (1938), © VG-Bild 2012 Lektorat: Thomas Lischeid Satz: Ariane Leutloff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2103-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I.

Grundsteinlegung: Verschwiegene Korrespondenzen im surrealistischen Zauberschloss der Intermedialität | 9

II.

Im Foyer – Arp und die Avantgarde | 33

II.1 „Der große Derdiedas“ – Arps mehrstimmiges Ich-Konzept | 41 II.2 „Die Kunstismen“ – Ein Dichter-Künstler zwischen Abstraktion und Surrealismus | 48 II.3 „Maler, Bildhauer und Dichter des Surrealismus“ – Surrealistische Hommagen an Arp | 56 II.4 Erkennungszeichen „Kolumbus“ oder „Was mich unauflösbar mit dem Surrealismus verbindet“ – Arps Liaison mit dem Pariser Surrealismus | 77 II.5 „Place Blanche“ und die surrealistische Künstlerfrau – Arps (auto-)biographische Portraitgedichte | 98 III.

Salon und Schreckenskabinett – Alltag, Krieg und Machtpolitik im Zeichen der Moderne | 123

III.1 Die „Normalorganisation“ des bürgerlichen Lebens – Arps Leiden an Normen und Normalitäten der herrschenden Sozialordnung | 131 III.2 Von der „großen Schweinerei“ zum „Großen Sadisten mit allen Schikanen“ – Arps Anti-Bellizismus im Ersten und Zweiten Weltkrieg | 166 III.3 „Amerika“ und die „Könige vor der Sintflut“ – Supermacht-Politik und Atomkriegsgefahr | 197 IV.

Das Atelier der „Wachtraumdichtung“ – Die surrealistische Poetologie Arps | 213

IV.1 „Die ungewisse Welt“ – Melancholische Metamorphosen | 227 IV.2 Selbstbeobachtungen eines „Würfelspielers“ – Die Urszene surrealistischer Poesie und Kunst | 237 IV.3 „Die Ebene“ und „Die graue Zeit“ – Involutiver Chronotopos und poetische Metasymbolik | 262 IV.4 „Ein Hirsch fährt Gondel“ oder Behörnter Vierfuß, aufrecht – Die Allegorien des surrealistischen Dichter-Künstlers | 280

V.

Zum Abschied: Die Gesänge des Minotaurus im Labyrinth der intermedialen Moderne | 307

V.1 Pendel und leerer Raum: Arps abstrakter Surrealismus | 310 V.2 Die Wahrheit des Surrealismus und die moderne Medienkultur | 318 Literaturverzeichnis | 329 Abbildungsverzeichnis | 345 Abbildungsnachweis | 351

Dem Menschen wurde die Sprache gegeben, damit er einen surrealistischen Gebrauch davon mache. (ANDRÉ BRETON: ERSTES SURREALISTISCHES MANIFEST) Da jeder ‚normale‘ Mensch (und nicht nur der ,Künstler‘) bekanntlich im Unterbewußtsein einen unerschöpflichen Vorrat an vergrabenen Bildern trägt, ist es Sache des Muts oder befreiender Verfahren (wie der ,écriture automatique‘), von Entdeckungsfahrten ins Unbewußte unverfälschte (durch keine Kontrolle verfärbte) Fundgegenstände (,Bilder‘) ans Tageslicht zu fördern, deren Verkettung man als irrationale Erkenntnis oder poetische Objektivität bezeichnen kann. (MAX ERNST: WAS IST SURREALISMUS?) Nur der Geist, der Traum, die Kunst führen zur wahren Kollektivität. (HANS ARP: UNSERN TÄGLICHEN TRAUM)

Abbildung 1: Hans Bellmer: „Portrait Hans Arp“ (1957)



I. Grundsteinlegung: Verschwiegene Korrespondenzen im surrealistischen Zauberschloss der Intermedialität „ARP (Hans), [...]. Peintre, sculpteur et poète surréaliste“ (ANDRÉ BRETON/PAUL ÉLUARD: DICTIONNAIRE ABRÉGÉ DU SURRÉALISME)

Abbildung 2: Denise Bellon: „André Breton und die surrealistische Gruppe“ (1960)

10 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Ja, es gibt einen deutschsprachigen Surrealismus in der Geschichte der modernen Literatur, zu seinen bedeutendsten Repräsentanten gehört ein Teilbereich der Lyrik Hans Arps. Diese in der Forschung neue literatur-, medien- und kulturwissenschaftliche These bildet den ‚Grundstein‘ der folgenden Untersuchung. Forschungsgeschichtlich zählt es schon seit Langem zum gesicherten Wissen über den Dichter-Künstler Arp, dass er Zeit seines produktiven Lebens im Umkreis verschiedener avantgardistischer Strömungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tätig gewesen ist und sich die damit verbundenen Einwirkungen, wie etwa des Dadaismus und der Abstraktion, in unübersehbarer Weise in seinem umfangreichen literarisch-künstlerischen Werk Ausdruck verschafft haben. Ebenso lange ist die lebensweltlich bedeutsame Tatsache bekannt, dass sich Arp infolge seiner Übersiedlung nach Frankreich, die sich Mitte der zwanziger Jahre vollzog, jahre- und jahrzehntelang im Umfeld verschiedener Avantgardezirkel, darunter auch gerade der zeitgenössischen surrealistischen Gruppierung unter Leitung André Bretons, bewegt hat. Dass allerdings dieser Kontakt zum Surrealismus in seiner ‚klassischen‘ Form, wie er sich in Paris nach Ende des Ersten Weltkriegs ausbildete und dort in der Zwischenkriegszeit zur führenden Kulturströmung heranwuchs, mit verantwortlich dafür ist, einen bestimmten und dadurch an besonderem Gewicht gewinnenden Teil seines literarischen Werks als „surrealistisch“ bezeichnen zu können, blieb hingegen bislang, so die hier vertretene These, unerkannt. Die möglichen Gründe hierfür, die unterschiedlicher Art sind, dürften im Laufe der Untersuchung ausreichend deutlich werden, an dieser Stelle soll lediglich hervorgehoben werden, dass die hier vertretene Arbeitshypothese durch einen gegenüber der bisherigen Forschung alternativen Zugang ermöglicht wurde, der sich in doppelter Weise als ‚neu‘ charakterisieren lässt. Zum einen ,materialiter‘ durch die konzentrierte Auswahl auf ein Werksegment Arps, deren Exempel, biographische, ästhetische und poetische Schriften aus seiner Hand, bislang kaum oder nicht unter dem gewählten Gesichtswinkel zum Gegenstand der Forschung geworden sind, zum anderen ,methodisch‘ durch die Beobachtung, die betreffenden Dokumente nicht nur mit theoretischen und literarischen Zeugnissen des Surrealismus, sondern gerade auch mit renommierten Werken der surrealistischen Malerei und bildenden Kunst in eine hermeneutisch fruchtbare Verbindung bringen zu können. Aus dieser sich wechselseitig vollziehenden Neu-Auswahl und Neu-Kontextualisierung eines bestimmten Teils der Dichtung Arps folgt konsequenterweise die im Folgenden praktizierte Vorgehensweise, den textnahen Blick auf die Poesie Arps mit intermedialen Analysen zu verbinden, also die Interpretation dichterischer Schriften um die Korrespondenz mit Werken surrealistischer Malerei und bildender Kunst zu vertiefen, um mögliche thematische, motivische und struktur-funktionale Über-

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 11

schneidungen zwischen Arp und der surrealistischen Bewegung zu ergründen. Der Fluchtpunkt dieser vergleichend-semiotischen Bild- und Symboldeutung liegt schließlich in dem Nachweis einer medienübergreifenden Konvergenz beider Positionen hinsichtlich der Auffassung moderner Kunst, Gesellschaft und Politik. Das erklärte Ziel dieser Untersuchung ist es also, Arp als einen zum Teil auch surrealistischen Dichter, als einen Mitbewohner des surrealistischen „Zauberschlosses“1 auszuzeichnen. Gesetzt den Fall, dass sich diese These einer kritischen Prüfung gegenüber bewähren sollte, wäre eine solche Einschätzung mit nicht unbedeutenden Auswirkungen auf die germanistische und komparatistische Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung verbunden. Eine besonders relevante Folge würde darin bestehen, eine im Vergleich mit der allgemeinen europäischen Entwicklung empfindliche Lücke ein Stück weiter schließen zu können. Denn in dem vorausgesetzten Fall besäße die Geschichte der modernen deutschen Literatur einen authentischen surrealistischen Autor mehr in ihren Reihen, der personell und in seinem Werk materiell einen vakanten Posten in der Reihe avantgardistischer Literatur seit Expressionismus, Futurismus und Dada besetzt. Nachdem sich die frühere deutsche Essayistik und Forschung seit Benjamin2, Adorno3 und Bürger4 vor allem auf den französischsprachigen Surrealismus konzentriert hatte, gehört es zu den Verdiensten der Literaturwissenschaft der letzten Jahre und Jahrzehnte, das infrage stehende Vakuum mit einer Reihe namhafter Autoren und Werke gefüllt und bestimmte surrealistische Affinitäten und Tendenzen etwa bei Kafka und Benjamin oder – für die Zeit nach 1945 – bei Celan, Weiss und der Wiener Gruppe ausgemacht zu haben.5 Diese Forschungstendenz soll

 1

Diese Selbstsymbolisierung der surrealistischen Bewegung als „Schloss“-Gebäude wird hier und im Folgenden übernommen aus Bretons „Erstem Manifest des Surrealismus“ (1924) und anderen seiner Schriften, vgl. z.B. ders. (1996), S. 20f.

2

Benjamin (1929/1988), S. 200-215.

3

Adorno (1956/1974), S. 101-105.

4

Bürger (1971); ders. (1974); ders. (Hg., 1982). Als weitere wichtige Forschungsbeiträge, die seit den siebziger Jahren erschienen sind, seien an dieser Stelle nur kurz genannt: Bohrer (1970), Lenk (1971), Steinwachs (1971), Scheerer (1974), Metken (Hg., 1976), Siepe (1977), Barck (Hg., 1986), Siepe (Hg., 1987), Bonnet (1988), Bender (1989), Béhar (1990), Hötter (1990), Hoß/Steiner (Hg., 1997), Bandier (1999), Bischof (2001), Spies (2008), Felten/Roloff (Hg., 2004), Zuch (2004), Schneede (2006).

5

Vgl. Bartsch (2003), S. 548-550; im Einzelnen zu Kafka: Link (1997/32006), S. 57-62; zu Benjamin: Fürnkäs (1988); zu Celan: Pretzer (1980); zu Weiss: Kesting (1981), Bommert (1991); zur Wiener Gruppe: Rühm (1967), Wischenbart (1983), Schle-

12 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

nun mit der vorliegenden Studie Unterstützung erfahren, indem sie sich einen Autor vornimmt, dessen biographische und künstlerische Nähe zum Pariser Surrealismus der Zwischen- und zweiten Nachkriegszeit offensichtlich ist, dessen literarisches Werk aber bislang nicht Gegenstand einer entsprechenden Untersuchung geworden ist. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass sicherlich nicht der Gesamtbereich der Dichtung Arps als „surrealistisch“ einzustufen ist, aber immerhin ein Werksegment, das bis dato gleichsam vernachlässigt worden ist. Inhaltlich und methodisch bedeutet dies, dass sich die vorliegende Studie auf einen zeitlich und substanziell begrenzten Werkausschnitt konzentriert, nämlich auf die Dichtung Arps aus seiner Pariser Zeit, deren Beginn Ende der zwanziger Jahre anzusetzen ist. Ihren Fokus wird sie dabei auf einen Gedichttypus legen, der – pointiert formuliert – die Kennzeichen eines „veristischen“, also „traumbildhaften Surrealismus“ trägt. Mit dieser Wahl rückt schon die Anlage dieser Arbeit deutlich von dem Mainstream der wissenschaftlichen Arp-Literatur ab, die in bislang überwiegendem Maße Arps Beteiligung am Mouvement Dada und damit die Zeit vor, während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt hat. Sie will damit von Anfang an signalisieren, dass es ihr mit der Konzentration auf die Pariser Zeit um etwas Neues im dichterischen Oeuvre Arps geht, was auch bedeutet, dass der Teil des mittleren und späten Werk Arps, der sich weiterhin eng an den mit Dada eröffneten Typ anschließt, außerhalb der Betrachtung bleibt. Denn der in dieser Studie infrage stehende Gedichttypus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich erst in der Pariser Zeit entwickelt hat, und zwar vor allem durch den Kontakt mit der dortigen Surrealistenszene, und in eine bestimmte Phase der dichterischen Produktion und Veröffentlichung Arps fällt, die in etwa die Zeit der dreißiger bis Ende der fünfziger Jahre umfasst. Zwar fällt es im Einzelnen nicht ganz leicht anzugeben, wann genau der Zeitpunkt des Anfangs dieser Phase sowie die Entstehung einzelner Werke dieser Art anzusetzen sind, feststellbar ist aber immerhin, dass die früheste Publikation der infrage stehenden Texte erst in die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg fällt (u.a. aufgrund der für Arp typischen ‚verzögernden‘ Publikationspraxis wie auch politischer Umstände). Somit bleibt festzuhalten, dass in der Auswahl „Muscheln und Schirme“ (veröffentlicht 1939) ein erster Anklang an die neue Dichtungspraxis zu finden ist, während der erste Höhepunkt, quantitativ wie qualitativ, in der während der Kriegszeit verfassten, aber erst in den fünfziger Jahren

 brügge (1985); außerdem zu weiteren deutschsprachigen Surrealistennachfolgern nach 1945 Albers (Hg., 1995). Vgl. neuerdings zur Frage eines „Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur“ auch Friederike Reents (Hg., 2009).

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 13

erstmalig publizierten Anthologie „Die ungewisse Welt“ (1939-1945) erreicht wird. Weitere wichtige Beispiele sind in anderen Sammlungen der zweiten Nachkriegszeit enthalten, die teilweise ebenfalls auf älteres Material zurückgreifen, in „Auch das ist nur eine Wolke“ (1951), „Puppen“ (1952) und „Könige vor der Sintflut“ (1952/1953), in „Auf einem Bein“ (1955) und „Kleine Anthologie“ (1958).6 Wie den Titeln abzulesen ist, sind es in der Regel deutschsprachige Gedichte, die dem infrage stehenden Typus angehören, während sich nur relativ wenige Beispiele innerhalb des französischsprachigen Werks finden, das sich in der Pariser Zeit parallel zum deutschsprachigen entwickelte. Es ist zu betonen, dass diese Texte nicht nur einzelne, bisher nicht behandelte Exempel aus Arps umfangreichem Werk abgeben, sondern dass sie, so die These, eine ganze Tendenz und Richtung in seinem dichterischem Schaffen repräsentieren, die von der Forschung bislang übersehen worden ist. Es handelt sich dabei um den Gedichttypus, der hier, wie schon angedeutet, als ,veristisch-surreal‘ bezeichnet werden soll und als solcher nicht einfach dem dadaistischen Muster subsumierbar ist. Die Begriffswahl lehnt sich an die kunstwissenschaftliche Terminologie an, die darunter, kurz gefasst, die Fabrikation von bildhaften Darstellungen innerhalb der surrealistischen Produktionsweise versteht, die sich in Form traumanaloger Gestaltungen vollzieht. Im intermedialen Vergleich kann die surrealistische Malerei und Bildkunst, die in der Nachfolge de Chiricos mit Max Ernst, Masson, Tanguy, Magritte, Dalí u.v.m. prominente Repräsentanten gefunden hat, als bislang paradigmatisch für einen solchen ‚traumbildhaften‘ Formtyp gelten. Historisch und systematisch gesehen bildet dieser neben der „automatischen“ Dichtung und Malerei im engeren Sinn den zweiten Grundpfeiler surrealistischen Selbstverständnisses, ein Faktum, das auch der theoretische Kopf und Lenker der Bewegung, André Breton, in Schriften der dreißiger und vierziger Jahre legitimiert hat: „Dem Maler öffnet sich eine Welt von Möglichkeiten, die vom schlichten Sich-Überlassen an den graphischen Impuls bis zu der Fixierung von Traumbildern in einem trompe-l’œil geht.“7 Die spätere kunstwissenschaftliche Forschung ist der theoretischen Ausdifferenzierung eines solchen Formtyps gefolgt, hat dafür die Bezeichnung „veristisch“ eingeführt und als terminus technicus kanonisiert.8

 6

Vgl. Hans Arp (1963), S. 233-248; ders. (1974), S. 34-48, 110-130, 138-142, 148-179.

7

Breton: PEINTURE, in: ders./Éluard (1938/1969), S. 20. Übersetzung T.L.

8

Vgl. z.B. Schneede (1973), S. 28-30; neuerdings ders. (2006), S. 83ff., 113ff., 139ff. Vgl. auch Spies (2008), z.B. S. 76 u. 96.

14 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die damit verbundene Bildgestaltung fiktionaler Imaginationen, die sich ebenfalls wie die automatische Dichtung auf das spezifisch surrealistische Produktionsparadigma von „Traum“, „Unbewusstem“ und „Zufall“ beruft, steht im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. Allerdings hat sie sich dazu nicht die mittlerweile renommierte Malerei und bildende Kunst des Surrealismus als ihren zentralen Referenzpunkt auserkoren, sondern – als Beispiel auf dem Gebiet der Literatur – die Dichtung Hans Arps. ‚Veristischer Surrealismus in der Literatur‘ oder ‚Surrealistische Traumbilder im Medium der Poesie‘, so könnte, nach zugrundeliegender These, das Programm lauten, das Arp mit seinem hier interessierenden Schreibprojekt verfolgt hat. Als Werkkonzept, das einzig mit schriftsprachlichen Mitteln arbeitet, besitzt es zunächst seine eigengesetzlichen Verfahren und Strukturen, die es von anderen lyrischen und bildkünstlerischen Formtypen unterscheiden. Im Bereich der Lyrik und der eigenen dichterischen Entwicklung ist die Differenz gegenüber der eigentlich dadaistischen bzw. automatischen Produktion bemerkenswert. Denn für jenen Gedichttyp war eine Form der Wort- bzw. Bildmontage charakteristisch, die unter Einbehaltung regelgeleiteter Grammatik den traditionellen Bildraum und konventionellen Sinnzusammenhang eines Textes in ein Konglomerat atomisierter Einzelbausteine zerrieb. Wie „Glassplitter in einem Kaleidoskop“9 stürzten die Worte und Bilder aufeinander, ohne dass sie sich noch in wortwörtlicher oder symbolisch-übertragbarer Hinsicht zu einem Sinnganzen vereinigen lassen wollten: „sein kinderhut tanzt um die sonne in seiner koje gurren tauben auf dem lichtstrahl aus seiner nase steigen spielbälle und entkettete falken und mit vernehmbarem donnern rollt mutter natur aus dem tannenbaum.“10 Bis an sein Lebensende folgte Arp in einem größeren Teil seiner Produktion diesem Paradigma, darin auch eine gewisse Nähe zur Dichtung des frühen Surrealismus bewahrend. Im Vergleich zu diesem Gedichttyp automatischen Schreibens im engeren Sinn zeichnet sich der infrage stehende Typus durch eine mehr sinnkohärente und lyrisch konturierte Form aus. Eine Tatsache übrigens, die schon bei der Lektüre mancher Titel und Anfangszeilen ins Auge sticht, bei Formulierungen wie „rosen schreiten auf straßen aus porzellan“ (1939) oder „Ein Hirsch fährt Gondel“ (1956). Auf bestimmte poetische Kennzeichen im traditionellen Verständnis wird zwar weiterhin bewusst verzichtet, etwa auf lautlich-klangliche Überformungen von Metrum und Reim, und auch die einfache Wortwahl und der eher glatt gefügte, parataktische Satzbau belassen die Texte weiterhin in gewisser Prosanähe. Doch unverkennbar findet auf höherer struktureller Ebene eine be-

 9

Vgl. Bischof (2001), S. 108.

10 Hans Arp: sein kinderhut (1920), in: ders. (1963), S. 73.

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 15

merkenswerte Restitution bestimmter elementarer poetischer Verfahren und Strukturen statt. Dazu zählt zum einen die (Wieder-)Entdeckung der typisch lyrischen Perspektive, des lyrischen Ich, das ansonsten in Arps Dichtung fehlt und diese Texte in bemerkenswerter Sonderheit verbindet.11 Zum anderen ist das Aufgreifen eines poetischen Elements hervorzuheben, das als noch formbestimmender einzustufen ist, da es den Gesamteindruck der Gedichte wohl am stärksten prägt und zugleich in stilistisch-tonaler Hinsicht einen Neu-Entwurf darstellt. Nichts anderes ist natürlich hier gemeint als die dichterische Entdeckung und Erfindung eines veristischen, traumbildanalogen Bildraums im Sinne des Surrealismus, der im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Seine Entstehung verdankt sich zwar zum nicht geringen Teil der Wiedereinführung der genannten Ich-Perspektive, da durch deren individualisierenden Blick gleichsam ‚natürlich‘ die Erzeugung eines mehr oder minder einheitlichen Raum- und Zeit-Kontinuums angeleitet wird. Seine strukturelle Ausgestaltung folgt aber eigenen, darin neuartigen und zum bedeutenden Teil eben dem Surrealismus verpflichteten Gesetzen. Diese bewirken, dass vor den Augen des lyrischen Ich und damit des Lesers, der diesem im Akt der Lektüre folgt, ein imaginärer Raum bildlich-symbolischer Evokation aufgespannt wird, der durch einheitliche und eindeutige Raum- und Zeit-Bezüge sowie darin fest platzierte Figuren und Gegenstände fixiert erscheint, – und diese zugleich in ein verfremdetes, eben ‚surreales‘ Licht taucht. Eine situativ geprägte Konstellation von Figur, Raum und Zeit bildet sich damit aus, die für Arp (wie auch wohl die Literaturgeschichte) durchaus neu und von bemerkenswerter ästhetischer Prägnanz ist. Aus ihrem generativen ‚Kern‘ haben sich zugleich eine Reihe (meta-)poetischer Grundgesten entwickelt, die das Grundmodell im Zustand imaginärer Anschaulichkeit konkretisieren, wie etwa: Ein einsames, melancholisches Ich in unwirtlicher, symbolisch verrätselter Landschaft („Die Ebene“, „Die graue Zeit“); ein Ich, das andere und sich selbst bei der Ausübung seltsamer, gleichsam tranceartig-magischer Praktiken beobachtet („Mein eigenes Gesicht“, „Seine würfelnden Hände“), oder ein Ich, das die Welt des Alltags und der sozialen Normalität wiederverzaubern möchte („Place Blanche“, „ich bin ein pferd“, „Gondel fahren“). Der damit eingeschlagene Weg struktureller Kondensierung zeitigt aber nicht nur seine Folgen auf der Ebene von Perspektivität, Situationalität und Bildlichkeit, sondern konsequenterweise auch auf dem Gesamtgebiet textueller Sinnkohärenz. Zwar behalten die auftretenden Figuren, Gegenstände und raumzeitlichen Gegebenheiten eine sig-

 11 Diese Differenz wird besonders im Vergleich mit der A-Perspektivität der dadaistischautomatischen Dichtung sowie dem Vorherrschen des lyrischen Du in den zeitgleichen Sophie-Zyklen deutlich.

16 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

nifikante ‚Fremdheit‘ sich selbst und anderem gegenüber, die sie weiterhin asyndetisch bei maximaler atmosphärischer Intensität erscheinen lässt, doch mit der steigenden Konturierung von lyrischer Perspektive und Situation erhöht sich gleichsam proportional der mögliche Anteil sinnstiftender Bezüge und Bedeutungen. Die imaginären, gleichsam von innen leuchtenden Evokationen erwecken nunmehr den Eindruck, nicht bloß unchiffrierbare Worte und Bilder zu sein, sondern ein Rätsel zu beherbergen, das bei treffender symbolischer Entzifferung sein Geheimnis lüften werde: „Verwelkt hängen unsere Träume im abwegigen Heute.“12 Einem intermedial und interdiskursiv orientierten Blick gehen hier die Augen auf. Die Lektüre der Gedichte erinnern eine zureichend kunsthistorisch informierte Sicht an etwas, dass sie schon einmal wahrgenommen hat, nämlich auf Bildern des veristischen, traumbildhaften Surrealismus. Denn mit deren Gestus teilen die Texte die spezifischen Phänomene der Raum-, Zeit- und Figuren-Gestaltung sowie den Modus der magischen und zugleich abgründig-melancholischen Atmosphäre. So handelte es sich schon beim Raum surrealistischer Traummalerei um einen deutlich artifiziellen Bühnen-Raum mit Horizontlinie, man denke an das einsame Zimmer oder die melancholische Stadt bei de Chirico, Ernst und Magritte, an die Landschaften der Wüste, der Unterwasserwelt und ferner Sterne bei Masson, Tanguy und Dalí. Ebenso herrschte schon hier die Seinsweise einer intensiven, in sich selbst gekehrten Temporalität vor, das kristalline Zeit-„Plateau“ (Deleuze/Guattari), die „involutive durée“ (Bergson/Link) bzw. der „Chronotopos“ (Bachtin/Gumbrecht)13 der gleichsam ewigen Stunde, ganz in sich selbst ruhend und selbstbespiegelnd in der bildkünstlerischen Art der „durchbohrten Zeit“ Magrittes oder der berühmten „weichen Uhren“ Dalís. Und schließlich sind die Figuren und Gegenstände, die sich auf diesem raumzeitlichen Tableau aufgestellt fanden, von jenem selben Schicksal betroffen, sich in einer befremdlichen Welt des Urbanen, Submarinen und Lunaren unendlich verloren und vergessen, zugleich nach Erlösung harrend vorkommen zu müssen. In diesem Fluidum artifiziell-mysteriöser Örtlichkeit und klandestiner Stunde erglänzte das Klima eines intimen Änigmas, unergründlich und doch jeden in sein Vertrauen ziehend.

 12 Hans Arp: Puppen (1952), in: ders. (1974), S. 211-214, hier S. 211. 13 Zu den Begriffen vgl. Deleuze/Guattari (1980/1992), Link (1997/32006), S. 44f. bzw. Gumbrecht (2010).

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 17

Abbildung 3: Giorgio de Chirico: „Der Große Metaphysiker“ (1916, 1924/1925)

    

18 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 4: Max Ernst: „Der Surrealismus und die Malerei“ (1942)

Abbildung 5: Salvador Dalí: „Die Beständigkeit der Erinnerung“/ „Die zerrinnende Zeit“ (1931)

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 19

Diesem Faszinationstyp eines spezifischen, noch näher zu bestimmenden „Chronotopos“14 fühlen sich also die hier zu thematisierenden Gedichte Arps verwandt. In den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit den Formen der Kunst und ihrer Geschichte beschäftigen, herrschte bislang die Ansicht vor, dass der hier interessierende Bild- und Symboltyp als eine nahezu exklusive Domäne der bildenden Kunst und Malerei aufzufassen sei, die übrigens damit in einem beträchtlichen Maße zu geschichtlichem Erfolg und anhaltender Prominenz des Surrealismus beigetragen habe. Die vorliegende Untersuchung will nun zeigen, dass Arps Dichtung diesem Paradigma schon zeitgenössisch ein eigenes und durchaus gleichwertiges Geschöpf aus dem Bereich der literarischen Sister Art beigesellt hat. Bekanntlich waren schon die Surrealisten selbst von einem engen Verhältnis zwischen Literatur und Kunst ausgegangen, so dass sich die Lyrik und Prosa eines Breton, Éluard und Aragon in der Malerei eines de Chirico, Ernst oder Dalí wiedererkannten. Lautréamonts vielzitiertes Diktum „Schön wie die unvermutete Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“15 sollte denn auch zum Leitmotiv für Künstler beider Gattungen und Medien werden, so auch für Arp. Denn auch dieser, der ja, wie so mancher Surrealist, selbst Dichter und Künstler zugleich war, hat nicht nur in seiner literarisch-künstlerischen Praxis, sondern auch theoretisch diesem Geschwisterund Liebesverhältnis beigestimmt, etwa als er dem Diktum Hugo Balls beipflichtete: „Das Wort und das Bild sind eins. Maler und Dichter gehören zusam-

 14 Vgl. zur allgemeinen Definition des Begriffs und Konzepts „Chronotopos“ nach Michail M. Bachtin: „Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos („Raumzeit“ müsste die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. [...]. Für uns ist wichtig, dass sich in ihm (dem Chronotopos, T.L.) der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raums) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie der Literatur [...]. Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt an Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen“; in: ders. (1975/2008), S. 7. 15 Vgl. Comte de Lautréamont (Pseudonym für Isidore Ducasse) (1869/1954), S. 9-288, hier S. 250.

20 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

men.“16 Wenn nun diesem medialen Wechselverhältnis in der folgenden Untersuchung genauer nachgegangen wird, so beruft sie sich zum einen auf schon vermutete oder auch gesicherte Wissensbestände über das enge Verhältnis von Literatur und Kunst im Zeichen des Surrealismus, zugleich betritt sie aber im Falle Arps durchaus Neuland. Denn bis dato ist die Forschung eher arp-immanent vorgegangen, mal mit dem Schwerpunkt auf die Dichtung, die durch Beispiele seiner eigenen Malerei und Skulptur analytische Ergänzung erfahren hat (so in eher literaturwissenschaftlicher Perspektive), mal, was häufiger der Fall war, mit Gewicht auf die künstlerischen Arbeiten, die durch das Licht literarischer und theoretischer Aussagen erhellt wurden (in eher kunstwissenschaftlicher Perspektive). Eine Erweiterung des Gesichtsfelds im hier intendierten Sinne, die der interdiskursiven Liaison zwischen Literatur und Kunst des Surrealismus im Medium der Lyrik Arps nachspürt, ist aber noch nicht systematisch vorgenommen worden. Im Falle Arps liegt es aber nahe, einen solchen Blick zu wagen. Biographisch gesehen unterhielt er über Jahre und Jahrzehnte hinweg enge freundschaftliche Kontakte zum Pariser Surrealistenkreis und bewegte sich damit in einem intellektuellen und literarisch-künstlerischen Terrain, das auf einen engen osmotischen Austausch zwischen den Gruppenmitgliedern angelegt war. Bekanntlich hat Breton als Selbstverständigungsformel der surrealistischen Bewegung die Metapher des „Schlosses“ gewählt, darin die Vielzahl und das mehr oder minder enge Beziehungsgeflecht ihrer Gruppenmitglieder bezeichnend und jemanden wie Arp mit einschließend. Unter diesem Gesichtswinkel ist davon auszugehen, dass Arp ein Großteil der Werke seiner surrealistischen Künstlerkollegen bekannt war, so wie umgekehrt den Surrealisten nicht nur seine malerischen und plastischen, sondern – zumindest zum Teil – auch seine dichterischen Arbeiten vertraut waren (Letzteres in Grundzügen, im Original, übersetzt, publiziert oder in anderer Form ‚übermittelt‘). Daraus erklären sich nicht nur die angesprochenen strukturellen Konvergenzen wie im Falle des hier interessierenden Bildtyps, sondern auch Übereinstimmungen in Thematik, Motivik und Symbolik, die, wie noch zu zeigen sein wird, eine zum Teil frappierende Gestalt gewonnen haben. Es ist denn auch nur selten genau zu eruieren, wer im Einzelnen der Gebende und wer der Nehmende gewesen ist, zumal sich der Austausch in einem Milieu abspielte, in dem ein solches wechselseitiges Verhältnis nicht nur gebilligt, sondern auch aufgrund bestimmter theoretischer und pragmatischer

 16 Hans Arp: Träumer, in: ders. (1948), S. 84; vgl. aus programmatischer Sicht des Surrealismus das Editorial in der 1. Nummer der Zeitschrift „Minotaure“ (1933): „Il est impossible d’isoler aujourd’hui les artes plastiques et la poésie“.

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 21

Überlegungen bewusst gefördert worden ist. Schon den Surrealisten selbst erschien daher das Faktum der ‚Korrespondenz‘, im doppelten Sinne gemeint als ‚Austausch‘ und ‚Übereinstimmung‘, wichtiger als die Feststellung primärer Einfluss- und Statusgrößen, wie aus einem Zitat Marcel Jeans, des langjährigen Surrealistenfreunds Arps und einem der ersten Historiographen der Bewegung, deutlich wird. Mit dem Fokus auf den Bereich der bildenden Kunst, der aber zumindest metaphorisch auch den Bereich der Dichtung einbegreift, charakterisierte er Arps Beziehung zur Bewegung mit den Worten: Arp lieferte mit den Konkretionen seinen spezifischen Beitrag zum Surrealismus. Er verkörperlichte (konkretisierte) hart und fest das Imaginäre in den drei Dimensionen des Raums zu Gegenstandswesen, als seien die früheren puzzleartigen Reliefs ins Leben getreten. Die Konkretionen wurden mit großer Geduld geknetet und gleichsam abgenutzt; sie scheinen die Wesen aus Tanguys Bildern zu materialisieren, die ihrerseits an Reliefs von Arp erinnern. Das sind keine äußeren Einflüsse, sondern innere Übereinstimmungen zwischen diesen magischen Dichtern.17

 17 Jean (1959/1961), S. 190. – Vgl. hierzu auch Poley (1978), S. 140-142 und S. 161f.; insbesondere hier auch der explizite Vergleich von Arps Skulptur „Kleine aufgestützte Figur, genannt ‚Die Ägypterin‘“ (1938) mit analogen Motiven in der Malerei Tanguys.

22 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 6: Hans Arp: „Kleine aufgestützte Figur, genannt ‚Die Ägypterin‘“ (1938)

Abbildung 7: Yves Tanguy: „Durch Vögel, durch Feuer, aber nicht durch Glas“ (1943)

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 23

Dass bei aller „Übereinstimmung“ dieses Verhältnis nicht so zu verstehen ist, als ob es sich dabei um eine deckungsgleiche Eins-zu-Eins-Korrespondenz handle, dürfte gleichfalls evident sein. Dagegen spricht natürlich der Wille zur Individuation, der bei aller Gruppenzugehörigkeit bei jedem ‚echten‘ Surrealisten sein Recht behauptete und sich auch im Form- und Stilwillen jedes Einzelnen Ausdruck verschaffte. Anspielung auf Anderes und die Gestaltung von Eigenem und Neuem halten sich denn auch bei Arp die Waage, wie ein, zugegebenermaßen ‚einfaches‘ Beispiel an dieser Stelle veranschaulichen mag. In seiner in französischer Sprache abgefassten Grußbotschaft zum 63. Geburtstags Magrittes, die wenige Jahre vor dem Tode Arps entstand und im Rahmen eines Ausstellungskatalogs veröffentlicht wurde („Hommage à Magritte“, 1961), wählte er die Formulierung: Je suis certain que Magritte ne prendra pas un canapé pour y trouver l’ayant coupé en deux une canne et un pé. Magritte arrosera le canapé afin qu’y pousse un oranger.18

Offensichtlich spielt Arp mit diesen Worten auf Produktionsprinzipien Magrittes wie auch seiner eigenen surrealistischen Praxis an, nämlich wie hier wortspielerisch (un canapé = une canne et un pé) und zugleich im Bild der scheinbar ‚organischen‘ Kombination von Kanapee und Orangenbaum semantische Inkompatibilitäten zu erzeugen, die auf einem ‚regelgerecht‘ angeordneten und damit ‚stabilen Gerüst‘ tiefer liegender Ordnungen beruhen (etwa syntaktischer, wie im Falle der Schrift, oder topographisch-räumlicher, wie im Falle der Malerei, damit ganz im poetologischen Sinne Lautréamonts, Reverdys und Bretons). Zugleich erinnern die einzelnen gewählten Bildelemente durchaus an bestimmte Gemälde Magrittes, auf denen ebenfalls große Früchte oder Liegestätten zu bewundern sind (z.B. „Perspektive: Madame Récamier von David“, 1950; „Das Zimmer des Lauschens“, 1952; „Der Sinn der Realitäten“, 1964). Die spezielle Wahl und Kombination der Bildelemente findet sich allerdings m.W. nirgends auf einem Bild Magrittes und stellt demnach Arps eigene, wenn auch der Malweise des ‚Geburtstagskinds‘ nachempfundene Erfindung dar. Umgekehrt hat aber Magritte schon früh, beispielsweise auf seinem Gemälde „Die Erscheinung“ (1928/1929), das beschriebene Kombinationsverfahren metareflexiv ins Bild gebracht, und zwar als Montage von Figur, Raum und verschiedenen Gegenständen (darunter auch ein Sitz-Möbel: „fauteuil“), die aber nicht visuell ausgeführt werden, sondern als schriftsprachlich realisierte Passepartouts erscheinen:

 18 Jean Arp: Hommage à Magritte (1961), in: ders. (1966), S. 532.

24 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 8: René Magritte: „Die Erscheinung“ (1928/1929)

Auf Grund dieser Beobachtungen ist die weitere methodische Vorgehensweise dahingehend ausgerichtet, einen intermedial und interdiskursiv orientierten Streifzug durch die Literatur und bildende Kunst der avantgardistischen Kunst zu unternehmen. Dazu wird sie, die Palette poetischer Imaginationen Arps in der einen Hand haltend, ihnen mit der anderen Hand ausgesuchte Fundstücke aus dem Tempelschatz surrealistischer Bilderwelt beigesellen. Ermöglicht wird die angestrebte Doublettierung durch den komplementären semiotischen Status, den die Bild- und Symbolwelten surrealistischer Literatur und Malerei aufweisen.19 Denn beide sind, insbesondere was den veristischen Formtypus anbelangt, ‚imagologisch‘ geprägt, sei es auf Sprache und Literatur aufruhend, wie die Poesie, die ihre schriftsprachlich-materielle Grundlage in Richtung bildlicher Evokationen überschreitet, sei es von sich aus schon direkt ikonisch, wie die Malerei, deren Elemente aber sprachlich und literarisch vermittelt und rückgebunden sind. Ein Chiasmus zweier medialer Formen ist damit etabliert, der die Poesie ins Reich der Malerei entführt und zugleich ihr die Rolle zuspricht, den bislang stummen Bildwerken eine Stimme zu geben, sowie umgekehrt der bildenden Kunst einen stark literarischen Charakter verleiht, der den bloß ideellen poetischen Evokationen eine materiell konkrete ‚Wahrheit‘ bezeugt. Beide mediale Formen kommen auf diese Weise überein, Repräsentationen des surrealistischen Weltbilds zu sein, das sich wiederum als Zeugnis „wahren“, „wirklichen“ und

 19 Vgl. dazu Hirschberger (1993).

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 25

„wesentlichen“ Lebensausdrucks20 versteht. In diesem Sinne ist, „interdiskursiv“21 gesehen, davon auszugehen, dass sich die Darstellungen in einem gemeinsamen, ‚höheren‘ Raum begrifflicher Abstraktion treffen, einem gewissermaßen ‚unsichtbaren‘ Raum zweiter Potenz, dessen Konturen und Inventar wissenschaftlich-analytisch zu beschreiben sein wird. Er ist als das eigentliche, interdiskursive Fundament zu verstehen, dem das Zauberschloss des Surrealismus aufruht. Im Einzelnen gestaltet sich der Untersuchungsgang so, dass der Leser – metaphorisch gesprochen – durch verschiedene ‚Gemächer‘ des surrealistischen Anwesens Arps geführt wird, in denen ihm immer wieder neue Seiten seines wunderbar-magischen Credos verraten werden. Zugleich ist damit intendiert, die Tür zu einem Diskursraum des zeitgenössischen surrealistischen Zauberschlosses sowie des weitläufigen Gebäudes deutscher und europäischer Literatur-, Medien- und Kulturgeschichte insgesamt aufzustoßen, die bislang unentdeckt blieb, nun aber den Blick in etwas bislang Unbekanntes freigibt. Der Grundriss der im Einzelnen zu durchschreitenden Konstruktion, die sich dem Betrachter in Gestalt von ,Foyer‘, ,Salon‘ und ,Atelier‘ präsentiert, nimmt dabei – überblicksartig kurz gefasst – folgendes Aussehen an: Im ,Foyer‘ (Kapitel II) begegnet uns der biographisch beschreibbare Arp in der Lebenswirklichkeit seiner Zeit. Wir sind mit ihm Mitte der zwanziger Jahre in den Straßen, Plätzen und Cafés von Paris verabredet, der Hauptstadt Frankreichs und Metropole europäischer Kunst und Literatur. Der ‚Elsässer in Paris‘ führt eine Reihe zurückliegender Prägungen mit sich, die auch seinen weiteren Weg mitbestimmen werden, seine doppelte bzw. dreifache Sprach- und Nationalzugehörigkeit (deutsch, elsässisch und französisch), seine doppelte künstlerische Begabung (als Dichter und bildender Künstler) sowie seine große Empfänglichkeit gegenüber den Entwicklungskatarakten der modernen Avantgarde, die ihn der Abstraktion genauso wie dem Dadaismus und Surrealismus zugeneigt machen. Auf Grund des Facettenreichtums seines Wesens tauft ihn sein Mitstreiter Max Ernst ironisch eine „zersplissene Persönlichkeit“, er selbst spricht scherzhaft von dem „großen Derdiedas“. Gerade hat er die deutsche mit der französischen Staatsbürgerschaft getauscht, mit seiner Frau Sophie ein eigenes Haus mit Werkstatt vor den Toren von Paris eingerichtet und seine Kontakte zur örtlichen Kunstszene aufgefrischt. Alte Freunde aus verflossenen Dada-Tagen, die sich als Surrealisten neu begründet haben und durch ihr öffentliches und künstle-

 20 Die drei Attribuierungen „wahr“, „wirklich“ und „wesentlich“ gehören zur poetologischen und ästhetischen Grundbegrifflichkeit Arps; vgl. im Folgenden dieser Studie. 21 Zum Begriff vgl. Foucault (1969/1973), S. 224-226.

26 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

risches Auftreten für Aufsehen sorgen, heißen ihn willkommen; sie gehören, wie Breton, Éluard und Aragon, Ernst, Duchamp und Dalí, zu seinen erklärten Bewunderern und zählen ihn zum erweiterten Kreis der Bewegung. Arp gibt die Komplimente zurück, vertieft Freundschaften und schließt neue, zeigt sich in Wort, Bild und Tat der Gruppe zugehörig, ungeachtet der Vorbehalte, die er hinsichtlich ihrer politischen Radikalisierungstendenzen hegt. Er veröffentlicht Gedichte und Graphiken in all den drei berühmten Publikationsorganen der Surrealisten, beteiligt sich an ihren großen Kunstausstellungen der zwanziger bis fünfziger Jahre und nimmt, gefragt und ungefragt, zustimmend zu den künstlerischen Zielen und Mitteln der Bewegung Stellung. Arp spricht mithin auch der surrealistischen Bewegung die „Kolumbus“-Funktion zu, Entdecker eines neuen Kontinents der Kunst- und Lebensgestaltung zu sein. Das mit autobiographischen Reminiszenzen versehene Gedicht „Place Blanche“, dessen Titel auf einen bekannten Treffpunkt der Gruppenmitglieder verweist, zieht eine summarische Bilanz seines teils ambivalenten, aber im Grunde positiven Verhältnisses zum Surrealismus, der für ihn eine Ausdrucksform auch seines Wunsches nach Erneuerung von Kunst, Gesellschaft und Politik darstellt. Eindeutig positiv sind denn auch seine Erinnerungsgedichte an die schöne Unbekannte („Halb Reh halb Mädchen“) sowie an zwei berühmte Frauen der Surrealisten, an Nusch Éluard („Une onde blanche“) und Dorothea Tanning („Jeux des épis d’or“), die in ihrem naturhaften Wirken als Muse, Model und Malerin Beispiele gelungener surrealistischer Existenz und Schöpferkraft abgeben. Während damit in Kapitel II der autobiographische Kontext Arps im Mittelpunkt der Untersuchung stand, widmen sich die beiden folgenden Kapitel III und IV der Dichtung Arps selbst. In einer Art Diptychon sind die beiden Kapitel und die mit ihnen aufgestoßenen Türen in Arps Reich gleichsam spiegelbildlich aufeinander bezogen, indem sie zum einen seine Kritik an der sozialen Realität der Moderne (Kapitel III), zum anderen die alternative Welt der Literatur und Kunst (Kapitel IV) thematisieren und somit im Sinne der Architektur-Symbolik durch ,Salon‘, ,Schreckenskabinett‘ und ,Atelier‘ von Arps Dichtungsraum führen. Dabei dient der surreale Verismus, in dem die dargestellten Figuren, Räume und Zeiten erscheinen, zunächst dazu, die kritisierten Aspekte der Moderne pointiert und in mehr oder weniger grotesker Manier hervorzuheben, und sodann – mit gegensätzlichem Impetus – den surrealen Zustand der Literatur- und Kunstproduktion in einem nie zuvor gesehenen Licht erstrahlen zu lassen. Arps Kritik der Moderne (Kapitel III) lässt sich dabei, wie im Folgenden vorgeschlagen wird, in mehrere thematische Blöcke unterscheiden: zum einen als Kritik von Normen und Normalitäten des zivilen Alltags-, Sozial- und Wirtschaftslebens (dem Zustand der „Normalorganisation“ in den Worten Arps), zum anderen als Kritik an

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 27

der Erscheinung des Krieges, sprich den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, deren Zeuge Arp war und die für ihn der zivilen Normalität entsprungen waren, sowie der drohenden Menschheitsapokalypse in einem möglichen Atomkrieg der Supermächte nach 1945. Arps Kritik an Normativitäten und Normalitäten der Moderne artikuliert sich zum einen in seinen verstreuten Aphorismen und Betrachtungen, zum anderen in Gedichten wie „Die Schar Sopolter Roll“, „Ein glühender Stummel“ und „Puppen“. Das hier entwickelte Bild des Normalsubjekts findet seine intermediale Entsprechung in den Kurvendiagrammund Melonen-Männern Ernsts, Man Rays und Magrittes sowie den PuppenInstallationen Bellmers. Der gemeinsame Impuls richtet sich gegen die banale und belanglose (un-wesentliche) Kontingenz eines Lebens in der „Normalorganisation“, die jede subjektive Existenz als anonym, gleichförmig und austauschbar erscheinen lässt, ohne wirklichen Kontakt zu anderen und zu den wesentlichen Tiefen-Energien von Leben und Natur. Die Gedichte, die wohl in Rekurs zu Bellmers „Puppen“ entstanden sind, verleihen dem damit verbundenem Leiden eines sich drangsaliert und missbraucht fühlenden Subjekts eine gleichsam erstickende Stimme zwischen Aufschrecken und Trauma, Noch-Sprechenkönnen und endgültigem Schweigen. Dass sich Arp eine Zukunft dieser Welt von Geld, Maschinen und Gewalt, Raserei und Lärm, Kalkül und Wahnsinn nur in Form der Apokalypse, die durch die Kräfte der Natur ausgelöst wird, oder einem bewussten Exodus Weniger vorstellen kann, machen seine hier einschlägigen Gedichte deutlich, die wiederum ihre Parallelen in Werken der surrealistischen Bildkunst besitzen („Erbarmen“ in Analogie zu den Wald-, Dschungelund Regenbildern Ernsts, „Willkommen Willkommen“ in Parallele zu bestimmten Gemälden von Oelze [„Die Erwartung“] und Magritte [„Golkonda“, „Das Schloß in den Pyrenäen“]). Dieser an sich schon dämonische ,Salon‘ der zivilen Normalität wird nur übertroffen durch das ,Schreckenskabinett‘ der Moderne. Gemeint ist damit der Krieg, der gerade in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der – auch von Arp bewohnten – Mitte Europas seine Fratze auf besonders hässliche Weise erhoben hat. Ihm galt Arps lebenslanger Kampf, auch darin einig mit den Surrealisten. Im Ersten Weltkrieg entzieht er sich sowohl der deutschen wie auch möglicherweise der französischen drohenden Einberufung, indem er sich in die neutrale Schweiz absetzt. Nachforschungen gegenüber simuliert er den geisteskranken Abstrakten und Dadaisten, während in den zeitgenössischen Gedichten der Krieg hellsichtig verdammt wird („die hasenkaserne“, „eitel war sein Scheitel“, „jetzt wißt ihr warum“), darin am besten vergleichbar den frühen, dadaistischen bzw. proto-surrealistischen Fotocollagen Max Ernsts zum gleichen Thema. Das Dritte Reich, der Spanische Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg rufen Arp und die Surrealisten zu neuen, antifaschistischen

28 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

und antibellizistischen Protesten auf, Arps Prosagedicht über den „Großen Sadisten mit allen Schikanen“ befindet sich in inhaltlicher und formaler Analogie zur surrealistischen Antikriegsmalerei, die in Dalís „Vorahnung des Bürgerkriegs“, Ernsts „Hausengel“ und Picassos „Guernica“ ihre berühmtesten Repräsentanten gefunden hat. Dass Arp aber auch dem Aufstieg neuer Supermächte wie der USA und wohl auch der Sowjetunion mit großer Skepsis begegnete, verraten dem verständigen Leser die späte Dichtung der fünfziger und sechziger Jahre, vor allem das Gedicht „Amerika“, das große Parallelen mit Dalís Gemälden „Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen“ und „Die Poesie Amerikas“ aufweist, sowie seine Anti-Atomkriegstexte, in deren Mittelpunkt der Text über die „Könige vor der Sintflut“ steht. „Bei genauerem, schärferem Betrachten ist das vollkommenste Bild ein warziges, filziges Ungefähr, ein getrockneter Brei, eine wüste Mondkraterlandschaft“22: – Dem ,Salon‘ und ,Schreckenskabinett‘ der Moderne ist schließlich in Kapitel IV das Werkstatt-,Atelier‘ des Dichter-Künstlers gegenüberzustellen. Schon in seiner Dada Zeit hatte sich Arp gegen die Grundfeste der bürgerlichen Gesellschaft gestemmt, auf deren Ruinen ein neues, schöneres und offeneres Gebäude zu errichten sei. Und auch in seiner späteren, insbesondere surrealistischen Zeit erhebt er Einspruch gegen die Vorherrschaft von Kalkül und Pragmatismus, die jedes Leben im Licht von Normen und Normalitäten einer letztendlich banal-belanglosen, Leid und Tod erzeugenden Kontingenz unterwerfen, und setzt ihnen die Welt von Literatur und Kunst gegenüber, in der sich die reine Zufälligkeit zu einem schönen und gelungenen „Zu-Fallen“ im Zeichen geglückter schöpferischer Existenz wandelt. Garant einer solchen Metamorphose sind für Arp wie den Surrealisten die Mächte des Traums, des Unbewussten und eben des wahren, objektiven Zufalls, deren Welt in poetischen Bildern und Symbolen eines ‚einsamen Ich‘ in „Mondkraterlandschaft“ entwickelt wird. In den poetologischen Gedichten, die hierüber Auskunft geben und die in der auch für Arp und die Surrealistengruppe schwierigen Zeit vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind (vgl. Arps Sammlung „Die ungewisse Welt“), hat Arp gleichsam einen großen Spiegel vor sich aufgestellt, in dem sich sein Werk im Lichte der surrealistischen Bildkunst und der theoretischen Überzeugungen Bretons spiegelt (die unter anderem den Autor Arp selbst zum Gegenstand haben, wie z.B. der betreffende Artikel in der „Anthologie des Schwarzen Humors“). Arps dichterische Reflexionen kreisen um die Kernideen surrealistischer Poesie, ihren Charakter als „Wachtraumdichtung“ („Mein eigenes Gesicht“, „Seine würfelnden Hände“) und ihre bildlich-symbolischen Grundstrukturen des involuti-

 22 Hans Arp: Miszellen (1955), in: ders. (1955/21995), S. 73-78, hier S. 75.

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 29

ven, absoluten Raum-Zeit-Kristalls („Die Ebene“, „Die graue Zeit“). Er erkennt im Traumbild des wie in Trance versunkenen und zugleich sich selbst gewissen „Würfelspielers“ die Urszene surrealistischer Produktivität, die sich ganz dem „Gesetz des Zufalls“ überlässt, beschwört die veristisch-surreale Welt des auf Erlösung harrenden Ich auf einsamer „Ebene“ in „grauer Zeit“ und verleiht der bekannten Allegorie des surrealistischen Künstlers, dem minotaurusartig behörnten Vierfuß, ein neues, sanfteres Antlitz („Ich bin ein Pferd“, als Hirschfigur in „Gondel fahren“). Der Chronotopos der absoluten Raum- und Zeit-Involution changiert dabei zwischen einer Situation der großen Erwartung im „großen Mittag“ und dem Zustand erfülltem Glücks, das die Tiefen-Energien von Vitalität und schöpferischer Kreation definitiv frei gesetzt hat. Die Parallelen zur Bildkunst des Surrealismus sind auch hier evident: Man denke an die Apologie des Wachtraums in de Chiricos „Das Gehirn des Kindes“, Ernsts „Pietà oder die Revolution bei Nacht“ und „Die Liebesnacht“ oder an Man Rays und Bretons selbstreflexive Fotocollagen („André Breton vor dem ,Rätsel eines Tages‘“, „Selbstbildnis: Die automatische Schreibweise“), an die meta-ästhetischen Spiele mit Staffelei, Maler und Bild bei Ernst, Magritte und Dalí, schließlich an die Wüsteneien, Unterwasser- und Planetenwelten bei Ernst, Tanguy und wiederum Dalí. Die Symbolgruppe des „Minotaurus“ (Picasso, Masson, Tanguy u.v.m.) und anderer verwandter Vierfüßer mit und ohne Gehörn (Aragons Esel, Dalís Pferde und Elefanten, Ernsts Capricorn und Saurier) gehört schließlich zu den bekanntesten bildlichen Selbstmythologisierungen des Surrealismus überhaupt. Im Schlusskapitel, das zum ,Ausgang‘ (Kapitel V) des surrealistischen Zauberschlosses führt, werfen wir schließlich einen Blick zurück. Wir lassen den Rundgang noch einmal kurz Revue passieren und betrachten die Gesamtheit des Werkensembles Arps in ihrer Doppelgestalt. Wie auch an dem metasymbolischen Gedicht „Genau von der Mitte der Decke“ abzulesen ist, bildet das vorgestellte Werksegment einen Teilbereich im Dichtungsraum Arps, das sich, wie das Pendel im Gedicht, insgesamt zwischen „Abstraktion“ und „Surrealismus“ bewegt und Arp insgesamt zum wohl wichtigsten Vertreter avantgardistischer Synthese, zu einem „Abstrakten Surrealisten“ macht. Zugleich bildet sein Werk einen der vielen Flügel innerhalb des surrealistischen Groß-Labyrinths, das der Dichter auf die beschriebene Weise mit deutschsprachigen Gedichten möbliert hat. Im Rückblick zeigen sich noch einmal auffällige Übereinstimmungen mit Bildstrukturen und -funktionen des Surrealismus im Allgemeinen: ,strukturell‘ in der Verwendung des absolut-involutiven Chronotopos oder Raum-Zeit-Kristalls, der sowohl einer pejorativen Modernekritik als auch der Darstellung eines surrealen Erwartungs- und Glückszustands dient, ,diskursfunktional‘ in der Naturalisierung, Mirakularisierung und Mythisierung der verwendeten Motive, die aus

30 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

der typisch surrealistischen Überblendung verschiedener Symbolfunktionen (metaphorischen mit metonymischen und repräsentativen) resultieren und zur Artikulation einer spezifisch eigenen Diskursposition im Ensemble gesellschaftlicher Rede- und Gestaltungsweisen bis heute geführt haben. Diesen Feststellungen entsprechend wird auch zum Schluss die doppelte geschichtliche und theoretisch-systematische Bedeutung Arps hervorgehoben. ,Literaturhistorisch‘ ist in der gesamten Studie sein diskursiver Ort als Repräsentant einer genuin deutschsprachigen surrealistischen Dichtung zu Anfang und in der Mitte des 20. Jahrhunderts ausführlich belegt und begründet worden, ,literatur- und medientheoretisch‘ ist abschließend auf die damit verbundene Tendenz seiner Dichtung – und der surrealistischen Kunst generell – zu verweisen, die darin besteht, die Suche nach einem „wirklichen“, „wesentlichen“ und „wahren Bild“ eines Lebens jenseits der herrschenden „Normalorganisation“ moderner Gesellschaften aufzunehmen und damit Fluchtlinien in Richtung einer individuellen wie auch kollektiven ,Trans-Normalität‘ zu eröffnen. Eine ,kulturtheoretische Dimension‘ seines Werks zeichnet sich auf diese Weise ab, die wohl bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

I. G RUNDSTEINLEGUNG | 31

Abbildung 9: Salvador Dalí: „Meine Frau, nackt, beim Betrachten ihres eigenen Fleisches, das sich in Treppen, drei Wirbel einer Säule, Himmel und Architektur verwandelt“ (1945)



II. Im Foyer – Arp und die Avantgarde „ARP is ART, ART is ARP“ (MARCEL DUCHAMP)

Abbildung 10: Martin Fivian: „Hans Arp“ (2004)

34 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die Dichtung Hans Arps macht es der Literatur- und Medienwissenschaft nicht leicht, der Grad ihrer Aufnahme in Forschung und Theoriebildung mag hierfür als Beleg dienen. Denn ein Blick in einschlägige Anthologien sowie geläufige Literatur- und Kulturgeschichten kann zwar als Hinweis dafür herangezogen werden, dass der Name des Autors zu den Großen seines Genres im 20. Jahrhundert gezählt wird, aber gleichwohl zu konstatieren bleibt, dass die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor und seinen Texten in engen Grenzen verläuft. So bleibt festzuhalten, dass es gerade einmal eine Handvoll Monographien zum Dichter Arp gibt und die Literaturwissenschaft in selbstkritischen Beiträgen über ihr problematisches Verhältnis zur Dichtung Arps klagt.1 In einer der letzten Publikationen über Arp ist denn auch zu lesen: Es „bleibt für die Forschung vieles noch zu tun. [...]. Das dichterische Werk in Deutsch und Französisch ist unvollständig, die Korrespondenz nur spärlich publiziert, und eine Monografie, die der Bedeutung dieses Künstlers gerecht würde, fehlt bis heute.“2 Gehört die Dichtung Arps mithin zu denjenigen Poetiken moderner Literatur, die dazu prädestiniert sind, weiße Flecken auf der Landkarte fachwissenschaftlicher Explorationen hervortreten zu lassen? Die Probleme mit der Dichtung Arps haben natürlich ihre Gründe, und sicherlich ist es nicht verfehlt, diese in der Spezifik der Texte, in ihrer Gattungs-, Epochen- und Stilprägung zu suchen. Lyrik, zu der seine wichtigsten Dichtwerke genre-systematisch gezählt werden können, zumal die Lyrik der Moderne seit Baudelaire3, gilt prinzipiell als eine schwierige Gattung, und Arps bekannteste Dichtungen, die aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg stammen, werden in der Regel einem besonders komplex geltendem Epochenphänomen, dem Dadaismus, zugerechnet. Dieser wiederum gilt als Teil eines noch komplexeren Ereignisses im Spektrum moderner Literatur und Kunst, nämlich als bedeutender Faktor der historischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Lyrik stellt überdies – nach Auffassung der Forschung – innerhalb dieser epochalen Kunstrichtung nicht nur einen unter mehreren, gleichberechtigten Genre- und Medienrepräsentanten dar, sondern einen entscheidenden Impulsgeber und ein paradigmatisches Modell der Literatur-, Kunst- und Kulturentwicklung der Moderne („Lyrik als Paradigma der Moderne“).4 In dieser systematisch-historischen Bedeutung ist ihr in erster

 1

Vgl. z.B. Gellhaus (1986), S. 8-15, insbes. S. 8ff.

2

Bürgi/Fischer (2004), S. 8.

3

So schon der Grundtenor in den wichtigsten Überblickdarstellungen, vgl. Friedrich (1956); Hamburger (1985); Lamping (1991).

4

Vgl. z.B. Iser (Hg., 1966/21983); Wehle (1982); Bischof (2001), S. 9-44; Homann (1999).

II. I M F OYER – A RP UND

DIE

A VANTGARDE | 35

Linie die Malerei und bildende Kunst vergleichbar, gefolgt von den sich damals gerade entwickelnden neuen Medien wie Fotographie und Film. Gewisse enge Verwandtschaften und Wechselwirkungen zwischen Literatur und bildender Kunst hatte es zwar schon immer gegeben und waren in einem verstärkten Maße auch schon am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts feststellbar, man denke z.B. an die Beziehungen von Baudelaire und Delacroix, Mallarmé und den Impressionisten sowie Apollinaire und den Kubisten.5 Aber vor allem in der Avantgarde, und zwar insbesondere in ihrem spätesten und zugleich wirkungsmächtigsten Exempel, dem Surrealismus, sollte das Geschwisterverhältnis besonders enge theoretische und praktische Gestalt annehmen. So bleibt festzuhalten, dass zwar die Literatur, insbesondere die Poesie eines Breton, Éluard und Aragon, das geschichtlich erste Leitmedium des Surrealismus bildete, ihr aber relativ schnell auch die Malerei und Objektkunst eines Ernst, Masson und Tanguy sowie die Fotographie und der Film eines Man Ray, Buñuel und Dalí gleichberechtigt zur Seite traten. Es ist mithin davon auszugehen, dass in dem intermedialen Bezug zwischen Lyrik und anderen Gattungen moderner Kunst Grundfragen und Grundprobleme der entsprechenden Epoche zum Vorschein kommen, eine Prämisse, die auch, wie zu zeigen sein wird, für den Dichter und bildenden Künstler Arp in der Zeit seines surrealistischen Engagements zutrifft. „In diesem Moment betrat die Feindin der Gesellschaft das Gebäude No. 1 Boulevard des Capucines. [...]. Sie war verschwiegen wie das Verbrechen, und ihr schwarzes, engfaltiges Kleid schillerte abwechselnd mit dem Wind oder wurde matt. [...]. In jedem Fall ist es gut, solchen Frauen nachzugehen [...].“6 Die Forschung hat sich schon in verschiedenen Anläufen dem Phänomenbereich der historischen Avantgardebewegung angenommen. Eine ihrer Grundthesen lautet, dass der Schlüssel zu ihrem Verständnis in dem Motiv der Grenzüberschreitung („Transgression“) künstlerischer, aber auch sozialer und politischer Grenzmarkierungen liegt.7 Darauf soll im Folgenden kurz eingegangen werden, wobei mit dem Bereich der „Kunst“ im engeren Sinn begonnen wird. Bekanntlich ist die Ästhetik der Avantgarde grundlegend von einer Dialektik der Infragestellung traditioneller Kunst und Konstituierung einer neuen ‚künstlerischen‘ Theorie und Praxis geprägt, wobei sich ihr Negationspotenzial gegen drei wesentliche Prinzi-

 5

Vgl. Hirschberger (1993).

6

Breton (1924/1982), S. 101f.

7

So seit Peter Bürgers paradigmatischem Werk „Theorie der Avantgarde“ (1974). Vgl. darüber hinaus bspw. Warning/Wehle (Hg., 1982); Barck (2000); Arnold (Hg., 2001); Beyme (2005); Berg/Fähnders (Hg., 2009).



36 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

pien herrschender Ästhetik richtet, nämlich die Einheit und Kohärenz der drei Kategorien Autor, Werk und Sinn. Ihr Autor ist kein monadisches Subjekt im Sinne des Genie-Begriffs mehr, das in der Art einer souveränen Ich-Instanz über Gehalt und Form regiert, ihr Werk keines der mimetisch-realistischen Abbildung, das sich als autonom und in geschlossen-harmonischer Totalität ruhend versteht, ihre Sinn-Offerten keine, die dem Ideal einer klaren und eindeutigen Zuschreibung von Sinn und Bedeutung gehorchen. Die ‚klassischen‘ Kategorien von Autor, Werk und Sinn werden in eine tiefgreifende Krise gestürzt, aber nicht, und dies muss gegenüber vorschneller Kritik und Ablehnung betont werden, um einfach zu verschwinden, sondern um sich verwandelt in einem Grenzbereich zwischen Kunst und Leben, Kultur und Natur einzunisten. Autor, Werk und Sinn erhalten, wenn man so will, eine neue inhaltliche Füllung, und das, was aus dieser Umwälzung geboren wird, besteht in einer offenen, multiplen und polyperspektivisch erschließbaren Neu-Formierung dieser Kategorien. So entwirft schon die Lyrik des späten 19. Jahrhunderts gegenüber der Vorstellung eines souveränen Autor-Subjekts die exzentrische Idee eines Geschriebenwerdens durch ein Nicht-Ich (Rimbaud), eines autorlosen (Mallarmé) oder auch anonymkollektiv produzierten Werks (Lautréamont). Neue Freiheiten und Lizenzen der Produktivität entstehen, Kunst wird zum Feld vielfältiger Experimente, eine Entwicklung die auch gerade die künstlerischen Ausdrucksmittel selbst betrifft, wie die Sprache und ihre mannigfaltigen Strukturelemente in gesprochener, geschriebener und typographischer Form. Radikale Innovationen auf diesem Gebiet diskursiver und künstlerischer Verfahren sorgen für eine Revolution der Theorie und Praxis von Literatur und Kunst. An vorderer Front sind die Diskursformen der Montage, Collage und des Fragments, das Sich-Überlassen an Assoziation, Traum und Unbewusstes oder auch die Inszenierung des ‚Prinzips Zufall‘ zu nennen. Diese können sich, entgegen den Eingrenzungen klassischer Ästhetik, auf beliebige Gegenstände, Materialien und Thematiken beziehen, wodurch auch herrschende Hierarchien der Gattungen, Medien und Stile ins Wanken geraten. Der spezifische Ansatz – besonders deutlich in den späten Avantgardebewegungen des Dadaismus und Surrealismus – besteht darin, den Objekten ihren vertrauten Kontext zu entziehen, sie zu isolieren und schließlich in einen neuen, ungewöhnlichen Zusammenhang zu stellen. Die Gegenstände werden ihrer Umgebung entfremdet und damit ihrer selbst fremd; und mit anderen, denen es genauso ergeht, konstellieren sie sich in diskontinuierlicher, mehr oder weniger harter Fügung. Die Objekte, ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt, verwandeln sich so zu chiffrenartigen, paradoxen Symbolen, darin den „Allegorien“ Walter Benjamins ähnlich. Der Form-Aspekt erhält damit tendenziell die Oberhand über die Inhalts-Seite, der Eindruck der Prozesshaftigkeit –

II. I M F OYER – A RP UND

DIE

A VANTGARDE | 37

das Produziertwerden, das Kunstwerk als Prozess – dominiert über das fertige Produkt, das Paradigma über das Syntagma. Und mit dem strukturellen Komplexitätsgrad der Werke steigen zugleich Reflexionsniveau und die Theoriehaltigkeit der Vorgänge und Erzeugnisse. Die Ästhetik der Avantgarde erschöpft sich mithin nicht in der De-Strukturierung des Etablierten, sondern entfaltet, in durchaus großer Variationsbreite, neue Diskursformen der Re-Strukturierung und Re-Semantisierung, womit sie sich zugleich einem erweiterten Begriff künstlerischer und diskursiver Rationalität anvertraut. Im Modus der Überschreitung einer als zu eng erfahrenen Vernunft experimentiert sie mit Positionen eines erweiterten neuen Rationalismus, der auch scheinbare Irrationalismen mit einzubeziehen vermag. Die neuen Darstellungs- und Ausdrucksmittel zielen auf neue Weisen der Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis. Strukturpragmatisch entsteht dadurch auch eine neue Anforderung an den Rezipienten, neue Formen und Funktionen der Lektüre bilden sich aus. Kein kontemplativer Nachvollzug des Werks im Sinne der klassischen Ästhetik ist mehr vorherrschend, im Gegenteil, der Rezipient muss sich nicht nur auf Fragwürdiges gefasst machen, dessen Wirkung die ganze Palette von milder Verwunderung bis zu grellem Schock und Skandal ausfüllen kann, sondern auch darauf, sich mehr denn je an der Erhellung von Sinn und Bedeutung mit beteiligen zu müssen. Erfordert sind damit mehr noch als im bekannten Maße Leistungen der Mitkonstituierung von Sinnbildungen durch den Leser und Betrachter. Der erweiterte Produktionsbegriff schließt mithin einen erweiterten Begriff des Verstehens mit ein, das avancierte Produkt erfordert eine avancierte Hermeneutik künstlerischer Produktionsweisen.8 Die Kritik der historischen Avantgardebewegung an der traditionellen Kunst verstand sich zugleich als eine Kritik der hegemonialen Kultur, als eine Kritik der etablierten Ordnung von Gesellschaft und Politik. Auch in diesem Falle besitzen die eigentlich künstlerischen Verfahren der Montage und Collage Signalwirkung für außerkünstlerische Diskursbereiche. Denn indem diese Verfahren etablierte Grenzziehungen des Denkens und Handelns in unterschiedlichsten Lebensbereichen überschreiten, arbeiten sie an einer Aufweichung und Einziehung solcherart Markierungen. Herrschende Ordnungen sozialer Hierarchie, wie z.B. die Differenz von Elite, Mitte und Unterschicht, sowie gesellschaftlicher Arbeits- und Wissensteilung werden in Frage gestellt, andererseits neue Kopplungen des individuellen wie kollektiven Denkens und Handelns arrangiert. Diese Neukopplungen konnten sich – in den geschichtlichen Zusammenhängen ‚vor Ort‘ – schnell als äußerst flüchtig, instabil und illusionär-utopisch erweisen, ihre

 8



Vgl. Bischof (2001), S. 9-44.

38 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

kritische Kraft bestand darin, das Etablierte als kontingent und damit als veränderbar erscheinen zu lassen. Drei Hauptrichtungen diskursiver Kopplungsmanöver lassen sich in diesem Zusammenhang unterscheiden. Erstens diejenige innerhalb des Medien- und Gattungssystems der Künste selbst, gemeint ist die Tendenz zur Intermedialität, die Aufhebung der Grenzen zwischen den einzelnen Künsten und die Verbindung verschiedenster Künstler, ihrer Genres und Medien. Zweitens die Entdifferenzierung zwischen der Kunst und ihr verwandter Diskursformen der Wissenschaft und Philosophie, indem die Werke der Avantgarde mit eigenen Wegen der Wahrnehmung, Erfahrung und intensitätsreicher Faszination locken, die womöglich neuen Gewinn an Wissen und Erkenntnis versprechen. Und drittens die wohl bekannteste Überschreitung auf diesem Gebiet: das Postulat einer Einheit von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘, dabei ‚Leben‘ verstanden als Ensemble aller sozialer Alltags- und ausdifferenzierter Spezialbereiche, besonders auch der Politik, die gewissermaßen zur Bildung neuer gesellschaftlicher Interdiskurse unter dem Primat von Literatur und Kunst, Poesie und Malerei führen sollte. Die Hauptachsen des symbolisch-diskursiven Selbstverständnisses etablierter Kultur, Gesellschaft und Politik gerieten damit ins Visier, und dazu gehörte nicht zuletzt diejenige zwischen dem Innen und Außen, dem Eigenen und Fremden. Gegen die zeitgenössisch dominierende Tendenz zur Bildung und Konsolidierung politischer und kultureller Monaden (wie des Staats und einer Nationalkultur) zeigt sich die Avantgarde in ihrer ausgereiften Prägung bestimmt durch den Zug zur Inter- und Trans-Nationalität, zur Inter- und Trans-Kulturalität. In diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass sich die historische Avantgarde an neuen, interdiskursiven Kopplungen versuchte, die nicht nur als Revolution der Kunst, sondern auch als eine Revolution der Kultur (Gesellschaft und Politik) zu begreifen sind. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass logisch-systematische, aber auch historisch-kulturelle Probleme bei der Umsetzung und Realisierung dieses Konzepts die Arbeiten der Avantgarde als durch eine große Ambivalenz bestimmt erscheinen lassen. Auf der einen Seite wurden die Kategorien „Autor“, „Werk“ und „Sinn“ infrage gestellt, ja programmatisch negiert. Bei einem Dichter und bildenden Künstler wie Hans Arp, der an verschiedenen Avantgardebewegungen wie Abstraktion, Dada und Surrealismus mitbeteiligt gewesen ist, äußert sich dies an einer konzeptionellen Gleichsetzung von Kunst und Leben bzw. Natur: „Das Leben ist das Ziel der Kunst“9, „Wir wollen bilden, wie die Pflanze ihre

 9

Jean/Hans Arp: cher monsieur brzekowski/Lieber Herr Brzekowski (1927), zitiert nach: Jean/Hans Arp (o.J.), S. 19.

II. I M F OYER – A RP UND

DIE

A VANTGARDE | 39

Frucht bildet [...]. Wir wollen unmittelbar und nicht mittelbar bilden“10, „Die Kunst soll sich in der Natur verlieren. Sie soll sogar mit Natur verwechselt werden.“11 Auf der anderen Seite war sich Arp durchaus der unhintergehbaren Differenz von Natur und Kultur bzw. Kunst bewusst, einer Differenz, die er als „tragischen Riß“ der condition humaine verstand: „Meine Reliefs und Skulpturen fügen sich natürlich in die Natur ein. Bei näherer Betrachtung jedoch lassen sie erkennen, daß sie von Menschenhand geformt sind, darum nannte ich eine unter ihnen ‚Stein, von Menschenhand geformt‘“12, oder: „Einigen meiner Plastiken gab ich den Titel ‚concrétion humaine‘. [...]. Alles was ist, ist ‚Concréation‘, also auch die Kunst, nur möchte sich die Kunst von der Natur entfernen, und diese Spaltung, diesen tragischen Riß bezeichne ich mit ‚humain‘.“13 Diese Erkenntnis, aber auch die herrschenden diskursiven Ordnungen, die in der Regel durch arbeitsteilige, wissensspezifische Perspektiven bestimmt sind und auf die ‚Vereindeutigung‘ heterogener und ambivalenter Positionen drängen, führen zu einer – wenngleich ambivalenten und eher widerstrebenden – Restitution des Autor-, Werk- und Sinnbegriffs: Am Ende seines Lebens gibt Arp unter seinem Namen „Gesammelte Gedichte“ heraus, die er als „Ohnesinn-“, aber nicht „Unsinns“Texte verstanden wissen will. In mitunter resigniertem und melancholischem Ton spricht er über seine eigenen Werke, aber auch über die „Werke“ seiner Mitstreiter in einem Kommentar, der übrigens im Katalog der letzten großen Surrealisten-Ausstellung von 1959/60 veröffentlicht wurde: Unsere Werke sind Schattenbilder, Schattenspiele, wie zum Beispiel das Schattenbild einer Mühle, die unter Eselsgeschrei ihre Flügel dreht und vorgibt, ein Engel zu sein. Unsere Worte sind Abfälle. Sie vergehen im bösen Grau, das keine Spuren hinterläßt. Grau in Grau verliert sich unser Leben. Es rinnt dahin wie eine graue Quelle mit erloschenen Zungen.14

Als medien- und kulturwissenschaftliche Untersuchung behandelt die vorliegende Studie die Produkte Arps und der Avantgarde vorrangig als Phänomene

 10 Hans Arp: Konkrete Kunst, in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 79. 11 Hans Arp: Mit gesenkten Lidern, in: ders. (1955/21995), S. 84-87, hier S 84. 12 Hans Arp: Konkrete Kunst, in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 82. 13 Ebd., S. 83. 14 Hans Arp: Dreams and Projects (1951/1952), in: ders. (1974), S. 132. Dieser Textausschnitt findet sich auch auf Französisch unter dem Titel „Nageurs Énigmatiques“, in Arps Wortbeitrag zum Katalog der letzten Surrealisten-Ausstellung 1959/1960, vgl. Jean Arp (1966), S. 497.



40 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

der Kunst und Literatur, wenn auch immer in dem Bewusstsein, dass sie diesen Status infrage stellen und eigentlich negieren möchten. Doch haben sie auf ihrem ureigenen Gebiet Beiträge geliefert, die für die Entwicklung von Kultur und Kunst des 20. Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind. Innovative Verfahren wie beispielsweise die Montage und Collage bestimmen noch in der Gegenwart Präsentationsformen der Alltags-, Massen- und Medienkultur in der ganzen Welt (wenn auch in der Regel in inhaltlich und formal ‚reduzierter‘ Weise). Die Malerei und bildende Kunst der Avantgarde hat als Teil der sogenannten „Klassischen Moderne“ ihren Siegeszug um den Globus angetreten (man denke nur an das Renommee eines Picasso, Duchamp oder Max Ernst), hat in einem nicht zu unterschätzenden Maße Popularität gewonnen und gleichsam den Rang einer „Weltkunst“ im globalisierten Medien- und Kulturraum des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erobert.15 Als nicht weniger bedeutend für die moderne Kultur- und Literaturgeschichte hat sich auch die avancierte Dichtung erwiesen (man denke an Apollinaire, Ball und Tzara, Breton und Éluard), auch wenn ihr Bekanntheits- und Popularitätsgrad wohl nicht so hoch einzuschätzen ist wie derjenige, der ihr verschwisterten Malerei und bildenden Kunst. In Arp wiederholt sich dieses Verhältnis im individuellen Maßstab, wurde doch dem bildenden Künstler Arp bislang mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem Dichter gleichen Namens. Dass sich an dieser relativen „Unterschätzung“ avancierter Dichtung und Lyrik, der „letzten epochalen Verteidigung der Poesie“16, ein wenig ändern möge, bildet nicht zuletzt eine Triebfeder der folgenden Darstellung.

 15 Zum Surrealismus und seiner intermedialen Aktualität bis heute vgl. neuerdings auch Felten/Roloff (Hg., 2004); Maurer Queipo/Rissler-Pipka/Roloff (Hg., 2005); Maurer Queipo/Rissler-Pipka (Hg., 2007); Lommel/Maurer Queipo/Roloff (Hg., 2008); Rissler-Pipka/Lommel/Cempel (Hg., 2010). 16 So – mit Blick auf den Surrealismus – Bischof (2001), S. 48.

II.1 „D ER GROSSE D ERDIEDAS“ | 41

II.1 „D ER GROSSE D ERDIEDAS “ – ARPS MEHRSTIMMIGES I CH -K ONZEPT „Ich bin der große Derdiedas“ (HANS ARP)

Abbildung 11: Alexander Calder: „Portrait des Jean Arp“ (1956)

42 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Hans Arp war Teil der historischen Avantgardebewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einer künstlerischen und kulturellen Strömung, deren Wirkungsgeschichte bis heute anhält. Einige der wichtigsten Kennzeichen dieser ästhetisch-politischen Bewegung spiegeln sich in seiner Person und seiner Konzeption von Autorschaft, Werk und Sinn wider. Dazu gehört – als ihr Kern – die Überzeugung von einer semantischen Offenheit, Mehrdeutigkeit und Ambivalenz dieser Kategorien. Es ist mithin charakteristisch für Arp, dass er nicht nur hinter das geltende Konzept einer literarisch-künstlerischen Einheitsvorstellung, sondern auch hinter die vorherrschende Auffassung einer sprachlich-kulturellen, insbesondere nationalen Identität bewusst ein großes Fragezeichen setzte. Sein lebenslanger Freund Max Ernst bezeichnete ihn darum als eine „gesplissene Persönlichkeit“17, und wohl in Selbsterkenntnis seiner vielfältigen Ambiguität ließ Arp eines seiner Gedichte mit der Zeile „Ich bin der große Derdiedas“ beginnen, eine Zeile, die nicht zufällig ein geflügeltes Wort der Arp-Rezeption geworden ist.18 In Übereinstimmung mit der Avantgarde insgesamt werden also auch im Falle Arps die Kategorien des einheitlichen, gleichsam organisch-gesunden Subjekts radikal in Frage gestellt. So radikal, dass seine Aktivitäten in kulturell und sozial herrschenden Kreisen mitunter als äußerst irritierend bis bedrohlich empfunden werden konnten, zumal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als geistestypologische Konzepte des Nationalen und einer gewissermaßen monolithischen Persönlichkeitsbildung noch eine eindeutige kulturelle Vorherrschaft genossen. Dass Arp in den zwanziger Jahren die beantragte Einbürgerung in einem Staat in der Mitte Europas mit dem Hinweis verweigert wurde, bei dem Autor der unter diesem Namen publizierten Gedichte wäre offensichtlich in absehbarer Zeit der Ausbruch einer Geistesstörung im klinisch-medizinischen Sinne zu erwarten, die mit einer finanziellen Belastung der entsprechenden gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen verbunden sei, bildet in diesem Zusammenhang nur eine, wenn auch bezeichnende Episode der Text- und Autor-„Rezeption“.19 In diesem Zusammenhang ist biographisch hervorzuheben, dass seit dem Beginn seines Lebens in Arp eine Tendenz zur Ambiguität in kulturellen Fragen angelegt war, die bis zu Formen sprachlich-nationaler Inter- und Transkulturalität führte. Denn familiäre und gesellschaftlich-politische Gegebenheiten machten

17 Ernst: August 1914, in: ders. (1994), S. 15 (zuerst veröffentlicht 1962/1963 bzw. 1970). 18 Hans Arp: Opus null (1924), in: ders. (1963), S. 80-84, hier S. 80; Vgl. auch z.B. den Titel der Fernsehdokumentation von Rudij Bergmann über Leben und Wirken Arps („Der große Derdiedas“, Deutschland 2004). 19 Vgl. Flake (1925), S. 867f.

II.1 „DER GROSSE D ERDIEDAS “ | 43

ihn schon früh zu einem Grenzgänger zwischen zwei bedeutenden Sprachen und Kulturen Europas. Im späten 19. Jahrhundert (am 16. September 1886, manche ältere Darstellungen geben auch das Jahr 1887 oder 1888 an) wurde er im elsässischen Straßburg geboren, einem seinerzeit lange Zeit umstrittenen und von den Wechselfällen der militärisch-politischen Entwicklungen geprägten Grenzland zwischen Deutschland und Frankreich. Er wuchs dort als erster Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter gleichsam bi-national und zweibzw. dreisprachig auf. Das herrschende Ideal einer sich in einer Nationalsprache artikulierenden und vorrangig prägenden Leitkultur fand so in ihm ein eher zwiespältiges Echo. Zwar dominierte – auf Grund der herrschenden staatlich-kulturellen Verhältnisse (das Elsass unterstand bis 1918 dem kaiserlichen Deutschland) – in gewissem Sinne das Deutsche des Vaters und der Schule, doch traten das im Elternhaus favorisierte Französisch der Mutter sowie der mit Freunden und in der alltäglichen Umgebung gepflegte elsässische Dialekt diesem nahezu gleichwertig zur Seite und begleiteten ihn bis ins hohe Alter. So war es für den Heranwachsenden aus bildungsbürgerlicher (Fabrikanten-)Familie nur folgerichtig, dass sich neben diesem Bilingualismus auch früh eine – lesende – Biliteratität entwickelte, indem er neben der klassisch-romantischen Literatur Deutschlands auch die moderne Literatur Frankreichs las.20 Für die weitere Entwicklung des Dichter-Künstlers Arp bedeutete diese schon in Kindheit und Jugend erworbene und ein Leben lang kultivierte Mehrsprachigkeit eine erhöhte Möglichkeitsbedingung für eine Reihe späterer Entscheidungen und Entwicklungen. Zum Ersten erleichterte sie die Kontaktaufnahme und das Zusammenwirken mit den seinerzeit avancierten Literatur- und Kunstströmungen beiderseits des Rheins. Vielleicht auch deswegen bezeichneten ihn die Surrealisten als ihren „Dünenaal“21, eben nicht nur wegen seiner agilen Freude am Strandleben, sondern auch wegen seines neugierig-wendigen Interesses für die Entwicklungskatarakte der modernen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Organisatorisch manifestierten sich diese Interessen in einer Reihe unterschiedlicher, zum Teil auch ambivalenter Beteiligungen und Mitgliedschaften: Vor dem Ersten Weltkrieg arbeitete er am „Stürmer“ im Elsass, am „Modernen Bund“ in Zürich, dem „Blauen Reiter“ in München sowie dem „Sturm“ in Berlin mit; im und nach dem Krieg engagierte er sich in der Mitbegründung und Unterstützung des „Mouvement Dada“ in der Schweiz, in Deutschland, Österreich und Frankreich. Ab Mitte der zwanziger Jahre war er schließlich an den Bewegungen der Abstraktion und des Surrealismus führend mitbeteiligt.

20 Vgl. zum Thema von Arps Mehrsprachigkeit auch Dülpers (1997), insbes. S. 31-86. 21 Breton/Éluard: ARP (Hans), in: diesn. (1938/1969), S. 3.

44 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Zum Zweiten eröffnete seine Mehrsprachigkeit eine erhöhte Chance dafür, dass Arp sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache in originärer Weise schreiben und veröffentlichen konnte und sich somit in seinem Fall auch von dem Phänomen eines dichterischen Bilingualismus, einer poetischen Biliteralität sprechen lässt. Zwar wirkte sich die primäre Prägung von Vater, Schule und schöner Literatur so aus, dass er sich in der deutschen Sprache immer etwas heimischer fühlen konnte und diese seine erste richtige und für lange Zeit einzige Sprache der Poesie sein sollte. Doch hielt ihn das nicht davon ab, später (und motiviert durch lebensweltliche und politische Umstände) auch das Französische als seine Dichtersprache zu entdecken, die schließlich sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht seiner deutschsprachigen Dichtung nicht nachstand. Damit einher ging Arps Praxis der Übersetzung eigener Texte vom Deutschen ins Französische und vom Französischen ins Deutsche, eine Praxis, die zugleich um eine Hervorhebung gemeinsamer Phänomene als auch die Akzentuierung jeweils spezifischer Eigenarten bemüht war. Diese Art der Interferenz führte schließlich auch zum Phänomen der Mischung beider Sprachen in einzelnen Texten, wie zum Beispiel in dem Gedicht „maurulam katapult“ bzw. „L’Étoile Bottée (Latin d’Alsace)“, das in einer sowohl vorherrschend deutschals auch vorherrschend französischsprachigen Fassung vorliegt und aufgrund der Orientierung am Tonfall schulischer Deklamation Reminiszenzen an die doppelte sprachliche Herkunft Arps enthält.22 Zum Dritten schuf seine Mehrsprachigkeit einen Ermöglichungsgrund für sein avantgardistisches Sprach- und Literaturverständnis, insoweit davon ausgegangen werden kann, dass die Mehrsprachigkeit einen sprachlichen Relativismus und eine reflektierte Distanz gegenüber der Sprache befördert, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für den spielerischen und experimentellen Umgang mit Sprachlichem aller Art abgeben kann. In seinen Erinnerungen berichtet Arp darüber, wie er schon in der Kinder- und Jugendzeit sein parodistisches Spiel mit Elementen aus dem klassisch-romantischen Gedichtinventar getrieben habe, das zugleich eine Quelle für seine spätere sogenannte „Ohne-Sinn“-Poesie bildete. Für das Phänomen einer prinzipiellen Distanz gegenüber der Sprache, die konstitutiv ist für den spielerischen oder auch schöpferisch-künstlerischen Umgang mit ihr, ist ein Zitat Arps bezeichnend, das mit einer Metapher aus dem Bereich der plastischen Kunst aus der Intermedialität zwischen Literatur und bildender Kunst ästhetische und epistemologische Funken zu schlagen versteht. Denn in seinen Worten, die sich vordergründig auf die französische Sprache beziehen,

22 Hans Arp: maurulam katapult i lemm i lamm (1917/1927), in: ders. (1963), S. 158160; Jean Arp: L’Étoile Bottée (latin d’Alsace) (1927), in: ders. (1966), S. 61-62.

II.1 „DER GROSSE D ERDIEDAS “ | 45

aber zugleich eine grundlegende Tendenz in seinem Verhältnis zur Sprache zum Ausdruck bringen, wird deutlich, wie Arps Blick immer wieder von der Inhaltsauf die Formseite der Sprache gelenkt wird und wie dabei für ihn die Pole der dreistelligen Relation von (materiellem) Sprachkörper, (ideeller) Sprachbedeutung und realem Gegenstand deutlich auseinander treten. Denn, so führt er aus, wie in der Kinderzeit würden ihm die einzelnen Wörter der Sprache als Objekte eines vergnüglichen Spiels erscheinen, als die „Bauklötzchen“ eines kleinen Architekten, während unter der Perspektive des erwachsenen Künstlers sie das töne(r)nde Material darstellen, das zu einer gleichsam haptisch-handwerklichen (Um-)Gestaltung zu Wort-„Skulpturen“ aufruft. Der Dichter also als Bildhauer des Worts: Die Wörter haben für mich ihre ganze Neuigkeit, etwas Geheimnisvolles behalten. Ich gehe mit ihnen um wie ein Kind mit Bauklötzchen. Ich taste sie ab, ich gehe um sie herum – als wären sie Skulpturen. Für mich haben sie ein plastisches Volumen, das nicht von ihrer Bedeutung abhängt.23

Parallel zur sprachlichen Frage entspann sich eine Arps Leben mitbestimmende nationale Problematik, die sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund mitunter als äußerst prekär erweisen sollte. Als Deutscher geboren, der sich aber im zeitgenössischen Deutschland fremd fühlt, bemüht er sich nach Ende des Ersten Weltkriegs um eine schweizerische Staatsbürgerschaft, wohl auch weil die „neutrale“ Schweiz ihm als praktisches Beispiel eines mehrere Sprachen und Kulturen integrierenden Landes galt. Erst als ihm dieses Ansinnen verwehrt wird (und zwar endgültig Mitte der zwanziger Jahre), entschließt er sich dazu, Franzose zu werden, was er dann in einem staatspolitischen Sinne bis zu seinem Lebensende bleibt. Sein Wohn- und Wirkungskreis hat sich entsprechend auf den im weitesten Sinne geographischen Grenzbereich östlich, westlich und südlich des Rheins konzentriert, nach seiner Heimatstadt Straßburg bildeten das schweizerische Zürich und die französische Metropole Paris seine Hauptwohnsitze. Er bewegte sich damit politisch gesehen in einem zentralen geographischen Spannungsfeld Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem zwei Weltkriege ausgetragen wurden und das schließlich Gefahr lief, in einem neuen, westlich vereinten Europa als tragischer Schauplatz eines weiteren, diesmal atomaren Weltkriegs zu dienen. Arps elsässische Herkunft wie auch die dramatischen historischen Entwicklungen seiner Zeit trugen mithin dazu bei, die für die

23 Vgl. Clay (1961); vgl. Watts (1986), S. 7-19, hier S. 8 (dt. Übersetzung nach Ströh (1986), S. 281-300, hier S. 292).

46 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Moderne generell typische Tendenz eines gestiegenen Bewusstseins für die Inhomogenität und Dissoziation des Subjekts, das den Einzelnen als eine mannigfaltige und widersprüchliche Konstellation von Einflussfaktoren und Ausdrucksbegehren entdeckt hat, anhand der Frage sprachlicher und nationaler Identität ins Grundsätzliche und politisch Bedeutsame zu treiben. Äußerliches Zeichen dieser sprachlich-nationalen Ambivalenz und Heterogenität bildete der Gebrauch seines Vornamens, den Arp offiziell führte, mit dem er sich ansprechen ließ und mit dem er seine Schriften und Objekte signierte. Dieser schwankte je nach Zeit und Ort zwischen „Hans“ und „Jean“, wobei der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs den Zeitpunkt der Verwendung auch des französischen Vornamens markierte. Es konnte, auch angesichts der herrschenden soziokulturellen Verhältnisse, nicht ausbleiben, dass Arp eine Distanz und Fremdheit gegenüber Fragen der Sprache und Nationalität an sich bemerkte, die für ihn mit bitteren Erfahrungen verbunden waren. In seinem dichterischen Werk ist beispielsweise von einer „im Munde zerbrochenen“ Sprache die Rede24 oder auch von einer Figur namens „polyglotte blessé/ der verwundete polyglotte“, die bei dem Wort „Vaterland“ an das der Bibel zufolge sprachlich und kulturell zerklüftete „Babylon“ denken muss.25 Und in einem Interview äußerte er: „Ich wusste nie, wohin ich als Elsässer gehörte; ich habe das immer als sehr schmerzlich empfunden.“26 Entscheidend ist aber, was Arp als Subjekt und Künstler aus dieser problematischen Situation zu machen verstand. Denn es verdient hervorgehoben zu werden, dass er sich weder einfach der resignativen Klage über eine sprachlich-kulturelle Zersplitterung ergab, wie es ein Teil des intellektuellen Gesprächs der Moderne in Anlehnung an das biblische Symbol des „Turmbaus zu Babel“ zu tun pflegte, noch auf ein neues „Pfingstwunder“ der Stiftung einer Einheitssprache als Gnadenakt höherer Mächte vertraute.27 Stattdessen wuchs seiner Arbeit als Dichter und Künstler die Aufgabe zu, auch als Darstellungsmedium und Bearbeitungsraum seines sprachlich-nationalen Dilemmas zu dienen. Das ästhetische Spiel und Experiment mit der Sprache konnte bei ihm so auch politische Funktionen

24 Vgl. Jean Arp: L’Étoile Bottée (latin d’Alsace) (1927), in: ders. (1966), S. 61-62, hier S. 62 („son langage s’est cassé dans sa bouche“). 25 Arp/Huidobro: La Cigogne Enchainée (Nouvelle patriotique et alsacienne), in: Jean Arp (1966), S. 94 (zuerst entstanden 1931); vgl. Arp/Huidobro: Der gefesselte Storch, Elsässische patriotische Novelle, in: diesn. (1935/1963), S. 45-62, insbes. S. 47. 26 Hans Arp in: Interviews, aktuell 2 (1962) 23, S. 63; zitiert nach Dülpers (1997), S. 50. 27 Vgl. zur Problematik z.B. Foster (1970/1974); Schmitz-Emans (1997), insbes. S. 49105.

II.1 „DER GROSSE D ERDIEDAS “ | 47

mit übernehmen, da sein produktiver Umgang mit den Einzelsprachen als Verweis auf die Konvergenz verschiedener Sprachen in analogen und übergreifenden Verfahren, Strukturen und Elementen (wie z.B. der Evokation analoger lyrischer Bilder und Symbole) gesehen werden kann wie auch als Verweis auf die Kopplungs- und Integrationsfähigkeit verschiedener Nationen und Kulturen. Die prinzipiell in der modernen Literatur wie auch erst recht in der historischen Avantgarde angelegten Tendenz zur Internationalität und Transkulturalität fand somit in Arp einen gewissermaßen ‚authentischen‘ Repräsentanten.

48 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

II.2 „D IE K UNSTISMEN “ – E IN D ICHTER -K ÜNSTLER ZWISCHEN ABSTRAKTION UND S URREALISMUS „L’être humain est un bouquet très complexe“ (JEAN ARP: RÉSPONSES)

Abbildung 12: Hans Arp: „Selbstbildnis“ (1965)

II.2 „D IE K UNSTISMEN “ | 49

„Der Mensch ist ein großer Blumenstrauß (L’être humain est un bouquet très complexe)“28: Arps Worte für sein eigenes avantgardistisches Dichter- und Künstlertum erinnern in ihrer metaphorischen Form an die Malerei Dalís und an bekannte Inszenierungspraktiken der Surrealisten. Sie deuten auf die Einsicht in die für die moderne Subjektivität typische plurale Mannigfaltigkeit, der aus Arps Perspektive die Attribute des Ästhetisch-Bunten, Großen und Sinnlich-Intensiven zugesprochen werden. Wie in jedem Diskursfeld entwickelt sich auch im Bereich der Literatur und Kunst die Problematisierung und Vervielfältigung moderner Identität in einer für ihn spezifischen Art und Weise, und zwar in diesem Fall durch die Infragestellung von herrschenden Kategorien wie Medium und Kunstgattung, Autorschaft, Werk und Sinn sowie künstlerischer Stil bzw. Ton. Wenden wir uns zunächst der Frage des Mediums beziehungsweise der favorisierten Kunstgattung zu: Entgegen der geläufigen Zuordnung eines Künstlers zu einem präferierten Leitmedium und damit zu einer bestimmten Gattung im Ensemble der schönen Künste werfen Arps künstlerische Handlungsweisen die Frage auf, ob er mehr Dichter oder mehr bildender Künstler gewesen sei, – oder gar beides in nahezu gleichem Maße. Er selbst äußerte gelegentlich die Meinung, dass, wenn er sich entscheiden müsse, die Dichtung den Vorzug erhalten würde: „Wäre ich dazu gezwungen, zwischen dem plastischen Werk und der geschriebenen Poesie zu wählen, müßte ich entweder die Bildhauerei oder die Gedichte aufgeben, so würde ich wählen, Gedichte zu schreiben.“29 Doch hat sich zum Glück für ihn diese Prioritätenfrage nie ernsthaft gestellt, so dass er in beiden medialen Bereichen zeitlebens mit großer Intensität praktizieren konnte und praktiziert hat (und darüber hinaus ein aufmerksamer Beobachter der zeitgenössischen Entwicklungen auf den Feldern der modernen Literatur und Kunst gewesen ist). Somit lässt sich mit Recht davon sprechen, dass sich in Arp eine literarisch-künstlerische „Doppelbegabung“ manifestierte, eine Prädisposition, die sich im Rahmen der bekannten intermedialen Ausrichtung der Avantgardekunst in profilierter Weise Geltung verschaffen konnte. Zwar bildete eine literarischkünstlerische Doppeltätigkeit unter den Avantgardisten jener Zeit nicht gerade eine Seltenheit, man denke beispielsweise an die dichterischen Produktionen eines Kandinsky, Klee, Picasso, Ernst oder Dalí bzw. umgekehrt an die künstlerischen Arbeiten eines Alberti, Lorca oder Breton, doch hat sich gerade in Arp diese Begabung einen gleichwertig doppelten Ausdruck verschafft, und zwar

28 Jean Arp: Réponses à des questions posées par George K.L. Morris (1956), in: ders. (1966), S. 443-446, hier S. 446. 29 Vgl. Jean (1966), S. 7-26, hier S. 25; Übersetzung nach Aimée Bleikasten (1986a), S. 18-29, hier S. 28, Anm. 5.

50 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht. Dieser – ansonsten wohl nur mit seinem Freund Kurt Schwitters oder dem amerikanischen Poet-Painter E.E. Cummings vergleichbare – phänomenale Tatbestand lässt Arp und sein literarisch-künstlerisches Werk als prädestiniert für die Frage nach intermedialen Interferenzen und Konvergenzen moderner (Avantgarde-)Kunst erscheinen.30 Kommen wir zweitens zur Frage der „Autorschaft“, des „Werks“ und des „Text-Sinns“: In Übereinstimmung mit Grundüberzeugungen der Avantgarde, die insbesondere im Dadaismus und Surrealismus ausgebildet und theoretisch vertieft wurden, lehnte auch Arp die traditionelle Auffassung ab, Autor- und Künstlertum im Sinne einer personalen Urheber- und Werkherrschaft zu verstehen. In seinen kunsttheoretischen Äußerungen verwies er vielmehr auf unpersönliche Kräfte wie den Traum, den Zufall und das anonyme bzw. kollektive Arbeiten: „Die Blumen aus Fleisch haben eine Sprache aus Träumen“31 bzw. „Das Bilden des Künstlers sollte Träumen genannt werden“32; „Dem Hellen und Dunkeln, welches der ,Zufall‘ uns schickt, sollten wir mit ergriffener Verwunderung und Dankbarkeit begegnen“33, und: „Die Arbeiten der konkreten Kunst sollten nicht die Unterschrift ihres Autors tragen. Diese Malereien, diese Bildhauerarbeiten – diese Dinge – sollten in der großen Werkstatt der Natur anonym sein wie die Wolken, die Berge, die Meere, die Tiere, die Menschen. [...]. Die Künstler sollten in einer Gemeinschaft arbeiten [...].“34 Die Dezentrierung der traditionellen Autor-Origo, die in dem bekannten „Ich bin ein Anderer“ Rimbauds ein für die nachfolgende Avantgarde, insbesondere den Surrealismus prägendes Motto gefunden hat, kann mithin auch als eine Grundmaxime Arps angesehen werden. Darüber hinaus besitzt die Tendenz der Dezentrierung nicht nur für die Frage der Autorschaft, sondern auch für die Ebenen des Werks und seiner Sinn-Funktion Gültigkeit. Man nehme hier nur den Bereich der Literatur: Schon von einem Werkganzen lässt sich schwer sprechen, erst recht nicht von einem Sinn-Ganzen, und zwar auf der Ebene des Einzel- wie auch Gesamtkorpus poetischer Schriften. Grundsätzlich sind Arps Texte mit einem Gestus der Infragestellung ihres Werk- und Sinnstatus behaftet. Er selbst war der Ansicht, dass seine Arbeiten, insbesondere diejenigen der Dada-Zeit, für

30 Vgl. zur Frage moderner Lyrik und ihrer intermedialen Bezüge auch Lamping (1991), insbes. S. 70-96. 31 Vgl. Jean/Hans Arp: Ruche des Rêves/Traumbienenkorb (ca. 1938/1944), zitiert und übersetzt in: ders. (o.J.), S. 106f. 32 Hans Arp: Werkstattfabeln, in: ders. (1955/21995), S. 96-107, hier S. 96. 33 Hans Arp: Mit gesenkten Lidern, in: ders. (1955/21995), S. 84-87, hier S. 84. 34 Hans Arp: Konkrete Kunst, in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 79.

II.2 „D IE K UNSTISMEN “ | 51

den „Ohne-Sinn“ der Kunst einträten, was aber nicht bedeute, dass sie einfach „Unsinn“ wären.35 Zugleich wehren sich seine Arbeiten gegen jede endgültige Fixierung, sodass der einzelne Text prinzipiell offen gegenüber möglichen Veränderungen bleibt. Dies betrifft nicht nur Unveröffentlichtes, sondern auch längst Publiziertes konnte hervorgenommen und neu gefasst werden. Zwischen den einzelnen Prozess- und Produktphasen, also der ersten und späteren Fassungen, dem Druck und einer Neubearbeitung konnten jeweils Jahre und Jahrzehnte liegen, wobei eine genaue Datierung einzelner Textstufen nur partiell möglich ist, weil der Autor selbst nur zum Teil solche vorgenommen hat und seine späteren Angaben nachweislich nicht immer zuverlässig sind. Zugleich wird die Komplexität des Werks durch Arps poetischen Bilingualismus erhöht, indem für manche Themen und Texte Fassungen in Deutsch und Französisch vorliegen, wobei die wechselseitigen Transponierungen keineswegs dem geläufigen Ideal einer wort- und sinntreuen Übersetzung folgen. Diese Arbeitsweise hat schließlich mit dazu geführt, dass die editorische Grundlage für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem dichterischen Werk Arps immer noch mit Problemen behaftet ist. Eine historisch-kritische Gesamt- oder Teil-Ausgabe fehlt, maßgeblich für jede Beschäftigung mit Arps Schriften sind daher die Ausgaben, die noch zu Lebzeiten des Autors entstanden bzw. vorbereitet worden sind und seine veröffentlichten Gedichte und Texte zusammengetragen haben: Für das deutschsprachige Werk der Band „Unsern täglichen Traum“ (1955) sowie die „Gesammelten Gedichte I-III“ (erschienen 1963, 1974 und 1984; Band I noch unter der Leitung Arps), für das französischsprachige der ebenfalls vom Autor mit herausgegebene Band „Jours effeuillés, poems, essais, souvenirs 19201965“ (1966, im Todesjahr des Dichters, erstmals erschienen), der unter dem Titel „Arp on Arp“ (1972) bzw. „Collected French Writings“ (1974) auch in englischer Übersetzung vorliegt.36 Die Ankündigung einer Herausgabe der unveröffentlichten und nach dem Tode des Dichters publizierten Gedichte („Gedichte aus dem Nachlass“) sowie der umfänglichen Prosa und Korrespondenz Arps („Gesammelte Prosa“/„Gesammelte Briefe“), die im Umfeld seines hundertsten Geburtstags verlautbart wurde, hat sich bislang nicht erfüllt.37 Neben den Fragen des Mediums und der Autorfunktion stellt sich in ästhetischer Hinsicht drittens das Problem des literarisch-künstlerischen Stils bzw. Tons. Arps Interesse und Empfänglichkeit für die bunte Palette avancierter und

35 Hans Arp: Dada-Sprüche, in: ders. (1955/21995), S. 48-50, hier S. 50. 36 Vgl. Bleikasten (1981/1983) sowie die ausführlichen Literaturangaben im Literaturverzeichnis dieser Studie. 37 Vgl. z.B. Bleikasten (1986a), S. 18-29, insbes. S. 28, Anm. 3.

52 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

avantgardistischer Kunstströmungen, die seit den epochalen Umbrüchen um 1910 wie Pilze aus dem kulturellen Boden schossen, artikulierte sich am eindrücklichsten in dem zusammen mit El Lissitzky erstellten Collage-Buch „Die Kunstismen“ von 1925. Schon die grammatische Form des Titels ist hierbei bemerkenswert. Denn im Unterschied zu Apollinaire, der um 1912 den bis heute maßgeblichen Einheitsbegriff der „Avantgarde“ zur Bezeichnung der neuesten künstlerischen Strömungen geprägt hatte, schlagen Arp und sein Ko-Autor einen etwas anderen Weg ein. Statt einen Begriff aus dem Bereich des Militärs und der Sozialpolitik auf einen anderen Zusammenhang zu übertragen, konzentrieren sie sich im Stammmorphem ihrer Wortwahl auf die Sphäre der „Kunst“ und entlehnen lediglich das Suffix des „-Ismus“ bzw. der „-Ismen“ dem Bereich der Wissenschaft und Weltanschauung (so wie es zur Bezeichnung bekannter politischer oder künstlerischer Strömungen gängig ist). Dadurch entstand der Neologismus „Die Kunstismen“, der sicherlich mit Bedacht gewählt worden ist. Denn dieser wurde nicht nur geschaffen, um sich von Apollinaire und anderen begrifflich zu unterscheiden, sondern auch, um anhand der Verwendung der grammatischen Pluralform die Mannigfaltigkeit der neuen Kunstformen zu betonen. Der Weg der Darstellung im Buch, der chronologisch rückwärts, also von der unmittelbaren Gegenwart Mitte der zwanziger Jahre in die Vergangenheit der Vorkriegszeit („1924-1914“) führt, um so die Frage nach dem aktuellen Kairos in das Zentrum zu stellen, setzt dem Leser in Wort und Bild eine vielfältige „Truppenschau“38 bildender Kunst vor Augen: Vom Expressionismus, Futurismus und Kubismus führt der Weg zunächst zur abstrakten Kunst, dann geht die Schau über die Metaphysiker, Suprematismus und Simultanismus bis zu Dada; nachfolgend werden Purismus, Neoplastizismus, Merz, Proun, Verismus, Konstruktivismus und der abstrakte Film aufgefahren. Arps und Lissitzkys Versuch, eine Ordnung in das Gestrüpp avantgardistischer Kunstströmungen zu bringen, wird auch heute noch eine gewisse Plausibilität zugesprochen39 und verweist indirekt zugleich auf die Arp eigentümliche künstlerische Spannbreite. So ist zu konstatieren, dass Arp im Sinne moderner soziologischer und kunstwissenschaftlicher Forschung gleichsam die beiden extremen Flügel der historischen Avantgarde zu integrieren suchte, die ihren sinnfälligsten Ausdruck in dem Gegensatzpaar „Abstraktion“ und „Surrealismus“ gefunden haben. Konsequenterweise stuft beispielsweise das renommierte Museum of Modern Art (MoMA) Arps Kunst unter der Rubrik „Abstrakter Surrealismus“ ein und das 2007 neu entstandene Arp-Museum in Rolandseck am Rhein betont

38 So Arp laut Sophie Küppers, vgl. Schrott (1992), S. 352. 39 Vgl. z.B. Beyme (2005), S. 99.

II.2 „D IE K UNSTISMEN “ | 53

– im Anschluss an eine Formulierung von Arps Pariser Galeristin Denise René –, dass Arp „der Abstrakteste der Surrealisten und der Surrealistischste der Abstrakten gewesen sein wird.“40

Schema 1: aus Klaus von Beyme (2005): „Das Zeitalter der Avantgarde 1905-1955/Die Entwicklung der Ismen“

40 Vgl. Asten/Krupp (2007), S. 20-26, insbes. S. 21.

54 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Eine Folge der auch bei Arp in nuce beobachtbaren Auflösung und Vervielfältigung moderner Autor-, Werk- und Stil-Funktionen ist, dass es eine umfassende wissenschaftliche Gesamtdarstellung des komplexen Künstlertums Arps bislang nicht gibt (zumindest nicht im deutschsprachigen Raum41), auch nicht für seine jeweilige künstlerische Teilhälfte der bildenden Kunst bzw. Literatur. Stattdessen haben es die Entdeckungsfahrten der Literatur- wie auch Kunstwissenschaft bislang vorgezogen, dem Künstler Arp auf die Spur zu kommen, indem man sich auf jeweils ausgewählte Werkgruppen und Zeitphasen konzentriert und damit bestimmte inhaltliche Schwerpunkte setzt. Und dies mit fruchtbaren Ergebnissen, wie ein Blick allein schon auf die Arbeiten der Literaturwissenschaft verrät. Zu ihren Verdiensten gehört, das Bild Arps als eines der Hauptrepräsentanten Dadas entwickelt zu haben, das seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Dichter bis heute dominiert und u.a. aus dem Umstand gespeist ist, dass Arp zu den Mitbegründern Dadas in Zürich gehörte und auch am Dada Berlin, Köln, Tirol und Paris mitbeteiligt gewesen ist. Überdies ist davon auszugehen, dass er diese Zeit der zehner und zwanziger Jahre sicherlich als die Zeit seines eigentlichen künstlerischen Durchbruchs verstanden hat und sich zeitlebens als „Dadaist“ ausgab (wenn dabei auch nicht vergessen werden sollte, dass er seiner späteren Verwendung des Begriffs einen Sinngehalt unterlegte, der gegenüber der ursprünglichen Bedeutung entscheidend hinausging). Die meisten größeren wissenschaftlichen Abhandlungen haben sich dementsprechend auf diese Werkphase konzentriert, die durch die ersten drei bis vier veröffentlichten Gedichtbände repräsentiert wird: „Der Vogel Selbdritt“ (1920), „Die Wolkenpumpe“ (1920), „Der Pyramidenrock“ (1924), „Weißt du schwarzt du“ (1930).42 Zu diesen Untersuchungen gehören Standardwerke der Arp-Forschung wie Reinhard Döhls „Das literarische Werk Hans Arps 1903-1930. Zur poetischen Vorstellungswelt des Dadaismus“ (1967), Harriett Ann Watts Arp-Kapitel in „Chance. A perspective on Dada“ (1975/80) sowie Judith Winkelmanns „Abstraktion als stilbildendes Prinzip in der Lyrik von Hans Arp und Kurt Schwitters“ (1995). Weitere Untersuchungen sind Gesamtdarstellungen oder Einzelaspekten der Geschichte Dadas gewidmet, darunter die Zeit der Zusammenarbeit Arps mit Max Ernst in Köln (Schäfer 1993, Riha/Schäfer 1995, Poley 1995), seiner Treffen mit den dadaistischen Mitstreitern in Tirol (Schrott 1988 bzw.

41 Eine Ausnahme hiervon bildet die mittlerweile erschienene Monographie von Robertson (2006), die bislang nur auf Englisch vorliegt. 42 Vgl. zur Nennung der folgenden Forschungsbeiträge auch die ausführlichen Angaben im Literaturverzeichnis dieser Studie.

II.2 „D IE K UNSTISMEN “ | 55

1992) oder der Kooperation mit dem Merz-Künstler Schwitters in Hannover (Fischer, Hg. 2004). Im Vergleich mit der Dichtung der historischen Dada-Periode ist der Lyrik Arps, die nachfolgend in seiner „Pariser Zeit“, das heißt ab 1925/1926 in deutscher wie auch französischer Sprache entstanden ist, bislang relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Die wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich dieser mittleren und späten Werkphase widmen (und die immerhin einen Zeitraum von insgesamt rund vierzig Jahren umfasst), haben sich wiederum Teilbereichen der in diese Zeit fallenden Textproduktion zugewandt: beispielsweise der „Modellfunktion des Zufälligen“ bei Arp (Schmitz-Emans 1994), der Dichtung seit Ende der zwanziger Jahre, die in Anlehnung an die biomorphen Arbeiten als bildender Künstler entstanden sind (z.B. Poley 1978/1986, Hancock 1986, Watts 1986, Lichtenstern 1990, Zuch 2004), der elegischen Gedichte Anfang der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre in Andenken an den Tod der Mutter bzw. seiner Frau Sophie (Frey 1986), schließlich der mystisch-religiösen und teils auch politischen Poesie der fünfziger und sechziger Jahre, wie sie paradigmatisch in dem Band „Sinnende Flammen“ zum Ausdruck gekommen ist (Bezzel 1986, vgl. auch Suter 2007). Parallel zu diesen Beiträgen, die sich vorherrschend mit dem deutschsprachigen Werk auseinandergesetzt haben, sind in der internationalen Arp-Forschung, die vor allem aus Frankreich, den USA und Deutschland stammt, auch mehrere Arbeiten zum französischsprachigen Werk erschienen: Rudolf W. Unglehrts „La poésie de Jean Arp en langue française“ (1972), Marion Warburton Malets „Growth in the dada workshop: some aspects of the poetry of Jean Arp“ (1973) sowie Juliane Dülpers „Voulez-vous voler avec moi. Eine Studie zur französischsprachigen Dichtung Hans Arps“ (1997). Eric Robertsons englischsprachiges Werk „Arp, Painter – Poet – Sculptor“ (2006) gibt schließlich einen neuen und bemerkenswerten Überblick über das literarische wie auch künstlerische Gesamtwerk Arps, der auch auf sein surrealistisches Engagement eingeht und sowohl die deutsche als auch französischsprachige Dichtung mit berücksichtigt. Eine systematische Kontextualisierung der Dichtung und Kunst Arps mit der Malerei des veristischen Surrealismus, wie sie im Rahmen der vorliegenden Studie vorgenommen wird, fehlt aber wie bei seinen Vorgängern auch hier.

56 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ – S URREALISTISCHE H OMMAGEN AN ARP „Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken.“ (ANDRÉ BRETON: ERSTES MANIFEST DES SURREALISMUS)

Abbildung 13: Max Ernst: „Das Rendezvous der Freunde“ (1922)

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 57

Angesichts der beschriebenen Komplexität des Gesamtwerks soll auch in dieser Untersuchung lediglich ein bestimmter Aspekt aus dem breiten Schaffensprozess Arps in den Vordergrund gestellt werden. Es handelt sich, wie in der Einleitung schon angedeutet, um einen Problemkreis, der forschungsgeschichtlich bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet worden ist, nämlich die Frage nach einer Beziehung der Dichtung Arps zum Surrealismus. Diesem Thema soll nachgegangen werden, indem der Fokus auf intertextuelle und intermediale Bezüge von Arps Dichtung zur Theorie und künstlerischen Praxis des Surrealismus gerichtet wird. Dabei geht die Untersuchung von der These aus, dass sich hinsichtlich eines bestimmten Zirkels poetischer Werke Arps ein relativ hoher Grad an Konvergenz mit der Malerei und bildenden Kunst des Surrealismus ausmachen lässt. Die wenigen Einschätzungen, die es zu diesem Problemkreis bislang gibt, kommen über eine ansatzweise Behandlung des Themas nicht hinaus und zeigen sich selbst darin vage und widersprüchlich. Eine Tendenz lässt sich aber immerhin ausmachen. Während die ältere Forschung der Frage einer engeren Beziehung zwischen Arp und dem Surrealismus eher reserviert begegnet (z.B. Döhl 1967), wohl u.a. aufgrund der damaligen Quellenlage und der inhaltlichen Fokussierung auf die zehner und zwanziger Jahre, zeigen sich neuere Forschungsansätze grundsätzlich offen für eine solche Annahme (so schon Last 1970, in letzter Zeit z.B. Dülpers 1997, Zuch 2004, Robertson 2006). In einem der jüngsten Aufsätze, der sich dem Thema „Arp und die Avantgarde“ widmet, wird beispielsweise von einer „langjährigen Verbindung“ Arps zum Surrealismus gesprochen, die ihm sicherlich bewusst gewesen sei, die er aber in späteren Stellungnahmen zu verschleiern versucht habe.43 Bestärkendes in diese Richtung geht sodann von Beiträgen aus dem populärwissenschaftlichen Schrifttum aus, das zum Teil deutliche Signale zu setzen versteht. So besitzt Arp in internationalen Anthologien surrealistischer Poesie, die seit den sechziger und siebziger Jahren in verschiedenen Ausgaben erschienen sind, einen inzwischen festen Platz neben einschlägigen Autoren wie Breton, Éluard und Péret.44 Die Herausgeber der für den deutschsprachigen Raum maßgeblichen Sammlung mit dem Titel „Das surrealistische Gedicht“ bezeichnen Arps Poesie als „ein Musterbeispiel der surrealistischen Suche nach dem Wunderbaren“ und beziehen sich explizit auf das emphatische Urteil José Pierres, das sie aus dessen „Lexikon des Surrealismus“ zitieren: „Die Dichtung Arps, im Deutschen wie im Französischen eine der köstlichsten des 20. Jahrhunderts, versichert uns mit leichtfüßigen Späßen, lebhaft und in spontanen Ausbrüchen des Wunderbaren, so daß die ent-

43 Vgl. Webster (2004), S. 69-92, insbes. S. 74f. 44 Vgl. z.B. Matthews (Hg., 1966); Edition Sirene (Hg., 1983); Béhar/Carassou (1984).

58 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

scheidende Triebfeder bei ihm in jedem Fall der ‚reine psychische Automatismus‘ bleibt, wie Breton 1924 den Surrealismus definierte.“45 Es lässt sich mithin konstatieren, dass offensichtlich zumindest ein Teil neuerer Forschungsansätze und populärwissenschaftlicher Darstellungen den bildenden Künstler wie auch den Schriftsteller Arp als einen Surrealisten ansieht, ein Urteil, das die Forschung zu einer näheren wissenschaftlich-systematischen Überprüfung anhalten sollte. Arp, ein Surrealist? Was spricht für die Möglichkeit der Zuordnung Arps zu dieser literarisch-künstlerischen Strömung? Einen ersten Hinweis in diese Richtung kann der vergleichende Blick auf die jeweilige philosophische und literarisch-künstlerische Traditionsbildung geben. Selbstgewählte und explizit ausgewiesene Genealogien über historische Vorläufer und Vorbilder waren für Dada noch ganz untypisch, gehörten aber seit dem ersten öffentlichen Manifest zum festen Bestandteil der surrealistischen Bewegung. Auch Arp hat erst in der postdadaistischen Zeit seine eigene Traditionslinie offenbart, und wenn man seine Angaben mit denjenigen Bretons, Ernsts oder Massons vergleicht, stößt man auf eine große Zahl gleichlautender Namen. Im Bereich der Philosophie wurde die geschichtliche Ahnengalerie von Heraklit und den antiken Vorsokratikern eröffnet, es folgten die Mystiker des Mittelalters (Meister Eckhart, Böhme, Paracelsus) sowie für die Zeit der Moderne Nietzsche und Freud, die bei Breton ausdrücklich aufgeführt werden, bei Arp vorauszusetzen sind. Im Bereich der Literatur bestanden die Gemeinsamkeiten, was die Dichtung des 19. Jahrhunderts anbelangt, in der Nennung Hölderlins und der deutschen Romantiker Novalis und Arnim (Arp verweist in seinen Erinnerungen zusätzlich auf Brentano, Tieck und Mörike), darüber hinaus im emphatischen Bezug auf die avancierte französische Dichtung eines Baudelaire, Lautréamont, Rimbaud und Mallarmé (eine historische Linie, die von den Surrealisten mit Jarry und Apollinaire bis in das frühe 20. Jahrhundert fortgesetzt wurde).46 Auf dem Gebiet der Malerei hoben schließlich beide Seiten die entscheidende Rolle Picassos für die Entwicklung der modernen Kunst hervor. Breton feierte in seiner Programmschrift „Der Surrealismus und die Malerei“ den Kubismus Picassos als einen Proto-Surrealismus, der den Blick für die „Quelle des Zauberflusses“ geöffnet habe, von denen eine

45 Vgl. Becker/Jaguer/Král (Hg., 1985/2000), S. 41-43; Pierre (1973/1974), S. 20. 46 Vgl. z.B. Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 27f.; ders. (1952/1996), S. 93. Zu Arp vgl. u.a. Jean Arp: Réponses à des questions posées par George K.L. Morris (1956), in: ders. (1966), S. 443-446, hier S. 446.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 59

„über dem Gipfel aller Berge“ zu vermuten sei.47 In ähnlicher Weise symbolisierte Arp Picasso als eine Art mythischen Urvater, nämlich als gleichsam elementar-natürlich und raumzeitlichen Verhältnissen enthoben, androgyn und poetisch: „Picasso ist genauso wichtig wie Adam und Eva, wie ein Stern, eine Quelle, ein Baum, wie ein Felsen, eine Fabel und wird so jung und alt bleiben wie Adam und Eva, wie ein Stern, eine Quelle, ein Baum, ein Felsen, eine Fabel.“48 Der hohe Grad an Übereinstimmung hinsichtlich der eigenen Traditionsbildung legt die Vermutung nahe, dass die zu konstatierenden Gemeinsamkeiten keinen Zufall darstellen. Es ist eher davon auszugehen, dass sowohl Arp als auch die Surrealisten sich dieser Übereinstimmung bewusst waren und sie entweder auf eine einseitige oder gegenseitige Beeinflussung zurückgehen wird, wobei wohl davon ausgegangen werden kann, das Letzteres den wahrscheinlicheren Fall abgeben wird. Im Weiteren soll der Frage einer interdiskursiven Konvergenz zwischen Arp und dem Surrealismus in der Weise nachgegangen werden, dass zunächst für jede Partei separat der Blick auf den anderen untersucht wird. Welche Einschätzung trafen die Surrealisten hinsichtlich Arp, welche Arp hinsichtlich der Surrealisten? Eine Antwort auf die erste Frage enthalten die bekannten Bilder und Worte der zeitgenössischen Pariser Surrealisten, soweit ihnen bezüglich Arp relevante Informationen zu entnehmen sind. Hinsichtlich der dazu infrage kommenden Bild- und Textgenres ist vorauszuschicken, dass seit Anfang der zwanziger Jahre eine ganze Reihe von künstlerischen Selbstdarstellungen der NochDadaisten und späteren Surrealisten entstanden sind. In der Regel kann man davon ausgehen, dass diese Darstellungen, die in Form von Gemälden, Fotographien und Collagen, von Gedichten, Essays und anderen Texten vorliegen, auch programmatischen Charakter besaßen. Nicht in allen diesen Darstellungen ist Arp zu finden, aber in einer Reihe von ihnen, darunter mehreren von Gewicht. Das berühmteste Selbstportrait der Gruppe, Max Ernsts Gemälde „Das Rendezvouz der Freunde“, präsentiert Arp im Kreis der Surrealisten der ersten Stunde, zu denen bekanntlich Breton, Aragon, Soupault, Éluard, Desnos, Péret, Crevel und Ernst selbst gehörten. Es entstand im Jahre 1922, also der Zeit, als Dada endgültig das Ende nahte und sich der Surrealismus offiziell zu konstituieren begann. Wenige Jahre später folgte Éluard dem Beispiel seines Freundes Ernst, indem er in seine Gedichtsammlung „Capitale de la douleur“ (1926) ein lyrisches Portrait Arps aufnahm, das seine Reihe von Künstlergedichten über frühe Sur-

47 Breton: Der Surrealismus und die Malerei (1928), in: Metken (1976), 273-305, hier S. 278. 48 Jean Arp: Picasso (1964), in: ders. (1966), S. 567 (dt. Übersetzung T.L.).

60 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

realisten mitprägte, die von Ernst über Masson bis Miró und Picasso reicht. In direkter Anrede Arps heißt es hier in teils kryptisch-symbolischen, darunter Elemente von Arps zeitgenössischer Dichtung und Malerei konnotierenden Worten:

ARP – Tourne sans reflets aux courbes sans sourires des ombres à moustaches, enregistre les murmures de la vitesse, la terreur minuscle, cherche sous des cendre froides les plus petits oiseaux, ceux qui ne ferment jamais leurs ailes, résiste au vent. Arp – Drehe dich ohne Spiegelungen mit den Kurven ohne Lachen der Schnurrbartschatten, registriere das Murmeln der Schnelligkeit, den winzigen Schrecken, suche unter der kalten Asche die kleinsten Vögel, jene, die niemals die Flügel schließen, widerstehe dem Wind.49

Abbildung 14: Hans Arp: „Flasche und Vogel“ (1925)

Und noch mehr als ein Jahrzehnt später, 1939, entstand ein Widmungsgedicht Éluards auf Arp als bildenden Künstler, das dessen Skulpturen als Evokationen der „Natur“ feiert:

49 Éluard: Arp (1926), in: ders. (1983), S. 132.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 61

Autour de tes mains la nature Comose ses charmes égaux A ta fenêtre Aucun autre paysage Que le matin toujours Toujours le jour au torse de vainqueur50

In Übersetzung: Der Natur immer gleicher Liebreiz Entfließt deinen Händen. An deinem Fenster Keine andere Landschaft Als der Morgen. Immer. Immer der Tag mit dem Torso des Siegers.

Abbildung 15: Hans Arp: „Erwachen“ (1938)

50 Éluard: Autour de tes mains la nature (1939), zitiert nach Gateau (1988/1994), S. 259.

62 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Weitere Zeugnisse der Wertschätzung liegen auch für die Blütezeit der surrealistischen Bewegung vor. Dabei ist zu beobachten, wie auch unter den Surrealisten ein neues Medium Einzug in die künstlerische Selbstdarstellung hielt, die Fotographie. Sie wurde, typisch für die Avantgarde, in teils realistischer, teils in verfremdeter Manier eingesetzt, Letzteres vor allem in Form der Foto-Collage. Es war auch hier wiederum Max Ernst, der vorausging, etwa mit seinem „Physiomythologisches Diluvialbild“ (1920), das ein groteskes Portrait Arps und seiner Frau enthält.51 Andere, wie Man Ray, Magritte und Brauner sollten darin folgen, Fotographien und Fotocollagen der surrealistischen Bewegung herzustellen, die zugleich programmatischen Wert besitzen sollten. So war es Man Ray, der Arp auf zwei bedeutenden Darstellungen dieser Art ins Bild holte. Denn zum einen ist Arp auf einem bekannten Gruppenfoto aus den späten zwanziger Jahren oder frühen dreißiger Jahren zu erblicken, das ihn an der Seite der wichtigsten Gruppenmitglieder zeigt (Breton, Éluard, Ernst, Crevel, Tanguy, Dalí, Tzara und Man Ray selbst). Zum anderen ist auf die Fotocollage „Surrealistisches Schachbrett“52 aus der Mitte der dreißiger Jahre (1934) zu verweisen, auf der ein Bildnis Arps an einer prominenten Stelle innerhalb des Bildaufbaus platziert ist. Denn Arp findet sich hier in horizontaler Perspektive in der obersten von vier Reihen und damit in einer Linie mit Breton, Ernst und Dalí wieder, während er, vertikal gesehen, die Spitze der Reihe Éluard, Picasso und Man Ray bildet. Wird auf diese Weise die Bedeutung Arps für den Surrealismus auch der dreißiger Jahren hervorgehoben, so weitete Breton in seiner bekanntesten Portraitcollage die Perspektive ins Historische aus. Denn die Bildmontage, die Ende der dreißiger Jahre im Zusammenhang seiner „Anthologie des Schwarzen Humors“ (1940) angefertigt wurde, stellt die Gesichter einer Reihe angesehener Dichter zusammen, die als bedeutend für den Surrealismus galten und deren geschichtliche Linie vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Und wohl nicht zufällig findet sich Arp ins Zentrum der Darstellung gerückt, inmitten der Autoren, die für die Textsammlung maßgeblich sind (von Swift, Sade und Lichtenberg über Lautréamont, Rimbaud und Jarry bis zu Apollinaire, Kafka und Vaché u.a.m.). Mit diesem letzten offiziellen Gruppenportrait, das von Breton noch kurz vor dem erzwungenen Auseinandergehen der Pariser Surrealisten Ende der dreißiger Jahre erstellt wurde, findet sich mithin Arp hinsichtlich Geschichte und Gegenwart der Bewegung in prominenter Weise einbezogen.53 – Hinzuweisen ist darüber hinaus darauf, dass Hans Bellmer im Jahre 1939 Arps Portrait zeichnete

51 Ernst: Physiomythologisches Diluvialbild (1920). 52 Ray: Surrealistisches Schachbrett (1934). 53 Breton (1940/2001).

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 63

und malte54 sowie dass für die Spätzeit 1957 eine realistische Zeichnung aus seiner Hand mit dem Titel „Portrait Hans Arp“ überliefert ist (vgl. die Abb. im Vorspann dieser Studie). Erinnert sei zudem an Alexander Calders surreal anmutendes Portrait-Gemälde („Portrait des Jean Arp“, 1956; siehe Kap. II.1 dieser Studie).

Abbildung 16: Man Ray: „Surrealistisches Schachbrett“ (1934)

54 Vgl. Ströh (1994), S. 8-27, hier S. 20.

64 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 17: André Breton: „Collage aus ,Anthologie des Schwarzen Humors‘“ (1940)

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 65

Auf der Suche nach einer Begründung für die Wahl, Arp als einen der ihren zu erkennen, stößt man auf eine Reihe von Äußerungen, die im Rahmen kunsttheoretischer Kommentare der Surrealisten zwischen den zwanziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts formuliert worden sind. Ein Überblick über diese Äußerungen verrät, dass die Nähe Arps zur eigenen Position wohl zunächst in einer grundsätzlich weltanschaulichen Affinität, darüber hinaus in verschiedenen Aspekten seines künstlerischen und literarischen Werks gesehen wurde. In einer Zeit, als die Bewegung sich theoretisch und pragmatisch begründen und gegenüber Konkurrenten im kulturellen Feld behaupten musste, bildete die Entscheidung für oder gegen einen Autor oder Künstler keine rein akademisch-argumentative Frage, sondern immer auch eine gruppenstrategische und somit gruppenpolitische Entscheidung. Daher muss als richtungsweisend für die Aufnahme Arps die Beurteilung der wortführenden Surrealisten angesehen werden, allen voran diejenige Bretons, da dieser nicht nur Mitbegründer, sondern zeitlebens auch der bedeutendste theoretische Kopf, Lenker und Sprecher der Gruppe war. Und die Messlatte, die er den Objekten seiner Begutachtung entgegenhielt, hing bekanntlich hoch und gehorchte nicht nur ästhetischen, sondern auch politischsozialen Kriterien. Denn Breton verfolgte mit dem surrealistischen Programm eine, pointiert ausgedrückt, sowohl ästhetische, epistemologische als auch ethisch-politische Emanzipation des Menschen, eine Revolution des „Geistes“, die zugleich eine Revolution von Kultur und Gesellschaft intendierte. Er ließ sich von der Überzeugung leiten, dass erst in diesem Rahmen die „Kunstmittel“, die der Surrealismus anwende und neu entwickle, ihre volle Bedeutung entfalten würden. Diesen Grundgedanken betonte er in seinen frühen Schriften wie auch in denen der dreißiger und vierziger Jahre, die einen historischen Überblick über die inzwischen entwickelten Methoden und Verfahren des Surrealismus gaben und deren Bedeutung für das Erreichen der Zielperspektive herausstellten. In der Liste der „Kunstmittel“ standen seit Anbeginn poetische und künstlerische Generierungsinstanzen wie der „Traum“ und das „Unbewusste“ sowie das Verfahren des „psychischen Automatismus“ an oberster Stelle, schließlich hatten sie ja schon den programmatischen Teil des ersten surrealistischen Manifests geprägt: „SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“55 Hinzu kamen die Mittel, die für die weitere Entwicklung surrealistischer Kunst als bedeutend anzusehen waren und die in der Regel eine gewisse Nähe zum „Traum“ und

55 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 26.

66 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

„Automatismus“ unterhielten. Dazu zählten Breton und seine Mitstreiter vor allem die Techniken des Wortspiels und der chiffrenartigen Symbolik, die Dialektik des Paradoxen, die Mittel der Montage bzw. Collage, das Prinzip des (objektiven) Zufalls sowie das Wirkungspotenzial des (schwarzen) Humors.56 Diese Kunstmittel hätten, so Breton, dafür gesorgt, „der Schönheit ein neues Gesicht zu geben“57, und wurden zugleich als Verfahren angesehen, die medienübergreifend eingesetzt werden können. Es gehörte mithin zu Bretons Grundüberzeugung, dass diese Kunstmittel in der Lyrik und bildenden Kunst genauso wie in den neuen Medien der Fotographie und des Films anwendbar seien und auf diese Weise für eine Art intermedialer „Allianz“ zwischen den Künsten sorgen würden. In einer Verlängerung dieser Argumentation bezeichnete Breton den Surrealismus als die erste historische Bewegung einer engen, gewissermaßen institutionalisierten Verbindung verschiedener Medien, die sich vor allem in den beiden surrealistischen Leitmedien Lyrik und Malerei zeige. Er verstand diese Allianz zugleich als unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung neuer, positiver „Symbole“ und „Mythen“ im Reich der Dichtung und Kunst.58 Unter den angeführten Prämissen wurde das Engagement und Werk zeitgenössischer Künstler einer strengen Begutachtung durch die Surrealisten unterzogen. Dies betraf natürlich auch das Wirken Arps. Über die Vermittlung von Ernst und Tzara hatten Breton und die anderen Pariser Dadaisten Anfang der zwanziger Jahre Bekanntschaft mit seiner Person gemacht, und zwar in der französischen Hauptstadt wie auch in Tirol während des österreichischen Intermezzos Dadas. Einig war man sich mit ihm in dem Ekel vor dem zurückliegenden Weltkrieg sowie der Aversion gegenüber dem Leben in gesellschaftlicher Normalität und der traditionellen Kunst. Noch in seinen späten Erinnerungen, den autobiographischen „Gesprächen“ von 1953, hat Breton den großen Eindruck betont, den die ethisch-politische wie auch ästhetische Energie der Werke Arps auf ihn gemacht habe, die ihm damals, kurz nach dem Weltkrieg, als ein Ausdruck moderner Kunst und Literatur im Superlativ vorgekommen sei: „Eine Verbindung zwischen dem Geist Max Ernsts und dem Tzaras wird durch Arp hergestellt, der mit letzterem die Zeit des Krieges in Zürich zugebracht hat, dessen Zeichnungen und ‚Holzschnitte‘ sich in diesem Augenblick zweifellos als das Freiheitlichste und Neuartigste zeigen und dessen Gedichte in deutscher

56 Vgl. Breton: Die Situation des Surrealismus zwischen den Kriegen (1942), in: ders. (1967/1989), S. 50-67, insbes. S. 64-67. 57 Ebd., S. 67. 58 Vgl. ebd., S. 50-67; ders.: Surrealistischer Komet (1947), in: ders. (1967/1989), S. 8190, insbes. S. 85-90.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 67

Sprache den originellsten und ergreifendsten Ton anschlagen.“59 In den Folgejahren hat sich Breton mehrfach für Arp eingesetzt, beispielsweise indem er an Übersetzungen und Veröffentlichungen deutschsprachiger Gedichte und eines Dada-Manifests Arps in französischen Avantgarde-Zeitschriften mitwirkte. Und die Unterstützung hielt auch an, nachdem Breton und seine Mitstreiter den Übergang von Dada zum Surrealismus vollzogen hatten. Dies war keine Selbstverständlichkeit, denn das Verhältnis zu anderen Mitstreitern aus der Dada Zeit sollte sich als weniger tragfähig erweisen (die Beziehung zu Tzara und Picabia gestaltete sich vergleichsweise weitaus ambivalenter und spannungsreicher). Hingegen festigte sich Arps Stellung im erweiterten Kreis der Bewegung mehr und mehr, was sich u.a. daran ablesen lässt, dass er in der Folge an allen großen Zeitschriften der Surrealisten mitarbeiten und sich regelmäßig an allen großen Ausstellungen der Surrealisten beteiligen sollte. Insoweit ist es nur konsequent, dass es im „Dictionnaire abrégé du Surréalisme“, das 1938, also auf dem Höhepunkt der surrealistischen Bewegung von Breton und Éluard verfasst wurde, unter dem betreffenden Lemma heißt: „ARP (Hans) [...] Peintre, sculpteur et poète surréaliste“60. Diese Worte bildeten eine Hommage Arps als surrealistischen Künstler und Dichter, die zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr jedem früheren Mitstreiter zuteilwurde, und die auch nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand haben sollte. Denn noch 1947 war aus dem Mund Bretons zu hören, dass er Arp zu den fünf „bekanntesten surrealistischen Künstlern“61 zählt und dieser auch an beiden letzten großen Surrealisten-Ausstellungen der vierziger und fünfziger Jahre vertreten gewesen ist. Es bleibt somit festzuhalten, dass Arp im Gegensatz zu vielen anderen Mitstreitern, die in der langen und mitunter turbulenten Geschichte der surrealistischen Bewegung einen temporären oder auch dauerhaften Ausschluss aus dem offiziellen Verbund erfahren mussten (wie z.B. Artaud, Aragon, Dalí, Éluard, Picasso, Ernst), von einer Attacke dieser Art verschont geblieben ist. In den Augen Bretons, so könnte man schlussfolgern, war und blieb Arp von Anfang bis zum Ende Surrealist. Einzelne Stellungnahmen aus dem Kreis der Surrealisten bestätigen dieses Gesamtbild. Das älteste Zeugnis dieser Art bildet das Katalogvorwort der ersten Surrealistenausstellung von 1924 in Paris. Die Surrealisten hatten sich gerade als offizielle Bewegung konstituiert und zugleich verdichteten sich die Zeichen, dass Arp sein bisheriges schweizerisches Domizil endgültig aufgeben und in die französische Hauptstadt übersiedeln würde. An der Parade surrealistischer Male-

59 Breton (1952/1996), S. 66. 60 Breton/Éluard: ARP (Hans), in: diesn. (1938/1969), S. 3. 61 Breton: Surrealistischer Komet (1947), in: ders. (1967/1989), S. 81-90, hier S. 86.

68 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

rei und Objektkunst waren Picasso, Chirico, Ernst, Masson, Miró, Klee und Roy beteiligt, Arp war mit zwei Werken vertreten. In dem Katalogvorwort, das Breton zusammen mit Desnos verfasste, konzentrieren sich die Autoren im Falle Arps auf ein Relief mit dem Titel „Vögel in einem Aquarium“ („Oiseaux dans un aquarium“), einem Werk, dessen Entstehung auf die Zeit um 1920 datiert ist. Der Text setzt die teils abstrakten, teils figurativen Elemente von Relief und Titel in die sprachliche Bildlichkeit eines Prosagedichts um, wodurch diese eine eindringliche Poetisierung erfahren: „Vogelschwingen, die wir nicht mehr kennen – Vögel in einem Aquarium –, sich wandelnde Vogelschwingen gehen auf das Gras der Lichtungen nieder. Er war auch nicht für die Lüfte gemacht, so muß er, o weh, sterben, um zu den nachtschwarzen und ersehnten Wassern zurückzukehren.“62

Man geht sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass mit diesen Worten eine symbolische Lektüre des Arpschen Kunstwerks nahegelegt wird, die, wie könnte es anders sein, im engen Zusammenhang mit der Intention der neuen Bewegung steht. Unter dieser Voraussetzung ist von einer Deutungshypothese auszugehen, wonach das „Er“ zu Beginn des zweiten Satzes allegorisch als der Mensch zu verstehen ist, dessen Seele („Vogelschwingen“) den Bereich des rein Vernünftigen verlässt, um in das begehrte Reich des Traums und Unbewussten („Lichtung“, „Wasser“, „Aquarium“) einzutauchen. Damit hätten die Surrealisten Arp mit ihrem eigenen Konzept, das sie wiederum dem psychoanalytischen Modell Freuds entliehen hatten, kurzgeschlossen, das Relief wäre somit als ein Werk mit selbstreferentiellem Programmcharakter der surrealistischen Bewegung zu verstehen.

62 Breton/Desnos: Préface (1925), zitiert nach Vowinckel (1989), S. 40f.; dt. Übersetzung durch Anja Lischeid (A.L.).

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 69

Abbildung 18: Hans Arp: „Vögel in einem Aquarium“ (um 1920)

Dass dies nicht einfach zu Unrecht geschehen ist, zeigen die ästhetisch-künstlerischen Übereinstimmungen, die es von Anfang an zwischen Arp und den Surrealisten gegeben hat. Denn den Traum nicht nur als Technik der freien Assoziation im Sinne der Psychoanalyse Freuds, sondern darüber hinaus als Generierungsinstanz künstlerischer Aktivität anzusehen, gehörte nicht nur zu den Grundüberzeugungen der Surrealisten, sondern auch schon früh zu denjenigen Arps. In seinen Reflexionen hat Arp den „Traum“ wie auch die „automatische Schreibweise“ als ein Hauptprinzip seiner künstlerischen Arbeit genannt, eine Überzeugung, die er auf die Dada- wie auch Nachdadazeit bezogen wissen wollte. Analoges gilt bekanntlich für den Surrealismus. Breton hatte im ersten surrealistischen Manifest den Menschen als den „entschiedenen Träumer“, den „Surrealismus“ als auf dem „Glauben an die Allmacht des Traums“ beruhend und die angestrebte „Surrealität“ im Leben und in der Kunst als Auflösung der scheinbar gegensätzlichen Zustände von „Traum und Wirklichkeit“ definiert.63 Und zugleich sah er die Produktionsinstanz des Traums eng mit dem Ausdrucksverfahren des Automatismus gekoppelt. Hinzu kam auf pragmatischer Ebene der enge persönliche Kontakt mit Arp. So war Breton als Freund Arps, als Leser und Übersetzer seiner Gedichte sicherlich auch mit der Entstehungsweise seiner

63 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 18.

70 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Kunst vertraut und hatte sich auf diese Weise von ihrem „traumhaften“ und „automatischen“ Produktionscharakter überzeugen können. Was das Katalogwort wie auch die erste Surrealistenausstellung zusätzlich deutlich machen, war der Wille führender Protagonisten, die bildende Kunst als ein, neben der Lyrik, zweites Leitmedium der Bewegung aufzuwerten. Bis Mitte der zwanziger Jahre hatte die Poesie in uneingeschränkter Weise als das eigentliche Medium des Surrealismus gegolten, zumindest im Selbstverständnis der wortführenden Akteure. Unter der Führung Bretons ging die Dichtung nun eine enge Liaison mit der bildenden Kunst ein, eine Entscheidung, die dieser theoretisch und pragmatisch auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen durchzusetzen wusste. Aus dem Umkreis der den Gruppenaktivitäten verbundenen Künstler bot sich dazu mehr als genügend Material, so dass Breton in seinem kunsttheoretischen Hauptwerk „Der Surrealismus und die Malerei“ (1928) eine Sichtung und systematische Ordnung dieses Bereichs vornehmen konnte. Nach der ersten Surrealistenausstellung entstand damit eine auch theoretisch fundierte Galerie surrealistischer Künstler, die von Picasso und Chirico über Ernst, Masson, Miró, Man Ray und Tanguy schließlich zu Arp führte (in späteren Auflagen sollten noch die surrealistischen Nachzügler wie z.B. Dalí, Paalen, Dominguez, Brauner und Matta hinzukommen).64 Arp erhielt auch hier Aufnahme, weil nicht nur sein früheres Reliefwerk, sondern auch seine Malerei, mit der er in den zwanziger Jahren neu begonnen hatte, dem surrealistischen „Geist“ entgegenkam. So hat er selbst in Anspielung auf Arbeiten dieser Periode auf den „Traum“ als Produktionsinstanz der Werkgenese verwiesen, indem er schrieb: „Der Träumer vermag häusergroße Eier tanzen zu lassen, Blitze zu bündeln, einen gewaltigen Berg, der von einem Nabel und zwei Ankern träumt, über einem kleinen schwachen armseligen Tisch, der einer Geißenmumie gleicht, schweben zu lassen.“65 Breton, der diese malerische Entwicklung genau verfolgt hatte, verfasste das Katalogvorwort zur ersten Einzelausstellung Arps, das zugleich die Vorlage für den Text in „Surrealismus und Malerei“ abgab. Und interessanterweise bezieht sich Breton in diesem Text vorwiegend auf das gleiche Gemälde, auf das Arp in seinem Zitat verwiesen hat, nämlich auf das sogenannte „Stilleben“ mit dem Titelzusatz „Tisch, Berg, Anker, Nabel“ – aus dem Jahre 1925 (sowie – am Schluss – auf dessen „Tänzerin“ aus dem gleichen Jahr): Stilleben: Tisch, Berg, Anker und Nabel. Sprich: ombril. Nicht umsonst legt Arp besonderen Wert darauf, daß das Wort so klingen soll: un nombril, des ombrils. (Nabel gleich no-

64 Vgl. Breton: Der Surrealismus und die Malerei (1928), in: Metken (1976), S. 273-305. 65 Hans Arp: Werkstattfabeln (1955), in: ders. (1955/21995), S. 96-107, hier. S. 97.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 71

mbril. Das Wort „ombril“ ist eine Erfindung, es erinnert an ombre = Schatten.) Wer weiß, ob für ihn der schattige Punkt nicht genau dieser kleinen schwarzen Krone entspricht, die er verschwenderisch auf seinen Platten der Tiere, Pflanzen und Steine verteilt? Ombril, seltsames Wort, ein Versehen, das ich ohne Zögern tragisch nennen würde, Schlange unterm Felsen, Idee. Unwandelbare Idee an der Schwelle des Geistes, Idee, die der Geist täglich hervorlocken möchte, deren er aber nicht Herr wird! Die Stunde mit Arp, da die Gaben verteilt wurden, ist vorüber. Das Wort Tisch war ein bettelndes Wort: es wollte, daß man aß, daß man sich mit dem Ellbogen aufstützt oder nicht, daß man schrieb. Das Wort Berg war ein bettelndes Wort: es wollte, daß man betrachtete, daß man hinaufkletterte oder nicht, daß man tief einatmete. Das Wort Anker ist ein bettelndes Wort: Es wollte, daß man anhielt, daß etwas verrostete oder nicht, und dann, daß man wieder abfuhr. In Wirklichkeit, falls man jetzt weiß, was wir damit sagen wollen, ist eine Nase neben einem Sessel völlig an ihrem Platz, sie nimmt sogar dessen Gestalt an. Was für ein Unterschied ist im Grunde zwischen einem Tänzerpaar und dem Deckel eines Bienenkorbes? Die Vögel haben noch nie schöner gesungen als in diesem Aquarium.66

Der Abschnitt nimmt nicht nur Bezug auf den ersten Kommentar Bretons („Die Vögel haben noch nie schöner gesungen als in diesem Aquarium“) und damit indirekt auf die darin niedergelegte Bedeutung des Traums für die Kunstproduktion Arps, sondern präfiguriert auch die Einsicht in bestimmte künstlerische Inhalte und Verfahren des Dichter-Künstlers (eben den „Kunstmitteln“ Bretons). Arp hatte bekanntlich in den zwanziger Jahren damit begonnen, zunächst in seinem zeichnerischen und malerischen, später auch in seinem plastischen Werk sich auf die Ausarbeitung einer kleineren Anzahl elementarer Bilder und Formen zu konzentrieren. Dazu gehörten vor allem biomorphe Rundformen wie das „(bewegte) Oval“, das „Ei“ und eben der „Nabel“, von dem in Bretons Kommentar die Rede ist. Aus Bretons Worten wird nun deutlich, wie er die ‚Erarbeitung‘ der neuen Formenwelt Arps im engen Zusammenhang mit bestimmten poetisch-künstlerischen Verfahren sah, die zeitgleich auch die Produktionsweisen führender Surrealisten bestimmten. Dazu gehörten das Wortspiel („Nabel gleich nombril. Das Wort ,ombril‘ ist eine Erfindung, es erinnert an ombre = Schatten“), die Collage („In Wirklichkeit, falls man jetzt weiß, was wir damit sagen wollen, ist eine Nase neben einem Sessel völlig an ihrem Platz“) wie auch der Gebrauch chiffrenartiger Symbolik („Ombril, seltsames Wort [...]. Unwandelbare Idee an der Schwelle des Geistes, Idee, die der Geist täglich hervorlocken möchte, deren er aber nicht Herr wird!“). Mit diesen Charakterisierungen nahm

66 Breton: Der Surrealismus und die Malerei (1928), in: Metken (1976), S. 273-305, hier S. 304.

72 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Breton in seinem kunsttheoretischen Hauptwerk eine inhaltlich-formale Einbindung Arps in den Kreis der Bewegung vor, die nicht ohne Wirkung auf seine Mitstreiter bleiben sollte. Denn auch andere namhafte Surrealisten folgten den Beurteilungen Bretons, insbesondere mit Blick auf Arps Kunst der Collage und des Wortspiels. In Aragons Geschichte der modernen Collage mit dem Titel „Die Malerei in der Herausforderung“ (1930), in der diese Form der bildnerischen Kunst als genuine Technik von Dada und Surrealismus verstanden wird, erhielten Arps Gemälde, Reliefs und geklebten Papiere einen festen Platz in der Entwicklung zwischen Ernst und Dalí angewiesen.67 Gleiches gilt für Ernsts Katalogvorwort „Was ist Surrealismus?“ (1934), in dem der Surrealismus als eine Technik des Automatismus und der Collage in einem traumartigen Grenzgebiet zwischen psychischer Innen- und Außenwelt bestimmt wird. Neben der Poesie Éluards, den Manifesten Bretons sowie den Skulpturen und Objekten Giacomettis und Dalís wird der Plastiker Arp als einer der wenigen Surrealisten namentlich genannt.68 Marcel Duchamp war sodann derjenige, der in seiner Stellungnahme das Element der Collage mit dem des (symbolhaften) Wortspiels eng führte. Im Zusammenhang von Kunstkritiken unter dem Titel der „Societé anonyme“ (1943-1949) schrieb er über Arp: Sein Beitrag zum Surrealismus, seine ‚Concrétions‘, beweisen seine meisterhafte Technik in der Anwendung verschiedenster Materialien und sind in manchen Fällen wie dreidimensionale Wortspiele – was der weibliche Körper ‚hätte sein können‘.69

67 Aragon (1930/1985), S. 613-631, hier S. 627. 68 Ernst: Was ist Surrealismus? (1934), in: ders. (1994), S. 50-58. 69 Duchamp (1943-1949/1991), S. 13-23, hier S. 13.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 73

Abbildung 19: Hans Arp: „Stilleben/ Berg, Nabel, Anker, Tisch“ (1925)

Abbildung 20: Hans Arp: „Tänzerin“ (1925)

74 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Bemerkenswert ist schließlich in diesem Zusammenhang, was Dalí, der in späteren Jahren neben seinem eigenen Werk kaum etwas gelten lassen wollte, in seiner surrealistischen Frühzeit über Arp zu sagen wusste, und zwar ebenfalls in enger Anlehnung an Breton. Dessen „Der Surrealismus und die Malerei“ hatte einen großen Eindruck auf den jungen Spanier gemacht und seine Hinwendung zur Pariser Bewegung beflügelt. Seinen eigenen Schriften und Werken ist dabei abzulesen, wie er über die Lektüre Bretons zum Bewunderer Arps wird, was übrigens dazu führte, dass Elemente aus der Bildsprache Arps in das frühsurrealistische Werk des Hinzugekommenen Eingang gefunden haben. In Dalís programmatischer Schrift „Neue Grenzen der Malerei“ (1928), in der sich die wachsende Anbindung an den Pariser Surrealismus spiegelt, werden die Kriterien von Bretons Kommentar aufgenommen und um die Elemente eines poetischen Anti-Realismus bei Arp und dessen künstlerischer ‚Autonomie-Erklärung‘ ergänzt: Für uns ist der Platz einer Nase, weit davon entfernt, notwendigerweise in einem Gesicht sein zu müssen, viel sinnvoller auf der Lehne eines Kanapees zu finden; und wir finden auch nichts dabei, daß die gleiche Nase auf einer kleinen Rauchwolke balanciert. […]. All dieses zu sagen ist eigentlich überflüssig, denn es gibt nichts Evidenteres seit dem Tag (und das ist genau der Tag des Surrealismus), als die poetische Autonomie der Dinge und der Worte begann, die aufhören, ,paroles mendiates‘ zu sein (wie André Breton sagt).70

Wie die anderen Surrealisten versteht mithin auch Dalí Arp als einen der wichtigsten Repräsentanten des künstlerischen Surrealismus; es gehört aber auch zu seinem Verdienst, dass er dabei nicht stehen bleiben sollte. Denn wie seinen Schriften ebenfalls zu entnehmen ist, war er einer der wenigen neben Breton, der außer dem bildenden Künstler auch den Dichter Arp, genauer gesagt die intermediale Bedeutung des Dichter-Künstlers, zu schätzen wusste, wobei er in seiner Bewunderung sogar so weit ging, anhand eines rhetorischen Vergleichs das Wirkungspotenzial der Poesie Arps und der Surrealisten über das des seinerzeit hoch angesehenen Symbolisten, namentlich Paul Valérys zu stellen: Ist der lyrische Effekt, den Valéry bei einem äußerst eingeschränkten und elitären Zirkel von Leuten von einem verstandesmäßigen Kulturniveau aus hervorruft, intensiver als die dichterische Wirkung der absoluten Sprache von Arp, Miró usw. (heute liegt die Dichtung

70 Dalí: Neue Grenzen der Malerei (1928), in: ders. (1974), S. 37-51, insbes. S. 37f.

II.3 „M ALER , B ILDHAUER UND D ICHTER DES S URREALISMUS “ | 75

in den Händen der Maler), die schon für ein Kind vollkommen verständlich ist, da sie sich speist aus dem elementarstem und feinsten Instinkt, an den sie sich zugleich richtet.71

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich in den Kommentaren der Surrealisten über Arp, die in einem Zeitraum von über dreißig Jahren entstanden sind, zumindest zweierlei widerspiegelt, nämlich einerseits ein großer Teil der künstlerischen Entwicklungsetappen Arps und andererseits ein wichtiger Teil des Entwicklungsgangs surrealistischer Kunstmittel und der sie begleitenden kritischen Reflexion. Im Falle der Reflexion handelt es sich in der Regel um Basistexte der surrealistischen Kunsttheorie und -historiographie aus erster Hand, von Breton über Aragon und Ernst bis zu Duchamp und Dalí, die Arp einen prominenten Platz im ‚Zauberschloss‘ surrealer Literatur und Kunst einräumen. In diesem Zusammenhang werden aus Arps künstlerischer Produktion folgende Werkphasen akzentuiert: die Zeichnungen, Reliefs und Collagen der Dada Zeit, die Malerei in der Mitte der zwanziger Jahre sowie die Papierarbeiten, Reliefs und Plastiken, die seine Arbeit seit den dreißiger Jahren bis in die Spätzeit prägten. Auf dem Gebiet der Dichtung wurde sowohl das deutsch- als auch französischsprachige Werk als surrealistisch eingestuft. Diese Vereinnahmung Arps hat zwar ihren Preis, außer Acht gelassen wird die andere Seite des Künstlers Arp, das abstrakte und konstruktivistische Werk, an dem dieser gleichzeitig stetig arbeitete und das quantitativ wie qualitativ als nahezu gleichrangig zu bewerten ist. Stattdessen wurden, aus Sicht der Surrealisten verständlich, die Entwicklungsstränge Arps und des Surrealismus enggeführt. Dies geschah unter dem Zeichen einer Parallelität der Evolution von Produktivkräften, Kunstmitteln und Wirkungsweisen zwischen Arp und dem Surrealismus. Als gemeinsam werden herausgestellt: die Orientierung am Traum und Unbewussten, an Verfahren des Automatismus, des Wortspiels und der Collage, die Funktion des Anti-Realismus und des (kontrollierten) Zufalls. Ebenso wurden auf der Ebene der Themen, Inhalte und Motive Übereinstimmungen bemerkt und – schon ansatzweise – die intermediale Ausrichtung Arps hervorgehoben, auf die im Laufe der Untersuchung noch einzugehen sein wird (und dies insbesondere mit Blick auf den surrealistischen Verismus des Dichters Arp, wie er sich in der – von den Surrealisten weniger in den Blick genommenen – Spätzeit der Bewegung artikuliert hat). Um das Bild des surrealistischen Künstlers abzurunden, bleibt zu guter Letzt zu betonen, dass die den Fachleuten bekannten Einschätzungen der Surrealisten natürlich nicht ohne Wirkung auf die kunstgeschichtliche Fachwissenschaft und Öffentlichkeit der zweiten Nachkriegszeit geblieben sind. Auf der Biennale in

71 Dalí: Realität und Surrealität (1928), in: ders. (1974), S. 68-73, hier S. 72.

76 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Venedig bekam Arp 1954 den Internationalen Preis für Skulptur zuerkannt, und zwar ausdrücklich als Vertreter des Surrealismus, während gleichzeitig Miró auf dem Gebiet der Graphik und Ernst auf dem Gebiet der Malerei ausgezeichnet wurden.72 In den Standardhistoriographien über die Geschichte des Surrealismus in und außerhalb Europas wird Arp regelmäßig als Vorläufer, Wegbegleiter und Mitstreiter der Bewegung behandelt.73 Diese Einschätzung hat sich bis in die Gegenwart erhalten, als paradigmatisch hierfür sei auf die letzten großen Ausstellungen verwiesen, die eine Gesamtschau der Bewegung inszeniert haben, darunter die Exposition „Die surrealistische Revolution“ aus dem Jahre 2002, die unter der Leitung von Werner Spies in Paris und Düsseldorf ausgerichtet wurde. In deren Ausstellungskatalog wie auch in der parallel dazu erschienenen Übersichtsdarstellung wird Arp wie selbstverständlich zum festen Bestandteil des „Kanons der Bewegung“ gezählt.74

Abbildung 21: Hans Arp/Marcel Jean/ Oscar Dominguez/Sophie Taeuber-Arp: „Cadavre Exquis“ (1937)

72 Vgl. Dülpers (1997), S. 16. 73 Vgl. z.B. Nadeau (1945/1965), S. 25, 138f., 187f.; Picon (1976), S. 208f.; Durozoi (1997/2002), S. 793. 74 Vgl. Spies (Hg., 2002); ders. (2008).

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 77

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ ODER „W AS MICH UN AUFLÖSBAR MIT DEM S URREALISMUS VERBINDET “ – ARPS L IAISON MIT DEM P ARISER S URREALISMUS „ma poésie et les poètes surréalistes, mes amis“ (HANS ARP)

Abbildung 22: Salvador Dalí: „Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (Der Traum des Christoph Kolumbus)“ (1958/1959)

78 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Und Arp selbst? Eine Untersuchung seiner eigenen Aktivitäten und Stellungnahmen zeigt, dass auch aus seiner Perspektive von einer engen Verbindung zum Surrealismus gesprochen werden kann, und zwar von einer Verbindung, die über einen langjährigen Zeitraum in einem intensiven persönlichen wie auch inhaltlichen und künstlerischen Austausch bestanden hat. Aus den erhaltenen Zeugnissen, auf die noch näher einzugehen sein wird, kommt deutlich zum Vorschein, dass sich diese Periode vom Zeitpunkt der Verlegung seines Wohn- und Arbeitsitzes in die französische Hauptstadt, der sich Mitte der zwanziger Jahre vollzog, über die ‚klassische Phase‘ des Pariser Surrealismus (von 1924 bis 1939) bis hin zu Versuchen seiner Wiederbelebung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (vierziger und fünfziger Jahre) erstreckte. In diesem Zeitraum hat Arp in unterschiedlicher Weise und Intensität mit den Surrealisten zusammengearbeitet und sich mit inhaltlichen und formalen Aspekten der von der Bewegung getragenen Lebens- und Kunstanschauung auseinandergesetzt, ein Faktum, das unter anderem einem Teil seiner dichterischen Produktion abzulesen ist. Zur Erläuterung dieses Sachverhalts sind zunächst einige instruktive Daten und Fakten zu nennen. Die Zeit um 1925 bedeutete sowohl für die Surrealisten als auch für Arp eine entscheidende Zäsur. Das Jahr 1924 erblickte als „offizielle“ Gründungsakte der Bewegung die Veröffentlichung des ersten surrealistischen „Manifests“ durch Breton, die Herausgabe der gemeinsamen Zeitschrift „La Révolution surréaliste“ sowie die Eröffnung des „Büros für surrealistische Forschung“. Im Jahr darauf siedelte Arp nach Frankreich über, zunächst nach Paris selbst, wo er in der Anfangszeit ein Atelier neben dem von Ernst und Miró bezog75, bis er sich – nach einem Intermezzo in Straßburg – ein neues, längerfristiges Domizil in dem Vorort Meudon/Clamart suchte. Hier, vor den Toren des hauptstädtischen Zentrums, bezog er mit seiner Frau, der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, ein eigenes Atelier-Haus und blieb dort bis an sein Lebensende ansässig. Dieser Wechsel bildete nicht seine erste Zeit in Paris, denn schon während seiner Jugend- und Studienzeit, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs sowie Anfang der zwanziger Jahre hatte er die Kunstmetropole Europas mehrfach bereist und künstlerische Kontakte geknüpft, beispielsweise zu Apollinaire und Picasso (vor bzw. während des Kriegs), aber auch zur Pariser Dadaszene (nach dem Krieg). Mit dem neuerlichen Schritt in die französische Hauptstadt war aber wohl von Anfang an ‚mehr‘ als je zuvor gemeint. Denn dieser folgte auf seinen Entschluss, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen, da er unter den herrschenden Bedingungen der schwierigen Nachkriegszeit nicht mehr Deutscher

75 In der Villa des Fusains, Rue Tourlaque 22, Montmartre.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 79

bleiben wollte76, und die erhoffte Anerkennung als Schweizer, die er zwischenzeitlich in seinem bisherigen Aufenthaltsort in Zürich betrieben hatte, ihm versagt blieb. Als Künstler ging es ihm aber darum, den Anschluss an die europäische Avantgardebewegung zu halten. Denn für ihn, der seit seinen Anfängen vor dem Ersten Weltkrieg die internationale Kunstszene immer aufmerksam beobachtet hatte, war zu diesem Zeitpunkt längst klar, dass die Dadabewegung vor ihrem definitiven Ende stand („nun mal Dada vorbei“77 sei, wie er selbst sagte). Seit der Begründung der Bewegung 1916 in Zürich und über die um sich greifenden Dadazentren in Köln, Berlin und Paris war er bis in die Mitte der zwanziger Jahre einer ihrer eifrigsten Aktivisten und Propagandisten dieser Bewegung gewesen, der er einen Großteil seiner Zeit und Kraft gewidmet hatte. Doch schon 1923 bekannte er in einem Brief aus der Schweiz an seinen Mitstreiter Tzara, der die angestrebte Veränderung schon längst hinter sich hatte und zu einem der Hauptakteure der Pariser Szene geworden war: „Hier ist alles am Ende. [...]. Ich bin nun mutterseelenallein in Zürich. Das geht nicht mehr so weiter. Kannst du mir nicht helfen, daß ich bald nach Paris kann?“78 Diese Worte sind so zu verstehen, dass Arp zu jenem Zeitpunkt die internationale Kunstszene wie auch die eigene Entwicklung vor einem Scheideweg sah; die gleichzeitig in jenen Jahren herausgegebene Anthologie „Die Kunstismen“ setzte entsprechend vor die Aussicht auf die zukünftige Kunstentwicklung ein dickes Fragezeichen („?“).79 In dieser diffusen Situation bot Paris die größte Aussicht auf einen erfolgversprechenden Neuanfang, schließlich war neben Tzara und Picabia auch sein alter Freund Ernst dorthin übergesiedelt und er hatte durch die Kontakte zu Éluard, Breton und Aragon, die sich über die Treffen in Paris bzw. Tirol ergeben hatten, erste Einblicke in die bestehenden Verhältnisse der französischen Hauptstadt gewonnen. Bei diesen Zusammenkünften dürfte ihm nicht verborgen geblieben sein, dass sich mit der Begründung des offiziellen Surrealismus etwas Neues am Horizont abzuzeichnen begann, das alte Bestrebungen zumindest partiell weiterzuführen erlaubte. Die letzten Briefe vor seiner Übersiedlung nach Paris zeigen, wie Arp hinsichtlich der weiteren Aussichten zwischen Hoffen und Bangen schwankte. In einem anderen Brief an Tzara hieß es Ende 1924 überschwänglich: „Ich hoffe,

76 Vgl. Brief Arps an Tristan Tzara (09.06.1921), wiederabgedruckt in Schrott (1992), S. 279 („Deutschland kommt für mich nicht mehr in Frage. Die Menschen dort sind mir wieder wie vor dem Krieg ganz fremd geworden.“). 77 Vgl. Brief Arps an Tzara (Anfang August 1924), in: Schrott (1992), S. 349. 78 Vgl. Brief Arps an Tzara (01.05.1923), in: Schrott (1992), S. 329. 79 Vgl. Arp/Lissitzky (Hg., 1925), S. 1.

80 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

daß du mir zu Ehren große Nacktfeste mit Salatschüsseln voll Kokain veranstalten wirst“80, während rund ein Jahr später zu lesen ist: „Ich bin im Begriff, meine letzte Kraft zu einem Sturm auf Paris zusammenzublasen. Hoffentlich gelingt es mir, sonst . . . drei Punkte.“81 Ein „Sturm“ sollte es schließlich nicht werden, doch gelang es Arp, so weit in Paris Fuß zu fassen, dass er dort eine private und künstlerische Existenz begründen und festigen konnte. Mithin war die Ansiedlung in der französischen Hauptstadt zugleich mit einer Reihe signifikanter Veränderungen verbunden. Politisch besiegelte sie endgültig die Anerkennung als französischer Staatsbürger mit vollen Bleibe- und Bürgerrechten (eine sicherlich glückliche Fügung angesichts der weiteren Entwicklung in seiner alten Heimat Deutschland, die nach 1933 höchstwahrscheinlich direkte Verfolgung und Vertreibung für ihn bedeutet hätte). Wirtschaftlich bot sie dem Künstlerehepaar die Möglichkeit, sich eine bessere finanzielle Lebensgrundlage zu schaffen: das Geld aus der künstlerischen Auftragsarbeit an der Straßburger Aubette konnte in den Bau des eigenen Hauses gesteckt werden, Sophie verdiente weiterhin als Dozentin an der Kunsthochschule, und die lange Zeit geringen Einnahmen, die beide aus dem Erlös ihrer literarischen bzw. künstlerischen Arbeiten erzielten, konnten, zumindest partiell, durch Verträge mit befreundeten Förderern kompensiert werden (noch in den dreißiger Jahren klagte Arp darüber, dass das „Elend für den Künstler immer größer werde“, er seine Arbeiten für „den Mann im Mond“ leisten würde und der Staat „nicht das geringste Interesse an wesentlicher Kunst“ zeige82; erst in den fünfziger Jahren wurde es ihm möglich, seinen Lebensunterhalt ganz durch den Vertrieb seiner Werke zu bestreiten). Künstlerisch gesehen sorgte die Übersiedlung schließlich dafür, dass für Arp der Anschluss an die europäische Avantgarde erhalten blieb (die sich im Übrigen seit dem Krieg mehr und mehr auf die französische Hauptstadt konzentrierte), wobei es wohl von nicht unerheblicher Bedeutung war, dass Arp wie auch seine Frau aus dem künstlerischen Engagement ihrer Vergangenheit Erfahrungen mitbrachten, die auch die weitere Entwicklung maßgeblich mitbestimmen sollten, nämlich Erfahrungen mit Abstraktion und Dada als den Vorläufern von Konstruktivismus und Surrealismus, die das Paris der Zwischenkriegszeit entscheidend mitprägen sollten. Unter diesen Umständen ist es sicherlich nicht verwunderlich, dass Arp einen beträchtlichen Teil seiner weiteren Anstrengungen auf ein Zusammengehen mit

80 Vgl. Brief Arps an Tzara (08.11.1924), in: Schrott (1992), S. 353f., hier S. 354. 81 Vgl. Brief Arps Tzara (10.09.1925), in: Schrott (1992), S. 360. 82 Vgl. das Zitat aus einem Brief Arps an Maja Sacher (1934) in: Ströh (1986), S. 141154, hier S.149.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 81

den Pariser Surrealisten lenkte. Von Vorteil hinsichtlich dieser Entscheidung dürfte auch der Umstand erschienen sein, dass es Breton und seinen Mitstreiten seit Anfang der zwanziger Jahre gelungen war, ihrer Bewegung einen eigenen, wichtigen Platz im zeitgenössischen künstlerischen und intellektuellen Diskursfeld zu erobern. Dies war zum einen in scharfer Abgrenzung gegenüber der politischen Rechten geschehen, wie es die Angriffe auf die seinerzeit hoch angesehenen Autoren Alfred Barrés und Anatole France bewiesen, die sich zum Teil zu spektakulären Skandalen entwickelten. Zum anderen war es den Surrealisten gelungen, eine eigene Position zwischen der intellektuell hegemonialen linken Mitte, die insbesondere von Valéry, Gide und der NRF (Nouvelle Revue française) repräsentiert wurde, sowie den Relikten einer extremen Linken in der Gestalt Dadas zu etablieren. Das folgende Schema verortet daher Arps Position im intellektuellen und literarisch-künstlerischen Diskursfeld der Zeit zwischen den Positionen „Ernst/Tzara“ und „Breton“ (nach Bandier bzw. Bogusz83, Arps Position ist von mir, T.L., hinzugefügt):

Schema 2: aus Tanja Bogusz (2005): „André Breton und die surrealistische Bewegung im literarischen Feld nach Bourdieu“ (im Anschluss an Bandier 1999, Eintrag „Arp“ durch T.L.)

83 Vgl. Bogusz (2005), S. 79. Boguszs Schaubild orientiert sich an Bandiers (1999) umfangreicher Darstellung.

82 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Als Arp nach Paris kam, war der Surrealismus immerhin so weit, dass dieser eine eigenständige Position auch medial sichtbar ausgeflaggt hatte. Doch auch die Folgezeit sollte die Notwendigkeit erweisen, sich gegen äußere Anfeindungen und innere ‚Abweichler‘ von rechts und links abzugrenzen, eine Aufgabe, die vor allem Breton als Kopf der Bewegung zu übernehmen hatte. Für Neuzugänge, zu denen Arp trotz oder auch wegen seiner dadaistischen Vergangenheit gehörte, sollte dies u.a. bedeuten, in sichtbarer und auch nach außen gerichteter Weise ‚Farbe zu bekennen‘, d.h. sich für den Surrealismus engagiert zu zeigen. Diese Erwartungshaltung wird sicherlich dazu beigetragen haben, dass sich Arp in seinen Anfangsjahren an politisch ausgerichteten Bekundungen der Bewegung beteiligte, die sich an die zeitgenössische Öffentlichkeit wandten und die er mit seiner Unterschrift bzw. mit einem Bildbeitrag unterstützte. Solche Aktionen waren für den Avantgardisten Arp im Prinzip nichts Neues, schließlich hatte er in den Jahren zuvor mehreren Manifesten der Avantgarde, besonders Dadas und des Konstruktivismus, Beistand geleistet und sollte auch bis in die dreißiger Jahre hinein Ähnliches tun. Im Falle des Surrealismus handelte es sich um die Stellungnahmen „Permittez!“ und „Hands off Love“, die Arp beide 1927 mit seinem Namen mit signierte, sowie einen Bildbeitrag für die Gedicht- und GraphikSammlung „Violette Nozières“ (1933). In den ersten beiden Texten ging es vorderhand um Künstler, in dem einen Fall um Rimbaud, im anderen um Charlie Chaplin, den eigentlichen Zielpunkt bildeten aber allgemeinere politische und soziokulturelle Fragen. Gemeinsam ist allen drei Publikationen ihr vorherrschend defensiver Charakter, denn jedes Mal ging es um die Verteidigung einer ‚Individualität‘ vor den Zumutungen gesellschaftlicher Normen und Zwänge. Im Falle Rimbauds gegen die Gleichsetzung des Dichters mit den Werten von Kirche, Nation und Militär, im Falle Chaplins gegen die Konventionen bürgerlicher Liebes- und Ehevorstellung und im Falle Violette Nozières gegen die Doppelmoral bürgerlicher Familien- und Sexualitätsauffassung. Zugleich zeigten sich die Stellungnahmen überzeugt von der Größe und Tragweite surrealistischer Grundmaximen: den Glauben an die Freiheit der Kunst, die Liebe und die soziale Revolution. Dies waren Überzeugungen, die sich Arp schon zuvor in seiner Dada Zeit zu eigen gemacht hatte, die er aber auch in der Idee des Surrealismus wiedererkennen konnte. Es ist mithin davon auszugehen, dass Arp in wesentlichen Fragen des Politikverständnisses und der Lebensanschauung mit den Surrealisten in Form eines wohl grundsätzlichen Einverständnisses übereingekommen ist. Seine kritischen Stellungnahmen, die, mit einem gewissen Abstand, aus der zweiten Nachkriegszeit stammen und eine eher ambivalente Haltung bezeugen, richteten sich dagegen eher auf Einzelaspekte der Bewegung. In diesen Bereich fällt zum einen die

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 83

Frage des direkten parteipolitischen Engagements, die von führenden Surrealisten bejaht wurde, indem sie in den zwanziger und dreißiger Jahren in die Kommunistische Partei Frankreichs eintraten (wenn auch zumeist bloß vorübergehend), während sich Arp mit einem solchen Schritt wohl bewusst zurückhielt. Die Haltung Arps, die der Idee von Individualität und Freiheit den Vorrang vor der Abhängigkeit von einer Parteipolitik gab, die den Menschen zu einer „standardisierten“ (und noch dazu stalinistisch geprägten) „Nummer“ machen wolle, wird aus einer Äußerung aus den vierziger Jahren deutlich, die sich im Wortlaut auf frühere Mitdadaisten bezieht, aber ebenso auf spätere surrealistische Weggefährten gemünzt ist (direkt gemeint sein könnten u.a. Aragon, Éluard und Tzara): „Alte Freunde aus der Zeit des Dadafeldzuges, die stets für Traum und Freiheit eintraten, sind nun mit widerlicher Beflissenheit bestrebt, das Ziel der Klasse zu erreichen und arbeiten die hegelsche Dialektik zu einem Gassenhauer um. Dichtkunst und Fünfjahresplan werden nun eifrig durcheinander gerührt, aber der Versuch im liegen zu stehen, wird nicht gelingen. Der Mensch wird sich nicht zu einer aufgeräumten, hygienischen Nummer machen lassen, die vor einem bestimmten Bildnis begeistert wie ein hypnotisierter Esel ia schreit. Der Mensch wird sich nicht standardisieren lassen. Es ist schwer zu erklären, wieso die grössten Individualisten für einen Termitenstaat eintreten. Ich kann mir meine alten Freunde nicht recht in einem kollektiven, russischen Ballett vorstellen.“84 Zum anderen wehrte sich Arp gegen jede Art von politisch oder anderweitig motivierten Grabenkämpfen innerhalb der Gruppe, von denen die Geschichte der surrealistischen Bewegung bekanntlich reich gespickt ist. Dem Vernehmen nach soll er in Situationen, in denen interne Konflikte zur Sprache kamen und entsprechende Auseinandersetzungen geführt wurden, gerne die Flucht ergriffen haben, auf Nachfrage hat er sein Verhalten zu einer Frage des individuellen Temperaments gemacht.85 In den „Erinnerungen“ Arps wird darüber hinaus deutlich, dass die Abneigung gegenüber Imponiergehabe und internen Konflikten, die nicht selten in bösen Polemiken kulminierten, nicht auf die Surrealisten beschränkt blieb, sondern auch andere Gruppierungen der zeitgenössischen Avantgarde betraf: „Ich nahm an Sitzungen in den unwahrscheinlichsten Stadtvierteln in Paris teil, in denen noch unwahrscheinlichere Reden in vollendet geformter Sprache vorgetragen und von Gebärden begleitet wurden, wie sie schon Ludwig der Vierzehnte vermutlich noch vollendeter ausführte. Auch die literarischen Kaffeehaussitzungen waren nicht übel. Der ‚Satanismus‘ des achtzehnten Jahrhunderts war immer noch das Leibgericht vieler Literaten. In anderen Gruppen wieder

84 Hans Arp: Alte Freunde (1948), in: ders. (1948), S. 94. 85 Vgl. Clay (1961), S. 70; Dülpers (1997), S. 190f.

84 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

mußte jeder Teilnehmer jede Minute wenigstens einmal die Worte ‚selon la dialectique hégélienne‘ aussprechen. Da keine ‚lettres de cachets‘, die Exil und Gefängnis bedeuteten, mehr verschickt werden können, mußte man sich mit ‚lettres d’insultes‘ bescheiden, die mit Sadismus verfaßt und triumphierend an einen Ahnungslosen gerichtet wurden. Den Vortrag jedoch eines der wunderbaren Gedichte Breton’s, Éluard’s oder Péret’s habe ich nie erlebt.“86 Es ist nur folgerichtig, dass sich diese Reserve Arps gegenüber der Avantgarde auch auf künstlerische Produkte ihrer Protagonisten übertragen konnte, besonders dann, wenn es sich um bestimmte politisch motivierte Formen der Darstellung handelte. Am Beispiel Picassos, der sich ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs der Kommunistischen Partei angeschlossen hatte, äußerte Arp seine Kritik gegenüber bestimmten Formen politischer Kunst, denen er die abstrakte Malerei beispielsweise eines Vordemberge-Gildenwarts gegenüberstellte: „Die Arbeiten Vordemberges halten dem Menschen keinen Spiegel vor, wie dies Picasso in seinen Bildern tut, damit der Mensch seine Häßlichkeit erkenne, seinen zerfallenen Kotgeist, seine Massenmordschnauze, seine foltergeilen Maulwurfgrillenkrallen, seine blasphemisch verdrehte Wurstseele, die ihm aus den Augen hängt wie giftgefüllte Schläuche. Die Arbeiten Vordemberges reinigen die Erde. Sie sind der Gegensatz zu den dozierenden Bildern Picassos. Sie sagen nicht: so häßlich, so böse bist du!“87 Und in ästhetischer Sicht heißt es an einer Stelle über die zeitgenössische Kunst (evtl. in Anspielung auf die paranoischen Bildmotive in der Art Dalís): „Verwirrung, Unruhe, Unsinn, Wahnsinn, Besessenheit beherrschen die Welt. Fötusse mit geometrischen Doppelköpfen, Menschenleiber mit gelben Nilpferdköpfen, fächerförmige, berüsselte Mischwesen, bezahnte Mägen an Krücken, schleppfüßige Pyramiden mit tränenden Menschenaugen, Erdklumpen mit Schamgliedern und so fort, sind auf Leinwänden und in Statuen entstanden.“88 Demgegenüber hat Arp in der Regel provokatorische und polemische Töne zu vermeiden gesucht, von denen sich bekanntlich einige Surrealisten durchaus leiten ließen. Dahinter stand eine, wohl mit der Zeit gewachsene, Grundüberzeugung Arps über die Angemessenheit und Effizienz bestimmter Inhalte und Darstellungsformen, die letztlich nicht nur das Gebiet der Politik im engeren Sinne, sondern auch andere Lebensbereiche berührte. Von Darstellungsweisen, die das Gebiet des Ekels, der Drogen und des Wahnsinns, der Gewalt, des Mords und des Selbstmords ambivalent oder sogar positiv besetzt erscheinen

86 Hans Arp: Betrachten (1958/1960), in: ders./Taeuber-Arp (1960), S. 84-104, hier S. 101. 87 Jean Arp: Reine Eilande (1949), in: ders. (1949), S. 18. 88 Hans Arp: Das Mass aller Dinge (1948), in: ders. (1948), S. 81.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 85

lassen konnten, hat er sich in der Regel fern gehalten. In diesem Sinne kann man wohl davon sprechen, dass es sich bei Arp um einen eher ‚weißen‘ als ‚schwarzen‘ Surrealisten, um einen eher ‚sanften‘ Avantgardisten handelte.

Abbildung 23: Hans Arp: „Im Varieté: Der Surrealismus 1929“ (1929)

„Meine Verehrung für die Dichtung Bretons, Pérets, Éluards und anderer ist das, was mich unauflösbar mit dem Surrealismus verbindet.“89 Im Unterschied zur Frage des direkten politischen Engagements sah sich Arp in literarischen wie auch gesamtkünstlerischen Fragen viel stärker mit der surrealistischen Bewegung verbunden. Dies ist zum einen bestimmten ‚äußeren‘ Handlungsweisen abzulesen. So konnte man Arp von Mitte der zwanziger bis zur Auflösung der Bewegung Ende der dreißiger Jahre mehr oder minder kontinuierlich in wichtige literarisch-künstlerische Aktivitäten eingespannt sehen (dem eben – neben dem ‚politischen‘ – zweiten, in mancher Hinsicht wohl auch bedeutenderen Hauptbetätigungsfeld der Bewegung). Dazu gehörte nicht nur die Teilnahme an den regelmäßigen Treffen der Gruppe in den bekannten Pariser Cafés und Bretons Wohnung (in der rue Fontaine), sondern vor allem die Mitarbeit an den beiden wichtigsten ‚institutionellen‘ Einrichtungen der Bewegung, den gemeinsamen Publikationsorganen und dem gemeinsamen Ausstellungswesen. Beide Einrichtungen waren für die integrierende Selbstdarstellung und wachsende Publizität der Bewegung von großer Bedeutung, denen sich auch Arp nicht verschließen

89 Jean Arp: Situation de la peinture en 1954 (1954), in: ders. (1966), S. 405f., hier S. 406.

86 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

konnte und wollte. Entsprechend ist hervorzuheben, dass er sich an allen drei Zeitschriften, die während der ‚klassischen‘ Phase des Pariser Surrealismus der Zwischenkriegszeit entstanden sind, engagierte, also an „La Révolution surréaliste“ (1924-1929), „Le Surréalisme au service de la révolution“ (1930-1933) sowie „Minotaure“ (1933-1939), und zwar sowohl in Wort- als auch Bildbeiträgen.90 Darüber hinaus war es seiner Nähe zum Surrealismus zu verdanken, dass die erste Einzelausstellung seines bildnerischen Werks überhaupt in der „Galerie surréaliste“ stattfinden konnte (Paris 1927, mit einem Katalogvorwort Bretons) und er umgekehrt an den periodisch wiederkehrenden Expositionen der Surrealisten stets mitwirken konnte. Unter Letzteren befinden sich all die bedeutenden Ausstellungen in Frankreich, Europa und Amerika, die für die wachsende internationale Publizität des Surrealismus von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen sind: die erste Surrealisten-Ausstellung in der Galerie Pierre (Paris 1925), die Ausstellungen „Abstrakte und Surrealistische Malerei und Plastik“ im Kunsthaus Zürich 1929 und „International Surrealist Exhibition“ in London 1936 (New Burlington Galleries) sowie die New Yorker Ausstellungen „Fantastic Art, Dada, Surrealism“ (Museum of Modern Art, 1936) und „Surrealist Exhibition“ (Reid Mansion, 1942). Die eigentlichen Glanzpunkte in dieser Entwicklung bildeten aber die wiederum in Paris situierten und von den Surrealisten unter Breton geleiteten (Internationalen) Surrealisten-Ausstellungen, die von den dreißiger bis in die späten fünfziger Jahre ihre Aufführung erlebten: 1933 in der Galerie Pierre Colle (unter dem Titel „Exposition surréaliste“), 1936 in der Galerie Charles Ratton („Exposition surréaliste de l’object“), 1938 in der Galerie des Beaux Art („Exposition International du Surréalisme“), 1947 in der Galerie Maeght („Le Surrélisme en 1947“) sowie 1959/60 in der Galerie Cordier (wiederum als „Exposition International du Surréalisme“). Mit diesen Aktivitäten innerhalb der Gesamtgruppe ging die Zusammenarbeit mit einzelnen surrealistischen Literaten und Künstlern einher, an der Arp wiederum mit Texten wie auch Bildern beteiligt war. Nach der gemeinsamen Kölner Fatagaga-Zeit arbeiteten Arp und Ernst auch gelegentlich in Paris zusammen, so etwa als Arp das Vorwort zu Ernsts „Histoire naturelle“ (1926) verfasste und im Gegenzug Ernst mehrere Collagen zu Arps Gedichtband „Weißt du schwarzt du“ (1930) beisteuerte. In den dreißiger Jahren schrieb Arp zusammen mit dem chilenischen Surrealisten Vincente Huidobro den Prosaband „Tres immensas novelas“ (1935), den Arp 1963 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Drei und drei surreale Geschichten“ herausgab. Mit Duchamp, Éluard, Ernst, Hugnet erschien 1939 der Kollektivroman „L’homme qui perdu son

90 Vgl. z.B. die Angaben in Krupp (2007), S. 212-224, insbes. S. 218ff.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 87

squelette“ (und zwar in der von seiner Frau herausgegebenen Zeitschrift „Plastique“). Im gleichen Zeitraum war er an einem Rundschreiben Bretons eingebunden (1935), das mit Zeichnungen von ihm und anderen Surrealisten versehen war und ein Referat Arps im Rahmen einer „Systematischen Vortragsreihe über die jüngsten Positionen des Surrealismus“ ankündigte, das allerdings nie gehalten wurde.91 Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die Herstellung zumindest eines der typisch surrealistischen Gemeinschaftsspiele zu nennen, einem zusammen mit Jean, Dominguez und seiner Frau verfertigten bildlichen „cadavre exquis“ aus dem Jahre 1939. Selbstverständlich entwickelten und vertieften sich durch diese Aktivitäten auch bestimmte Freundschaften mit den Surrealisten. Zwar besaß der gesellige Arp zu allen Teilen der Avantgardebewegung rege persönliche Kontakte, insbesondere zu alten Dadaisten und abstrakten Künstlern, aber ein besonderes Gewicht nahmen auch die ausgesprochen guten Beziehungen zu bestimmten Surrealisten ein. Mit Max Ernst, den Arp schon vor dem Ersten Weltkrieg kennen gelernt hatte, verband ihn eine lebenslange Freundschaft, enge Kontakte bestanden ebenso zu Tzara, der zwischenzeitlich zu den Surrealisten stieß, wie auch zu Éluard und Breton. Aus den Reihen der während der surrealistischen Periode neu Dazugekommenen sind vor allem Tanguy, Hugnet und Jean hervorzuheben. Es kann daher nicht verwundern, dass Arp die surrealistischen Dichter einmal in toto als seine „Freunde“ bezeichnete92 und er in verschiedenen Hommagen seine Achtung und Bewunderung für Person und Werk verschiedener Surrealisten aussprach, so auch gegenüber Magritte, den er darüber hinaus – symptomatischerweise repräsentativ – als „führende Persönlichkeit der gegenwärtigen Epoche“ titulierte.93 Stärker noch als die Aufzählung äußerer Daten und bestimmter Freundschaften sind aber die programmatischen Äußerungen Arps zu gewichten. Zwar sind seine Kommentare zum Surrealismus in der Regel kurz gehalten und von eher beiläufigem und punktuellem Charakter, dennoch besitzen sie genügend Substanz, um nähere Hinweise auf die Grundlinien seines Surrealismusbilds zu erhalten. Dabei zeigt sich, dass Arp von einem literarisch-künstlerischen wie auch lebens- bzw. weltanschaulichen Grundkonsens zwischen ihm und den Surrealisten ausgegangen ist, der es ihm, Arp, ermöglichte, den Surrealismus als etwas ihm Eigenes zu empfinden. So ist aus seinen Bemerkungen zu schlussfolgern, dass er sich zum einen als eine Art Surrealist avant la lettre angesehen hat

91 Vgl. Picon (1976), S.174. 92 Vgl. Jean Arp: Collages (1955), in: ders. (1966), S. 420f., hier S. 421. 93 Jean Arp: Hommage à Magritte (1961), in: ders. (1966), S. 532.

88 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

(etwa im Falle seiner „automatischen Dichtung“ aus der historischen Dada Zeit), zum anderen die Bewegung umgekehrt dafür (mit-)gesorgt habe, einer bestimmten Seite seines literarisch-künstlerischen Vermögens, eben der „surrealistischen“, deutlicher Ausdruck zu verleihen, deutlicher als dies vielleicht ohne ihren Einfluss geschehen wäre. Arp spricht mithin auch explizit von einer surrealistischen „Periode“ („l’époque surréaliste“94) in seinem Werk, die er, was von besonderem Interesse im vorliegenden Zusammenhang ist, als eine charakterisiert, in der die intermediale ‚Allianz‘ von literarischen und künstlerischen Ausdrucksformen besonders eng gewesen sei. Ein erstes Beispiel für die Hochschätzung des Surrealismus findet sich in den Kommentaren, die Arp hinsichtlich einzelner zeitgenössischer Künstler, neben den Surrealisten etwa Kandinsky, Picabia oder Schwitters, verfasst hat. Allgemein ist in dem Fall solcher Einzelbesprechungen zu konstatieren, dass die Wahl der zu begutachtenden Künstler und Werke in der Regel auf Freunde und Bekannte und damit auf Repräsentanten verwandter Kunstrichtungen fiel, ein Vorgehen, das es erlaubte, mit der Deskription der jeweiligen Künstler- und WerkIndividualität Gemeinsamkeiten mit der eigenen Position hervorzuheben. Die Kunstkritik Arps diente mithin auch immer der Selbstvergewisserung. Dies gilt auch für ein Katalogvorwort zu einer Doppelausstellung aus dem Jahre 1955, die der Malerei Marcel Jeans und der Dichtung Henri Pastoureaus gewidmet ist und in der beide als Teil der „alten Garde der Surrealisten“ bezeichnet werden. Arp unterhielt zu Jean seit dessen Zugehörigkeit zur Gruppe, die Anfang der dreißiger Jahre einsetzte, Kontakt, dieser gab Arp in seiner „Geschichte des Surrealismus“ (1959) einen großen Raum in der Historie der Bewegung und verfasste das Vorwort zur Sammlung der französischsprachigen Dichtung Arps (1966). Die Charakterisierung der „Flottagen“ Jeans akzentuierte surrealistische Grundpositionen wie den Glauben an das Wunder(bare), die Erregung und Wandelbarkeit (Metamorphose) aller Dinge sowie die Bedeutung des Zufalls als Zu-Fälligem (im mehrfachen Sinn des Wortes): Marcel Jean ist kein Maler-Künstler – wie man früher zu sagen pflegte. Er ist vielmehr ein Entdecker. Er erfindet neue Verfahren, um die Natur in ihrer Wandelbarkeit, ihrer Erregung und ihren Zufällen wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen, zu ihrem ‚Überausdruck‘. So muß sich denn dieser überzeugte materialistische Ungläubige davon überzeugen lassen, daß seine Hände wunderbare Dinge hervorbringen – Wunder, die nicht viel weniger wunderbar sind als das der Veronika. Das Wasser ist der Pinsel von Marcel Jean.

94 Jean Arp: Réponses à des questions posées par George K.L. Morris (1956), in: ders. (1966), S. 443-446, hier S. 446.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 89

Das Wasser ist seine Palette. Er nennt die Blätter ‚Flottagen‘, die durch seine Arbeit das, was mit Farben versetztes Wasser an verborgener Wandelbarkeit, Erregung und Zufällen enthalten kann, aufgefangen haben. Er streichelt das Element des Thales mit seinen Händen, seinen Füßen, seinen Wangen, seinen Lippen. Dadurch bildet es Flecken wie von Morgentau, Staub, Blut, Schnee, Seide und Rauch. Er knetet es, bearbeitet es, bringt es zum Lachen. Er bringt es so sehr zum Lachen, daß er selbst manchmal Tränen lacht. Das bringt uns in die Nähe von Zen oder Dada.95

Wie man an diesem Zitat gut ablesen kann, bildet in diesem Zusammenhang Arps Verwendung des Dada-Begriffs einen wichtigen Beleg für seine soeben charakterisierte ‚doppelte‘ (ineinander geschachtelte) Poetik und Ästhetik ab. Denn es ist im Vergleich beider Fraktionen nicht zu übersehen, dass sich die Surrealisten begrifflich als eine Art ‚Überwinder‘ Dadas (und damit ihrer eigenen Vergangenheit) ansahen und sich entsprechend jedes weiteren, positiv applizierenden Begriffsgebrauchs enthielten, während bei Arp sehr wohl ein fortführende ‚Tradierung‘ unübersehbar ist, ja gerade für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der die meisten erhaltenen Kommentare stammen, und besonders in deutschsprachigen (im Unterschied zu den französischen) Publikationen, er sich wohl in erster Linie selbst als „Dadaist“ bezeichnete. Die Gründe hierfür mögen vielfältig sein, von besonderer Relevanz waren aber sicherlich kunststrategische Überlegungen, die der Markierung einer eigenen Position in der Vielfalt moderner Kunstströmungen dienlich sein und eine für die vielen Jahre und Jahrzehnte seiner literarisch-künstlerischen Tätigkeiten identitätsstiftende Wirkung entfalten sollte. In seinem Fall lag es unter diesen Prämissen natürlich nahe, sich am ehesten auf „Dada“ zu berufen. Denn schließlich war es, auch für die Öffentlichkeit, nur zu bekannt, dass Arp während des Ersten Weltkriegs einer der Mitbegründer der Dada-Bewegung in Zürich gewesen war und diese Zeit gewissermaßen den entscheidenden Durchbruch zu einer eigenständigen künstlerischen Auffassung signalisierte. Unbeirrt hielt er denn auch an dieser Selbstverständigungsformel fest, selbst als die historische Dada-Bewegung längst ihre Aktivitäten eingestellt hatte. Ohne bestimmte Modifikationen am Inhalt der Formel war aber dies nicht zu haben (alles andere hätte sicherlich die Isolation in einem unverständlichen Anachronismus bedeutet). Denn nicht zu übersehen ist bei der Fortschreibung seiner Selbstdarstellungsformel eine – auf den ersten Blick überraschende – Ausweitung ihres Begriffsgehalts dergestalt, die es ermöglicht, auch

95 Vgl. Jean Arp: Marcel Jean et Henri Pastoureau (1955), in: ders. (1966), S. 426f.; deutsche – und leicht veränderte, T.L. – Übersetzung nach: Jean Arp: Marcel Jean (1955), in: Kölnischer Kunstverein (Hg., 1981), S. 13.

90 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

seine weiteren Schaffensphasen sowie die damit verbundenen Einflussfaktoren und Entwicklungstendenzen mit umfassen zu können. Der Dada-Begriff erfuhr damit unter den Händen Arps eine solch über das vertraute Maß hinausgehende semantische Extension, dass er in seiner erweiterten Verwendungsweise nicht nur die Weiterführung einer genuin dadaistischen Ästhetik bis in die mittlere und späte Werkphase hinein meinte, sondern darüber hinaus auch Elemente und Tendenzen im Schaffen mit einbeziehen konnte, die gemeinhin als Tendenzen der Abstraktion oder auch des Surrealismus angesehen werden. Dabei ist im Falle des Surrealismus dieser eigenwillige Begriffsgebrauch Arps leicht nachzuvollziehen. Schließlich wusste er nur zu gut, dass Dada dem Surrealismus historisch vorangegangen war und gewissermaßen den systematischen Boden gebildet hatte, dem die neue Bewegung erwuchs. Überdies gab es personell eine Reihe von Kontinuitäten, was vor allem die Entwicklung in Paris betraf. All dies musste dafür sorgen, dass Arp die Übergänge zwischen Dada und Surrealismus als fließend betrachten konnte, wobei ihm Dada als historisch und systematisch ‚primär‘ gelten musste. Schließlich war der Surrealismus erst im Paris der ersten Nachkriegszeit entstanden, frühestens mit Bretons und Soupaults „Magnetische Felder“ von 1919, und das Destruktionswerk unter führender Beteiligung Tzaras hatte dort Anfang der zwanziger Jahre den entscheidenden Ausgangspunkt für die anschließend neuen re-konstruktiven und re-synthetisierenden Tendenzen des Surrealismus abgegeben, die schließlich Mitte der zwanziger Jahre zur „offiziellen“ Begründung der surrealistischen Bewegung führten. Arp konnte mithin den Surrealismus als eine ihm gut vertraute Sache empfinden, die ihn, wie schon bemerkt, in seinen eigenen Vorhaben bestärkte und die ihm half, bestimmte Aspekte seiner künstlerischen Programmatik intensiver zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne ist wohl die von Walter Rubin überlieferte Aussage Arps zu verstehen: „Der Surrealismus förderte mich, aber er hat mich nicht verändert.“96 Das damit ausgesprochene (Wechsel-)Verhältnis hat in den übrigen Kommentaren Arps jeweils punktuelle Erläuterung und Vertiefung erfahren. Dies gilt schon für die früheste erhaltene Stellungnahme, die im Jahre 1927 aus einer Anfrage der Zeitschrift „L’art contemporain“ resultierte. Arp begründete hier sein Zusammengehen mit den Surrealisten mit dem Hinweis auf zwei Elemente ihrer Kunstauffassung, die sie substanziell mit seiner eigenen, „dadaistischen“ Position verbinden würden, nämlich die Kritik an der konventionellen Kunstpraxis des 19. Jahrhunderts sowie die Aufhebung der etablierten Grenze zwischen Kunst und Leben: „Ich habe mit den Surrealisten ausgestellt, weil ihre Revolte

96 Vgl. Rubin (1968/1979), S. 113.

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 91

gegenüber der ‚Kunst‘ und ihre direkte Einstellung zum Leben weise wie Dada war.“ Aber auch die Kommentare, die der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstammen, gehen in die gleiche Richtung. So betonte Arp im Zusammenhang einer Reflexion der Genese eigener literarisch-künstlerischer Verfahren, die in seine ersten poetischen Werke Eingang gefunden haben, an einer Stelle die eigene, unabhängige Vorreiterrolle gegenüber dem Surrealismus, die den Fall der sogenannten „Automatischen Dichtung“, die ja häufig als das Herzstück surrealistischer Tätigkeit aufgefasst wird, betrifft: „Viele Gedichte aus der ‚Wolkenpumpe‘ sind automatischen Gedichten verwandt. Sie sind wie die surrealistischen, automatischen Gedichte unmittelbar niedergeschrieben, ohne Überlegung und Überarbeitung“97, bzw. mit Betonung des kollektiven Charakters dieser Produktionsweise: „Tzara, Serner und ich haben im Café de la Terrasse in Zürich einen Gedichtzyklus geschrieben: ‚Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und vom Spazierstock‘. Diese Art Dichtung wurde später von den Surrealisten ‚Automatische Dichtung‘ getauft.“98 Umgekehrt ist aber auch Arps Bemerkungen zu entnehmen, dass er sehr wohl darum wusste, wie viel er dem Surrealismus verdankte. In diesem Zusammenhang ist es – auch für den Fortgang dieser Studie – interessant zu bemerken, dass er auf die Bedeutung des Surrealismus gerade in den Fällen zu sprechen kommt, in denen es um die hier infrage stehende Technik des Surrealismus, nämlich die Einbeziehung von traumanalogen Darstellungsweisen und den damit gekoppelten symbolischen Qualitäten, geht sowie um die damit verbundene Frage der Intermedialität. Denn gerade hier akzentuiert Arp die ursprünglichen Gemeinsamkeiten, die sich auch als ‚Anregungen‘ durch den Surrealismus zu erkennen geben. In diesen Bereich fällt zum einen die Äußerung, dass der Surrealismus für die Entwicklung des „poetischen, assoziativen Anteils“ in seinem Werk förderlich gewesen sei99, sowie eine Bemerkung, die sich auf die Objektkunst Duchamps, Man Rays, Massons, Mirós und Ernsts bezieht: „Einige surrealistische ,objets‘ sind auch konkrete Kunst. Da auch sie vom beschreibenden Inhalt befreit sind, scheinen sie mir für die Entwicklung der konkreten Kunst sehr wichtig zu sein. Durch traumhafte Anspielungen führen sie in diese Kunst psychischen Inhalt und Leben ein.“100 Zugleich betont Arp in einem weiteren Kommentar, dass unter der Ägide des Surrealismus eine viel größerer Verbindung seiner literarischen mit seiner bildkünstlerischen Produktion bestanden habe, als

97

Hans Arp: Wegweiser (1953), in: ders./Taeuber-Arp (1960), S. 78-82, hier S. 79.

98

2 Hans Arp: Dadaland (1955), in: ders. (1955/ 1995), S. 51-61, hier S. 54.

99

Vgl. Rubin (1968/1979), S. 113.

100 Hans Arp: Konkrete Kunst (1955), in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 80f.

92 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

dies jemals zur Zeit Dadas der Fall gewesen sei. In diesem Zusammenhang spricht er sogar von seiner „surrealistischen Periode“, zwar ohne dies näherhin zu spezifizieren, aber dabei so etwas wie eine intermediale Liaison seiner Schaffensweise in den Bereichen von Literatur und bildender Kunst anzudeuten: „In der Dada-Periode war der größte Teil meiner Dichtung weit entfernt von den Fragen, denen ich in meinen plastischen Arbeiten nachging. Es war meine surrealistische Periode, in der meine Schriften und plastische Handschrift sich am nächsten kamen.“101 Es bleibt mithin festzuhalten, dass sich Arp – im Sinne eines ineinander geschachtelten Wechselverhältnisses – offensichtlich als Teil der literarisch-künstlerischen Bewegung des Surrealismus gesehen hat, wie auch umgekehrt er der Auffassung war, dass der Surrealismus einen wohl gewichtigen Teilbereich seines eigenen Kunst- und Literaturprojekts darstelle. Und zugleich ist zu konstatieren, dass zumindest im ersten Fall ihm auch die Surrealisten selbst bei dieser (Selbst-)Einschätzung beigepflichtet haben (während sie bei der zweiten den Anteil von Dada und Abstraktion wohl eher ‚übersahen‘). Die damit gegebene Allianz zwischen ihm und dem Surrealismus stellte sich mithin für Arp als eine Schnittmenge von erheblichem Umfang dar (mengentheoretisch gesprochen), wobei er zugleich davon ausging, mehr‘ zu sein als bloß ‚Surrealist‘. Das damit etablierte Wechselverhältnis wird nirgendwo deutlicher als in einem bestimmten – symbolisch funktionierenden – Baustein diskursiver Selbstrepräsentation beider Fraktionen, dem analogisierenden Vergleich mit der geschichtlichen Figur des Amerika-Entdeckers Christoph Kolumbus. Mehr als ein Disput um die richtige Auslegung der mehr oder minder fachsprachlichen Termini „Dada“ und „Surrealismus“ war aufgrund seiner symbolischen Qualitäten geeignet, einen Konsens auch dort herzustellen, wo es auch (partiellen) Dissens gegeben haben mag. Die beide Seiten vereinigende Überzeugungskraft dieser historischen Analogie resultierte aus dem Umstand, dass sich in ihr mehrere Sinnbedeutungen der symbolischen Selbstdarstellung prägnant bündeln ließen. Zum einen hinsichtlich der Sinnbedeutung der „Entdeckung“ selbst: Denn das Gewahrwerden eines neuen, physikalischen Kontinents, das sich mit Kolumbus Fahrt ereignet und bekanntlich weitreichend globale politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Veränderungen zur Folge hatte, konnte leicht mit dem Ausfindigmachen eines neuen geistigen Kontinents parallelisiert werden, wie es die verschiedenen Avantgardebewegungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts je für sich reklamierten. Zum anderen in Bezug auf den Modus der „Entdeckung“: Denn die Avantgar-

101

Vgl. Jean Arp: Réponses à des questions posées par George K.L. Morris (1956), in: ders. (1966), S. 443-446, hier S. 446 (dt. Übersetzung T.L.).

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 93

disten zeigten sich insgesamt überzeugt von der Mischung aus wagemutigem Abenteuertum, wissenschaftlich-kritischer Fundierung und der Bedeutung des glücklichen Zufalls und glücklich „Zu-Fälligen“ im Rahmen des eigenen Unternehmens, die sie aber auch schon bei Kolumbus angelegt sehen konnten. So sah der Surrealismus seine Anstrengungen als ein revolutionäres Wagnis an, das durch die gleichsam kopernikanische Wende der Psychoanalyse Freuds wissenschaftlich gestützt sei und zugleich auf das Moment des glücklichen Zufalls vertraue, der auch Kolumbus hinter dem Rücken seiner Wünsche und Erwartungen seine große Entdeckung machen ließ: Amerika wurde schließlich entdeckt, ohne gewusst und direkt gesucht worden zu sein. Und schließlich war es das durch eine Anekdote aus dem Leben des Kolumbus berühmt gewordene Symbol des ‚Eis‘, wodurch sich Arp, der bildenden Künstler des „bewegten Ovals“, zusätzlich in seiner Sympathie für den neuzeitlichen ‚Problemlöser‘ bestärkt fühlen konnte (was unter anderem seinen Kommentaren zu Picabia, Schwitters und Kiesler abzulesen ist). So war es wohl nur folgerichtig, dass der Vergleich mit Kolumbus schon früh im surrealistischen Schrifttum auftauchte und bis in die vierziger und fünfziger Jahre hinein an prominenter Stelle nachweisbar ist. Voran ging auch hier wiederum Breton, gefolgt und auf die Spitze getrieben durch Dalí. Schon in Bretons Worten finden sich die Sinnbedeutung des an „Verrücktheit“ grenzenden Wagnisses und der glücklichen Überraschung akzentuiert, die in der Entdeckung eines unerwartet Neuen und Bedeutenden liegen. Im „Ersten surrealistischen Manifest“ von 1924 heißt es: „Kolumbus mußte mit Verrückten ausfahren, um Amerika zu entdecken. Und seht nur, wie diese Verrücktheit Gestalt gewonnen hat.“102 Und im Einleitungsteil des Aufsatzes „Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus“ von 1943 ist zu lesen: ,,Wie Kolumbus glaubte, er sei auf dem Wege nach Indien, als er die Antillen entdeckte, so sah sich im zwanzigsten Jahrhundert der Maler einer neuen Welt gegenüber, noch bevor er die Möglichkeit überdachte, der alten zu entrinnen.“103 In Zusammenhang mit dieser Analogie verwies Breton auch auf eine besondere ‚Methode‘ des Kolumbus, die auch für den Surrealismus Geltung besitze: „Um zu dem Kontinent einer neuen Welt zu gelangen, bediente sich Kolumbus der Regel des ‚absoluten Unterschiedes‘; er hielt sich fern von allen bekannten Routen und ließ sich auf die Fahrt auf dem jungfräulichen Ozean ein, ohne von den Ängsten seines Jahrhunderts Notiz zu nehmen; halten wir es ebenso, verfahren wir mit dem absoluten

102 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 12. 103 Breton: Genesis und künstlerische Perspektiven des Surrealismus (1943), in: Metken (1976), S. 403-415, hier S. 403.

94 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Unterschied. Nichts ist leichter. Es genügt, einen mit dem unsrigen kontrastierenden Mechanismus zu versuchen.“104 Dalí wiederum hat die unter den Surrealisten virulente Analogie ins Pathetische gesteigert und für persönliche Zwecke instrumentalisiert. In seinem Manifest über die „Unabhängigkeit der Phantasie“, das 1939 mit den Übersiedlungsplänen Dalís in die USA entstand, vergleicht er die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus mit der „Eroberung“ New Yorks und der USA durch ihn als „surrealistischen“ Künstler der „ParanoiaKinesis“: ES GIBT NOCH UNDURCHDRINGLICHERE GEHEIMNISSE À LA DALÍ, SCHWER VON DUNKLER, WEITREICHENDER

BEDEUTUNG, DOCH EINS IST SICHER: EIN KATALANE, CHRISTOPH

KOLUMBUS, ENTDECKTE AMERIKA, UND EIN ANDERER KATALANE, SALVADOR DALÍ, HAT SOEBEN DER

CHRISTOPH KOLUMBUS WIEDERENTDECKT. NEW YORK! DU, DEM STENGEL

LUFT SELBST ÄHNLICH, HALB GEKAPPTE HIMMELSBLUME! DU, VERRÜCKT WIE DER

MOND, NEW YORK! SIEH, DIE SURREALISTISCHE ‚PARANOIA-KINESIS‘ HAT DICH EROBERT, DU HAST ALLEN GRUND, STOLZ ZU SEIN, ICH GEHE UND ICH KOMME, ICH LIEB DICH VOM GANZEN HERZEN.

105

Und noch für die späteren Jahre zeigt sich dieses Motiv so tief in Dalí verankert, dass es zum Sujet eines seiner bekanntesten Gemälde aus den fünfziger Jahren gemacht wird („Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus [Der Traum des Christoph Kolumbus]“, 1958/59). Auf ihm wird die Beschreibung der Entdeckung des amerikanischen Kontinents durch den an Land gehenden Kolumbus durch eindeutige Anspielungen auf den Surrealismus symbolisch überlagert, indem sich die Inbesitznahme des Landes im Gefolge eines als Priester verkleideten Dalí selbst und unter den Fahnen Galas, der wohl bekanntesten Muse des Surrealismus, vollzieht. Der neuentdeckte Kontinent wird dabei durch ein eiförmiges Gebilde symbolisiert, das im Sinne des Künstlers auch andere, zukünftige Entdeckungen repräsentiert. Arp schloss sich in seinen Schriften dieser Redefigur der Surrealisten im Grunde an, unterzog sie aber zugleich einer markanten Modifikation. So bildete sie die integrierende Formel, unter der sich verschiedene Tendenzen der Avantgarde unter ‚einen Hut‘ bringen ließen, und eben nicht nur, aber auch der Surrealismus. So heißt es in einer wohl bewusst ‚unscharfen‘ Formulierung über die

104 André Breton zitiert nach Pierre (1973/1974), S. 65. 105 Vgl. Dalí: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit (1939), in: ders. (1974), S. 288-291, hier S. 291 (Majuskelschreibung im Original).

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 95

„moderne“ Malerei, die auf deren Gemeinsamkeit im Gegensatz zu den vorangegangenen Kunstauffassungen des 19. Jahrhunderts abhebt: „Als mein Liebling Christoph Columbus ‚andersherum‘ nach Westindien segeln wollte, entdeckte er Amerika. Als wir ‚andersherum‘ malen wollten, entdeckten wir die moderne Malerei. Es scheint mir nun unbegreiflich, daß ich geraume Zeit brauchte, um zu erkennen, daß die Kunst unseres Jahrhunderts und die Malerei der vorhergehenden Jahrhunderte ganz verschiedene Dinge sind.“106 Für Arp besaß der Vergleich mit Kolumbus also nicht nur in Bezug auf den Surrealismus Geltung, sondern auch für die ihn ansonsten interessierenden Kunstbewegungen der Moderne. Daraus lässt sich erklären, dass auch der als Dadaist bekannt gewordene und auch dem Surrealismus phasenweise nahestehende Picabia für sein Frühwerk mit einer Kolumbus-Analogie gerühmt wird, ein Werk allerdings, das ihn als einen Vorläufer und Begründer der ‚abstrakten Kunst‘ ausweist (die Arp in seiner eigenen Terminologie mit dem Begriff „konkret“ bezeichnet): „Francis Picabia ist der Christoph Kolumbus der Kunst. Sein philosophischer Gleichmut, sein schöpferisches Spiel und seine handwerkliche Kaltblütigkeit sind von keinem anderen erreicht worden. Er steuert sein Schiff ohne Kompaß. Er hat die ‚konkreten Inseln‘ entdeckt.“107 Und gleichfalls ist nur so nachvollziehbar, dass es über den freundschaftlich und künstlerisch eng verbundenen Mit-Dadaisten Kurt Schwitters, der aber wohl kaum der surrealistischen Bewegung im Sinne Bretons zuzurechnen ist, heißt, dass dessen „Klebestoff“ („la colle“) genauso wichtig für die Entwicklung seiner „Merzkunst“ gewesen sei wie das Ei des Kolumbus für die Entdeckung Amerikas.108

106 Hans Arp: Betrachten (1958/1960), in: ders./Taeuber-Arp (1960), S. 84-104, hier S. 104. 107 Hans Arp: Francis Picabia (1949), in: ders. (1955/21995), S. 62-65, hier S. 62. 108 Vgl. Jean Arp: Kurt Schwitters (1949), in: ders. (1949), S. 24-27. Vgl. ansonsten zur Kolumbusfigur im hier gemeinten, symbolisch-übergreifenden Sinne auch Arps Gedicht „Les habitants du continent des chas sans aiguilles“ (1959), in: ders. (1966), S. 501.

96 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 24: Friedrich Kiesler: „Model for the Endless House“ (1947)

Dem Surrealismus wurde schließlich die Ehre des Vergleichs in Gestalt eines Hauptwerks Friedrich Kieslers zuteil. Der bildende Künstler und Architekt Kiesler, aus Österreich stammend und in der Zwischenkriegszeit in die USA übergesiedelt, hatte Anfang der vierziger Jahre die damals nach New York geflüchteten Surrealisten kennen gelernt und dort mit ihnen eine Zusammenarbeit aufgenommen. Nachdem er 1942 die Ausstellung „Art of the Century“, eine Vorstellung der Sammlung abstrakter und surrealistischer Kunst Peggy Guggenheims, geleitet hatte, war er wenige Jahre später führend an der Inszenierung der surrealistischen Exposition „Blood Flames“ beteiligt, sowie, noch im gleichen Jahr 1947, an der ersten Internationalen Surrealismus-Ausstellung der Nachkriegszeit in Paris (an der übrigens auch Arp selbst teilnahm). Seine Innenraumgestaltungen hatten sich selbstverständlich stark vom Surrealismus inspiriert gezeigt und waren zum Teil zusammen mit einigen ihrer wichtigsten Vertreter entstanden. Ebenso war sein wohl bekanntestes, allerdings nie realisiertes Projekt des „Model for the Endless House“ von der surrealistischen Gedanken- und Formenwelt stark inspiriert. Dies wird auch in Arps Kommentar, das die ovalförmige Anlage des Architekturbaus mit einer bekannten Anekdote aus dem Leben des Kolumbus parallelisiert (und darin wiederum in Entsprechung zum Schwitters-Kommentar) deutlich: „Während eines Menschenlebens hielt sich Kiesler in der Einsamkeit von New York verborgen und brütete. Er hatte, wie Kolumbus, den Kopf voller Eier, die er Tag und Nacht bebrütete. Ein Ei bebrütete er mit besonderer Hingabe, bis daraus das Ei der Eier entschlüpfte, das Ei, welches die groben Gebilde unserer

II.4 E RKENNUNGSZEICHEN „K OLUMBUS “ | 97

Architektur in den Schatten stellte.“109 Im Fortlauf des Kommentars rühmt Arp die ökologische Einbettung des Projekts in die Natur, einen Vorgang, den er sicherlich als ein Beispiel avantgardistischer Verschmelzung von Kunst und Leben angesehen hat, und spricht ihm zugleich eine höhere, spirituelle Inhalts- und Ausdrucksseite zu: „Dieses eiförmige Haus fügt sich vollendet in die Elemente. Es ruht auf der Erde, es treibt durch das Wasser, es lodert im Feuer, es schwebt in der Luft. Es ist geschaffen, um sich in die Kontinuität, in das Ewige, harmonisch zu fügen.“110 Wie man sieht, waren selbst Ende der vierziger Jahre, als Arp aus Anlass der ersten großen Surrealisten-Ausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Kommentar schrieb, die Impulse der Pariser Bewegung für ihn noch keineswegs ‚tot‘, ganz im Gegenteil bezeugen dieser wie auch die anderen Kommentare, die fast alle in der Zeit nach 1945 veröffentlicht worden sind, ein keineswegs bloß ‚rückblickendes‘ (und damit gewissermaßen ‚nostalgisches‘) Interesse am Surrealismus, sondern besitzen vielmehr den Charakter der Würdigung weiterhin bestehender surrealistischer Tendenzen in der Gegenwart der vierziger und fünfziger Jahre. Dabei ist nicht zuletzt an diesem Beispiel zu bemerken, wie die Reflexion über ein surrealistisches Gesamtkunstwerk (wie demjenigen Kieslers) auch Arps intermediale Assoziationen beflügelt. Denn es bildet wohl keinen Zufall, wenn er am Ende seines Kommentars einen Vergleich von Kieslers Projekt, das architektonische und innenraumgestalterische Aspekte vereinigt, mit einem Exemplum surrealistischer Dichtung zieht, nämlich Bretons Gedichtzyklus über Fourier aus dem Jahre 1947: Seit 1934 singen und duften Kieslers ‚endlose Häuser‘ wie das blaue Nest des Tages. In ihnen hat die Seele des Menschen größeren Anteil als der Körper. Das Unmaterielle, das Heilige, wirkt in ihnen und spricht gewaltig wie in der „Ode à Charles Fourier“ von Breton.111

Schließlich galt es ja mit diesen Worten, so darf man annehmen, Kieslers Werk als ein Paradigma der von Breton intendierten intermedialen „Allianz“ zwischen Literatur und bildender Kunst zu würdigen.

109 Jean Arp: Das Ei Kieslers und seine Salle des Superstitions (1949), in: ders. (1949), S. 28-31, hier S. 28. 110 Ebd., S. 28. 111 Ebd., S. 31.

98 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

II.5 „P LACE B LANCHE “ UND DIE SURREALISTISCHE K ÜNSTLERFRAU – ARPS ( AUTO -) BIOGRAPHISCHE P ORTRAITGEDICHTE „Ich habe das Geheimnis gefunden Dich zu lieben Immer zum ersten Mal“ (ANDRÉ BRETON: DER WEISSHAARIGE REVOLVER)

Abbildung 25: Man Ray: „Nusch Éluard“ (1936)

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 99

Der surrealistische Gruppenbund

Abbildung 26: Man Ray: „Gruppenfoto der Pariser Surrealisten“ (ca. 1929/ 1932)

Die soeben vorgestellten Dokumente konnten schon für sich gesehen die weltanschauliche und literarisch-künstlerische Nähe Arps zur zeitgenössischen Medienund Kulturbewegung des Pariser Surrealismus eindrucksvoll belegen. Wie die nun folgenden Ausführungen zeigen wollen, beschränken sich diese Belege von Seiten Arps aber nicht nur, wie bislang besehen, auf seine kunstkritische Prosa, sondern zeigen sich auch in bestimmten Werken seiner deutsch- und französischsprachigen Dichtung. Nicht nur wegen des ansonsten beschränkten Umfangs der Selbstaussagen, sondern auch gerade aufgrund ihrer inhaltlichen und formalen Qualität bilden sie eine wichtige Erweiterung für das (Selbst-)Verständnis Arps. Unter dieser Perspektive lassen sich näherhin zwei Grundausrichtungen innerhalb dieser poetisch-selbstreflexiven Texte ausmachen: zum einen der autobiographische Gedichttypus, der Arps eigene Erfahrungen mit dem Surrealismus thematisiert, zum anderen der biographische Typus, der thematisch nicht seinem eigenen, sondern dem Leben und Wirken anderer Personen aus dem Surrealistenkreis gewidmet ist. Für den ersten Gedichttypus stehen im Folgenden Arps „das lied des roten“ (mit Bezug auf den Züricher Dadaismus) sowie vor allem „Place Blanche“ (mit Bezug auf den Pariser Surrealismus), für den zweiten Typus die Widmungsgedichte auf eine junge Unbekannte, auf Nusch Éluard sowie Dorothea Tanning. In den autobiographischen Gedichten „das lied des roten“ und „Place Blanche“, die beide in Arps surrealistischer Phase der dreißiger und vierziger Jahre entstanden und publiziert worden sind, mischen sich einzelne Erinnerungen mit Elementen ästhetischer Reflexion und intermedialen Bezügen. Im Unterschied zu „Place Blanche“, das sich auf Arps Pariser Zeit konzentriert, nimmt das „lied

100 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

des roten“ die Züricher Dada Zeit in den Blick. Es wurde zuerst im Jahre 1939 in der Sammlung „Muscheln und Schirme“ veröffentlicht, damals wohl noch ohne eben diesen Titel.112 Den Ort seiner Handlung gibt das berühmte „Café Odeon“ ab, das als Treffpunkt vieler Schriftsteller und Künstler diente, die sich angesichts der Weltkriegskatastrophe in die neutrale Schweiz abgesetzt hatten. In seinem Erinnerungsbuch „Unsern täglichen Traum“ (1955) berichtet Arp über diese Zeit: „Damals war Zürich von einer Armee von internationalen Revolutionären, Reformatoren, Dichtern, Malern, Neutönern, Philosophen, Politikern und Friedensaposteln besetzt. Sie trafen sich vorzüglich im Café Odeon. Dort war jeder Tisch exterritorialer Besitz einer Gruppe. Die Dadaisten hatten zwei Fenstertische inne“, sowie: „Regelmäßig trafen sich Anno Dada die Dadaisten nach dem Mittagessen im Café Odeon in Zürich. Obwohl das Mittagessen damals für die meisten unter uns in einer symbolischen Handlung bestand, wurden in einem Nu Berge von sagenhafter Bosheit und Dummheit durch unser gewaltiges Lachen zu Staub zermalmt.“113 Im Unterschied zum subversiven Ton des ‚Verlachens‘ aller Gegner, der in diesem Erinnerungssegment dominiert, wird das „lied des roten“ aber von einem teils melancholischen, teils emphatisch-utopischen Grundton bestimmt. Es beginnt und endet mit dem Symbol des ‚Sängers im feurigen Mantel‘, das wohl als eine Anspielung auf Hugo Balls Auftritte im „Cabaret Voltaire“ zu verstehen ist, bei denen sich Arps Freund und Mitbegründer des Züricher Dadaismus bekanntlich in einem ähnlich ausstaffierten Kostüm präsentierte. das lied des roten hoch oben hoch hoch oben singt der rote ein lied. rote feurige federn wachsen dem roten und die zeit vergeht. ich träume und schreib. nun fallen mir die maler und bildhauer ein die ich vor zwanzig jahren im café odeon sitzen sah. klumpig und düster sitzen sie da

112 Vgl. die Aufstellung in Bleikasten (1981), S. 28f. 113 Hans Arp: Dadaland (1955), in: ders. (1955/2 1995), S. 51-61, hier S. 59; vgl. auch ebd., S. 40f.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 101

dem unangenehmen prozeß der verinnerlichung hingegeben und ringen und knurren mit sich. schon verschwinden diese herrschaften wieder und rauchende eier liegen an ihren stellen. wenn ich nicht acht gebe entsteht nun ein gedicht. trinken und singen fällt mir ein. wir trinken und singen und die zeit vergeht. es singt und weht und wandert im licht. eines tages rascheln wir wie welke blätter fort zerfallen zu staub und werden wieder funken und sterne und singen und trinken und wandern selig in feurigen mänteln.114

Die poetische Gestaltung der Erinnerung folgt in diesem Text einem klar schematisierten Kompositionsprinzip. Den Anfang macht eine Reflexion über den speziellen Modus der Erinnerung („hoch oben [...] singt der rote ein lied/ [...] ich träume und schreib [...]“), die Mitte widmet sich einzelnen, auch kritischen Inhalten der Vergangenheit („nun fallen mir die maler und bildhauer ein [...]/ klumpig und düster sitzen sie da“), während das Ende in eine Art außer- bzw. überzeitliche Wunschvorstellung mündet. Für alle Partien ist die Verwendung poetischer Bilder und Symbole prägend, die collagenartig miteinander verbunden und in einem mehr oder minder deutlich surrealistischen Ton gehalten sind. Die autobiographisch ausgerichtete Thematik bezieht Anspielungen auf die eigene Person wie auf andere bekannte Künstlerpersönlichkeiten und deren Werke ein. Im Fortlauf des Textes wandelt sich mit dem inhaltlichen Wechsel des Fokus, der von der melancholischen Erinnerung zur Wunschvorstellung führt, auch die subjektive Applikation, die von einer anfänglich distanzierten Haltung in eine zunehmende identifikatorische Haltung mit der ausgebreiteten Bilder- und Gedankenwelt umschwenkt: „wir [...] singen und trinken/ und wandern selig in feurigen mänteln.“ Wie ein Blick auf das autobiographische Parallelgedicht „Place Blanche“ verrät, gilt das beschriebene Kompositionsprinzip im Grunde auch für diesen

114 Hans Arp: das lied des roten (1939), in: ders. (1963), S. 248.

102 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Text Arps, der sein lebensweltliches und weltanschauliches Verhältnis zur surrealistischen Bewegung zum Thema hat. Es liegt in zwei titelgleichen französischsprachigen Fassungen vor, und zwar in einer kürzeren Version, die wohl etwa Mitte der dreißiger Jahre verfasst und 1946 veröffentlicht wurde, und einer etwa doppelt so langen Fassung, die 1949 zur Publikation kam. Der Titel spielt auf den Pariser Platz an, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Wohnung Bretons befand (42, rue Fontaine) und dessen Cafés einen bekannten Treffpunkt der Surrealisten abgaben. Schon dieses geschichtliche Faktum legt es nahe, Arps Titel und Text als ein metonymisches Symbol seines Verhältnisses zur literarisch-künstlerischen Bewegung des Surrealismus zu verstehen. Marcel Jean schrieb als zeitgenössischer Zeuge und späterer Historiograph über Arp und die Place Blanche als einem wichtigen Versammlungsort des Pariser Surrealismus (1966): Als er (Arp, T.L.) sich im Jahre 1925 in Paris niederließ und dort auf die Surrealisten traf, fing er an Gedichte direkt auf Französisch zu schreiben [...]. Er bezog ein Atelier am Montmatre [...] und wohnte regelmäßig den surrealistischen Zusammenkünften bei, die in den Cafés an der Place Blanche stattfanden, wo ich auch später gegen 1932 seine Bekanntschaft machte. Bei diesen zeremoniellen Zusammenkünften zum Aperitif triefte es förmlich vor Talent und Arp war nicht der Einzige, der sich dessen bewußt war. Da waren auch noch Breton, Ernst, Éluard, Crevel, Char, Péret, Tanguy, Dalí, Tzara, Mirò... Als ich begann, an den Treffen teilzunehmen, zog sich Aragon bereits immer mehr zurück und vor ihm Vitrac, Prévert, Queneau, Masson, Artaud. An einigen von ihnen erinnere ich mich sicherlich nicht mehr. Duchamp erschien nur selten (Picabia dagegen nie). [...]. Diese Treffen mögen rückblickend für die Teilnehmer von unterschiedlicher Bedeutung und Wichtigkeit sein, jedoch mir bleibt die Place Blanche der Vorkriegszeit als ein Treffpunkt in Erinnerung, der mal von Vergnügtheit und mal von Langeweile geprägt war, eine „Schule der Poesie“, wenn man so möchte – so sehr sich diese Bezeichnungen auch auszuschließen scheinen – oftmals leidenschaftlich und widersprüchlich, ein Magnetfeld, auf das André Breton wie ein Magnet eine einzigartige Anziehungs- und Abstoßungskraft ausübte.115

115 Jean (1966), S. 7-26, hier S. 14.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 103

Abbildung 27: Marcel Jean: „Das Café Cyrano, in dem sich die Surrealisten um 1930 trafen“ (Aufnahme 1959)

Arps eigener Gedichttext über diesen ‚surrealistischen Ort par excellence‘ lautet im französischen Original: Place Blanche Cette matinée ne place sur mon chemin que des bibelots de la mort. Ce sont des objets futiles, des photographies fanées, des flacons vides, des coquilles ramassées à la mer, un miroir qui reflétait la sérénité, la pureté, la gaieté calme, la clarté que l’inéluctable ombre a englouti. Je suis envoûté par ces objets qui appartenaient à des personnes mortes depuis longtemps. Des gestes se détachent de ces objets comme des vapeurs mates, comme des couronnes d’haleine. Ils me traversent confusément. Les cloches sonnent des années dans chaque minute. Chaque minute produit une telle effusion de souvenirs qu’elle prend l’importance d’une année. Ces minutes ressemblent à des paniers sombres débordant de fruits noirs. Des années passent qui ont un éventail de fourmis sur la tête.

104 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Tout en maintenant sa forme il grouille en soi et s’agite en même temps intensément pour éventer une vie stérile, un désert gris. Une matière calleuse, rougeâtre pullule dans ces chimères, dans ces années et me donne la sensation du fourmillement humain sur la terre. Des années passent qui ont une gueule végétale et des nageoires de génie. Ces années sont des repaires verts. Elles abritent les fées pendant leur temps de mue. Dans ces années j’écrivais mes premiers poèmes, et mes nageoires de génie se manifestaient alors sans égard pour mon voisinage. Des années passent et chassent des petites années. Sans pitié elles les abattent et détruisent ainsi leur propre dissémination. Et un système de rigidité de plus est légué en supplément au monde. Indiquera-t-il le chemin vers l’ineffable rêve? Je fais partie d’un troupeau de poètes, de peintres, pleins de soumission, d’obéissance à leur pâtre. Comme des marionnettes ces poètes, ces peintres approuvent, inclinent leurs têtes, rient avec dédain de ce qui était blanc jusqu’à présent et qui vient d’être déclaré noir. Le pâtre s’illumine. Le pâtre s’illumine de plus en plus. Il perd sa forme humaine, mais j’entends sa voix parler de l’art. Elle parle étrangement de faits divers. La lumière de l’art parle du suicide piquant. Je sais que je rêve. Je ferme les yeux et me trouve sur la place blanche. L‘eau de la place est agitée. Des vagues énormes bondissent contre les maisons et arrachant les lèvres que les oiseaux ont disposées aux fenêtres. J’ouvre les yeux. Des crinières blanches s’envolent. Des rêveurs qui se tiennent par la main comme des aveugles traversent la place. Le vent caresse les plantes apprivoisées. Je ferme les yeux. Il fait nuit.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 105

Subitement dans la nuit je m’éveille. Les oiseaux chantent. Il fait jour. Des montagnes liquides flottent par l’air. J’ouvre les yeux et m’endors debout sur la place blanche. L’ombelle des étoiles se couvre de lèvres.116

Übertragen ins Deutsche (unter Berücksichtigung der Teilübersetzung Ludwig Harigs117): Place Blanche dieser morgen breitet auf meinen weg nur die nippsachen des todes aus es sind belanglose sachen verblichene photos leere glasfläschchen zusammengetragene muscheln aus dem meer ein spiegel in dem sich heiterkeit reinheit und stille freude widerspiegelte die helligkeit die vom unvermeidlichen schatten verschlungen wurde ich bin verhext von diesen dingen wie matte dünste wie kronen aus atem verworren durchdringen sie mich jede minute läuten die glocken jahre jede minute erzeugt eine solche flut an erinnerungen daß sie die größe eines ganzen jahres annimmt diese minuten gleichen dunklen körben die vor schwarzen früchten nur so überquellen die jahre gehen vorüber die einen ameisenfächer auf ihrem kopfe tragen der ganz die form bewahrend innerlich wimmelt und sich hin und her bewegt um dem fruchtlos grauen wüstenleben luft zu fächeln eine rötlich verhornte masse breitet sich in diesen trugbildern aus in diesen jahren und gibt mir das gefühl von einem menschlichen gewimmel auf erden die jahre gehen vorüber die ein pflanzenmaul und genieflossen haben

116 Jean Arp: Place Blanche (1946/1949), in: ders. (1966), S. 335-337. 117 Vgl. Jean/Hans Arp: Place Blanche (1946/1949), in: ders. (o.J.), S. 104f.

106 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

diese jahre sind grüne höhlen sie beherbergen die feen in der zeit ihrer mauserung in diesen jahren schrieb ich meine ersten gedichte und meine genieflossen machten sich bemerkbar ohne rücksicht auf meine nachbarschaft jahre gehen vorüber und verjagen die kleinen jahre ohne mitleid schlagen sie sie nieder und zerstören so ihre eigene ausbreitung und so wird der welt ein weiteres rigides system vererbt weist es den weg zum unaussprechlichen traum ich bin teil einer herde von dichtern und malern voller unterwürfigkeit und gehorsam ihrem hirten gegenüber wie marionetten sagen diese dichter und maler ja und neigen die köpfe lachen mit Herablassung über das was bis jetzt weiß war und zu schwarz erklärt wurde der hirte erleuchtet der hirte erleuchtet immer mehr er verliert seine menschliche form aber ich höre wie seine stimme über kunst spricht sie rede auf eine seltsame art und weise über verschiedenes das licht der kunst spricht vom reizvollen selbstmord ich weiß daß ich träume ich schließe die augen und finde mich auf der place blanche ein das wasser des platzes ist heftig bewegt unermeßliche Wellen prallen gegen die häuser und reißen die lippen aus die die vögel in den fenstern ausgelegt haben ich öffne die augen die weißen mähnen fliegen davon träumer die wie blinde an der hand sich halten überqueren den platz der wind liebkost die gezähmten pflanzen ich schließe die augen es ist nacht plötzlich erwache ich in der nacht die vögel singen es ist tag flüssige berge fließen durch die luft ich öffne die augen und schlafe aufrecht ein auf der place blanche die dolde der sterne bedeckt sich mit lippen

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 107

Abbildung 28: Salvador Dalí: „Ameisengesicht“ (1936)

Eine genauere Analyse des Gedichts offenbart, dass sich in diesem Text mehrere Aspekte des ambivalenten Verhältnisses Arps zum Surrealismus bündeln, die kritische Reflexion aber schließlich in eine poetische Apologie der surrealistischen Idee mündet, die jenseits aller individuellen und historischen Schwächen der Gruppe das Geheimnis gemeinsamer Stärke betont. Und dies – formal-diskursiv betrachtet – in einer poetischen Art und Weise, die selbst wiederum mit bestimmten Elementen der Bild- und Symbolsprache surreal-veristischer Spielart arbeitet. Am Anfang des Texts fasst Arp die Tätigkeit des Erinnerns in das Bild eines Wegs, dessen Rand von einer Reihe symbolischer Gegenstände gesäumt ist. Es handelt sich zunächst um Bilder des Verschwindens, der Leere und des Nichts: „verblasste photographien“, „leere flakons“, „billige schmuckstückchen des todes“. Die erinnerte Zeit wird als ein Konglomerat symbolisiert: „diese minuten sind wie dunkle obstschalen, die mit schwarzen früchten überquellen“, „jahre gehen vorüber die einen ameisenhaufen auf dem kopf tragen“, wobei dieser Haufen an das „wimmeln der menschheit“ gemahne. Das Bild der Ameisen ist als Anspielung auf ein bekanntes Symbol des Surrealismus zu verstehen, man denke an die diesbezügliche Obsession Dalís, die in dem Film „Ein andalusischer Hund“ oder dem Bild „Ameisengesicht“ ihren Ausdruck gefunden hat, oder

108 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

auch daran, dass Dalí Breton als einen „Ameisenbär“ symbolisiert hat (1929/ 1931 bzw. 1936).118 Im weiteren Textverlauf wird die Erinnerung merklich ambivalenter. Neben das Sprachbild des „spiegels“, in der jede „heitere gelassenheit“ von einer „unerklärlichen dunkelheit verschluckt“ werde, tritt die Faszination an das Erinnerte: „jede minute erzeugt solch einen überschwang an erinnerungen,/ dass sie die größe eines jahres erhalten“, „ich bin magisch verzaubert von diesen objekten“, sowie: „diese jahre [...] beherbergen die feen in der zeit ihrer mauserung“. Der Mittelteil des Gedichts lässt sich als eine Explikation für Arps Zwiespalt lesen, soweit die vorangegangenen Bilder und Symbole als auf die Zeit von Arps surrealistischer Periode bezogen verstanden werden können. Denn in diesen Zeilen kritisiert Arp – wiederum in symbolischer Form – zum einen den Führungsstil Bretons im Hinblick auf die ihn umgebene surrealistische Gruppe. Dies geschieht mit dem Metaphernkomplex des „hirten“ und der ihm gehorsamen „herde“, wobei für Letztere auch das Bild der mit den Köpfen willig nickenden „marionetten“ steht. Arp deutet mit diesen Formulierungen auf die bekannte und oftmals kritisierte Herrscherattitüde Bretons hin, die ja auch zu einer Reihe von Konflikten und Spaltungen innerhalb der Gruppe geführt hat (erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass Breton z.B. von Miró als „Papst“ und von Duchamp als „Dominator“ tituliert wurde). Doch wie aus anderen Zeilen des Gedichts deutlich wird, wertet Arp seine Verbindung mit den Surrealisten zum anderen als eine Phase künstlerischer Inspiration und gemeinschaftlicher Begeisterung. Denn, so Arp, es war die Zeit, in der er seine ersten, französischsprachigen Gedichte geschrieben habe, eben die Zeit seiner „pioniersflossen“ bzw. „geniestreiche“. Und das Inspiriertwerden für den poetischen Ausdruck gehe, so lässt sich dem weiteren Textzusammenhang erschließen, auf die Gruppe und den in ihr herrschenden Geist zurück. Als Symbol der energetischen Macht und Dynamik, mit der die Botschaft des Surrealismus im Kreis um Breton gewirkt habe, wählt Arp die Metapher des „lichts der kunst“, also des erleuchteten Künstlers und Theoretikers, und gibt ihr in seinem Worten eine bildlich-symbolische Form, die mit derjenigen stark korrespondiert, die Magritte etwa zeitgleich in seinem Gemälde „Das Prinzip der Lust“ (1936/1937) gefunden hat: der hirte leuchtet auf. der hirte leuchtet heller und heller auf. er verliert seine menschliche gestalt, aber ich kann seine stimme über kunst sprechen hören.

118 Vgl. Descharnes/Néret (Hg., 1993/1), S. 158 u. 255.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 109

er spricht geheimnisvoll über verschiedenes. das licht der kunst spricht vom schönen selbstmord.

Abbildung 29: René Magritte: „Das Prinzip der Lust“ (1936/1937)

Die Rede vom „schönen selbstmord“, die von Arp als „geheimnisvoll“ charakterisiert wird, ist in diesem Zusammenhang wohl durchaus nicht negativ gemeint. Schließlich waren es Breton und Aragon, Miró, Dalí und andere Surrealisten gewesen, die eben diese Formel gewählt hatten, um der avantgardistischen Überzeugung vom Ende der alten „Kunst“ und einer zu erneuernden Einheit von Kunst und Leben Ausdruck zu verschaffen.119 Diese Deutung würde auch erklärlich machen, wie die daran anfügende Passage des Gedichts in eine völlig positiv zu verstehende, visionäre Utopie der Place Blanche mündet, die in Form und Inhalt ein Bekenntnis zur surrealistischen Gedanken- und Vorstellungswelt bildet. Dazu wird eine Situation des urbanen Pariser Platzes imaginiert, die zwischen Wachen und Träumen, zwischen Wirklichkeit und Überwirklichkeit – und damit gewissermaßen auch zwischen Kunst und Leben – hin und her pendelt: „ich

119 Vgl. z.B. Dalí: Neue Grenzen der Malerei (1928), in: ders. (1974), S. 37-51, insbes. S. 50.

110 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

schließe die augen und finde mich auf der place blanche ein [...]/ ich öffne die augen [...]/ träumer die wie blinde an der hand sich halten/ überqueren den platz [...]/ ich schließe die augen/ es ist nacht/ plötzlich erwache ich in der nacht/ die vögel singen/ es ist tag [...]/ ich öffne die augen und schlafe aufrecht ein auf der place blanche [...].“ In diesem Rahmen werden surreal-veristische Bilder des Traums, der Revolution und der Liebe ausgebreitet, konkret gefasst in sprachliche Metaphern der Flut und des In-die-Höhe-Schwebens, die – intermedial besehen – zugleich an bekannte Worte und Bilder der zeitgenössischen Surrealistengruppe erinnern. Prominenterweise haben nämlich solche (Sprach-)Bilder der Flut und der Unterwasserwelt schon die Texte Aragons sowie die Visionen Ernsts, Tanguys und anderer geprägt: Aragon hatte in seinem bekannten Epos eines surrealen Paris ein Stadtviertel imaginär unter Wasser gesetzt („In ein blaßgrünes, gewissermaßen submarines Licht getaucht [...]. Das ganze Meer in der Passage de l’Opéra.“120), Max Ernst war in seinen Collage-Romanen und insbesondere Tanguy in seinen gesamten Gemälde-Werk der dreißiger und vierziger Jahre ebenso verfahren. Bei Arp heißt es nun analog: „das wasser des platzes ist heftig bewegt/ unermeßliche wellen prallen gegen die häuser/ und reißen die lippen aus/ die die vögel in den fenstern ausgelegt haben.“ Dieser Symbolik von Flut und Unterwasserwelt stellte sich das Motiv der ,Evelation‘ als surrealismustypisch an die Seite (man denke an bestimmte Bilder von Ernst und Magritte). Arp verleiht Bretons Gedichten, die unter dem Titel „Der weißhaarige Revolver“ erschienen sind, Flügel, indem er in seinem Gedicht davonfliegende „weiße mähnen“ imaginiert, zugleich verbindet sich im Bild der „flüssigen berge“, die durch die Luft fliegen, die alte Revolutionsmetapher des Vulkans mit eben dieser typisch surrealistischen Idee des In-die-Höhe-Schwebens. Sind mit diesen Symbolen die Bereiche des surrealistischen Traums und der Revolution symbolisch in Szene gesetzt, so konzentriert sich der Schluss des Gedichts auf das surrealistisch ebenso wichtige Thema der Liebe, und zwar indem es mit der Vorstellung einer mit „lippen“ bedeckten „dolde von sternen“ endet. In dieser Evokation vermengen sich bildlich gesehen Arps teils abstrakte, teils figürliche Lippen-Bilder aus den zwanziger Jahren mit Man Rays bekanntem Gemälde „Sternwartenzeit – Die Liebenden“ (1932-1934), das sich von ähnlichen Konstellationen geprägt zeigt. Man Ray hat das Gemälde, das auf der Surrealistenausstellung von 1936 einen großen Erfolg erzielte, folgendermaßen kommentiert: „Die roten Lippen schwebten in einem blaugrauen Himmel über einer dämmrigen Landschaft mit einer Sternwarte und ihren zwei Kuppeln, die sich wie Brüste vor dem Horizont abzeichneten – eine Impression von meinen tägli-

120 Aragon (1926/1996), S. 27.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 111

chen Spaziergängen durch die Jardins de Luxembourg. Die Lippen erinnerten ohne Frage, durch ihre Größe, an zwei dicht miteinander verbundene Körper. Ziemlich freudianisch.“121 In Arps Fassung sind es nun nicht nur zwei Liebende, sondern die Idee des Surrealismus selbst findet sich gleichsam in den Himmel gehoben. Damit endet der Text mit einem Credo an den Geist des Surrealismus, der sich darin artikuliert, die Macht von Poesie und Imagination über die niederen Banalitäten alltäglicher Realität obsiegen zu lassen. Formal gesehen nutzt Arp zur Darstellung dieser Idee die Ausdrucksmöglichkeiten des veristischen Surrealismus, denen er hier allerdings, lebensgeschichtlich motiviert, nicht einen naturhaften ‚Platz‘ in der Wüste oder auf fernen Planeten, wie in anderen seiner entsprechenden Gedichte, sondern in der urbanen Großstadt Paris als der zeitgenössischen Kunst- und Kulturhauptstadt Europas anweist.

Abbildung 30: Man Ray: „Sternwartenzeit – Die Liebenden“ (1932-1934)

121 Vgl. Ray (1989), S. 262. (Vgl. zum Lippenmotiv auch Man Rays „L’Orateur“ (1935), in: ebd., S. 264).

112 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die surrealistische Künstler-Frau als Muse, Model und Malerin

Abbildung 31: Hans Arp: „Die drei Grazien“ (1961)

Neben den autobiographischen Gedichten, die Arps Nähe zum Surrealismus in Gestalt seiner Wirkungsstätte, prominenter Freunde und ihrer Ideen und Werke feiert, finden sich weitere Zeugnisse der Verehrung in den Gedichten, die wohl dem Lieblingsobjekt surrealistischer Begierde gewidmet sind: der Frau. Bei Arp wie auch den Surrealisten ist aber die Frau nicht einfach Frau, sondern es geht um die Frau als „surrealistische Künstler-Frau“, worunter ein Dreifaches zu verstehen ist: erstens die Frau als inspirierende ,Muse‘, zweitens als thematisches ,Model‘ (,Mannequin‘), drittens als selbst künstlerisch produktive Künstlerin, prototypisch als ,Malerin‘. In den realen Frauen der Surrealisten konnte eine dieser drei Eigenschaften überwiegen, im Idealfall war es aber die spannungsreiche Verbindung aller drei Elemente, die für die entsprechende Faszinationskraft auf Seiten des surrealistischen Mannes sorgte. Dass in Arps Werk Spuren dieses Bilds der surrealistischen Künstler-Frau aufzufinden sind, die damit zugleich seine Nähe zur Surrealismusbewegung im Ganzen belegen, liegt an einigen wenigen biographischen Portrait-Gedichten, die er seit den dreißiger Jahren in deutscher und französischer Sprache verfasst hat. Hier finden sich die drei Eigenschaften der surrealen Künstler-Frau in je hervorstechender Dominanz verteilt

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 113

wieder: Die – dem Leser unerkannt bleibende – junge Freundin oder vielleicht auch Geliebte Arps als ,Muse‘, Nusch Éluard, die Ehefrau seines Freundes Paul Éluard als surrealistisches Foto-,Model‘, und schließlich Dorothea Tanning, die Ehefrau Max Ernsts, als surrealistische ,Malerin‘. Als „Muse“, die eine generell vitalisierende und künstlerisch inspirierende Wirkung auf den Künstler ausübt, kann sicherlich die „Reh“-Frau bezeichnet werden, die in Arps Gedicht „Halb Reh halb Mädchen“122 den „alten morschen Baum“ zu einem erneuernden „Grünen“ und „Blühen“ bringt. Als ‚surreal‘ ist sie insofern zu bezeichnen, als sie leitmotivisch als „nacktes träumendes Geschöpf“ charakterisiert wird. Dass es sich bei der Ungenannten wohl nicht um Arps Ehefrau Sophie handelt, liegt auf der Hand. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass das „Reh-Mädchen“ eine symbolische Chiffre für jene junge Frau und Geliebte Arps ist, von der zuweilen in der Arp-Literatur die Rede ist. Dazu würde passen, dass der von Arp angegebene Entstehungszeitraum (1939-1945) zeitlich an das für die dreißiger Jahre vermutete Verhältnis anschließen würde. Intermedial liegt die Analogiebildung mit bestimmten Skulpturen Arps der dreißiger Jahre nahe, die mit ihrem Material ein „Grünen“ und „Blühen“ in Szene setzen. So kann beispielsweise der Titel der Skulptur „Knospenkranz“ (1936) zum einen als Anspielung auf das (Wieder-)Erwachen von Liebe, Sexualität und dichterischer Inspiration beim Mann, zum anderen als – gerade auch sexuelles – „Erwachen“ der Frau gelesen werden. Ähnliches gilt für eine Plastik wie der „Torse des Pyrénées“: Halb Reh halb Mädchen Ein nacktes träumendes Geschöpf halb Reh halb Mädchen läßt sich unter einem alten morschen Baume in meinem träumenden Garten nieder. Das nackte träumende Geschöpf halb Reh halb Mädchen vertraut dem alten morschen Baume an daß die Augen nie erlöschen daß die Sterne nie verglühen daß die Erde der Himmel sei. Und der alte morsche Baum beginnt zu grünen und zu blühen.

122 Hans Arp: Halb Reh halb Mädchen (1939/1945), in: ders. (1974), S. 41.

114 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 32: Hans Arp: „Torse des Pyrénées“ (1959)

Als „Muse“ und vielmehr noch „Model“ des Surrealismus kann man hingegen zu Recht Nusch Éluard, die Frau von Arps Dichterfreund Paul Éluard, bezeichnen. Éluard hatte Nusch, die eigentlich Maria Benz hieß und wie Arp aus dem Elsass stammte, als eine typisch ‚surreal-zufällige‘ Straßenbekanntschaft Anfang der dreißiger Jahre in Paris kennen und lieben gelernt. In den Jahren ihres Zusammenseins bildete sie die ihn inspirierende Muse, war als solche aber auch häufig Thema seines poetischen Schreibens wie auch Motiv auf Zeichnungen, Gemälden und Fotographien ihrer beider Surrealistenfreunde, namentlich auf Werken Picassos, Man Rays, Dora Maars und anderer. Sichtbaren Ausdruck dieser intermedialen Präsentation Nuschs bildete beispielswiese der Band „Facile“ von 1935, der Gedichte Éluards auf Nusch mit Fotographien Man Rays, die eine mehr oder weniger nackte Nusch offenbarten, verband. In etwa die gleiche Zeit Mitte der dreißiger Jahre fallen auch die Fotographien Agers, Maars und anderer, die Nusch alleine oder in Begleitung anderer Surrealisten in ihren Domizilen, am Strand oder in der Natur zeigen, sowie die kubistisch-surrealen Zeichnungen und Gemälde Picassos. Arps französischsprachiges Gedicht auf Nusch, das sich wie ihr Ehemann Éluard rein poetischer Mittel bedient, ist wahrscheinlich aus Anlass

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 115

des plötzlichen Todes von Nusch im Jahre 1946 entstanden, veröffentlicht wurde es aber erst 1960. Inhaltlich können Arps Worte als Hinweis auf Nuschs Jugendzeit als fahrende Akrobatin, aber auch als Anspielung auf die Stranderlebnisse mit Éluard und den anderen Surrealisten verstanden werden, wie sie in den Fotographien Agers, Maars und wiederum Man Rays festgehalten wurden und beispielsweise eine stehend rauchende Nusch im Bikini, umringt von Éluard, Picasso und Maar zeigen. Während so die erste Hälfte des Textes eine glückliche, die „Spiele“ der Surrealisten anleitende Nusch präsentiert, werden in der zweiten Hälfte ihre letzten Jahre, die zugleich die Jahre des Zweiten Weltkriegs sind, als eine „graue Zeit“ des Sprach- und Lebensverlusts charakterisiert. Erst die Schlussverse bringen eine abermalige, Glück verheißende Wende: Im Meeressymbol der Titel gebenden „Weißen Woge“ („Une onde Blanche“123) wird der altersbedingte Wandel von Nuschs vormals dunkler Haarfarbe ins Weiße als Zeichen des Willens zum allumfassenden und gleichzeitig wohl erlösenden „weißen Tod“ gedeutet. Une onde blanche Sous les redents des falaises et sur l’hermine des plages papillonnaient tes gants de corolle ton chapeau de nuage ton ombre d’ailes blanches. Tu riais de tout de la tour des guenilles des clowns tristes et chétifs. Tu dirigeais la mode des jeux. Toujours quand le ciel tombait c’était toi qui avais les alouettes dans ta main. Mais le gris rongeait les ports de tes rêves. Les miroirs de tes yeux de tes lèvres de tes paroles devenaient vides et perdaient leurs échos. Tes mots tombaient dans le gris qui ne laisse aucune trace. Gris dans le gris ta vie s’écoulait comme une source grise aux langues éteintes.

123 Jean Arp: Une onde blanche (1946/1960), in: ders. (1966), S. 526.

116 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Mais la dernière fois que je te vis tu fus une onde blanche décidée à retourner pour toujours dans le blanc.

Abbildung 33: Roland Penrose: „Nusch Éluard, schwimmend“ (1937) In deutscher Übersetzung124: Eine weiße Woge Unter den Zacken der Klippen Und über dem Hermelin der Strände Flatterten deine Handschuhe aus Blumenkronen Dein Hut aus Wolken

124 Deutsche Übersetzung A.L.; zum Vergleich sei an dieser Stelle auch an Arps Gedicht „Wir alle säumen“ aus dem Band „Die ungewisse Welt“ (1939/1945) erinnert, das in unmittelbarer Nähe zu dem soeben zitierten „Halb Reh halb Mädchen“ platziert ist, an eine ungenannte „Du“ apostrophiert ist und im Wortlaut und Sinn frappierende Übereinstimmungen mit „Une onde blanche“ aufweist: „Als ich dich zum letzten Mal sah/ warst du eine weiße Wolke/ entschlossen für immer in das Weiße zurückzukehren [...]“; vgl. Hans Arp (1974), S. 40. – Erinnert sei zudem daran, dass Éluard wenige Jahre zuvor ein Gedicht aus Anlass des Todes von Sophie verfasst hat: Éluard: Le mur à Sophie Taeuber-Arp (1943), in: Arp/Taeuber-Arp (1960), S. 29.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 117

Dein Schatten aus weißen Flügeln. Du lachtest über alles vom Turm der Lumpen Der traurigen und armseligen Clowns. Du leitetest den Brauch der Spiele. Immer wenn der Himmel fiel Warst du es, die die Lerchen auf deiner Hand hatte. Aber das Grau nagte an den Häfen deiner Träume. Die Spiegel deiner Augen Deiner Lippen Deiner Worte Wurden leer und verloren ihren Widerhall. Deine Worte fielen in das Grau, Das keine Spur hinterließ. Grau in grau floß dein Leben dahin Wie eine graue Quelle aus erloschenen Sprachen. Aber das letzte Mal, als ich dich sah, Warst du eine weiße Woge Entschlossen für immer zurückzukehren In das Weiße.

Abbildung 34: Eileen Agar: „Nusch und Paul Éluard, Dora Maar und Pablo Picasso in Juan le Pins“ (1937)

118 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Als dritte im Bunde surrealer Frauen Arps kann schließlich Dorothea Tanning, die Frau Max Ernsts und selbst malende Künstlerin, bezeichnet werden. Als Malerin gehörte sie zu den wenigen Künstlerinnen, die dem Surrealismus zugerechnet werden können. Arps Gedicht „Jeux des épis d’or“125 („Spiele goldener Ähren“), zuerst veröffentlicht 1960, deutet darin Tannings surrealistische Kunst als avantgardistische Kunst im emphatischen Sinne, die durch Naturnähe, Unvernunft und das Gesetz des Zufalls im Arpschen Sinne gekennzeichnet sei. Indem Arp das Symbol der Pflanze auf Tanning appliziert – „Sie ist eine Pflanze geworden, die malt“ – spielt er nicht nur auf ein rekurrentes Motiv ihres Werks an, sondern wohl insbesondere auf die Selbstmythisierung als pflanzenhaftes Naturwesen in ihren Selbstportraits „Beyond the Esplanade“ (1940) und „Birthday“ von 1942. Jeux des épis d’or L’Art de Dorothea Tanning est l’art de l’irrésonnable l’art du hasard, Dorothea participe aux jeux des épis d’or. Orange de l’oracle. Orchidée orale. Orbe coupe d’orateur. Orchestration d’ordalie. Orgasme d’oréade. Orgue d’orgie, Dorothea peint ainsi des fruits d’amour. Elle était trop longtemps humaine et corps. Elle est devenue une plante qui peint, La pensée digère le corps. Plus le corps est beau plus la pensée est vivante. La pensée est un fruit sur la branche de l’infini. La peur de l’infini est une allergie raisonnable. La femme est – Dieu en soit loué – beaucoup trop irraisonnable pour incorporer les bêtises de la Raison. La femme pense dans une autre catégorie.

125 Jean Arp: Jeux des épis d’or (1960) , in: ders . (1966), S. 507.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 119

Abbildung 35: Dorothea Tanning: „Beyond the Esplanade“ (1940)

120 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

In deutscher Übersetzung126: Spiele goldener Ähren Die Kunst von Dorothea Tanning Ist die Kunst der Unvernunft Die Kunst des Zufalls, Dorothea nimmt teil an den Spielen goldener Ähren. Orange des Orakels. Orale Orchidee. Planetenbahn unterbricht den Redner. Instrumentierung des Gottesurteils. Oreades Orgasmus. Orgelsturm der Orgien, Dorothea malt so Früchte der Liebe. Sie war viel zu lange Mensch und Körper. Sie ist eine Pflanze geworden, die malt, der Gedanke verdaut den Körper. Je schöner der Körper desto lebendiger ist der Gedanke. Der Gedanke ist eine Frucht am Ast der Unendlichkeit. Die Angst vor der Unendlichkeit ist eine vernünftige Allergie. Die Frau ist – Gott sei dafür gelobt – viel zu unvernünftig, Um die Unsinnigkeiten der Vernunft einzuverleiben. Die Frau denkt in einer anderen Kategorie.

126 Deutsche Übersetzung A.L.

II.5 „PLACE B LANCHE “

UND DIE SURREALISTISCHE

K ÜNSTLERFRAU | 121

Abbildung 36: Dorothea Tanning: „Birthday“ (1942)

122 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Als Zwischenfazit bleibt festzuhalten, dass sich Arps Nähe zum Surrealismus auch in bestimmten autobiographischen und biographischen Gedichten zeigt. Während es in „Place Blanche“ insbesondere die männlichen Künstlerfreunde und ihre Ideen und Werke sind, die eine erinnernde Ehrung erfahren, sind es in „Halb Reh halb Mädchen“, „Une onde blanche“ und „Jeux des epis d’or“ die junge Unbekannte sowie die surrealistischen Künstler-Frauen Nusch Éluard und Dorothea Tanning, die als Muse, Model und Malerin eine emphatische Huldigung erleben. Dazu werden ihr Leben und Handeln als elementare Ereignisse der „Natur“, als Tier, Pflanze und Meer symbolisiert. Die damit einhergehende Beobachtung, dass die Gedichte auch Arps Verfahrensweise verraten, in widerspiegelnder Korrespondenz mit der surrealistischen Bildkunst seiner Freunde und Zeitgenossen zu operieren, wird auch für die weitere, nun folgende Untersuchung seiner Dichtung richtungsweisend sein.

Abbildung 37: Dorothea Tanning: „Voltage“ (1942)

III. Salon und Schreckenskabinett – Alltag, Krieg und Machtpolitik im Zeichen der Moderne „In diesem Moment betrat die Feindin der Gesellschaft das Gebäude No. 1 Boulevard des Capucines. [...]. Sie war verschwiegen wie das Verbrechen, und ihr schwarzes, engfaltiges Kleid schillerte abwechselnd mit dem Wind oder wurde matt. [...]. In jedem Fall ist es gut, solchen Frauen nachzugehen [...].“ (ANDRÉ BRETON: LÖSLICHER FISCH, 1924)

Abbildung 38: René Magritte: „Das fertige Bouquet“ (1957)

124 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Es gehört bekanntlich zum Grundkonsens der literatur- und kunstgeschichtlichen Forschung, das kulturhistorische Phänomen der Avantgardebewegungen als einen Akt der Transgression bestimmter, zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts geltender Grenzmarkierungen zu verstehen. Ausgangspunkt und zentrales Feld der Grenzüberschreitungen bildeten Inhalte und Formen innerhalb der sozialen Diskurssysteme Literatur und Kunst, das Ziel ihrer Botschaften bildete aber das, was emphatisch „das Leben“ genannt wurde und die verschiedenen, spezialisierten Arbeits- und Wissensbereiche moderner Gesellschaften meinte: Alltag, Beruf und Freizeit, Wirtschaft, Technik und Wissenschaft, nicht zuletzt der Bereich der Politik als der systemisch privilegierte Ort sozialer Entscheidungsmacht. Innerhalb der vielstimmigen Avantgardebewegung rüttelten die sich zuletzt entwickelnden Paradigmen Dada und Surrealismus mit besonderer Vehemenz an den eingeschlagenen Grenzpflöcken, wodurch sie eine für die gesamte Bewegung spezifische Exemplarität und Wirkungskraft entfalteten. Der Schrei nach radikaler Veränderung, nach Revolution und Freiheit artikulierte sich in Situationen und Momenten des gesellschaftlichen Friedens- wie auch Kriegszustands der Moderne, der entscheidende Impulsgeber bildete aber für beide der Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs. Das Kampfprogramm beider Bewegungen erklärte die Befreiung von den Fesseln, Zwängen und Bedrohungen, die dem Menschen der Moderne in mannigfaltiger und alle Lebensbereiche ergreifender Weise auferlegt worden waren, zum Ziel aller Aktivitäten. Ihr Vorgehen verstand sich als ein Generalangriff auf die westlich-moderne Rationalität und herrschende Zivilisation, die konkreten Angriffsziele bildeten das als banal empfundene Alltags- und Berufsleben, zentrale gesellschaftliche Institutionen wie Familie, Religion und Staat, schließlich die technische Moderne und ihre wirkungsmächtigen Folgen: Industrie, Großstädte, Kapitalismus. Pointiert gesagt gab also das Konglomerat der zeitgenössisch neu entstandenen Massengesellschaft mitsamt ihren massenbewegenden, massenverbindenden und schließlich massenvernichtenden Verkehrs-, Kommunikations- und Kriegstechnologien den Anstoß von Denken und Tun ab. Mit der radikalen Vehemenz des Angriffs verfolgten aber Dada und Surrealismus nicht nur das Ziel, auf die schmerzhaften Wunden, die mit Angst, Leid und Tod in der Moderne aufgebrochen sind, den Finger zu legen und durch ein Mehr an Freiheit, Toleranz und Flexibilität für eine Linderung gegenüber den spezifischen Unsicherheits- und Bedrohungspotenzialen der Moderne zu sorgen (was wohl eine, wie man im historischen Rückblick sagen kann, im gesamten 20. Jahrhundert langfristig wirkende und die westlichen Gesellschaften zunehmend prägende Kraft, gewesen ist, zu deren Erfolg die Avantgardebewegungen insgesamt ihren kleinen, aber kulturhistorisch sicherlich nicht unwichtigen Beitrag geleistet haben). Stattdessen galten Dada

III. S ALON UND S CHRECKENSKABINETT | 125

und Surrealismus als eine radikal über die herrschenden Normen und Normalitäten hinausschießende, in diesem Sinne ,trans‘-normative und ,trans‘-normale „Revolution“ als Fluchtpunkt all ihres Tuns, und zwar von ihren Anfängen bis zu ihrem jeweiligen historischen Ende. „Der Dadaist ließ den Bürger Wirrwarr und fernes, jedoch gewaltiges Beben verspüren, so daß seine Glocken zu summen begannen, seine Kassenschränke die Stirne runzelten und seine Ehren fleckig anliefen.“1 Als Bewegungen, die Leben und Kunst zu vereinigen suchten, haben Dada und Surrealismus auf entsprechende persönliche Einstellung, Lebensführung und sozialpolitisches Engagement jedes einzelnen Mitglieds großen Wert gelegt, wenngleich die gesamte Zeit über der Bereich von Literatur und Kunst das prominenteste Betätigungsfeld blieb. In den Werken von Breton, Éluard und Péret (als Vertreter für den Bereich der Literatur), und von Ernst, Magritte, Dalí und vielen anderen (für die Bildende Kunst) sind entsprechend Spuren einer kritischen Auseinandersetzung mit Normen und Normalitäten der zeitgenössischen Umwelt zu finden. Die Gewänder, in denen die Kritik an der Moderne vorgetragen wurden, waren dabei bewusst mannigfaltig, gingen aber alle in eine vergleichbare Richtung: man denke an die surrealen Verfremdungen des modernen Alltagslebens bei Ernst und Magritte schließlich an die Kritik von Macht und Massenvernichtung in den AntiKriegsbildern von Masson, Dalí und Picasso. In den Aphorismen, Erinnerungen und Gedichten Arps fließen schließlich diese beiden diskursiv-praktischen Ströme, die programmatisch-theoretische Modernekritik und visuelle Macht der surrealistischen Kunst, wieder im Medium der Literatur und Poesie zusammen. Ein typisches Beispiel hierfür bildet Arps Applikation des berühmten Laokoon-Motivs, das in ihrer verfremdenden Verwendung als Symbol der Befreiung von den einengenden Kunstprinzipien der (Vor-)Moderne, aber auch anderer, eingeschränkter Lebens- und Wissensbereiche (z.B. Politik, Wirtschaft, Sexualität) gelesen werden kann: „Der Dadaismus hat die schönen Künste überfallen. Er hat die Kunst für einen magischen Stuhlgang erklärt, die Venus von Milo klistiert und ‚Laokoon & Söhnen‘ nach tausendjährigem Ringkampf mit der Klapperschlange ermöglicht, endlich auszutreten.“2 Genauso wie viele andere Avantgardekünstler und die Dadaisten und Surrealisten im Besonderen fand sich auch Arp von der Überzeugung getragen, das als noch unvollendet betrachtete Projekt der Moderne nicht bloß bis zu seiner endgültigen Vervollkommnung voranzutreiben (wie es ein gleichsam wortwörtliches Verständnis des Avantgardebegriffs als ‚Vorkämpfer‘ bzw. ‚Stoßtrupp der

1

Hans Arp: Dadaland (1955), in: ders. (1955/21995), S. 51-61, hier S. 61.

2

Hans Arp: Dada-Sprüche (1955), in: ders. (1955/21995), S. 48-50, hier S. 49f.

126 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Moderne‘ suggeriert), sondern es in einen gänzlich ‚anderen Zustand‘ zu überführen, den Arp als die Welt des „Wahren“ und „Wesentlichen“ bezeichnete. Mit dieser Einstellung teilte Arp wohl insgesamt viele, wenn nicht nahezu alle Kritikpunkte seiner dadaistischen und surrealistischen Mitstreiter an der Moderne, setzte aber, wie ebenfalls jeder von ihnen, seine eigenen, individuellen Schwerpunkte. Dazu gehörte, dass er sich als Ausdrucks- und Darstellungsfeld seiner Kritik weitgehend auf das Gebiet der Literatur und Kunst beschränkte (und ansonsten, was seine persönliche Praxis hinsichtlich der systematischen Versuche mit Sex, Drogen, psychischen Delirien u.a.m. anbelangte, einen wohl weniger experimentellen Lebensstil bevorzugte). Wie die folgenden Einzelanalysen belegen werden, standen bei Arp Phänomene der Natur-Vergessenheit, ja Natur-„Feindschaft“ im Zentrum der Kritik. Gemeint war damit die technisch und finanzwirtschaftlich geprägte Moderne mitsamt ihren schädigenden Auswirkungen auf den Einzelnen, begrifflich wurde er als ein Zustand antihumaner „Normalität“, als die Situation der „Normalorganisation“ moderner Gesellschaften, gefasst, auch terminologisch darin analog zu Breton und den anderen Surrealisten.3 In den Augen Arps führte diese „Normalorganisation“ schon im Alltagsleben zu einem Zustand permanenter Unerträglichkeit, der dem ersehnten poetischen Leben je individueller und phantasievoller Seinsfülle, in Freiheit, Sicherheit und Glück diametral entgegenstehe. Der Grund hierfür wurde darin gesehen, dass das verhasste Leben in der Realität sich durch sozial hergestellte Mechanismen und Prozeduren von Massengesellschaften geprägt zeigte, in der sich jeder Einzelne als gleich, anonym und austauschbar mit anderen vorkommen musste und alle Lebensvollzüge als oberflächlichbanal und rein eindimensional („starr“, „versteinert“ und „leer“) wirkten. Verglichen mit dem Ideal echter surrealistischer Lebens- und Subjektgenese, die sich auf dem Weg nach der generativen Tiefen-Energie des Menschen mittels Traumarbeit (dem „Unbewussten“ im Sinne der Surrealisten) und dem Vertrauen auf die glückliche Fügung des emphatisch verstandenen „Zufalls“ sah, mussten die herrschenden gesellschaftlichen Auswahl- und Ordnungsprinzipien als das Geschehen einer rein negativen, da völlig belanglos-banalen und gleich-gültigen Zufälligkeit erscheinen. Dem „glücklichen Zufall“ dagegen, den Arp und andere Avantgardisten als ein besonderes, seins-erfüllendes Ereignis ansahen, in dem sich der Zufall im alltäglichen Sinne mit einem Impuls höherer Notwendigkeit

3

Zur Theorie und Geschichte des intermedialen Diskurses, einschließlich des Bereichs der institutionalisierten (Kunst-)Literatur, über „Normalität“ und „normale Subjektivität“ im Rahmen der Moderne vgl. grundlegend Link (1997/32006); ders. (2002); mit Blick auf den Surrealismus insbesondere auch ders. (2010).

III. S ALON UND S CHRECKENSKABINETT | 127

vermählt, wurde durch diese Mächte der herrschenden Realität nur wenig Raum zur Entfaltung gegeben. In diesem Sinne verurteilte Arp auch die herrschenden Formen der Kunst und den herrschenden Umgang mit ihr: Als ich meine ersten konkreten Reliefs ausstellte, erklärte ich die Kunst des Bürgers für sanktionierten Irrsinn. Besonders diese nackten Männer, Frauen und Kinder aus Stein oder Bronze, die auf Plätzen, Gärten und an Waldrändern aufgestellt sind und die unermüdlich tanzen, nach Faltern jagen, Pfeile abschießen, Äpfel anbieten, Flöte blasen, sind der vollkommene Ausdruck einer unsinnigen Welt. Diese irrsinnigen Gebilde dürfen nicht mehr die Natur verunreinigen.4

bzw.: Es gibt kein unbarmherzigeres Geschöpf als den vernagelten Bürger. Für seinen ausgestopften Schiller ist er bereit, jederzeit ein Blutbad zu veranstalten.5

Den Gipfelpunkt der antihumanen Technik- und Menschheitsentwicklung in der Moderne bildete für Arp aber der Krieg, wie er in den zeitgenössisch weit entwickelten Kriegstechniken des Ersten und Zweiten Weltkriegs grausame Realität geworden ist und anschließend in Gestalt atomarer Massenvernichtungsmittel zur Schrecken erzeugenden Möglichkeit einer globalen Menscheitsapokalypse aufgestiegen ist. Damit ist im Zivilleben wie erst recht im Kriegszustand die vermeintliche Vernünftigkeit der Welt, wie sie die Moderne als ihr Telos für sich reklamiert, längst in blanke schwarze Irrationalität, in eine sich grauenvoll steigernde Spirale von Delirium, Zerstörung und Tod, umgeschlagen: Der Mensch ist dem Wahnsinn des Verstandes erlegen. Dieser wissenschaftlich gebildete Tollhäusler versucht mit seinem Afterhaupt das Weltall zu beherrschen. Seine Unmenschlichkeit hat ihn in ein schmutziges Labyrinth geführt, aus dem er keinen Ausweg mehr findet. Die Maschinen und das Geld sind seine Götzen, die er inbrünstig anbetet. Seine Freude am Fortschritt kennt keine Grenzen. Er mißt – rechnet – wiegt – schießt – sprengt – mordet – fliegt – brennt – lügt – prahlt – bombt – und erhebt sich solchermaßen über das Tier. Durch seinen höllischen Verstand übertrifft er an Teufelei alle Lebewesen.6

4

Hans Arp: Konkrete Kunst (1955), in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 81.

5

Hans Arp: Dada war kein Rüpelspiel (1955), in: ders. (1955/21995), S. 20-47, hier S.

6

Jean Arp: Reine Eilande (1949), in: ders. (1949), S. 18.

42.

128 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Dagegen offenbart sich für Arp die gesuchte Tiefe und Fülle des Seins, das „wahre“ und „wirkliche Leben“ der echten „Natur“, in den Akten und Manifestationen von Literatur und Kunst. In ihnen findet sich das Sein in sich selbst versunken, gleichsam im Außerhalb aller bekannten Formen von Raum und Zeit, in Stille, Geborgenheit, Glück, die zugleich Zustände sprudelnder Vitalität und Produktivität bilden. Damit verstehen sich Literatur und Kunst als eigentlich nicht mehr soziale Manifestationen, sondern als Akte prä-diskursiver Qualität, als Ereignisse einer prä-diskursiven „Natur“, wenngleich sie – so paradox es erscheint – doch wieder sprachlich-diskursiv geformt auftreten. Um darin nicht einen einfachen logischen Widerspruch erkennen zu wollen, der das ganze Tun und Treiben Arps auf einen Schlag zunichtemachen würde, muss man dahinter die Energie verstehen, die im Namen der Irrationalität eine die Erweiterung der herrschenden Rationalität um Formen, die von dieser rigiden Warte aus als irrational verschmäht werden, kämpft. Arps in diesem Sinne interessierenden Texte, d.h. die entsprechenden Passagen in seinen Aphorismen, Erinnerungen und Gedichten, zeigen dabei viele Parallelen mit den schon angesprochenen Formen der zeitgenössischen Modernekritik seiner Surrealistenfreunde. Bewusst oder nicht-bewusst, finden sich mit dem gleichen Thema der Modernekritik auffällig viele Überschneidungen mit Motiven, Symbolen und Mythen der surrealistischen Wort- und Bildkunst, namentlich mit Worten Bretons und Bildern Ernsts, Magrittes und Dalís. Explizit – und eben nicht nur implizitintertextuell bzw. intermedial – kommt diese Analogie nur selten zur Sprache, wird aber beispielsweise aus seinem Kommentar zur Surrealismus-Ausstellung von 1948 unübersehbar deutlich. In diesem Text, in dem er Friedrich Kieslers Gesamtanlage des Ausstellungsraums in ihrer Verbindung mit bestimmten Objekten Ernsts und Mirós innerhalb der „Salle des Superstitions“ bespricht, deutet er verschiedene Werke der Anlage als Symbole der „Angst“ vor der (Ir-)Rationalität der technisch, wirtschaftlich und politisch-militärisch bestimmten Zeit der Moderne: Der Mensch hat sich der Natur verfeindet. Voller Angst flieht nun der Mensch vor der Natur. Aus Angst erfand der Mensch den Irrsinn. Aus Angst hat der Mensch seine Städte, seine Vaterländer und seine übrigen Teufeleien erschaffen. Kiesler will den Menschen von seiner Angst, von seinem Krampf heilen und ihn wieder licht und leicht in die Natur einfügen. Er will die Seele des Menschen vor der Versteinerung retten. In der Ausstellung der Surrealisten, im Jahre 1947, in der „Salle des Superstitions“ zeigt Kiesler die wuchernde Angst. Aus dem bodenlosen See der Angst, in dem die bösen, glitzernden Lieblinge von Max Ernst sich gierig hin und her winden und ihre erbarmungslosen Zähne blecken, aus dem bodenlosen See der Angst, in dem dunkelgrünes Ungewisses

III. S ALON UND S CHRECKENSKABINETT | 129

emsig laicht und sich ins Uferlose zu vermehren droht, wuchert kreidebleich die Verwirrung, der Wahn, der Aberglaube. Behaartes Licht fällt den Zuschauer an. Es hustet eisern. Versteinerte Tage klappern auf ihren Kleiderbügeln. Auf Fleischgeleisen gleitet Todesnahrung. Eine Inschrift von Miro, die wahrscheinlich über eine Corrida berichtet, in der die mise-à-mort eines Sternes stattfindet, treibt in der Milchstraße die Seele. Im Schwarzverhangenen reckt sich eine Riesenfaust aus Schnee gegen böse Einflüsse empor. Ein Aschenskelett, das sich dünn und dürr am See aufrichtet, hat seinen Schädel verschluckt. Das Denkmal der Symbole ist ein Kreuz und Galgen, ein Jubel und Jammer von Wahrzeichen. Das tragischste der Wahrzeichen entwickelte sich aus dem kleinen Werkzeug, dem Feuerbohrer, mit dem der pelzverbrämte Bewohner der Höhle das Feuer anzündete. Aus dieser Entdeckung schoß wild die grauenhafte Eitelkeit der Menschen auf. Verblödet tanzt er nun mit seinen Bomben und Maschinen den Tanz der Todesangst.7

Abbildung 39: Friedrich Kiesler: „Salle des Superstitions“ (1947/1948)

7

Jean Arp: Das Ei Kieslers und seine Salle des Superstitions (1949), in: ders. (1949), S. 28-31, hier S. 28-30; vgl. auch die Abb. ebd., S. 29.

130 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die weiteren Einzelanalysen von Arps Texten, die nun folgen, verdeutlichen die angesprochene Modernekritik hinsichtlich bestimmter Einzelaspekte. In diesem Rahmen werden drei Themenkomplexe im Vordergrund stehen, die Arps Verwandtschaft zum surrealistischen Denken und künstlerischem Tun in besonderer Weise zum Ausdruck bringen: Erstens Arps Modernekritik als Kritik an der alltäglichen wie auch technisch-ökonomisch-sozialen Normalität („Die Schar Sopolter Roll“, „Ein glühender Stummel“), als Kritik subjektiven Leidens und Überwältigtwerdens („Puppen“) sowie als Formulierung von revolutionierenden Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und transnormalistischem Exodus („Erbarmen“, „Willkommen, Willkommen“); zweitens Arps Ekel vor dem Krieg, beispielhaft vorgeführt in der Auseinandersetzung mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg („eitel war sein scheitel“, „jetzt wißt ihr warum“; „Der große Sadist mit allen Schikanen“); drittens die mit der zweiten Nachkriegszeit einsetzende Warnung Arps vor der Entstehung einer neuen Supermacht („Amerika“) und der heraufziehenden Atomkriegsgefahr („Könige vor der Sintflut“). Alle diese (und weitere, lyrische wie nicht-lyrische Texte) atmen, wie zu sehen sein wird, nachweislich surrealistischen „Geist“. Intermedial sind sie daher mit einer ganzen Reihe prominenter surrealistischer Bildwerke von Ernst, Magritte, Dalí und vielen anderen vergleichbar. Entsprechend wird die nun anschließende Analyse einzelne Themen- und Motivkomplexe in Arps literarischem Werk in ihrer jewieligen Verbindung mit themen- und motivverwandten Beispielen der surrealistischen Bildkunst behandeln.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 131

III.1 D IE „N ORMALORGANISATION “ DES BÜRGERLICHEN L EBENS – ARPS L EIDEN AN N ORMEN UND N ORMALITÄTEN DER HERRSCHENDEN S OZIALORDNUNG „Für uns gab es nur noch eine Möglichkeit: eine unwahrscheinlich radikale, schonungslos durchgreifende, keinen Lebensbereich auslassende Revolution.“ (ANDRÉ BRETON: WAS IST SURREALISMUS?)

Abbildung 40: Hans Arp: „Kopf mit gesträubtem Schnurrbart“ (1926)

132 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Arp vereinte mit den Surrealisten die radikale Skepsis und Ablehnung der ganzen Palette von Normen und Werten, die seine soziale Umwelt zeitgenössisch bestimmten, und zu denen als prominenteste Familie, Religion und Staat gehörten. Darüber hinaus gelang es ihm, wie den Surrealisten auch, einen kritischen Blick für das zu entwickeln, was sich im 18. und 19. Jahrhundert an bahnbrechenden technischen, urbanen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften entwickelt hatte und auch spezifische Prägungen auf Alltag, Subjektbildung und Kultur ausübte. In Bretons Worten fand sich die entsprechende Diagnose und Problemstellung, die er anhand der proto-surrealistischen Literatur Franz Kafkas entwickelte, folgendermaßen formuliert: Das Gewebe des Durchschnittsmenschen von heute, des Passanten auf der Straße, der gleich dem Platzregen dahineilt, in einem Licht, das über die Farbtöne der Stoffe in einem Schneideralbum hinaus keine weiteren Nuancen kennt: es wird von Kafkas Frage, der Hauptfrage aller Zeiten, wie vom Sturm gepeitscht: Wohin gehen wir, wem sind wir unterstellt, was ist das Gesetz? Der Mensch zappelt in einem Spiel von Kräften, dessen Sinn zu entdecken er zumeist aufgegeben hat, und sein völliger Mangel an Neugier scheint für seine Anpassung an das Leben der Gesellschaft geradezu die Bedingung zu sein.8

Der Surrealistenführer wirft hiermit, stellvertretend für die Surrealisten insgesamt, die Frage nach den Regeln und Prinzipien auf, die das moderne Alltagsleben des Einzelnen und der Gesellschaft beherrschen. Als das „Gesetz“, das „Spiel von Kräften“, in denen der „Mensch“ von heute, „der Passant“ als „Durchschnittsmensch“ „zappelt“ und seine „Anpassung an das Leben der Gesellschaft“ betreibt, hatte der Surrealismus schon früh die „Normalität“ des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Alltagslebens entdeckt.9 So verurteilte Breton schon im „Ersten Surrealistischen Manifest“ (1924) den gesellschaftlichen „Normalzustand“10 („état normal“) seiner Zeit als einen Zustand schlicht unpoetischen, banalen Lebens, – und noch in seinem Buch „Arkanum 17“ von 1944 heißt es entsprechend über das Leben in der Normalität: Bei den meisten Menschen ist dieses Leben – ihnen mehr oder minder unbewußt – beschränkt und eingeengt durch die Notwendigkeit einer Arbeit, die sie sich nicht ausgesucht haben, durch die Mißhelligkeiten des Familienzwangs oder durch die Sorgen um einen häuslichen Herd ohne großes Feuer des Herzens, die sie daran hindern, frei über sich

8

Breton: Kafka, in: ders. (1940/2001), S. 416.

9

Ebd.

10 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 16.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 133

selbst zu verfügen, aber weit häufiger noch durch die Langeweile, daß sie heute wieder fast genau dieselben Dinge tun müssen, die sie erst gestern getan haben.11

Im Gegenzug verkündete der Surrealismus, dass jeder echten Poesie und Kunst die Aufgabe zukomme, dieses Leben in der Normalität, der „Mittelmäßigkeit“12 im mehrfachen Sinne, einem anderen, eben surrealen Zustand hin zu öffnen. Max Ernst hatte entsprechend in seinem Statement „Was ist Surrealismus?“ postuliert, dass im Innern eines jeden „,normalen‘ Menschen“ eine solche Anlage zur surrealen Poesie und Kunst in Gestalt eines „unerschöpflichen Vorrats an vergrabenen Bildern“ schlummere, die es mittels geeigneter Einstellung und Verfahren zu ‚wecken‘ gelte.13 Magritte warnte aber davor, dieses Terrain dem „mittelmäßigen Maler“ und seinem Komplement, dem „Mann von der Straße“ und damit dem „Durchschnittsbetrachter“, zu überlassen.14 Beider Auffassung fußte dabei auf Bretons Überzeugung, dass die wahre Kunst und Poesie als „ein Abweichen der logischen Funktion von ihren normalen Bahnen“ zu verstehen sei, wie dieser mit Blick auf die jene Grenzen der Normalität radikal überschreitende „paranoisch-kritische“ Methode Dalís betonte.15 Während also auf diese Weise der Begriff der Normalität eine ambivalente Doppeldeutigkeit zwischen Versprechen (als Voraussetzung surrealen Tuns) und Verdammnis (als soziale Realität) gewann, so war es doch letztendlich die letztere, pejorative Bedeutung, die im Sprachgebrauch der Surrealisten überwog. So auch bei Arp, wenn er etwa in seinem Essayband „Unseren täglichen Traum“ postulierte, dass „der normalorganisierte Bürger über weniger Phantasie als der Wurm verfügt und an Stelle des Herzens ein überlebensgroßes Hühnerauge sitzen hat, welches ihn nur bei Wettersturz, das heißt bei Börsensturz, zwickt.“16 Diese „Normalorganisation“ des sozialen Lebens im Ganzen und seine Subjektivierung durch den Einzelnen sahen Arp und die Surrealisten durch eine ganze Reihe unheilbringender Faktoren geprägt. Und ähnlich wie Breton, der äußerte, das „seit mehr als einem Jahrhundert [...] die menschliche Würde zu einem rei-

11 Breton (1944/1993), S. 127. 12 Vgl. Breton: Introduction au discours sur le peu de réalité (September 1924), in: ders. (1924), S. 22; zitiert nach der dt. Übersetzung bei Spies (2008), S. 41. 13 Ernst: Was ist Surrealismus? (1934), in: ders. (1994), S. 50-58, hier S. 50f. 14 Magritte (1979/1981), S. 147f. und S. 220. 15 Breton: Salvador Dalí, in: ders. (1940/2001), S. 504-508, hier S. 505. 16 Hans Arp: Dadaland (1955), in: ders. (1955/21995), S. 51-61, hier S. 61.

134 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

nen Tauschwert herabgesetzt“ werde17, machen auch Arps Worte deutlich, dass es in erster Linie das moderne Finanz- und Wirtschaftsleben ist, das diese Normalorganisation bewirke, und zwar indem es alle Tätigkeiten unter das Diktat eines rasenden und sich immer noch beschleunigenden Zwangs zu Leistung, Konkurrenz und Geldvermehrung stelle. Bewertet wird dieses herrschende Gesetz, das den Einzelnen zu einem „winzigen knopf in einer riesigen sinnlosen maschine“ mache, als „verdammter schwindel“, und zwar im mehrfachen Sinn der Wortes: erstens als Ablenkung von der Wahrheit, dem Wirklichen und dem Wesentlichen des Lebens, zweitens als Betrug, der alle Opfer des Systems erniedrige und ausbeute, und schließlich drittens als Gefühl der Betäubung, des Wahnsinns und der Ohnmacht, die den Einzelnen systembedingt überkomme: der heutige vertreter des menschen ist nur ein winziger knopf an einer riesigen sinnlosen maschine, nichts mehr am menschen ist wesentlich. der bank-tresor ersetzt die mainacht. wie süß und klagend singt dort drüben die nachtigall während der mensch die börsenkurse studiert. welch betörender wohlgeruch entströmt dem flieder dort. kopf und vernunft des menschen sind beschränkt und beherrschen nichts weiter als eine gewisse art von gaunerei. des menschen ziel ist geld und jedes mittel geld zu verdienen ist ihm recht. die menschen hacken aufeinander ein wie kämpfende hähne ohne je in jenen bodenlosen abgrund zu blicken in den sie eines tages dahinschwinden werden mit ihrem verdammten schwindel. schneller zu rennen größere schritte zu machen höher zu springen härter zu schlagen dafür zahlt der mensch den höchsten preis.18

Ihren symbolischen Ausdruck findet diese Normalorganisation des Lebens in allen Arten von Maschinen und Apparaten des technischen Fortschritts, insbesondere in den technischen Vehikeln wie beispielsweise Auto, Eisenbahn, Dampfschiff und Flugzeug, in den modernen Übertragungsmedien Radio, Film und Fernsehen sowie nicht zuletzt in allen Gerätschaften und Werkzeugen moderner Kriegstechnik. Als symptomatisch für alle diese Erscheinungen der Moderne gilt Arp der „Lärm“, der von ihnen metonymisch ausgeht und sie unheilvoll verbindet: Bald wird von der Stille wie von einem Märchen erzählt werden. Der Mensch hat sich von der Stille abgewandt. Jeden Tag erfindet er Maschinen und Apparate, die den Lärm vermehren, und den Menschen vom wesentlichen Leben, von der Betrachtung, von der geis-

17 Vgl. Breton: La Révolution dabord et toujours, in: La Révolution surréaliste 5 (1925), S. 31; zitiert nach der dt. Übersetzung bei Spies (2008), S. 52. 18 Arp (1932/1983), S. 10f., hier S. 10.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 135

tigen Versenkung, ablenken. Auto, Flugzeug, Radio, Atombombe sind die letzten grossen Siege des Fortschrittes. Der Mensch hat nichts mehr Wesentliches zu tun, aber dieses Nichts will er schnell und mit übermenschlichem Lärm tun. Er will abgelenkt sein und ahnt nicht, dass der Roboter, der nun kutschiert, ihn ins Sinnlose fährt. Beim Tuten, Heulen, Schreien, Donnern, Krachen, Pfeifen, Knirschen, Trillern wird ihm zuversichtlich zu Mute. Seine Unruhe legt sich. Seine unmenschliche Leere entfaltet sich ungeheuerlich wie ein graues Gewächs.19

Diesem „Lärm“ der Moderne hält Arp zweierlei entgegen, zum einen die antimechanischen Apparaturen und Maschinen, wie sie seit allgemein typisch für Dada und Surrealismus sind20, zum anderen das, was er unter anderen die „heilige Stille“ nennt. Erstere realisieren sich bei Arp in Wortform (und eigentlich nicht in Bild- und Objektform wie die bekannten „Junggesellenmaschinen“ bei Duchamp, Picabia, Ernst u.a.m), in seinen Gedichten ist so beispielsweise von „aerodynamischen zylindern“, „befiederten Fahrstühlen“21 und „Riesenkrane(n)“ die Rede, die „lautlos [...] Lerchen in den Himmel winden.“22 Seinen frühen Gedichtband, der ganz dem automatischen Schreiben im Sinne des Surrealismus gewidmet war, betitelte er symptomatischerweise mit „Die Wolkenpumpe“ (1920), das nach seinen eigenen Worten ein Objekt darstellte, „welches Traumwolken aus dem bodenlosen Himmel, aus der bodenlosen Höhe, also aus sich selbst pumpt“23. Mit ihnen wollte Arp, einem für seinen eigenen Namen bezeichnendem Wortspiel folgend, paradigmatisch erreichen,

19 Hans Arp: Heilige Stille (1948), in: ders. (1948), S. 83. Vgl. auch das Diktum Arps: „Heute ist es Sinn des Lebens, Geschwätzwettbewerbe zu veranstalten, gigantische Krachmaschinen, Heulmaschinen, Geschwätzverstärkungsmaschinen Tag und Nacht in Betrieb zu halten“, in: ders. (1955/21995), S. 21. 20 Vgl. dazu Bischof (2001), S. 228ff. 21 Hans Arp: Weltwunder (1917), in: ders. (1963), S. 48-53, hier S. 53. 22 Hans Arp: die edelfrau pumpt feierlich wolken in säcke aus Leder und Stein (1920), in: ders. (1963), S. 23-43, hier S. 33. Vgl. auch Text und zusätzliche Kommentierung in ders.: Zeitgemäße Fabeln (1951), in: ders. (1974), S. 101-109, hier S. 102. 23 Hans Arp: Dada war kein Rüpelspiel (1955), in: ders. (1955/21995), S. 20-28, hier S. 27.

136 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

dass sich apparate ent arp pa raten24,

das heißt ihre pragmatische Funktionalität aufgeben und zu kunstanalogen Objekten zweckfreien Spiels werden. Mit Blick auf Picabia definierte er diese Bilder und Objekte als „antimechanische Maschinen“ und – für unseren Zusammenhang symptomatisch – auch als „zwecklose Maschinen des Unbewussten.“25 Die „heilige Stille“ hingegen bezeichnete einen anderen, von der herrschenden Realität noch weiter abgelösten Zustand, nicht nur, was die Frage der Geräuschentwicklung anbelangt, sondern was den Daseinszustand von Zeit und Raum prinzipiell betrifft. Die wahre und wesentliche Raum-Zeit im Sinne Arps, verstanden als emphatischer ‚Stillstand‘ von Zeit und Raum, hat die Moderne verlassen und vergessen (und findet, wie sich in Arps metapoetischen Gedichten zum ‚involutiven Chronotopos‘ zeigt, nunmehr symbolischen Ausdruck in den Werken von Literatur und Kunst): das kleine volkslied von zeit und raum hat der schwamm des gehirns weggewischt. hat es jemals ein größeres schwein gegeben als den menschen der den ausdruck zeit ist geld erfunden hat. zeit und raum existieren für den modernen menschen nicht mehr. mit einem benzinkanister unter dem hintern saust der mensch schneller und schneller rund um die erde so daß er demnächst noch zurück sein wird bevor er abgefahren ist.26

Wie dem Ausdruck des Börsen- bzw. Wetter-,Sturzes‘ abzulesen ist, erkannte der Surrealismus das kritisierte Leben in der Normalität nicht zuletzt als eine Form der Homogenisierung, Quantifizierung und numerischer Ordnung alles Menschlichen und Sozialen und deren Abbildung mithilfe von statistischen Rankingtabellen und Kurvenverläufen (vgl. Man Rays „Electricité“ von 1931). In diesem Sinne warnte auch Arp in seinen späten Reflexionen davor, den Menschen „standardisieren“ zu lassen und zu einer „hygienischen Nummer“27 zu machen. Schon in den zwanziger Jahren hatte er entsprechend das Normalsubjekt

24 Hans Arp: Entbinden (1965), in: ders. (1984), S. 242-246, hier S. 242. 25 Hans Arp: Francis Picabia (1949), in: ders. (1955/21995), S. 62-65, hier S. 63f. Vgl. auch Schmitz-Emans (1994), insbes. S. 302-310. 26 Arp (1932/1983), S. 10f., hier S. 10. 27 Hans Arp: Alte Freunde (1948), in: ders. (1948), S. 94.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 137

und seine Insignien wie „Schnurrbart“ und „Krawatte“ untergründig karikiert, ein Jahrzehnt später fügte in ähnlich satirischer Art Victor Brauners Gemälde „Der seltsame Fall der Herrn K.“ (1934) das stereotype Massensubjekt in seinen verschiedenen gesellschaftlichen Rollen vor Augen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Arps mehrdeutiges Gemälde „Kopf mit gesträubtem Schnurrbart“ (1926) auch als eine Parodie normalitätsangepasster Subjektivität im Banne der gaußschen Normalverteilung lesen, da der Kopf der abgebildeten (Normalbürger-) Figur zugleich der Form eines – relativ steilen und leicht rechtsgipfeligen – Gaußoids ähnelt, der ja als das wohl bekannteste Symbol statistischrepräsentativer Normalitätsauffassung gelten kann. Dieser verfremdenden Applikation geometrischer Formen des Normalismus war Anfang der zwanziger Jahre schon Max Ernst in seinen proto-surrealistischen Collagen vorangegangen, teils in Arbeitsgemeinschaft mit Arp, teils mit Paul Éluard. Dies geschah inhaltlich zum einen auf das zeitgenössische System der Kunst bezogen, so wenn sich Ernst selbst mithilfe einer Art Messlatte, die das Schema von Rankingtabellen konnotierte, mit dem berühmtem Michelangelo Buonarotti verglich („The Punching Ball/Buonarotti“, 1920). Andere Darstellungen nahmen sich zum anderen gleich frontal den Normalmenschen, den „Passanten“, wie es in einer Bildunterschrift heißt, vor. In den Collagen „Zwischen den Polen der Höflichkeit“ und „Der prädestinierte Blinde kehrt den Passanten den Rücken“ (1922)28 finden sich Mensch und Welt in eine Art symbolischen „Käfig“ eingezwängt wieder, der aus statistisch-normalisierenden Kurvendarstellungen (Gaußoid- bzw. Steigungskurve) als dem Inbegriff gesellschaftliche Normalität produzierender Verfahren und Darstellungsformen besteht. Sie und ihre Wirkungen, die Quantifizierung, Leistung und Dressur, sind es also, so scheinen die Collagen sagen zu wollen, die aus dem Menschen einen kartographisch transparenten „Adermann“ und „Alltags-Neurotiker“ machen, der unter dem Diktat des Aufs und Abs normalisierender Zahlen und Kurven sein trauriges Dasein fristet. Die kritische Stoßrichtung ist damit kaum mehr übersehbar und schließlich ist zu vermerken, dass sich auch Breton in seinen theoretischen Schriften des gleichen Symbolgebrauchs wie Ernst bedient hat, so wenn er zur Charakterisierung der normalen Welt die analoge Semantik des Eingesperrtseins aufrief und im Umkehrschluss appellativ formulierte, „wenigstens für den Augenblick jenen abscheulichen Käfig zu verlassen, in dem wir uns abmühen.“29

28 Vgl. Ernst/Éluard (1922/1971), ohne Seitenangabe. 29 Vgl. Breton (1924/1989), S. 155 (dt. Übersetzung leicht abgewandelt, T.L.).

138 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 41: Victor Brauner: „Der seltsame Fall des Herrn K.“ (1934)

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

Abbildung 42: Hans Arp/Max Ernst: „Der Punching Ball oder die Unsterblichkeit Buonarottis“ (1920)

Abbildung 43: Man Ray: „Electricité“ (1931)

L EBENS | 139

140 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 44: Max Ernst: „Zwischen den Polen der Höflichkeit“ (1922)

Abbildung 45: Max Ernst: „Der prädestinierte Blinde“ (1922)

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 141

Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass es Arps Freund Kurt Schwitters war, der, ebenfalls Anfang der zwanziger Jahre und damit etwa zeitgleich mit Ernsts und Éluards Collage-Büchern, einen Angriff auf die Normalitätsvorstellungen seiner Zeit unternahm, und zwar literarisch in Form seiner Erzählungen „Auguste Bolte“ (1922) und „Er“ (1923). Dass Arp diese Werke kannte, scheint wahrscheinlich, da er zu dieser Zeit im regen persönlichem und künstlerischem Austausch mit Schwitters stand, ja verschiedene literarische und bildkünstlerische Gemeinschaftsprojekte mit ihm startete. In Schwitters Erzählungen werden nun die schon angesprochenen Verfahren und Darstellungsweisen der Normalität, nämlich die beschriebenen Gaußoid- und Kurvendiagramm-Figuren, symbolisch thematisiert, und zwar in einer solchen absurd-grotesken Weise, die weder auf eine Identifikation noch Gegen-Identifikation mit den behandelten Figuren, Situationen und Handlungen zielen, sondern auf deren ‚Verulkung‘ mittels ‚Übertreibung‘ und ‚Verzerrung‘ (im wortwörtlichen Sinne, siehe unten). Jeder Möglichkeit der Subjektivierung wird der Boden entzogen, indem die Figuren als abstrakte Schablonen ohne Charakter und hermeneutische ‚Tiefe‘ fungieren und Situationen und Handlungen rein narrativ-funktional aneinander gekettet sind, um den Eindruck der Groteske zu erwecken und weiterzutreiben. In diesem Rahmen werden Verfahren und Darstellungsweisen der Normalität bzw. Normalisierung in ihrer Logik so absurd-komisch vorgeführt, dass bei dem Rezipienten eigentlich nur noch ein distanziertes Kopfschütteln verbleiben kann. In Schwitters wohl bekanntester Erzählung, „Auguste Bolte“30, trifft es gleich zu Beginn die Verfahren der modernen statistischen Massenverdatung, des Wahrscheinlichkeitskalküls und der Trend-Exploration, die in exemplarischer Verdichtung ad absurdum geführt werden: Auguste Bolte sah etwa 10 Menschen auf der Straße, die in einer und derselben Richtung geradeaus vorwärts gingen. Das kam Auguste Bolte verdächtig, ja sogar sehr verdächtig vor. 10 Menschen gingen in einer und derselben Richtung, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10. Da musste etwas los sein. Denn sonst würden nicht ausgerechnet 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Menschen in genau einer und derselben Richtung gehen. Wenn nämlich nichts los ist, so gehen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Menschen nicht in der ausgerechnet selben Richtung, sondern dann gehen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Menschen in 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 verschiedenen Richtungen. Das ist einmal sicher, und Fräulein Auguste Bolte war immer ein gescheites Mädchen gewesen, schon in der Schule.31

30 Schwitters: Auguste Bolte (1922), in: ders. (1974/2), S. 68-93. 31 Ebd., S. 72.

142 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Während in „Auguste Bolte“ die gleichnamige Hauptfigur noch mit einer ihr äußerlichen Normalität zu kämpfen hat, gibt sich in der Erzählung namens „Er“32 die nur mit diesem Personalpronomen bezeichnete, ansonsten anonym bleibende Figur gleich selbst als Symbol von Darstellungskonventionen der Normalität zu erkennen, – nämlich als Allegorie der logistischen Steigungskurven und ihrer für die Moderne so typischen exponentialen Entwicklungsdynamik und Denormalisierungsrisiken. Dazu wird „Er“ als ein junger, gerade zum Dienst in der Armee berufener und noch im Wachstum befindlicher Mann bezeichnet, dessen „chronisches“ Körperwachstum nicht enden will, und zwar in einem solchen Maße, das dies „fast zum Verhängnis für die gesamte Menschheit hätte werden können“33. Die betreffenden gesellschaftlichen Institutionen ergreifen selbstverständlich Gegenmaßnahmen, das Wachstum zu „verkürzen“ (wie es im Text mehrfach heißt): Während die Mutter, gleichsam als Vertreterin von Familie, Schule und Kirche, vorausahnend mahnt („,Junge, wohin soll das noch gehen, […], Du wächst uns schließlich noch allen über den Kopf‘“34), werden Armee und Staat ‚praktisch‘ und ziehen dazu Mittel herbei, die erkennbar dem Arsenal normalisierender Tätigkeit entstammen (Verfahren mathematischer Statistik und Wahrscheinlichkeitskalküls, um das chronische Weiterwachsen genau zu prognostizieren). Alle weiteren absurd-radikalen Maßnahmen (mehrfacher Bau eines passenden riesengroßen Gefängnisses35, Erschießen36, Elektrisieren37) scheitern aber kläglich, die Wachstumsdynamik scheint schließlich im Grunde unaufhaltsam, und eine große, Menschheit und Natur gleichsam apokalyptisch bedrohende De-Normalisierung scheint nach immanenter Logik der Erzählung im Endeffekt unabwendbar. Um aber die Erzählung mit einem wiederum grotesken märchenhaften Happy End der Re-Normalisierung enden zu können, greift sie gleichsam auf einen narratologischen deus ex machina zurück, der ganz dezionistisch Figur und Erzählfluss ein abruptes Ende erteilt: Unser „Er“ stirbt durch „Befehl“ zum Selbstmord, der dem Delinquenten durch seinen „König“ erteilt wird:

32 Schwitters: Er (1923), in: ders. (1974/2), S. 97-105. 33 Ebd., S. 97. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 98ff. 36 Ebd., S. 104f. 37 Ebd., S. 105.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 143

Der junge König befahl jetzt dem langen Manne, ins Meer zu springen, der lange Mann sprang ins Meer, und da Er nicht schwimmen konnte, und da ihn keine Fettschicht mehr trug, sank Er unter und ertrank. Der junge König aber nahm eine Braut und heiratete.38

Aus dieser Kurzzusammenfassung dürfte schon deutlich geworden sein, dass, die Figur des „Er“ auf der symbolischen Ebene als eine Allegorie auf moderne Wachstumsdynamiken und ihre konventionelle Darstellung als exponentielle Wachstumskurve zu verstehen ist (Phänomene, die auch schon Schwitters Zeiten bekannt waren und sich zeitgenössisch auf die Hyperinflation in Deutschland um 1923 bezogen). In diesem Rahmen zeigt eine detaillierte Überprüfung am Text, dass mit dem gewählten Sprachbild des Körperwachstums und Körpergewichts (als exorbitante Über-Länge bzw. Über-Gewicht („Fettschicht“)) eine ganze Reihe von Bedeutungsbereichen, die über den Gesamttext verstreut sind, denotativ und konnotativ ‚angetippt‘ werden, die wiederum in ihrer Gesamtheit den normalistischen Gesamtfächer sozialer Wissens- und Praxisbereiche konnotieren. Dazu zählen zum einen synekdochisch-repräsentativ die Bereiche der physischen Befindlichkeiten des Einzelkörpers (hier eben am Paradigma „Größe“ und „Gewicht“), zum anderen, symbolisiert am Begriff der „Insubordination“, das Feld der psychischen Verhaltensauffälligkeiten und Anormalitäten (typischerweise Sucht, Kriminalität, Wahnsinn, Selbstmord/Mord). Weiterhin werden – im Fortlauf des Textes sich gleichsam steigernd – die Bereiche Gesellschaft, Wirtschaft und Politik explizit angesprochen, indem das Körperwachstum mit Massenepidemie („Seuche“), „Inflation“ und „Revolution“ bzw. „Krieg“ symbolisch in Beziehung gesetzt werden. Im Schlussabschnitt ist es schließlich der Bereich der „Natur“, der mit Bildern aus dem Bereich von Erdbeben und der Flutkatastrophe aufgerufen wird (ausgelöst durch den riesenhaft gewachsenen „Er“). Dass schließlich an zentralen Stellen der Erzählung alle Versuche der sogenannten „Verkürzung“ explizit als Maßnahmen bezeichnet werden, das betreffende ‚Verhalten‘ auf „ein normales Maß“ eines „normalen Soldaten“ zurückzuführen, macht vollends deutlich, dass die Figur des „Er“ als allegorisches Integral moderner, exponentieller Wachstumskurven und ihres Denormalisierungsrisikos verstanden wird. In Schwitters dadaistisch-surrealer Merz-Dichtung wird mithin das normalistische Denken dem grotesken Spiel einer vollends ent-identifizierenden Distanzierung ausgesetzt, – ein literarisch-künstlerisches Spiel, dem Arp und die Pariser Surrealisten sicherlich nur zustimmen konnten.

38 Ebd., S. 105.

144 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Schema 3: Anti-normalistische Symbolik in Kurt Schwitters Erzählung „Er“

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 145

Arps und Magrittes Bilder des „Normal“-Subjekts

Abbildung 46: René Magritte: „Die Büchse der Pandora“ (1951)

Die damit schon früh im (Proto-)Surrealismus angesprochene Problematik von Einzelsubjekt und Masse bzw. Gesellschaft findet seine thematische Fortsetzung auch in späteren Werken der Surrealisten und Arps. An dieser Stelle sind dabei die Werke von besonderem Interesse, die eine inhaltliche und darstellungstechnische Verbindung zwischen den Gedichten Arps und der Malerei des Surrealismus erkennen lassen. Unter dieser Perspektive ist insbesondere auf Magrittes bekanntes Motiv des stereotypen Anzug- und Bowler-Manns („Melonenmann“) zu verweisen, der einen hohen Grad an Analogie mit der Figurengestaltung in bestimmten Gedichten Arps besitzt. Denn bei Magritte wie auch bei Arp stellt sich der Einzelne nicht als Individuum dar, sondern als eine Art Massenatom, das aufgrund seiner stereotypen Gleichheit, Uniformität und Eindimensionalität als völlig konform und austauschbar mit den anderen Massenatomen erscheint. Das Gedicht „Die Schar Sopolter Roll“ (1953) ist beherrscht von dieser Verwandlung des Individuellen in das Massenhafte, Konventionelle und Banale. Dargestellt am Beispiel von Aussehen, Kleidung und Gesprächsverhalten wird die soziale Situation moderner Subjektivität in ein völlig absurdes Licht getaucht, ähnlich wie auf den Gemälden Chiricos und der Surrealisten. Typisch hierfür sind in Arps Text die Verwendung der Synekdochen „Nabel“, „Schnurrbart“ und „Uhr“, die den modernen Menschen als Subjekt normaler Durchschnittlichkeit dem Dik-

146 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

tat temporaler und anderer sozialer Vermessung, Stereotypie und Banalität aussetzen: Die Schar Sopolter Roll Aus Herr Sopolter Roll ist nun die Schar Sopolter Roll geworden. Sofort nach ihrer Entstehung taufte die Schar Sopolter Roll den Platz „Viertel Nach Ein Uhr“ in den Platz „Sopolter Roll“ um. Jeder dieser Schar ist mit jedem andern der Schar kongruent. Ja sogar der Inhalt ihrer Taschen ist bei allen der gleiche. Alle haben in ihrer Tasche den gleichen falschen flotten Schnurrbart die gleiche Folge photographischer Aufnahmen von Näbeln die gleiche Uhrkette mit der gleichen Uhr. Ihre Uhren sind übrigens stehengeblieben und zeigen viertel nach ein Uhr. Auch in ihrem Wesen sind die Herren der Schar Sopolter Roll übereinstimmend. Es ist ganz gleich an welchen Herr Sopolter Roll man sich wendet. Man kann mit dem einen Herrn Sopolter Roll ein Gespräch beginnen mit einem anderen Herrn Sopolter Roll das Gespräch fortsetzen und mit einem dritten Herrn Sopolter Roll das Gespräch beenden. Seit der Platz „Viertel Nach Ein Uhr“ in Platz „Sopolter Roll“ umgetauft worden ist hat sich das Licht viertel nach ein Uhr des Tages mit der Dunkelheit viertel nach ein Uhr der Nacht vermischt. Jetzt ist es weder hell noch dunkel. Es herrscht eine traute Dämmerung.39

39 Hans Arp: Die Schar Sopolter Roll (1953), in: ders. (1974), S. 238f.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 147

Abbildung 47: René Magritte: „Der Monat der Weinlese“ (1959, Ausschnitt)

Das thematisch hiermit vergleichbare Gedicht „Der glühende Stummel“ (1954/1960) legt den Akzent noch weiter auf die Frage der sozialen Auswahlund Ordnungsprinzipien innerhalb der „Normalorganisation“ modernen Lebens, und ist wohl hierin mit mindestens ebenso gleichen Anklängen an Magritte ausgestattet. Gleich zu Beginn des Textes wird die Figur des Normalbürgers bezeichnenderweise als „Mann namens Mann“40 eingeführt. Es handelt sich auch hier um eine schablonenhafte Silhouette des modernen Subjekts als Durchschnitts- und Normalmenschen, gekennzeichnet durch äußere und innere Stereotypie, darin eben wiederum ganz ähnlich den Anzug- und Bowlermännern Magrittes. Der beschriebene Mann steht auch diesmal nicht allein, sondern findet sich umringt von einer Masse weiterer gleicher „Männer namens Mann“, die ebenfalls wie der erste Mann auf der paradoxen Suche nach einem „Mann namens Mann“ sind, ohne ihn aber je finden zu können. Der Text vervielfacht und potenziert die Figur des Normalmenschen, was seine Repräsentativität nochmals erhöht und zugleich die Möglichkeit der Darstellung und Kritik dynamischer Vorgänge der Normalorganisation eröffnet. Dazu geht er von den Effekten moderner Normalisierungsstrategien – der Standardisierung, Uniformierung und banalen Eindimensionalität – aus und kontrastiert diese zugleich mit dem Begehren moderner Subjektivität nach individueller Identitätsbildung. Er setzt damit, gewissermaßen in Form von symbolischen Atomen oder Kügelchen, eine Masse sozialer Einzelner voraus, die durch stereotype Gleichheit, Anonymität und Ein-

40 Hans Arp: Der glühende Stummel (1954/1960), in: ders. (1984), S. 116-118.

148 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

dimensionalität gekennzeichnet sind, aber zugleich auf der Suche nach Autonomie und Individualität sind. Diese Suche nach der Identität von Selbst und Anderem läuft aber ins Leere, führt nur zur permanenten Verkennung seiner selbst und des Anderen. Jeder „Mann“ sucht jemand anderen, der er selbst ist, findet jemand anderen, den er sucht, den er aber als solchen nicht erkennt, und diesem und anderen ergeht es genauso wie ihm selbst. Es entsteht schließlich das, was Arp ein soziales „Knäuel“41 nennt, ein Haufen durcheinander wirbelnder Atome ohne festen Ort und ohne feste Bindung, ein Wirbel des gleichen vervielfachten sozialen Kügelchens: Der glühende Stummel Ein Mann namens Mann sucht einen Mann namens Mann. Der Mann namens Mann findet nach längerem Suchen einen Mann namens Mann. Dieser Mann namens Mann den unser Mann gefunden hat ist jedoch nicht der Mann den unser Mann sucht. Der Mann den unser Mann gefunden hat ist ein Mann der ebenfalls Mann heißt und einen Mann sucht der ebenfalls Mann heißt ihn schließlich zu finden glaubt der aber ebenfalls nicht der rechte Mann ist sondern auch ein Mann der Mann heißt und einen Mann sucht der Mann heißt und so fort ... Obwohl alle diese Männer Männer finden die Mann heißen sind es dennoch nicht die rechten Männer die sie suchen. Diese Männer sagen sich nun mit Recht daß sie so nie an ihr Ziel gelangen werden.

Diese Kommunikation zwischen den einzelnen Massen-Atomen bewirkt schließlich das, was als „Normalorganisation“ im Sinne Arps anzusehen ist. Die damit verbundene Normalisierung besteht darin, eine Form der sozialen Ordnung einzuführen, die wiederum durch Gleichheit in banaler Eintönigkeit geprägt ist. Aus dem wirren „Knäuel“ eines sozialen Massehaufens wird somit eine eindimensional geordnete Reihe hintereinander stehender Männer:

41 Ebd., S. 116.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 149

Diese Männer die alle einen Mann suchen namens Mann kommen nun überein sich einer hinter den anderen zu stellen um diesen Knäuel zu entwirren auf daß jeder seinen Mann namens Mann endlich finde. Zu allem Elend ist es noch dazu ein heißes trockenes Jahr. Unsere Männer namens Mann stehen ernst hintereinander wie es sich für Männer namens Mann gehört. Sie stehen da wie es sich für rechte Männer namens Mann gehört auf einem Bein dem sogenannten Standbein und das andere Bein das sogenannte Spielbein leicht vorgestellt [...]. Für ihre Treue und Ordentlichkeit werden sie aber schlecht belohnt. [...]. Wo aber ist der gesuchte Mann namens Mann?

Was der Text damit im Effekt beschreibt, ist das, was man auch wissenschaftlich-analytisch als Produktionsmechanismen sozialer „Normalität“ und sozialen „Normalismus“ (Link42) bezeichnen kann und in der Metapher des sogenannten „Galtonsiebs“ sein Modellsymbol gefunden hat. Demnach besteht das Wirkungsgesetz von Normalität darin, mittels Verfahren der Homogenisierung, Standardisierung und Quantifizierung aus jedem Einzelnen eine Art soziales MassenAtom oder -Kügelchen zu machen („der Mann namens Mann“ bei Arp), das dann – auf die Masse der gleichermaßen behandelten Anderen und Vielen bezogen (Arps weitere „Männer namens Mann“) – per statistischer und ähnlich numerischer Methoden in eine vergleichende Ordnung gebracht wird (per ‚numerisch-statistischen Filtern‘ des Galton-Siebs und dem daraus resultierendem Ranking, vgl. dazu das Entwirren des „Knäuels“ durch „Hintereinander-Stellen und -Stehen der Männer“ in Arps Text). Diese Ordnung, eben das Hintereinander-Stellen und -Stehen der Männer namens Mann, besteht – normalitätstheoretisch besehen – typischerweise in Ordnungen der Leistung und Konkurrenz (gesellschaftlicher bzw. persönlicher Fortschritt und soziale Stellung) oder verwandten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rankings probalistischstochastischen Typs. Sie konnotiert mithin den topischen Raum moderner Sozial-Landschaften mit ihren bekannten fundamentalen Orientierungsachsen, die für die herrschende Kultur der Moderne prägend sind: etwa die – in der Regel diagonal vorzustellende – Achse wachsender Leistung bzw. des Fortschritts überhaupt, die vertikale Achse von Macht und Unterordnung bzw. sozialer Hierarchie, schließlich die horizontale Achse von Links, Mitte und Rechts als der Symbolik des politischen Spektrums. Produziert werden die damit verbundenen men-

42 Vgl. Link (1997/32006), insbes. S. 233-243.

150 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

talen Vorstellungsbilder durch die Anwendung von Wahrscheinlichkeits- und Zufallskalkülen auf soziale Massenphänomene, wie sie eben für die herrschenden modernen Gesellschaften und ihre Ausrichtung an einer „Normalorganisation“ gesellschaftlicher Tatbestände typisch sind. Für solche gesellschaftlichen Verfahren, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt worden waren und die im 20. Jahrhundert immer mehr an Boden im politischen wirtschaftlichen und soziokulturellen Diskursraum westlichen Typs gewannen, haben Dada und der Surrealismus schon früh einen satirischen bis kritisch-bösen Blick entwickelt.43 Im Umkehrschluss lässt sich aber ebenso vermuten, dass sie ihrer Erkenntnis thematisch zumindest negativ verpflichtet blieben, indem die Einsicht über die große Bedeutung von Wahrscheinlichkeits- und Zufallsprinzipien für moderne Gesellschaften einen wichtigen Grund mit dafür abgegeben hat, dass die Auseinandersetzung mit dem „Zufall“ seine bekanntlich so überaus wichtige Wirkung für Programm und Praxis der Avantgardebewegungen Dada und Surrealismus entfaltet hat. Nur eben, dass Dada und Surrealismus statt den Blick auf den dicken, typische Durchschnittlichkeit verheißenden Bauch der Normalverteilung, wie dies in der „Normalorganisation“ regelhaft geschieht, zu richten, nun die Ereignisse an den Rändern der Normalität bewusst suchten und durch die Konzentration auf geglückte Singularitäten das Band Normalität garantierender Kontinuität zu (über-)dehnen und zu zerreißen trachteten. Dass die dadurch motivierte Neufassung, die sie ihren Vorstellungen über ein lebenspraktisches wie auch literarisch-künstlerisch wirkendes „Gesetz des Zufalls“ (Arp) oder das Prinzip des „objektiven Zufalls“ (Breton) gaben, soweit ging, dass darunter das sozial herrschende Vorbild probalistisch-zufälliger Normalität kaum noch wiederzuerkennen war, gehörte denn zu den wohl gerne in Kauf genommenen Nebeneffekten, sich eben ganz bewusst unterscheiden und dadurch gleichzeitig die herrschende Realität vergessen machen zu wollen. Kritisch wiederum auf die „Normalorganisation“ bezogen zielt Arps suggestives Bild eindimensionaler Gleichförmigkeit auf die Erkenntnis, dass der Einzelne sich selbst und den Anderen in der eindimensionalen Ordnung des Normalismus notwendigerweise verfehlen muss. Die „Männer namens Mann“ warten weiterhin auf ihren „Mann namens Mann“, ohne ihm je zu begegnen. Die Grundproblematik der wahren und wirklichen Subjektivierung bleibt aber dadurch für Arp ungelöst, ja wird in völlig falsche Bahnen kanalisiert. Das vermeintlich autonome und individuelle Subjekt verfehlt notwendigerweise sich selbst wie den Anderen, zugleich warten auf ihn damit tödliche Gefahren der negativen De- und Ent-Normalisierung, wie das Ende des Gedichts es zeigt (kon-

43 Vgl. Link (2010), S. 37-38.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 151

notiert sein könnten entsprechende Phänomene der Sucht, Kriminalität, des Wahnsinns, Mords und Selbstmords). Arp fasst dieses Risikopotenzial in das Bild des „glühenden Stummels“, eines Zigarettenstummels, der die als „allzu trocken“44 charakterisierte Männerreihe am Ende des Texts – per grausamkontingentem ‚Unfall‘ – in eine lichterlohe Flamme aufgehen lässt. Die „Normalorganisation“ moderner Gesellschaften und der von ihnen produzierten Subjektivitäten scheitert damit letztendlich an einem Phänomen des „objektiven Zufalls“ im pervertierten Sinne. Sie stehen da [...] und rauchen und stehen und trocknen und rauchen und stehen und trocknen. Sie trocknen und trocknen und fangen an wie Laub zu rascheln. Ein Mann namens Mann läßt seinen glühenden Zigarrenstummel unvorsichtiger Weise in die Tasche seines Vordermannes eines besonders trockenen Vordermannes fallen der sofort Feuer fängt und lichterloh zu brennen anfängt. [...]. Alle Männer stehen auf einmal in Flammen. Die Feuersbrunst der leider vergeblich suchenden allzu trocken gewordenen Männer namens Mann ist so radikal durchgreifend daß nicht ein Mann von den Männern namens Mann lebendig übrig bleibt.45

Wie angedeutet, erinnern diese Männer-Figuren sowohl an Arps eigene Schnurrbart-Bilder aus den zwanziger Jahren als wohl vielmehr noch an Magrittes Melonen-Männer, die dessen Gesamtwerk, aber gerade auch die Werke der fünfziger Jahre als der Zeit, in die wohl auch die Abfassung der Gedichte Arps fällt, in unübersehbarer Weise prägen. Gleichermaßen wie bei Arp handelt es sich auch bei Magritte in der Regel um Bilder von Männern, die, als realitätsgerechte Symbole des normalen Durchschnittsmenschen, diese mit schwarzem Anzug und schwarzer Melone ausstatten. Ganz ähnlich wie bei Arp finden sich aber auch bei Magritte Bilder, die dieses Normalsubjekt letztendlich in ein „steinernes“ und damit Tod symbolisierendes „Grau“ verwandelt sehen (vgl. z.B. Magrittes „Der Gesang des Veilchens“ von 1951).

44 Hans Arp: Der glühende Stummel (1954/1960), in: ders. (1984), S. 118. 45 Ebd., S. 117f.

152 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 48: René Magritte: „Der Gesang des Veilchens“ (1951)

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 153

Arps und Bellmers „Puppen“ Spiegeln insoweit Arps Gedichte „Die Schar Sopolter Roll“ und „Der glühende Stummel“ das Schicksal des modernen Subjekts gleichsam wie von außen, also in distanzierter und anscheinend neutraler Weise, ohne sein psychisches Innen direkt zu thematisieren, so konzentriert sich ein anderer Gedichtkorpus, der ebenfalls wie diese Gedichte in den fünfziger Jahren veröffentlicht worden ist, gerade auf diese Introspektion. Gemeint ist der kleine Gedichtzyklus namens „Puppen“ (1952), den man als eine Aufnahme und kritische Auseinandersetzung mit dem bekannten Grundmotiv der Bildwerke Hans Bellmers verstehen kann. Bekanntlich hatten Bellmers Fotographien von selbst hergestellten PuppenInstallationen („Spiele der Puppen“, 1933/1938) für Furore innerhalb des Surrealistenkreises der dreißiger Jahre gesorgt, die schließlich mit dafür verantwortlich waren, einen gehörigen Schub weiterer Objektkunst als auch weiterer Literatur- und Theorieproduktion innerhalb der surrealistischen Bewegung der dreißiger Jahre auszulösen (u.a. verfasste Éluard schon 1939 vierzehn Prosatexte unter dem Titel „Jeaux vagues la poupée“ zu Bellmers Bild- und eigenem Kommentar-Werk46). Während aber Bellmers Darstellungen geschundener, pervers ge- und missbrauchter Puppen einen wohl insgesamt großen Interpretationsund Bewertungshorizont eröffneten, der von voyeuristischer Lust am Sadismus bis zur gleichgültig-neutralen Distanz reichen kann, sind Arps Gedichte auf eine empathische, einfühlende Sympathie und Identifikation mit den geschundenen Puppenfiguren hin angelegt. Ähnlich wie in seinem Bildbeitrag zur surrealistischen Gemeinschaftspublikation zum Missbrauchsfall „Violette Nozières“ Anfang der dreißiger Jahre, der in der Zeichnung einer ebenfalls puppenartigen, mehrfach zerbrochenen Figur als Symbol für die Leiden der jungen Frau bestand47, wird auch hier die Puppe zu einer Allegorie für Leiden des Subjekts in der Moderne erhoben, und zwar exemplifiziert an dem Bereich, der als der am meisten private und intimste auch in der Moderne gilt, der Sexualität. Um diesen Effekt zu erreichen, macht sich Arp, im Unterschied zu den Bildwerken Bellmers, die spezifischen Mittel seines Textmediums zunutze, die Sprache und die mit ihr gegebene Möglichkeit der direkten Rede. Denn während die Puppen Bellmers notwendigerweise stumm bleiben müssen, bedient sich Arp der textuellen Möglichkeit, die Perspektive der Puppe sprachlich einzunehmen und ihren Gedanken und Gefühlen eine Stimme zu geben. Zwar bewegen sich diese Stim-

46 Vgl. den von Bellmer selbst ins Deutsche übersetzten Wiederabdruck in: Bellmer (1976), S. 39-70. 47 Vgl. Jean Arp: Ohne Titel (1931), in: Breton/Char/Éluard (1933/1986), S. 39.

154 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

me, wie sich situationsbedingt leicht nachvollziehen lässt, am Rand des Nochsprechen-Könnens, am Rand zwischen Sprechen und Schweigen, Leiden und völliger Apathie, Leben und Tod, doch sind die verbliebenen Worte, darin den Bildern gleich, deutlich genug, um ein Symbol des missbrauchten, von außen geschundenen und innerlich zerbrochenen und traumatisierten Menschen zu erzeugen. Analog zu Bellmer wird dazu das Bild einer wohl auch bei Arp weiblichen Puppe entworfen, die mehr oder weniger nackt und schutzlos den obszönperversen Gelüsten und Machenschaften eines männlichen Außen ausgeliefert ist. Diese treiben ihre die Puppe vielfach verrenkenden und verdrehenden Spiele, die bei der solchermaßen Drangsalierten zu Trauma, Angst und Ich-Verlust führen. Im Unterschied zu Bellmer, der das Geschehen eher positivierend als „Spiele (mit) der Puppe“, bezeichnet, betonen Arps Puppen ausdrücklich, dass die „Herren Menschenfresser“ keineswegs „zu spielen verstehen“48: Ich bin arm. Ich bin nackt. Was hat man mir nicht schon alles versprochen. [...]/ . Ich bin die Puppe aus Menschenfleisch für die Herren Menschenfresser. Ich tue mein Möglichstes um ihren ersten rasenden Heißhunger zu stillen. [...]/ . Wenn sie mit uns spielen machen wir gute Miene zum bösen Spiel. Wir hassen ihre Liebkosungen und Küsse. Wir hassen ihr Streicheln und Schnaufen. Wer erlöst uns von diesen Unwesen die nicht zu spielen verstehen. [...]/ . Sie sogen an mir sie verrenkten mir die Glieder und küßten mich und sogen wieder und trieben mit mir ihr Affenspiel. [...]/

48 Vgl. Hans Arp: Puppen (1952), in: ders. (1974), S. 211-214. Die Reihenfolge der folgenden Textstücke ist gegenüber der originalen Anordnung bei Arp verändert.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 155

Die Selbstwahrnehmung gipfelt in der Erkenntnis, mehr Puppe als Mensch, mehr tot als lebendig zu sein. Auf intermedialer Ebene besteht zudem in Arps pointierter Formulierung „Verwelkt hängen unsere Träume im abwegigen Heute“ eine weitere enge motivgeschichtliche Verbindung mit der Montage von Puppenund Blumenmotiv, wie sie auch in einer von Bellmers skulpturellen und fotographischen Collagen vorgenommen wird: Ich bin die Totenpuppe. Ich bin hart wie ein Knochen. […]/ Nun bin ich müde welk und leer leer wie ein ausgetrunkener Becher. [...]/ . Manchmal glauben wir Menschen zu sein und keine Puppen so elend ist uns zu Mute. [...]/ . Verwelkt hängen unsere Träume im abwegigen Heute.

Abbildung 49: Jean Arp: Ohne Titel (1931)

156 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 50: Hans Bellmer: „Die Puppe“ (1933/1938)

Abbildung 51: Hans Bellmer: „Die Puppe“ (1933/1938)

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

Abbildung 52: Hans Bellmer: „Die Puppe“ (1933/1938)

L EBENS | 157

158 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Apokalypse und Exodus („Erbarmen“ und „Willkommen Willkommen“) Beschreibt Arp in seinen Gedichten, wie analysiert, auf der einen Seite die sterile Normalität und Drangsalierung des Einzelnen, so inszeniert er auf der anderen Seite auch so etwas wie poetische Fluchtlinien aus dem solchermaßen verdammten Zustand. Wie die entsprechenden Textpassagen seiner Dichtungen zeigen, gabeln sich diese Linien in zwei große, zueinander komplementäre Optionen: die große ,Apokalypse‘ moderner Zivilisation und der ,Exodus‘ in eine surreale Wunschlandschaft. Das für den Modus Apokalypse repräsentative Prosagedicht Arps trägt den Titel „Erbarmen“ und ist 1951 erstmals veröffentlicht worden. Es imaginiert im Medium sprachlicher Bilder die Zerstörung moderner Zivilisationsprodukte wie Großstadt, Maschinen und Normalmenschen in Form des Überwucherns durch eine aggressive Natur-Vegetation, das wiederum durch große und anhaltende Regenfälle ausgelöst wird. Intertextuell und intermedial gesehen geht dieser Motivkomplex von Regenschauer, kannibalischem Dschungel und Zivilisationstod auf bekannte Textpassagen Bretons und Bildwerke Ernsts seit den zwanziger Jahren zurück. So findet sich der „Regen“ als Symbol des reinigenden Unbewussten und der naturhaften Revolte schon in Bretons Prosagedichtband „Löslicher Fisch“ aus dem Jahre 1924 vorgeprägt: Der Regen allein ist göttlich, weshalb wir, wenn die Gewitter über uns ihre Ärmelaufschläge schütteln und uns ihre Börse hinwerfen, eine Bewegung der Revolte andeuten, die nur dem Rascheln des Laubes in einem Wald entspricht. [...]. Vergessen wir nicht, daß der Regen allein göttlich ist. [...]. Meine Augen sind nicht ausdrucksvoller als diese Regentropfen, die ich im Innern meiner Hand aufzufangen liebe; im Innern meines Denkens fällt ein Regen, der Sterne mitführt wie ein klarer, goldhaltiger Fluß, dessen Gold Blinde dazu bringen wird, einander zu töten. Zwischen dem Regen und mir war ein blendend heller Pakt geschlossen, und im Gedenken an diesen Pakt regnet es zuweilen bei hellem Sonnenschein. [...] Was hat man aus Diamanten zu machen gewußt, wenn nicht Flüsse? Der Regen läßt diese Flüsse anschwellen, der weiße Regen, in dem sich die Frauen für ihre Hochzeit ankleiden, und der nach Apfelblüten riecht. Ich öffne meine Tür nur dem Regen und dennoch klingelt man dauernd und mir schwinden bald die Sinne, wenn man darauf besteht, aber ich rechne auf die Eifersucht des Regens, die mich schließlich rettet und, wenn ich meine Netze für die Vögel des Schlafes auslege, hoffe ich vor allem, den wunderbaren Paradiesvogel des unbedingten Regens zu fangen, den Regenvogel, wie es den Leiervogel gibt. Fragt mich auch nicht, ob ich bald in das Bewußtsein der Liebe eindringen werde, wie manch einer zu verstehen gibt, ich sage euch noch einmal: wenn ihr mich seht, wie ich mich einem Schloß

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 159

aus Glas nähere, wo vernickelte Meßbecher sich anschicken, mich zu empfangen, geschieht dies, um dort den Regen, die Schöne im verzauberten Wald, zu überraschen, die meine Geliebte werden soll.49

Die Pflanzen, Wälder und Dschungel, die das bildnerische Werk Max Ernsts und damit das Bilderreservoir der Surrealisten in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren insgesamt entscheidend prägen, erscheinen hingegen viel stärker noch als bei Breton als Bilder einer äußeren Natur-Bedrohung. Die ‚grüne Hölle‘ Ernsts zeigt sich darin als ein zunächst kaum bemerkbares, aber wohl unbändigunaufhaltsames und geheimnisvoll-bedrohliches Wuchern einer grünen, dschungelhaften Vegetation, die schließlich über die gesamte menschliche Zivilisation obsiegt. In den Gemälden, die mit den Titeln „Die Lust am Leben“ oder „Die Nymphe Echo“ (1936 bzw. 1937) versehen sind, überblendet das Bild einer wuchernden Pflanzenwelt mit dem Bild eines tierähnlichen Ungeheuers mit geöffnetem Fangmaul, in dem etwa gleichzeitig entstandenem Zyklus der „Flugzeugfallen“ und „flugzeugfressenden Gärten“ (1935) stürzt sich diese Natur auf repräsentative Vehikel-Symbole des modernen Fortschritts, in den Zyklen „Die ganze Stadt“ (1935/1936) bildet gleich das ‚Ganze‘ der urbanen Moderne das Ziel des Angriffs. In diesem Zusammenhang lesen sich die berühmten Gemälde wie „Nach dem großen Regen“ I und II (1933, 1940-1942) oder „Das Auge der Stille“ (1943/1944) wie post-apokalyptische Endzeitvisionen von Zivilisationstod und alleiniger Naturherrschaft. Arps Prosagedicht „Erbarmen“ findet schließlich eine Verbindung der von Breton und Ernst entwickelten Motive, indem das Bild des großen Regens, das die Macht der inneren Natur bei Breton symbolisiert, mit dem Bild der äußeren Naturhölle verbindet und, wie Ernst, am Ende in eine gesteigerte Endzeitvision von Stadt, Technik und Mensch münden lässt: Erbarmen Nach einer langen Dürre fiel endlich Regen. Es regnete in Strömen Tage, Nächte, Wochen und regnete weiter Tage, Nächte, Wochen und Wochen, und die Pflanzen wuchsen, selbst die toten wuchsen wieder. Ihre Äste und Zweige wurden mächtige, grüne Glieder, die sich wie Schlangen wanden und aufreckten. Ein unheimliches Gefühl beschlich die Menschen. Keiner jedoch wollte dies vor dem anderen eingestehen. Sie taten, als merkten sie nichts Ungewöhnliches, begannen aber besonders laut zu sprechen wie Kinder, die im Dunkeln sich Mut machen wollen. Man hörte sie sagen, daß dieser Regen eine große Wohltat für

49 Breton (1924/1982), S. 48-50.

160 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

die Pflanzen sei und daß diese immer schöner würden. In Wirklichkeit aber wurden die Pflanzen nicht schöner, sondern nur größer und bedrohlicher. Es regnete weiter, und die Pflanzen wuchsen weiter und weiter zu Ungeheuern mit schrecklichen, leichenfarbenen Blumenköpfen und riesengroßen Froschmäulern, aus denen widerliche Fangzungen schnellten. Die Pflanzen wuchsen und wuchsen. Sie wuchsen um die Häuser, Türen und Mauern und drangen in die Häuser ein. Nun verloren die Menschen plötzlich ihren Verstand, flehten und schrieen aus vollem Halse um Erbarmen. Sie sanken vor den Pflanzen in die Kniee und boten ihnen Eierkognak, Geld und Kunstgegenstände an, ja, versprachen sogar, ihnen ihre abgöttisch geliebten Maschinen zu schenken. Die Pflanzen aber stürzten sich mit ihren schrecklichen, riesengroßen, froschmäuligen, leichenfarbenen Blumenköpfen auf die Köpfe der dummen Menschen, rissen deren Hirnschalen auf und verschluckten das Gehirn, wie exotische Feinschmecker das Gehirn junger, lebender Äffchen schlürfen.50

Abbildung 53: Max Ernst: „Die Nymphe Echo“ (1937)

50 Hans Arp: Erbarmen (1951), in: ders. (1974), S. 119f.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 161

Abbildung 54: Max Ernst: „Die ganze Stadt“ (1935/1936)

Abbildung 55: Max Ernst: „Das Auge der Stille“ (1943/1944)

162 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die Kehrseite zu dieser Menschheitsapokalypse bildet bei Arp die Idee eines „Exodus“, das heißt die Suche nach einem Ausweg aus dem verhassten Zustand. Repräsentativ hierfür ist sein Gedicht „Willkommen Willkommen“ (1954/1960, vgl. ansonsten thematisch ähnlich „Reif zum Aussteigen“, 1955), das in surreal verfremdeten und zugleich mythologischen Bildern den Auszug einer Menschengruppe aus der sozialen Normalität und ihre Suche nach dem „Reich des großen Lichts“ schildert. Erzählt wird, wie ihr Weg zunächst durch eine Reihe von im Gegenteil dämonischen und bedrohlichen „Reichen“ führt, wobei hier einige der für Arp typischen Bilder zur Kennzeichnung der sozialen Realität wiederkehren und durch weitere ergänzt werden: „Nabel“ und „Schnurrbart“ als Symbole eines Lebens in der Normalität, „purpurne Ibisse“ und „muntere Türme“ als Zeichen sozialer Machtapparate, schließlich „Mobiloil“, „Lärmapparate“ und „Weckeruhren“ als Insignien des technischen Fortschritts und seiner Folgen. Doch erst im Reich des „Tropfens Todsicher und des Funkens Stockdunkel“ werden sie „Willkommen“ geheißen und erfahren die ersehnte Erlösung. Ähnlich wie in Richard Oelzes Gemälde „Die Erwartung“ (1935/1936), in der eine Gruppe von Alltags- und Normalmenschen in ein rätselhaftes, gleichsam epiphanisches Licht getaucht erscheint, präsentiert sich auch in Arps Vision die erwartete Schneise aus der Normalität als ein Korridor in das „Reich des großen Lichts“. Erinnert sei darüber hinaus an Magrittes „Golkonda“ (1953) und sein „Das Schloß in den Pyrenäen“ (1959), die mit den typisch surrealen Motiven des In-der-Luft-Schweben von Menschenmassen und eines steinernen Zauberschlosses ebenso eine Epiphanie der großen Vertikale betreiben, wie dies in Arps Gedicht durch das Motiv der erlösten Fluchtmasse geschieht, die sich, statt weiterhin horizontal orientiert zu sein, als ein gleichsam riesiger ‚Turm‘ aufstellt, um in das „große Tor“ zum „großen Licht“ Einblick und Einlass finden zu können: Willkommen Willkommen Sie suchen das Reich des großen Lichtes, Sie kommen von weit her. Sie zogen durch das Nabelreich. Sie zogen durch das Schnurrbartreich. Sie ziehen lachend und weinend weinend und lachend weiter. Sie ziehen durch das Reich der purpurnen Ibisse die purpurne Bisse um Bisse beißen.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

Sie ziehen durch das Land der munteren Türme wo sich Türme auf Türme türmen. Sie ziehen durch das Reich der Weckeruhren die wie besessen rasseln und wecken weil sie vieltausend Jahre altes Mumienfleisch aus dem Schlafe wecken sollen. Sie ziehen durch das Land der Süßmäulerinnen an denen sie Leckermäulern nicht unähnlich ausschweifend lecken und lecken. Sie ziehen durch das Reich Mobiloil mit den dreizehn Seufzerbrücken munteren Lärmapparaten und synthetisch heiterhellen Tagen. [...] Endlich kommen sie in das Reich des Tropfens Todsicher und des Funkens Stockdunkel die in strenger Pflichterfüllung einen kleinen Käfig bewachen in dem eine kleine Klappertaube und eine kleine Turtelschlange schlafen. Sie wollen bereits weiterziehen als der Tropfen Todsicher und der Funken Stockdunkel sie gemeinsam folgendermaßen begrüßen: „Willkommen willkommen ihr suchenden Erdensöhne. Ihr seid auf dem rechten Weg. Das nächste Reich ist das Reich der hurtigen Eier. Es ist sehr lang aber nur hundert Schritte breit. Falls ihr euch unbedingt der eine auf die Schulter des anderen stellen wollt kann der Oberste sowohl als der Unterste das große Tor sehen das zum großen Licht führt.“ Das glaubten die Erdensöhne da sie es schon ohnedies sahen

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 163

164 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

und sie lachten und weinten so daß nicht nur die Echos miteinstimmten sondern auch der Tropfen Todsicher der Funke Stockdunkel und alle hurtigen Eier. Und das große Tor ging auf.51

Abbildung 56: Richard Oelze: „Die Erwartung“ (1935/1936)

Abbildung 57: René Magritte: „Golkonda“ (1953)

51 Hans Arp: Willkommen Willkommen (1954/1960), in: ders. (1984), S. 106-108.

III.1 DIE „N ORMALORGANISATION “

DES BÜRGERLICHEN

L EBENS | 165

Abbildung 58: René Magritte: „Das Schloß in den Pyrenäen“ (1959)

166 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “ ZUM „G ROSSEN S ADISTEN MIT ALLEN S CHIKANEN “ – ARPS ANTI -B ELLIZISMUS IM E RSTEN UND Z WEITEN W ELTKRIEG „Was die anfängliche Weltanschauung der Surrealisten mit der Grundeinstellung Lautréamonts und Rimbauds gemein hatte und was für alle Zeiten unser Schicksal an das ihre band, war die Abscheu vor dem Krieg.“ (ANDRÉ BRETON: WAS IST SURREALISMUS?)

Abbildung 59: Victor Brauner: „Hitler“ (1934)

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 167

Eine zweite große Linie der Modernekritik Arps betrifft das Thema „Krieg“. Bekanntlich sind die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts sowohl für Dada als auch für den Surrealismus von entscheidender Bedeutung gewesen, in literarisch-künstlerischer wie auch in jeweils lebensgeschichtlicher Hinsicht. Denn beide Bewegungen gingen aus einer grundstürzend erfahrungsgesättigten Kritik am Ersten Weltkrieg hervor, Dada Zürich mitten im Krieg sogar von einem neutralen, nicht direkt ins Kriegsgeschehen einbezogenen Ort aus. Der Surrealismus und seine Vorformen entwickelten sich zwar erst nach dem Krieg, aber als Reaktion auf diesen, als ein die Nachkriegsjahre weiterhin prägendes Ereignis. So schrieb Breton Anfang der vierziger Jahre rückblickend auf den Ersten und zeitdiagnostisch auf den Zweiten Weltkrieg, der ja für den Surrealismus als organisierte und die Zwischenkriegszeit kulturell mitbestimmende Bewegung das unfreiwillige Ende in der französischen Metropole bedeutete: „Der Surrealismus ist historisch – von 1919 bis 1939 – nur im Zusammenhang mit dem Krieg zu verstehen, sowohl mit dem, von dem er ausging, als auch mit dem, in den er ausläuft.“52 Von großer Wichtigkeit ist es vor diesem Hintergrund zu betonen, dass beide, sowohl Dada als auch der spätere Surrealismus, den großen Krieg nicht als ein rein singuläres, von seinen historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abgelöstes oder ablösbares Geschehen begriffen haben. Stattdessen bleibt zu konstatieren, dass sie sehr wohl Verbindungen zwischen dem normalen Leben der „Belle Epoche“ vor 1914 und dem Krieg sahen, eben als Verbindungen, die zwischen der soeben beschriebenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen „Normalorganisation“ des zivilen Lebens und dem Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs bestanden haben. Konkret bedeutet dies, dass sowohl für Dada als auch den Surrealismus Faktoren wie Nationalismus und Militarismus, Kapitalismus und die modernen Verkehrs-, Kommunikations- und Waffentechniken für den Krieg verantwortlich gemacht wurden, Faktoren, die ja schon die Vorkriegszeit in Deutschland wie auch Frankreich bestimmt hatten, und Faktoren, die auch für die folgende Nachkriegszeit in ganz Europa und schließlich für den Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs und Zweiten Weltkriegs leitend sein sollten. Folgerichtig kann es nicht verwundern, dass das Thema „Krieg“ ein bedeutendes Motiv des politisch-theoretischen, literarischen und künstlerischen Wirkens Dadas und insbesondere auch des Surrealismus werden

52 Breton: Die Situation des Surrealismus zwischen den beiden Kriegen (1942), in: ders. (1967/1989), S. 50-67, hier S. 62.

168 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

sollte.53 So hat Breton, wie schon gerade angedeutet, die Bedeutung des Kriegs für die Entstehung und den Verlauf der surrealistischen Bewegung immer wieder in seinen Vorträgen und Schriften hervorgehoben, hat Ernst dem Ersten Weltkrieg eine ganze Reihe seiner frühen, prä-surrealistischen Dada-Collagen gewidmet und so hat die Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg schließlich bei Dalí, Ernst und Picasso zu ihren berühmten großen Anti-Kriegsgemälden geführt. Parallel dazu ist hervorzuheben, dass sich eine Auseinandersetzung vergleichbarer Art auch bei Arp beobachten lässt, und zwar in seinem essayistischen wie auch dichterischen Werk. Konkret zum Ersten Weltkrieg findet sich diese in seinen Briefen, Erinnerungen und Gedichten („Unseren täglichen Traum“, „Die Wolkenpumpe“, „Der Pyramidenrock“), über Hitler-Deutschland und den Zweiten Weltkrieg vor allem in seinem großen Prosagedicht „Le grand sadique à tout casser“ („Der große Sadist mit allen Schikanen“), zur geopolitischen Lage der Nachkriegszeit und der Gefahr eines neuen, dritten, atomaren Weltkriegs paradigmatisch in seinen Gedichten „Amerika“ und „Könige vor der Sintflut“. Wie im Folgenden nachzuweisen sein wird, verbinden die dichterischen Werke Arps auch in diesem Fall nicht nur weltanschaulich-thematische, sondern ebenfalls eine ganze Reihe motivischer und bildlich-symbolischer Elemente mit der Malerei und bildenden Kunst des zeitgenössischen Pariser Surrealismus.54 So wie für den Themenbereich der zivilen „Normalorganisation“ festzustellen war, dass hier die Bilder des „Melonenmanns“ und „Manns im Gitter des Kurvendiagramms bzw. Gaußoids“, der „Puppe“ sowie der „Natur“-Apokalypse waren, die zum gemeinsamen Ausdrucksreservoir gehörten, sind auch für diesen, wie hier schon vorausgeschickt werden soll, eine Reihe ähnlicher und gleicher Bildmotive prägend: der durch die Kriegseinwirkungen „zerbrochene Soldaten-Körper“ des Ersten Weltkriegs, der „große Sadist mit allen Schikanen“ des Zweiten Weltkriegs und schließlich das Bild des Polit-„Clowns“, „Menschenfressers“ und letzten „,Ubu Roy‘ vor der Sintflut“ für die Nachkriegszeit.

53 Zur politischen Einstellung des Surrealismus in der Zwischenkriegszeit vgl. u.a.: Short (1982); Bischof (2001), insbes. S. 289-318; Held (2005), insbes. S. 17-52 und S. 109ff. 54 Vgl. für den analogen Fall Max Ernsts, einschließlich gewisser zeithistorischer und ästhetischer Bezüge zu Hans Arp die Studie von Ubl (2004).

III.2 V ON DER „GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 169

Erster Weltkrieg: Arps und Ernsts Text- und Bild-Collagen Der Erste Weltkrieg markierte politisch, wirtschaftlich-sozial und kulturell eine entscheidende Zäsur im Leben der bis dato geltenden „Normalität“ westlicher Gesellschaften. Eine Zäsur, die in ihrer Art und Tragweite von großen Teilen in Elite und Bevölkerung zunächst verkannt, und nur von Wenigen in ihrer Tragik hellsichtig früh durchschaut wurde. Denn während beiderseits des Rheins und auf dem europäischen Kontinent insgesamt nicht nur große Teile der Bevölkerung, sondern auch viele Künstler und Künstlergruppen den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert begrüßten und heroisch gestimmt ‚mitmachten‘, ist Arp einer der Wenigen gewesen, die von Anfang an den Krieg ablehnten und auch entsprechend handelten. Mit einer solchen Reaktionsweise stand er natürlich von den kriegsbegeisterten Dichtern seiner Zeit oder denjenigen, die etwa wie Rilke oder manche Expressionisten dem Krieg zumindest ästhetisch ambivalent gegenüberstanden, weit ab. Am nächsten sollte er stattdessen noch allen eher veristischen Darstellungen kommen, die den Krieg und seine Schrecken realitätsgetreu abzubilden suchten. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Bezug auf ein Gedicht Alfred Lichtensteins aus den Anfangstagen des Ersten Weltkriegs, das versucht, mit seinen Mitteln die subjektive und subjektivierende Seite des Geschehens, das heißt die Stimmung des „Normalbürgers“ und damit gewissermaßen der schweigenden Mehrheit auf das einschneidende Ereignis des Kriegsausbruchs wiederzugeben. Dazu schildert es aus der Perspektive der plötzlich zum Krieg Einberufenen deren Gefühlslage und Gedankenwelt als die Erfahrung von typisch-durchschnittlichen Menschen, die auf einmal aus der Normalität von Alltag, Beruf und Freizeitleben herausgerissen werden, nun Soldaten zu sein und sich in dieser neuen Situation bewähren müssen. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang zu sehen, dass sich das soziale Gesetz der „Normalorganisation“, wie es vordem mit Arp als stochastisches Spiel um Leistung, Konkurrenz und Erfolg der Einzelnen nun zu wiederholen scheint, wenn auch unter ungleich härteren Bedingungen und Erfolgsaussichten. Denn jeder der Betroffenen, von denen bei Lichtenstein in mitfühlend, gespielt einfachem Ton die Rede ist, sieht sich als eine Art kleines Menschen-Kügelchen im Massenheer, denen gegenüber der Krieg – normalitätstheoretisch im Sinne des Modellsymbols, des oben beschriebenen Galtonsiebs gesprochen – wie ein großes Stahlsieb wirkt, das diese vielen Kügelchen unbarmherzig schüttelt und schüttelt, dabei einzelne wieder auffängt, einen großen und immer größer werdenden Teil der anderen aber nach und nach durchrutschen lässt. Die besondere Härte dieser Situation des Aussiebens besteht im Vergleich zum normalen Zivilleben aber natürlich nun darin, dass das – gewissermaßen mit stochastischen Mitteln beschreibbare – Ri-

170 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

siko, diesen grausamen Vorgang erfolgreich, das heißt in diesem Fall einfach überlebend zu überstehen, diesmal viel geringer ist. Das „Gebet“, das die Soldaten in dieser prekären Situation formulieren, richtet sich mithin religiös an „Gott“, normalitätstheoretisch aber an das Galtonsieb des Krieges und der von ihm verteilten, schicksalshaft-zufälligen Auswahlchance, das eigene Kügelchen zu verschonen und dem Lebensspiel zu erhalten, sei es auch auf Kosten anderer, feindlicher wie auch befreundeter Mitspieler: Gebet vor der Schlacht Inbrünstig singt die Mannschaft, jeder für sich: Gott, behüte mich vor Unglück, Vater, Sohn und heiliger Geist, Daß mich nicht Granaten treffen, Daß die Luder, unsre Feinde, Mich nicht fangen, nicht erschießen, Daß ich nicht wie’n Hund verrecke Für das teure Vaterland. Sieh, ich möchte gern noch leben, Kühe melken, Mädchen stopfen, Und den Schuft, den Sepp, verprügeln, Mich noch manches Mal besaufen Bis zu meinem selgen Ende. Sieh, ich bete gut und gerne Täglich sieben Rosenkränze, Wenn du Gott, in deiner Gnade Meinen Freund, den Huber oder Meier, tötest, mich verschonst.55

Entsprechend seiner grundsätzlichen Kritik an der Normalität des gesellschaftlichen Lebens, die sich bei Arp wohl schon früh herausgebildet hatte, ist es nur folgerichtig, dass er sich in diesem Fall erst Recht dem stochastischen Spiel des unheilbringenden, grausamen Zufalls, das diesmal auf die – durch gesellschaftliche Instanzen der „Normalorganisation“ produzierte – Alternative Leben oder Tod hinauslief, verweigern wollte. In diesem Sinne ist von seinem Freund Max

55 Lichtenstein (1914 gekürzt/2000), S. 157.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 171

Ernst eine Aussage Arps überliefert, wie dieser schon im Sommer 1914 vor dem Ausbruch des Krieges und seinen absehbaren Folgen gewarnt habe: Eines Tages aber war Arp viel ernster als sonst. Es drohe Krieg, sagte er, und diese Katastrophe würde alles vernichten, was uns lieb sei, unsere Jugend, unser Streben, unser Glück.56

Und wie einem Brief aus der anschließenden Kriegszeit zu entnehmen, verband sich Arps Hellsicht in die bevorstehende objektive „Katastrophe“ mit der subjektiven Einsicht, einfach nicht in der Lage zu sein, die von jedem in jedem Krieg zu erfüllende Haltung und Handlungsweise, um das Kriegsspiel erfolgreich bestehen zu können, in der eigenen Person aufzubringen: Und dann kann ich mir mich selbst im Kampf nicht vorstellen, wie ich Menschen angreife und erwürge oder von wilden Bestien zerrissen werde.57

Vor diesem Hintergrund kann es wohl nicht mehr verwundern, dass Arp seinem Unwillen und Unvermögen gegenüber dem herannahenden Krieg nachgab und beschloss, vor ihm aus Deutschland zu fliehen. Diese Art des biographischen ‚Grenzübertritts‘, die der angehende Avantgardekünstler damit unternahm, hat denn auch Max Ernst in seinen Erinnerungen als ein Schlüsselerlebnis zum Verständnis für die polyphone, hier „gesplissen“ genannte Persönlichkeit Arps verstanden: August 1914. Und dann die große Schweinerei. Niemand aus dem Freundeskreis hat´s eilig sein Leben zu opfern für Gott, König und Vaterland. Arp haut nach Paris ab (als Elsässer) mit dem letzten Zug. Die Legende will, daß der Zug in dem Augenblick über die Grenze fuhr, als diese geschlossen wurde, und zwar genau unter dem Abteil wo Arp saß, daher seine gesplissene Persönlichkeit.58

Mit seiner Entscheidung, vom Kriegsdienst – dem deutschen wie anschließend dem möglicherweise französischen – zu desertieren, hob sich Arp nicht nur von der kriegseuphorischen oder mit-machenden Beteiligung großer Bevölkerungsteile, einschließlich Literaten und Künstler beiderseits des Rheins, ab, sondern auch von den späteren Surrealisten und ihren intellektuellen Vorbildern. Bei-

56 Max Ernst nach Fischer (1969/92000), S. 27f. 57 Hans Arps Brief an Hilla von Rebay (Zürich 1916), in: Schrott (1992), S. 69. 58 Ernst: August 1914, in: ders. (1994), S. 15.

172 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

spielhaft ist dazu zum einen der Vergleich mit Guillaume Apollinaire, dem Namensgeber der nach seinem Tod „Surrealismus“ getauften Bewegung, der wegen seiner Kriegsbegeisterung auch schon von Breton und seinen Mitstreitern gescholten wurde, zum anderen Bretons eigenes Vorbild in Sachen Verhalten im Krieg: Jacques Vaché. Arp verband mit Apollinaire das literarisch-künstlerische Interesse an der deutsch-französischen Romantik sowie an den avantgardistischen Bewegungen der Vorkriegs- und Kriegszeit, beide befanden sich zu Beginn des Kriegs in Paris, der damaligen Kultur- und Kunsthauptstadt Europas, und beide hatten ein eigentlich zwiespältiges Verhältnis zur Frage ihrer nationalen „Heimat“. Wilhelm de Kostrowicky, wie Apollinaire eigentlich hieß, war von nicht ganz geklärter familiärer und nationaler Herkunft, mittellos, teils öffentlich angefeindet und von der Ausweisung als unerwünschter Ausländer bedroht. Anders als Arp trat er aber mit dem Ausbruch des Kriegs die Flucht nach vorne an. Der gewissermaßen Staatenlose meldete sich in einer Art ÜberIdentifikation freiwillig zum Krieg, worauf Beförderung, Orden und die Staatsbürgerschaft in seiner französischen Wahlheimat winkten. Entsprechend zeigte seine Dichtung von da an nicht zu übersehene nationale und kriegerische Züge: Er verherrlicht den Krieg („Mein Gott! Wie hübsch doch der Krieg ist“), seine Waffen („Wie schön all diese Raketen“) und seine Soldaten („Guten Tag Soldaten Champagnerflaschen drin das Blut gärt“), feiert die Beherrschung der Welt durch die Kriegstechnik („Vor ihm besaßen wir nur die Oberfläche/ Der Erde und der Meere“, „Nach ihm werden die Abgründe unser sein/ der Untergrund und der Luftraum“), schließlich den erwarteten Sieg über Deutschland: „Nachher nachher/ Nehmen wir uns alle Freuden/ Der Sieger die sich ausruhn/ Frauen Spiele Fabriken Handel Industrie [...].“59 Ebenso wenig wie mit dieser, mehr oder weniger avantgardistisch-futuristischen Begeisterung für den Krieg, wie sie paradigmatisch von Apollinaire in Frankreich, Marinetti in Italien oder Becher in Deutschland ausging, konnte Arp aber auch mit einer anderen Haltung anfangen, die typisch für seine späteren und etwas jüngeren Surrealistenfreunde war. Gemeint ist damit die Haltung einer inneren Desertion, die dadurch gekennzeichnet ist, den Krieg äußerlich mitzumachen, innerlich aber entschieden abzulehnen.60 Für Breton wurde dies in Person seines Freunds und Mitsoldaten Jacques Vaché verkörpert, der in seinem – rückblickend von Breton als „schwarzer Humor“ etikettierten – Auftreten die groteske Absurdität der Situation, in die er sich stell-

59 Vgl. Apollinaire (1969), S. 259ff. und 305ff. 60 Vgl. z.B. Bretons zeitgenössische Bemerkungen und Kommentare, zitiert in: Polizzotti (1995/1996), S. 41-46.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 173

vertretend für seine Generation durch den Krieg hineinkatapultiert fühlte, anschaulich-symbolisch vorführte: Die Strelitzie in der Hand, der Körper von vorn und das Gesicht von der Seite kommt der Geist des Humors selbst die Jahre des „letzten“ Krieges auf Eiern herauf. Keineswegs einer, das versteht sich von selbst, der sich der Stimme enthält, glänzt er in einer wunderschön geschnittenen Uniform und noch dazu in einer sozusagen synthetischen, in zwei Teile geschnittenen – auf einer Seite die der „Alliierten“ und auf der anderen die der „Feinde“ – , deren recht oberflächliche Vereinheitlichung mit großem Aufwand an aufgesetzten Taschen, hellem Wehrgehänge, Generalsstabskarten und mehrmals fest um den Hals gewickelten Tüchern in allen Farben des Horizonts erreicht wird. Das rote Haar, die Augen wie „erlöschende Flammen“ und der eisige Schmetterling des Monokels vervollkommnen die ständige, gewollte Dissonanz und Isolierung. Die Weigerung, sich zu beteiligen, ist so vollständig wie nur möglich, unter dem Deckmantel einer sehr weit getriebenen, rein förmlichen Akzeptierung – all die „äußeren Ehrenbezeichnungen“ und Zeichen einer sozusagen automatischen Zustimmung dem gegenüber, was der Geist gerade für das Unsinnigste hält. [...]. Der Desertation zu Kriegszeiten ins Ausland, der für Vaché immer etwas „Philister“-artiges anhaftet, setzt er eine andere Form der Dienstverweigerung entgegen, die man als Desertation ins eigene Innere bezeichnen könnte [...].61

Wie gesagt, statt Kriegseuphorie oder innerer Desertion beherzigte Arp selbst den Modus der auch äußeren Desertion. Dazu flüchtete er vor der in Deutschland und dann wohl auch in Frankreich drohenden Einberufung in die neutrale Schweiz, wo er in Zürich, einem Zufluchtsort vieler anderer Kriegsflüchtlinge, zu einem der Mitbegründer von Dada wurde. Doch auch hier war er natürlich vor den Nachstellungen seitens in- wie ausländischer, insbesondere deutscher (Militär-)Behörden nicht sicher. Seiner drohenden Auslieferung und nachträglichen Einziehung zum Militärdienst konnte er schließlich nur so entgehen, dass er eine Simulation von Geistesgestörtheit, die seine völlige Untauglichkeit zum Kriegsdienst demonstrieren sollte, vor dem einberufenen Amtsarzt erfolgreich betrieb. Wie der späteren Darstellung seines dadaistischen Mitstreites Hans Richter zu entnehmen ist, hat bei der offiziellen Anerkennung von Arps Untauglichkeit wohl die Einschätzung geholfen, dass – neben seiner aktuellen Simulation – seine im Vorhinein bekannte Tätigkeit als abstrakter Maler und Dadaist mit die Grundlage dazu gelegt hat, seine Person als völlig außerhalb jeder kognitiven und intellektuellen „Normalität“ einzustufen:

61 Breton: Jacques Vaché, in: ders. (1940/2001), S. 464-466, hier S. 464f.

174 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Eines Tages war Arp gezwungen, sich, begleitet von unserem Freund und Beschützer Dr. Huber, auf dem deutschen Generalkonsulat in Zürich vorzustellen (das Elsaß war damals noch unter deutscher Herrschaft). Seine Kriegsdiensttauglichkeit, das heißt sein geistiger Zustand, sollte untersucht werden, da ja ernsthafte Zweifel daran bestanden, weil ein normaler Mensch weder Dadaist noch abstrakter Maler geworden sein könnte. Nach ausholenden Beruhigungsgesten führten die beiden untersuchenden Konsularärzte im weißen Kittel den nicht widerstrebenden Arp in ein großes Zimmer, sahen ihn genau an und fragten ihn dann, wie alt er sei. Arp zögerte, als ob er nachdächte, bat dann um ein Stück Papier und schrieb sein Geburtsdatum 16.9.86 16.9.86 16.9.86 . . . bis die Seite voll war. Dann addierte er die Summe und reichte das Resultat den Examinatoren. Sie glaubten ihm.62

Auch auf andere, vor allem weitere Mitdadaisten und besonders die späteren Surrealisten, muss dieses sich verweigernde Verhalten Arps großen Eindruck hinterlassen haben. So ist wohl erklärbar, dass sich Arps Simulantengeschichte mehrfach in der surrealistischen Erinnerungsliteratur nacherzählt findet, beispielsweise bei Breton und Marcel Jean.63 In Bretons „Anthologie des Schwarzen Humors“ (1940) heißt es etwa dazu: Als er während des Ersten Weltkriegs vor das deutsche Konsulat in Zürich geladen wird, bleibt Arp, etwas verwirrt, wie er selbst zugibt, vor dem Bild Hindenburgs stehen und bekreuzigt sich. Einige Zeit danach, von einem Psychiater aufgefordert, schriftlich sein Geburtsdatum anzugeben, wiederholt er dieses bis zum untersten Rand des Blattes, wo er einen Strich zieht und, ohne sich allzu sehr um die Richtigkeit der Addition zu kümmern, eine mehrstellige Summe präsentiert.64

62 Richter (1961), S. 12. 63 Vgl. Jean (1959/1961), S. 65f. 64 Breton: Hans Arp, in: ders. (1940/2001), S. 448-450, hier S. 450.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 175

Abbildung 60: Max Ernst: „sodaliten, schneeberger, rückethäler (always the best man wins)“ (1920)

Viel früher als diese Erinnerungen hatte schon Max Ernst eine Hommage auf die Handlungsweise Arps und seiner Züricher Dada-Freunde formuliert, und zwar in Form eines seiner dadaistischen bzw. proto-surrealistischen Werke. Auf dem Bild, das den Titel „sodaliten schneeberger drückethäler“ trägt und aus dem Jahre 1920 stammt, befindet sich dazu eine Anzahl übergroßer, trichterförmiger Figuren dargestellt, die halb organischen, halb künstlich-künstlerischen Ursprungs sind, auf einer Ebene wieder, die im Hintergrund als Alpenlandschaft gekennzeichnet ist und mit der wohl die Schweiz gemeint ist. Die den Vordergrund übergroß bestimmenden Figuren oder „Gewächse“, wie Arp ja selbst sich und seine künstlerischen Werke zu bezeichnen pflegte65, werden in dem Text, der das Gesamtbild umrandet und sprachlich an die zeitgleichen Dada-Texte Arps erinnert, eben als „sodaliten, schneeberger, drückethäler“ bezeichnet, die – um das „l´enigme europeen zentral“ zu lösen – „die eingeborenen mitteleuropas zu meerschaum“ schlagen und „nach stattgehabter denudation den ereignissen“ vorauseilen würden. Dabei erinnert das Wortspiel „sodaliten“ an das SoldatenSchicksal, das Arp ereilt hätte, wenn er in seiner Heimat geblieben wäre, sowie an seine Verwandlung in eine zugleich naturhafte wie auch künstlerische Gestalt unter den Bedingungen des Exils. Die Begriffe „schneeberger“ und „drückethäler“ spielen sodann mit einem Chiasmus der Worte „Drückeberger“ und

65 Der Begriff „Gewächse“ als Selbstbezeichnung Arps für seine eigenen Werke ist nachweisbar z.B. in einem Brief an Tzara vom 09.09.1921; zitiert in: Schrott (1992), S. 279.

176 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

„Schneethäler“, wobei das eine einen landläufigen Ausdruck für Fahnenflüchtige und Deserteure, das andere das Ziel ihrer Fluchtbewegung darstellt. Der Verweis auf das Zu-Meerschaum-Schlagen der „eingeborenen mitteleuropas“ sowie die abschließende Formel „always the best man wins“ preist die Flüchtlinge halb ironisch, halb ernst als die wahren Gewinner des stochastischen Kriegsspiels in der Mitte Europas, die mit ihrer Flucht, der „stattgehabten denudation“, ihrem Überlebens-Erfolg frühzeitig „vorausgeeilt“ wären. Späteren Äußerungen über die Zeit des Ersten Weltkriegs ist zu entnehmen, dass Arp, ähnlich wie die Surrealisten, wohl schon früh einen inneren Zusammenhang zwischen dem politisch-sozialen Leben der Vorkriegszeit und dem Ausbruch des Kriegs gesehen hat, der – als Gegenwehr – eben auch die Entwicklung einer neuen Kunst- bzw. Lebenspraxis auf den Plan gerufen habe. In diesen Erinnerungen wird die Vorkriegszeit als eine Zeit, die von Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus geprägt war, gekennzeichnet und bezeichnet damit Zeitumstände, die direkt für die Entstehung des Krieges verantwortlich zu machen seien. Darüber hinaus werden bestimmte Elemente des technischen Fortschritts, den Arp ja generell, wie gesehen, schon für die „Normalorganisation“ des zivilen Lebens als prägend aufgefasst hat, für die grausamen Wirkungen des Kriegs, zu denen er vor allem Bomben- und Gaskrieg, Fanatismus und Massenmord zählt, verantwortlich gemacht. Im Kontext der Frage nach der Entstehung Dadas im Züricher Exil heißt es in der Sammlung „Unsern täglichen Traum“ (zuerst erschienen 1955) an den betreffenden Stellen: Dada war gegen die Trompeten, die Fahnen und das Geld, mit denen immer wieder Millionenmorde auf den Feldern der Ehre veranstaltet werden. Dada war gegen den Fortschritt, der aus dem Menschen einen nichtigen Knopf an einer sinnlosen Maschine macht. [...]. Als ich Richard Huelsenbeck kennenlernte, war er einer Welt des eitlen Fortschritts, einer Welt der diabolischen Künste entflohen. Entfärbten Tagen und Nächten war er entflohen, in denen alte Freudenmädchen mit grasgrünem Haar auf Aaslippen und Lustgewieher lauerten und in knochenumzäumten Ebenen behelmte Blutegel vor ordengeschmückten Vogelscheuchen Parademarsch übten. Türme von Schnauzen kommandierten. Als der Fortschritt und die Erfindungen zu dröhnen und zu donnern anfingen, als künstliche giftige Himmel zu zerplatzen begannen, schrieb Huelsenbeck die „Phantastischen Gebete“. Huelsenbeck hat in diesen Gedichten den höllischen Spuk der irdischen Verwirrung, Unordnung, Eitelkeit, Dummheit in einem anschaulichen Größenverhältnis dargestellt, welches den unfaßbaren Irrsinn des unmenschlichen Treibens sinnfällig zu überblicken erlaubt. [...]. Wahnsinn und Mord wetteiferten miteinander, als Dada 1916 in Zürich aus dem Urgrund emporstieg. Die Menschen, die nicht unmittelbar an der ungeheuerlichen Raserei des

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 177

Weltkrieges beteiligt waren, taten so, als begriffen sie nicht, was um sie her vorging. Wie verirrte Lämmer blickten sie aus glasigen Augen in die Welt. Dada wollte die Menschen aus ihrer jämmerlichen Ohnmacht aufschrecken. Dada verabscheute die Resignation. [...]. Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkriegs 1914, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, lebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollten. Wir spürten, daß Banditen aufstehen würden, denen in ihrer Machtbesessenheit selbst die Kunst dazu diene, Menschen zu verdummen. [...]. Wir vergaßen auf Augenblicke die qualmende Sinnlosigkeit brütender Trümmerwelt des Krieges.66

Zeitlich weit vorangegangen waren dieser Erinnerungsliteratur, die wie gesehen erst spät zu lesen waren, einige von Arps eigenen Gedichten, die schon wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben und veröffentlicht wurden. Der Zeit im Zürcher Exil hat Arp in einem Gedicht chiffrenartig verschlüsselten Ausdruck verschafft, das in der ersten Fassung noch den bezeichnenden Titel „Die Hasenkaserne“ trug und seit seiner Aufnahme in die „Gesammelten Gedichte“ mit „Unwesen und Treiben verwirrter Engel“ überschrieben ist. Hier ist – in sicherlich identifikatorischer Diktion – von den „fahnenflüchtigen engeln“ die Rede, von ihren rebellischen lebenspraktischen und literarisch-künstlerischen Taten im Zeichen einer „Flucht aus der Zeit“ (Hugo Ball) des unseligen Ersten Weltkriegs, die – wohl apologetisch resümierend – damit gekennzeichnet werden, dass sie der „unendlichkeit“ regelhaft „eine nasenlänge“ voraus wären: die fahnenflüchtigen engel summen wie schnee willkommen in der neuen welt wie durch fässer ohne boden springen sie strahlend der länge nach einer durch den andern zersägen die blitze auf dem sägebock befreien die gefesselten blumen und werfen die steine in das meer die steine klammern sich verzweifelt an ihre lunge wie die schiffbrüchigen silben an die blätter der grünen addition hinter einer barrikade von liederbüchern rufen die engel trumpf nehmen sich bei den behandschuhten händen

66 Vgl. Hans Arp (1955/21995), S. 41, 22, 20, 51 und 24.

178 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

schlafen auf vierbeinigen flüssigkeiten ein und verwandeln sich in einen kreisrunden seelenlappen der eine nasenlänge über die unendlichkeit hinausragt und sich im atheistischen schürboden als körper ohne namen vorstellt67

Die Kritik am Krieg selbst wird hingegen in anderen Texten deutlich, beispielhaft in den (Prosa-)Gedichten „eitel ist sein scheitel“ und „jetzt wißt ihr warum“. Beide Texte sind im Rahmen von Arps Gedichtsammlung „Die Wolkenpumpe“ (1920) erstmals erschienen und folgen, wie die anderen Textexemplare der Sammlung, im Großen und Ganzen dem Kalkül der automatischen Dichtung des Surrealismus, wie sie intertextuell zur selben Zeit in Frankreich von Breton und Soupault in deren „Magnetischen Feldern“ (1919) zum ersten Mal entwickelt worden ist. Intermedial erinnern sie in Motivik und Montagestil, wie noch auszuführen ist, an andere, ebenfalls als (proto-)surrealistisch einzustufende Werke, nämlich an die ebenfalls zeitgleich entstandenen Antikriegscollagen Max Ernsts. Arps Freund hatte in seinen Werken den albtraumhaften Schrecken des Kriegs dergestalt inszeniert, dass er die Abbildungen schemenhafter oder auch puppenartiger Körper und Körperteile collagenartig mit den Abbildungen zeitgenössischer Kriegswaffen sowie den grausamen Folgen, die von ihnen während des Ersten Weltkriegs ausgingen, zusammenfügte. Zeittypischerweise war es hierbei natürlich die zivile und militärische Luftfahrt als der zeitgenössisch am weitesten fortgeschrittenen Verkehrs- und Kriegstechnik, die das eigentliche Motiv- und Bilderarsenal an motivisch dargestellter Waffentechnik abgibt. So ist es zu erklären, dass die Collagen generell durch die katachrestische Montage von Körper- mit Flugzeugteilen geprägt sind, die auf metonymische Weise den Zusammenhang einer Verletzung, Verkrüppelung und Vernichtung von Menschenkörpern mit der Eigenart moderner militärischer Flugzeugtechnik (Flieger, Bomben, Explosionen) ins Bild setzen. Perspektivisch gesehen zeichnen sie sich darüber hinaus dadurch aus, den Eindruck zu erzeugen, als ob der Blick in ein durch die Kriegsgeschehen traumatisiertes Bewusstsein offengelegt würde, das sich dabei beobachtet, schutzlos den grausamen Zielen, Mitteln und generell streng kalkulierten, konkret unvorhersehbar-zufälligen Wirkungen des Kriegs auf den Einzelnen ausgeliefert zu sein (vgl. Ernsts „Fotocollage ohne Titel“, 1920; „Die Flamingi“, 1920; „Die chinesische Nachtigall“, 1920; „Das Massaker der Unschuldigen“, 1920; „Santa Conversazione“, 1921; „Die Anatomie“, 1921).

67 Hans Arp: Die Hasenkaserne/Unwesen und Treiben verwirrter Engel (1923, 1925/ 1927), in: ders. (1963), S. 154f.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

Abbildung 61: Max Ernst: „Santa Conversazione“ (1921)

Abbildung 62: Max Ernst: „Die chinesische Nachtigall“ (1920)

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 179

180 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 63: Max Ernst: „Das Massaker der Unschuldigen“ (1920)

In intermedial vergleichbarer Weise rührt der suggestive Eindruck, den Arps Text „eitel ist sein scheitel“ ausstrahlt, daher, dass er mit seinen sprachlichen Mitteln ebenfalls im Stande ist, den Gestus eines durch den Krieg traumatisierten und ich-gespaltenen Bewusstseins zu erzeugen. Diese Ich-Spaltung wird zuvorderst durch die Sprecherperspektive deutlich, die sich zwar auf der sprachlichen Oberfläche als Er-Perspektive, die über einen Dritten spricht, gibt, die man sich aber offenbar als ein Ich vorstellen muss, das über sich selbst in der dritten Person Singular redet. Der Redegestus eines solchermaßen Traumatisierten wird wiederum durch den Schreibduktus hervorgerufen: Der Leser/Hörer hat einen gleichsam automatischen Redefluss vor sich, der ohne Interpunktion und Majuskeln wiedergegeben ist, und sich damit als das gebrochene Spiegelbild eines in seinem Innersten verletzten Gedankenstroms offenbart. Der Inhalt dieses Bewusstseinsstroms ist zum einen, wie bei jedem traumatisierten Rededuktus, schwer nachzuvollziehen, da vollgespickt mit Brüchen auf syntaktischer und semantischer Ebene. Zum anderen deuten aber bestimmte Wiederholungen auf lexikalischem Gebiet die Richtung an, um die die Gedanken des belauschten Bewusstseins kreisen. Offensichtlich geht es um Krieg, den Ersten Weltkrieg der Grabenkämpfe und Materialschlachten, wie es bestimmte Schlüsselwörter zeigen („kanonenboote“, „wachsgarderobe wettergarbegeläute“), dann um den NichtWillen zum Kämpfen-Müssen („und wenn einer nicht will ist einer da der will und muß und wieder kann und möchte“), schließlich um den Tod der Kameraden

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 181

und der eigenen Person: „muß er sterben samt seinem kern und chor und einzelvox“ bzw. „münzt in kleinen kesseln sein blut und bespritzt mit sternen die eckige nacht“. Wie diesem Sprachmaterial unschwer abzulesen ist, wird damit auch in Arps Text, intermedial analog zu Ernst Bildcollagen, eine Katachrese von soldatischem Menschenkörper („eitel war sein scheitel“), Kriegsvehikel („kanonenboote“) und Schlacht inszeniert, die als traumatisierend für alle Beteiligten gekennzeichnet wird: eitel ist sein scheitel und sinn trägt berge und glanz darin am morgenroten am kanonenbooten muß er sterben samt seinem kern und chor und einzelvox und klopft mit den stimmgabeln an die dürren stollen seiner leiber nachtzitzen und münzt in kleinen kesseln sein blut und bespritzt mit sternen die eckige nacht ja wachsgarderobe wettergarbegeläute und wenn einer nicht will ist einer da der will und muß und wieder kann und möchte und die gläser bis zum rande vollstreicht und lacht und den anderen weder fühlt noch riecht darum bewegen sich die wiegen im galopp68

Von einer ähnlich traumatisierenden Erfahrung des Kriegs scheint auch Arps zweiter Text „jetzt wißt ihr warum“ auszugehen, auch wenn diesmal die Perspektive eines eher distanzierten Beobachters eingenommen wird, der voller Sarkasmus mit den bedrückenden Erscheinungen des Kriegs abrechnet. Die Rede des lyrischen Sprechers besteht aus lediglich einem Satz, wobei auf dem einleitenden Hauptsatz „jetzt wißt ihr“ ein Gefüge von elf gleichgebauten Nebensätzen folgt, die alle mit der kausalen Konjunktion „warum“ beginnen und (in der Regel) durch einen Zeilenneubeginn markiert werden. Suggeriert die Logik dieser Satzform damit so etwas wie einen möglichen Erklärungs- und Begründungshorizont des thematisierten Geschehens, so wird dieser Eindruck auf der semantischen Ebene völlig ad absurdum und ins groteske Gegenteil überführt. Denn einzelne Wendungen zeigen sich inhaltlich geprägt durch eine grotesk katachrestische Verbindung von Bildern der Natur, des Menschen und der Zivilisation mit zerstörerischen Bildern des Feuers, des Rauchs und der Asche, die, so muss man aus der ersten Zeile wohl folgern („mitternachtsafter mit einem fernrohr im maul“, „flammenwagen“), Resultate eines Kriegs, eben des von Arp als Autor unmittelbar erfahrenen Ersten Weltkriegs, darstellen. Darüber hinaus zeigen die Formulierungen gegen Schluss die dadaistische Reaktionsweise auf das dargestellte Geschehen: Die Ablehnung gegenüber jeder Art der Kriegsbejahung und Kriegsbegeisterung (den „schlangen“, die „leise riefen o cécile wie schön ist die welt“), das Erschüttertsein im Innersten („dass wasserzeichen in uns erzit-

68 Hans Arp: eitel ist sein scheitel (1920), in: ders. (1963), 74.

182 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

terte“), das Anzetteln eigener, grotesk-unsinniger Gegenaktionen („warum wir den Schimmel im Trikot pfiffen“), schließlich die Hoffnung auf die Rückkehr des ,wahren Menschen‘: „die hasenuhr die wiederkehr des menschenmachers meldete“. Mit der Inszenierung eines Widerspruchs zwischen syntaktischer Form und semantischem Inhalt, kausallogischer Struktur und begrifflichem Widersinn erreicht der Gesamttext damit die Aussagewirkung, dass für Kriege, insbesondere für moderne Kriege nach Art des Ersten Weltkriegs, es keine rationale Begründung oder Legitimation geben kann, auch und gerade entgegen aller verbrämenden Rhetorik, die mit den Formulierungen des Textes wohl konnotativ gemeint sind: jetzt wißt ihr warum der mitternachtsafter mit einem fernrohr im maul in unserem blut zu trommeln anfing warum die lerchen zigarren rauchten warum die dochte der pflanzen leuchteten warum die schwefelberge und schwefelflöhe mit lodernden inschriftsbändern flammenwagen voll aschestädten und glimmenden zundersäulen rauchend aus dem wein emporstiegen warum brennende lampen in koffern verschickt wurden warum greise brennende kerzen auf der zunge trugen warum die kinder eine brennende laterne in ihrem bart trugen warum die schlangen leise riefen o cécile wie schön ist die welt warum wir dem schimmel im tricot pfiffen warum das wasserzeichen in uns erzitterte warum die hasenuhr die wiederkehr des menschenmachers meldete69

Es bleibt zu konstatieren, dass Arps Gedichte offensichtlich schon in ihrer – in der Regel als „dadaistisch“ bezeichneten – Frühzeit Parallelen mit den (alb-) traumhaften Texten und Bildern des Prä- und Proto-Surrealismus eines Breton oder Ernst offenbaren. Intertextuell handelt es sich um die Orientierung an der Traumlogik, wie sie schon in Bretons/Soupaults „Magnetischen Feldern“ zu finden ist, darin vorausweisend den Texten des späteren offiziellen Surrealismus der zwanziger Jahre. Intermedial ist der Vergleich mit Ernsts Bildern zum Ersten Weltkrieg aufschlussreich: Prägend auf motivischer wie strukturell-funktionaler Ebene für beide ist die – wiederum einer Art Traumlogik folgenden – Konfusion von Körperteilen und Kriegsgerätschaften, von Bombenexplosionen und den

69 Hans Arp: jetzt wißt ihr warum (1920), in: ders. (1963), S. 56.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 183

durch sie ausgelösten Folgen an Verletzungen, Verstümmelungen und Tod. Im Sinne literarisch-künstlerischer Mittel ist die Handhabung von Katachresen in Wort und Bild für die eindrückliche Wirkung einer rätselhaften und zugleich zwingend-überzeugenden Mischung aus Notwendigkeit und Zufall verantwortlich, die von diesen Werken ausgeht. Als Verbindung von Körper und Karosserieteilen, Bomben und Explosionen (bei Ernst), von „scheitel“, „kanonenboot“ und „blut gespritzt“, von „flammenwagen“, „aschestädte“ und „zundersäulen“ bei Arp: die Begegnung des – in diesem Fall wohl sicherlich scheinbar – Zufälligem auf dem „Seziertisch“ (Lautréamont) einer Text- (Arp) bzw. Bild-Collage (Ernst) führt in symptomatischer Korrespondenz von Inhalt und Form den Krieg als ein grausames und Schrecken erzeugendes Geschehen vor. Die Text- und Bild-Collagen erweisen sich damit als Spiegelbilder von unter Kriegseinwirkungen definitiv zerbrochenen Körpern und Bewusstseinen, die den Spielraum des „objektiven Zufalls“ (Breton) im schlechtesten Sinne seiner vielen Wortbedeutungen reflektieren.

Abbildung 64: Max Ernst: „Die Anatomie“ (1921)

184 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Spanischer Bürgerkrieg und Zweiter Weltkrieg – „Der große Sadist“ und die surrealistische Antikriegskunst Ähnlich wie im Falle des Ersten Weltkriegs finden sich auch bei der Auseinandersetzung Arps mit dem großen Nachfolgekrieg Parallelen zwischen seiner eigenen Dichtung und der Bildkunst des Surrealismus. Als Kriegsgegner und Avantgardist, der, politisch-kulturell gesehen, seit Mitte der zwanziger Jahre in Paris in einer Art freiwilligem (Dauer-)Exil von Deutschland lebte, fühlte sich Arp seit der Machtergreifung Hitlers und der NS-Partei im Jahre 1933 auch persönlich bedroht und verfolgt.70 Schließlich musste er ja, wie viele andere progressive Literaten und Künstler auch, davon ausgehen, auf der „Schwarzen Liste“ unliebsamer Künstler im Dritten Reich gelandet zu sein, und befürchtete entsprechend Repressalien nicht nur für seine Dichtung und Kunst, sondern erst Recht für Leib und Leben, sollte man seiner habhaft werden. Die Beschimpfungen als „surrealistischer Feigling“, die sich Arp – zusammen mit Ernst – von dem amerikanischen Dichter Ezra Pound, der zeitgenössisch dem italienischen Faschismus huldigte, Mitte der dreißiger Jahre (1936) öffentlich gefallen lassen musste71, haben sicherlich dieses Gefühl der Verunsicherung und Verfolgung nur bestärken können. Beredten Ausdruck seiner Gefühlslage bildete sein aus Zeitungspapier gefertigtes „Objekt“ mit dem Titel „Mutilé et apatride“ („Verwundet und heimatlos“), das ebenfalls 1936 in der surrealistischen Zeitschrift „Minotaure“ erschien. Und das Schicksal, das den Gemälden seines Freundes Ernst im Rahmen der Münchener Ausstellung über „Entartete Kunst“ ein Jahr später im Jahre 1937 widerfahren war, nämlich vor aller Welt als Beispiel des „Kulturbolschewismus“ an den Pranger gestellt zu werden72, war ihm sicherlich bekannt. Schließlich soll ja auch mindestens eines seiner Gemälde für den „Scheiterhaufen“ requiriert worden sein.73 Und auch eine Reise ins „Dritte Reich“, die er trotz eigener Gefährdung ebenfalls in dieser Zeit unternahm, um die Möglichkeit der Rettung befreundeter Künstler und deren Kunstwerke vor Ort auszuloten74, hat seine Gesamteinschätzung gegenüber den herrschenden Verhältnissen in Deutschland wohl nochmals bestätigt. Ein literarischer Abglanz dessen findet sich offenbar in dem Prosage-

70 Vgl. die Angaben bei Ströh (1986), bes. S. 292-294. 71 Vgl. Pound (1936/1995), S. 421. 72 Vgl. dazu Spies (1971/22000). S. 7-9. 73 So nach Angaben von Schrott (1988), S. 114; vgl. dort auch den Verweis auf die unveröffentlichten Memoiren von Alfred Vagts. 74 Vgl. Mair (1998), bes. S. 162-164.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 185

dicht „Dem lautlosen Blau entgegen“ (zuerst 1951 veröffentlicht), vorausgesetzt man kann die Sprachbilder von „Peitschen“, „prahlerischen Fahnen“ und „zerplatzenden Säcken“ entsprechend national- und zeitpolitisch gemeint lesen: Endlich darf ich dieses lärmende Land verlassen. Unzählige Peitschen knallen, bald vereinzelt, bald zugleich. Sie knallen Tag und Nacht. Ein starker Wind weht andauernd und läßt die Fahnen und Fähnchen des Landes, auf denen windbewegte Fahnen und Fähnchen abgebildet sind, prahlerisch knattern. Dazu kommt noch die eigentümliche Sitte, unaufhörlich riesige, mit Luft prall aufgeblasene Säcke zum Zerplatzen zu bringen. Mit widerlichem, knallendem Schmatzen entlädt sich die Luft aus den zu Fetzen zerreißenden Säcken. Wie bin ich nur in dieses kindische, lärmende Land gekommen? Beim Überschreiten der Landesgrenze werde ich mit grimmig vorgetragenen, einfältigen Liedern verabschiedet. Ich eile fort. Ich ziehe in die Ferne, dem lautlosen Blau entgegen, nach dem ich mich krank sehne.75

In seinem späteren und wohl wichtigsten Antikriegstext hat Arp Motive und Verfahren des Surrealismus aufgenommen, um seinem entschiedenen Protest gegen NS-Herrschaft und den durch sie ausgelösten Zweiten Weltkrieg auszudrücken, Es handelt sich hierbei um das im Original französischsprachige Prosagedicht „Le grand sadique à tout casser“, das 1942, mit einer Zeichnung von Maurice Henry versehen, in „La conquête du monde par l’image“ (Éditions de la Main à Plume, Paris) erschien.76 Schon der Titel lässt anklingen, dass Arp, wie sich in der Figur des „Sadisten“ kundtut, offenbar die Verhältnisse in Deutschland im zivilen Leben wie erst Recht in Kriegszeiten als Verhältnisse begreift, die wohl nicht mehr mit Begriffen der „Normalorganisation“ zu fassen sind. Die Überschreitung von Normalitätsgrenzen, die sich hierin äußert, ist aber auch keine, wie sie dem Surrealismus und anderen Avantgardebewegungen vorschwebte, sondern eine, die als eine Proto- oder Anti-Normalität im Zeichen von Leid, Schrecken und Tod steht und darin alle Rahmensetzung der Normalität frenetisch-gewaltsam sprengt. Der Blick auf die zivile „Normalorganisation“ des modernen, alltäglichen Subjekts und auf die Kriegsopfer des Ersten Weltkriegs, wie sie die bisher behandelten Texte Arps in der Symbolik des „einfachen Manns“ prägte, wird damit um einen Blick auf das Herrscherpersonal faschistischer Regime erweitert. In der deutschen Übersetzung, die im Rahmen der Sammlung „Das surrealistische Gedicht“ veröffentlicht wurde, heißt es dazu im Einzelnen unter dem Titel „Der große Sadist mit allen Schikanen“:

75 Hans Arp: Dem lautlosen Blau entgegen (1951), in: ders. (1974), S. 113. 76 Vgl. Jean Arp: Le grand sadique à tout casser (1942), in: ders. (1966), S. 179f.

186 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Der große Sadist mit allen Schikanen Von seinem riesigen Fenster, hoch wie ein Kathedralenfenster, bebt der große Sadist mit allen Schikanen wie ein elektrischer Darm, der gefüllt ist mit Nichtsgummi. Der große Sadist mit allen Schikanen ist splitternackt und mit Phosphor bestrichen, was ihn dekorativ und schauerlich macht. Sowohl seine Augen als auch sein langes Frauenhaar sind weiß wie gestriegelte Luft. Sein Antlitz ist stolz und erbarmungslos wie bei allen echten, stilisierten, patentierten großen Sadisten, die Anspruch auf eine Staatsrente haben. Der große Sadist mit allen Schikanen verschmäht es, seine parfümierte Zeit mit verblichenem Gras zu verzehren, die rosaweißen Handschuhe derer zu tragen, die ihr Lösegeld in einer Sänfte aus verdorbenem Licht transportieren. Er bebt wie ein elektrischer Darm, der gefüllt ist mit Nichtsgummi, wie ich sagte, und ich sage es nochmals und werde es so oft, wie es nötig ist, sagen. Er ist begierig, mit seiner Beschäftigung fortzufahren, die ernst oder otto ist – oder wie Sie sie nennen wollen. Schon treffen seine Domestiken mit Krokodilen, Großmüttern, Dandies, Flugzeugen, Fliegen etc. ein und stellen das alles vor dem großen Fenster ab. Voll teuflischem, bezahltem Ungestüm, mit dem Freudengeheul eines fensterstürzlerischen Tirolers, der um einen See aus altem Maschinenöl tanzt, stürzt er sich auf die zusammengetragenen Gegenstände und wirft sie aus dem majestätischen Fenster des herrschaftlichen Gebäudes. Es ist sein Lebensinhalt, alles Bestehende aus dem Fenster zu werfen. Ganze lebende Elefanten schmeißt er hinaus. „Coin, coin, coin“, flehen die tapferen, aber erschrockenen Elefanten. Der große Sadist mit allen Schikanen hält nicht inne in seinem ehrfurchtgebietenden Ungestüm. Alles, was seine Diener tot oder lebendig, süß oder salzig, schwer und leicht für ihn herschleppen, wirft er zum Fenster hinaus: Zigarren, Kriegsmaschinen, Wohnungen, Eisenbahnen, Milchkaffee, Sex-Appeals, Häuser, Pilze etc. Das Fenster liegt so hoch, daß alle Gegenstände sich nach ihrem Sturz in Apfelsinenmarmelade verwandeln, die wie von einem Fliegenschwarm von Milliarden kleinen Kindern mit ihren kleinen Mündern aufgeleckt wird. Die kleinen Kinder klatschen fröhlich in ihre kleinen Hände und schreien „Marmelade, Marmelade, Marmelade“ zum Fenster des großen Sadisten mit allen Schikanen hinauf. Und pausenlos wirft er mit aller Kraft Klaviere, Zeppeline, Denkmäler, Diplomaten etc. aus dem Fenster. Er hat Schaum vor dem Mund, er schwitzt, er knirscht mit den Zähnen und ist sich darüber im Klaren, daß er sich selbst übertreffen und seinem bereits unfaßbaren Werk die Krone aufsetzen muß. Da er nichts mehr zur Hand hat, reißt er sich seine weißen Haare, seine Hände und Füße aus, schmeißt sie zum Fenster hinaus und wirft schließlich auch noch, einen gräßlichen Schrei ausstoßend, all das aus dem Fenster, was von ihm noch übrig ist, wobei er sich nach sei-

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 187

nem Sturz zur großen Freude der Milliarden kleinen Kinder wie alle anderen Gegenstände in Apfelsinenmarmelade verwandelt.77

Abbildung 65: Screenshot aus Louis Buñuel/Salvador Dalí: „Das Goldene Zeitalter“/ „L’Age d’or“ (1930)

Vergleicht man diesen Text Arps mit dem zeitgenössischen Bilderreservoir surrealistischer Malerei und Kunst, so zeigen sich eine ganze Reihe motivischer, struktureller und inhaltlicher Parallelen. Grundierend hat wahrscheinlich Arps Erinnerung an eine bekannte Szene aus dem Film „Das Goldene Zeitalter“ („L’Age d’or“, 1930) von Louis Buñuel und Salvador Dalí gewirkt, den Arp offenbar gekannt hat und zu dessen Uraufführung Bilder von ihm und anderer Surrealisten ausgestellt wurden, die, wie die Filmaufführung selbst, schließlich Opfer rechtsextremer Ausschreitungen werden sollten.78 Wie in Arps Text handelt es sich um eine Fenstersturz-Szene, in der von einem Akteur wahllos Gegenstände aus dem offenen Fenster geworfen werden (im Film z.B. ein Pflug, eine Giraffe und ein Bischof). Die ganze Aktion besitzt aber im Film einen noch ganz

77 Hans Arp: Der große Sadist mit allen Schikanen (1942), zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Becker/Jaguer/Král (Hg., 2000), S. 50-52. 78 Vgl. dazu z.B. Gibson (1997/1998), S. 284-290.

188 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

unpolitischen Charakter (der Akteur ist weder Politiker noch Sadist im engeren Sinne), anders eben als in Arps Text. Dieser Prosatext, der mehr als zehn Jahre später unter noch ungleich schwierigeren politischen Verhältnissen entstanden ist, kombiniert nun offensichtlich das im Surrealismus schon vorgegebene Fenstersturz-Motiv (einschließlich der damit zusammenhängenden Vernichtung von Hausrat, Haus und Bewohner) mit der später im Surrealismus der dreißiger Jahre generell entwickelten Figur des großen, politischen Zerstörers und „Sadisten“, wie sie am deutlichsten in den bekannten Antikriegswerken Dalís, Ernsts und Picassos zu finden ist.

Abbildung 66: Salvador Dalí: „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen oder Vorahnung des Bürgerkriegs“ (1936)

Die Figur des großen Zerstörers steht schon in Dalís Werken zum Spanischen Bürgerkrieg im Mittelpunkt, vor allem in seinem Gemälde „Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen“, das im Nebentitel auch „Vorahnung des Bürgerkriegs“ (1936) heißt. Das Bild zeigt eine Figur, deren knöcherne Körperteile grausam wie zu einem grotesken Trapez ineinander verkeilt sind und über denen ein ebenso knöchernder Kopf grausig thront. Charakteristisch für die Gesamtlage dieser Figur ist sodann die extreme, wie besessen sich selbst strangulierende Spannung, die von der widerstrebenden Kraft ihrer eigenen Körperfragmente ausgeht: Eine knöcherne Hand krampft sich in eine wie fremd wirkende Brust,

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 189

ein ebenfalls knöcherner Fuß stemmt sich wiederum dagegen, während ihre Pendants apathisch darnieder liegen. Angesichts dieser verzweifelten Situation ist der Kopf, mit seinen geschlossenen Augen, dem geöffneten Mund und den schmerzverzerrten Gesichtszügen in den Nacken geworfen, Muskeln und Sehnen des Halses sind stark angespannt. Dalí selbst hat diese Szenerie des Grauens folgendermaßen beschrieben: In diesem Bild stellte ich einen riesigen menschlichen Körper dar, aus dem Arm-BeinWucherungen hervortraten, die wahnwitziger Selbststrangulation aneinander zerrten. Als Hintergrund dieser Architektur rasenden Fleisches, das eine narzißtische, biologische Katastrophe verzehrte, malte ich eine geologische Landschaft, die seit Tausenden von Jahren sinnlos „revoltioniert“ worden und nun aus heiterem Himmel erstarrt war.79

Die Grundrichtung, Fanatismus und Krieg in der Figur eines seine Umwelt und sich selbst frenetisch-mordenden Sadisten darzustellen, ist damit für Arp, wie sich später herausstellen sollte, vorgegeben.

Abbildung 67: Salvador Dalí: „Kannibalismus im Herbst“ (1936/1937)

Ähnlich hat Dalí auch auf weiteren Bildern, die im zeitlichen Umfeld der dreißiger und vierziger Jahre entstanden sind, den Schrecken des Kriegs ins Bild ge-

79 Dalí (1942/2004), S. 617.

190 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

fasst. „Kannibalismus im Herbst“ (1936/1937) zeigt zwei puppenartige Gestalten, die aus der sie umgebenden surrealen Landschaft gleichsam entwachsen sind und die sich gerade, engumschlungen, mit Messer und Gabel bewaffnet und die Gesichter bzw. Köpfe wie ineinandergeschoben, voller Wollust gegenseitig verspeisen wollen. Dalís Kommentar hierzu lautete: „Die iberischen Wesen, die sich im Herbst gegenseitig verschlingen, drücken das Pathos des Bürgerkriegs aus, aufgefaßt (von mir) als eine Erscheinung der Naturgeschichte, im Gegensatz zu Picasso, der ihn als politisches Phänomen auffaßte.“80

Abbildung 68: Salvador Dalí: „Das Gesicht des Krieges“ (1940/1941)

Das 1940 entstandene „Das Gesicht des Krieges“ ist schließlich als eine Allegorie auf jeden modernen Krieg, den Spanischen Bürgerkrieg wie auch den mit dem Entstehungsjahr schon tobenden Zweiten Weltkrieg zu verstehen. Es zeigt einen riesigen und medusenhaft grausigen Totenschädel, in dessen Augen- und Mundhöhlen wiederum Totenköpfe zu sehen sind und in denen sich dieses Spiel der ineinander verschachtelten Schädel nochmals und gleichsam ad infinitum wiederholt. Strategie und Resultat moderner Kriege werden mithin als exterministische Geschehen gekennzeichnet, die – ganz entgegen jeder noch normalen Kalkulation – die Anzahl der an Zerstörung und Selbstzerstörung Geopferten exponential ins Massenhafte und gleichsam Unendliche treiben. Dieses Gemälde bildet mithin den logischen Schlusspunkt von Dalís Kriegsanalyse der

80 Salvador Dalí zitiert nach Schneede (2006), S. 159.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 191

dreißiger und vierziger Jahre, die von der Darstellung jeden Kriegspathos als menschenfressender Lust an Vernichtung und Verspeisung des anderen („Kannibalismus im Herbst“) über die Einsicht in den Akt eines grotesken Selbstmords durch Selbststrangulation („Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen“) bis zur Erkenntnis der systematischen Produktion von Massenmord und Massentod („Das Gesicht des Krieges“) führte.

Abbildung 69: Max Ernst: „Der Hausengel“ („Triumph des Surrealismus“) (1937)

Max Ernsts Allegorie auf den Faschismus, die nach dem Sieg Francos im Spanischen Bürgerkrieg entstand und in mehreren, ähnlichen Versionen überliefert ist, zeigt sich mit „Der Hausengel“ (1937) betitelt, eine Bezeichnung, die wohl nur sarkastisch zu verstehen ist und eigentlich mit „Der Würgeengel“ zu ersetzen wäre. Vor einer flachen, fast konturlosen dunklen Landschaft und einem großen dunkel bewölkten Himmel hebt sich eine riesige, fast den gesamten Raum des Bildes einnehmende Gestalt ab, die mit einem Raubvogelkopf und einem menschenähnlichen Körperbau ausgestattet ist. Ihre Kleidung besteht aus weiten, teilweise zerschlissenen Tuchbahnen in vorwiegend braun-roter Tönung, was eventuell als Anspielung auf die bekannten Symbolfarben deutscher und anderer faschistischer Parteien und Organisationen zu verstehen ist. In der bekanntesten der drei überlieferten Versionen wird der „Hausengel“ zusätzlich von einer tierähnlichen Gestalt flankiert, dies übrigens ein Motiv, das Ernst schon in seinem grotesken Herrscher-Portrait „Der Löwe von Belfort“ (1933) verwendet hatte. Wie ein grausiges Hündchen bespringt diese zweite Gestalt seinen Herrn und Meister, was als Sinnbild der eigentlich inneren, sich aber nach außen kehrenden

192 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

animalischen Bestialität der Figur gelesen werden kann. Anschaulich wird diese Bestialität durch Mimik, Gestik und Handlung der Figur. Denn die dargestellte Szene zeigt sie im Moment höchster Rage: Ein Bein ist auf den Boden gestemmt, während das andere zum großen Aufstampfen ausholt, die Hände und Arme, mit spitzen Krallen bewehrt, sind nach oben gerissen, dagegen zeigen sich die Augen geschlossen, der Schnabel weit aufgerissen und der Kopf wie zum Angriff weit gesenkt. Bekannte sprachliche Wendungen wie die Rede vom grässlichen Antlitz des Krieges, vom Krieg, der sein grausames Haupt erhebt, oder vom Rufen des obersten Kriegers und dem Beispringen seiner Helfershelfer stellen sich unmittelbar ein. Die Zerstörungswut des „Hausengels“ scheint dabei so groß zu sein, dass sie gewissermaßen allen Lebenden im „Haus der Erde“ die „Engel singen hören“ lassen will. Max Ernst sprach in einem Selbstkommentar von „einer Art Trampeltier, das alles, was ihm in den Weg kommt, zerstört und vernichtet“. In der Allegorie dieses Haus- bzw. Würgeengels charakterisierte Ernst mithin den Faschismus als einen Menschentyp durchgedreht-wahnsinniger, grausam-gewalttätig-fanatischer A-Normalität und lieferte damit zusammen mit Dalís Bildern des großen (Selbst-)Zerstörers ein zentrales Symbol der Abrechnung des Surrealismus mit dem Faschismus, auf das eben auch Arp zurückgreifen sollte.

Abbildung 70: Pablo Picasso: „Guernica“ (1937)

Das berühmteste Gemälde nicht nur in diesem Zusammenhang, sondern überhaupt in der Auseinandersetzung mit Krieg und Faschismus stellt sicherlich Picassos „Guernica“ dar. Dieses Gemälde, das zuerst auf der Pariser Weltausstellung von 1937 als Beitrag des republikanischen Spanien zu sehen war, entstand als Reaktion auf einen Angriff, der auf die kleine baskische Stadt gleichen Namens durchgeführt wurde, und zwar während des Spanischen Bürgerkriegs in

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 193

einer Gemeinschaftsaktion Francos mit Hitler und unter Führung der deutschen Luft-Legion „Condor“. Das Opfer dieses Luftangriffs, dessen Bombenteppich auf die Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus weisen sollte, bildete die zivile Bevölkerung der Stadt, die auf dem Marktplatz versammelt war. Picassos Gestaltung des Ereignisses versteht sich als eindringliche Erinnerung und Warnung vor einem Kriegsereignis wie diesem. Der kompositorische Grundriss besteht aus einem flachen, stumpfwinkligen Dreieck, der dem Bild einen triptychonartigen Charakter verleiht. Die schwarzen, grauen und weißen Töne, in denen das Bild gehalten ist, tauchen die dargestellte Szene in den überreal fahl wirkenden Schein eines schockierenden Augenblicks und erwecken zugleich den Eindruck an ein traumatisches Erinnerungsbild im Kopf von Opfern und Betrachtern. Die für das Grauen Verantwortlichen („Sadisten“) erscheinen nicht im Bild, lediglich in der Mitte oben befindet sich ein ovales Gebilde, das als eine als Glühbirne versinnbildlichte Bombe lesbar ist und den Ort des Geschehens gleichsam von oben und innen explodieren lässt. Unterhalb dessen setzt Picasso, einer schaurigen Pietà des 20. Jahrhunderts gleich, eine Gruppe von Figuren in Szene, die aufgrund des über ihnen sich ausbreitenden Geschehens in Schrecken und Panik versetzt sind. Auch ihre Körper erscheinen, ähnlich wie auf den schon thematisierten Kriegsdarstellungen Ernsts und Dalís, disparat zusammen montiert und durch Verfahren wie Dehnung, Stauchung, Verrenkung und Zerreißen verfremdet. In der Bildmitte befindet sich ein tödlich getroffenes, apokalyptisches Pferd mit hoch gerecktem Hals und verzerrtem Kopf als Symbol des kreatürlichen Leidens überhaupt. Vor ihm am Boden liegt sein Reiter mit offenem Mund und verdrehten Augen, Körper und Schwert zerbrochen wie bei einer hingeworfenen Puppe. Der Blick des Pferdes ist auf einen kubistisch gestalteten Stierkopf gerichtet, der als Allegorie des Betrachters und Beobachters gemeint sein könnte und dessen Ausdruck merkwürdig zwischen Unerschütterlichkeit, Gleichgültigkeit und Demütigung schwankt. Auf seiner rechten Seite stürzen zwei Frauen heran, eine davon hält eine Kerze über den Kopf, um die furchtbare Szene zu beleuchten, die andere ist in grelles Licht getaucht. Und auch die Seitenränder des Bildes sind mit Frauen besetzt: ganz links findet sich eine, die in ihren klagenden Armen ein totes Kind hält, ganz rechts eine andere, die gegen den Himmel aufschreit und zusammenbricht, während sie ihre Hände in die Höhe erhebt. Ob und inwieweit Arp die motivgeschichtlich parallelen Werke Dalís, Ernsts und Picassos vor Abfassung seines Textes über den „Großen Sadisten“ gekannt hat, ist nicht genau auszumachen. Überliefert ist immerhin eine Aussage über Picasso, die etwas später, 1948, publiziert wurde und die auf Picassos „Guernica“ oder verwandte Gemälde gemünzt sein könnte. In ihr heißt es, Picassos Bilder

194 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

würden „dem Menschen“ einen „Spiegel vorhalten“, „damit der Mensch seine Häßlichkeit erkenne, seinen zerfallenen Kotgeist, seine Massenmordschnauze, seine foltergeilen Maulwurfgrillenkrallen, seine blasphemisch verdrehte Wurstseele, die ihm aus den Augen hängt wie giftgefüllte Schläuche.“81 Aber gleichwie genau Arps Kenntnis und Wissen auch gewesen sein mögen, sicher ist wohl auf jeden Fall, dass für ihn eben nicht, wie bei seinen surrealistischen Vorgängern, der Spanische Bürgerkrieg den eigentlichen Bezugspunkt der Darstellung bildete, sondern der zeitlich darauffolgende Weltkrieg, genauer gesagt das Jahr 1942 als das Jahr, der den Höhepunkt politisch-militärischer Machtentfaltung der NS-Diktatur über Deutschland und einen Großteil Europas abgab. In Analogie zu seinen surrealistischen Freunden Ernst, Dalí und wohl noch Brauner (vgl. dessen „Hitler“, 1934) präsentiert auch Arps poetische Gestaltung eine markante Personifikation von Faschismus und Krieg. Gemeint ist dabei natürlich in vorderster Linie Hitler selbst „Führer“ des NS-Staats, erkennbar daran, dass der die zentrale Figur als Staatsdiener (er hat „Anspruch auf Staatsrente“) und als „Tiroler“ (mit Bezug auf die österreichische Herkunft des deutschen Reichskanzlers) gekennzeichnet wird und darüber hinaus auf die schon zeitgenössisch bekannte finanzielle Unterstützung Hitlers durch die deutsche Wirtschaft und Industrie angespielt wird (die Gestalt agiert „voll teuflischem, bezahltem Ungestüm“ und „mit dem Freudengeheul eines fensterstürzlerischen Tirolers, der um einen See aus altem Maschinenöl tanzt“). Die Bezeichnung als „Sadist“ deutet sodann auf das Hauptcharakteristikum Hitlers im Verständnis Arps und vieler Antifaschisten, das heißt auf dessen Lust an brutal-grausamer, eben „sadistischer“ Zerstörung in politisch großem Maßstab. Daraus erklären sich wohl auch die weiteren Parallelen mit den schon zitierten Figuren von Arps Surrealistenfreunden, die aus der weiteren Beschreibung der Sadistenfigur durch Arp hervorgehen. Ähnlich wie Dalís Gestalt der „Weichen Konstruktion“ ist Arps Figur „splitternackt“, sind ihre „Augen“ und das „lange Frauenhaar“ „weiß wie gestriegelte Luft“, und ähnlich wie bei Victor Brauners „Hitler“ (1934) bestehen Gesicht und Körper aus einer Art Flickenteppich lädierter und gewissermaßen hineinoperierter Stellen. In Analogie zu Ernsts „Hausengel“ dominieren Mimik und Gestik eines Willens zur höchsten Destruktion, der bei Ernst ja, wie gesehen, durch die mit Händen und Füßen ausgedrückte Geste des Alles-mit-aller-Wucht-aufdie-Erde-niedersausen-Lassen zum Ausdruck kam. Über diese, bei seinen Malerfreunden anzutreffenden Kennzeichen hinaus steigert Arp den figürlichen Ausdruck aber noch weiter ins grotesk Unheimliche, Grauenhafte und Dämonische, so dass sie wie direkt aus einem Horror-Kabinett entsprungen erscheint. Denn in

81 Jean Arp: Reine Eilande (1949), in: ders. (1949), S. 18.

III.2 V ON DER „ GROSSEN S CHWEINEREI “

ZUM

„G ROSSEN S ADISTEN “ | 195

ihr erscheint auf schreckenerregender Weise Totes wieder lebendig geworden zu sein, grell leuchtend, brandstiftend und eigentlich substanzlos, wie sie eben beschrieben wird. Sie sei „dekorativ“ und „schauerlich“ mit „Phosphor“ bestrichen, ihr ständiges „Beben“ sei einem „elektrischen Darm“ gleich und eigentlich handele es sich bei ihr um ein „Nichtsgummi“, so lauten die entsprechenden Schlüsselwörter in Arps Text. Um den Bezug zur surrealistischen Kunst zu komplettieren, ist schließlich noch einmal daran zu erinnern, dass diese dämonische Figur, ähnlich wie in der genannten Szene aus Buñuels und Dalís Film „Das goldene Zeitalter“, vor einem „riesigen Fenster“ steht („hoch wie ein Kathedralenfenster“, wie es bei Arp heißt), was mit Handlungen und Handlungsfolgen verbunden ist, die symbolisch an Picassos „Guernica“ gemahnen. Denn der ganze Handlungsinhalt der Figur vor dem Fenster besteht offensichtlich in nichts anderem als darin, alles ihr in die Hände kommende durch einen großen Fenstersturz zu vernichten. Dazu raffen die „Domestiken“ der Figur alles zusammen, dessen sie habhaft werden können, und stellen dies vor dem großen Fenster ab. Arps Text führt einzelne Alltagsgegenstände wie „Milchkaffee“, „Zigarren“ und „Klaviere“ auf, dann einzelne Tierarten wie „Fliegen“, „Krokodile“ und die „coin, coin, coin“ flehenden und „tapferen, aber erschrockenen Elefanten“. Des Weiteren sind es besonders Gegenstände, die dem Bereich industrieller Technik sowie dem Bereich von Militär und Politik entstammen: „Wohnungen“ und „Häuser“, „Eisenbahnen“, „Flugzeuge“ und „Kriegsmarinen“, schließlich „Diplomaten“. Der große Sadist stürzt sich auf diese zusammengetragenen Gegenstände und wirft sie aus dem „majestätischen Fenster des herrschaftlichen Gebäudes“, die sich nach ihrem Sturz aus der Höhe groteskerweise in „Apfelsinenmarmelade“ (als Symbol der Vernichtung und des Chaos) verwandeln und „wie von einem Fliegenschwarm von Milliarden kleinen Kindern mit ihren kleinen Mündern aufgeleckt“ werden. Höhe- und Endpunkt des Geschehens bilden schließlich, wie bei Dalí, die eigene Selbstverstümmelung und Selbstzerfleischung des Sadisten sowie seine symbolische Verwesung und Auflösung ins Nichts: er hat Schaum vor dem Mund, er schwitzt, er knirscht mit den Zähnen und ist sich darüber im Klaren, daß er sich selbst übertreffen und seinem bereits unfaßbaren Werk die Krone aufsetzen muß. Da er nichts mehr zur Hand hat, reißt er sich seine weißen Haare, seine Hände und Füße aus, schmeißt sie zum Fenster hinaus und wirft schließlich auch noch, einen gräßlichen Schrei ausstoßend, all das zum Fenster, was von ihm übrig ist, wobei er sich nach seinem Sturz zur großen Freude der Milliarden kleinen Kinder wie alle anderen Gegenstände in Apfelsinenmarmelade verwandelt.

196 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Insgesamt ist Arp damit, so lässt sich über seinen Text und dessen Verhältnis zur bildenden Kunst resümieren, eine überzeugende allegorische Vision von Faschismus und Krieg im Medium der Schriftsprache gelungen, wie es seine Surrealistenfreunde Dalí, Ernst und Picasso ebenso eindrucksvoll im Medium der Malerei vorgemacht haben. Allen ihren Beiträgen ist gemeinsam, das sie mit der Figur des „Sadisten“ und der von ihm ausgehenden Folgewirkungen den Faschismus als den Prototyp einer Mord- und Selbstmordpolitik im Sinne einer frenetisch-durchgedrehten Proto- und Anti-Normalität brandmarken wollten.

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 197

III.3 „A MERIKA “ UND DIE „K ÖNIGE VOR DER S INTFLUT “ – S UPERMACHT -P OLITIK UND ATOMKRIEGSGEFAHR „Ich bin für die Atompilzzüchter sowieso verloren“ (HANS ARP)

Abbildung 71: Hans Arp: „Kaspar“ (1930)

198 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

„Amerika“ Als wesentlicher Faktor, der für die Entstehung sowohl von zivilem Normalleben als auch nicht mehr normalen Kriegsereignissen mitverantwortlich zu machen ist, galt nach Ansicht der Dadaisten wie auch Surrealisten jede Art von Staatsmacht. Zwar ist aufgrund der spärlichen Quellenlage Arps politische Haltung in den Zeitläufen von Erstem und Zweitem Weltkrieg, von Vor-, Zwischenund Nachkriegszeit nur schwer genauer zu beschreiben, immerhin ist bei ihm aber wohl eine Nähe zu linken, vielleicht auch linksradikalen und anarchistischen Tendenzen zu vermuten. Arps frühes, mehrdeutiges Gedicht „Weh unser guter Kaspar ist tot“ (entstanden um 1912, veröffentlicht 1920 in dem Gedichtband „Der Vogel selbdritt“)82 kann man vor diesem Hintergrund auch als eine satirische Elegie auf eine Verabschiedung des wilhelminischen Kaisertums, von König, Kirche und Kapital, verstehen, ähnlich wie schon in den Gedichten und Bildwerken der zwanziger Jahre immer wieder Spuren der Ablehnung von Macht und Krieg zu finden sind (vor allem in dem Gedichtband „Der Pyramidenrock“ von 192483, man denke aber auch an Arps Schnurrbart-Gemälde wie auch die bronzen-metallische, gleichsam militärisch behelmte Skulptur mit dem Titel „Kaspar“ von 1930). Daran anknüpfend gibt es Anzeichen, dass sich an dieser kritischen Haltung Arps auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten im Grunde nichts geändert hat und er auch hierin mit einer Grundeinstellung der Surrealisten konvergierte. Dazu muss man wohl historisch beachten, dass die beiden Weltkriege wie auch die sie umgebende Zeit, die eben für aufmerksame Beobachter wie eine Zeit der (neuerlichen) Kriegsvorbereitung erscheinen musste, per se eine große Skepsis gegenüber der frieden- und sicherheitsstiftenden Kraft staatlicher Ordnungen wecken musste. Dass diese Grundskepsis zumindest für Arp auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen blieb, zeigen Gedichttexte, die in den fünfziger und sechziger Jahren entstanden sind und zum einen die neue Supermacht der USA („Amerika“) und zum anderen die mit der neuen Weltlage global entstandene Atomkriegsgefahr („Könige vor der Sintflut“) zum Thema haben. Intermedial ist an ihnen interessant, dass sich auch bei ihnen Vergleiche zu den bildkünstlerischen Arbeiten anderer Surrealisten zum Themenkreis „Amerika“ und „Atomkriegsgefahr“ auftun (zu Breton, Duchamp und vor allem Dalí). Die seit dem Ersten Weltkrieg zur Weltmacht aufstrebende USA bildete schon bei den Surrealisten der Zwischenkriegszeit ein nicht unerhebliches The-

82 Hans Arp: Weh unser guter Kasper ist tot (1912/1920), in: ders. (1963), S. 25. 83 Vgl. z.B. Arp (1963), S. 79ff.

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 199

ma. Auch ex negativo, wie an einem bildkünstlerischen Beitrag deutlich wird, der programmatisch-surrealistischen „Weltkarte“ von 1929. Auf dieser verfremdeten geographischen Vermessung der Welt unter dem Gesichtspunkt surrealer kulturrevolutionärer Relevanz finden sich europäische Staaten wie „Russland“ und „Deutschland“ in überdimensionaler Größe dargestellt, während Großbritannien zu einem winzigen Flecken zusammengeschrumpft ist und Frankreich nur mehr aus seiner Kapitale „Paris“ als Hauptstadt der surrealistischen Bewegung besteht. Dieser Darstellungsweise ist die subversive Textstrategie zu entnehmen, die real amtierenden Weltmächte klein zu reden, während Regionen im Umbruch oder am Rand der vorherrschenden globalen Entwicklung symbolisch stark gemacht werden. Entsprechendes ist auch für die Darstellung der außereuropäischen Welt festzustellen. So ist auf dem amerikanischen Kontinent die USA nicht eingezeichnet. Lediglich eine mit großen Strichlinien markierte Leerstelle, umgeben von den vergrößerten Landmassen Alaskas, Mexikos und Labradors, bezeichnet den Ort des eigentlichen Kriegsgewinners von 1918.

Abbildung 72: Marcel Duchamp: „GenreAllegorie“ (1943)

200 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Während so die Surrealisten noch in der Zwischenkriegszeit glaubten, die zukünftige Supermacht geflissentlich übergehen zu können, änderte sich dies natürlich spätestens mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bildkünstlerische Beispiele hierfür bilden Duchamps „Genre-Allegorie“ (1943) sowie Dalís „Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen“ und „Die Poesie Amerikas“ (ebenfalls beide aus dem Jahr 1943). Duchamps Bild, dessen Titel „Genre-Allegorie“ wohl eher sarkastisch zu verstehen ist, griff bei seiner Behandlung der Thematik auf drei bekannte Embleme des US-Staats zurück, die er geschickt zu einem neuen, kritischen Symbol zusammenfügte: auf ein Portrait George Washingtons, den Umriss der Landkarte der Vereinigten Staaten sowie die Stars-and-Stripes der Nationalflagge. Dabei steht „Washington“ als erster Präsident des Landes für das politische System der USA, sein Kopf, der bekanntlich auch bestimmte Dollar-Noten ziert, zugleich für die wirtschaftliche Macht ihrer Ökonomie. Die auf die Seite gestellte Landkarte repräsentiert die territoriale Größe und Ausdehnung des Landes, die Nationalflagge steht für das große Gewicht des militärischen Macht-Komplexes. Sarkastisch persifliert werden diese Symbole durch die Auswahl und Behandlung der Materialien. Denn Duchamp wählte für die Darstellung der Nationalflagge, die das übereinander gelegte Kopfinnere Washingtons wie auch das Innere der Landkarte ausfüllt, einen mit goldenen Nägeln gehefteten, rot gefärbten, blutig erscheinenden Stoff. Die sogenannte „Genre-Allegorie“ liest sich so als ein unmissverständlicher Verweis auf die mit Gewalt verbundene Gründung und Geschichte der USA, und zwar als Dialektik von Verhüllen und Offenbaren in der Symbolik eines Kleidungsstücks: Unter den blutigen Schlieren des Kopf-Verbands, die die Stars-and-StripesLinien der Nationalflagge ersetzen, zeichnet sich das wahre Gesicht Washingtons und damit US-Amerikas ab, erst die groteske Verhüllung scheint mithin das wahre Antlitz der neuen Weltmacht zu offenbaren. Deutlicher noch als auf Duchamp bezieht sich Arps Auseinandersetzung auf die beiden genannten Gemälde Dalís. Ähnlich wie Duchamp demonstrierten auch sie die offenkundige surreale Wahrheit der neuen Supermacht, und zwar beide Male in der Art eines weltpolitischen Panoramas. In „Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen“ ist eine abgehärmte, nackte, junge Eva-Figur zu sehen, die als Symbol des kritischen Beobachters mit vielsagendem Gestus auf das Geschehen in der Mitte des Bildes deutet, wo das sich an ihren Beinen festklammernde Kleinkind, Symbol der Weltöffentlichkeit, aus einer Mischung aus Neugier, Vorsicht und Angst zu reagieren scheint. Im Zentrum befindet sich eine riesige Weltkugel, über der ein großes Laken als Allegorie des aktual-historischen Kairos unheilschwanger schwebt und aus deren Innerem sich mit aller Macht eine männliche Figur, der neue Adam, zwängt. Symbolischer-

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 201

weise befindet sich sein Kopf, der ebenfalls wie der größte Teil seines Körpers noch unter der Schale des Eis verborgen ist, auf der geographischen Höhe „Amerikas“, während die schon freie linke Hand in Richtung Europa ausgegriffen und sich dort tief eingegraben hat. Dass die Geburt der neuen Weltmacht nicht nur für Amerika selbst mit Schmerz und Leiden verbunden ist, wie die Qual des dargestellten Geburtsvorgangs deutlich macht, sondern auch für die übrige Welt Bedrohung und Gefahr bedeuten kann, versinnbildlicht das Blut, das zusammen mit dem neuen Adam in einem großen Tropfen aus dem Innern der Weltkugel herausdringt.

Abbildung 73: Salvador Dalí: „Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen“ (1943)

Im gleichen Jahr ist auch Dalís Bild „Die Poesie Amerikas – Die kosmischen Athleten“ (1943) entstanden. Auf ihm repräsentieren die beiden im Vordergrund befindlichen Haupt-Figuren in Sieger-Pose zusammen mit dem turmartigen Gebäude-Block im Hintergrund die aktual-historische Wahrheit Amerikas im Sinne des Surrealismus. Der monströse Turm mit Kugel-Dach, großer Wanduhr und daran stranguliertem, surrealen Objekt in Form eines erschlafften, tränenden Kontinents symbolisiert das neue politische, ökonomische und militärische Machtzentrum, nach deren Raum- und Zeit-Vorgaben sich die übrige Welt von nun an zu richten hat. Die überwältigende Macht US-Amerikas, die ihren gesellschaftlichen Akteuren bei all ihren Handlungen in der Welt gewissermaßen den Rücken stärkt und vor der die Weltbevölkerung zu kleinen isolierten Menschlein

202 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

zusammenschrumpft, gibt dem Globus eine neue, alles überragende räumliche und zeitliche Ausrichtung und Mitte. Gegenüber diesem Eindruck der gewaltigen Monstrosität sind die beiden Figuren im Vordergrund, eine Art clownesktragisches Dioskuren-Paar in der Art de Chiricos, wie eine Mischung aus Mimesis und Karikatur des amerikanischen Selbstverständnisses gestaltet. Ihre muskulösen Körper und die sportliche Kleidung weisen sie teils als eine Art RugbySpieler aus und dieser Verweis auf den Nationalsport der USA ist wiederum zu verstehen als Verweis auf typische amerikanische Werte wie Stärke, Durchsetzungskraft und Siegeswille unter Einsatz auch robuster physischer Mittel. Die große Stange, die ein nackter, sitzender Jüngling senkrecht auf dem Boden aufgestellt hat, wirkt in diesem Bildzusammenhang wie eine symbolische Messlatte für Prinzipien wie Leistungs- und Rekordsteigerung auf einer augenfällig eindimensionalen Wettkampf-Skala. Die dritte, kleinere Sieger-Figur, die aus dem Rücken einer der linken Hauptfiguren herauswächst und sich gewissermaßen an der symbolischen Messlatte hochschraubt, bildet darüber hinaus eine Allegorie der Allegorie, eine adamitische Meta-Allegorie des Dioskuren-Paars. In gymnastischer Überdehnung ihres Körpers jongliert sie mit in den Nacken geworfenem Kopf und ausgestrecktem Arm spielerisch leicht und schwerelos mit einer eiförmigen Kugel über ihrem Kopf auf gespreiztem Finger, so wie etwa die neue Weltmacht mit dem Globus spielen zu können meint. In der rechten Hauptfigur wird dieser Machtwillen aber zugleich von Dalí in surrealer Weise demaskiert. Denn statt Kopf und Gehirn sitzt eine hohle Nussschale mit einem kleinen Kerzenlicht in ihrem sichtbaren Innern auf ihren Schultern und an der Stelle von Armen und Händen befinden sich zwei amputierte Gliedstummel, aus deren Inneren wie bei ausgestopften Puppen Füllmaterial quillt. Aus dem Herzen der Figur, das noch dazu auf der falschen Körperseite zu schlagen scheint, rinnt ein schmaler Blutfaden, der auf dem Boden zu einem großen Klecks schwarzen Bluts zu Füßen der Figur aufgequollen und aufgedunsen ist. Das Symbol der Coca-Cola-Flasche, die in diesen Blutfluss eingesponnen ist, funktioniert in diesem Zusammenhang wie eine kritische Replik auf die Allegorie der kleinen SiegerFigur. Die Macht der USA wird als geist- und seelenlos hingestellt, vermittelt über eine übertrieben-emphatische Rhetorik der Selbstdarstellung und einen Imperialismus moderner Kulturindustrie. Dalí hat in einem Selbstkommentar dieses Bild als Hinweis auf die drei „großen Leidenschaften des amerikanischen Volkes“, die sarkastisch so bezeichnete „Poesie“ Amerikas, verstehen wollen – das Leben nach der „strengen, harten, mechanischen Uhr“ sowie die Liebe für „Mas-

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 203

saker an Unschuldigen“ und „Blutorgien.“84 Damit hat er wohl zugleich seinem Willen nach einer Warnung vor zukünftigen Kriegen Ausdruck verschafft.

Abbildung 74: Salvador Dalí: „Die Poesie Amerikas – Die kosmischen Athleten“ (1943)

Arps Gedicht „Amerika“ (1955), das zwölf Jahre nach Dalís Exil-Bildern veröffentlicht wurde, arbeitet zum großen Teil mit ähnlichen oder gleichen Bildern und Symbolen wie der Spanier: Amerika Ein fadenscheiniger Clown steigt einem fadenscheinigen Clown auf den Buckel und diesem fadenscheinigen Clown steigt wieder ein fadenscheiniger Clown auf den Buckel und so fort.

84 Vgl. Descharnes/Néret: Salvador Dalí (1993/1), S. 374-384.

204 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Dem letzten fadenscheinigen Clown steigt ein schwärmender Kolumbus auf den Buckel um nach seinen Karavellen Ausschau zu halten die inzwischen in See gestochen sind und zwar in der finsteren Richtung aus der es stöhnt röchelt und gurgelt und wo selbst die himmlischen Lichter vor Angst zittern. Ein Bettler mit einem Kopf wie eine Dörrbirne entdeckt im Kleiderschrank des schwärmenden Kolumbus ein tadelloses ungetragenes Amerika. Nicht weit von der Höhle des Bettlers in der weiten sandigen Ebene erhebt sich täglich einmal ein Erdteil ein noch unbeschriebenes Blatt. Dieser Erdteil hat vier gewaltige Adlerbeine mit mächtigen rotlackierten pedikürten Krallen. Wie ein Raubvogel stürzt sich dieser Erdteil in das himmlische Gewölbe und schreit: „Ich will das tadellose ungetragene Amerika haben.“ Der Bettler zählt der Ordnung wegen den Rest seiner Tage. Ein brüchiges Clownsskelett wird dick fett und reich und kauft sich einen dressierten Esel. Der Esel gerät unverhofft in einen eigentümlichen Fall von guter Hoffnung. Vier Beine wachsen diesem Esel über Nacht aus dem Rücken. Nun können sich die beiden nicht mehr entschließen auf welchen der vier Beine ausgeritten werden solle.

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 205

Als der Bettler mit dem Kopf wie eine Dörrbirne der Wehmut verfiel versuchte der schwärmende Kolumbus das Übermenschenmögliche. Er versprach was die Sprache hergibt und ließ noch während einer Woche glattzüngige gleisnerische Onomatopoesien folgen. Er versprach dem Bettler die wunderjauchzende massiv diamantene selbstgeigende Zigeunergeige. Vor dieser Wundergeige müßten selbst die altbekannten Himmel einpacken die voller Geigen hängen. Die Folge davon sei daß beide der Bettler und seine Wenigkeit der Kolumbus hoch hoch oben in den lichtesten Tiefen des Himmelsauges mit allen fuchswild gewordenen Engeln zu den jeder Beschreibung spottenden Klängen der diamantenen Zigeunergeige tanzen würden und aller Wehmut quitt wären.85

Im Mittelpunkt von Arps Text steht ein „schwärmender Kolumbus“, der katachrestisch mit einem „Clown“ sowie einem „Erdteil“ mit „vier gewaltigen Adlerbeinen“ gleichgesetzt wird. Denn sein Kolumbus steigt – in der ersten Strophe des insgesamt vierstrophigen Gedichts – einer Gruppe von „fadenscheinigen Clowns“ auf den „Buckel“, die sich schon zuvor hintereinander auf den Rücken gestiegen waren wie eine Reihe sich nach einander übertrumpfender Weltmächte. Diese Clowns stehen somit schon in Analogie zu Dalís grotesken Rugby-Spielern, das Auf-den-Buckel-Steigen Arps entspricht damit semantisch dem Aus-dem-Rücken-Wachsen der kleinen Sieger-Figur in „Die Poesie Amerikas“. Ähnlich wie Dalís Kolumbus bewegt sich auch die Entdecker-Figur Arps mit seinen Karavellen auf Amerika als einem ausgesprochen dunklen Kontinent zu, der „finsteren Richtung“, wie es bei Arp heißt, „aus der es stöhnt röchelt und gurgelt und wo selbst die himmlischen Lichter vor Angst zittern.“ Im Gegensatz

85 Hans Arp: Amerika (1955), in: ders. (1974), S. 177-179.

206 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

zu Arps ansonsten salvadorianischem Kolumbus (vgl. Kapitel II.4 dieser Untersuchung), seiner Gleichsetzung mit der Avantgardebewegung von Abstraktion, Dada und Surrealismus, ist Arps Kolumbus hier eindeutig negativ gekennzeichnet, indem der Entdecker Amerikas metonymisch mit den problematischen Folgen seiner Entdeckung identifiziert wird, von dem Genozid an den indianischen Ureinwohnern bis zur aktuellen Weltmachtstellung. Frappierend ist sodann auch die Übereinstimmung mit anderen Grundsymbolen Dalís sowie besonders dessen „Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen“ zu bemerken. Denn in der zweiten Strophe ist von einem „Bettler“ mit einem „Kopf wie eine Dörrbirne“ die Rede, die analog zu Dalís Eva die Weltöffentlichkeit personifiziert, und die sich ebenfalls auf einer „weiten sandigen Ebene“ befindet, um dort einem anthropomorphen „Erdteil“ zu begegnen, der offensichtlich „Amerika“ personifiziert. Dieser „Erdteil“ wird ebenfalls als nackt, sich „erhebend“ und mit „gewaltigen Adlerbeinen“ ausgestattet charakterisiert (man denke auch an das Adler-Symbol der USA), der im Text Arps als Kleidungsstück ein „tadellos ungetragenes Amerika“ aus einem „Kleiderschrank“ begehrt und so imaginativ das Globus-Motiv mit den bekannten Schubladenund Schrank-Symbolen Dalís verbindet (vgl. z.B. Dalís Gemälde „Spanien“ von 1938). Dass dieser Wille mit Macht, Blut und Tod zu tun hat, konnotieren die „mächtigen rotlackierten pedikürten Krallen“ des „Raubvogels“ sowie die Reaktion der Weltöffentlichkeits-Allegorie: „Der Bettler zählt der Ordnung wegen/ den Rest seiner Tage.“ Von weiteren Bildern und Symbolen in der Art Dalís ist auch die zweite Hälfte des Gedichts bestimmt, in der es thematisch um die Praxis emphatischer Selbstdarstellung der USA und deren Wirkung auf Europa und die übrige Welt, den von dem Clown „dressierten Esel“, geht. Ähnlich bizarr wie auf Dalís frühsurrealistischem Bild „Der Eselskadaver“ von 1928 (und in Erinnerung der schockierenden Inszenierung des Motivs in Buñuel/Dalís Film „Ein andalusischer Hund“) wird die Ohnmacht und Orientierungslosigkeit auslösende Reaktion der Welt auf den mächtigen Zugriff US-Amerikas geschildert. Denn das „brüchige Clownsskelett“, das „dick fett und reich“ geworden ist, „kauft sich einen dressierten Esel“, der darüber in einen „eigentümlichen Fall von guter Hoffnung“ gerate und dem über Nacht „vier Beine [...] aus dem Rücken“ wachsen würden. Als Folge dieses grotesken Vorgangs wird beschrieben, dass wie in einem Vexierbild Oben und Unten ununterscheidbar geworden sind (wie es sich auch auf Dalís Bild andeutet) und eine prekäre Entscheidungs- und HandlungsUnfähigkeit eingetreten ist: „Nun können sich die beiden/ nicht mehr entschließen/ auf welche der vier Beine/ ausgeritten werden solle.“ Und genauso wie Dalí (in „Die Poesie Amerikas“) lässt sich auch Arp nicht von der blendenden Selbst-

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 207

darstellungsrhetorik der US-amerikanischen Politik und Kultur beeindrucken. Zwar führt die letzte Strophe aus, dass der „schwärmende Kolumbus“ angesichts der wachsenden „Wehmut“ des „Bettlers“ als Weltöffentlichkeit das „Übermenschenmögliche“ versuche, und mit „glattzüngigen gleisnerischen Onomatopoesien“ gelobe, „was die Sprache hergibt“, nämlich einen symbolischen Himmel voller Geigen: „Er versprach dem Bettler/ .../ und aller Wehmut quitt wären.“ Die skeptischen Signale Arps werden aber durch die Wahl des Konjunktivs sowie die ironischen Hinweise „fuchswild“ werdende Engel und „jeder Beschreibung spottende Klänge“ deutlich genug gesetzt. Arp ist sich sicher, statt einem symbolischen Wunsch-Konzert mit diamantener Wundergeige nicht mehr als ein schlaff trauerndes Streichinstrument erwarten zu können, so wie es Dalí auf seinem Bild „Masochistisches Instrument“ (1933/1934) gleichsam prophetisch ins Bild gesetzt hat.

Abbildung 75: Salvador Dalí: „Der Eselskadaver“ (1928)



Abbildung 76: Salvador Dalí: „Masochistisches Instrument“ (1933/1934)

208 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

„Könige vor der Sintflut“

Abbildung 77: Max Ernst: „Ubu Imperator“ (1923)

Eine Endstufe der Macht- und Kriegssymbolik, wie sie Arps Texte zum Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie zur Nachkriegszeit geprägt hat, findet sich schließlich in weiteren Texten der fünfziger und sechziger Jahre, für die hier der Gedichtzyklus „Könige vor der Sintflut“ als inhaltlich und ästhetisch repräsentativ stehen möge. Diese Sammlung von vier Einzeltexten ist offensichtlich 1952/ 1953 entstanden und kann als sarkastische Abrechnung mit der Macht- und Atomkriegspolitik der zeitgenössischen Supermächte verstanden werden. In mehreren Äußerungen hat Arp die Politik und die Menschheit generell immer wieder als „mordgeilen Schwerterschmied“, als „Atompilzzüchter“86 und als „triumphierenden Menschenfresser“87 bezeichnet. Denn in seinen Augen hat sich die Welt, die noch in der Belle Époque relativ überzeugend Werte wie Normalität, Frieden und Sicherheit für sich reklamieren konnte, nun endgültig in eine

86 Hans Arp: Der Mensch ist ein Flötenbläser (1955), in: ders. (1955/21995), S. 92f., hier S. 92. 87 Hans Arp: Gebet (1966), in: ders. (1984), S. 249.

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 209

Welt der A-Normalität und des Wahnsinns verwandelt. Denn, so Arp, Normalität und Wahnsinn sind nun auf ungeheuerliche Weise gewissermaßen ununterscheidbar geworden. Entsprechend sarkastisch rechnet er mit den technischen und politischen Erscheinungen der Moderne, insbesondere der seinerzeit neuen Atomkriegstechnologie, ab: Wie gerne lauschen wir immer wieder den Radiomeldungen um zu erfahren daß die Tollwut des Verstandes unheilbar ist. Gerne hört man immer wieder von epochemachendem Fortschritt . . . vom Feuerwerk und Ablenkungsstrategie von Empörung und Widerstand von Presse Radio und Fernsehen von Auflockerung der starren Fronten von scharfem Notenwechsel von untadeligen Menschenfressern [...]. 88 Ich bin für die Atompilzzüchter sowieso verloren. [...]. In geschmackvoller Schokoladenverpackung in sogenannten Bombonnièren schenken sie ihren Lieben kleine niedliche Atombomben für den Hausgebrauch.89

Vor diesem Hintergrund lässt sich Arps kleiner Gedichtzyklus „Könige vor der Sintflut“ als Allegorie auf die zeitgenössische Machtpolitik und der von ihr ausgehenden Bedrohung eines Atomkriegs verstehen, die in seinen Augen letztendlich zum Sich-Selbst-Verschlingen von Macht und Menschheit führen muss. Mit dieser Darstellungsintention werden die politischen Mächte in das Gewand mythologischer „Könige“ gekleidet und ähnlich wie Lautréamonts „Schöpfer“Gott sowie Jarrys „Ubu Rex“ und Ernsts „Ubu Imperator“ (1923) einer beißenden Kritik ausgesetzt. Den Höhe- und Endpunkt des Zyklus bildet entsprechend die menschenfressende Herrschaft des letzten Königs:

88 Hans Arp: Wie gerne lauschen wir immer wieder (1961), in: ders. (1984), S. 167f. 89 Hans Arp: Sinnende Flammen (1961), in: ders. (1984), S. 138.

210 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

En-me-en-lu-an-na, der große König vor der Sintflut regierte dreiundvierzigtausendzweihundert Jahre. Er wurde in der Stadt Bad-tabira geboren. Er glich schon einem heutigen Menschen und hatte wie diese zwei Arme und zwei Beine. Die meisten seiner Untertanen dagegen hatten mehr, teils viel mehr Arme und Beine. Mit denen liefen, winkten, schlugen, traten, hüpften, sprangen, tanzten sie unerträglich um En-me-en-lu-an-na, den großen König vor der Sintflut, so daß dieser sich genötigt sah, allen, die mehr als zwei Arme und Beine besaßen, solche ausreißen zu lassen. Alsdann befahl er ihnen, aufrecht, das Maul nach vorne und oben, vor ihm zu erscheinen. Darauf setzte er jedem einen lautlosen, jedoch sichtbaren Donnerehrenhelm auf und gab jedem einen Blitzehrenschirm aus geflochtenen Rattenschwänzen in jede Hand. [...]./ Vor der Sintflut lebte in der Stadt Schuruppak der große König Du-du. Er hatte die kürzeste Regierungszeit, aber den längsten Hunger. Er regierte nur achtzehntausendsechshundert Jahre, aber fraß unaufhörlich während dieser Zeit. Er lebte in großer Harmonie mit seinem Volke. Er liebte es, sein Volk zu fressen, und sein Volk liebte es, von ihm gefressen zu werden. Täglich trat er vor das große Freßtor seines Palastes und rief mit vor Hunger zitternder Stimme: „Auch heute wieder wird euch frohe Kunde zuteil. Ich habe einen rasenden Hunger. Roh, als Suppe oder gebraten werde ich euch verschlingen!“ Das Volk war darüber außer Rand und Band. Es umarmte sich und weinte vor Glück und rief: „to-to-li-sa-bal to-to-li-sa-bal“, was so viel heißt wie: „hört, hört die Jubelbotschaft.“ Hin und wieder ließ sich der große König Du-du eine Gabel mit lebendigen, behände zugreifenden Menschenhänden, einen großen Suppenlöffel, aus Weidenzweigen geflochten. durch welchen die Suppe herzhaft flutscht und flatscht,

III.3 „A MERIKA “

UND DIE

„KÖNIGE VOR

DER

S INTFLUT “ | 211

und ein Messer, groß wie eine Sense, reichen. Meistens fraß er seine Lieben roh. „Habt ein wenig Geduld. Ich kann nicht alle auf einmal verschlingen. Ich werde keinen vergessen.“ Jeder wollte der Erste sein. Keiner wollte warten. Keiner konnte es erwarten, gefressen zu werden. Alle drängten sich nach vorne, um die Ehre zu haben, als Erster verschlungen zu sein. Der große König Du-du wurde immer größer und dicker. Sein Maul war groß wie ein Stadttor. Und er fraß unaufhörlich weiter, bis schließlich die letzten seines Volkes laut jubelnd durch sein Maul in den Bauch geschritten waren. Als niemand mehr zum fressen da war, hielt er sein Lebenswerk für beendet, trocknete ein, wurde morsch, zerbröckelte und zerfiel zu Staub.90

Intertextuell und intermedial gesehen besitzt die Symbolik des mythologischen „Menschenfressers“ natürlich eine lange und vielstimmige Tradition in politischer Karikatur, bildender Kunst und Literatur (man denke nur an Dante, Doré, Goya und insbesondere Lautréamont91). Direkte Bezüge zum zeitgenössischen Surrealismus finden sich aber dazu, wie auch zum analog modernistischen Symbol des „Atompilzzüchters“ wiederum bei Dalí, und zwar beispielsweise in dessen Illustrationen zu Dantes „Göttlicher Komödie“ (1951) sowie dem Gemälde „Die drei Sphinxe von Bikini“ (1947), das im Zusammenhang mit den verheerenden Atomversuchen der USA im pazifischen Ozean entstanden ist. Symptomatisch sieht sich mit dieser Selbstvernichtung menschlicher Geschichte und Existenz Arps und der Surrealisten Kritik an (A-) Normalität und Krieg an ihr vollends tragisches Ende angelangt.

90 Hans Arp: Könige vor der Sintflut (1952/1953), in: ders. (1974), S. 138-142. 91 Vgl. z.B. Thomsen (1983). Zu Lautréamont vgl. ders. (1869/1954), S. 78-81.

212 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 78: Salvador Dalí: „Ein Teufel als Logiker – Luzifer“, Illustration zu Dantes „Göttliche Komödie“ (1951)

Abbildung 79: Salvador Dalí: „Die drei Sphinxe von Bikini“ (1947)

IV. Das Atelier der „Wachtraumdichtung“ – Die surrealistische Poetologie Arps „Dada ist eine Rose, die eine Rose im Knopfloch trägt.“ (HANS ARP: DADA-SPRÜCHE) „Ein Wörterstrauß der alle seine Blumen auf einmal sprechen läßt“ (HANS ARP: WORTE)

Abbildung 80: Hans Arp: Ohne Titel (1928)

214 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die eine Energiequelle, die Dada und Surrealismus in ihren historischen Aktionen vorantrieb, bildete, wie soeben beschrieben, der Kampf gegen die soziale Realität der Moderne, die „Normalorganisation“ des Lebens im zivilen Zustand wie auch deren Überdrehung im Krieg. Die dieser defizitären Existenzform entgegengehaltene Praxis gaben die Lebensbereiche von Literatur und Kunst ab, wie es sich in Arps Worten „Dada ist eine Rose, die eine Rose im Knopfloch trägt“1 selbstreflexiv andeutet. Es sei in diesem Rahmen daran erinnert, dass das damit anklingende Bildfeld der „Blume“ bzw. des „großen Blumenstraußes“ im biographischen Kapitel dieser Studie (Kapitel II) als eine von Arps Metaphern für seine Auffassung von Mensch und modernem Künstlertum vorgestellt worden ist. Die Verwendung der Vegetationsmetaphorik, wie sie aber hier in dem Aphorismus von der „Rose“, die „eine Rose im Knopfloch trägt“, geschieht, eröffnet hingegen den Blick in einen anderen Bedeutungshorizont seines dichterischen und poetologischen Werks. Denn der Meister metaphorischer Metamorphosen, wie man Arp im Anschluss an die kunstgeschichtliche Forschung nennen könnte2, spricht in seiner Sentenz nicht mehr über Fragen subjektiver Identität, sondern verschiebt nun die Sinnbedeutung der Blumen-Symbolik in Richtung einer Thematisierung moderner Kunst und Literatur. Topographisch gesehen befindet sich damit der Leser an einer Wegmarke in Arps Werk, die in das Atelier seiner sogenannten „Wachtraumdichtung“ führt und in der die poetischästhetische Position Arps im Akt dichterischer Selbstreflexion zur Aufführung kommt. Dieses metapoetische Atelier trägt in der Wortwahl des Künstlers den Namen „Dada“, der aber, literatur- und kunstwissenschaftlich gesehen, als Generaltitel für Arps avantgardistische Literatur und Kunst insgesamt, mithin auch für seine „surrealistische“, dient. Folgt man dem eingeschlagenen Weg, so lässt sich – für die Zeit seit den dreißiger Jahren in Arps Schaffen – ein Glashaus surrealistischer Blumen bestaunen, das in Form einzelner Gedichte und Kommentare seine eigenen Bedingungen, Strukturen und Funktionen transparent macht. Vor den Augen des Lesers entsteht auf diese Weise eine symbolisch-reflexive Traumlandschaft, die ihre sich selbst bespiegelnden „Gewächse“ in veristischsurrealem Licht erblühen lässt. Die Rose im Quadrat, von der im „Dadaspruch“ die Rede ist, zielt also auf eine Selbstreflexion der Kunst und Literatur im Medium der Poesie. Die in diesen Worten etablierte Symbolrelation von Pflanze und Poesie stellt natürlich nichts absolut Neues dar, vielmehr reiht sich Arp damit in den breiten Strom poetologischer und ästhetischer Reflexionen ein, die seit der Antike immer wieder die Motive von Blume, Garten und Park als bildliches Re-

1

Hans Arp: Dada-Sprüche (1955), in: ders. (1955/21995), S. 48-50, hier S. 48.

2

Vgl. Lichtenstern (1990/1992).

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 215

servoir ihrer Überlegungen bemüht haben. Die Epoche der Moderne hat seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dieses selbstbezügliche Gespräch in erheblichem Maße intensiviert, und dies nicht nur in dem Bereich einer sich eigens ausgebildeten philosophischen und wissenschaftlichen Ästhetik, sondern auch auf dem Gebiet der Dichtung selbst. Denn mit der Moderne hat sich im verstärkten Maße ein Phänomenbereich poetologischer Lyrik herauskristallisiert, der Lyrik als Lyrik thematisch in den Blick nimmt und sich damit in ein Grenzgebiet von Dichtung und ästhetischer Reflexion hinauswagt. Und trotz aller diskurshistorischen Wandlungen hat auch hier das überkommene Motivterrain von Blume, Garten und Park eine weiterhin prominente Stellung behaupten können. Um in dieser literatur- und lyrikimmanenten Entwicklungsreihe Arps Position verorten zu können, soll auf dieses Paradigma poetologischer Lyrik ein kurzes Schlaglicht geworfen werden. Diese Blütenlese gibt zugleich einen Hintergrund dafür, sehen zu lernen, wie Arp die traditionelle Symbolik des poetologischen Blumen-Gartens in genuin surreale Räume und Landschaften verpflanzt hat.

Abbildung 81: Salvador Dalí: „Frau mit Rosenhaupt“ (1935)

216 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Der von Arp und den Surrealisten gleichermaßen verehrte Novalis erhob in der deutschen Frühromantik die „blaue Blume“, das „geheime Wort“ der „Märchen und Gedichte“ zum Sinnbild der Dichtung, das die prosaische Welt der „Zahlen und Figuren“3 in eine Poesie des Wunderbaren verwandle. Goethe hat in die Textur seines „Westöstlichen Divans“, der selbst schon ein biedermeierliches Poesie-Symbol darstellt, mehrfach autoreflexive Elemente eingewoben. Dazu gehört das „Geständnis“, ein neues Gedicht ließe sich wie das Feuer und die Liebe nur schwer vor anderen verbergen, aber auch das poetologische Diptychon „Offenbar Geheimnis“ und „Wink“: In ihnen wird das Verstehen poetischer Worte und Metaphern verglichen mit der – erotisch aufgeladenen – Situation eines Mannes, der sich einer bezaubernden jungen Frau gegenübersieht, die ihr Antlitz hinter einem wundersamen Fächer verbirgt. Wie Goethe deutlich macht, geben in dieser Konstellation die „Stäbe“ des Fächers, die auch „lieblicher Flor“ genannt werden, die uneigentlichen, bildlichen Elemente des Textes ab, das „Gesicht“ die Ebene des eigentlich, symbolisch Gemeinten (den für Goethe im Grunde unausschöpfbaren Bedeutungshorizont eines Gedichts), während das „Auge“, das zwischen den Öffnungen des Fächers hervorblitzt, die Ebene des tertium comparationes bildet und dadurch als Brücke subjektiver Sinnerschließung dient.4 Auch der internationale Ästhetizismus, der mit Baudelaires „Blumen des Bösen“5 Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich Romantik und Realismus ablöste und sich anschließend in den benachbarten europäischen Ländern und Sprachen verbreitete, führte Thema und Motiv fort, sodass Mallarmé von „fleurs-mots“ und „fleur-idées“ und Rimbaud, wie schon vorher Baudelaire, von „Traum-Blumen“ („les fleurs de rêve“) sprach.6 Während Gertrude Stein mit „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“7 das Programm des l’art pour l’art gewissermaßen auf seinen metaphorischen Begriff brachte, entwickelte sich auch in Deutschland die autoreflexiv und zum Teil ambivalent gebrauchte Vegetationssymbolik weiter. George lockte zum einen mit „Komm in den totgesagten Park und schau/ der schimmer ferner lächelnder gestade“8 in seine preziös-harmonische Welt des Dichterischen, womit er die „moderne“ deutschsprachige Lyrik im engeren Sinne des Wortes einläutete. Zum anderen versetzte er seinen Dichter-

3

Novalis: Heinrich von Ofterdingen (1802), in: ders. (1999), S. 240.

4

Goethe: Wink, in: ders. (1998), S. 323.

5

Baudelaire: Les fleurs du mal/Die Blumen des Bösen (zuerst Paris 1857), in: ders. (1975/3).

6

Zu Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé vgl. auch Siepe (1977), S. 149.

7

Vgl. Stein (1922/1968) bzw. dies. (1957).

8

George: Komm in den totgesagten Park, in: ders. (1983/1), S. 123.

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 217

Helden „Algabal“ in das künstliche Paradies eines unterirdischen Höhlenschlosses, um dort seine „dunkle grosse schwarze Blume“9 der Poesie wachsen zu lassen und alles Lebendige unter eine Flut von Rosen zu ertränken, gleichsam in Analogie zu dem sprachlichen Phänomen, dass die semantische Struktur forciert ästhetizistischer Texte durch den artistisch produzierten Klangzauber von Alliterationen, Assonanzen und (Schlag-)Reim reine Sprachmusik zu überführen sei: „Auf die schleusen!/ Und aus reusen/ Regnen rosen/ güsse flüsse/ Die begraben.“10 Rilke trieb die positive Verabsolutierung noch ein Stück weiter, indem er über den „Wilden Rosenbusch“ schrieb, dieser sei „versunken in sein Rosensein“, „von sich selbst unendlich übertroffen/ und unbeschreiblich aus sich selbst erregt.“11 Der Expressionismus hingegen verstärkte die Tendenz zur Darstellung des Hässlichen und Destruktiven, Trakl etwa sprach verklärend: „Trunken von Mohnsaft dunkler Gesang;/ Blaue Blume,/ Die leise tönt in vergilbtem Gestein.“12 Dagegen schlug der junge Benn einen weitaus härteren, seziermesserscharfen Ton an. Sein poetisches Gewächs, die „dunkelhelllilafarbene Aster“13, ließ er am Blut eines toten (Gesellschafts-)Körpers sich delektieren, in dessen Eingeweide sie das technische Geschick des Autors verpflanzt hatte. Mit dieser nun schneidenden Symbolik, die endgültig die letzten Fäden einer harmonisierenden Verwendung des Blumen-Motivs kappte, wurde die hergebrachte Vegetationssymbolik an den Rand ihrer Verwendungskraft getrieben: Die neuen, sich als avantgardistisch verstehenden Kunst- und Literaturströmungen wie Futurismus, Dada und Surrealismus griffen denn nunmehr gelegentlich zu diesem Metasymbol für ihre Proklamation einer Verbindung von Kunst und Leben oder leugneten seine Relevanz, etwa wenn Marinetti diktierte: „Die Bilder sind nicht Blumen, die man mit Sparsamkeit auswählen und pflücken muß, wie Voltaire sagte. Sie bilden das Blut der Dichtung. Dichtung muß eine ununterbrochene Folge neuer Bilder sein, ohne die sie blutarm und bleichsüchtig ist.“14 So konnten avancierte Positionen der Post-Avantgarde, die sich seit Ende der dreißiger Jahre ausbildeten, auch nicht einfach hinter den erreichten Stand der Dinge zurückkehren, was sich u.a. daran ablesen lässt, dass sie zwar das alte Motiv mitunter wieder aufgriffen, dazu aber auf Verfahren neuerlicher Verfremdung rekurrieren mussten. Dies zeigt sich etwa an den beiden Antipoden deutschsprachiger Lyrik

9

George: Algabal, in: ders. (1983/1), S. 45-61, hier S. 49.

10 Ebd., S. 52. 11 Rilke: Wilder Rosenbusch, in: ders. (1998), S. 950f. 12 Trakl: Verklärung, in: ders. (1972/151998), S. 67. 13 Benn: Kleine Aster, in: ders. (1998), S. 11. 14 Marinetti (1912/1995), S. 24-27, hier S. 25.

218 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

in der Jahrhundertmitte. Für den Benn der „Statischen Gedichte“ ist nunmehr das Leben – zum Beispiel in Anlehnung an das Gemälde „Asphodèlen“ von Henri Matisse – dem Reich des Toten nahegerückt („Sträuße – doch die Blätter fehlen,/ Krüge – doch, wie Urnen breit,/ – Asphodelen,/ der Prosperina geweiht“15), während die „Chiffre“ von „Wort“ und „Satz“ einem kometenhaften „Sternenstrich“ vergleichbar ist, der wohlklingend weitab von „Welt und Ich“16 die artistische Autonomie der Dichtung beschwört. Für den Brecht der späten, lakonischen Epigramme bildete dagegen das Gedicht eine kraftvolle, diesseitige „Teewurzel“, die durch engagiert-produktive Bearbeitung Gestalt und innere Substanz eines „Löwen“ annimmt: „Die Schlechten fürchten deine Klaue./ Die Guten freuen sich deiner Grazie./ Derlei/ Hörte ich gern/ Von meinem Vers.“17 Diese kleine Anthologie einiger markanter Fundstellen aus der metapoetischen und metasymbolischen Dichtung seit der deutschen und europäischen Romantik kann an dieser Stelle nicht mehr als ein Fingerzeig auf die Bedeutung dieses Strukturelements in der Geschichte der modernen Lyrik sein. In bemerkenswerter Weise ist bei ihnen zu beobachten, wie sich der Glaube an die Poesie mit dem Glauben an Bildlichkeit und Symbolik als konstitutive Strukturelemente dichterischer Sprache verbindet. Und damit handelte es sich um einen Tatbestand, der schließlich nicht nur für ästhetizistische, avantgardistische und engagiert-neusachliche Autoren und Strömungen des 20. Jahrhunderts zu konstatieren ist, sondern letzten Endes auch für hermetisch-sprachskeptische und sprachexperimentelle Positionen, wie sie sich um 1900 und dann insbesondere nach 1945 in Deutschland herausgebildet haben. Nietzsche sprach von der „Wahrheit“ als einem „beweglichem Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropormorphismen“, nicht ohne an anderer Stelle hinzuzufügen: „Nun aber giebt es keine ‚eigentlichen‘ Ausdrücke und kein eigentliches Erkennen ohne Metapher“18, Kafka vertraute seinem Tagebuch an: „Die Metaphern sind eines in dem vielen, was mich am Schreiben verzweifeln läßt“19, und Hugo von Hofmannsthal registrierte in seinem Chandos-Brief: „Die Worte (...) zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze.“20 Solche Stimmen erhielten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weitere

15 Benn: Henri Matisse: „Asphodèles“, in: ders. (1998), S. 207. 16 Benn: Ein Wort, in: ders. (1998), S. 198. 17 Brecht: Auf einen chinesischen Teewurzellöwen (1951), in: ders. (1993/15), S. 255. 18 Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873), in: ders. (1988/1), S. 880f.; ders.: Nachgelassene Fragmente (Sommer 1872-Anfang 1873), in: ders. (1988/7), S. 491. 19 Kafka: Tagebuch (Eintrag 06.12.1921), in: ders. (1994/11), S. 196. 20 Hofmannsthal: Ein Brief (1902), in: ders. (1985/7), S. 465.

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 219

Zuspitzung, wobei auch sie dem prinzipiellen Dilemma einer metaphorischen Sprachkritik nicht entgingen. Denn Bachmanns Absage an poetologische „Delikatessen“ blieb darin selbst delikat, dass sie sich wiederum einer ausgesuchten syntaktischen und bildlichen Rede bediente: „Soll ich/ eine Metapher ausstaffieren/ mit einer Mandelblüte?/ die Syntax kreuzigen/ auf einen Lichteffekt?/ Wer wird sich den Schädel zerbrechen/ über so überflüssige Dinge.“21 Ein Phänomen, dass sich auch bei ihrem Zeitgenossen Celan fand, da auch seine Verabschiedung der Metapher nicht ohne den Rückgriff auf symbolisches Sprechen über die „Wahrheit“ auskam: „Ein Dröhnen: es ist/ Die Wahrheit selbst/ Unter die Menschen/ Getreten,/ Mitten ins/ Metapherngestöber.“22 Ein prominentes Bild seines Fluchtpunkts, seiner Suchbewegung bildete denn auch die „Niemandsrose“23, in der sich die ehemals blaue Blume der Poesie jetzt als ein „Atemkristall“24 wie in einer geologisch geprägten Welt von Schnee und Eis in gleichsam schockgefrorenem Zustand wiederfindet. Zugleich ist er ein Beispiel dafür, dass dieses Paradoxon vom modernen Dichter durchaus gewusst und mitreflektiert wurde, schließlich sprach er in seiner ,Meridian‘-Rede vom idealen Gedicht als dem Ort „wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden“, ohne dass ein solches „Gedicht“, „das es nicht gibt“, das reale „Gedicht mit seinen Bildern und Tropen“25 zum Verstummen gebracht werden könne. Was aber solcherart als Reflexionsergebnis bleibt, ist mithin ein Bewusstsein über die Unhintergehbarkeit metaphorischen und symbolischen Sagens; eine Einsicht, der auch die Konkrete Poesie, die sich auf ganz andere Weise als die hermetische Dichtung vom traditionellen Gedicht entfernte, zustimmen musste. Gomringer erklärte denn auch: „das kraftfeld eines wortes, das auf diese weise verwendet wird, entbehrt nicht der assoziationskraft oder der metaphorischen kraft, im gegenteil“26, während der depressiv-resignative Jandl der „Letzten Gedichte“ dieses Selbstverständnis bis hin zu bissig-böser Polemik über das eigene Selbst trieb: „metaphernspucke/ buchstabenklosett/ lyrikklistier/ speichelreim/ reimspeichelkäse/ metaphernafter/

21 Bachmann: Keine Delikatessen (1963/1968), in: dies. (1978/1), S. 172f. 22 Celan: Ein Dröhnen, in: ders. (2003), S. 206. 23 Celan (1963). 24 Celan: Weggebeizt, in: ders. (2003), S. 180f. 25 Celan: Der Meridian, Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1960), in: ders. (2000), S. 199. 26 Gomringer: weshalb wir unsere dichtung „konkrete dichtung“ nennen (1960), in: ders. (1997), S. 35.

220 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

anagrammasche/ poesiephimose/ schamhaaranagramm/ speichelkäsegedicht/ pentametervers/ silbenschiss/ wortabort.“27 Nach dieser Tour de Force durch den Garten poetologischer Blumen-Lyrik bleibt festzuhalten, dass dieser dichterische Formtyp unter den Rahmenbedingungen der Moderne eine offensichtlich beachtliche Aufmerksamkeit und Verwendung gefunden hat, die von Seiten der Autoren den jeweils vorherrschenden Ausdruckinteressen angepasst worden ist. Es kann daher wohl nicht verwundern, dass auch die Surrealisten, trotz aller Traditions- und Moderne-Kritik, sich mitunter ebenfalls dieser Symbolik bemächtigt haben. Für ihren Umgang mit Sprache und Metaphorik, deren Grundlagen weit vor dem Zweiten Weltkrieg gelegt wurden, ist es dabei charakteristisch, sich nicht von einer Sprachkrise betroffen zu fühlen, sondern ihr eigenes, von Überraschungen geleitetes Spiel zu treiben. So haben sie beispielsweise Rimbauds Forderung nach neuen „Blumen“, die „Stühle“ sind, aufgegriffen, etwa wenn es bei Éluard heißt: „Und sofort wissen wir, daß die Blumen Stühle sind“ („Et tout de suite, nous savons que les fleurs seront des chaises“).28 Am eindrücklichsten hat aber wohl Breton das Symbol der blumenhaften Pflanze zur Veranschaulichung des poetischen Selbstverständnisses aktiviert, und zwar in der Form eines explikativen Symbols surrealistischer Produktionsästhetik. In einem Künstlerkommentar seiner „Anthologie l’humor noir“ (1940) führte er dazu die Begrifflichkeit, die zur Beschreibung des Pflanzenaufbaus dient, mit der kategorialen Topik der drei psychischen Instanzen (Es, Ich, ÜberIch) sowie Theoremen des Humor-Konzepts bei Freud in symbolischer Analogie zusammen. Und, wie es der ‚höhere Zufall‘ will, erkor er sich ausgerechnet die Dichtung und bildende Kunst Arps zum konkreten Anschauungsobjekt seiner Argumentation, was diesen damit zum surrealistischen Dichter-Künstler „par excellence“ machte. Mithin wird der Kunst und Poesie Arps die Rolle zugesprochen, sowohl die Struktur des automatischen Produktionsprozesses als auch dessen Funktion einer psychischen Stabilisierung gegenüber inneren und äußeren Anfechtungen und Gefahren zu versinnbildlichen: Könnte man durch das poetische Denken dieser Zeit einen Längsschnitt machen, würde man entdecken, daß seine Wurzeln das Es zutiefst durchdringen, das für den menschlichen Geist das ist, was die Erdkruste für die Pflanze. In diesem Es sind die mnemonischen Spurenelemente bewahrt, es ist das Residuum unzähliger früherer Einzelleben. Der Automatismus ist nichts anderes als das Mittel des Durchdringens und des Auflösens, dessen der

27 Jandl: metaphernspucke, in: ders. (2001), S. 84. 28 Vgl. dazu Siepe (1977), S. 149.

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 221

Geist sich bedient, um aus diesem Boden seine Nahrung zu ziehen; er entspricht der mechanischen Bewegung, durch die es den Wurzeln der Pflanzen gelingt, die Steine beiseite zu drängen und die harten Steine zu sprengen. Das Ich, dem es als vom Es differenzierten Teil zukommt, dem Einfluß der Außenwelt zu unterliegen, hat den Auftrag, die gerade im Es akkumulierte sexuelle Libido umzuwandeln [...]. Das Über-Ich, das die Durchführung dieser letzteren Operation leitet, kann mit der Humusschicht verglichen werden, die den Boden nach dem Blätterfall bedeckt und die befruchtenden Elemente der Erde mobilisiert. […].Aus eben dieser Perspektive ist, wie kein anderes, das Werk von Arp zu sehen. Jener Längsschnitt, von dem wir sprachen: Arp war par excellence derjenige, der sich in der Lage befand, ihn auszuführen, und seine ganze Poesie, sowohl die plastische wie die verbale, scheint über diese Fähigkeit verfügt zu haben, um uns die zum kleineren Teil luftige, zum größeren Teil unterirdische Welt, die der Geist wie die Pflanze mittels Fühlern erkundet, sichtbar zu machen. [...]. Zu seiner eigenen tiefsten Ergriffenheit ist er in das Geheimnis jenes keimenden Lebens eingedrungen, in dem die winzigste Einzelheit von größter Wichtigkeit ist, die Unterscheidung zwischen den Elementen hingegen alle Bedeutung verliert, wodurch es zu einem nur ihm eigenen, verstohlenen Humor kommt. „Die Luft ist eine Wurzel. Die Steine sind Wasserzweige. Auf dem Stein, der den Platz des Mundes einnimmt, wächst eine Blattrippe. Bravo. Die Steine sind gequält wie das Fleisch. Die Steine sind Wolken ... Bravo, Bravo.“29

„Die Luft ist eine Wurzel. Die Steine sind Wasserzweige. Auf dem Stein, der den Platz des Mundes einnimmt, wächst eine Blattrippe. Bravo“: In seinen letzten Worten, die ja auch als Zitat gekennzeichnet sind, nimmt Breton schließlich direkten Bezug auf ein konkretes Werk des von ihm verehrten Arp. Es handelt sich dabei um Arps intermediale Bild- und Text-Collage „L’air est une Racine“, die wenige Jahre zuvor, 1933, in Bretons Zeitschrift „Le Surréalisme au service de la Révolution“ erschienen ist und den eigentlich einzigen Wortbeitrag Arps in einer offiziellen surrealistischen Zeitschrift, mithin sein auch in diesem Sinne surrealistisches Gedicht par excellence abgibt.30 Zu dieser Einschätzung trägt natürlich auch bei, dass dieser Text als poetologisches Gedicht zu lesen ist, und zwar im surrealistischen Sinne und anhand der traditions- und auch anspielungsreichen Natur- und insbesondere Vegetationssymbolik (was eben auch Breton sicherlich erkannt hat). Diese meta-ästhetische und meta-poetische Lesart offenbart sich aber natürlich nur dann, wenn man die Chiffren und Symbole in Arps Text auch entsprechend zu deuten weiß. So sind die „Steine“, das „gequälte

29 Breton: Hans Arp, in: ders. (1940/2001), S. 448-450, hier S. 448f. 30 Jean Arp: L’air est une racine (1933), in: Le Surréalisme au service de la Révolution, Nr. 6, 15. Mai 1933; vgl. auch ders. (1966), S. 103.

222 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Fleisch“, von dem im Text als textinitiierendes und den gesamten Text prägendes Element die Rede ist, als Symbol des poetisch und künstlerisch veranlagten Menschen zu verstehen, dessen produktive Kräfte aber noch zum Leben erweckt werden müssen; ein Symbol im Übrigen, das auch in anderen Texten Arps in eben dieser Bedeutung auftaucht, so z.B. ganz explizit in seinen „Werkstattfabeln“ als auf sich selbst bezogenes, zugleich metaphorisches und metonymisches Symbol des künstlerischen Ich und insbesondere „Bildhauers“: „Ich fahre durch die Luft in ein Café nach Paris. [...]. Ein Stein, der verwelkt war und leer, läßt wieder seine winzigen diamantenen Küsse auf seinen starken Lippenkugeln blitzen [...]. Die Steine der Bildhauer wachsen in Gestalt von häusergroßen Früchten auf Steinbäumen, hoch, hoch über den Wolken.“31 Die symbolische Kombination des „Stein“ mit den vegetativen Sprachbildern „Wurzel“, „Zweige“ und „Blattrippe“ sowie des Atems („Platz des Mundes“) und des Himmels („Luft“, „Wolken“) spricht für eine symbolische Verwandlung und Erhöhung des Menschen in einen Dichter und Künstler („Bravo, Bravo“). So verstanden verbindet sich in diesem Gedicht Arps generelle avantgardistische Produktionsästhetik des Ursprünglichem, des ewigen Werdens und Veränderns, der vollkommenen Schönheit und umfassenden Integrität der „Natur“-Kunst, wie sie in seinen konkreten Formen von Stein, Pflanze, Tier und Mensch, in den vier Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft, aber eben auch in seiner mehr organischabstrakten Symbolik des „bewegten Ovals“ und anderer biomorpher und kurvenlinearer Formen zum Ausdruck gekommen ist (vgl. auch die bildkünstlerischen Motive in „L’air est une racine“), mit der spezifisch surrealistischen Überzeugung an die Macht des pulsierend-vegetativ drängenden und dabei glücklichzufallsbedingten Unbewussten, an seine unbändige Freiheit, symbolische Anschaulichkeit und rätselhafte Mannigfaltigkeit, – ganz getreu Arps späterem Credo: „Eine singende Rose/ schlüpft aus einem mondenen Ei“32 oder mehr prosaisch: „Es war meine surrealistische Periode, in der meine Schriften und plastische Handschrift sich am nächsten kamen.“33

31 Vgl. Hans Arp: Werkstattfabeln (1955), in: ders. (1955/21995), S. 96-107, insbes. 102106. 32 Hans Arp: Neue Gedichte (1958), in: ders. (1984), S. 54-58, hier S. 55. 33 Vgl. Jean Arp: Réponses à des questions posées par George K.L. Morris (1956), in: ders. (1966), S. 443-446, hier S. 446.

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 223

Abbildung 82: Jean Arp: „L’air est une racine“ (zuerst in: Le Surréalisme au service de la Révolution, 1933)

(Dt. Übersetzung: „Die Luft ist eine Wurzel/ Die Steine sind voller Eingeweide. Bravo./ Bravo. Die Steine sind voller Luft./ Die Steine sind Wasserzweige.// Auf dem Stein, der den Platz des Munds einnimmt,/ wächst eine Blattrippe. Bravo./ Eine Steinstimme ist Kopf und Fuß bei Fuß/ mit einem Steinblick.// Die Steine sind gequält wie das Fleisch./ Die Steine sind Wolken denn ihre zweite/ Natur tanzt ihnen auf ihrer dritten Nase./ Bravo. Bravo.// Wenn die Steine sich kratzen wachsen/ Nägel auf den Wurzeln. Bravo. Bravo./ Die Steine haben Ohren um die genaue Zeit/ zu essen.“).

224 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Dieser Blumen- und Pflanzensymbolik, die Arp hier zur poetologischen Artikulation seiner surrealistischen Produktionsästhetik verholfen hat, ist er im Übrigen auch späterhin treu geblieben, wie sich an zahlreichen Formulierungen späterer Gedichte zeigen lässt. So ist etwa Ende der dreißiger Jahre in dem französischsprachigen „Ruche des Rêves“ („Traumbienenkorb“) von den „blumen aus fleisch“ die Rede, die „eine sprache aus träumen haben“34, sein letztes deutschsprachiges Gedicht trägt bezeichnenderweise den Titel „Ewige Traumblumen“.35 Deutlich tritt diese Tendenz schließlich in einem weiteren späten Text hervor der mit „Worte“ überschrieben ist und damit schon im Titel seine poetologische Absicht preisgibt (1961 publiziert). Auch hier gehört die Blumen- und Pflanzensymbolik zu dem wichtigsten textprägendem Element über die – wie es ausdrücklich und gleichsam fachsprachlich heißt – „Worte der Dichter“ und ihrer „herrlichen Katachresenworte“: Worte [...]. Lichte Worte entflohender Blumen [...]. Träumende Flockenworte. Unverhofft blühen Worte um Worte auf mit lichten Blumengesichtern. Worte aus dunkelfunkelndem Duft. [...]. Blumenworte überpüppischer Blumen. [...]. Worte die das Traumlicht eines Schattendaseins sind. Ein Wörterstrauß der alle seine Blumen auf einmal sprechen läßt.

34 Jean/Hans Arp: Ruche des Rêves/Traumbienenkorb (ca. 1938/1944), zitiert und übersetzt in: ders. (o.J.), S. 106f. 35 Hans Arp: Ewige Traumblumen (1966), in: ders. (1984), S. 257-259.

IV. D AS A TELIER

DER

„W ACHTRAUMDICHTUNG “ | 225

Worte die nicht geschrieben oder gesprochen sondern nur geduftet werden können. Worte die nur gemalt werden können.36

Mit Arps „Worten“ wird die beschriebene Geschichte der modernen Poetologie und Meta-Lyrik im Zeichen ihrer Vegetationssymbolik an eine ihrer möglichen Endstufen geführt („Worte von Mund zu Abgrund“37), wie sie typisch für die Avantgarde des 20. Jahrhunderts, Dada und Surrealismus zumal, typisch erscheint. Denn Arps Gedicht wird beherrscht von einer „Alchemie des Worts“38, die schon von Rimbaud, Ball und Breton gefordert und praktiziert worden ist und sich durch den strategischen Gebrauch magischer Operationen auszeichnet. Arp bekennt sich in seinem Text ganz offen zu den paradoxen, Antinomien überkreuzenden und dadurch ‚magisch‘ auflösenden Strategien solcher sprachlichen Umgangsweisen: „Worte auf Wunderwanderung. [...]/ Spiegelschriftworte./ Ein richtiges Wort am falschen Ort/ und ein falsches Wort am richtigen Ort/ [...]/ Oft sind die falschen Worte die richtigen Worte/ [...] Worte um im trüben Wassern zu fischen./ Entsprechende Wortspäße/ für verteufelt finstere Gründe.“ Denn bei den von ihm beschriebenen „Worten“ handelt es sich zum einen weiterhin und ganz konventionell unbestreitbar um sprachliche, gar poetisch formulierte Gebilde, zum anderen wird aber explizit suggeriert, dass diese „Worte“ in der Lage sind, eben diesen sprachlichen Charakter gänzlich abstreifen und durch nicht-sprachliche Qualitäten ersetzen zu können: „Worte die nicht geschrieben oder gesprochen/ sondern nur geduftet werden können./ Worte die nur gemalt werden können.“ Diese Ersetzung findet aber – sprachlich gesehen – durch synästhetische Metaphern statt, durch Sprachbilder des Lichts, der Farbe und des Geruchs („Lichte lautlose süßduftende Worte“, „Worte aus dunkelfunkelndem Duft“, „Wortlose schwarze Kugelsterne“), deren Vorbild und Modell ganz offenbar der semantische Bereich von „Blume“ und „Pflanze“ bildet, die aber, und das ist das Entscheidende, in dieser Auffassung keine, oder aber nicht mehr nur Metaphern sein sollen, sondern als ‚echte‘ Realien verstanden werden wollen. Anders gesagt: Poesie ist nicht mehr ‚wie‘ eine „Blume“, wovon noch alle nicht-avantgardistischen Poetologien ausgegangen sind, sondern sie stellt sich nun ‚als‘ „Natur“ dar, sie ‚ist‘ wunderbarerweise „Natur“, – oder noch prägnanter: „Kunst“ und „Leben“ sind an diesem Ort eins geworden.

36 Vgl. Hans Arp: Worte (1961), in: ders. (1984), S. 128-133. 37 Diese und die folgenden Zitate Arps ebenfalls aus ders.: Worte (1961), ebd. 38 Vgl. Bischof (2001), S. 181-198.

226 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Im Folgenden gilt es nun genauer zu beobachten, wie Arp, der Gärtner avantgardistischer Kunst und Literatur, seine „Dada-Rose“ und damit die allgegenwärtige Blume der Poesie in das Treibhaus einer surrealistischen Traumlandschaft umgepflanzt hat. In diesem Rahmen wird ein besonderes Augenmerk darauf zu legen sein, wie es Arp im Einzelnen gelungen ist, die Sprache der Dichtung aus ihrem Traum erwachen zu lassen, so, dass sie ihre stummen Münder öffnen und die in sich versunkenen Augen aufschlagen kann.

IV.1 „DIE UNGEWISSE W ELT “ | 227

IV.1 „D IE UNGEWISSE W ELT “ – M ELANCHOLISCHE M ETAMORPHOSEN „Eine singende Rose/ schlüpft aus einem mondenen Ei“ (HANS ARP: NEUE GEDICHTE) „Wer spiegelnde Hände hat hüte sich gut/ daß kein Hauch sie trübe“ (HANS ARP: IM HOFFNUNGSLOSEN)

Abbildung 83: Salvador Dalí: „Metamorphose des Narziß“ (1937)

228 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

„1939“: Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs markiert einige bedeutsame Veränderungen im Leben und im dichterisch-künstlerischen Werk Arps. Lebensgeschichtlich sind vor allem drei Tatsachen hervorzuheben: Erstens die Auflösung der avantgardistischen Künstlerszene in Paris, die gerade auch Arps konstruktivistische und surrealistische Freundes- und Kollegenkreise betraf, zweitens die Flucht aus der französischen Hauptstadt, die eine intensive Suche nach einem sicheren Exil innerhalb und außerhalb Frankreichs nach sich zog, drittens der Tod seiner Frau Sophie, die im Januar 1943 durch einen tragischen Unfall ums Leben kam. Dichterisch bedeuteten die Veränderungen eine Zäsur, da verstärkt wieder politische wie auch poetologische Themen in Arps Werk Eingang fanden, eine Entwicklung, mit der auch Veränderungen auf der Ebene der literarischen Verfahren einhergingen: Ein klarer sprachlicher Aufbau seiner Gedichte ist genauso zu bemerken wie die – eigentlich erstmalige – Aufnahme einer lyrischen IchPerspektive, einer grundierenden elegischen Tonart wie auch einer ausgeprägten surrealen Bildlichkeit und Symbolik. Nach dem Angriff Hitlers auf Polen im September 1939 und der anschließend erfolgten Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs wandte sich die Aggressionspolitik Nazi-Deutschlands auch gegen seine nördlichen und westlichen Nachbarländer. Der Invasion Dänemarks und Norwegens folgte im Mai 1940 der Einmarsch in die Niederlande, nach Luxemburg, Belgien und Frankreich. Paris fiel kampflos am 14. Juni, eine Woche später wurde das für den Unterlegenen unrühmliche Waffenstillstandsabkommen von Compiègne geschlossen, das die Besetzung des nördlichen Teils Frankreichs durch die deutschen Truppen besiegelte. Die französische Regierung unter Marschall Pètain hatte sich derweil in den unbesetzten Süden zurückgezogen und Vichy zur neuen Hauptstadt erklärt. Ihr autoritäres Regime (der sogenannte „État Français“), das auf eine begrenzte Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich setzte, wurde von kritischen Zeitgenossen, die sich in der Bewegung eines „Freien Frankreichs“ und der Résistance zusammenfanden, als Verrat empfunden. Das Vichy-Regime war denn in dem Moment endgültig gescheitert, als im Jahre 1942 die deutschen Truppen auch den südlichen Landesteil okkupierten. Für die Künstlerszene von Paris, die sich als eine Art Welthauptstadt der freien Kunst verstand, waren diese Ereignisse mit dramatischen Entwicklungen verbunden. Denn den deutschen Besatzungstruppen war die avantgardistische Kunst politisch wie auch ästhetisch ein Dorn im Auge, den sie, wie im eigenen Land, nicht zu dulden gewillt waren und deren Protagonisten darum um Leib und Leben bangen mussten. Für viele Avantgardisten bedeutete somit die deutsche Okkupation ein jähes Ende ihrer Arbeit wie auch ihres Bleibens in der französischen Hauptstadt. Nur wenige konnten, wie Picasso, mehr oder weniger un-

IV.1 „D IE UNGEWISSE W ELT “ | 229

behelligt so weitermachen wie bisher, die meisten mussten untertauchen und fliehen oder schlossen sich einer der Widerstandsgruppen an. Ihrer gemeinsamen Aktionsbasis beraubt, zerfielen die avantgardistischen Gruppierungen gewissermaßen von einem Tag auf den anderen, ein Massenexodus von Künstlern, Dichtern und Intellektuellen mit ungewissem Ziel und ungewisser Zukunft setzte ein. Dies betraf natürlich auch die Pariser Surrealisten, ehemalige wie auch noch ‚offiziell‘ dazugehörige: So schlossen sich z.B. Aragon, Éluard und Tzara der Résistance an, während andere wie Breton, Duchamp, Ernst, Masson und Péret sich einen Weg nach Südfrankreich und später nach Amerika ebnen mussten. 39 Für viele war diese Flucht nicht ihr erster Exodus. Bedingt durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs oder auch die Säuberungspolitik unter Stalin oder Hitler, sah sich ein größerer Teil der Pariser Avantgarde, darunter viele Juden, zum wiederholten Mal mit Vertreibung und der Suche nach einem Exil konfrontiert.40 Auch Arp gehörte in gewisser Weise zu dieser Gruppe der mehrfach Exilierten. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er sich, wohl auch aus Verdruss über die politisch-sozialen Verhältnisse in Deutschland, dazu entschlossen, seinen deutschen Pass mit einem schweizerischen bzw. französischen zu tauschen, nach dem Machtantritt des NS-Regimes fühlte er sich Deutschland gegenüber endgültig „heimatlos und vertrieben“, wie bezeichnenderweise eine seiner Papierarbeiten aus den dreißiger Jahren betitelt ist. Der neuerliche Kriegsausbruch machte nun auch sein Bleiben in seiner Wahlheimat Paris unmöglich. So verließ Arp, zusammen mit seiner Frau, noch kurz vor dem Einmarsch deutscher Truppen die französische Hauptstadt, um bei Freunden im unbesetzten Gebiet Unterschlupf zu suchen, zunächst bei Gabrielle Picabia und César Doméla im aquitanischen Nérac, dann bei Peggy Guggenheim in Annecy (Obersavoyen), schließlich – im September 1940 – bei Alberto und Susi Magnelli im provenzalischen Grasse. Hier, im mittelmeernahen Süden Frankreichs, verbrachten er und Sophie einen Großteil der nächsten zwei Jahre, lediglich unterbrochen durch einen Kuraufenthalt Sophies in der Schweiz und zwei nicht ungefährlichen Reisen ins heimatliche Meudon, die sie getrennt voneinander unternahmen, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen und dagebliebene Freunde wiederzutreffen. Eine Reise nach Marseille, die ebenfalls in diesen Zeitraum fiel, sollte die Möglichkeit einer Ausreise in die USA erkunden, ein Plan, der teils an den Bedenken der Arps, teils an der örtlichen Visapraxis und den beschränkten Transportmöglichkeiten auf den Transatlantikschiffen scheiterte. Der neuerliche Einmarsch deutscher Truppen Ende 1942 erzwang schließlich ein erneutes Verlassen des Aufenthaltsorts, die

39 Vgl. dazu ausführlich: Isenberg (2001). 40 Vgl. z.B. Beyme (2005), S. 515ff. und 707ff.

230 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

neue Zuflucht in der Schweiz sollte Arp erst nach Ende des Kriegs wieder verlassen.41

Abbildung 84: Hans Arp: „Heimatlos und vertrieben“ (zuerst in: Minotaure, No. 8, 1936)

Die Lebensumstände in Grasse waren schwierig. Mehrfach mussten die Arps umziehen, etwa von der Unterkunft bei den Magnellis in die komfortable Villa „Chateau Folie“, ein Domizil, das sie aber wieder aufgeben mussten, nachdem das Haus von den Behörden beschlagnahmt worden war, sodass sie schließlich in ein kleines Haus in das nahegelegene Örtchen Chemin de la Mosquée auswichen. Auch die übrigen Umstände waren nicht einfach: die Arps litten an permanentem Geld- und Brennstoffmangel, an fehlender und unzureichender Ernährung und schlechter Gesundheitsfürsorge. Zudem bedrückte Arp der Mangel an Materialien für seine bildkünstlerischen Tätigkeiten sowie der lediglich spärliche Kontakt mit anderen Künstlern und Intellektuellen, schließlich war der kontaktfreudige Arp aus seinen Züricher und Pariser Zeiten ganz andere Verhältnisse gewohnt. Es kann daher nicht verwundern, dass sich phasenweise eine depres-

41 Vgl. Ströh (1994), S. 8-27, insbes. S. 20f.; vgl. zu einer literarisch-dokumentarischen Aufarbeitung von Arps und Sophie Taeubers Leben und Wirken (nicht nur) zu diesem Zeitraum die „Romanbiographie“ von Mair (1998), insbes. S. 172-195.

IV.1 „D IE UNGEWISSE W ELT “ | 231

sive Melancholie in seinem Lebensgefühl ausbreitete, von dem auch der Stil mancher dort entstandener Werke nicht unberührt geblieben ist, erkennbar etwa am elegischen Ton des einsamen, isolierten Ich in bestimmten Gedichten. Andererseits ist zu bemerken, dass die Abgeschiedenheit in Grasse teils auch Arps künstlerische Produktivität begünstigte, sei es in der Arbeit mit den wenigen anderen, die ihm in seiner Umgebung geblieben waren, sei es für sich allein. Arp arbeitete, soweit materiell möglich, an seinen Skulpturen und Reliefs weiter und machte aus der Not eine Tugend, indem er in den sogenannten „Papiers froissiers“ die Verwendungsmöglichkeit von zerknülltem Papier und Fingerfarbe für sich entdeckte. Über die bildkünstlerischen Arbeiten, die zusammen mit seiner Frau, den Magnellis und Sonia Delaunay entstanden sind und später in die Veröffentlichung des „Album Grasse“ mündeten, heißt es beispielsweise im Rückblick Arps: Wir lebten dort während zwei Jahren an diesem wunderbaren Gestade, von bebenden Lichtkronen, wehenden Blumenfittichen, klingenden Wolken umgeben und versuchten das Grauen in der Welt zu vergessen. Wir zeichneten, aquarellierten und lithographierten gemeinsam und schufen so eines der schönsten Bücher. Das Buch trägt als Titel die Namen der Vier. Ursprünglich planten wir das Buch anonym erscheinen zu lassen. Trotz der unheilvollen Zeit gehört für mich die Arbeit jener Zeit zum Schönsten, was ich erlebt habe.42

Zugleich machte Arp in diesen Tagen keinen Hehl aus seinem Abscheu vor dem Krieg und seinem Eintreten für dessen Opfer. Er verließ demonstrativ den Raum, sobald er Soldaten begegnete, schaltete das Radio ab, wenn etwas ‚deutsches‘ zu hören war (und sei es die Musik Mozarts oder Beethovens), bezeichnet sich gar selbst – provokant und kontrafaktisch – als „Jude“ („Ich bin auch ein Jude“). Mit seiner Frau sorgte er für Hilfeleistungen, die in Not geratenen Kindern, aber auch Verfolgten auf ihrer Suche nach einem sicheren Ort zu Gute kamen. Auch seine schriftstellerischen (und künstlerischen) Tätigkeiten lassen sich zumindest zum Teil in diesem gewandelten Kontext verorten. Arp beschloss, seine Werke von nun an mit „Jean“ statt „Hans“ zu signieren, was teils aus Protest gegen die deutsche Besatzung, teils aus Schutz vor Denunziation und Entdeckung geschah. In sein bildkünstlerisches und dichterisches Werk fanden, etwa durch die Titelgebung, vermehrt teils explizite, teils verschlüsselte Stellungnahmen zu den politischen Zeitverhältnissen Eingang, wie etwa an dem, schon genannten behan-

42 Hans Arp: Betrachten (1958), S. 84-104, hier S. 102-104. Vgl. Mair (1998), insbes. S. 172-195.

232 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

delten, Pamphlet „Le grand Sadique à tout casser“ (1942) ablesbar ist. Die Aufrechterhaltung seines Kontakts zu den verfemten und nach Amerika geflohenen Konstruktivisten und Surrealisten, aus dem z.B. 1942 ein Einleitungstext Arps zu der von Peggy Guggenheim veranstalteten Ausstellung „Art of his Century“ resultierte (die beiden anderen Textbeiträger waren Mondrian und Breton), muss denn auch als eine Form des Widerstands gegen die verordnete Kulturpolitik des auch darin deutschlandnahen Vichy-Regimes gewertet werden. Gleiches gilt selbstverständlich für den weiterhin avanciert gehaltenem Ton seiner Bilder und Worte. Auf dichterischem Gebiet ist mithin eine gegenüber den Vorjahren noch zunehmende sprachliche Zweigleisigkeit Arps zu bemerken. Auf der einen Seite verstärkt er seine französischsprachige Produktion, wie sich an seinem Beitrag zu dem surrealistischen Kollektivroman „L’Homme qui a perdu son squellette“ (1939) sowie der Veröffentlichung der beiden Gedichtbände „Bestiare sans prenome“ (1941) und „Rire de cocquille“ (1944) zeigt. Auf der anderen Seite ist es keineswegs so, dass Arp das Schreiben auf Deutsch eingestellt hat. Noch 1939 war seine Sammlung „Muscheln und Schirme“ erschienen, während der Kriegszeit trug er sich mit dem Plan, eine Gedichtsammlung mit dem Titel „Das ovale Ei“ herauszubringen. Und schließlich ist die Textsammlung „Die ungewisse Welt“, die im Weiteren von Interesse sein wird, zwar erst in den fünfziger Jahren veröffentlicht worden, aber nach Angaben ihres Autors in der Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) entstanden. Dass diese Texte wirklich aus dieser Zeit stammen, ja vermutlich zum größeren Teil vor dem Tode Sophies in der Schweiz (Anfang 1943) verfasst bzw. in ihren Grundlinien entworfen worden sind, dafür sprechen eine Reihe ihrer Kennzeichen: die deutlichen Anklänge an die Thematik von Flucht und Vertreibung, die eher zu der prekären Lage im bedrohten Süden Frankreichs als zu der relativ gesicherten Lage im schweizerischen Exil passen, die topographische Grundatmosphäre bestimmter poetologischer Gedichte, die auf den Einfluss einer mediterranen Landschaft wie es das provenzalische Grasse geboten haben mag, schließen lassen, schließlich das Fehlen „Sophies“, deren Tod zum beherrschenden Thema der erst nachfolgenden Gedichte geworden ist. Der Titel „Die ungewisse Welt“ ist natürlich als Anspielung auf die Ungewissheiten einer Zeit des Welt-Kriegs zu verstehen, für einen vorherrschenden Bezug auf die aktuelle Zeitgeschichte sind im Einzelnen die Gedichte „Im Hoffnungslosen“ und „Das blinde Sein“ typisch. Sie gehören zur Gruppe der ersten drei abgedruckten Gedichte der Sammlung, was möglicherweise auf ihr relativ frühes Entstehen innerhalb der angegebenen Chronologie „1939-1945“ hinweist. Kriegsausbruch, Invasion und Flucht werden in den Texten zwar nicht wort-

IV.1 „D IE UNGEWISSE W ELT “ | 233

wörtlich benannt, was als eine Maßnahme wohl bewusst selektiven Sprachgebrauchs zu werten ist, der aus tiefem Abscheu, aber auch als Selbstschutz vor den bedrückenden Geschehnissen entstand. Bezeichnenderweise heißt es denn auch an einer Stelle: „Wer spiegelnde Hände hat hüte sich gut/ daß kein Hauch sie trübe ...“43 Dennoch sind die autobiographischen und damit politischen Bezüge nicht zu übersehen, die sich hinter den gewählten Worten und Bildern symbolisch verstecken. Vorherrschend ist ein elegischer Ton der Trauer über das Glück vergangener Tage und das Unglück im Jetzt, vorgetragen aus der Perspektive eines lyrischen, gleichsam pragmatischen Ich, das sich einsam und isoliert in einer Welt surrealer Bilder und Symbole bewegt. Die Stimme affektiver Reflexion wendet daher ihren Blick zunächst rückwärts, zu Ereignissen der Vorkriegszeit: „Gestalten wie verjährter Widerhall ziehen an mir vorüber./ Gallertartige Gewebe verhüllen eine große Puppe/ die auf einem einsamen Platz aufgestellt ist.“ Die „wie verjährter Widerhall vorüberziehenden Gestalten“ besitzen einen vieldeutigen Anspielungsreichtum auf zeitgenössische Freunde, Bekannte und Künstlerkollegen, die „große Puppe“ hingegen engt die Assoziationsmöglichkeiten entscheidend ein, da sie eines der bekanntesten Symbole des zeitgenössischen Surrealismus von Ernst über Dalí bis Bellmer darstellt. Konkret erinnert sie zum einen an die puppenartigen Gestalten Chiricos, wie etwa den „Großen Metaphysiker“ (1916), für die ebenfalls das Aufgestelltsein auf einem „einsamen Platz“ charakteristisch war. Zum anderen lesen sich Arps Worte als Verweis auf die bekannte Wiederkehr des Symbols in der letzten großen, mit beachtlicher öffentlicher Resonanz verbundenen Surrealismus-Ausstellung der Vorkriegszeit, die noch 1938 in der französischen Hauptstadt durchgeführt werden konnte. Die Symbolik der Puppe umspannt damit gewissermaßen die Anfangs- und Endzeit der surrealistischen Bewegung zwischen den beiden Weltkriegen, mit einem gewissen Akzent auf letztere. Im Vorhof der ausrichtenden Galerie Beaux-Arts begegnete der Zuschauer zwei Puppen in Dalís „Regentaxi“, wobei echte dicke Weinbergschnecken ihre Schleimbahn über die auf dem Hintersitz sich befindliche weibliche Figur zogen. Auf dem sich anschließenden langen, breiten Flur, der auch die ‚surrealistische Straße‘ genannt wurde, waren etwa zwanzig, in der Regel lebensgroße weibliche Wachsfiguren aufgestellt, die durch die teilnehmenden Surrealisten in jeweils eigenwilliger Manier ‚angekleidet‘ und ‚geschmückt‘ worden waren. Zu den künstlerischen Ausstattern gehörten viele namhafte Surrealisten, Ernst, Duchamp, Man Ray, Masson, Miró, Tanguy, Dalí,

43 Hans Arp: Im Hoffnungslosen (1939/1945), in: ders. (1974), S. 34f., hier S. 35.

234 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Marcel Jean, Dominguez, Paalen, Matta, Malet, Seligmann und andere.44 Auch Arp hatte ‚seine‘ Puppen-Version dazu gesteuert, und zwar eine Figur, die von Kopf bis zu den Knien mit einem schwarzen Plastiksack verhüllt war. Dass diese „Puppen“ nun im Gedicht Arps mit einem „gallertartigen Gewebe“ bedeckt waren, konnte in dem zeitbedingten Kontext nichts anderes meinen, als das bis auf Weiteres die Zeit der großen Ausstellungen surrealistischer und avantgardistischer Kunst offenbar ‚perdu‘ war.

Abbildung 85: Denise Bellon: „Hans Arps ,Mannequin‘“ (1938)

An anderen Stellen der Gedichte werden Angst und Anklage gegenüber der politischen Situation der Gegenwart deutlich, die in einschneidender Weise auch Arp selbst betrafen. In symbolischer Form ist von Krieg, Terror und Verwüstung in den folgenden Formulierungen die Rede: „Es stöhnt im Hoffnungslosen./ Die finstere Schattenkrone die auf der Welt lastet will sich nicht heben“45, bzw.: „Der wunde Himmel will nicht heilen./ Es lodert schwarz und klagt./ Die finstere Klage will nicht enden./ Zwischen Aschehügeln zottigen Ruinen trägem Qualm/

44 Vgl. Jean (1959/1961), S. 280-288. 45 Hans Arp: Im Hoffnungslosen (1939/1945), in: ders. (1974), S. 34f., hier S. 34.

IV.1 „D IE UNGEWISSE W ELT “ | 235

lauere ich auf einen himmlischen Funken.“46 Der Tod lauert in unmittelbarer Nähe: „Ein Hündchen blickt mich aus brechenden Augen an/ und verendet im Schoße seiner toten Herrin.“47 Und noch stärker bezogen auf das eigene Ich, ist von Verfolgung, Verhör und der verzweifelten Suche nach einem sicheren Zufluchtsort die Rede. Dabei haben offensichtlich Arps Erfahrungen mit einer verbreiteten Ignoranz in Sachen Visa- und Asylpraxis der Auswanderstaaten, dem „blinden Sein“, wie es im Titel heißt, Eingang in seinen Text gefunden: Schwarze Sterne streichen gierig umher. Sie verschonen nichts Lebendes. Heimtückisch zerreißen sie den Menschen diese langsam reifende Frucht. [...]. Schattenungeheuern muß ich Rede und Antwort stehen.48 Meine Träume zerschinden sich in bösen steinigen Betten. Vergeblich ging ich tausend Wege. Immer drohten die Türme einzustürzen auf denen ich Ausschau halten wollte. [...]. Ich kann aus meiner grauen Heimat nicht entfliehen.49 Ich eile wie ein gehetztes Wild. Ich eile eile aber komme zu spät. Ich eile weiter. Ich suche ein Versteck aber alle Verstecke sind überfüllt. Das blinde Sein der Menschen vermag ich nicht mehr zu ertragen. Immer unverständlicher wird mir die Sprache der Menschen. Die Räume die ich betrete sterben.50

46 Hans Arp: Das blinde Sein (1939/1945), in: ders. (1974), S. 37f. 47 Ebd., S. 37. 48 Ebd. 49 Hans Arp: Im Hoffnungslosen (1939/1945), in: ders. (1974), S. 34f., hier S. 34. 50 Hans Arp: Das blinde Sein (1939/1945), in: ders. (1974), S. 37f., hier S. 38.

236 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 86: Salvador Dalí: „Anthropomorpher Schrank mit Schubladen“ (1936) „Menschen räumen rauchende Trümmer in düstere Schränke“51: Arp hat schließlich Dalís berühmte Katachrese von Mensch und Möbel, wie sie z.B. das Gemälde „Anthropomorpher Schrank mit Schubladen“ prägt, auf seine Situation Anfang der vierziger Jahre appliziert. Dalís Bild zeigt eine dunkle Figur in einem dunklen Raum, abseits der belebten Straße, die trauernd, den Kopf gesenkt, halb aufgestützt und halb am Boden liegend einen Arm flehend und den anderen abwehrend ausgestreckt hat. Die Schubladen, die, ebenfalls halb ausgezogen, aus seinem Oberkörper staken, konnten für Arp durchaus eine semantische Doppelfunktion übernehmen, die aber beide auf das Unbewusste im Sinne Freuds zielen: Zum einen als Symbol des Verdrängungsmechanismus gegenüber der schrecklichen Gegenwart, wie es Arps Worte vom Einräumen der „rauchenden Trümmer“ in „düstere Schränke“ andeuten, zum anderen als Erforschung des eigenen Unbewussten, was für den Künstler Arp vor allem das Unbewusste seiner Dichtung und Kunst bedeutete. Schon Dalí hatte in diesem Sinne die Schubladen-Metaphorik in seinem Werk interpretiert, indem er davon sprach, dass der Mensch „voller geheimer Schubladen sei“, die „nur die Psychoanalyse zu öffnen imstande ist.“52 Und nichts Geringeres sollte sich Arp ja ebenfalls vornehmen, als diese Geheimschubladen des Unbewussten in Bezug auf seine eigene Kunstpraxis zu öffnen, und zwar in einer Reihe seiner gleichzeitig entstandenen poetologischen Gedichte.

51 Ebd., S. 37. 52 Vgl. Descharnes/Néret (1993/1), S. 276.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 237

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ – D IE U RSZENE SURREALISTISCHER P OESIE UND K UNST „Ich lernte im Traume schreiben und erst viel später mit großer Mühe lesen.“ (HANS ARP)

Abbildung 87: Giorgio de Chirico: „Das Gehirn des Kindes“ (1914)

238 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Surrealistische Metapoesie thematisiert, soweit sie diesen Namen verdient, Grundaxiome des Surrealismus, und zwar indem sie diese zugleich anhand für geeignet erachteter Verfahren und Methoden poetisch inszeniert. Sie spricht über Traum, Unbewusstes und Zufall und entführt dazu den Leser in eine von diesen Darstellungstechniken bestimmte Wort- und Bildwelt. Arps Metapoesie, so die hier vertretende These, stellt sich diesem avancierten Anspruch, darin einzig in der deutschsprachigen Dichtung ihrer Zeit. Seine poetologische Lyrik atmet surrealistischen „Geist“, zeigt sich mithin auf inhaltlich-semantischer Ebene von der Gedankenwelt der Avantgarde geprägt und ist zugleich auf der formalen Ebene, d.h. in ihrer Perspektivität, Situationalität und Symbolik durchtränkt vom Surrealismus veristischer Tonart. Ihren Anfang – oder zumindest ihre vertiefte Ausarbeitung – hat das damit intendierte Werksegment Arps offensichtlich in der Zeit des Exils nach 1939/1940 gefunden; das Ende der Produktion und Veröffentlichung solcherart Gedichte ist hingegen auf die Mitte und das Ende der fünfziger Jahre festzusetzen. Alle hier gemeinten Texte verfolgen das Thema einer surreal-avantgardistischen Literatur- und Kunstproduktion, wenn auch in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Denn während die – auch motivisch engverwandten – Gedichte „Mein eignes Gesicht“ und „Seine würfelnden Hände“ die psychogenerativen Voraussetzungen und Vorgänge künstlerischer Produktivität in den Mittelpunkt der Darstellung rücken, handelt es sich in „Die Ebene“ und „Die graue Zeit“ eher um strukturelle Elemente und Funktionen des surrealen Kunstprodukts selbst, insbesondere in seiner Formgebung als Lyrik und in Gestalt des einen involutiven Chronotopos. „ich bin ein pferd“ (1939) und „Ein Hirsch fährt Gondel“ (1956) konzentrieren sich schließlich auf die Allegorie des surrealistischen Dichter-Künstlers und seines produktiven Tuns, wohingegen „Genau von der Mitte der Decke“ (1958) Anlass gibt, eine Art Summe von Arps Künstlerdasein zwischen Abstraktion, Dada und Surrealismus zu ziehen. Jede Metapoesie ist als eine Form der Dichtung aufzufassen, die im Medium der Literatur ihre eigenen Bedingungen, Strukturen und Funktionen zur Sprache bringt. Sie ist insoweit immer auto-reflexiv und setzt mithin einen mehr oder minder ausgeprägten Grad an künstlerischer Bewusstheit voraus, der ihren Schaffensprozess initiiert, begleitet und nachbearbeitet. Dies gilt per definitionem auch für eine Metapoesie im Zeichen des Surrealismus. Auch diese Spielart poetologischer Literatur ist also durch einen nicht zu unterschätzenden Anteil bewusster Gestaltungsvorgänge bestimmt. Dies soll im Folgenden nicht als ein Widerspruch gegen die Doktrin surrealistischer Kunstauffassung verstanden werden. Denn, wie die neuere Forschung betont, hat die reine Lehre vom automatischen Schreiben wohl nur für die Inkubationszeit des Surrealismus alleinige

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 239

Geltung besessen, in der praktisch-künstlerischen Arbeit wie auch in der theoretischen Reflexion. Spätere Phasen haben dagegen auch die Anteile bewusst kontrollierter Mechanismen während und infolge des künstlerischen Prozesses rehabilitiert, wie etwa bekannten Exempeln des späteren literarischen Surrealismus und der von ihm gepflegten Genres des Romans, des Essays und der poetologischen Lyrik abzulesen ist. Die damit angesprochene Entwicklung im Selbstverständnis surrealistischer Kunst, die von der mehr oder weniger einseitigen Akzentuierung des Unbewussten gegenüber dem Bewussten zu einer Balance zwischen antinomischen Bewusstseins- und Seinszuständen führt, lässt sich auch an einigen einschlägigen Äußerungen und Werken verfolgen. Wie angedeutet, findet sich das Insistieren auf den sich unbewusst vollziehenden Schreibvorgang der écriture automatique als einzig akzeptiertes Verfahren surrealistischer Aktivität eigentlich nur im Frühstadium der Bewegung Anfang der zwanziger Jahre. Auf der Ebene praktizierter Schreibvorgänge erhoben Breton/Soupaults „Die magnetischen Felder“ (1919) sowie die Traumtexte, Traumprotokolle und Wortexperimente der frühen Surrealisten, die Anfang und Mitte der zwanziger Jahre entstanden waren, für sich den Anspruch, Exempel des völlig ‚reinen‘ Automatismus zu sein, das durch Bretons berühmte Surrealismus-Definition im „Ersten Manifest“ der Bewegung (1924) – „Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung“53 – zum anscheinend allein gültigen Credo erhoben wurde. Der darin enthaltende Geltungsanspruch sollte sich nicht nur auf den zunächst dominant praktizierten Bereich schriftsprachlicher Darstellungsformen erstrecken, sondern in transmedialer Weise auf alle Gebiete moderner Ausdrucksweisen, insbesondere denjenigen der bildenden Kunst. Umgekehrt konnten aber auch schon in der Frühzeit der Bewegung künstlerische Werke als meta-ästhetische Formgebung dieser Auffassung künstlerischer Produktivität verstanden bzw. konzipiert werden. Im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahre führte die Einsicht in die technische wie wohl auch ästhetisch-erkenntnistheoretische ‚Unmöglichkeit‘ einer reinen Befolgung der Automatismus-Doktrin zu einer neuerlichen Aufwertung auch bewusster und bewusst kontrollierender Anteile im künstlerischen Produktionsprozess. In der Folge wurden die automatischen Traumtexte durch Textund Bildformate abgelöst, die einen wieder höheren Anteil literarischer Formgebung zuließen, wie etwa Aragons Roman „Der Bauer von Paris“ (1926), aber

53 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 26.

240 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

auch Bretons „Nadja“ (1928) und dessen halb narrative, halb reflexiv-theoretische Essays und Gedichte der dreißiger und vierziger Jahre beweisen. Auch Graphik, Malerei und Plastik lösten sich mehr und mehr aus den Banden der frühen Theorie und ihre Protagonisten wie Ernst, Magritte oder Dalí interpretierten den Surrealismus immer stärker auf ihre jeweils eigene Weise. Dieser schleichende Wandlungsprozess erfuhr in theoretischer Weise seinen Niederschlag in entsprechenden Selbstkommentierungen, die in zunehmender Weise eine Relativierung und ‚Ergänzung‘ des strengen Postulats der Frühzeit signalisierten. Schon Aragon hatte in der „Traumwoge“ (1924) von einem künstlerischen Entstehungsprozess „auf Schwelle des Schlafs“54 gesprochen, Ernst in „Jenseits der Malerei“ (1936) von „Visionen im Wachtraum“ bzw. „Wachtraum-Visionen“55 und Éluard in „Die poetische Evidenz“ (1937) vom Dichter als einem „Wachträumer.“56 Benjamin Péret, von den Anfangstagen bis zum Ende führendes Mitglied der surrealistischen Bewegung und neben Breton und Éluard einer ihrer anerkanntesten Dichter, gemahnte denn auch in einem Essay aus den vierziger Jahren („Das Wort hat Péret“, 1943) an eine Balance zwischen „Traum“ und „Wirklichkeit“ bzw. „Unbewusstem“ und „Vernunft“: Es geht mir nicht darum, hier die Poesie auf Kosten des rationalistischen Denkens zu verherrlichen, sondern darum, Einspruch gegen die Verachtung der Poesie durch die Anhänger der Logik und der Vernunft zu erheben, deren Entdeckung doch auch dem Unterbewußtsein entstammt. Die Erfindung des Weines hat die Menschen nicht dazu veranlaßt, auf das Wasser zu verzichten, um in Rotwein zu baden, und keiner wird darüber hinaus bestreiten wollen, daß es ohne Regen keinen Wein gibt. Gleichfalls würden ohne die Erleuchtung durch das Unterbewußtsein Logik und Vernunft immer noch in den Kinderschuhen stecken und nicht in die Versuchung kommen, die noch zu erschaffende Poesie zu verunglimpfen. Wenn die Wissenschaft aus einer magischen Deutung des Weltalls entstanden ist, so ist sie auf jeden Fall jenen Kindern der primitiven Horde sehr ähnlich, die ihren Vater ermordet haben. Immerhin machten sie einen großartigen himmlischen Helden aus ihm. Es wird die Aufgabe künftiger Generationen sein, die Synthese von Vernunft und Poesie zu finden; es ist unmöglich, sie weiter zu konfrontieren und beflissentlich sittsam einen Schleier über ihre gemeinsame Herkunft zu werfen. Dem so selbstsicheren rationalistischen Denken kann man vorwerfen, im allgemeinen seine unbewußte Grundlage überhaupt nicht zu berücksichtigen und willkürlich das Bewußte vom Unbewußten, den Traum

54 Aragon (1924/1986), S. 60-80, hier S. 65. 55 Ernst: Jenseits der Malerei (1936), in: Metken (1976), S. 326-333, hier S. 326 und 332. 56 Éluard (1937/1986), S. 311-321, hier S. 313.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 241

von der Wirklichkeit zu trennen. Solange die grundlegende Rolle des Unbewußten im psychischen Leben, seine Wirkung auf das Bewußte und dessen Rückwirkungen auf das Unbewußte nicht anerkannt worden sind, wird man weiter wie ein Priester, das heißt wie ein dualistischer Wilder denken – unter dem Vorbehalt jedoch, daß der Wilde ein Poet bleibt, während der Rationalist, der sich weigert, die Einheit des Denkens zu verstehen, ein Hindernis für die kulturelle Entwicklung bleibt. Wer diese Einheit aber versteht, erweist sich als Revolutionär, der, vielleicht ohne es zu wissen, danach trachtet, sich der Poesie anzuschließen. Es geht eigentlich darum, ein für allemal den künstlichen Widerspruch zwischen dem als prä-logisch bezeichneten, poetischen und dem logischen Denken, zwischen dem rationalen und dem irrationalen Denken zu bezwingen, der von Sektierern aufgestellt wurde, die von den beiden Seiten dieser gemeinschaftlich errichteten Barrikade gekommen sind. Ein Jahrhundert vor Freud bestätigte Goethe die allgemeine Anschauung, die in den Dichtern die Vorläufer des Wissenschaftlers sieht, und wies darauf hin, daß „der Mensch nicht lange im bewußten Zustand verweilen kann, und wieder ins Unterbewußte eintauchen muß, da dort die Wurzel seines Wesens lebt.“57

Auch bei Arp lassen sich entsprechende Tendenzen der theoretischen Akzentverlagerung nachweisen, die sich insbesondere in der Anerkennung auch bewusster (Nach-)Gestaltung zeigen. Analog zu Breton, Éluard und Ernst betrachtete auch er in seiner späten Schrift „Die Muse und der Zufall“ (1960) den Dichter als einen „Wachträumer“ und die moderne Kunst und Literatur als eine „Wachtraumdichtung.“58 Ebenso ist in seinen Textsammlungen „On my Way“ (1948) und „Unseren täglichen Traum“ (1955) sowie in seinen auf Französisch publizierten Stellungnahmen und Gesprächen, die ebenfalls in den vierziger und fünfziger Jahren entstanden sind, zu entnehmen, dass er sich auf einem Balanceakt wiederfand, der zwischen der Betonung des (reinen) Automatismus und einer Bejahung auch kontrollierender und kalkulierender Momente einen Ausgleich zu schaffen suchte. Nicht zu verkennen ist dabei die Nähe vieler Kommentare zur frühen Surrealismus-Auffassung, so wenn etwa an einer Stelle über den „Fluß“ schöpferischer Arbeit mit gesenkten Lidern die Rede ist, eine Formulierung, die an de Chiricos Gemälde und eine Reihe fotographischer Selbstportraits der Surrealisten erinnert: „Schon mit gesenkten Lidern fließt die innere Bewegung reiner in die Hand. In einem dunklen Raum ist der Fluß der inneren Bewegung noch leichter zu leiten.“59 Dieses sich hier angedeutet findende Bewusstsein ei-

57 Péret: Das Wort hat Péret (1943), in: ders. (1985), S. 93-117, hier S. 97f. 58 Arp (1960), S. 14-17, hier S. 16. 59 Hans Arp: Mit gesenkten Lidern (1955), in: ders. (1955/21995), S. 87.

242 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

nes bewussten Sich-Einlassens auf die assoziative Tätigkeit in einem Zustand des Wachtraums ist zugleich verbunden mit einer Entsubjektivierung des Ich, einem passiven, nicht weiter kalkulierenden Sich-Überlassen an die Eigentätigkeit und Selbsterzeugung künstlerischer Formenwelten: „Ich lasse mich von der Arbeit führen und vertraue ihr. Ich überlege nicht. Während ich arbeite, entstehen freundliche, seltsame, böse, unerklärliche, stumme, schlafende Formen. Sie bilden sich wie ohne mein Zutun.“60 Arp zeigt sich überzeugt, dass dieser Weg ins Innere weit ab von allen Ordnungen und Regularitäten der äußeren Gesellschaft und der durch sie bedingten Subjektivierungseffekte durch den Einzelnen führt. Ein Weg, der idealerweise eine Subversion des Gegebenen, eine Emanzipation des Ich von den ihn umgebenen Zwängen der Gesellschaft und des von ihr ausgehenden Konzepts kalküldominierter, also „berechnender“ Subjektivität bedeute: „Die Musen besuchen uns heute am ehesten, wenn wir wach träumen, wenn wir alle Gesetze, Regeln, Vorschriften, Probleme, springenden Punkte hinter uns lassen. Die Musen sind besonders gegen Rechnungen und Berechnungen. Die Muse ist unzuverlässig und schenkt erflehtem Stelldichein selten Gehör. Sie ist ein Outsider-Engel.“61 Dieser Weg ins Innere, der über die Assoziationsenergie des Automatismus führt, folge schließlich nur einem „Gesetz“, dem AntiGesetz des „Zufalls“, das wiederum gleichzusetzen sei mit dem „Urgrund“ und dem „reinen Leben“ der Philosophie sowie dem „Unbewussten“ der Psychoanalyse. So heißt es an einer Stelle über die Art und Weise seines künstlerischen Schaffensprozesses: Ich entwickelte die [...] Arbeit weiter, indem ich die Anordnung willenlos, automatisch ausführte. Ich nannte dies ‚nach dem Gesetz des Zufalls‘ arbeiten. Das ‚Gesetz des Zufalls‘, welches alle Gesetze in sich begreift und uns unfaßlich ist wie der Urgrund, aus dem alles Leben steigt, kann nur unter völliger Hingabe an das Unbewußte erlebt werden. Ich behaupte, wer dieses Gesetz befolgt, erschaffe reines Leben.62

Auf der anderen Seite kommt auch Arp nicht umhin, die Momente bewusster, reflektierender und interpretierender Vorgänge und Vollzüge im Rahmen des künstlerischen Schaffensprozesses zu thematisieren. „Ich lernte im Traume schreiben und erst viel später lesen“63, sagt er an einer Stelle, genauso wie: „Ich

60 Ebd., S. 84. 61 Arp (1960), S. 14-17, hier S. 16. 62 Hans Arp: Miszellen (1955), in: ders. (1955/21995), S. 74. 63 Hans Arp: Dreams and Projects (1951/1952), in: ders. (1974), S. 132f.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 243

trieb auch Traumanatomie“64 oder „die blumen aus fleisch haben eine sprache aus träumen.“65 Bezeichnend ist schließlich Arps Deskription der surrealistischen Frottage-Technik seines Freundes Max Ernst, deren Entstehen er aus einer Verbindung von Eigensinn des künstlerischen Materials und (halb-)bewusster Intervention des Künstlers erklärt, wobei er zur Charakterisierung dieser Intervention die Begriffe „Deutung“ und „Interpretation“ verwendet: Zu den wesentlichsten Werken neuerer Kunst gehören die Frottage von Max Ernst. Ein Papier oder eine Leinwand wird auf einer rauhen Unterlage mit Bleistift oder Kohle berieben. Die so durch den Zufall entstandene Zeichnung wird alsdann mit Pinsel, Farbe oder Bleistift interpretiert, gedeutet, wobei das Gelingen ausschließlich in den Händen der Mu66

se liegt.

Abbildung 88: Max Ernst: „Pietà oder die Revolution bei Nacht“ (1923)

64 Hans Arp: Werkstattfabeln (1955), in: ders. (1955/21995), S. 97. 65 Jean/Hans Arp: Ruche de rêves/Traumbienenkorb (ca. 1938/1944), in: ders. (o.J.), S. 106f. 66 Arp (1960), S. 14-17, hier S. 15.

244 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 89: Man Ray: „André Breton vor ,Das Rätsel eines Tages‘ von Giorgio de Chirico“ (1922)

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 245

Abbildung 90: André Breton: „Selbstportrait: Die automatische Schreibweise“ (1938)

246 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Die Spannweite dieser Kunstauffassung hat sich natürlich auch in die Produktionsweise surrealistischer Kunstwerke, deren Verständnis und Reflexion eingeschrieben. So wurde der Anblick von Giorgio de Chiricos „Das Gehirn des Kindes“ (1914), das einen Mann mit geschlossenen Augenlidern vor einem Buch zeigt, bekanntlich von Breton und anderen Gruppenmitgliedern wie Tanguy zu einer Art Erweckungserlebnis stilisiert, das ihnen die Augen für den Weg zum Surrealismus geöffnet habe.67 Max Ernsts „Pietà oder die Revolution bei Nacht“ (1923) stellt eine ganz bewusste Hommage an Freuds Psychoanalyse als Impulsgeber einer neuen Theorie und Praxis avantgardistischer Kunst dar, während sein Gemälde mit dem Titel „Eine Liebesnacht“ (1927) eine Art Situationsbeschreibung des Dichters bzw. Künstlers im Moment seiner produktiven Tätigkeit abgibt, die schon unübersehbare Anklänge an das später entwickelte symbolische Selbstbild als sitzender „Schachspieler“ – bei Ernst selbst – oder des in sich versunkenden „Würfelspielers“ – bei Arp – besitzt (vgl. die Deutung von Arps Gedichten „Mein Gesicht“ und „Seine würfelnden Hände“ im Folgenden). Besondere Relevanz, wiederum auch mit Blick auf Arp, besitzen zwei Fotocollagen aus den zwanziger bzw. dreißiger Jahren, an denen Breton mittelbar oder unmittelbar beteiligt gewesen ist. Beide thematisieren die Spannung des Subjekts zwischen den Polen des Bewussten und Unbewussten, wenn auch in jeweils anderer Gewichtung und Zuspitzung. Sie wählen dazu das Medium der Fotographie, das sie seiner konventionellen Abbild-Funktion entkleiden und – mithilfe der Collage – in ein Darstellungsmedium eines Zustands zwischen Traum und Wirklichkeit, Vertrautem und Fremden, Ich und Nicht-Ich verwandeln. Im ersten Fall, Man Rays „André Breton vor ‚Das Rätsel eines tages‘ von Giorgio de Chirico“ aus dem Jahre 1925, zeigt sich der Surrealistenführer mit einem Anzug bekleidet, auf der Seite liegend und mit weit geöffneten Augen. Seine Haltung und mehr noch seine Augen, die weniger den Bildbetrachter anstarren als vielmehr wie nach innen gerichtet erscheinen, suggerieren einen Zustand des Halbschlafs oder Traums, in den er versunken zu sein scheint. Inhalt seiner traumanalogen Imagination ist offensichtlich Chiricos Gemälde bzw. die auf ihr dargestellte Welt. Bretons „Lage“ ist mithin als eine Situation des intermediären Schwebe- und Schwellenzustands gekennzeichnet: Einerseits gehört er der Welt des Wirklichen an, symbolisiert durch seinen authentischen Körper und dessen alltägliche Bekleidung in einen Anzug, andererseits der Welt der Imagination und des Traumschlafs. Dabei stehen sich Leben und Traum, also die Welt von Realität und Imagination, nicht einfach antipodisch gegenüber, sondern das Faszinosum der Collage liegt gerade darin, eine Interferenz beider Seinszustände zu

67 Vgl. Maur (2000), S. 11-134, insbes. S. 11f.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 247

suggerieren. Um diese Wirkung zu erreichen, macht sich Man Ray die medialen Möglichkeiten der Collage und der Malweise de Chiricos zu nutze. Denn seine Darstellung baut auf die Wirkung abbildhafter, sichtbarer Realitätswiedergabe auf, die Fotographien konventionell zugesprochen wird, und verstärkt noch diesen Eindruck, indem sie den Unterschied zwischen der realistischen Abbildung Bretons und der fotographischen Widergabe eines Gemäldes (mit fiktionalem Inhalt) mithilfe der Collagetechnik geschickt kaschiert. Dazu werden Motive und Proportionen auf Chiricos Darstellung, die Größe und Anordnung des Gebäudes, des Platzes und des Standbilds so mit der Portraitaufnahme Bretons verbunden, dass dessen Figur gleichsam organisch darin zu ‚liegen‘ kommt. Der Surrealistenführer erscheint halb Teil der realen Welt, halb außerhalb ihrer situiert zu sein, und der Charakter dieses, seines Doppelantlitzes überträgt sich zugleich auf den Eindruck der Gesamtszenerie des Bildes. Denn die ambivalente Doppelwirkung, die von ihm ausgeht, besteht nämlich zum einen darin, den Betrachter in den Sog der dargestellten Traumwelt hineinzuziehen, zum anderen, ihren eigenen Bildrand gewissermaßen zu sprengen und selbst in die Welt der Realität hinauszutreten. Der Betrachter muss sich schließlich fragen, ob nicht das, was sich im Bild als Traumlandschaft dargestellt findet, genauso wirklich ist, wie das, was er alltäglich um sich herum wahrnimmt. Schließlich ist beides gleichermaßen für die Augen ‚sichtbar‘. Die zweite Foto-Collage ist mehr als zehn Jahre später durch Breton selbst entstanden und trägt den Titel „Selbstportrait: Die automatische Schreibweise“ („Autoportrait: l’écriture automatique“, 1938). Die Titelgebung verweist auf den programmatischen Gestus der Collage und in der Tat sind die Signale hinsichtlich bestimmter Grundkategorien surrealistischen Selbstverständnisses nicht zu übersehen. Auffällig im Vergleich zu Man Rays Collage aus den zwanziger Jahren ist sofort, dass die grundlegende duale Topik offensichtlich in ein triadisches Schema umgewandelt worden ist. Dahinter steht, so muss man vermuten, wohl die systematische Auseinandersetzung Bretons und der Surrealisten mit den Schriften Freuds und der dort ausgearbeiteten Topik des „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. Dieses triadische Grundschema wird offensichtlich übernommen, wenn auch in bildkünstlerisch überraschender Konkretisierung. Denn auf der Collage erscheint das „Ich“ der Lehre Freuds in der Person Bretons, mit einem Mikroskop hantierend und die Augen in Richtung des Bildbetrachters gerichtet. Ziel seiner (Traum-)Arbeit ist das zu mikroskopierende Objekt (das „Es“ im Sinne Freuds), eine nächtliche Landschaft mit Mond und Pferden, die dem mikroskopierenden Subjekt gerade zu entfliehen sucht. Als dritte Bildebene, die sich im Vergleich zu Man Ray als neu darstellt, ist im Hintergrund eine Frauenfigur eingefügt, die durch ein Fenster – oder Gefängnisgitter – die Szenerie lächelnd

248 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

beobachtet. Es liegt nahe, diese Figur als wohl ironischen Verweis auf Freuds Instanz des Über-Ich zu verstehen, die das vor ihren Augen sich Abspielende bewusst zu beobachten sucht. Die Collage trägt mithin den Charakter einer prägnanten Manifestation surrealistischer Kunstauffassung in bildkünstlerischer Form, indem grundlegende Theorieelemente Freuds aufgenommen und in symbolisch verfremdeter Form produktionsästhetisch gewendet werden. Dabei bleibt festzuhalten, dass jenes hier aufgenommene Fenster-Motiv keineswegs etwas Neues in Bretons Denkbewegung darstellt. Als Schwellensymbol eines Seinszustands zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Wachen und Träumen hatte es schon im Ersten Surrealistischen Manifest Verwendung gefunden, und zwar im Rahmen einer Reflexion des surrealistischen Schreibvorgangs, der écriture automatique: Es war ein Satz, der mir eindringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte [Hervorhebung im Original]. Rasch nahm ich davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Dieser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute behalten können, er lautete etwa so: „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften Vorstellung eines gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses Fenster die räumliche Veränderung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es hier mit einem Bild ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken, als es meinen poetischen Baumaterialien einzuverleiben. 68

Auch in dieser Darstellung arbeitete Breton schon mit rein psychischen Instanzen, dem rückblickenden Erzähler-Ich, dem wahrnehmenden Ich der Vergangenheit sowie der bildhaften Vorstellung des in zwei geschnittenen Mannes (das selbst wiederum ein Symbol des dualistischen Seinszustands im Sinne des Surrealismus ist). Und, für unseren Zusammenhang von größtem Interesse, findet sich die damit angesprochene Instanzen-Triade im Anschluss an Freud auch in Bretons zeitgenössischen ästhetischen Schriften, besonders deutlich in einem Kommentar über Arps literarisches Wirken. In dem – schon anfangs erwähnten – Kommentar aus der „Anthologie des Schwarzen Humors“ (1940) interpretiert Breton Arps Dichtung ganz explizit vor dem begrifflichen Hintergrund der Lehre Freuds von den drei psychischen Instanzen, die in Bretons sinnbildlicher Sprache

68 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 23f.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 249

mit einer Symbolik aus dem Bereich des Pflanzlich-Vegetativen in Verbindung gebracht werden. Arps Dichtung erscheint dadurch, wie schon einmal genannt, als surrealistische Dichtung „par excellence“, als Erfüllung ihres poetischen Programms. Könnte man durch das poetische Denken dieser Zeit einen Längsschnitt machen, würde man entdecken, daß seine Wurzeln das Es zutiefst durchdringen, das für den menschlichen Geist das ist, was die Erdkruste für die Pflanze. In diesem Es sind die mnemonischen Spurenelemente bewahrt, es ist das Residuum unzähliger früherer Einzelleben. Der Automatismus ist nichts anderes als das Mittel des Durchdringens und Auflösens, dessen der Geist sich bedient, um aus diesem Boden seine Nahrung zu ziehen; er entspricht der mechanischen Bewegung, durch die es den Wurzeln der Pflanzen gelingt, die Steine beiseite zu drängen und die harten Schichten zu sprengen. Das Ich, dem es als vom Es differenzierten Teil zukommt, dem Einfluß der Außenwelt zu unterliegen, hat den Auftrag, die gerade im Es akkumulierte sexuelle Libido umzuwandeln: Man weiß, daß es dies nur vermag, wenn es den Ödipuskomplex und die dem Individuum angeborene Bisexualität überwindet. Das Über-Ich, das die Durchführung dieser letzteren Operation leitet, kann mit der Humusschicht verglichen werden, die den Boden nach dem Blätterfall bedeckt und die befruchtenden Elemente der Erde mobilisiert. Der Humor, wie wir ihn verstehen, könnte somit ein latentes Mittel zur Sublimierung sein: Er schüfe die Möglichkeit, sich wunderbar fallen zu lassen und sich auf dem Humus auszuruhen, den die Pflanze braucht, um zum Nutzen aller ihre eigene Lebenskraft zu erneuern, wenn diese starker Gefährdung ausgesetzt ist. Wie liebten wir es als Kinder doch, aus dem weichen Teppich des Waldes mühelos, um nur wenige Zentimeter, den sehr hellen Maronenbaumsprößling herauszuziehen, an dessen Wurzel die Marone immer noch den Glanz von alten polierten Möbeln hat; die Marone, die sich ihr Aussehen vollkommen bewahrt, während sie bereits sichtbar ihre Macht bezeugt: durch grüne Hände, Schatten, luftige weiße und rosa Pyramiden, Bällchen ... und durch künftige Maronen, die, soweit der Blick reicht, andere Kinder zu ihrem Entzücken unter den Schößlingen entdecken werden! Aus eben dieser Perspektive ist, wie kein anderes, das Werk von Arp zu sehen. Jener Längsschnitt, von dem wir sprachen: Arp war par excellence derjenige, der sich in der Lage befand, ihn auszuführen, und seine ganze Poesie, sowohl die plastische wie verbale, scheint über diese Fähigkeit verfügt zu haben, um uns die zum kleineren Teil luftige, zum größeren Teil unterirdische Welt, die der Geist wie die Pflanze mittels Fühlern erkundet, sichtbar zu machen.“69 [Hervorhebungen der Freudschen Termini „Es“, „Ich“, „Über-Ich“ im Originaltext Bretons, T.L.]

69 Breton: Hans Arp, in: ders. (1940/2001), S. 448-450.

250 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Ob Arp die beschriebenen Collagen und diesen Text Bretons bzw. seinen Inhalt gekannt und ob ihn dies zur Abfassung seiner poetologischen Gedichte mit inspiriert hat, ist auf Grund der spärlichen Quellenlage nicht genau auszumachen. Doch einiges spricht dafür. Dazu zählt die zeitliche Nähe zwischen der Abfassung bzw. Veröffentlichung von Bretons Essay und dem Entstehungszeitraum der Gedichte Arps. Nach den bekannten Quellen muss die zweite Hälfte der dreißiger Jahre, genauer wohl die Jahre zwischen 1935-1937, als Zeitraum der Niederschrift von Bretons Arp-Kommentar gelten, der dann 1940 im Rahmen seiner „Anthologie“ erschien.70 Es ist also gut möglich, dass Arp den Text bzw. dessen Inhalt kannte, da er ja in dieser Zeit einen guten Kontakt mit den Surrealisten um Breton pflegte und es durchaus möglich ist, dass Breton ihn über die Interpretation seines poetischem Schaffens informiert hat. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass Arp an einem Kommentar Bretons höchstes Interesse gehabt haben muss. Dafür spricht die persönliche und programmatische Nähe zum Surrealismus, Bretons Meinungsführerschaft in einer der wichtigsten zeitgenössischen Avantgardebewegungen sowie die Tatsache, dass Breton einer der wenigen Kunstkritiker war, die zu jener Zeit überhaupt über ihn schrieben, zumal unter jenen prekären Zeitumständen. Wie dem auch immer sei, so bleibt auf jeden Fall ein hohes Maß an struktureller und inhaltlicher Konvergenz zwischen Arps poetologischen Gedichten und der surrealistischen Idee zu konstatieren. Denn deutlich zeichnet sich beispielsweise in dem Gedicht „Mein eigenes Gesicht“ (1939/1945), aber auch in „Seine würfelnden Hände“ (zuerst veröffentlicht 1951) das Thema des Wachtraums und der Ich-Differenzierung als psychogenerative Voraussetzung und Bedingung des poetisch-künstlerischen Schaffensprozesses ab. Arp taucht hier – ganz im beschriebenen Sinne – das Geschehen in die surrealismustypische Atmosphäre einer Gleichzeitigkeit von Wachen und Träumen, Vertrautem und Fremden, Ich und Nicht-Ich, und greift in diesem Zusammenhang sogar auf das soeben genannte Fenster-Symbol Bretons zurück. Zugleich lässt er es sich nicht nehmen, auf die eigene Symbolsprache zurückzugreifen, wie etwa in dem arptypischen „Ei“, das – wie überhaupt seine Metaphern des „bewegten Ovals“ und „Sphairos“ – als Symbol von Ursprung, harmonischer und schöner Integrität, von unendlicher Energie, Fülle und Wandelbarkeit aller generativen Wachstumsprozesse, ja als Metasymbol von Kunst und ihrer wandelbaren Mehrdeutigkeit und Chiffrenförmigkeit zu lesen ist. Darüber hinaus gelingt es ihm ein – für sein Schreiben und das der Surrealisten – neues Zentralsymbol zu erschaffen, wie es

70 Vgl. Polizzotti (1995/1996), S. 600-603.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 251

sich in der Allegorie des „Würfelspielers“ abzeichnet, die ja das eigentlich textprägende Element seines Gedichts darstellt: Mein eigenes Gesicht In den dämmerigen grauen Straßen zogen graue Massen hin und her. Sie summten und psalmodierten wie Samoware. Ich konnte keine Einzelheiten mehr an ihnen erkennen. Dann lösten sie sich auf und wurden zu einem grauen Raum. Der Raum schien ein weiter endloser Gang zu sein der in der Ferne dunkler und dunkler wurde und sich in das Tiefe in das Innere senkte. Ich schlief und erwachte und war schon während des Schlafens damit beschäftigt aus unscheinbaren grauen Würfeln graue Eier auszupacken. Einmal entfiel meinen Händen ein solches Ei fiel zu Boden und zerbrach und aus seinem Inneren rollte eine Unzahl kleiner grauer Würfel auf denen bunte funkelnde Träume abgebildet waren. An einer finsteren Fensterscheibe sah ich mein eigenes Gesicht gegen die Scheibe gedrückt mir neugierig zuschauen.71

71 Hans Arp: Mein eigenes Gesicht (1939/1945), in: ders. (1974), S. 46. – Eine gewisse Repräsentativität für die Lyrik Arps wie auch die Lyrik der Moderne überhaupt hat dieses Gedicht durch seine Aufnahme in Hans Magnus Enzensbergers paradigmatische Anthologie „Museum der modernen Poesie“ gefunden; vgl. Enzensberger (1960/2002), S. 571f.

252 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 91: Roberto Matta Echaurren: „Die Initiation“ (1941)

Gut erkennbar lässt „Mein eigenes Gesicht“ hervortreten, von welcher grundlegenden Bedeutung für Arp der Wachtraum und die damit einhergehende IchVerwandlung als Voraussetzung und Bedingung des künstlerischen Schaffensprozesses gewesen ist. Es ist so komponiert, dass es die verschiedenen Ebenen, die mit dem Wachtraumzustand in einem systematisch-logischen, objektiven Zusammenhang stehen, in eine feste Phasenabfolge des subjektiven Erlebens bringt und die damit verbundenen Formen der Ich-Differenzierung anschaulich macht. Im Ton der symbolischen Darstellung eines gewissermaßen ‚veristischen‘ Traumberichts werden folgende Stadien unterschieden (vgl. symbolisch-analog hierzu auch beispielsweise Robert Mattas Gemälde „Die Initiation“, das übrigens im gleichen historischen Zeitraum um 1940 entstanden ist): die Wahrnehmung der äußeren Realität: In den dämmerigen grauen Straßen zogen graue Massen hin und her. Sie summten und psalmodierten wie Samoware (Zeile 1-3),

die Abkehr von der äußeren Welt und das Versinken in die Traumwelt:

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 253

Ich konnte keine Einzelheiten mehr an ihnen erkennen. Dann lösten sie sich auf und wurden zu einem grauen Raum. Der Raum schien ein weiter endloser Gang zu sein der in der Ferne dunkler und dunkler wurde und sich in das Tiefe in das Innere senkte. Ich schlief [...] (Zeile 4-11),

der Wachtraumzustand (zwischen Schlaf und Wachen): Ich [...] erwachte und war schon während des Schlafens damit beschäftigt aus unscheinbaren Würfeln graue Eier auszupacken. (Zeile 11-13),

der Moment der eigentlichen Bewusstwerdung (das Aufwachen aus dem Wachtraumzustand): An einer finsteren Fensterscheibe sah ich mein eignes Gesicht gegen die Scheibe gedrückt mir neugierig zuschauen (Zeile 18-20).

Das Gedicht unterscheidet hinsichtlich der Frage künstlerischer Produktivität mithin drei Zustände, die begrifflich als Zustände des ‚Schlafs‘, des ‚Wachtraums‘ und des ‚Bewusstseins‘ bezeichnet werden können. Die strukturelle Analogie zu Grundkonzepten Freuds, wie ihn Breton und die Surrealisten verstanden, und den dort unterschiedenen psychischen Instanzen des Unbewussten, Vorbewussten und Bewussten, also des Es, Ich und Über-Ich, liegen auf der Hand. Dabei ist – analog zu Freud und Breton – das Verhältnis der drei beschriebenen Zustände keines, das man sich als diskontinuierlich und absolut vorstellen muss. Vielmehr handelt es sich um Stadien mit gleitend-kontinuierlichen Übergängen und Interferenzzonen. Eine dazu analoge Struktur und Semantik wie „Mein eigenes Gesicht“ weist übrigens auch das Gedicht mit dem Titel „Seine würfelnden Hände“ auf, über dessen Entstehungszeit nichts bekannt ist, das aber erstmals in der Sammlung „Auf einem Bein“ (1955) erschienen ist:

254 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Seine würfelnden Hände Würfel und Würfelbecher liegen auf den Wegen Straßen Tischen Treppen umher. Gewaltige Würfel in Segeltücher verpackt sind in der steinigen unwirtlichen Landschaft aufgestapelt. An einzelnen Stellen türmen sich diese Würfel berghoch und dringen tief tief in das düstere Land hinein. Ein gläsernes Monument von riesigen Ausmaßen stellt einen Würfel ohne Augen darin dem ein wächserner Mann mit wächsernen Würfeln würfelt. Wie es Nacht wird sehe ich endlich auf einem Platz den ersten Menschen in diesem Land. Er sitzt auf dem Boden und würfelt mit knöchernen Würfeln. Er hat um sich unzählige brennende Lichtlein aufgestellt. Ich achte nur auf seine würfelnden Hände und die Würfel und entferne mich ohne zu wissen ob der würfelnde Mensch ein Mann oder eine Frau sei.72

72 Hans Arp: Seine würfelnden Hände (1955), in: ders. (1974), S. 150.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 255

Abbildung 92: Max Ernst: „Eine Liebesnacht“ (1927)

256 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Das Thema beider Gedichte ist unverkennbar der literarisch-künstlerische Produktionsprozess, wie ihn Arp und mit ihm ein größerer Teil der surrealistischen Avantgarde verstanden haben. Zu seiner Darstellung unternimmt das lyrische Ich eine Reise ins eigene „Innere“, in die „Tiefe“ der eigenen Psyche, die weit weg von der realen Umwelt führt. Dieses Ich, so kann man vermuten, ist dem Ich im Zustand des Wachtraums nahe, das sich, seiner selbst nicht mehr bewusst, in die Welt des imaginativen (Wach-)Traums versenkt. Es lässt sich dadurch charakterisieren, dass es vornehmlich aus quasi-motorischen und wahrnehmenden Funktionen besteht, es bewegt sich gewissermaßen ‚traumwandlerisch‘ durch die Räume und sieht sich gleichsam darin um (darin zum Teil ähnlich der Kamerafahrt des Films). Das Sehen dominiert offensichtlich, während das Hören, Riechen, Schmecken wie auch das Fühlen mit Hand und Haut nicht zum Zuge kommen. Das einzige oder doch bevorzugte Wahrnehmungsorgan scheint mithin das Auge zu sein, von dem Breton zu Beginn seiner Programmschrift „Der Surrealismus und die Malerei“ (1925/1926) sagte, es lebe im „Urzustand.“73 Damit wird so etwas wie eine Wahrnehmungsweise suggeriert, die sich fähig zeigt, alle sozialen und individuierenden Prägungen abzustreifen, um dadurch für einen ‚authentischen Blick‘ auf das zu Erforschende und wohl noch nie Gesehene zu garantieren. Die ‚Fahrt‘, die nach unten und ins Innere führt, ist geprägt von Metaphern der Vertikalität, der bildliche Raum, der sich anschließend dem Ich darbietet, von Metaphern der horizontalen Ausgedehntheit. Der Blick, der das zu Sehende verbalisiert, bleibt eher beobachtend und kühl registrierend, während die Gesamtsituation von einer geheimnisvollen Spannung geprägt ist. Die Welt, die sich ihm öffnet, bilden die mysteriösen Welten, die aus der Malerei des veristischen Surrealismus bekannt sind: der dunkle Gang, das fremde Zimmer, die offene, unwirtliche Landschaft. Sie erscheint als jedem geschichtlichem Zeitmaß voraus liegend, vollständig in sich gekehrt, jedem Einfluss von außen entrückt. Es handelt sich um eine traumanaloge Atmosphäre, die im Rahmen dieser Studie terminologisch als absoluter involutiver Chronotopos bezeichnet wird, um eine Interferenzzone antinomischer Bewusstseins- und Seinszustände, beherrscht von einem Maximum an emotionaler Intensität. Im Zentrum dieser situationalen Raumwelt befindet sich die Figur, die – in den Sprachbildern Arps – unablässig mit dem Auspacken von Würfeln und Eiern, denen wiederum Würfel entrollen, bzw. einem permanenten Spiel mit Würfeln beschäftigt ist. In begrifflicher Prägnanz könnte man mithin von dem – of-

73 Breton: Der Surrealismus und die Malerei (1928), in: Metken (1976), S. 273-305, hier S. 273.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 257

fensichtlich allegorischen Bild – eines „Würfelspielers“ sprechen, ein Bild, ansonsten unbekannt im surrealistischen Universum, bekannt aber etwa durch die surrealismuswichtige Literatur Mallarmés („Un coup de dé jamais n’abolira le hasard“, 1897), Nietzsches und Apollinaires. Diese Figur, als Amalgam des Differenten, verkörpert wiederum eine Reihe der Antinomien, die auch die Gesamtsituation prägen, und die man in die Fragen kleiden könnte: Handelt es sich um das Ich der Gedicht-Stimme oder jemanden anderes? Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau? Ist die Figur lebendig oder tot? Diese und andere Fragen bleiben unbeantwortet, unbeantwortbar, weil bewusst in der Schwebe gehalten. So wird auf der Textoberfläche die anthropomorphe Figur des Würfelspielers das eine Mal mit dem lyrischen Ich gleichgesetzt (wie in „Mein eigenes Gesicht“), das andere Mal – per grammatischem Personalpronomen – explizit von ihm unterschieden („Seine würfelnden Hände“). In der Tiefenbedeutung des Gedichts widersprechen sich diese Darstellungsweisen aber nicht, sondern ergänzen sich als allegorische Differenzierung des eigentlich Indifferenten, als Modi der Repräsentation von Ich und Nicht-Ich, Bewusstem und Unbewusstem. Eine Logik, die auch für die differenzierende Darstellung des Würfelspielers selbst, also seiner Figur, seiner Handlungen und seiner Handlungsprodukte gilt. Denn auch hier bildet das, was auf der lyrischen Bildebene aus Gründen poetischer Anschaulichkeit unterschieden wird, in Wahrheit ein ununterscheidbares Ganzes: Würfelspieler, Würfeln und Würfel. Figur, Handeln und Handlungsprodukte, die alle drei den Schauplatz dominieren, indem eine Unzahl von Würfel funkelnd über den Zimmerboden rollt („Mein eigenes Gesicht“) und einzelne oder in Gruppen angeordnete und in Segeltuch verpackte Würfel wie gewaltige, überdimensionale, artifiziell gestaltete Monolithen den Landschaftsraum bedecken („Seine würfelnden Hände“), deuten auf das Eine und Gleiche. Denn ihr Da-Sein, das sich dort ausbreitet, zielt symbolisch auf das Bild, das sich selbst bildet, die Sprache, die sich selbst spricht, das Denken, das sich selbst denkt, mithin alles Dinge, die – im Sinne des Surrealismus – das Unbewusste selbst ‚sind‘. Was sich hier äußert, ist daher nicht etwas, was das Unbewusste bloß ‚repräsentiert‘ oder wie das Unbewusste strukturiert ist, sondern etwas, was das Unbewusste selbst ‚ist‘. Diese symbolische Gleichbezüglichkeit erklärt denn auch, warum der Darstellung des Differenten zugleich die Symbolik eines Ineinanderverschachteltseins übergestülpt ist, das beide Gedichte im Innersten prägt: Der Würfel, in denen Eier stecken, die wiederum Würfel enthalten („Mein eigenes Gesicht“); der gläserne Würfel, in dem der Würfelspieler hockt und mit seinen Würfeln spielt („Seine würfelnden Hände“). Spieler, Würfeln und Würfel

258 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

verschränken sich damit im gegenseitigen Verweis aufeinander, das ‚eine‘, subjektlose Selbsthervorbringen von Bild, Sprache und Denken meinend. Mit der Figur des Würfelspielers ist mithin das Unbewusste im Sinne des Surrealismus gemeint, eine vitale Energie in Form einer Wort- und Bildsprache. Das Unbewusste und die von ihm ausgehenden Wörter und Bilder werden von den Surrealisten miteinander gleichgesetzt, als Ununterschiedenes identifiziert, gelten durch eigene, experimentierende Erfahrung als ‚bewiesen‘. Dieses Unbewusste bewegt sich begrifflich jenseits der Vorstellung vom kalkülhaft-bewussten Mono- und Zentral-Subjekt im Sinne moderner Subjekt-Philosophien. Stattdessen ist mit dieser Figur ein zeitloses und kollektives Nicht-Ich gemeint, unablässig, gleichsam ewig-strömend handelnd, ohne Intention und Kalkül. Ihre Produkte, die Wörter und Bilder des Unbewussten, unterliegen einzig dem „Gesetz des Zufalls“, wie es Arp nannte, mithin dem aleatorischen Prinzip. Arp und die Surrealisten greifen damit Gedanken und Überlegungen ihrer VorDenker Novalis, Duchamp und Tzara auf74 und beziehen diese in ihre ‚integrierende‘ Weltanschauung mit ein, die auf eine Überwindung konventioneller Dualismen ausgelegt ist. Denn zum einen handelt es sich um das Prinzip des absolut Zufälligen, das auch Arps Bild als Bild einer völlig unvorhersehbaren und offensichtlich ohne ‚Sinnbedeutung‘ behafteten und behaftbaren Produktion heraufbeschwört. Diesem Symbol einer unbestechlichen, gleichsam ‚maschinell-kreativ‘ arbeitenden Instanz eines automatischen Zufallsgenerators steht aber zugleich das Bild des ‚schönen‘ und ‚glücklichen Zufalls‘ entgegen, das Freiheit und Notwendigkeit, Kontingenz und Determination in sich zu vereinigen weiß. Für Arp wie auch die Surrealisten sind es der Traum, die Kunst und das Spiel, in denen sich diese höhere Aleatorik Ausdruck verschaffen kann, die Arp auch – in Anlehnung an Baudelaires Gedicht „Ganz und gar“ („Tout entière“) – als seine „Muse“, „Madonna“ und seinen „Engel“ bezeichnet.75 „Zufall“ wird in diesem Sinne auch als ein „Zuteilen“ verstanden, ein „Zufallen, was einem Menschen aus Himmelshöhen und Himmelstiefen zukommt“. So heißt es bei Arp anlässlich der Erinnerung an die Spielweise seines Freundes Max Ernst beim würfelanalogen Boule-Spiel, in der Reflexionen über Spiel, Kunst und Wachtraum eingeführt werden:

74 Vgl. Arp (1960), S. 14-17, insbes. S. 17 (Zitierung einschlägiger Stellen aus dem „Allgemeinen Brouillon“ des Novalis durch Arp); allgemein vgl. Schulze (2000); Watts (2009), S. 366f. (mit Bezug auf Duchamp, Tzara, Ernst, Breton und Arp). 75 Ebd., S. 14.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 259

Sehr abseits von Paris, nach Huimes in der Touraine, ziehen sich oft Max Ernst, einer meiner ältesten Freunde, und seine Frau, die Malerin Dorothy Tanning, zurück. [...]. Auch in Huimes tauchten die Musen wieder mächtig bei mir auf. Max Ernst ist ein eifriger Kugelspieler. Und während wir im Garten die metallenen Kugeln warfen, dachte ich an die Dichtung Mallarmés „Un coup de dé jamais n’abolira le hasard“. Ich sann denn auch den Gründen nach, warum die Würfe der Menschen so oder so gelenkt werden, und warf daneben. Dieses Sinnen war ein Fehler. Je mehr ich die Bodenbeschaffenheit des Spielplatzes erwog, um für meine Kugel „die Bahn und den rechten Weg“ zu finden, um so sicherer verfehlte ich das Ziel. Und gar in den höheren Spielen, in den schönen Künsten, muss man die Führung der Muse, dem Engel oder der Madonna überlassen. Wenn Max Ernst Augen machte, als hätte er die Erde vergessen, Augen, die ihm keiner nachmacht, so gelang ihm Wurf um Wurf. Robert Desnos schreibt von diesen Augen: ,Les yeux caves de Max Ernst estiment les cavernes où s’amusement les statues et où s’inscrivent les maxiems de sa muse ernestine.‘ Über diese Wachtraumdichtungen Desnos’ wurde in literarischen Kreisen von Paris seinerzeit viel gesprochen.76

Der glücklich gelungene Würfelwurf sorgt denn auch auf der bildlichen Ebene des Gedichts für das, was Arp als buntes Funkeln, als die „bunten funkelnden Träume“ seiner Würfel bezeichnet hat. Es ist darin zugleich das, was Breton schon im „Ersten surrealistischen Manifest“ mit dem „besonderen Licht des Bildes“ gemeint hat und damit, dass der „Wert“ eines jeden wahren poetischen Bildes von der „Schönheit des erzielten Funkens“ abhänge77: die Koinzidenz des Unwahrscheinlichen, hinter der sich zugleich eine Vereinigung des Unvereinbaren verstecke. Alle diese Ausführungen belegen noch einmal, dass der „Traum“, das „Unbewusste“ und der „objektive“ bzw. ‚glückliche‘ „Zufall“ kategoriale Zentralsonnen im ästhetischen Universum Arps bilden. In diesen Termini konstituiert sich sein Konzept moderner Poesie und Kunst, das sich begrifflich aus Quellen der Philosophie des Mittelalters, der Romantik und Nietzsches sowie der Psychologie und Psychoanalyse der Jahrhundertwende (Janet, Freud, Jung) speist und mit Auffassungen des zeitgenössischen französischen Surrealismus konvergiert. Im Rahmen dieses Konzepts meint, wie beschrieben, der „Traum“ einen wachtraumartigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, der in produktionsästhetischer Wendung den ‚vor‘- bzw. ‚halbbewussten‘ Ort ‚freischwebender‘, d.h. assoziationsgeleiteter Imagination, Phantasie und Vision bereitet. Dieser Zustand ist mithin geprägt durch die innerpsychische Wahrnehmung imaginärer

76 Ebd., 15. 77 Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 35.

260 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Evokationen, die alternativ oder auch synchron Bilder und Sprache, idealerweise ‚Sprach-Bilder‘ darstellen. Sie sind es, die den ‚Rohstoff‘ poetisch-künstlerischer Vollzüge abgeben, die schließlich in Form eines Gedichts, Bilds oder einer Plastik eine auch äußerlich evidente, allseits ‚ersichtliche‘ Existenz erfahren. Die spezifische Leistung von Poesie und Kunst besteht mithin für Arp und die Surrealisten in der ‚Übertragung‘ und ‚Übersetzung‘ des Unbewussten und seiner spontan-freien, unablässig ‚drängenden‘, nicht-intentionalen und aleatorisch-sinnfreien Imaginationen in die Welt gesellschaftlicher Kommunikation. Nicht weniger ist damit intendiert als unter die Schwelle des Bewusstseins hindurchzugleiten und das in Sprache und Bild ‚festzuhalten‘, was sich eigentlich als unabhängig von intentionalem Kalkül, von Zeit und Sozialität versteht und einem vorausliegenden „kollektivem Geist“ angehört. Arp und die Surrealisten zeigten sich – insbesondere in der stürmischen Frühzeit der Bewegung – davon überzeugt, diese Transponierung in direkter und reiner Form, gleichsam ohne ‚Reibungsverluste‘, die durch Einflüsse und Vorgaben historischer und sozialer Art entstehen, bewerkstelligen zu können. Dem Ideal nach sollten die surrealistischen ‚Produkte‘ mithin „Natur“ und nichts als „Natur“ sein, keine bloßen Abbildungen derselben und eben unberührt von Geschichte und Gesellschaft. Arp liebte es denn auch, den Fluchtpunkt seiner künstlerischen Tätigkeit mit Begriffen des „Wirklichen“, „Wesentlichen“ und „Wahren“ in Bezug auf „Natur“ und „Leben“ zu bezeichnen.78 Spätere Zweifel an der Möglichkeit einer ‚reinen‘ Umsetzung dieses Konzepts, die sich auch bei Arp wiederfinden, haben es auch anderen Darstellungsverfahren erlaubt, in die Phalanx legitimer Kunstmittel Einzug zu erhalten. So verteidigte etwa Breton Ende der dreißiger Jahre neben dem Automatismus auch die Praxis veristischer Techniken im Rahmen surrealistischer Bildkunst: „Dem Maler öffnet sich eine Welt von Möglichkeiten, die vom schlichten Sich-Überlassen an den graphischen Impuls bis zu der Fixierung von Traumbildern in einem trompel’œil geht.“79 Arp hat schließlich mit seinen Gedichten das ‚Kunststück‘ fertiggebracht, in der dichterischen Figur des aleatorischen Würfelspielers eine poetologische Apologie des Automatismus mit einer Rechtfertigung des veristischen Surrealismus, die sich in Form traumanaloger Raum- und Landschaftsdarstellung vollzieht, zu verbinden. Mit Blick auf den Verismus von Arps Darstellungen bleibt zu betonen, dass sie sich weder als direkte Traum-Bilder des Unbewussten, wie im Automatismus, noch als Abbilder von Träumen, im Sinne eines dokumentarischen Realis-

78 Vgl. z.B. Hans Arp: Konkrete Kunst (1955), in: ders. (1955/21995), S. 50, 54, 79-83. 79 Breton: PEINTURE, in: ders./Éluard (1938/1969), S. 20. Übersetzung T.L.

IV.2 S ELBSTBEOBACHTUNGEN EINES „W ÜRFELSPIELERS “ | 261

mus, verstehen. Vielmehr suchen sie ein Dazwischen oder Darüberhinaus, indem sich ihre Sprache und Bilder an die Malereien des Wachtraums gleichsam anschmiegen. Die surrealistische Poesie des Traumbilds – und gerade auch ihre metapoetische Ausformung in den Gedichten Arps – ist daher in erster Linie als Repräsentation des surrealistischen Weltbilds zu begreifen, womit sie gleichwohl ein grundlegendes Ausdrucksbegehren surrealistischen Künstlertums befriedigt. Denn auch seine Dichtung bildet einen Ort, von dem aus die Überschreitung künstlerischer und soziopolitischer Grenzen möglich und ‚machbar‘ erscheint, die den Boden bereiten für die surrealismustypischen Katachresen des Disparaten. In ihrem Horizont lagern sich denn auch, wie gesehen, vielfältige und sich ‚quer‘ überlagernde Korrespondenzen an: des Lichts mit der Finsternis, der Nähe mit der Distanz, des Vertrautem mit dem Fremden, des Traums mit dem Wachen, der Imagination mit der Realität, des Bewussten mit dem Nicht-Bewussten, des Ich mit dem Nicht-Ich, des Lebens mit dem Tod. Eine künstlerische Produktionsweise ist zugleich damit etabliert, die nicht auf Autor- und Künstlerseite beschränkt bleiben soll, sondern verspricht, auch den Rezipienten in sein Reich mit einzubeziehen. Denn die Energie des surrealistischen Engagements richtet sich auch auf dessen Leser und Betrachter, der zum imaginativen, eigenaktiven Nachvollzug der dargebotenen Bilder und Sprache aufgerufen ist, – und sie, soweit möglich, auf seine Wahrnehmung der Welt, seine eigene Existenz applizieren soll. Dies ist auch in dem Sinne zu verstehen, dass die eigene künstlerische Kreativität des Lesers aktiviert wird und er selbst im Sinne surrealistischer Aktivitäten tätig wird. Schließlich will sich die Münze surrealistischer Bildlichkeit und Kunst im anonym-kollektiven Kreislauf gesellschaftlicher Rezeption und Produktion von Kunst und Literatur stetig vergrößern, – wovon Arps eigene „Korrespondenzen“, seine eigenen Austauschbeziehungen mit dem Surrealismus ein nicht unwesentliches Beispiel abgeben. Ganz in diesem Sinne formulierte er: Der Traum, die Kunst sind ein magischer Schatz, sie verbinden den Menschen mit dem Leben des Lichtes und der Dunkelheit, mit dem wirklichen Leben, mit der wirklichen geistigen Kollektivität.80

80 Hans Arp: Dada war kein Rüpelspiel (1955), in: ders. (1955/21995), S. 20-28, hier S. 26.

262 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

IV.3 „D IE E BENE “ UND „D IE GRAUE Z EIT “ – I NVOLUTIVER C HRONOTOPOS UND POETISCHE M ETASYMBOLIK „Menschen wachsen/ blühen und duften/ als Landschaft“ (HANS ARP) „Wer anders als der göttliche Urgrund/ könnte die schwarze Landschaft der Unendlichkeit/ mit solch purpurnem,/ solch umfassendem Klang durchstrahlen und durchdringen.“ (HANS ARP)

Abbildung 93: Eugene Berman: „Die Muse der westlichen Welt“ (1942)

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 263

Die Ebene Ich befand mich allein mit einem Stuhl auf einer Ebene die sich in einen leeren Horizont verlor. Die Ebene war fehlerlos asphaltiert. Nichts aber auch gar nichts außer mir und dem Stuhl befand sich auf ihr. Der Himmel war immerwährend blau. Keine Sonne belebte ihn. Ein unerklärliches vernünftiges Licht erhellte die endlose Ebene. Wie künstlich aus einer anderen Sphäre projiziert erschien mir dieser ewige Tag. Ich hatte nie Schlaf nie Hunger nie Durst nie heiß nie kalt. Da sich nichts auf dieser Ebene ereignete und veränderte war die Zeit nur ein abwegiges Gespenst. Die Zeit lebte noch ein wenig in mir und dies hauptsächlich wegen des Stuhles. Durch meine Beschäftigung mit ihm verlor ich den Sinn für Vergangenes nicht ganz. Ab und zu spannte ich mich als sei ich ein Pferd vor den Stuhl und trabte mit ihm bald im Kreis bald geradeaus. Daß es gelang nehme ich an ob es gelang weiß ich nicht da sich ja im Raume nichts befand an dem ich meine Bewegung hätte nachprüfen können. Saß ich auf dem Stuhl so grübelte ich traurig aber nicht verzweifelt warum das Innere der Welt ein solch schwarzes Licht ausstrahlte.81

Auch die lyrische Evokation, die Arps Gedicht „Die Ebene“ (1939/1945) beim Leser hervorruft, erinnert an bestimmte Bildwerke surrealistischer Kunst. Die Weite der artifiziell wirkenden Landschaft, die sich selbst und ihrer Umgebung fremd erscheinende Figur und der ihr beigegebene Gegenstand lassen vor dem geistigen Auge des Lesers eine Welt erstehen, die eine hohe Motiv- und Strukturhomologie zu Werken der zeitgenössischen Malerei und Kunst des Surrealismus aufweisen. Arp ist offenbar nichts Geringeres gelungen als eine sprachlichliterarische Formgebung dessen, was in der avantgardistischen Kunst seiner Zeit zur Darstellung drängte. Dass es sich dabei nicht um eine bloße Nachgestaltung bildkünstlerischer Verfahren im Medium der Poesie, sondern zugleich um deren Metareflexion handelt, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

81 Hans Arp: Die Ebene (1939/1945), in: ders. (1974), S. 47f.

264 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Der Vergleich mit der zeitgenössischen Bildkunst verweist auf die ganze Entwicklungslinie veristisch-surrealer Malerei, die mit de Chirico beginnend sich vor allem mit Ernst, Tanguy und Dalí fortsetzte. Genauso wie Arps Gedicht wird schon de Chiricos pittura metaphysica von der Darstellung einzelner, einsamer Figuren geprägt, die sich auf ebenso einsamen Plätzen ‚ausgestellt‘ finden, umgeben von einer mysteriös-melancholischen Atmosphäre. Auch Chiricos Raum-Zeit-Gefüge sind von anti-realistischer, höchst artifizieller Art, hervorgerufen durch die Konstruktion paradoxer Bildperspektiven, die verschiedene, sich kreuzende Fluchtlinien ziehen, durch die flachen und schräg an- bzw. absteigenden Räume, die einer Theater-Bühne ähneln, durch das Licht, dessen Quelle nicht sichtbar ist, aber rätselhafte, scharf kontrastierende Schlagschatten wirft. Ein Raum entsteht, der, in der Art eines „ewigen Mittags“ (Nietzsche), von der Unendlichkeit eines singulären Zeitpunkts ausgefüllt erscheint. Die gewählten Ansichten gewähren intime Einblicke in Orte des Wunderbaren und Mysteriösen, angefüllt mit Figuren und Gegenständen in asyndetischer und gleichsam absolut-autoreflexiver Anordnung. Personen und Gegenstände werden so zu selbstreflexiven Symbolen, die den Konstruktionsprozess seiner gemalten Collagen thematisieren: Figuren als Künstler, Geometer in Form von Lineal, Dreieck und Winkelmaß, Tafel und Leinwand als Instrumente der Kunst. Schon Chiricos Bilder orientierten sich mithin an der Inszenierung einer Kunst-Welt im doppelten Sinne, einer künstlichen Welt wie auch einer Welt der Kunst. Dies gilt auch für eines seiner bekanntesten Bilder, dem „Großen Metaphysiker“ (zuerst 1916), der Arps Bild auch in seinen einzelnen Motiven mit am nächsten kommt. Denn auch hier steht eine Figur im Mittelpunkt der Darstellung, umstellt von einer Reihe hölzerner Gebilde und Gerüste, die symbolisch auf den Konstruktionscharakter jeder Kunst verweisen. Der augenfällige Unterschied, der aber einem bestimmten Trend im Surrealismus nach Reduktion der eingesetzten Kunstmittel folgt, besteht lediglich darin, dass bei Arp der hohe Berg beigefügter Gegenstände zu einem einzigen Stuhl in vertrauter Größe gleichsam abgeschmolzen ist. Figuren, begleitet von stuhlähnlichen Möbeln in offener, strand-, prärie- oder wüstenförmiger Landschaft, zeigen sich denn auch auf Bildern mehrerer Surrealisten, die in der Zwischenkriegszeit der zwanziger bis vierziger Jahre entstanden sind. Dazu gehören z.B. Massons „Surrealistischer Thron“ (1928) und sein „Stuhl vor dem Meer“ (1938), Picassos „Zwei Figuren am Strand“ (1933) und Dalís „Frau mit Rosenhaupt“ (1935). Frappierend ist schließlich die Übereinstimmung mit Massons Zeichnung „Melancholie des Minotaurus“, die 1938 in der surrealistischen Zeitschrift „Minotaure“ erschienen ist. Wie in Arps Gedicht findet sich auch hier eine anthropomorphe Figur auf weiter Ebene, eng verschmolzen mit einem eigentlich nicht hierhin passenden Stuhl, eine Figur, die

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 265

sich in symbolischer Form als ein ‚Vierfuß‘ zu erkennen gibt, nämlich als surrealistischer Minotaurus bei Masson, als Pferd bei Arp. Schließlich wird das Motiv von Figur, Stuhl und Ebene in einem von dem amerikanischen Surrealisten Eugene Berman entwickelten Bild in den Rang einer allegorischen Reflexionsfigur gehoben, indem es den bezeichnenden Titel trägt: „Die Muse der westlichen Welt“ („Muse of the Western World“, 1942).

Abbildung 94: André Masson: „Surrealistischer Thron“ (1928)

Abbildung 95: André Masson: „Der Stuhl vor dem Meer“ (1938)

Abbildung 96: André Masson: „Melancholie des Minotaurus“ (1938)

266 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Arp nimmt diese Bildlichkeit surrealistischer Graphik und Malerei in das Reich seiner poetischen Sprache auf und vertieft ihren Bedeutungsgehalt in Richtung einer metapoetischen, genauer metalyrischen Reflexion. Er zitiert die gleichen Stoffe und Motive wie die Surrealisten und taucht sie ebenfalls in ein traumanaloges, hypnoides Licht. Der von den Surrealisten verehrte Dichter Gérard de Nerval hatte in seiner „Aurelia“ (1855) bemerkt, dass man „im Traum nie die Sonne sieht, obwohl man häufig eine sehr viel stärkere Helligkeit wahrnimmt. Dinge und Körper leuchten aus sich selbst“82, und ähnlich verhält es sich in Arps Gedicht, in dem es über den Himmel heißt: „Keine Sonne belebte ihn.“ Stattdessen ist von einem „unerklärlichen Licht“ die Rede, das die Szenerie „erhellt“, und von einem Himmel, der „immerwährend blau“ sei, was als Kennzeichen der Welt eines Dazwischen im poetischen Wachtraumzustand zu lesen ist. Zugleich wird der surreale Erfahrungsraum dieser Szenerien in einer Weise überschritten, dass er für eine ästhetisch-poetologische Lektüre transparent ist. Arps enger Künstlerfreund, Hugo Ball, hatte eine solche Tendenz zur Metareflexion schon in der frühen Dada-Zeit sich andeuten sehen und dazu über dessen Kunstauffassung notiert: Er möchte die Imagination reinigen und alle Anspannung auf das Erschließen nicht so sehr ihres Bildschatzes als dessen richten, was diese Bilder konstituiert. Seine Voraussetzung dabei ist, daß die Bilder der Imagination bereits Zusammensetzungen sind. Der Künstler, der aus der freischaltenden Imagination heraus arbeitet, erliegt in puncto Ursprünglichkeit einer Täuschung. Er benutzt ein Material, das bereits gestaltet ist, und nimmt also Klitterungen vor.83

Auf diese schon von Hugo Ball erkannte Tendenz kommt das Gedicht „Die Ebene“ zwanzig Jahre später gleichsam zurück, um ihren ästhetischen Selbstanspruch im Medium der Poesie einzulösen. Denn bei diesem Text handelt es sich um ein solches Gedicht, das die Konstitutionsbedingungen von Literatur und Kunst zum Vorschein bringt, im Medium der Lyrik mit Blick auf die Lyrik. – Gleichzeitig war diese Tendenz zur ‚Ausstellung‘ des eigenen Mediums natürlich auch nichts Neues für die bildende Kunst des Surrealismus. Paradigmatisch hierfür ist das symbolische Motiv des Künstlers und seiner Staffelei, das immer wieder in surrealistischen Kunstwerken anzutreffen ist, etwa bei de Chirico, Magritte, Dalí und Tanguy. Seine wohl bedeutendste Ausformung hat es schließ-

82 Vgl. Nerval (1855/1970), S. 31. 83 Vgl. Ball (1927/1992), S. 82.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 267

lich in den Bildern des „Loplop“-Zyklus von Max Ernst84 sowie dessen enzyklopädischen Gemälden der vierziger Jahre, darunter das mit dem von Bretons Programmschrift übernommenen Titel „Der Surrealismus und die Malerei“ (1942), erfahren.

Abbildung 97: Giorgio de Chirico: „Der Seher“/„Der Prophet“ (1915)

Abbildung 98: Max Ernst: „Loplop stellt Loplop vor“ (1930)

84 Vgl. dazu umfassend Spies (1982/21998).

268 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 99: René Magritte: „La Condition humaine“ (1933)

Analog zu Grundstruktur und -funktion dieser Werke lebt das Gedicht Arps von der Durchbrechung des bildhaften Illusionsraums und dem Transparentmachen von Grundelementen künstlerischer Formgebung. Gemeinsam mit den Werken der bildenden Kunst ist ihm das Sichtbarmachen des nicht-realen, traumanalogfiktionalen Charakters der geschaffenen Gebilde. Die bildende Kunst hatte dazu, wie gesehen, den Weg gefunden, die Arbeitsmittel des Künstlers ins Bild zu setzen, oder, noch deutlicher wie in Ernsts „Loplop“-Zyklus, die Hände des Künstlers, die mit ihren Fingern auf die von ihr erstellten Bilder weisen, übergroß in Szene zu setzen. Solcherart deiktische Zeichen, welche in direkter Geste auf Elemente und Produkte künstlerischer Aktivität aufmerksam machen, bleiben zwar in Arps Gedichten außen vor, sind eher implizit und müssen gleichsam konnotativ mitgelesen werden. Gleichwohl macht auch sein Text Gebrauch von expliziten Hinweisen, den selbstgeschaffenen Illusionsraum wieder zu durchbrechen, etwa wenn die lyrische Stimme in Form eines Wie-Vergleichs zu dem Urteil kommt: „Wie künstlich aus einer anderen Sphäre projiziert erschien mir dieser ewige Tag.“ Die Struktur der Gesamtkomposition ist mithin dadurch geprägt, dass auf der Bühne der lyrischen Imagination die konstitutiven Elemente eines Gedichts gleichsam aufgerufen und an ihren rechten Platz verwiesen werden. Den Anfang macht das lyrische Ich, Stimme und Perspektive des Sprechers in der gramma-

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 269

tisch ersten Personalform, mit dessen Nennung der Text eröffnet wird, und das zugleich die einzige anthropomorphe Figur im Text darstellt. Dieses Ich präsentiert sich als ein artifizielles, gewissermaßen absolutes Ich, aller individuierender Merkmale entblößt. Prägungen durch Gesellschaft und Geschichte scheinen nicht vorhanden zu sein, entsprechend wird auch kein psychologisches Charakterprofil entworfen. Das Bewusstsein seiner selbst ist auf den einen, gleichsam autistischen Grundton verdichtet, und auch die körperlich-biologischen Verfasstheiten und Bedürfnisse bewegen sich in einem Nullradius. Eine Minimierung des Leiblichen bietet sich dar, die mit der reduzierten Grammatik des darüber befindenden Sprechakts korrespondiert: „Ich hatte nie Schlaf nie Hunger nie Durst nie heiß nie kalt.“ Was von diesem Ich verbleibt, ist das Faktum seiner puren Existenz, das Stehen, Sitzen und Gehen eines Körperschemas auf der Stelle, dem das Bewusstsein seiner eigenen Einsamkeit und Melancholie wie ein schwerer Schatten anhängt. Dieses Ich ist von einer Reihe von Dingen und Gegenständen umgeben, die es gleichsam traumwandlerisch aufzählt und aneinanderfügt. Der Realitätsstatus des Dargestellten bleibt aber vage und unbestimmt, schwankt zwischen Wirklichkeit und – bewusster – Phantasie. Und wie das Ich bieten sich auch diese Dinge in absoluter Markierung dar, als reine Kontinua der Ausstreckung und Ausdehnung. Der Raum ist ein absoluter Raum, bestehend aus Grund (Fundament), Horizont und Firmament. Das Fundament besteht aus einer unendlichen Fläche, der „endlosen Ebene“, vollkommen planimetrisch und von synthetischer Herstellung („fehlerlos asphaltiert“), der Horizont ebenso leer, der Himmel ohne Sonne, wie von künstlichem Licht beschienen, darin „immerwährend blau“. Ebenso verhält es sich mit der Zeit, von der es heißt: „Da sich nichts auf dieser Ebene ereignete und veränderte/ war die Zeit nur ein abwegiges Gespenst.“ Die Unendlichkeit der Zeit im Modus einer Gegenwart in Permanenz, ihre spezifische Dichte, Schwere und Symbolhaftigkeit, wird hier durch die Unendlichkeit des Raums anschaulich vor Augen geführt und mithin sichtbar gemacht, und dieses Sichtbarmachen eines ansonsten besonders Unsichtbaren dient damit als Modell und Paradigma dessen, was die surrealistische Dichtung und Kunst in ihrem Innersten bewegt: Die Existenz und der Beweis einer ganz anderen Welt in ihrer ganzen zuvor nie gesehenen, nun aber unabweisbaren Gegenständlichkeit und Materialität. Mit dieser Sichtbarmachung der unsichtbaren Zeit erhält der Raum seine eigene und eigentliche Intensität, Dimensionalität und Plastizität, so wie andersherum die Präsenz und Wirkung der Zeit erst im Raum materiell erfahrbar werden. Wechselseitig stützen sich sodann Raum und Zeit in der sinn- und symbolhaften Evokation eines permanenten und unendlich-gegenwärtigen Da-Seins, ganz so wie auf Dalís berühmten Gemälde „Die weichen Uhren“ (1931), das ja

270 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

auch mit „Die Beständigkeit der Erinnerung“ oder „Die zerrinnende Zeit“ betitelt ist. Raum und Zeit, so innig in Form eines historisch und kulturell spezifischen „Chronotopos“ (Bachtin)85 aufeinander bezogen, werden somit modellhaft typisch für ein Genre und Sujet, besser gesagt einer intermedialen GenreKombination von Lyrik, Malerei und Skulptur (im weitesten Sinne), ja für eine ganze epochale Tendenz der intermedialen „Allianz“ von Literatur und Kunst im Zeichen des Surrealismus. Und diese spezifische Raum-Zeit-Konstellation besitzt denn auch schließlich ihre ganz besonderen Auswirkungen auf darin eingebettete Subjektivitäten, den literarischen oder künstlerischen „Gestalten“ und „Figuren“ von Dichtung und bildender Kunst. Denn so festgelegt im Raum- und Zeit-Kristall, wie sich dargestellt finden, ist jeder Versuch der anthropomorphen Gestalten, dem Klima ihrer bleiernen Situation durch eine Form aktiven Handels zu entkommen, zum Scheitern verurteilt. Stattdessen gehört es ganz offensichtlich zu ihrem Schicksal, von der raumzeitlichen Unendlichkeit gleichsam ‚absorbiert‘ zu werden, wie an dem Verhältnis von Ich und Stuhl abzulesen ist: „Die Zeit lebte noch ein wenig in mir/ und dies hauptsächlich wegen des Stuhles./ Durch meine Beschäftigung mit ihm verlor ich den Sinn für Vergangenes nicht ganz./ Ab und zu spannte ich mich als sei ich ein Pferd vor den Stuhl/ und trabte mit ihm bald im Kreis bald geradeaus./ Daß es gelang nehme ich an/ ob es gelang weiß ich nicht/ da sich im Raume nichts befand/ an dem ich meine Bewegung hätte nachprüfen können.“ Die damit überdeutlich inszenierte unendliche Starre von Raum und Zeit demonstrieren aber in poetologischer Absicht nichts anderes als die Vorherrschaft situationsgebundener „Konstellationen“ im Rahmen moderner Lyrik und nach Art des absolut-involutiven Chronotopos im Sinne des veristischen Surrealismus. Die Darstellung solcher ‚Situationalität‘ bildet mithin nach Arp das Fundament jeder Lyrik und wohl auch anderer Darstellungsformen wie der Malerei und Skulptur. Das Scheitern auch des kleinsten Handlungsvollzugs treibt diese Überzeugung zur Spitze der Anschaulichkeit und demonstriert damit in radikaler Weise die Tendenz zur Entpragmatisierung lyrischer Darstellungsformen. Das Gedicht endet mithin auch nicht mit einer Tat, sondern mit der affektiven Reflexion eines Ich, das sich durch eine handlungshemmende Lage der Einsamkeit und Melancholie bestimmt fühlt: „Saß ich auf dem Stuhl so grübelte ich traurig aber nicht verzweifelt/ warum das Innere der Welt ein solch schwarzes Licht ausstrahlte.“ Die paradoxe Rede vom „schwarzen Licht“, das aus dem „Inneren der Welt“ erstrahlt, verweist dabei metapoetisch, oder genauer metasymbolisch, auf die Wirkungskraft surrealer Bilder als dem Grundelement lyrischer Situatio-

85 Im Sinne Bachtins (1975/2008), insbes. S. 7f.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 271

nalität und ‚Räumlichkeit‘, die, nach Breton und anderer Surrealisten, das Entlegenste und Gegensätzlichste auf einer syntaktischen oder topographischen ‚Fläche‘ paaren und aus dieser Konfrontation poetische Leuchtkraft gewinnen. Nochmals in Worten Arps aus verwandten Gedichten, die jene surreale Synthese aus poetischem Ich, schwarzem Licht und symbolischem Landschaftraum synästhetisch um „Duft“ und „purpurnem Klang“ erweitern und schließlich auf den „göttlichem Urgrund“ als einer Chiffre des Unbewussten beziehen: Menschen wachsen blühen und duften als Landschaft86

und: Wer anders als der göttliche Urgrund könnte die schwarze Landschaft der Unendlichkeit mit solch purpurnem, solch umfassendem Klang durchstrahlen und durchdringen.87

Ein weiteres Gedicht Arps, das ebenfalls aus der Sammlung „Die ungewisse Welt“ stammt, nimmt diesen poetologischen Faden auf und spinnt ihn so aus, dass es zu weiteren metasymbolischen Reflexionen Anlass gibt: Die graue Zeit Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Sie höhlt mich aus. Sie bleicht meine Träume. Sie zieht schon so lange durch mich. Ich liege am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheuren Muschel. Es zerbröckelt es verwittert um mich und rinnt in die Tiefe. Langsam zerfällt der Raum.

86 Hans Arp: Mit der größten Hochachtung empfangen (1963), in: ders. (1984), S. 178180, hier S. 179. 87 Hans Arp: Lilienlieder, Apropos der Sieben Mikroben von Max Ernst (1960), in: ders. (1984), S. 124-124, hier S. 123.

272 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Ich liege am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheuren Muschel. Ein Mond glänzt darin. Ein großes Auge eine große Perle eine große Träne glänzt darin. Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Sie höhlt mich aus. Sie bleicht meine Träume. Ich erschauere und bebe. Ich verwittere. Wie verlassene fahle Bauten stehen meine Träume am Strand eines ausgeflossenen Meeres am Rand einer ungeheueren Muschel. Die Monde Augen Perlen Tränen zerfallen. Ich fühle wie die graue Zeit durch mich zieht. Ich träume schon so lange. Ich träume mich grau in graue Tiefe.88

„Die graue Zeit“ bildet das wohl am meisten lyrische Gedicht unter ihren poetologischen Geschwistern. Dieser Eindruck verdankt sich nicht bloß der besonders ausgeprägten Formgestalt seiner surrealen Bildlichkeit, die es eben auch gibt, sondern ihrer Ko-Existenz mit anderen, traditionell als typisch lyrisch-poetisch geltenden Elementen. Dazu gehören die Häufung von Alliterationen, Assonanzen, Anaphern und (Binnen-)Reimen, aber auch die Wiederholung einzelner, jeweils leicht variierter einzelner Rede-Formeln, die in den dominant parataktischen Satzbau eingebettet sind. In ihrer Gesamtheit sind diese Phänomene lautlich-klanglicher, syntaktischer und semantischer Rekurrenz so ineinander verwoben, dass sie dem Ganzen den Charakter einer Art lyrischen Fuge verleihen. Die Bildlichkeit hingegen, die das Gedicht entwirft, erinnert wiederum an die Imaginationsräume avantgardistischer Bildlichkeit, wie sie von führenden Surrealisten seit Ende der zwanziger Jahre entwickelt und als repräsentative Topographie zeitgenössischer Bildkunst bekannt geworden ist. Dabei liegt in diesem Fall der Vergleich mit Gemälden und der Malweise von Arps Freund Yves Tanguy besonders nahe. Denn auch Tanguys Bilder sind von offenen Landschaftsräumen der Wüste und des trockenen Meerbodens geprägt (Arps „Strand“ am „Rand eines ausgeflossenen Meeres“), die Einblicke in Regionen der Unbestimmtheit

88 Hans Arp: Die graue Zeit (1939/1945), in: ders. (1974), S. 36.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 273

zwischen Licht und Dunkelheit, Traum und Wirklichkeit, Leben und Tod gewähren. Sie werden von teils pastellartigen, teils in verschiedenen Graustufen gehaltenen Farbtönen bestimmt, die sich wie ein Nebel über die Darstellung verbreiten und die Unterscheidung von Grund, Horizont und Firmament verschwimmen lassen. Die in ein solch surreales Licht getauchte Welt wird von einer mehr oder minder großen Schar merkwürdiger Wesen bzw. Dinge bevölkert, die dort ihr seltsam fremdes Eigenleben führen. Es handelt sich offensichtlich um Kreaturen von ganz unbestimmter und unbestimmbarer Natur, die sich in einem prekären Status zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Stein, Pflanze und Tier, Mensch und Maschine bewegen; man vergleiche dazu etwa Tanguys „Unbestimmte Teilbarkeit“, „Abwesende Dame“ oder „Die große Mutation“, die ebenfalls alle wie Arps Gedicht Anfang der vierziger Jahre (1942) entstanden sind.89 Tanguys Bilder der Spätphase, die für die vierziger und fünfziger Jahre anzusetzen ist, verwandeln diese Wüsten-, Untersee- und Planetenlandschaften in Räume der gewaltigen Versteinerung, in Orte gewaltiger Stein-Platten, SteinMosaike und Stein-Plateaus. Man denke dazu an seine letzten großen Werke wie „Trugbild der Zeit“, „Imaginäre Zahlen“ und „Die Vervielfältigung der Bögen“ (alle noch 1954 entstanden), die schon in ihren Titeln mit dem semantischen Komplex von Raum, Zeit und Imagination arbeiten und auf denen sich die bekannte Wüstenlandschaft, die seine Bilder der mittleren Phase prägte, mehr und mehr in eine reine, blau-grau-schwarz erfüllte Steinlandschaft verwandelt hat.90 Es ist offensichtlich, dass auch die Landschaft in Arps Gedicht diesen Weg geht, und zwar mitsamt dem sich darin befindlichen Ich. Klar und deutlich weisen seine Worte die Richtung: Eine „graue Zeit“ durchzieht Welt und Ich, von Prozessen des Ausbleichens und Aushöhlens ist die Rede, von Verwittern, Zerbröckeln und Rinnen in „die Tiefe“. Am Ende steht ein namenloses Nichts. Bei der Schilderung dieses Vorgangs ist zugleich zu bemerken, dass in die Beschreibung Begriffe eingehen, die an Hauptbegriffe surrealistischer Theoriebildung denken lassen. Denn die Worte über Phänomene des „Erschauerns“ und „Bebens“ in einer Welt, die ansonsten in unendlicher Leere erstarrt ist, lesen sich wohl nicht zufällig wie eine Applikation von Bretons paradoxem Grundtheorem „konvulsivischer“, das heißt „berstend-starrer Schönheit“, wie er sie bekanntlich in „Nadja“ (1928) und „L’Amour fou“ (1937) am einprägsamsten vorformuliert hat: „Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder nicht sein“91, und: „Die konvulsivische

89 Vgl. die Ausstellungskataloge von Schmidt (1982) sowie von Maur (2000). 90 Vgl. Maur (2000), S. 11-134. 91 Breton (1928/2002), S. 139.

274 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Schönheit wird erotisch-verhüllt, berstend-starr, magisch und umstandsbedingt sein, oder sie wird nicht sein.“92

Abbildung 100: Yves Tanguy: „Die große Mutation“ (1942)

92 Breton (1937/1970), S. 22, vgl. hier auch S. 14. – Zum Verhältnis von Tanguys Malerei zur Literatur seit Romantik, Symbolismus und Surrealismus vgl. auch Kesting (1982), S. 79-89, hier insbes. S. 83.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 275

Will man noch genauer auf einzelne Bildelemente des Gedichts eingehen, so bietet sich der Vergleich mit einem weiteren Maler des veristischen Surrealismus an, mit Dalí und seinen Gemälden „Das Auge“ (1945) und „Der Schlaf“ (1937). In beiden Bildern findet sich die weite Landschaft eines Nirgendwo wieder, das eine Mal von einem großen, in der Luft schwebenden Auge beherrscht, gleichsam stellvertretend für die Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozesse des dahinter stehenden Ich, das andere Mal behaust von einem erschlafften, menschenförmigen Riesenkopf, der seiner Lebensenergie entledigt ist und sich nur mehr auf krückenhaften Stelzen aufrecht erhält. Wie auch Arps Ich hängt das Ich Dalís seinen (Wach-)Träumen nach: „Wie verlassen fahle Bauten stehen meine Träume/ am Strand eines ausgeflossenen Meeres/ am Rand einer ungeheuren Muschel.“ Darüber hinaus legt es der Titel von Dalís Gemälde nahe, die bildliche Konstellation in Gänze als eine meta-ästhetische Allegorie des „Schlafs“ und des mit ihm verbundenen Wach-Traums zu verstehen. Ein Faktum, das wiederum ein bestimmtes interpretatorisches Licht auf Arps Gedicht wirft, wonach es sich bei den Landschaften, Gebäuden und Gegenständen bei Dalí wie Arp nicht bloß um Elemente der Imagination, sondern zugleich um Metasymbole literarischkünstlerischer Aktivität handeln würde. Die „verlassenen fahlen Bauten“ Arps, die auch im Hintergrund von Dalís Bild zu sehen sind, bilden demnach nicht nur Einzelelemente des Trauminhalts, sondern besitzen auch symbolische Qualität. Diese besteht nicht lediglich in ihrer synekdochischen Funktion, als Einzelnes die Gesamtheit surrealistischer Bildelemente zu repräsentieren, sondern darüber hinaus in metaphorischer Form. Denn schließlich sind die veristischen Traumbilder des Surrealismus prinzipiell so gestaltet, dass sie „verlassenen fahlen Bauten“ gleichen, nämlich als befremdlich-imaginäre, faszinierende und von einem melancholischen Grundton geprägte Evokationen eines literarisch-künstlerischen, wachträumenden Ich im ewigen, involutiven Raum-Zeit-Kristall. Wortund bedeutungsanalog hat denn auch Arp selbst an einer Stelle von der Suche nach dem „geistigen Kristall“93 gesprochen, wie auch schon Breton in „L’Amour fou“ (1937) seine Reflexionen über das Ich, die Kunst und das Leben explizit im ambivalenten Symbol des „harten Kristalls“, der zugleich bloß ein „Kuben aus Salz“ ist, zusammenführte: Keine künstlerische Lehre könnte, scheint mir, höher sein, als die der Kristall erteilt. Das Kunstwerk, nicht minder übrigens als irgendein Fragment des menschlichen Lebens, das man um seine tiefere Bedeutung befragt, scheint mir gänzlich wertlos, wenn es nicht die Härte, die Strenge, die Regelmäßigkeit, auf allen seinen äußeren, inneren Flächen, den

93 Vgl. Hans Arp: Sinnende Flammen (1961), in: ders. (1984), S. 135-170, hier S. 153.

276 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Glanz des Kristalls darbietet. [...]. Es drängt mich [...] heute wie je, das schöpferische, das unwillkürliche Tun zu verherrlichen, und zwar in eben dem Maße, als der seiner Definition nach nicht verbesserungsfähige Kristall dessen vollkommener Ausdruck ist. Das Haus, in dem ich wohne, mein Leben, was ich schreibe – mein Traum wäre, daß dies von weitem aussähe wie, aus der Nähe betrachtet, diese Kuben aus Salz.94

Abbildung 101: Salvador Dalí: „Das Auge“ (1945)

Abbildung 102: Salvador Dalí: „Der Schlaf“ (1937)

94 Breton (1937/1970), S. 16.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 277

Aber auch die anderen Bilder des Gedichts, die Bilder des „Mondes“ und „Auges“, der „Perle“ und „Träne“, die sich zusammen in einer „ungeheuren Muschel“ befinden und von dort aus ihren „Glanz“ verbreiten, sind von einem symbolischen Doppelstatus geprägt. Denn auf der einen Seite liest sich diese BilderFolge als Bestätigung des surrealistischen Axioms mehr oder minder hart gefügter, disparater Bildzeichen auf einem ebenso disparaten syntaktisch-semantischen bzw. topographischen Bildhintergrund. Breton hatte – im Anschluss an Formulierungen Reverdys – den Ursprung einer unwahrscheinlichen Kopplung des Inkongruenten aus dem Geist moderner, avantgardistischer Poesie betont und dementsprechend im „Ersten Manifest des Surrealismus“ (1924) formuliert: Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, vielmehr aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, umso stärker ist das Bild – umso mehr emotionale Wirkung und poetische Realität besitzt es.95

Und wenige Jahre später sekundierte Max Ernst: „Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“ (Lautréamont) ist heute ein allbekanntes, fast klassisch gewordenes Phänomen, daß die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärksten poetischen Zündungen provoziert.96

Auf der anderen Seite verbleiben die Einzelbilder in Arps Gedicht eben doch nicht in einem rein unbestimmten Sinnstatus, wie viele andere Ikonen surrealistischer Bildkunst, sondern fügen sich in Arps Konzept der Anreicherung seiner imaginären Evokationen mit symbolischer Bedeutungstiefe durchaus ein. Denn hinter der ersichtlichen Tatsache, dass den Bildern von Mond, Auge, Perle und Träne die geometrische Grundfigur einer ovalen Formgebung gemeinsam ist, verbergen sich in gegenläufiger Lesart Grundsymbole von Arps poetisch-ästhetischer Auffassung, der „Nabel“, das „Ei“ und das „Oval“. Insoweit würde auch das scheinbar zufällige Nebeneinander disparater Dinge einer höheren Notwendigkeit, etwa im Sinne der surrealistischen Auffassung vom „objektiven Zufall“ (Breton) gehorchen. Als Stätten von Zeugung und Geburt wären ihnen mithin

95 Vgl. Breton: Erstes Manifest des Surrealismus (1924), in: ders. (1996), S. 9-43, hier S. 22f. 96 Ernst: Was ist Surrealismus? (1934), in: ders. (1994), S. 50-58, hier S. 52.

278 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

der symbolische Verweis auf eine ‚naturgegebene Energie‘ inhärent, aus der sich jede literarisch-künstlerische Produktivität wie auch die unendliche Integrität und Metamorphose aller Evokationen ergibt. Insoweit bildet Arps Bilderfolge ein Beispiel der sogenannten „Reihen-Metapher“ („metaphore filée“)97 des Surrealismus, deren vielgestaltig verwandlungsfähige, durch mannigfaltige Metamorphosen und schöne, fragmentarisch-integrierende Mehrdeutigkeiten geprägte Funktionsweise Arp in einem seiner Texte anschaulich transparent gemacht hat: Ich träume [...]. Aus einem wogenden Himmelvlies steigt ein Blatt empor. Das Blatt verwandelt sich in einen Torso. Der Torso verwandelt sich in eine Vase. Ein gewaltiger Nabel erscheint. Er wächst, er wird größer und größer. Das wogende Himmelsvlies löst sich in ihm auf. Der Nabel ist zu einer Sonne geworden, zu einer maßlosen Quelle, zur Urquelle der Welt. Sie strahlt. Sie ist zu Licht geworden. Sie ist zum Wesentlichen geworden.98

Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass Dalí und Tanguy einerseits, Arp andererseits auf jeweils ihrem medialen Feld etwas sichtbar machen, nämlich Modelle surrealistischer Bildlichkeit, ja Modelle des surrealistischen Weltbilds, die den Blick auf eine andere, nie gesehene und unter der Schwelle des Bewusstseins liegende Welt freigeben. Dichter wie Künstler gehen dabei in einer Weise vor, die man als durchaus „magisch” bezeichnen kann in dem Sinne, dass Symbole von eigentlich metaphorischem Typus als metonymische und gleichzeitig repräsentative Zeichen einer anderen Welt gelesen werden und damit einander interferierende Diskursfunktionen der Naturalisierung, Mirakularisierung und Mythisierung erfüllen. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann der nicht nur von Arp aufgestellten Forderung Genüge getan werden, nicht bloß „wie“ die Natur bzw. Unbewusste zu schreiben und zu gestalten, sondern eben „als“ Ausfluss und Teil dieser außer- und innermenschlichen Energiequellen. Im Endeffekt erfüllen sie mithin den selbstgestellten Grundsatz, dass alles, und eben auch alles, was sich imaginärer Evokationen des eigenen Assoziationsstroms verdankt, auch ‚ist‘, weil und insoweit es „sichtbar“ ist. Und sie überbieten diesen Grundsatz schließlich noch in der Weise, dass sie davon überzeugt sind, mit ihren Evokationen jeden sonstigen Realitätsstatus überflügeln zu können, da ihre Evokationen die Vereinigung von eigentlich Unvereinbarem bewerkstelligen und darin – ganz im Gegensatz zur sozialen Realität der verdammten „Normalorganisation“ – das „wirkliche“, „wesentliche“ und „wahre“ Leben repräsentieren:

97 Vgl. Rifaterre (1982). 98 Hans Arp: Elemente (1955), in: ders. (1955/21995), S. 88f.

IV.3 „D IE E BENE“

UND

„D IE GRAUE Z EIT “ | 279

Der schönste Beruf ist der eines Sehmannes eines Mannes der in das Sehen unsterblich verliebt ist [...]. Der Sehmann sticht Blicke sticht Sternenküsse in den Himmel.99

Abbildung 103: Yves Tanguy: „Vervielfältigung der Bögen“ (1954)

99 Hans Arp: Der Sehmann (1962), in: ders. (1984), S. 176.

280 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

IV.4

„E IN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ ODER B EHÖRNTER V IERFUSS , AUFRECHT – D IE ALLEGORIEN DES SURREALISTISCHEN D ICHTER -K ÜNSTLERS „Die Hirsche auf den Lichtungen berauschten ihn, vor allem die weißen Hirsche, deren Geweihe seltsame Musikinstrumente sind.“ (ANDRÉ BRETON: LÖSLICHER FISCH)

Abbildung 104: Kurt Seligmann: „Magischer Berg“ (1949)

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 281

Überblickt man die metasymbolische Gedichtwelt Arps, wie sie soeben vorgestellt worden ist, so bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass sie die Raumzeit der Literatur- und Kunstproduktion als eine Welt des radikalen Anderswo gegenüber der sozialen Realität charakterisiert. Während in den Gedichten der Modernekritik der grotesk-surreale Ton dazu verhalf, bestimmte Aspekte in pointierter Weise hervorzuheben und damit kritisch zu negieren (das stereotype Normalsubjekt, den Kriegs-Sadisten, den Menschenfresser-Machtmenschen), so dient das surreale Licht nun dazu, die Welt von Traum, Unbewusstem und Zufall erstrahlen zu lassen. Im Gegensatz zu der als zugleich banal und äußerst bedrohlich gekennzeichneten Welt von Normalität, Krieg und Macht, handelt es sich um eine Welt, die, gleichsam gereinigt von den verteufelten Ingredienzien der Moderne, bereit zu sein scheint, in Einheit, Harmonie und Frieden zu sich selbst zu kommen. Diese Welt scheint das Versprechen in sich zu tragen, den Charakter der reinen, indifferenten Kontingenz bzw. Zufälligkeit, wie sie für die reale soziale Welt charakteristisch ist, abzustreifen, und dem „Gesetz“ des schönen, geglückten „Zu-Falls“ den gebührenden Raum zu verschaffen. Dass die entworfenen Situationen des einsamen, melancholischen Ich und Würfelspielers gleichwohl noch ambivalent zwischen Hell und Dunkel, Vertrautem und Unvertrautem, Lebendig- und Todsein changieren, liegt daran, dass sie noch mehr Versprechen als Erfüllung sind, dass sie noch voller Erwartung auf das Ereignis erscheinen, das die endgültige Erlösung aus ihrem gleichsam verzauberten Zustand erbringt. Die Darstellung des glücklichen Zustands bleibt mithin einem anderen Bild- und Symboltypus vorbehalten, den es abschließend vorzustellen gilt. Dieser Faszinationstypus zeigt sich endgültig erfüllt von der absoluten raumzeitlichen Involution im surrealistischen Zustand, es präsentiert – prägnant formuliert – den surrealen ,Minotaurus im Zeitkristall‘. Zur Erläuterung dessen ist aber anfangs wiederum ein kleiner lyrikgeschichtlicher Exkurs einzufügen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass es zum Selbstverständnis poetologischer Dichtung seit alters her gehört, auch Bilder und Symbole des eigenen Künstlertums und der eigenen künstlerischen Position im Kontext zeitgenössischer Kunstbewegungen zu entwerfen.100 Auch Arp hat sich im Rahmen seiner Metapoesie diesem Problemkreis gestellt und ihn in Form von Gedichten zu beantworten versucht, die, wie die bislang behandelten Texte, ebenfalls zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren erstmalig geschrieben bzw. veröffentlicht worden sind. Gemeint sind damit vor allem die Gedichte „ich bin ein pferd“ (zunächst französischsprachig 1934 bzw.

100 Vgl. dazu z.B.: Hinck (1994); Müller-Zettelmann (2000); Höllerer/Miller/Hartung (Hg., 2003).

282 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

1947, erstmals publiziert in eigener deutscher Übersetzung 1939) und „Gondel fahren“ aus dem Jahre 1956. ich bin ein pferd ich fahre in einem zug der überfüllt ist. in meinem abteil ist jeder platz von einer frau besetzt der ein mann auf dem schoße sitzt. die luft ist unerträglich tropisch. alle reisenden haben einen riesigen hunger und essen unaufhörlich. plötzlich fangen die männer zu wimmern an und verlangen nach der mutterbrust. sie knüpfen den frauen die kleider auf und saugen nach herzenslust frische milch. nur ich sauge nicht und werde nicht gesäugt. es sitzt mir niemand auf dem schoß und ich sitze niemandem auf dem schoß denn ich bin ein pferd. ich sitze aufrecht und groß mit meinen hinterbeinen auf der eisenbahnbank und stütze mich bequem mit den vorderbeinen auf. ich wiehere laut hii hii hii. an meiner brust funkeln die sex knöpfe des sexappeals schön aufgereiht

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 283

wie die funkelnden knöpfe einer uniform. o sommerszeit o weite weite welt.101

Unübersehbar handelt es sich in diesem Gedicht, verfasst bzw. veröffentlicht zur Hoch-Zeit des Surrealismus Mitte bzw. Ende der dreißiger Jahre, um eine übermütige Hymne auf das – wohl männliche – surrealistische Dichter- und Künstler-Subjekt, seine generelle Vitalität und sexuelle Potenz, die auch seine literarische und künstlerische Potenz mit einschließt. Sein Verhältnis zur normalen Umgebung des Alltags, Konsums und Geschlechterverteilung ist diejenige einer völligen Super-, oder besser noch grenzüberschreitenden Trans-Normalität, die das normalistische Leistungsranking von Sexappeal und allgemeiner Vitalität in Richtung einer Metamorphose in eine traumhaft-surreale Atmosphäre und Figuration des Pferd-Seins sprengt (vgl. ganz ähnlich auch das Gedicht „an den springinsfeld“ aus dem gleichen Band „Muscheln und Schirme“ von 1939: „ans tagewerk o du mein spritzer und springer/ siehst du nicht daß es ostet./ [...]. schon brüllen die rosen in den käfigen./ schon duften die krokodile in den vasen./ [...].“102). Arp steht mit der hier vorgeführten Gewandung des Dichter-Selbst ins Tierhafte und Animalische allerdings keineswegs allein in der modernen Literaturund Kunstgeschichte.103 Es ist vielmehr allgemein zu beobachten, dass moderne Dichter und Künstler eine Vielzahl symbolischer Verkleidungen anprobiert haben, hinter deren Drapierung sie umso offener Formen der Selbstaussprache wagten. Eine Vorliebe entwickelten sie insbesondere für das Überstülpen von Tier-Masken, das bei vielen bedeutenden Lyrikern der Moderne anzutreffen ist: bei Goethe und Hölderlin, bei Baudelaire, Mallarmé und George, bei Bachmann und Celan. Von ihren Vorgängern beerbten die Surrealisten diese Tradition und dekonstruierten sie zugleich. Ihnen, denen das emphatische Selbstbild des Dichters als rational-kalkülhaftes Genie ein ideologischer Anstoß der Kritik war, musste die Geschichte des modernen literarisch-künstlerischen Selbstverständnisses als eine Geschichte der Abwärtsbewegung und Depotenzierung des einst-

101 Hans Arp: ich bin ein pferd (1939), in: ders. (1963), S. 236f. Vgl. auch die französischsprachige Fassung „Je suis un cheval“ (verfasst in Meudon 1934, zuerst veröffentlicht 1947), in: Jean Arp (1966), S. 107f. 102 Hans Arp: an den springinsfeld (1939), in: ders. (1963), S. 243. 103 Vgl. zu einer Theorie des „Tier-Werden“ in Literatur, Kunst und anderen Medien Deleuze/Guattari (1975/1976), S. 19f u. 40ff.; diesn. (1980/1992), S. 317-422; diesn. (1991/1996), S. 218ff.

284 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

mals mächtigen Dichters als „Schöpfergott“ erscheinen. Den traditionsreichen Vergleich des Poeten mit dem stolzen „Adler“ oder „Schwan“ unterzogen sie daher einer ironischen Kritik und stellten ein neues Selbst- und Gegenbild auf, dass sich im Symbol des „Minotaurus“ und anderer animalischer Vierfüßer verkörpern sollte. Arps „Pferd“ wie auch sein späterer „gondelnder Hirsch“ bilden insoweit nur eine spezifische Ausformung des Bilds vom aufrechten und häufig behörnten Vierfuß, der sich der verbindenden Gemeinschaft mit seinen surrealistischen Brüdern und Schwestern des Esels (Aragon), des Minotaurus-Stiers (Picasso, Masson, Tanguy u.a.m.) sowie des Sauriers (Ernst) bewusst ist und einen seiner wichtigsten Vorläufer wohl in Apollinaires „Der Elefant“ besitzt: „Wie ein Elefant sein Elfenbein/ trag’ kostbar ich im Mund ein Eigentum./ Purpurner Tod! .../ Ich handle ein durch Worte zart mir meinen Ruhm.“104

Abbildung 105: Max Ernst: „Die Einkleidung der Braut“ (1940)

104 Apollinaire: Der Elefant (1911), in: ders. (1969), S. 28.

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 285

Bekanntlich hat die Zeit der Klassik und Romantik um 1800 den Mythos des Genies in seiner modernen Gestalt geprägt.105 In seiner forcierten Form ist das Genie Subjekt im emphatischen Sinne des Worts: Schöpfer sui generis, ausgestattet mit einem Höchstmaß an Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeiten und behaftet mit Höchstwertattributen individueller Subjektivität wie Authentizität, Originalität und Innovationskraft. In radikaler Konsequenz versteht es sich als gottähnlich oder gottgleich. Bevorzugtes Genre seiner Selbstaussprache bildet das hymnische Gedicht, dessen Thema eben nicht nur Gott, Natur und Vaterland bilden, sondern auch Kunst und Künstlertum. Das Wappentier dieser Dichtung ist der stolze Adler, die darin Traditionen der antiken Dichtung eines Pindar und Horaz aufnimmt und im Sinne moderner Genie-Ästhetik umformt. Den poetischen Höhepunkt dieser Genie-Ästhetik bildeten die frühen Hymnen Goethes und Hölderlins „Pindarische Gesänge“. Schon Goethes erste große Hymne, „Wanderers Sturmlied“, verglich das kämpferisch-selbstbewusste Genie mit einem Vogeltier, das sich gegen den Unbill seiner Umwelt durchzusetzen hat: „Wen du nicht verlässest, Genius/ Nicht Regen, nicht der Sturm/ Haucht ihm Schauer übers Herz./ Wen du nicht verlässest, Genius/ Wird der Regenwolke/ Wird dem Schloßensturm/ Entgegen singen/ Wie die Lerche/ Du dadroben.“ Das Bild der Lerche wurde in späteren Gedichten Goethes durch das adäquatere des „Adlers“ ersetzt, wobei zeitgenössisch für „Adler“ auch das Wort „Geier“ gewählt werden konnte, wie es in seiner letzten und komplexesten Hymne „Harzreise im Winter“ geschah: „Dem Geier gleich,/ Der auf schweren Morgenwolken/ Mit sanftem Fittich ruhend/ Nach Beute schaut/ Schwebe mein Lied.“106 Das Gewicht von Goethes Vogelsymbol ist zugleich dadurch erhöht worden, dass es sich semantisch äquivalent mit anderen Bildern und Symbolen zeigte, in deren Gewändern sich sein „Genie“ ebenfalls gerne kleidete. Gemeint sind mythologische und historische Figuren von Kulturstiftern wie Prometheus und Mahomed, die sich dabei nicht bloß als Dichter-Genies, sondern zugleich als religiöse, politische und sozial-pädagogische Figuren zu erkennen gaben. Das Genie bildete mithin eine stark inter-diskursiv strukturierte Figur, in der sich eine bestimmte Auffassung von Kunst mit analogen Konnotaten aus dem religiösen und sozial-politischen Bereich angereichert fanden und sich die jeweiligen Bedeutungskonnotate wechselseitig stabilisierten. Goethes „Prometheus“ gab in diesem Zusammenhang die wohl markanteste Formulierung einer Autonomie- und Souveränitätserklärung des „Genies“ ab: Auf den Gipfeln eines

105 Vgl. als Überblick Schmidt (1985). 106 Goethe: Harzreise im Winter, in: ders. (1998), S. 53-56.

286 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Hochgebirges stehend, schleuderte er Gottvater Zeus seine Worte ganz eigener, gottgleicher, kalkulierend-bewusster und autonom-souveräner Schöpferkraft entgegen: „Hier sitze ich, forme Menschen/ Nach meinem Bilde,/ Ein Geschlecht, das mir gleich sei,/ zu leiden, weinen/ Genießen und freuen sich,/ Und dein nicht zu achten,/ Wie ich.“107 Dieses geniebestimmte Selbstbild Goethes weitete sich in Hölderlins großen Gesängen zum geschichtsphilosophischen Panorama des deutschen Idealismus aus. Auch Hölderlin akzentuierte emphatisch das Bild des „Adlers“, der im hohen Gleitflug seine Flügel mächtig aufspannt, und verband dieses Symbol mit verwandten Ikonen des Erhabenen bei Goethe: den Bildern des großen Stroms (Donau, Rhein), der Berg-Wanderung (über die Alpen), des Sternen- und Sonnenlaufs sowie des in der Höhe schwebenden Orgelspiels und Gesangs. Wie bestimmten Gedichten und ihren Titeln ablesbar ist, vereinigten die einzelnen Hymnen Hölderlins häufig diese Symbolkomplexe im jeweiligen Text, unterstellten sie aber einer jeweils wechselnden Dominante. Daher erklärt sich, dass der Autor neben Hymnen wie „Am Quell der Donau“, „Der Rhein“ oder die „Wanderung“ auch einen Gesang mit dem Titel „Der Adler“ geplant hatte. Zwar ist davon nicht mehr als eine Skizze überliefert, aus den Bruchstücken wird aber zumindest so viel deutlich, dass hier aus der Perspektive der Dichter-AdlerFigur, „des Königs goldenem Haupt“108, wiederum über den für Hölderlinscher Welt-Anschauung zentralen Themenkreis gesprochen werden sollte, nämlich die Entwicklung der okzidentalen Kulturmenschheit von ihren Anfängen bis in die Gegenwart sowie die vom Dichter herbeigerufene Zukunft. Der Flug des Adlers sollte sich mithin über den geographisch-historischen Raum Vorderasiens, Griechenlands und Roms hin zum zeitgenössischen Mitteleuropa erstrecken und sollte damit den Entwicklungsgang okzidentaler Kultur von Ost nach West, vom Orient in den Okzident, von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft repräsentieren. Schon in der Hymne „Germanien“ hatte es entsprechend geheißen: „Der Adler, der vom Indus kömmt,/ Und über des Parnassos/ Beschneite Gipfel fliegt, hoch über den Opferhügeln/ Italias, und frohe Beute sucht/ Dem Vater, nicht wie sonst, auf beiden Seiten/ Den Fittig spannend mit gespaltenem Rücken überschwingt er/ die Alpen zuletzt und sieht die vielgearteten Länder.“109 Im Symbol des Adlers nahm der Dichter teil am Gang der Welt-Entwicklung, er partizipierte am all-erkennenden, all-wissenden und all-mächtigen Blick des „Weltgeistes“. Dessen zu sich selbst kommender und seiner selbst be-

107 Goethe: Prometheus, in: ders. (1998), S. 60-62. 108 Hölderlin: Der Adler, in: ders. (1992/1), S. 470f. 109 Hölderlin: Germanien , in: ders . (1992/1) , S . 404ff.

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 287

wusst werdender „Gang“ setzte eine inter-temporäre, inter-kulturelle und interdiskursive Vermittlung des Disparaten in Raum und Zeit sowie zwischen den Kulturen voraus, die zudem stark privat-religiös und privat-mythologisch geprägt war. In der dunklen Eingangsstrophe der Patmos-Hymne hat Hölderlin dieser selbstgestellten Aufgabe des Dichters im Bild des Adlers ein Denkmal gesetzt: Dichtung wurde hier als weit-ausladender, frei-rhythmischer Gesang verstanden, der einem Adler-Flug gleich „leichtgebauete“ und zugleich tragfähige Brücken zwischen den Blöcken des Disparaten zu errichten habe: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. In Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehen Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gieb unschuldig Wasser, O Fittige gieb uns, Treuesten Sinns, Hinüberzugehn und wiederzukehren.110

Dieses emphatische Selbstbild der Genie-Ästhetik erhielt nun im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer stärkere Spuren der Infragestellung, der Depontenzierung und Dekonstruktion. Eine Entwicklung, die in anderen, späteren Texten schon bei Goethe und Hölderlin begonnen hatte, ihren prägnanten Ausdruck aber bei Dichtern der zweiten Jahrhunderthälfte, den Protagonisten des lyrischen Ästhetizismus und Symbolismus, fand. In der Zwischenzeit war der Dichter mit gesellschaftlichen Faktoren in Kontakt getreten, die ein neues Zeitalter heraufbeschworen hatten: mit Kapitalismus, Industrialismus und großstädtischer Urbanität, mit den wissenschaftlich-technischen Revolutionen und deren Umsetzung in neue Verkehrsmittel und Medien, mit der Atomisierung des Einzelnen in der Massengesellschaft und den neuen Konzepten und Strategien sozialer Assoziierung (Nationenbildung, Parteien, Gewerkschaften). Es war daher nur konse-

110 Hölderlin: Patmos, in: ders. (1992/1), S. 447ff.

288 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

quent, dass eine sich als zeitgemäß verstehende Dichtung, sobald sie ihren Ort in der aktuellen gesellschaftlichen Situation zu bestimmen versuchte, gehalten war, das Bild des souveränen und in alle Lebensbereiche ausstrahlenden Genies einer durchgreifenden Revision zu unterziehen. Georges Gedicht über den „herrn der insel“ bildete insoweit einen Schlusspunkt dieser Entwicklung, als sich seine Darstellung des Poeten als exotischem Großvogel, der über sein Reich der Kunst gebietet, als eine Überlieferung eines lang Vergangenen zu erkennen gibt: Einst, so heißt es nun, herrschte der „herr der insel“ als ein übergroßes Vogeltier über die Welt, mit purpurfarbenen Flügeln, die ihn zu „schwerem, niederen Flug“ erhoben, und mit einer „süßen stimme“, die er für die „freunde des gesangs“ erhob. Diese Welt des souveränen Dichters, so die unmissverständliche Botschaft Georges, hat durch die Begegnung mit der modernen Umwelt ihr abruptes Ende gefunden: „Denn als zum erstenmal die weissen segel/ Der menschen sich mit günstigem geleit/ Dem eiland zugedreht sei er zum hügel/ Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen/ Verbreitet habe er die grossen schwingen/ Verscheidend in gedämpften schmerzeslauten.“111 Mit diesem Gestus des Abschieds und Verschwindens vollendete George aber nur eine Entwicklung, die seine französischsprachigen Vorbilder Baudelaire und Mallarmé schon zuvor eingeläutet hatten. Denn auch der „Albatros“ und „Schwan“ Baudelaires scheiterten am Kontakt mit der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit. So hatte sich schon sein „Albatros“, der aus seinem Element, der „luftigen Höhe“, heruntergeholt und auf dem Menschen-„Schiff“ der Gesellschaft an seinem dichterischen Flug gehindert wurde, allseitigem Spott und Hohn ausgeliefert gesehen, genauso wie der ehemals erhabene „Schwan“, der in der modernen Großstadt von Paris sich zur Ware erniedrigt wiederfand, darin allen Ausgestoßenen der Gesellschaft, den Armen, Entrechteten und Vergewaltigten gleich: „Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf dem Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang.“112 Es kann daher nicht überraschen, dass auch Mallarmés „Schwan“ (in seinem: „Le virge, le vibace et le bel aujourd’hui“/„Das reine Lebensvolle, schöne Heut und Jetzt“) sich am poetischen Aufflug gehindert sah, und zwar dadurch, dass er, ähnlich wie Hölderlins Artgenosse in dessen „Hälfte des Lebens“, im kalten Eis von Raum und Zeit festgefroren war, – unter dessen eisiger Oberfläche sich aber zu-

111 George: der herr der insel, in: ders. (1983/1), S. 71. 112 Vgl. Baudelaire: Der Albatros, in: ders. (1975/3), S. 65-67; ders.: Der Schwan, ebd., S. 226-229.

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 289

gleich so etwas wie das Gegenbild eines neuen, anonym-autorlosen Schreibens angekündigt fand.113 Ein weiteres Halbjahrhundert später konnten denn auch die Vertreter avancierter Literatur- und Kunstströmungen kaum mehr etwas mit dem traditionsreichen Vogelsymbol anfangen. Der Emphase der Goethezeit und der Melancholie der Symbolisten waren nun Parodie und Ironie gewichen, etwa wenn Richard Huelsenbeck seine „Dada-Schalmei“ (1920) anstimmte und darin den DichterKünstler, zu deren moderner Exempel er neben seiner Person explizit seine Freunde Tzara und Arp nannte, mit einem „Flieglein“ ineinssetzt: Dadaistisch sei dies Liedlein, Das ich euch zum besten gebe, Auf zwei Flüglein wie ein Flieglein Steig es langsam in die Schwebe. Tandaradei. Denk an Tzara, denk an Arpen, An den großen Huelsenbeck!114

Ebenso ist die Fatagaga-Collage, die Max Ernst zusammen mit Arp entwickelt hatte, auf dieser Linie zu verorten (vgl. „Physiomythologisches Diluvialbild“, 1920). Denn in grotesk-parodistischer Form sind auf ihr fotographische Portraitaufnahmen Arps und Sophie Taeubers mit Aufnahmen kombiniert, die Partialobjekte von Vögeln wiedergeben.

113 Vgl. Mallarmé: Le virge, le vibace et le bel aujourd’hui/ Das reine Lebensvolle, schöne Heut und Jetzt, in: ders. (1993), S. 122/123. – Zum Schwanen-Motiv als poetologischem Symbol von der Antike über die internationale Moderne (Romantik, Symbolismus, Avantgarde) bis zu Paul Celan vgl. auch Jakob (2000). 114 Huelsenbeck (1920), S. 1.

290 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 106: Hans Arp/Max Ernst: „Physiomythologisches Diluvialbild“ (1920)

Der Surrealismus hat den ambivalenten Umgang mit dem Vogel-Symbol insoweit fortgeführt, als er zum einen, in Anlehnung an Lautréamont, das traditionsreiche Schwanen-Motiv verfremdend-identifizierend aufgriff, zum anderen, wie etwa bei Hans Arp und Max Ernst, das Symbol in spielerischer, d.h. halb ironischer und halb ernster Manier weiterverarbeitet hat. In dieser Weise sprachen Breton und Éluard im „Dictionnaire abrégé du Surréalisme“ von 1938 davon, dass in der Anfangszeit der surrealistischen Bewegung das poetische SchwanenBild Lautréamonts, das einen schwarzen Schwan, beschwert mit einem Amboss auf seinem Rücken, zeigt, zum „Emblem“ der Gruppe auserkoren wurde,115 um zwar, so kann man vermuten, den sozialen Außenseiterstatus der Bewegung zum Ausdruck zu bringen: Als er den See erblickt, sieht er ihn von Schwänen bevölkert. Er sagt sich, daß dies ein sicherer Zufluchtsort für ihn sei. Mit Hilfe einer Verwandlung gesellt er sich der Schar der andern Vögel zu, ohne seine Bürde abzusetzen [...]. Schwarz wie der Fittich eines Raben

115 Breton/Éluard: CYGNE, in: dies. (1938/1969), S. 8.

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 291

schwamm er dreimal auf die Gruppe der blendend weißen Schwimmvögel zu; dreimal bewahrte er diese abstechende Farbe, die ihn einem Block Kohle gleichmachte. [...]. Auf diese Weise blieb er sichtbar im Zentrum des Sees; aber jeder hielt sich abseits und kein Vogel näherte sich seinem schändlichen Gefieder, um ihm Gesellschaft zu leisten. Und so beschrieb er seine tauchenden Kreise in einer abseits gelegenen Bucht, am äußersten Ende des Weihers, allein unter den Bewohnern der Luft, wie er es unter den Menschen war!116

Arps eigene, surrealistische Verwendung des Vogel-Symbols haben wir schon im biographischen Kapitel dieser Studie anhand seiner Vogel-Reliefe und -Gemälde („Vögel im Aquarium“ bzw. „Flasche und Vogel“) sowie deren prosaische und poetische Kommentierung, des Katalogvorworts durch Breton und Desnos sowie durch Éluards Widmungsgedicht behandelt; eine gleichrangige Verarbeitung im Medium der Dichtung Arps findet sich aber meines Wissens nicht überliefert. Derjenige unter den Surrealisten, der am intensivsten sein Spiel mit dem Vogel-Symbol trieb, war wohl Max Ernst, und zwar sowohl im Medium seiner Malerei wie auch, wohl überraschenderweise, im Medium der Schrift. Von seinen dadaistischen Anfängen bis in das Spätwerk, in künstlerischen, theoretischen und autobiographischen Werken begegnet immer wieder die Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich, am intensivsten in den bekannten Collage-Romanen sowie dem Loplop-Zyklus um 1930. „Loplop“, der „Obere der Vögel“, bildet eine Kunstfigur im doppelten Sinne: zum einen als Mischwesen aus Mensch und Tier eine künstlich hergestellte Kreatur, zum anderen als Symbol des modernen Künstlers. Umgeben von Pinsel, Staffelei oder auch Bildern und Bildausschnitten schließt Loplop an die Tradition des künstlerischen Selbstportraits an und dekonstruiert sie zugleich. Denn während in traditionellen Darstellungen der eigentliche, gewissermaßen ‚geniale‘ Akt schöpferischer Produktion hinter Gesicht und Körper des Künstlers und seinem fertig vollendeten Gemälde verborgen blieben, thematisiert Ernst, so wie später Arp in seinem Gedicht „Gondel fahren“, gerade den generativen Prozess bildkünstlerischer Verfahrensweise. Denn typisch für diese Bilder ist ihr Gestus des Präsentierens und Zeigens, so wenn die Loplop-Figur auf die deiktische Hand reduziert wird, die das Gemachtsein von Kunst, ihren Collage- und Montagecharakter offen zur Schau legt. Ernst verdeutlicht damit sein Selbstverständnis als ‚Arrangeur‘ und ‚Zuschauer‘ vorgefundener und zitierter Materialien, die – im spielerisch-zufälligen Entstehungsprozess – zugleich dem Kreislauf des individuell-kollektiven Unbewussten genauso wie dem Kreislauf sozialer Wissens- und Medienproduktion entstammen, und wendet sich damit zugleich gegen den Schöpfermythos

116 Lautréamont (1869/1954), S. 277.

292 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

vom genialen Künstler-Subjekt. Loplop gibt sich mithin als ein Anti-Prometheus zu erkennen: Als letzter Aberglaube, als letztes Reststück des Schöpfermythos blieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten revolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythos mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attackiert und wohl auf immer vernichtet zu haben [...]. Als Zuschauer kann er der Entstehung des Werkes beiwohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgültigkeit oder Leidenschaft verfolgen. Wie der Dichter seinen automatischen Denkvorgängen lauscht und sie notiert, so projiziert der Maler auf Papier oder Leinwand, was ihm seine optische Eingebungskraft eingibt.117

Ernsts Gemälde mit dem programmatischen Titel „Der Surrealismus und die Malerei“ (1942) verknüpft schließlich diese meta-ästhetischen Überlegungen mit Anklängen an die biographische Situation seines künstlerischen Schaffens, indem er seine Künstlerfigur, die sich als halb Saurier, halb als Vogelwesen zu erkennen gibt, gleichzeitig als fürsorglicher Ehemann und Vater im Kreis von Frau und Kindern sowie als Künstler bei der halb bewussten, halb automatischen Arbeit zeigt. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es darüber hinaus interessant zu verfolgen, dass sich Ernst, anders wohl als Arp, auch in seinem dichterischen Tun dem Vogel-Symbol gewidmet hat.118 Sein Gedicht, das mit „Das Schnabelpaar“ bzw. „Hirondil Hirondelle“ (zuerst deutsch 1953, dann französisch 1959), überschrieben ist, nimmt die dazu biographisch und autoreflexivkünstlerisch motivierte Tatsachen und Vorstellungen auf und konstruiert daraus eine moderne mythologische Parabel surrealistischen Künstlertums. Denn hinter den Namen des Schnabelpaars „Hirondel“ und „Hirondelle“ verbergen sich durchsichtigerweise Anspielungen auf die Person des Autors, dem „Schnabelmax“, und seiner Frau, der „vielgeliebten Schnabelbraut“ Dorothea Tanning. Wie alle „Schnabeltiere“ befindet sich das Paar im Kampf mit den „Schnabelgöttern“, worunter die politischen Mächte und Ereignisse zu verstehen sind, die dem Autor biographisch beispielsweise in Gestalt des Ersten und Zweiten Weltkriegs stark zugesetzt haben. In den mythologisch-surrealen Bildern des Gedichts: Jedesmal wenn schnabelgötter im weltgebäude einhergehn und in gleichmäßigem rhythmus langsam dabei stampfen

117 Ernst: Was ist Surrealismus? (1934), in: ders. (1994), S. 50-58, hier S. 50. 118 Vgl. zur intermedialen Allianz bei Arps Freund: Wix (2009).

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 293

malt der schnabelmax ein weltbild in den weltraum ballt die faust und faßt sich an die stirn. […] und wenn dann das stampfen der götter sehr vernehmlich wird voll stier voll entrüstung voll aber und wechsel und lassen sie dann die klingen aufeinander umschweifig klappen im zornhau mit stöcken und stangen und stößen bis gar tief in den leib hinein und stechen sie auch der sonne von vorne und von hinten inwendig ins gesicht sodaß also wenn das glück kommt der mond dir zu füßen rollt

Noch deutlicher ist der zeitgeschichtliche Bezug an den Worten ablesbar, die auf bestimmte politische Gemälde des Autors der dreißiger und vierziger Jahre („Europa nach dem Regen I/II“) sowie auf Franz Kafkas dunkel-prophetische Prosa anspielen: Und wenn sie’s dann wieder regnen lassen über europa über kafkasien und kafkamerika nach verbrachtem hau in taubheit und trübsal und ganzer gewalt [...] so kehrt das schnabelpaar den hartgesottenen göttern den rücken

In Ernsts Gedicht bilden aber Kunst und Künstlertum nicht nur einen Reflex auf biographisch-politische Voraussetzungen, sondern stehen natürlich, was schwerer wiegt, unter dem Bedingungsgefüge surrealistischer Produktionsästhetik. Mehr als die politischen Rahmenbedingungen sind es mithin die Gegebenheiten des surrealistisch aufgefassten Produktionsprozesses, die den maskierten Künstler in seinen Aktivitäten bestimmen. Das Gedicht spricht von der Verwandlung der Welt durch die produktiven Kräfte des Unbewussten und einem vom Zufallsprinzip bestimmten Spiels, dem „verschlucken“ des „weltalls“ und seiner Transformierung zu einem „erdball“ in Form eines „augapfels“, den unser „schnabelmax“ schließlich wie einen Spielball behandelt.

294 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Der schnabelmax steckt sein weltbild unter den arm hebt es lächelnd in die höhe er schlägt es auf er klappt es zu und legt es auf den welttisch zur gefälligen betrachtung [...] Schnabelmax geht zur tür zieht den schlüssel aus der tasche öffnet die türerblickt das weltnichts schließt das rechte auge und die tür öffnet den mund zählt seine Zähne verschluckt das weltall zählt die monde zählt die jahreszeiten schüttelt den kopf und berührt seine stirn Da wird sein linker augapfel zum erdball er nimmt ihn zwischen daumen und zeigefinger rollt ihn über den tisch knallt ihn zu boden schleudert ihn an die wand fängt ihn mit der hand wieder auf und steckt ihn mitsamt dem schlüssel und dem mond in die tasche

Ernsts Gedicht endet schließlich mit der Vision einer wieder ins rechte Lot gebrachten Welt, einer Vision, deren Realisierung sich der künstlerischen Tat des Schnabelmax verdankt. Denn hieß es noch zu Anfang des Textes: Wo vor jahren ein haus stand da steht jetzt ein berg wo vor jahren ein berg stand da steht jetzt ein stern

so lautet jetzt die Schlusspartie: und siehe Wo vor jahren ein stern stand

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 295

da wächst jetzt ein stern wo vor jahren ein berg stand da wächst jetzt ein berg wo vor jahren ein haus stand da wächst jetzt ein haus119

Zugleich ist in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass Ernsts „Schnabelpaar“, der augenfällig kaum mehr dem Element der einst „luftigen Höhe“ angehört, auch davon kündet, dass sich die anderen Wappentiere des Surrealismus stark dem Erdboden verhaftet fühlen. Diese Tendenz, die nicht genügend hervorgehoben werden kann, zeigte sich schon in einem frühen literarischen Bespiel tiersymbolischer Verkleidung des Surrealismus, in Aragons Gedicht „Mimosen“ („Mimosas“, 1925). In kühner Montagetechnik diskontinuierlicher und mehrdeutiger Bilder wurde hier das Künstlersymbol des „Esels“ mit Motiven individueller und sozial-kollektiver Revolution verbunden. Als Szenerie diente Aragon eine moderne Großstadt mit deutlichen Konnotationen der französischen Metropole und Hauptstadt, deren surreale Inszenierung ihm schon in seinem gleichzeitig veröffentlichten Roman „Der Bauer von Paris“ gelungen war. Geschildert wird darin eine Situation des politischen Ausnahmezustands – „Die Regierung war gerade/ in einen Weißdornbusch gefallen“ – sowie der sich anbahnenden kollektiven Revolution: „Ein Generalstreik ward sichtbar soweit das Auge reicht.“ Offensichtlich hat sich soeben so etwas wie ein Attentat ereignet („Unter dem kombinierten Einfluß des Monds und des Kopfwehs/ Flohen die Mörder in die Perspektive der Zugluftwinde/ Das Opfer hing wie ein Beefsteak am Gitter“), Gewalt und Gegengewalt liegen in der spannungsgeladenen Luft: „Eine Hitze zum Eingehen/ Auch muss man sehen ob die Kasernen was zu hören kriegten.“ Die Lage spitzt sich zu, als die bislang sozialdeklassierten, aber stummen Mächte der Wohnviertel und der ‚Straße‘ sich zu regen beginnen: „Der Alkohol floss in Strömen aus der Luke der Dächer/ Die Metro kroch aus der Erde um Luft zu schnappen.“ Die Entscheidung zugunsten einer friedfertigen Revolution mit Volksfestcharakter fällt schließlich in dem Moment, als im Bild eines blumenbeschmückten „Eselchens“ die Kunst und Literatur die Bühne des Geschehens betreten. Wenn auch in ironischer Brechung, so zeugten doch Aragons Worte von dem Glauben an die Macht von Künstlertum und Kunst für eine phantasiegeleitete Revolution im Tumult der Zeit:

119 Ernst: Das Schnabelpaar/Hirondil, Hirondelle (zuerst deutsch 1953, dann französisch 1959), in: ders. (1994), S. 82-85.

296 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Da plötzlich erschien An der Biegung der Straße Ein Eselchen das einen Wagen zog Der für den Blumenkorso geschmückt war Erster Preis für die ganze Stadt Und für die Nachbarstädte120

Abbildung 107: Pablo Picasso: „Der blinde Minotaurus wird von einem Mädchen geführt“ (1935)

Nach Aragons Ausscheiden aus der surrealistischen Gruppe Anfang der dreißiger Jahre sowie dem taktischem Kurswechsel der Bewegung jener Tage wurde ein anderes Tiersymbol zum allseits bekannten Erkennungszeichen des Surrealismus ausgerufen. Die neue Zeitschrift, die 1933 unter wachsender Dominanz Bretons und seiner Mitstreiter entstand und als Gruppenorgan die bisherigen surrealistischen Publikationsorgane beerbte, war stärker als ihre zuvor politisch überdeterminierten Vorgänger ästhetisch und kulturell ausgerichtet; in ihrem Titel verwies sie auf das Symbol, das zum neuen Wappentier der Bewegung werden sollte, die mythologische Figur des „Minotaure“.121 Für die Gestaltung des ersten Titelblatts konnte Picasso gewonnen werden, der sich schon zuvor gele-

120 Aragon (1925/1991), S. 25f. 121 Vgl. dazu Maurer Queipo/Rissler-Pipka/Roloff (2005).

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 297

gentlich dem Motiv gewidmet hatte und in den dreißiger Jahren zunehmend in das Fahrwasser des künstlerischen, aber auch literarischen Surrealismus geriet. Er wählte die Radierung eines freundlich blickenden, teils männlich, teils kindlich wirkenden Minotaurus, der einen flammenähnlichen Dolch wie ein Spielzeug in der Hand hält („Minotaurus mit einem Dolch bewaffnet“, 1933). Und auch seine anderen Minotaurus-Darstellungen, die sich im ersten Heft der neuen Zeitschrift befanden, zeigten eine ähnliche Ambivalenz zwischen männlicher Stärke und erotischem Begehren auf der einen sowie Unsicherheit und Verletzbarkeit auf der anderen Seite.122 Die Bilder der folgenden Jahre, die dem sogenannten Minotaurus-Zyklus zugezählt werden und einen Höhepunkt des Schaffens im Rahmen seiner surrealistischen Phase abgeben, versetzten die Figur zudem in einen narrativen Kontext, der sich aus teils biographischen, teils mythologischen und teils ästhetisch-autoreflexiven Quellen speiste. Zu ihrem bestimmenden Momenten gehört die Gestalt einer geblendeten Stier-Mann-Figur, die von einem jungen Mädchen an der Hand geführt wird, was, als deutliche Uminterpretation des antiken Mythos und im Rahmen des zeitgenössischen Kontextes, wohl nicht weniger bedeutete als eine allegorische Symbolisierung der Macht der Liebe, des Traums und Unbewussten, die als verführerisch leitende Kräfte das modern-avantgardistische Künstlertum bestimmen. Eine Übertragung dieser ikonischen Konstellation ins poetische Bild der Literatur ist zwanzig Jahre später dem deutschen surrealistischen Lyriker Max Hölzer mit seinem Prosagedicht „Entstehung eines Sternbilds“ (1958) gelungen: Der Stier reckt das Maul, aber kein Laut dringt hervor. Er bewegt sich in der eigenen Nacht, aufrecht auf den Hinterbeinen, den Strand entlang. Seine Augenhöhlen füllt Sand. Auf seiner Stirn, zwischen den Hörnern, ist ein Vorrat von Wellen und Wolken. Das Mädchen, das vorangeht, hat Taubengefieder um die Hüften. Kein Schritt löst die Fingerspitzen von den Klauen, an denen sie den Stier führt. Vielleicht ist es nie Tag gewesen. Eine unhörbare Explosion läßt Meer und Strand versinken. Aber sie straucheln nicht. Das Mädchen tanzt dem geblendeten Stier durch die Brust. Er kämmt ihr Herz.123

In der Nachfolge Picassos haben sich eine ganze Reihe von Surrealisten ebenfalls mit dem Minotaurus-Symbol beschäftigt. Ein Teil ihrer Darstellungen wurde zur Dekoration des Zeitschriften-Covers von „Minotaure“ verwendet (Picasso, Ernst, Magritte, Dalí, Masson, Tanguy u.a.m.). Ähnlich wie bei Picasso bewegte sich das Bedeutungsspektrum der allegorischen Gestalt insgesamt zwi-

122 Vgl. Rissler-Pipka (2005), S. 39-70. 123 Hölzer (1958/1992), S. 5.

298 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

schen den Konnotationspolen von Menschlichem und Tierischem, Bewusstem und Unbewusstem, Transparenz und Opazität, erlaubte aber dem jeweiligen Künstler zugleich, eigene Akzente zu setzen. Ernst konzentrierte sich in seiner Darstellung auf eine stilisierte und ornamental verzierte Darstellung eines wie aus der Luft portraitierten Stierkopfes, Magritte umringte seinen wie mit einer antiken Toga gewandeten Minotaurus, der das Skelett eines Stierkopfs als Haupt trägt, mit diversen Gegenständen, die zuvor schon zum Thema seiner Gemälde geworden waren, und machte damit auf den verfremdenden Collage- und Montage-Charakter seiner Kunst aufmerksam (beide unter dem Titel „Minotaure“, 1938). Dalís androgyner Minotaurus mit männlichem Stierkopf und weiblichem Körper trug in seinem Leib die geöffneten Schubladen zur Schau, die in seiner Kunst als Symbole des Unbewussten funktionieren („Minotaurus“, 1936). Masson trieb dieses Motiv der Reise in eigene, unendliche Ich noch weiter in seinem Minotaurus-Gemälde „Das Labyrinth“ (1938), indem er seine Figur nicht nur surrealismustypisch in eine Ebene aus halb Wasser-, halb Land- und Gebirgswüste verpflanzte, sondern auch dem Inneren der Gestalt den Charakter einer vielfach verschlungenen, labyrinthartigen Unendlichkeit verlieh (eventuell Anlehnung an einen Picasso-Kommentar Bretons, in dem dieser über den Künstler und dessen Werk als einem „Vogel“ in einem rätselhaft-opaken „Labyrinth“ sprach). Picassos wie Dalís latente Subversion und Aggressivität wird in Tanguys „Minotaurus“-Darstellung von 1943 weitergeführt. Was bei Dalí mittels blitzendem Gebiss und raushängender Zunge erzielt wird, findet bei Tanguy als ein Mischwesen aus Stier und adlerähnlichem Raubvogel seinen Ausdruck, das sich mit geschwungenen Hörnern und einem durchdringenden Auge durch die Luft bewegt; Kopf und Brust teilweise von einer Draperie verhüllt, hängen die riesigen Flügel wie ein ausladender Umhang herunter und münden in scharfen Klauen, die Köpfe und Hälse von hilflosem Geflügel mit sich fortreißen. Ein andere Version des Motivs („Minotaure“), die ebenfalls Mitte der vierziger Jahre (1942) entstanden ist, zeigt hingegen eine mehrfach in sich verschachtelte Minotaurus-Figur allein vor einer Wüsten-, Unterwasser- oder Planetenlandschaft (hierin wiederum ähnlich Masson), wie sie – nach den vorliegenden Feststellungen – eben erwiesenermaßen für den veristischen Surrealismus der Zwischenkriegszeit typbildend und als Darstellungsform eines ,involutiven Chronotopos‘ oder auch ,absoluten Raum-Zeit-Kristalls‘ kenntlich gemacht worden ist.

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 299

Abbildung 108: Pablo Picasso: „Minotaurus mit einem Dolch bewaffnet“ (1933)

Abbildung 109: Salvador Dalí: „Minotaurus“ (1936)

300 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 110: Yves Tanguy: „Minotaurus“ (1942)

Abbildung 111: Yves Tanguy: „Minotaurus“ (1943)

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 301

Gondel fahren Ein Hirsch fährt Gondel. Er wiegt märchenhaft seine Hornkrone die von roten Backengläsernen Zeptern gereimten Gegenständen wie ein Weihnachtsbaum überwuchert ist. Vor ihm in der Gondel in einem Korbliegt ein langer schwarzer Bart voll Irrlichter handlicher Blitze vierblättriger Windrosen kleiner Löffel die ihre Zunge rausstrecken. Leider kann der Hirsch nicht alle seine schönen Ding ein seiner Hornkrone anbringen. Sie kann aber immer noch wachsen und diese Dinge würden dann darin ihren Platz finden. Nichts anderes verlangt der Hirsch als ungestört weiter Gondel fahren und seine raunende Hornkrone märchenhaft wiegen zu können.124

Abbildung 112: Hans Arp: „Hirsch“ (1914)

124 Hans Arp: Gondel fahren (1956), in: ders. (1974), S. 231.

302 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Mit diesem Überblick über die surrealistische Symbolik der Minotaurusfigur ist zugleich ein gewichtiger Aspekt zum Verständnis von Arps eigener KünstlerAllegorie skizziert. Arps Gedicht „Gondel fahren“ aus dem Jahre 1956, das den Fluchtpunkt der vorliegenden Überlegungen über die autoreflexive Künstlersymbolik im Surrealismus bildet, beerbte nämlich diese innerhalb der Bewegung ausgebildete Konvention, aber nicht ohne seinerseits eigene Akzente zu setzen. So knüpft die Symbolik des „Hirsches“, die übrigens bei Arp schon seit seinen Anfängen nachweisbar ist (vgl. sein Relief „Hirsch“ von 1914) und ihre bildkünstlerische Parallele in der Zentralfigur von Kurt Seligmanns „Magic Mountain“/„Magischer Berg“ von 1949 besitzt, an die surrealismustypische Bildlichkeit des behörnten Vierfußes an, gibt ihm aber ein erkennbar sanfteres Antlitz im Vergleich zu dem dort dominanten Typus des minotaurushaften Stiers. Die aufrechte, dabei als sitzend vorzustellende Haltung des gondelfahrenden Hirsches, die, wie der Text sagt, eine intensive Beschäftigung mit den ihm vorliegenden „Dingen“ erlaubt, erinnert aber auch an mehrere bedeutende Selbstdarstellungen Max Ernsts, wie etwa die mit einem gehörnten Kopf versehenen Hauptfigur der Skulptur „Der König spielt mit seiner Königin“ (1944) und die titelgebenden Gestalten in der Großplastik „Capricorn“ (1948). Die „Gondel“ schließlich, in der sich Arps „Hirsch“ bewegt, ist entsprechend nicht bloß als Verweis auf die mögliche Zeit der Entstehung bzw. Veröffentlichung des Gedichts aufzufassen, da Arp im Jahre 1956 auch der „Große Preis“ von Venedig, der „Gondel-Stadt“ par excellence, verliehen wurde. Denn das Bild der langsam-ruhigen, genussvollen und gleichsam ‚artistischen Fahrt‘, das in zeitkritischer Opposition gegenüber den technisch-maschinellen Vehikeln der Moderne und deren hektischen Manövern steht, besitzt einen deutlichen Anklang an ein künstlerisches Portrait aus dem Kreis der Surrealisten: Denn auf Dorothea Tannings Gemälde, das den Titel „Max im blauen Boot“ (1946) trägt, findet sich ihr Lebensgefährte und Mann Max Ernst bootfahrend und mit den Insignien seiner Künstlersymbolik versehen wieder, dem vor ihm liegenden Schachspiel. Ernsts wie Arps Künstler-Allegorien bewegen sich damit in ihren Vehikeln wie ihre minotaurusartigen Vorfahren in einer Art Raum- und Zeitkristall absolut-involutiven Typs. Während, wie gesehen, Ernst das Schachspiel zum Grundsymbol seiner künstlerischen Tätigkeit auserkoren hatte, wird diese metasymbolische Funktion in Arps Gedicht durch das „Geweih“ des Hirsches sowie dem ihm vorliegenden „Korb“ mitsamt den darin befindlichen „Dingen“ ausgefüllt. Mit dieser bildlichen Konstellation gelang es Arp, mehrere Aspekte des künstlerischen Produkts und innerlich-generativen Produktionsprozesses thematisch zu koppeln, die Wesentliches des surrealistischen Selbstverständnisses ausmachen. Das Hirschge-

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 303

weih offenbart sich durch die Attribute „märchenhaft“, „raunend“ und „von [...] gereimten Gegenständen [...] überwuchert“ als werkhaftes Erzeugnis künstlerischer, genauer gesagt poetischer Aktivität, das durch die Bezeichnung „Hornkrone“ (mit „gläsernen Zeptern“) gleichsam geadelt und durch den Vergleich mit einem „Weihnachtsbaum“ als dem Bereich des Surreal-Wunderbaren angehörig erklärt wird. Auf den Produktionsprozess bezogen steht die tranceartig-gleitende Fahrt der Gondel, während Arps Hirsch seine Hornkrone „märchenhaft wiegen“ kann, für die Reise ins „Unbewusste“ im Sinne surrealistischer Ästhetik, die, im Symbol des ‚aufrechten Hirschen‘, wiederum mit Vorstellungen auch bewusst kontrollierender und konstruierender Aktivitäten des (‚auswählenden‘) KünstlerIch kombiniert erscheint. Darüber hinaus finden sich auch symbolische Anklänge an die surrealistischen Produktionsprinzipien der Collage und des Zufalls deutlich realisiert. Denn aus dem „Korb“ des individuellen bzw. sozial-kollektiven Unbewussten greift der Hirsch wie zufällig Bilder einzelner Objekte und Partialobjekte heraus und arrangiert sie im „Weihnachtsbaum“ seiner Hornkrone zu einem Nebeneinander des Nichtzusammengehörigen auf einer nicht dazu passenden Fläche im Sinne Lautréamonts und der Surrealisten. Und das Bild der „kleinen Löffel die ihre Zunge herausstrecken“, das Arp als letztes Objekt in der Kette seiner „schönen Dinge“ aufzählt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen wiederum als Bild im Bild, wie ein Vergleich mit Dalís groteskem Gemälde „Bildnis Picasso“ (1947) verrät. Denn dem dort mit einem Widderhorn und augenlosen, weil nach innen gerichteten Augen versehenem Kopf entspringt aus der Mundhöhle ein überlanger, metallener Löffel, an dessen Ende dem Betrachter eine Art Mandoline entgegengestreckt wird. Diese ‚zweite Zunge‘, so muss man mit Recht annehmen, symbolisiert aber nichts anderes als den ‚Klang‘ und die ‚Musik‘ des ganz in sich gekehrten, absolut-veristischen Surrealismus, die ihm aus dem Inneren des eigenen ‚Korpus‘ gleichsam ewiglich entströmt.

304 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 113: Max Ernst: „Der König spielt mit seiner Königin“ (1944)

Abbildung 114: Max Ernst: „Capricorn“ (1948)

IV.4 „EIN H IRSCH FÄHRT G ONDEL “ | 305

Abbildung 115: Dorothea Tanning: „Max im blauen Boot“ (1946)

Abbildung 116: Salvador Dalí: „Bildnis Picasso“ (1947)

V. Zum Abschied: Die Gesänge des Minotaurus im Labyrinth der intermedialen Moderne „Der Teleskopfisch knackt Steine in der Tiefe von Büchern.“ (ANDRÉ BRETON: WEISSHAARIGER REVOLVER)

Abbildung 117: Hans Arp: „Poussah“ (1920)

308 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Nachdem der Rundgang, der durch ,Foyer‘ (Kapitel II), ,Salon‘ (Kapitel III) und ,Atelier‘ (Kapitel IV) von Arps surrealistischem Zauberschloss geführt hat, abgeschlossen ist, gilt es nun, am Ausgang, einen Über- und Rückblick auf das literarisch-künstlerische Gesamtwerk zu werfen. Zwei Perspektiven bieten sich dazu an: zum einen die Situierung des begangenen Arpschen Teilbaus innerhalb seines eigenen, vielschichtigen Werkganzen, zum anderen dessen Ort innerhalb der weitverzweigten surrealistischen Schlossanlage. Die erste Perspektive wird, im Anschluss an die dazugehörigen grundsätzlichen Bemerkungen in Kapitel I und II dieser Untersuchung, noch einmal aufgenommen anhand eines metasymbolischen Gedichts Arps mit dem Titel „Genau von der Mitte der Decke“ (1958). Denn wie in einem symbolischen Vexierbild (und damit in der bekannten Manier Dalís) und mit Bezug auf bekannte Ikonen der Avantgardemalerei des 20. Jahrhunderts (Malewitsch, Man Ray, Giacometti) birgt es die beiden bei Arp und der zeitgenössischen Avantgarde vorherrschenden Richtungen von Abstraktion und Dada/Surrealismus in sich und weist mithin Arp als einen, wie es auch das Museum of Modern Art formulierte, „Abstrakten Surrealisten“ aus (Kapitel V.1). Zugleich eröffnet die mit diesem Gedicht eröffnete Bildlichkeit und Symbolik von gegenständlicher Figuration („Pendel“) und absoluter Raum-Zeit („leeres Zimmer“) einen abschließenden Überblick über Arps surrealistische Dichtung und deren vormals verschwiegenen Verbindungstüren zur Theoriebildung und bildkünstlerischen Praxis im Zeichen des zeitgenössischen Pariser Surrealismus. Der für Arps surrealistische Dichtung so typische figurative Chronotopos einer einsamen Gestalt in gleichsam leerer Raum-Zeit erweist sich demnach als lyrische Evokation eines bildlich-symbolischen Topos, der ansonsten als höchst paradigmatisch für die zeitgenössische Malerei des veristischen Surrealismus gilt. Wie sich in den Einzelanalysen einschlägiger Gedichte und anderer Äußerungen Arps gezeigt hat, bildet die Entdeckung dieses Topos, der seine parallele Erscheinung in der surrealistischen Kunstpraxis von Ernst über Magritte bis Dalí und in den theoretischen Reflexionen Bretons besitzt, den Schlüssel zu einem Dichtungsraum Arps, der einen Zugang sowohl zu seiner Kritik an der sozialen Realität der Moderne wie auch zu seinem Modell einer surrealistischen, an Traum, Zufall und Unbewusstem orientierten Literatur- und Kunstpraxis eröffnet. Im Rückblick werden noch einmal die zentrale Bildlichkeit und Symbolik, die das Doppelthema von Kampf gegen die „Normalorganisation“ der Moderne und für eine neue Literatur- und Kunstpraxis inszeniert, sowie die dahinterstehenden surrealistischen Verfahren – der Naturalisierung, Mirakularisierung und Mythisierung – zum Gegenstand einer zusammenfassenden Reflexion. Dieser Gesamtblick erlaubt es abschließend zudem, die Rolle und Bedeutung der hier behandelten Gedichte für die deutsche und internationale Literatur- und Kunst-

V. Z UM A BSCHIED | 309

geschichte sowie ihren diskurs- und kulturtheoretischen Ort gegenüber dem Ensemble der Wissens- und Handlungsordnungen in modernen Gesellschaften hervorzuheben (Kapitel V.2).

Abbildung 118: Alberto Giacometti: „Palast um vier Uhr nachts“ (1932)

310 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

V.1 P ENDEL UND LEERER R AUM : ARPS ABSTRAKTER S URREALISMUS

Genau von der Mitte der Decke In einem leeren leeren Zimmer ohne Tisch und Stuhl und Bett in einem leeren leeren Zimmer mit verschlossenen Fenstern mit verschlossener Türe pendelt von der Mitte der Decke genau von der Mitte der Decke an einer langen langen Schnur der Schlüssel des Zimmers langsam hin und her.1

„Immer wandelt sich die Schönheit“2 (Arp): Das Werk eines jeden großen Dichters oder Künstlers gibt Anlass, die Literatur- und Kunstgeschichte um ihn herum jeweils in einem ganz eigenen und neuem Licht erstrahlen zu lassen.3 Überblickt man allein die Äußerungen Arps über seine literarisch-künstlerische Entwicklung, die er während seiner lebenslangen Schaffenszeit mitgemacht hat, so fällt auf, wie er für sich reklamiert, an der Entstehung und Entfaltung von drei bedeutenden Strömungen innerhalb der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts mitbeteiligt gewesen zu sein: an der Entdeckung der Abstraktion, der Erfindung Dadas sowie dem Surrealismus (avant la lettre).4 Das poetologische Gedicht Arps, das es auf Grund seiner bildlich-symbolischen Struktur und Funktion erlaubt, die Spannung zwischen den beiden Polen „Abstraktion“ auf der einen und „Dada/Surrealismus“ auf der anderen Seite zu thematisieren, trägt den Titel „Genau von der Mitte der Decke“ und wurde zuerst 1958 innerhalb der „Kleinen Anthologie“ veröffentlicht. Es bietet die Gelegenheit, wie in einem Vexierbild zwei verschiedene Bildkonzepte in einem Gedicht zu erschließen, je

1

Hans Arp: Genau von der Mitte der Decke (1958), in: ders. (1984), S. 43.

2

Hans Arp: Immer wandelt sich die Schönheit (1955), in: ders. (1955/21995), S. 90f.

3

Vgl. ähnlich Deleuze (1984/1995), S. 75ff.: „Jeder Maler resümiert die Geschichte der Malerei auf seine Weise ...“.

4

Vgl. Hans Arp (1955/21995), S. 7-19 (für die Abstraktion bzw. „konkrete Kunst“), S. 20-29 u. 51-61 (für Dada), S. 54f. (für den Surrealismus).

V.1 P ENDEL

UND LEERER

R AUM | 311

nach dem, auf welches Element sich der Blick des Betrachters gerade konzentriert. Zugleich ist davon auszugehen, dass sich diese beiden Hälften des Gedichts insgesamt zu einer spannungsreichen Einheit verbinden, die eben für Arps bewusste Kopplung zweier künstlerisch bedeutsamer Positionen steht. Das Gedicht kann mithin poetologisch als Anspielung darauf gelesen werden, dass es zum einen Arp als Mitbegründer abstrakter Kunst, die um 1910 von ihm mit entdeckt und in den zwanziger und dreißiger Jahren in Gestalt sogenannter konstruktivistischer und konkreter Kunst von ihm mitvertreten worden ist, zum anderen als Stellvertreter von Dadaismus und Surrealismus ausweist. Denn wie das „Pendel“ im Gedicht bewegte sich Arp während eines Großteils seiner aktiven Schaffenszeit zwischen diesen beiden Polen avantgardistischer Kunst, die auch zu den bedeutendsten Repräsentanten moderner Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten. Darüber hinaus dürfte Arp zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes, Ende der fünfziger Jahre, auch deutlich vor Augen gestanden haben, wie aktuell und zukunftweisend die von ihm jahrelang zuvor praktizierte Kopplung zweier als antinomisch geltender Kunststile für die Zeit nach 1945 gewesen ist. Schließlich wurde die internationale Szene von da an nicht nur von den reinen Vertretern abstrakter bzw. dadaistisch-surrealer Kunst beherrscht, sondern gerade von sich als darin weiterführend-innovativ verstehenden Richtungen, die auf einer Verbindung solcher scheinbaren Antinomien hinausliefen, etwa wie der Abstrakte Expressionismus, Tachismus und Informel. Die Deskription eines ‚leeren Raums‘, von der im Weiteren angenommen wird, dass sie symbolisch für die Verfahrenstechnik abstrakter Kunst steht, nimmt die erste Hälfte des Gedichts ein. Es ist die Rede von einem „leeren leeren Zimmer“, ohne „Tisch und Stuhl und Bett“, mit „verschlossenen Fenstern“ und „verschlossener Tür“. Solche Dinge der Alltagswelt wie Tisch, Stuhl und Bett, Tür, Fenster und Zimmer stehen im Sinnzusammenhang des Gedichts für eine von der sichtbaren Gegenstandswelt beherrschte Kunst, von der die Entwicklung der Kunst von ihren historischen Anfängen bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts dominiert worden ist. Die Abwesenheit und Nichtexistenz einer solchen Dingwelt im Rahmen künstlerischer Gestaltung, wie sie von der ersten Hälfe des Gedichts betont wird, verweist dagegen auf den revolutionären Charakter einer Kunst, die sich von der Darstellung von Gegenständen der Außenwelt lossagt und sich der Darstellung eines in diesem Sinne Ungegenständlichen verschreibt. „Leer“ ist also das „Zimmer“ dieser Kunst insoweit, als nicht mehr sichtbare Gegenstände der äußeren Welt zur analogen Abbildung kommen, sondern Platz gemacht wird für etwas anderes. Und dieses Andere besteht natürlich in denen der Kunst eigenen Darstellungsmitteln wie Linie, Form und Farbe an sich, die wiederum damit zu den neuen, eigentlichen und konkreten Gegenstän-

312 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

den dieser Kunst werden. Die Rede von der „verschlossenen Tür“ und den „verschlossenen Fenstern“ liest sich unter dieser Prämisse wie ein Bewusstsein Arps darüber, wie rätselhaft, unverständlich, ja geradezu hermetisch abgeschlossen eine solche Art der künstlerischen Darstellung für einen unvertrauten Betrachter sein muss. Wohingegen sich der Sprecher des Gedichts dadurch privilegiert zeigt, dass er über einen informierten Blick verfügt, der es ihm erlaubt, den ansonsten opaken Bildraum für den Leser transparent zu machen. Denn schließlich verfügt er offenbar über die Gewissheit, was sich in dem Raum befindet und was nicht.

Abbildung 119: Kasimir Malewitsch: „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ (1915/1923) „Und Malewitsch malte das schwarze Quadrat auf schwarzem Grund“5: Die orthogonale Form des Raums, seine Leere wie auch die mit zu konnotierende Dunkel- und Rätselhaftigkeit lassen zudem an ein bestimmtes modernes Kunstwerk denken, das zu den bekanntesten Gründungsdokumenten abstrakter Kunst gehört und auf das auch Arp in seinen Kunstkommentaren mehrfach ausdrücklich Bezug genommen hat. Gemeint ist das „Schwarze Quadrat“ des Kasimir

5

Hans Arp: Immer wandelt sich die Schönheit (1955), in: ders. (1955/21995), S. 90f., hier S. 90.

V.1 P ENDEL

UND LEERER

R AUM | 313

Malewitsch (1915/1923), das für Arp zugleich Anfang und Höhepunkt abstrakter Malerei darstellte und das durch seine Ungegenständlichkeit und Selbstbezüglichkeit zur Ikone dieser Kunstrichtung geworden ist. Denn das reine Schwarz, das den Innenraum des Bildes vollständig und gleichmäßig planimetrisch ausfüllt, wie auch der weiße Grund, der das schwarze Quadrat einrahmt, bilden in ihrer Leere und Nichtigkeit ein absolutes Symbol der Ungegenständlichkeit. Orthogonalität und die ganzflächig ausfüllende Monochromie signalisieren den Ausdruckswillen moderner Kunst, sich auf reine Form und reine Farbe als den eigentlichen Ausdrucksdimensionen der Malerei zu konzentrieren. In seiner Orthogonalität, seiner Rechteckigkeit und dem Eingespanntsein in die drei Achsen eines Bildraums (horizontal, vertikal und diagonal) verweist es auf die jedem Bildwerk immanenten Strukturgrößen der Form und Linie. Und das Schwarz deutet gerade in seiner Nichtfarbigkeit auf die Existenz der Farbe als zweite Grundgröße jeglicher Malerei. Gemeinsam ist beiden, Form und Farbe, schließlich der Verweis auf die reine Objekthaftigkeit und Materialität malerischer Mittel im Bild, unabhängig von jeglicher Beleuchtung, komme sie von innen oder außen, und unabhängig vom Standort des Betrachters, in geradezu objektiver Perspektive. Beide Größen reinigen in ihrer Abstraktheit, als äußerer Rahmen des Rechtecks wie auch Monochromie von Schwarz und Weiß, das Kunstbild von jeglicher Gegenständlichkeit und eröffnen zugleich den Bildraum für etwas Neues, das die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts mit ihren Konfigurationen und Konstellationen auf eine ihr gemäße Weise zu füllen wusste. Das „Schwarze Quadrat“ wird damit zu einem Bild absoluter Malerei, das die eigentlichen, in Arps Sinne „konkreten“ Grundkräfte jeder Malerei in reiner Weise verdeutlicht. Dem „Pendel“ kommt in einer solchen Lesart die Funktion zu, dem spirituellen Charakter einer solchen Kunst Ausdruck zu verleihen. Bekanntlich haben wichtige Begründer der abstrakten Kunst wie Malewitsch, Kandinsky und Mondrian ihre Kunstpraxis mit Gedankengut mystischer Spiritualität verbunden, ein Faktum, das in dem magischen Sog des unentwegten Schlüssel-Pendels wie auch des melodischen, unendlich in sich kreisenden Tons des Gedichts selbst angedeutet ist. So formulierte Arp mit Blick auf die Gestaltung seiner „Quadrate“, die zusammen mit Sophie Taeuber während und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren: „Uns schwebten Mediationstafeln, Mandalas, Wegweiser vor, unsere Wegweiser sollten in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen.“6 Und nichts anderes will auch Arps Gedicht demonstrieren, indem es den zweidimensionalen Raum der Malerei in imaginativer und sprachlich-symbolischer Form in ein dreidimensionales „Zimmer“ verwandelt, dessen Innen-

6

Hans Arp: Sophie Taeuber, in: ders. (1955/21995), S. 9-19, hier S. 19.

314 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

raum sich ebenfalls als orthogonal darstellt, sich durch seine Leere und das Verschlossensein als gleichsam jeder Farbe und Beleuchtung beraubt präsentiert und damit einen idealen Ort für Arps meditative Suche nach dem „Wahren“, „Wirklichen“ und „Wesentlichen“ abgibt.

Abbildung 120: Man Ray: „Unzerstörbares Objekt“ (1923/1933/ 1965)

V.1 P ENDEL

UND LEERER

R AUM | 315

Das Pendel der Abwesenheit schwingt zwischen den vier Wänden Und spaltet die Köpfe Aus denen Scharen von Königen entweichen die einander sogleich bekriegen (André Breton: Weißhaariger Revolver)

Wie einleitend angedeutet, ist aber auch eine anders akzentuierte Lesart möglich, die nicht die Kunst der Abstraktion als kategorialen Rahmen ansieht, sondern die ihr scheinbar entgegengesetzte Richtung Dadas und des Surrealismus. Für eine solch veränderte Lesart muss wie in einem Vexierspiel der Blickfokus geändert werden, sodass etwas anderes als zuvor in den Mittelpunkt gerät, von dem aus die Überlegungen ihren Ausgang nehmen: der „pendelnde Schlüssel“. Natürlich steht hinter diesem Wechsel der Blickrichtung auch eine kunstgeschichtliche Bedeutungsdimension. Denn während das „leere Zimmer“ den Bildraum avantgardistischer Kunst von jeder Gegenständlichkeit im traditionellen Sinne befreit hat, kündigt sich mit dem Blick auf den „Schlüssel“ die Wiederkehr des Gegenständlichen an. Kunsthistorisch ist damit eine Entwicklung bezeichnet, die sich nach den Anfängen abstrakter Kunst um 1910 Ende der zehner und in den zwanziger Jahren mit Dada und dem Surrealismus ereignet hatte. Allerdings, und das ist das Wichtige hierbei, handelte es sich bei dieser Wiederkehr des Gegenstands nicht um eine Rückkehr des Gleichen, um eine einfache Rückkehr dessen, was es schon vor der Erfahrung abstrakter Kunst gegeben hatte, sondern um eine neue, verwandelte Objekthaftigkeit in der Kunst. Zu ihrem Hauptcharakteristikum gehörte es, das, nach der erfolgten Abkehr von jeder realistischen Nachahmung, sich der einzelne Gegenstand nicht mehr wie zuvor befähigt zeigt, sich der vertrauten Welt des Alltags und der situativen Umgebung anzuschmiegen, sondern, ganz analog dem pendelnden Schlüssel in einem leeren Zimmer, sich selbst und seiner Umwelt merkwürdig fremd gegenüberzustehen. Der demonstrativ im Zentrum des leeren Zimmers aufgehängte, auf sich selbst verweisende Schlüssel rückt mithin eine neue Gegenständlichkeit der Kunst in den Fokus der Aufmerksamkeit, ein Vorgang, der nach dem revolutionären Befreiungsschlag ungegenständlicher Darstellungsweisen im Rahmen abstrakter Kunst zu den historischen Verdiensten von Dada und Surrealismus gehört. Dabei ist zum einen an Arps eigene Entwicklung zu denken, die nach einer eher abstrakten Phase Ende der zehner Jahre wieder stärker gegenständliche Züge annahm, bis er schließlich in seiner Malerei der zwanziger und den Reliefs und Skulpturen seit den dreißiger Jahren eine eigenwillige, abstrakt-biomorphe Synthese entwickelte. Ein frühes Beispiel für eine solch synthetische Tendenz bildete das dadaistische Holzrelief „Poussah“ aus dem Jahre 1920, dessen Darstellung eines kurvenlinear geformten Gebildes vor einem planen Hintergrund

316 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

als ein „Menschenkopf“ oder auch ein „Schlüssel“ lesbar ist. Zum anderen ist an die Entwicklung dadaistisch-surrealer Kunst insgesamt zu denken, die Erfindung der seltsam verfremdeten Gegenstandswelt in der Malerei de Chiricos und seiner Nachfolger Ernst, Tanguy und Dalí, eine Entwicklung, die schließlich in die surrealistische Objektkunst des „symbolisch-funktionierenden Gegenstands“ mündete. Im Rahmen dieser Objektkunst hat denn auch die Symbolik pendelartiger Symbole mehrfach Verwendung gefunden, darunter in mehreren prominenten Beispielen. So in Man Rays „Unzerstörbarem Objekt“ (zuerst 1923), das ein Metronom, darstellt, dessen Pendel das Foto eines Augenpaars aufgesetzt ist, wodurch der triste Alltagsgegenstand eine merkwürdige Verlebendigung erfährt. Sodann in Alberto Giacomettis „Schwebender Kugel“ (1930) und „Palast um vier Uhr nachts“ (1932), beides Darstellungen, die Anfang der dreißiger Jahre innerhalb des Surrealismus für Furore sorgten und zu einer Flut anhaltender Objektproduktion innerhalb der Bewegung führten (bei Breton, Ernst, Miró, Tanguy, Dalí u.v.m.).7 Surrealistisch gesehen zielt das Dingsymbol des schwebend-pendelnden Schlüssels auf das Geheimnis einer Dingwelt, die sich gegen überkommene Auffassungen von Gegenständlichkeit wendet. Dabei gerät insbesondere die positivistische Gewissheit über die normalitätsorientierte Berechenbarkeit alles Sichtund Unsichtbaren ins Visier der Kritik. Denn ganz im Gegensatz zu einer solchen kalkülorientierten Haltung, die gewillt ist, alles in ihrer Reichweite stehende als Objekte eigener Verfügung anzusehen, wird den Dingen die Aura des Bekannten, Durchschau- und Handhabbaren genommen. Statt in vertrautem Einverständnis im Blick des Betrachters zu erglänzen, erscheint nun jeder Gegenstand als merkwürdig anders, von seiner Umwelt isoliert und gleichsam beseelt von einer noch nie empfundenen Dunkel- und Rätselhaftigkeit. In sich gekehrt und offensichtlich völlig selbstbezüglich entfaltet er eine ganz neue und ihm eigene Präsenz, Dichte und Schwere, die sich der äußeren Welt entfremdet und von der sich nur vermuten lässt, das sie so etwas wie ein Zusichselbstkommen des Gegenstands bedeutet. Gemeint ist damit ein Einspruch gegen jede Form der Verdinglichung und die Suche nach einer Befreiung von pragmatischen Zwängen, die letzten Endes, so ist mit Recht zu vermuten, nicht nur die Welt der Gegenstände, sondern gerade auch die Welt des normalen, weil normalisierten Menschen betrifft.

7

Vgl. den Ausstellungskatalog „Surreale Dinge, Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray“, hrsg. v. Ingrid Pfeiffer und Max Hollein, Frankfurt a.M. 2011.

V.1 P ENDEL

UND LEERER

Abbildung 121: Alberto Giacometti: „Schwebende Kugel“ (1930)

R AUM | 317

318 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

V.2 D IE W AHRHEIT DES S URREALISMUS DIE MODERNE M EDIENKULTUR

UND

„Ich suche das Gold der Zeit“ („Je cherche l’or du temps“) (ANDRÉ BRETON: GRABINSCHRIFT) „Es tritt immer deutlicher zutage, daß jenes Element, aus dem die Welt hervorgehen wird, die wir anstelle der alten Welt uns zu eigen machen wollen, nichts anderes ist als das, was die Poeten das Bild nennen ... Kraft der Bilder könnten im Laufe der Zeit sich wahre Revolutionen ereignen.“ (ANDRÉ BRETON: HOMMAGE AN SAINT POLROUX) „Die Zahl der Geheimtüren in uns hält uns in bester Verfassung“ (ANDRÉ BRETON: LÖSLICHER FISCH)

Abbildung 122: Giorgio de Chirico: „Die beunruhigenden Musen“ (1916)

V.2 D IE W AHRHEIT

DES

S URREALISMUS | 319

Metasymbolisch erschließt das soeben vorgestellte Sprachbild von Pendel und leerer Raum-Zeit einen Zugang in Arps „Räumlichkeiten“ innerhalb des surrealistischen Zauberschlosses. Intermedial spinnt es Fäden von seiner surrealistisch inspirierten Dichtung zur Bildkunst der veristisch orientierten Malerei und Objektkunst eines Ernst, Magritte oder Dalí sowie zur theoretischen Reflexion Bretons. ,Literaturgeschichtlich‘ offenbart sich dieses Teilsegment der Lyrik Arps mithin als ein genuiner Vertreter einer genuin surrealistischen Poesie im Raum deutschsprachiger Dichtung. ,Literatur-, medien- und kulturtheoretisch‘ wird er als ein gewichtiger Repräsentant einer grundlegenden Richtung moderner und avantgardistischer Literatur und Kunst sichtbar, die darin besteht, einen Weg jenseits der herrschenden Welt soziokultureller und ästhetischer „Normalorganisation“ (Arp) zu suchen. ,Thematisch‘ erklärt sich daraus die doppelte Stoßrichtung der hier behandelten Gedichte Arps, ihr Kampf gegen die kritisierten Erscheinungen der herrschenden Moderne einerseits (vgl. Kapitel III), ihr metapoetisches Einstehen für eine surreale Literatur und Kunst andererseits (vgl. Kapitel IV). Die Kritik an der Moderne spaltet sich wiederum in drei Grundthemen auf: die Kritik an der Normalität von zivilem Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsleben, die Kritik an den verheerenden Folgen der beiden großen Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts, schließlich die Kritik an staatlicher Großmachtpolitik und der Gefahr der Menschenvernichtung im Zeichen der Atomkriegstechnologie. Das Bild- und Symbolreservoir, das Arp dazu im Rahmen seiner Dichtung aufruft, weist, wie in den vorgestellten Einzelbetrachtungen ausgeführt worden ist, einen hohen Grad an Verwandtschaft mit der zeitgenössischen Bildkunst Dadas und des veristischen Surrealismus sowie schließlich seiner theoretischen Reflexion bei Breton auf: sei es mit dem Bild des durchschnittlichen Normalbürgers und seiner surrealen Verfremdung bei Ernst, Magritte und Bellmer; sei es mit den Antikriegscollagen über die Schrecken des Ersten Weltkriegs bei Ernst und den großen Personifikationen zum Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg bei Ernst, Dalí und Picasso, sei es schließlich mit den Allegorien politischer Macht der Nachkriegszeit wiederum bei Ernst und Dalí. Konkret lassen sich Bezüge von Arps zentralen Figuren surrealistischer Bildkunst herstellen: zu Ernsts und Man Rays Kurvenmännern und Gaußoiden, zu Magrittes Anzug- und Bowlermann, zu Bellmers leidenden Puppen, zu den Allegorien des kriegerischen Sadismus’ bei Dalí, Ernst und Picasso, schließlich zu Ernsts „Ubu Imperator“ (1923) und den clownesken Amerika-Emblemen der vierziger und fünfziger Jahre bei Duchamp und Dalí. Der intermediale Vergleich zeigt damit, dass auch in diesen Bildern, die in symbolischer Weise auf Erscheinungen der umgebenden sozialen Realität verweisen, Grundverfahren des veristischen Surrealismus zum

320 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Zuge kommen: die Orientierung an einer einzelnen zentralen Figur (Normalsubjekt, Kriegssadist, Menschenfresser-Machtmensch) und ihre Einbettung in eine verfremdete, surreal-tranceartige Umgebung aus kahler Landschaft und wie still gelegter Zeit, die das scheinbar Bekannte und Vertraute in ein Licht des Rätselhaften, Fragwürdigen, ja Ablehnungs- und Verabscheuungswürdigen rückt. Ich befand mich allein [...] auf einer Ebene/ die ich in einem leeren Horizont verlor [...], Da sich nichts auf dieser Ebene ereignete und veränderte/ war die Zeit nur ein abwegiges Gespenst (Arp: Die Ebene); Bei genauerem, schärferem Betrachten ist das vollkommenste Bild ein warziges, filziges Ungefähr, ein getrockneter Brei, eine wüste Mondkraterlandschaft (Arp: Miszellen); Verwelkt hängen unsere Träume im abwegigen Heute (Arp: Puppen).

Der grundlegende Topos des veristischen Surrealismus, der figurative Chronotopos eines einsamen Ich im sanft versteinerten, involutiv-absoluten RaumzeitKristall, prägt natürlich in noch höherem Maße das zweite Hauptthema der Bildund Symbolgebung Arps, die Metapoesie surrealer Dichtung. Auch hier lässt sich eine dreifache thematische und motivische Ausrichtung nachzeichnen, die ihre Parallelität in der Bildkunst und Theorie des Surrealismus besitzt: erstens das Motiv des surrealen Produktionsprozesses unter dem Banner von Traum, Zufall und Unbewusstem, das – analog z.B. zum Spielmotiv bei Ernst, Duchamp und Picasso (vgl. Tannings „Max im blauen Boot“, Dalís „Pablo Picasso“) – bei Arp ins Bild des einsamen Würfelspielers gefasst ist („Mein eigenes Gesicht“, „Seine Würfelnden Hände“); zweitens das Motiv des surrealistischen Literaturprodukts („Die Ebene“, „Die graue Zeit“), in deren Bildern von einsamen Ich, Wüstenlandschaft und stillstehender Zeit sich das Grundmotiv des veristischen Surrealismus (Ernst, Tanguy, Dalí u.a.m.) am allerdeutlichsten zeigt, schließlich drittens das Motiv des surrealen Literaten und Künstlers, in denen das allseits bekannte surrealistische Grundsymbol des – behörnten – Vierfußes (z.B. Esel, Elefant, Stier, Saurier, Minotaurus), das als Symbol der Vereinigung von Menschlichem und Tierischem, Bewusstem und Unbewusstem, Rationalität und Irrationalität gelten kann, sich bei Arp in der metaphorischen Gewandung als eisenbahnfahrendes „Pferd“ und gondelnder „Hirsch“ wiederfindet („ich bin ein pferd“, „Gondel fahren“). Während in den Gedichten der Modernekritik das surrealistische Licht, das alle ihre (Sprach-)Bilder durchdringt, dazu verhilft, in pointierter Akzentsetzung die negierten Aspekte von Normalität, Krieg und Macht herauszustellen, so dient der verfremdende Ton nun hier dazu, den Vektor gegensätzlicher Wirkungskraft in Szene zu setzen. Der literarischkünstlerische Chronotopos, dem der Surrealismus auf diese Art Ausdruck ver-

V.2 D IE W AHRHEIT

DES

S URREALISMUS | 321

leiht, offenbart sich somit als die Inszenierung eines anderen Zustands, eines Anderswo gegenüber der verabschiedeten Welt der Normalität. Er changiert dabei zwischen einem Zustand, der offenbar noch der definitiven Erlösung bedarf (das einsame Ich auf der unwirtlichen Ebene und inmitten der grauen Zeit; der Würfelspieler), und einem Zustand der Erfüllung, der sich im Freiwerden der schöpferischen Tiefen-Energie von Traum, Unbewusstem und geglückter Zufallsproduktion äußert (Meta-Symbole des Künstlers als animalischer Vierfuß). Die folgende Darstellung fasst diese Resultate der vorliegenden Untersuchung in einem Schema zusammen, dessen horizontale Achse die surrealistische Dichtung Arps mit korrespondierenden Elementen surrealistischer Bildkunst und Theoriebildung in Zusammenhang bringt, während auf der vertikalen Achse die beiden zentralen Themenbereiche der Moderne- bzw. Normalitätskritik und das Gegenkonzept einer Literatur und Kunst im Zeichen des Surrealismus unterschieden werden. Bei der Nennung von Beispielen konzentrieren sich hier die Angaben auf besonders markant erscheinende Paradigmen, sowohl was die Gedichte Arps als auch die Bildkunst der Surrealisten anbelangt. Als in gleicher Weise pointiert ist die Nennung entsprechender surrealistischer Theoreme und ihrer zentralen Symbole, in denen sich Gemeinsames zwischen Arp und den Surrealisten in prägnanter Weise konzentriert, aufzufassen (vgl. das Schema auf der nächsten Seite).

Abbildung 123: Salvador Dalí: „Eigenarten“ (1935/1936)

Schema 4: Arps Dichtung und die surrealistische Kunst und Theorie

322 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

V.2 D IE W AHRHEIT

DES

S URREALISMUS | 323

,Diskursfunktional‘ gesehen folgt Arps Dichtung ebenfalls bestimmten Haupttendenzen surrealer Literatur und Kunst. Historisch könnte man sie als eine eigenständige Weiterverarbeitung und verfremdende Montage von Bildern und Symbolen beschreiben, wie sie zum einen aus der zeitgenössischen Alltags-, Medien- und Wissenschaftssprache des frühen 20. Jahrhunderts geläufig gewesen sind, zum anderen als produktive Auseinandersetzung mit überlieferten Motiven der Kunst und Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts (Romantik, Realismus, Symbolismus, Avantgarde). Diskurshistorisch führte diese Interdependenz schließlich zur bemerkenswerten Formulierung einer ganz eigenen diskursiven Position innerhalb des Wissens- und Sagbarkeitsensembles der Moderne.8 Besonders deutlich ist dies an Motiven, die sich auf die Erscheinungen der Moderne, wenn auch kritisch, beziehen und auch Arps Textur prägen: Das Bild des Durchschnitts- und Normalmenschen, das aus der Interferenz von Alltag, Pressemedien, bestimmten Fachwissenschaften sowie Kunst- und Unterhaltungsliteratur im 19. Jahrhundert entstanden ist, oder die Macht- und Kriegs-Gestalten (Jarrys König-Ubu-Figur, Sadisten-Motiv, Atompilzkopf- und Menschenfresser-Symbolik). Aber auch zu den Motiven, die das eigene literarisch-künstlerische Vorgehen reflektierten, lassen sich, wie in dieser Untersuchung dargelegt, mannigfaltige intermediale und interdiskursive Verbindungslinien ziehen: sei es zur Figur des Würfelspielers (Alltags- und Mediensprache, probalistische Wahrscheinlichkeitstheorie, Nietzsche, Mallarmé, Apollinaire) oder der poetologischen Symbole der Dichtung als Blume, Garten oder Park oder des Künstlers im Gewand einer Tierfigur (z.B. Adler-, Albatros- und Schwan-Symbolik von der Goethezeit bis zum Symbolismus im Unterschied zur Symbolik des Vierfußes bei den Surrealisten). Ob und inwieweit diese Koinzidenzen im Einzelnen und Ganzen bewusste und strategische Wahl oder gleichsam ein spontan-freier ‚Ausdruck‘ eines individuellen oder kollektiven Unbewussten gewesen ist, lässt sich – kritisch besehen – schwer entscheiden, bei den Surrealisten insgesamt genauso wie bei Arp im Speziellen (vgl. SchmitzEmanz9). Unbestreitbar ist zumindest, dass auf der Objektebene die Surrealisten ihr Tun in dieser Weise verstanden haben wollten, nämlich Literatur- und Kunstpraxis als Prozess und Produktion, der seinen Blick nicht, wie in der Normalität, auf der Oberfläche der Erscheinungen verharren lässt, sondern in die Tiefe generativer und produktiver Energien, dem ,Elan vital‘ von innerer Natur (des Menschen) und äußerer Natur (der Welt) führe. Traum, Zufall und Unbewusstes sollten mithin für eine befreite Literatur- und Kunstpraxis die Instanzen bilden,

8

Vgl. dazu grundlegend Link (1997/32006); ders. (2002); ders. (2010).

9

Schmitz-Emans (1994); dies. (o.J.).

324 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

die produktiven Kräften des Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft erfahrbar machen zu lassen. Gleichwie die kritische Einschätzung über die Plausibilität und Realität dieses surrealistischen Selbstbilds lautet, so sind es in der Selbsteinschätzung der Surrealisten wie auch in der wissenschaftlichen Analyse bestimmte poetologisch-ästhetische Funktionen, die das Wirkungspotenzial des surrealistischen Bild- und Symbolgebrauchs prägen. Analytisch formuliert beruhen sie auf der Behandlung von eigentlich metaphorischen Symbolen als metonymische und repräsentative Symbole, die dann in dieser Interferenz verschiedener Symbolisierungsverfahren die typisch „surrealen“ Wirkungskräfte der ,Naturalisierung‘, ,Mirakularisierung‘ und ,Mythisierung‘ entfalten. Die vor die Augen geführten Bilder einer surrealen Welt verstehen sich somit nach dem expliziten Willen der Surrealisten nicht mehr als bloße Metaphern, die einen Als-ob-Zustand einer anderen Welt imaginieren, sondern – metonymisch – als direkter, das heißt „wahrer“ Ausfluss und damit – synekdochisch-repräsentativ – als „wirklicher“ Teil der Welt des Unbewussten, des „Wesentlichen“ sind. In der Formulierung Arps: „Wir wollen bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet [...]. Wir wollen unmittelbar und nicht mittelbar bilden. [...]. Die Kunst soll sich in der Natur verlieren. Sie soll sogar mit Natur verwechselt werden.“10 ,Naturalisierung‘ liegt ,literarisch-künstlerisch‘ in der Verwendung mineralischer, vegetatorischer und animalischer Bilder vor, die sowohl für die Welt der Normalität (Apokalypse – Regen/Dschungel/Bestie; ‚Macht‘ und ,Krieg‘ als ‚Bestie‘) als auch der Surrealität (Blume – Kunst, Tier – Künstler, Arps „Planemetrie“ und „Mondkraterlandschaften“) nachweisbar sind. ,Theoretisch‘ findet sie ihren Ausdruck in der Auffassung von Literatur und Kunst als dem Zugang zu einer explizit prä- und damit eigentlich nicht-diskursiven Welt, die als „Unbewusstes“ die anthropologisch bzw. ontologische „Natur“ des Menschen repräsentiert, oder eben, um mit Arp zu reden, die „Natur“ in einem allumfassenden Sinne: Zwar war sich zumindest der späte Arp über den „tragischen Riß“ zwischen Mensch und Natur als unhintergehbarer condition humaine durchaus bewusst11, gleichwohl war es sein Wille, Literatur und Kunst als Produkt der Natur anzusehen, in der poetischen Formulierung Éluards über Arp: „Autour de tes mains la nature/ Comose ses charmes égaux.“12 Unter diesem Blickwinkel kann daher selbst die für Arp und die Surrealisten so typische Verwendung puppenähnlicher, also eigentlich höchstartifizielle Figuren als Symbole des menschlichen Subjekts (Chirico, Ernst

10 Hans Arp: Konkrete Kunst (1955), in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 79. 11 Ebd., S. 83. 12 Éluard: Autour de tes mains la nature (1939), zitiert nach Gateau (1988/1994), S. 259.

V.2 D IE W AHRHEIT

DES

S URREALISMUS | 325

u.a., vgl. Arps „Würfelspieler“) als ein Sondertyp der Naturalisierung aufgefasst werden, da diese Figuren, eingebettet und eingehüllt in die Atmosphäre der sie stereotyp umgebenen surrealen Landschaft, völlig die Erinnerung an ihre industriell-moderne Herkunft abgestreift haben und gleichsam wie Bilder, die ganz aus den Tiefen einer unbewussten Natur entstiegen sind, erscheinen. ,Mirakularisierung‘ meint darüber hinaus, dass mit der symbolischen Praxis der Surrealisten, bekannte und vertraute Bilder weit auseinander liegender Provenienz kontextlos und damit in unbekannter und entschieden unvertraut erscheinender Weise zusammenzuführen (Lautréamonts Regenschirm und Nähmaschine auf dem Operationstisch), eine Praxis der faszinierenden Verrätselung und Verzauberung etabliert, die auf der Rezeptionsseite in einer Art von ,magischem Sog‘ den Blick des Lesers und Betrachters bannt und zu immer neuen, beunruhigenden Fragen und immer partiell und vorläufig erscheinenden Antworten herausfordert. In den Worten Arps: „Das Leben ist ein rätselhafter Hauch, und die Folge daraus kann nicht mehr als ein rätselhafter Hauch sein“13, speziell über seine „surrealistischen ‚objets‘“: „Durch traumhafte Anspielungen führen sie in diese Kunst psychischen Inhalt und Leben ein.“14 Und ,Mythisierung‘ bedeutet schließlich, dass mit dem Prozess den magischen Operationen auf der Bild- und Symbolebene eine Versöhnung von Antagonismen und Widersprüchen erreicht wird, die – wie Wachen und Träumen, Bewusstsein und Unbewusstes, Zufall und Notwendigkeit, Rationalität und Irrationalität – für die moderne Gesellschaft kulturprägend sind und zugleich im Medium surrealistischer Tätigkeit überwunden werden können: „Ich träume von Innen und Außen, von Oben und Unten, von Hier und Dort, von Heute und Morgen. Und Innen, Außen, Oben, Unten, Hier, Dort, Heute, Morgen vermengen sich, verweben sich, lösen sich auf. Dieses Aufheben der Grenzen ist der Weg, der zum Wesentlichen führt“ (Arp).15 Im diskurs- und medienanalytischen Rückblick hat der Surrealismus mit der beschriebenen intermedialen und interdiskursiven „Allianz“ von Literatur, Kunst und Theorie (dem „Das Wort und das Bild sind eins“ bei Arp16), wie er selbst aus dem Munde Bretons verlautbaren ließ, eine eigene, neue Symbolpraxis eingeführt, um der „Schönheit ein neues Gesicht zu geben“ und einen „neuen Mythos“ zu inthronisieren. Es bleibt zu konstatieren, dass ihm damit literatur-

13 Arp (1953), S. 6. 14 Hans Arp: Konkrete Kunst (1955), in: ders. (1955/21995), S. 79-83, hier S. 80f. 15 Hans Arp: Elemente (1955), in: ders. (1955/21995), S. 88f. Vgl. dazu auch Robertson (2006), S. 100. 16 Hans Arp: Dada war kein Rüpelspiel (1955), in: ders. (1955/21995),S. 20-28, hier S. 26.

326 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

und kunstgeschichtlich die Ausformung einer eigenständigen diskursiven Position gelungen ist, die auf ihre Weise das medien- und kulturtheoretische Potenzial von Literatur und Kunst in der Moderne andeutet. Die literarischkünstlerische Inszenierung eines Diskursraums, der – in einer Art „Flucht aus der Zeit“ in der Formulierung Hugo Balls – den herrschenden Bildern und Symbolen einer rasenden (fliehenden) Zeit durch wechselnde Räume den figurativen Chronotopos eines involutiven, absoluten Raum-Zeit-Kristalls entgegensetzt, erschafft somit etwas, das gegenüber den herrschenden Diskursen in Alltag, Massenmedien und Wissenschaft etwas durchaus Eigenes und Einmaliges darstellt, etwas, was jene weder denken noch wissen, weder sagen noch schreiben noch malen oder sonst wie formen können. Womit der Surrealismus eine der vornehmsten Aufgaben avancierter Literatur und Kunst erfüllt, die darin besteht, auf der Suche nach dem „wirklichen, wesentlichen und wahren Bild“ (im Sinne Arps) die Regeln und Gesetze moderner Normalität flexibilisierend aufzuweichen und in Richtung einer radikalen Trans-Normalität zu überschreiten. Dichtung und Kunst, Dichter und Künstler bilden mithin eine eigene Welt, einen eigenen Stern und Kosmos, der – metaphorisch gesehen – jenseits der bekannten Landschaft allen Irdischen liegt und zu dem nur die Gemeinschaft der „Mondfahrer“, eine weitere exterristische Chiffre Arps für alle Dadaisten, Surrealisten und Avantgardisten, einen Zugang finden. Denn, so Arp, „nur der Geist, der Traum, die Kunst führen zur wahren Kollektivität“: Ein großes Mondtreffen ist anberaumt worden Monde und alles, was mit dem Mond zu tun hat, werden sich da einstellen. Mondquellen, befiederte Monde, Mondglocken, weiße Monde mit diamantenem Nabel, Monde mit Handgriffen aus Elfenbein, winzige Mondlakaien, die über alles gerne Polstermöbel mit kochend heißem Wasser begießen, größenwahnsinnige Rosen, die sich für einen Mond halten. Weiße Monde, die schwarze Tränen weinen, Mondanagramme, die beinahe ausschließlich aus Anna bestehen und denen nur einige Gramme Mond beigefügt wurden.

V.2 D IE W AHRHEIT

DES

S URREALISMUS | 327

Ein Mondkonglomerat von silbernen Zweigen, das sich silbern weiterverzweigt und an dem Mondfrüchte reifen. Ein nackter Mond, wie alle Monde nackt, jedoch mit einem Hut, an dem ein Feigenblatt befestigt ist. Altehrwürdige Mondeier und darunter viele schrecklich verschimmelte In Sfumatosänften. Leider ist nicht alles Mond, was Silber ist. Einige blümerante Unholde sind unter den freßsäckenden Talmimonden, die eine Schattenmatte um die andere Schattenmatte, Riesentränen aus Pech, und mit gleicher Lust die eigene Brut verschlingen verschlingen verschlingen. Doppelköpfige Monde, Monde mit einem Nabel von gewaltiger Brisanz und was sich darauf reimt wie Glanz, Kranz, Vakanz, Byzanz, Hans. Ja, auch Mondfahrer und Mondträumer, wie ich einer bin, werden sich zu dem Mondtreffen einstellen.17

17 Hans Arp: Ein großes Mondtreffen (1958/1959), in: ders. (1984), S. 86f.

328 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Abbildung 124: Hans Arp: „Stern“ (1939/1960)

Abbildung 125: Joan Miró: „Karneval des Harlekins“ (1924/1925)

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: „Rückblickend auf den Surrealismus“, in: ders.: Noten zur Literatur I-IV, Gesammelte Schriften Bd. 11, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1974, S. 101-105 (zuerst 1956). Albers, Bernhard (Hg.): Aus zerstäubten Steinen, Texte deutscher Surrealisten, Aachen 1995. Apollinaire, Guillaume: Poetische Werke/Œuvres Poétiques, Ausgewählt und herausgegeben von Gerd Henniger, Neuwied und Berlin 1969. Aragon, Louis: Der Pariser Bauer, Paris 1926/Frankfurt a.M. 1996. Aragon, Louis: „Die Malerei in der Herausforderung“ (1930), in: Karlheinz Barck (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1986, S. 613-631. Aragon, Louis: „Die Traumwoge“ (1924), in: Karlheinz Barck (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1986, S. 60-80. Aragon, Louis: „Mimosas/Mimosen“ (1925), in: Dieter Lamping: Moderne Lyrik, Eine Einführung, Göttingen 1991, S. 34. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert, Über Avantgarden, München 2001. Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Hans/Jean Arp, Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 92, 1986, München 1986. Arp, Hans: „Aufzeichnungen aus dem Tagebuch“ (1932), in: Jane Hancock/Stefanie Poley (Hg.): Arp 1886-1966, Ausstellungskatalog Stuttgart/Strassburg/ Paris/Minneapolis/Boston/San Francisco, Ostfildern-Ruit 1986, S. 10-11. Arp, Hans: Gesammelte Gedichte, Band I, Gedichte 1903-1939, hrsg. v. Hans Arp/Marguerite Arp-Hagenbach/Peter Schifferli, Zürich/Wiesbaden/München 1963. Arp, Hans: Gesammelte Gedichte, Band II, Gedichte 1939-1957, hrsg. v. Marguerite Arp-Hagenbach/Peter Schifferli, Zürich/Wiesbaden 1974. Arp, Hans: Gesammelte Gedichte, Band III, Gedichte 1957-1966, hrsg. v. Aimeé Bleikasten, Aimée, Zürich/Wiesbaden/München 1984.

330 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Arp, Hans: On my way, Poetry and Essays 1912-1947, New York 1948. Arp, Hans: Unsern täglichen Traum, Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914-1954, Zürich 1955/21995. Arp, Hans: Wortträume und schwarze Sterne, Auswahl aus den Gedichten der Jahre 1911-1952, Wiesbaden 1953. Arp, Hans/Jean: Arp on Arp, Poems, Essays, Memories, hrsg. v. Joachim Neugroschel, New York 1972. Arp, Hans/Jean: Collected French Writings, Poems, Essays, Memories, hrsg. v. Marcel Jean, übersetzt v. Joachim Neugroschel, London 1974. Arp, Hans/Jean: Das eine ist das andere Land: Schäl mir eine Fee, Aus den französischen Texten hrsg. v. Gregor Laschen, Literarisches Colloquium Berlin/Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin o.J. Arp, Jean: „Die Musen und der Zufall“, in: DU XX (1960), S. 14-17. Arp, Jean: Jours effeuillés, Poèmes, essais, souvenirs 1920-1965, preface de Marcel Jean, Paris 1966. Arp, Jean: „Marcel Jean“ (1955), in: Kölnischer Kunstverein (Hg.): Marcel Jean, Zeichnungen, Radierungen, Bücher 1926-1980, Ausstellungskatalog, Köln 1981, S. 13. Arp, Jean: Onze peintres vuz par Arp, Taeuber, Kandinski, Leuppi, Vordermberge, Arp, Delaunay, Schwitters, Kiesler, Morris, Magnelli, Ernst, Zürich 1949. Arp, Hans/Huidobro, Vicente: Drei und drei surreale Geschichten, Santiago de Chile 1935/Berlin 1963. Arp, Hans/Lissitzky, El: Die Kunstismen, Les Ismes de l’Art. The Ismes of Art, Erlenbach/Zürich/München/Leipzig 1925. Arp, Hans/Taeuber-Arp, Sophie: Zweiklang, Gedichte, Erinnerungen, Zeugnisse, Fotos, hrsg. v. Ernst Scheidegger, Zürich 1960 Artaud, Antonin: Surrealistische Texte, herausgegeben und übersetzt von Bernd Mattheus, München 1985. Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarden (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995. Asten, Astrid von/Krupp, Walburga: „Hans Arp, Die Natur der Dinge“, in: Klaus Gallwitz (Hg.): Hans Arp, Die Natur der Dinge, Düsseldorf 2007, S. 20-26. Bachmann, Ingeborg: Werke, 4 Bde., hrsg. v. Christine Koschel/Inge von Weidenbaum/Clemens Münster, München 1978. Bachtin, Michail: Chronotopos, Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik, Moskau 1975/Frankfurt a.M. 2008. Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit, München/Leipzig 1927 bzw. Zürich 1992.

L ITERATURVERZEICHNIS | 331

Bandier, Norbert: Sociologie du surréalisme 1924-1929, Paris 1999. Barck, Karlheinz: „Avantgarde“, in: ders. u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 544-577. Barck, Karlheinz (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1986. Bartsch, Karl: „Surrealismus“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. v. Jan-Dirk Müller u.a., Bd. III, Berlin/New York 2003, S. 548550. Barillaud, Marie-Christine/Lange, Elisabeth (Hg.): Spuren-Entwürfe, Traces et créations, Akten des deutsch-französischen Surrealismus Kolloquiums in Bonn 10.-11. Juli 1986, Essen 1991. Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke/Briefe, hrsg. v. Friedhelm Kemp/Claude Pichois, 8 Bde., München/Wien 1975. Becker, Heribert (Hg.): Es brennt! Politische Pamphlete der Surrealisten, Hamburg 1998. Becker, Heribert/Jaguer, Éduard/Král, Petr (Hg.): Das surrealistische Gedicht, Frankfurt a.M. 1985/2000. Béhar, Henri: André Breton, Le grand indésirable, Paris 1990. Béhar, Henri/Carassou, Michel (Hg.): Le surréalisme, Texte et débats, Paris 1984. Bellmer, Hans: Die Puppe, Frankfurt a.M. u.a. 1976. Bender, Beate: Freisetzung von Kreativität durch psychische Automatismen, Eine Untersuchung am Beispiel der surrealistischen Avantgarde der zwanziger Jahre, Frankfurt a.M. u.a. 1989. Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus, Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ (1929), in: ders.: Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M. 1988, S. 200-215. Benn, Gottfried: Sämtliche Gedichte, hrsg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 1998. Berg, Hubert van den/Fähnders, Walter (Hg.): Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009. Beyme, Klaus von: Das Zeitalter der Avantgarden, Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005. Bezzel, Chris: „Lyrik vor Tschernobyl, Zu Hans Arp“, in: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur 92 (1986), S. 25-37. Bischof, Rita: Teleskopagen, wahlweise, Der literarische Surrealismus und das Bild, Frankfurt a.M. 2001. Bleikasten, Aimée: Arp, Bibliographie, 2 Bde., Bd. I: Ècrits/Dichtung, London 1981, Bd. II: Critique/Kritik, London 1983.

332 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Bleikasten, Aimée: „Hans Arp, Portrait des Dichtes als junger Mann oder als grüner Greis“, in: drehpunkt 65 (1986b), S. 7-30. Bleikasten, Aimée: „Jean Hans Arp, Die Stimme des Dichters oder die Urstimme“, in: Jane Hancock/Stefanie Poley (Hg.): Arp 1886-1966, Ausstellungskatalog Stuttgart/Strassburg/Paris/Minneapolis/Boston/San Francisco, Ostfildern-Ruit 1986a, S. 18-31. Bogusz, Tanja: Avantgarde und Feldtheorie, André Breton und die surrealistische Bewegung im literarischen Feld nach Bourdieu, Frankfurt a.M. 2005. Bohrer, Karl Heinz: Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München 1970. Bohrer, Karl Heinz: „Deutscher Surrealismus?“, in: Friederike Reents (Hg.): Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2009, S. 241-249. Bollinger, Hans/Magnaguagno, Guido/Witzig, Christian (Hg.): Hans Arp zum 100. Geburtstag (1886-1966), Ein Lese- und Bilderbuch, Zürich 1986. Bommert, Christian: Peter Weiss und der Surrealismus, Opladen 1991. Bonnet, Marguerite: André Breton, Naissance de l’aventure surealiste, Paris 1988. Brecht, Bertolt: Gedichte 1-5, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bde. 11-15, Berlin/Weimar 1993. Breton, André: Anthologie des Schwarzen Humors, übersetzt von Rudolf Wittkopf, Paris 1940/München 2001. Breton, André: Arkanum 17, Ergänzt durch Erhellungen, übersetzt v. Heribert Becker, Mit einem Essay v. Bernd Mattheus, New York 1944/München 1993. Breton, André: Bindestrich, Texte 1952-1965, hrsg. und übersetzt v. Heribert Becker, Aachen 2008. Breton, André: Das Weite suchen, Reden und Essays, übersetzt von Lothar Baier, Paris 1967/Frankfurt a.M. 1989. Breton, André: Der weißhaarige Revolver, übersetzt v. Wolfgang Schmidt, Paris 1966/Berlin 1984. Breton, André: Die kommunizierenden Röhren, übersetzt v. Elisabeth Lenk und Fritz Meyer, Paris 1932/München 1973. Breton, André: Die Manifeste des Surrealismus, dt. von Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 1996. Breton, André: Die verlorenen Schritte, Essays, Glossen, Manifeste, übersetzt und mit einem Nachwort v. Holger Fock, Paris 1924/Berlin 1989. Breton, André: Entretiens – Gespräche, Dada, Surrealismus, Politik, Die RadioGespräche 1913-1952, Paris 1952/Amsterdam 1996.

L ITERATURVERZEICHNIS | 333

Breton, André: L’Amour fou, übersetzt Friedhelm Kemp, Paris 1937/München 1970. Breton, André: Löslicher Fisch, übersetzt v. Wolfgang Schmidt, Paris 1924/Berlin 1982. Breton, André: Nadja, übersetzt v. Bernd Schwibs, Mit einem Nachwort v. Karl Heinz Bohrer, Paris 1928/Frankfurt a.M. 2002. Breton, André: Ode an Charles Fourier, Surrealismus und utopischer Sozialismus, hrsg. v. Heribert Becker, Paris 1948/Berlin 1982. Breton, André: Point du jour, Paris 1924. Breton, André/Char, René/Éluard, Paul u.a.: Violette Nozières, Bruxelles 1933/Berlin 1986. Breton André/Éluard, Paul: Dictionnaire abrégé du Surréalisme, Paris 1938/1969. Breton, André/Soupault, Phillippe: Die Magnetischen Felder, übersetzt und mit einem Nachwort v. Ré Soupault, Heidelberg 1990. Bürger, Peter: Der französische Surrealismus, Frankfurt a.M. 1971. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974. Bürger, Peter (Hg.): Surrealismus, Darmstadt 1982. Bürgi, Bernhard Mendes/Fischer, Hartwig: „Vorwort“, in: Hartwig Fischer (Hg.): schwitters_arp, Ausstellungskatalog Basel 2004, Ostfildern-Ruit 2004, S. 7-8. Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008. Caws, Mary Ann: Dora Maar, Die Künstlerin an Picassos Seite, London/Berlin 2000. Celan, Paul: Die Gedichte, Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hrsg. v. Barbara Wiedemann, Frankfurt a.M. 2003. Celan, Paul: Die Niemandsrose, Frankfurt a.M. 1963. Celan, Paul: Gesammelte Werke, hrsg. v. B. Allemann/S. Reichert, Bd. 3, Frankfurt a.M. 2000. Clair, Jean/Szeemann, Harald (Hg.): Junggesellenmaschinen, Les machines célibataires, Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1987. Clay, Jean: „La singulière ascension de Jean Arp“, in: Realités 180 (1961), S.6773. Clay, Jean: Visages de l’art modern, Zürich 1969. Dalí, Salvador: Das geheime Leben des Salvador Dalí, Sonderausgabe zum 100. Geburtstag, übersetzt v. Ralf Schiebler, New York 1942/München 2004. Dalí, Salvador: Die Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, Gesammelte Schriften, hrsg. v.

334 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, dt. von Brigitte Weidmann, München 1974. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild, Kino 2, Paris 1985/Frankfurt a.M. 1991. Deleuze, Gilles: Francis Bacon – Logik der Sensation, Paris 1984/Frankfurt a.M. 1995. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka, Für eine kleine Literatur, Paris 1975/Frankfurt a.M. 1976. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus, Paris 1980/Berlin 1992. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Paris 1991/Frankfurt a.M. 1996. Dervaux, Isabelle (Hg.): Surrealism USA, Ausstellungskatalog New York/Phoenix 2005, Ostfildern-Ruit 2005. Descharnes, Robert/Néret, Gilles (Hg.): Salvador Dalí, 1904-1989, Die Gemälde, 2 Bde., Köln 1993. Döhl, Reinhard: Das literarische Werk Hans Arps 1903-1930, Zur poetischen Vorstellungswelt des Dadaismus, Stuttgart 1967. Domin, Hilde (Hg.): Doppelinterpretationen, Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser, Frankfurt a.M./Bonn 1966. Duchamp, Marcel: Die Schriften, Band 1, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Serge Stauffer, Zürich 1994. Duchamp, Marcel: „Société Anonyme (1943-1949)“, in: ders.: Der kreative Akt, Duchampagne brut, Hamburg 1991, S. 13-23. Dülpers, Juliane: Voulez-vous voler avec moi, Eine Studie zur französischsprachigen Dichtung Hans Arps, Frankfurt a.M. u.a. 1997. Durozoi, Gérard: Histoire du mouvement surréaliste/History of the Surrealist Movement, Paris 1997/Chicago 2002. Edition Sirene (Hg.): Surrealismus Poesie, Berlin 1983. Éluard, Paul: Choix des poémes, Ausgewählte Gedichte, hrsg. von Johannes Hübner, dt. von Friedrich Hagen, Gerd Henninger, Stephan Hermlin, Max Hölzer, Johannes Hübner, Lothar Klünner, mit einer Einführung von Georges-Émmanuel Clancier, Neuwied/Berlin 1963. Éluard, Paul: „Die poetische Evidenz“ (1937), in: Karlheinz Barck (Hg.): Surrealismus in Paris 1919-1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1986 S. 311-321. Éluard, Paul: Hauptstadt der Schmerzen/Capitale de la douleur (1926), Aus dem Französischen von Gerd Henniger, Berlin 1983. Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten, Frankfurt a.M. 1962. Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): Museum der modernen Poesie, Frankfurt a.M. 1960/2002.

L ITERATURVERZEICHNIS | 335

Ernst, Max: Écritures, Avec cent vingt illustrations extraites de l’oeuvre de l’auteur, Paris 1970. Ernst, Max: Schnabelmax und Nachtigall, Texte und Bilder, hrsg. v. Pierre Gallissaires, Hamburg 1994. Ernst, Max/Éluard, Paul: Die Unglücksfälle der Unsterblichen, Paris 1922/Köln 1971. Faucherau, Serge: Arp, Paris 1988. Felten, Uta/Roloff, Volker (Hg.): Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld 2004. Fischer, Lothar: Max Ernst, Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1969/92000. Fischer, Hartwig (Hg.): schwitters_arp, Ausstellungskatalog Basel 2004, Ostfildern-Ruit 2004. Flake, Otto: Die Weltbühne XXI, Nr. 23, 09.06.1925, S. 867f. Foster, Leonard: Dichten in fremden Sprachen, Vielsprachigkeit in der Literatur, Cambridge 1970/München 1974. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Paris 1969/Frankfurt a.M. 1973. Freeman, Judi: Das Wort-Bild in Dada und Surrealismus, Ausstellungskatalog, München 1990. Frey, Patrick: „Sophie ist ein Himmel Sophie ist ein Stern Sophie ist eine Blume“, in: Jane Hancock/Stefanie Poley (Hg.): Arp 1886-1966, Ausstellungskatalog Stuttgart/Strassburg/Paris/Minneapolis/Boston/San Francisco, Ostfildern-Ruit 1986, S. 268-279. Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik, Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1956. Fürnkäs, Josef: Surrealismus als Erkenntnis, Walter Benjamin – Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen, Stuttgart 1988. Gallissaires, Pierre (Hg.): Dada Paris, Manifeste, Aktionen, Turbulenzen, dt. von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Hamburg 1989. Gallwitz, Klaus (Hg.): Hans Arp, Die Natur der Dinge, Düsseldorf 2007. Gaßner, Hubertus (Hg.): Elan Vital oder Das Auge des Eros, Kandinsky, Klee, Arp, Miró, Calder, Ausstellungskatalog München 1974, Bern 1994. Gateau, Jean-Charles: Paul Éluard oder Der sehende Bruder, Biographie ohne Maske, Paris 1988/Berlin 1994. Gellhaus, Axel: „Naivität und Ironie, Probleme und Ansatzpunkte für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hans Arp“, in: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur 92 (1986), S. 8-15. George, Stefan: Werke, Ausgabe in vier Bänden, hrsg. v. Robert Boehringer, München 1983.

336 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Giacometti, Alberto: Schriften, Zeichnungen, hrsg. v. Ernst Scheidegger, Zürich 1958. Gibson, Ian: Salvador Dalí, Die Biographie, London 1997/Stuttgart 1998. Giedion-Welcker, Carola: Schriften 1926-1971, Stationen zu einem Zeitbild, hrsg. v. Reinhard Hohl, Köln 1973. Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte, West-östlicher Divan, hrsg. v. Hendrik Birus/Karl Eibl, Frankfurt a.M./Leipzig 1998. Gomringer, Eugen: theorie der konkreten poesie: texte und manifeste 1954-1997, Wien 1997. Gorsen, Peter: „Der ,kritische Paranoiker‘, Kommentar und Rückblick“, in: Salvador Dali, Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, Gesammelte Schriften, herausgegeben von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann, dt. von Brigitte Weidmann, München 1971, S. 403-518. Grimm, Reinhold (Hg.): Zur Lyrik-Diskussion, Darmstadt 1966/1974. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Stimmungen lesen, Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München/Wien 2011. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010. Hamburger, Michael: Wahrheit und Poesie, Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1985. Hancock, Jane/Poley, Stefanie (Hg.): Arp 1886-1966, Ausstellungskatalog Stuttgart/Strassburg/Paris/Minneapolis/Boston/San Francisco, Ostfildern-Ruit 1986. Held, Jutta: Avantgarde und Politik in Frankreich, Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste, Berlin 2005. Hinck, Walter: Magie und Traum, Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik, Frankfurt a.M./Leipzig 1994. Hirschberger, Elisabeth: Dichtung und Malerei im Dialog: Von Baudelaire bis Éluard, von Delacroix bis Max Ernst, Tübingen 1993. Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth, Manierismus in der europäischen Literatur und Kunst, Reinbek bei Hamburg 1987. Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. v. Bernd Schoeller/Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M. 1985. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., München/Wien 1992. Höllerer, Walter (Hg.): Theorie der modernen Lyrik, Dokumente zur Poetik, neu hrsg. v. Norbert Miller/Harald Hartung, 2 Bde., München/Wien 2003. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi, Zur surrealistischen Methode“, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 32 (1970), S. 193-234.

L ITERATURVERZEICHNIS | 337

Homann, Renate: Theorie der Lyrik, Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a.M. 1999. Hölzer, Max: Entstehung eines Sternbilds, Prosagedichte, Stierstadt 1958/ Aachen 1992. Hopfengart, Christine (Hg.): Hans Arp, Ausstellungskatalog Nürnberg 1994/95, Ostfildern-Ruit 1994. Hoß, Dietrich/Steinert, Heinz (Hg.): Vernunft und Subversion, Die Erbschaft von Surrealismus und Kritischer Theorie, Münster 1997. Hötter, Gerd: Surrealismus und Identität, André Breton „Theorie des Kryptogramms“, Eine poststrukturalistische Lektüre seines Werks, Paderborn 1990. Huelsenbeck, Richard: „Dada-Schalmei“, in: Der Dada 3 (1920), S. 1. Isenberg, Sheila: A Hero of our Own, The Story of Varian Fry, New York 2001. Iser, Wolfgang (Hg.): Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion, Lyrik als Paradigma der Moderne, München 1966/21983. Jakob, Michael: „Schwanengefahr“, Das lyrische Ich im Zeichen des Schwans, München/Wien 2000. Jandl, Ernst: Letzte Gedichte, hrsg. v. K. Siblewski, München 2001. Jean, Marcel: Geschichte des Surrealismus, Paris 1959/Köln 1961. Jean, Marcel: „Préface“, in: ders.: Jean Arp: Jours effeuillés, Paris 1966, S. 7-26. Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Nach der kritischen Ausgabe hrsg. v. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a.M. 1994. Kemper, Hans-Georg: Vom Expressionismus zum Dadaismus, Eine Einführung in die dadaistische Literatur, Kronberg/Taunus 1974. Kesting, Marianne: „Erschaffung, Verwandlung und das Ende der Welt, Literarische Parallelen zum Werk Yves Tanguys“, in: Katharina Schmidt (Hg.): Yves Tanguy, Retrospektive 1925-1955, München 1982, S. 79-92. Kesting, Marianne: „Verbrechen, Wahnsinn und Revolte, Peter Weiss’ Marat/de Sade-Stück und der französische Surrealismus“, in: Walter Hinck (Hg.): Geschichte als Schauspiel, Frankfurt a.M. 1981, S. 304-321. Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit, München 1973. Kornhoff, Oliver (Hg.): Biomorph! Hans Arp im Dialog mit aktuellen Künstlerpositionen, Köln 2011. Krupp, Walburga: „Biographie“, in: Klaus Gallwitz (Hg.): Hans Arp, Die Natur der Dinge, Düsseldorf 2007, S. 212-225. LA RÉVOLUTION SURRÉALISTE, Nos. 1-8., octobre 1965 – novembre 1965. Lamping, Dieter: Moderne Lyrik, Eine Einführung, Göttingen 1991. Laschen, Gregor (Hg.): Die Zerstreuung des Alphabets, Hommage à Arp, Bremerhaven 1986.

338 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Last, Richard W.: „Arp und surrealism“, in: Symposium XXIV (1970) 4, S. 354363. Lautréamont, Comte de: „Die Gesänge des Maldoror“ (1869), in: ders.: Gesamtwerk, Heidelberg 1954, S. 9-288. Lenk, Elisabeth: Der springende Narziß, André Bretons poetischer Materialismus, München 1971. LE SURRÉALISME AU SERVICE DE LA RÉVOLUTION, Nos. 1-6., juillet 1930 – mai 1933. LE SURRÉALISME, MEME, Nos. 1-5., octobre 1956 – printemps 1959. Lichtenstein, Alfred: „Gebet vor der Schlacht“ (1914), in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Hundert Gedichte des Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2000, S. 157. Lichtenstern, Christa: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, 2 Bde., Weinheim 1990/1992. Link, Jürgen: „Normal/Normalität/Normalismus“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 538-562. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997/3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage, Göttingen 2006. Link, Jürgen: „Zur erotischen Faszination durch die nicht normale passante in und nach dem Surrealismus“, in: Nanette Rissler-Pipka/Michael Lommel/ Justyna Cempel (Hg.): Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010, S. 33-48. Lischeid, Thomas: „Wunderbare Wunschmaschinen, Transnormale Fahrzeuge und Fahrten im Umkreis des Surrealismus“, in: (Nicht) normale Fahrten, Faszination eines modernen Narrationstyps, hg. v. Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Jürgen Link und Rolf Parr, Heidelberg 2003, S. 67-84. Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Roloff, Volker (Hg.): Surrealismus und Film, Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008. Magritte, René: Sämtliche Schriften, hrsg. v. André Blavier, Paris 1979, München/Wien 1981. Mair, Roswitha: Von ihren Träumen sprach sie nie, Das Leben der Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, Romanbiographie, Freiburg i.Br. 1998. Malet Marion Warburton: Growth in the Dada Workshop: Some aspects of the poetry of Jean Arp, Ann Arbor/Michigan 1973. Mallarmé, Stéphane: Gedichte, Französisch und Deutsch, übersetzt und kommentiert von Gerhard Goebel, Gerlingen 1993. Marinetti, Filippo T.: „Technisches Manifest der futuristischen Literatur“ (1912), in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen

L ITERATURVERZEICHNIS | 339

der europäischen Avantgarden (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 2427. Masson, André: Gesammelte Schriften I, hrsg. v. Axel Matthes und Helmut Klewan, München 1990. Matthews, J.H. (Hg.): An Anthology of French Surrealist Poetry, London 1966. Maur, Karin von: „Yves Tanguy oder ,Die Gewissheit des Niegesehenen‘, Wandlungen des malerischen Œuvres“, in: dies.: Yves Tanguy und der Surrealismus, Ostfildern-Ruit 2000, S. 11-134. Maur, Karin von (Hg.): Yves Tanguy und der Surrealismus, Ostfildern-Ruit 2000. Maurer Queipo, Isabel/Nanette Rissler-Pipka (Hg.): Dalís Medienspiele, Falsche Fährten und paranoische Selbstinszenierungen in den Künsten, Bielefeld 2007. Maurer Queipo, Isabel/Rissler-Pipka, Nanette/Roloff, Volker (Hg.): Die grausamen Spiele des „Minotaure“, Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift, Bielefeld 2005. Metken, Günter (Hg.): Als die Surrealisten noch recht hatten, Texte und Dokumente, Stuttgart 1976. MINOTAURE, Revue artistique et littéraire, Nos. 1-12/13, 15. février 1933 – 15. mai 1939. Müller-Zettelmann, Eva: Lyrik und Metalyrik, Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg 2000. Nadeau, Maurice: Geschichte des Surrealismus, Paris 1945/Reinbek bei Hamburg 1965. Nerval, Gérard de: Aurelia oder Der Traum und das Leben (1855), Mit zehn Farbillustrationen nach Aquarellen von André Masson, Berlin 1970. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1988. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Hans-Joachim Mähl/Richard Samuel, 3 Bde., München/Wien 1999. Ommeln, Miriam: Die Verkörperung von Friedrich Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus, Frankfurt a.M. 1999. Passeron, René: Lexikon des Surrealismus, Paris/Gütersloh o.J. Péret, Benjamin: Die Schande der Dichter, dt. von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt, Herbert Becker, mit einem Vorwort v. Octavio Paz, Hamburg 1985. Pfeiffer, Ingrid/Hollein, Max (Hg.): Surreale Dinge, Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray, Frankfurt a.M. 2011.

340 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Picon, Gaɺtan: Der Surrealismus in Wort und Bild, 1919-1939, Genf 1976. Pierre, José: Lexikon des Surrealismus, dt. von Herbert Schuldt, Paris 1973/Köln 1974. Pierre, José: Recherchen im Reich der Sinne, Die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sexualität 1928-1932, dt. von Martina Dervis, München 1993. Plumpe, Gerhard: Avantgarde, Notizen zum historischen Ort ihrer Programme, in: Aufbruch ins 20. Jahrhundert, Über Avantgarden, Text und Kritik Sonderband, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, München 2001, S. 7-14. Poley, Stefanie: Hans Arp, Die Formensprache im plastischen Werk, Stuttgart 1978. Poley, Stefanie: „Max Ernst und Hans Arp“, in: Karl Riha/Jörgen Schäfer (Hg.): Fatagaga-Dada, Max Ernst, Hans Arp, Johannes Theodor Baargeld und der Kölner Dadaismus, Gießen 1995, S. 215-229. Polizzotti, Mark: Revolution des Geistes, Das Leben André Bretons, New York 1995/Wien 1996. Pound, Ezra: „Die surrealistischen Feiglinge“ (1936), in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarden (1909-1938), Stuttgart/Weimar 1995, S. 421. Pretzer, Lielo A.: Geschichts- und sozialkritische Dimensionen in Paul Celans Werk, Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung avantgardistisch-surrealistischer Aspekte, Bonn 1980. Ray, Man: 1890-1976, Sein Gesamtwerk, hrsg. v. Merry Foresta u.a., Schaffhausen 1989. Reents, Friederike (Hg.): Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, Berlin 2009. Richter, Hans: Dada Profile, Zürich 1961. Richter, Hans: DADA-Kunst und Antikunst, Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts, mit einem Nachwort von Werner Haftmann, Köln 1964. Rifaterre, Michael: „Die Reihen-Metapher in der surrealistischen Dichtung“ (1969), in: Peter Bürger (Hg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 207-230. Riha, Karl/Schäfer, Jörgen (Hg.): Fatagaga-Dada, Max Ernst, Hans Arp, Johannes Theodor Baargeld und der Kölner Dadaismus, Gießen 1995. Rilke, Rainer Maria: Die Gedichte, hrsg. v. Ernst Zinn, Frankfurt a.M. 1998. Rissler-Pipka, Nanette: „Picasso und sein Minotaure“, in: Isabel Maurer Queipo/Nanette Rissler-Pipka/Volker Roloff (Hg.): Die grausamen Spiele des „Minotaure“, Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift, Bielefeld 2005, S. 39-70.

L ITERATURVERZEICHNIS | 341

Rissler-Pipka, Nanette/Lommel, Michael/Cempel, Justyna (Hg., 2010): Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010. Robertson, Eric: Arp, Painter – Poet – Sculptor, New Haven/London 2006. Rubin, William S.: Surrealismus, New York 1968/Stuttgart 1979. Rühm, Gerhard: „Vorwort“, in: ders. (Hg.): Die Wiener Gruppe, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 5-36. Schäfer, Jörgen: Dada Köln, Max Ernst, Hans Arp, Johannes Theodor Baargeld und ihre literarischen Zeitschriften, Wiesbaden 1993. Scheerer, Thomas: Textanalytische Studien zur „écriture automatique“, Bonn 1974. Schlebrügge, Johannes von: Geschichtssprünge, Zur Rezeption des französischen Surrealismus in der österreichischen Literatur, Kunst und Kulturpublizistik nach 1945, Frankfurt a.M./New York 1985. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, 2 Bde., Darmstadt 1985. Schmidt, Katharina (Hg.): Yves Tanguy, Retrospektive 1925-1955, München 1982. Schmied, Wieland: De Chirico und sein Schatten, Metaphysische und surrealistische Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1979. Schmied, Wieland: Giorgio de Chirico, Reise ohne Ende, München/London/New York 2001. Schmitz-Emans, Monika: Die Sprache der modernen Dichtung, München 1997. Schmitz-Emans, Monika: „Poesie als Anti-Mechanik, Zur Modellfunktion des Zufälligen bei Hans Arp“, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft XXXVIII (1994), S. 283-310. Schmitz-Emans (o.J.): „Surrealismus“, siehe: http://homepage.ruhr-unibochum.de/niels.werber/Avantgarden/Schmitz-Emans.htm. Schmitz, Emans/Lindemann, Uwe/Schmeling, Manfred (Hg.): Poetiken, Autoren – Texte – Begriffe, Berlin/New York 2009. Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surrealismus, Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotographie, Film, München 2006. Schneede, Uwe M.: Die Malerei des Surrealismus, Köln 1973. Schrott, Raoul: Dada 21/22, Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken, Eine Dokumentation über die beiden Dadajahre in Tirol, Innsbruck 1988. Schrott, Raoul: Dada 15/25: post scriptum oder die himmlischen Abenteuer des Herrn Tristan Tzara, Innsbruck 1992. Schwitters, Kurt: Das literarische Werk, Bde. 1-5, Köln 1973-1981. Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel, München 2000.

342 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Semff, Michael/Spira, Anthoy (Hg.): Hans Bellmer, Ausstellungskatalog Paris, London München 2006, Ostfildern-Ruit 2006. Short, Robert: Dada und Surrealismus, aus dem Englischen von Marion Zerbst, Stuttgart 1984. Short, Robert S.: „Die Politik der surrealistischen Bewegung 1920-1936“ (1966/1967), in: Peter Bürger (Hg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 341369. Siepe, Hans T.: Der Leser des Surrealismus, Untersuchungen zur Kommunikationsästhetik, Stuttgart 1977. Siepe, Hans T. (Hg.): Surrealismus, Fünf Erkundungen, Essen 1987. Spies, Werner: „Der Surrealismus – Kanon einer Bewegung“, in: ders.: Der Surrealismus und seine Zeit, Auge und Wort, Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur, Bd. 7, Berlin 2008, S. 9-131. Spies, Werner: Max Ernst – Collagen, Inventar und Widerspruch, Paris/Köln 1988. Spies, Werner: Max Ernst 1950-1970 – Die Rückkehr der schönen Gärtnerin, Köln 1971/ Überarbeitete Neuausgabe Köln 2000. Spies, Werner: Max Ernst – Loplop, Die Selbstdarstellung des Künstlers, München 1982/Köln 21998. Spies, Werner (Hg.): Die surrealistische Revolution, Ausstellungskatalog Paris/Düsseldorf 2002, Ostfildern-Ruit 2002. Spies, Werner (Hg.): Max Ernst, Leben und Werk, Köln 2005. Spies, Werner (Hg.): Max Ernst, Retrospektive zum 100. Geburtstag, München 1991. Spies, Werner/Ernst, Max: Max Ernst (1975-1979): Œuvres- Katalog, 4 Bde., Houston/Köln 1975-1979. Stein, Gertrude: Lectures in America (1935), New York 1957 Stein, Getrude: „Sacred Emily“ (1913), in: dies.: Geography and Plays, New York 1922/1968. Steinwachs, Gisela: Mythologie des Surrealismus, Die Rückverwandlung von Kultur in Natur, Neuwied/Berlin 1971. Ströh, Greta: „Biographie“, in: Jane Hancock/Stefanie Poley (Hg.): Arp 18861966, Ausstellungskatalog Stuttgart/Strassburg/Paris/Minneapolis/Boston/San Francisco, Ostfildern-Ruit 1986, S. 280-300. Ströh, Greta: „Biographie“, in: Christine Hopfengart (Hg.): Hans Arp, Ausstellungskatalog Nürnberg 1994/95, Ostfildern-Ruit 1994. S. 8-27. Suter, Rudolf: Hans Arp, Weltbild und Kunstauffassung im Spätwerk, Bern 2007.

L ITERATURVERZEICHNIS | 343

Thomsen, Christian W.: Menschenfresser in der Kunst und Literatur, in fernen Ländern, Mythen, Märchen und Satiren, in Dramen, Liedern, Epen und Romanen, Eine Kannibalische Text-Bild-Dokumentation, Wien 1983. Trakl, Georg: Das dichterische Werk, hrsg. v. Walter Killy/Hans Szklenar, München 1972/151998. Ubl, Ralph: Prähistorische Zukunft, Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes, München 2004. Unglehrt, Rudolph W.: La poésie de Jean Arp en langue française, Thèse de doctorat, Paris III, Paris 1972. Vaché, Jacques: Kriegsbriefe, hrsg. u. übersetzt v. Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Paris 1919/1949/Hamburg 1979. Vogt, Ulrich: Le point noir, Politik und Mythos bei André Breton, Frankfurt a.M./Bern 1982. Vowinckel, Andreas: Surrealismus und Kunst, Studien zu Ideengeschichte und Bedeutungswandel des Surrealismus vor Gründung der surrealistischen Bewegung und zu Begriff, Methode und Ikonographie des Surrealismus in der Kunst 1919 bis 1925, Hildesheim u.a. 1989. Warning, Rainer/Wehle, Winfried (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982. Watts, Harriett Ann: Chance, A Perspective on Dada, Ann Arbor 1975/1980. Watts, Harriett Ann: „Hans Arp als Dichter“, in: Hans Bollinger/Guido Magnaguagno/Christian Witzig (Hg.): Hans Arp zum 100. Geburtstag (1886-1966), Ein Lese- und Bilderbuch, Zürich 1986, S. 7-19. Watts, Harriet Ann: „Zufall“, in: Hubert van den Berg/Walter Fähnders (Hg.): Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009, S. 366f. Watts, Harriett Ann: „Hans Arp und die Worte“, in: Christine Hopfengart (Hg.): Hans Arp, Ausstellungskatalog Nürnberg 1994/95, Ostfildern-Ruit 1994, S. 65-84. Webster, Gwendolen: „Schwitters, Arp und die Avantgarde“, in: Hartwig Fischer (Hg.): schwitters_arp, Ausstellungskatalog Basel 2004, Ostfildern-Ruit 2004, S. 69-92. Wehle, Winfried: „Avantgarde: ein historisch-systematisches Paradigma ‚moderner‘ Literatur und Kunst“, in: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.): Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982. Weissner, Ulrich (Hg.): Picassos Surrealismus, Werke 1925-1937, Ausstellungskatalog Bielefeld 1991, Ostfildern-Ruit 1991. Winkelmann, Judith: Abstraktion als Stilbildendes Prinzip in der Lyrik Hans Arps und Kurt Schwitters, Frankfurt a.M. 1995.

344 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Wischenbart, Rüdiger: Literarischer Wiederaufbau in Österreich 1945-49, Königsstein 1983. Wix, Gabriele: Max Ernst, Maler, Dichter, Schriftsteller, München 2009. Zuch, Rainer: Die Surrealisten und C.G. Jung, Studien zur Rezeption der analytischen Psychologie im Surrealismus am Beispiel von Max Ernst, Victor Brauner und Hans Arp, Weimar 2004.

Abbildungsverzeichnis

Agar, Eileen: Fotographie Nusch und Paul Éluard, Dora Maar und Pablo Picasso in Juan le Pins, 1937, S. 117, Abb. 34. Arp, Hans: Die drei Grazien, 1961, S. 112, Abb. 31. Arp, Hans: Erwachen, 1938, S. 61, Abb. 15. Arp, Hans: Flasche und Vogel, 1925, S. 60, Abb. 14. Arp, Hans: Heimatlos und vertrieben, 1936, S. 230, Abb. 84. Arp, Hans: Hirsch, 1914, S. 301, Abb. 112. Arp, Hans: Im Varieté: Der Surrealismus 1929, 1929, S. 85, Abb. 23. Arp, Hans: Kaspar, 1930, S. 197, Abb. 71. Arp, Hans: Kleine aufgestützte Figur, genannt ,Die Ägypterin‘, 1938, S. 22, Abb. 6. Arp, Hans: Kopf mit gesträubtem Schnurrbart, 1926, S. 131, Abb. 40. Arp, Hans: L’air est une racine, 1933, S. 223, Abb. 82. Arp, Hans: Ohne Titel, 1931, S. 155, Abb. 49. Arp, Hans: Ohne Titel, 1928, S. 213, Abb. 80. Arp, Hans: Poussah, 1920, S. 307, Abb. 117. Arp, Hans: Selbstbildnis, 1965, S. 48, Abb. 12. Arp, Hans: Stern, 1939/1960, S. 328, Abb. 124. Arp, Hans: Stilleben/Berg, Nabel, Anker, Tisch, 1925, S. 73, Abb. 19. Arp, Hans: Tänzerin, 1925, S. 73, Abb. 20. Arp, Hans: Torse des Pyrénées, 1959, S. 114, Abb. 32. Arp, Hans: Vögel in einem Aquarium, ca. 1920, S. 69, Abb. 18. Arp, Hans/Ernst, Max: Der Punching Ball oder die Unsterblichkeit Buonarottis, 1920, S. 139, Abb. 42. Arp, Hans/Ernst, Max: Physiomythologisches Diluvialbild, 1920, S. 290, Abb. 106. Arp, Hans/Jean, Marcel/Dominguez, Oscar/Taeuber-Arp, Sophie: Cadavre exquis, 1937, S. 76, Abb. 21. Bellmer, Hans: Die Puppe, 1933/1938, S. 156, Abb. 50. Bellmer, Hans: Die Puppe, 1933/1938, S. 156, Abb. 51.

346 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Bellmer, Hans: Die Puppe, 1933/1938, S. 157, Abb. 52. Bellmer, Hans: Portrait Hans Arp, 1957, S. 7, Abb. 1. Bellon, Denise: André Breton und die surrealistische Gruppe, 1960, S. 9, Abb. 2. Bellon, Denise: Hans Arps ,Mannequin‘, 1938, S. 234, Abb. 85. Berman, Eugene: Muse of the Western World, 1942, S. 262, Abb. 93. Brauner, Victor: Der seltsame Fall des Herrn K., 1934, S. 138, Abb. 41. Brauner, Victor: Hitler, 1934, S. 166, Abb. 59. Breton, André: Collage aus ,Anthologie des Schwarzen Humors‘, 1938, S. 64, Abb. 17. Breton, André: Selbstportrait: Die Automatische Schreibweise, 1938, S. 245, Abb. 90. Buñuel, Louis/Dalí, Salvador: Screenshot Das Goldene Zeitalter/L’Age d’or, 1930, S. 187, Abb. 65. Calder, Alexander: Portrait des Jean Arp, 1956, S. 41, Abb. 11. Chirico, Giorgio de: Das Gehirn des Kindes, 1914, S. 237, Abb. 87. Chirico, Giorgio de: Der große Metaphysiker, 1916, 1924/1925, S. 17, Abb. 3. Chirico, Giorgio de: Der Seher / Der Prophet, 1915, S. 267, Abb. 97. Chirico, Giorgio de: Die beunruhigenden Musen, 1916, S. 318, Abb. 122. Dalí, Salvador: Ameisengesicht, 1936, S. 107, Abb. 28. Dalí, Salvador: Anthropomorpher Schrank mit Schubladen, 1936, S. 236, Abb. 86. Dalí, Salvador: Bildnis Picasso, 1947, S. 305, Abb. 116. Dalí, Salvador: Das Auge, 1945, S. 276, Abb. 101. Dalí, Salvador: Das Gesicht des Krieges, 1940/1941, S. 190, Abb. 68. Dalí, Salvador: Die Beständigkeit der Erinnerung /Die zerrinnende Zeit, 1931, S. 18, Abb. 5. Dalí, Salvador: Der Eselskadaver, 1928, S. 207, Abb. 75. Dalí, Salvador: Der Schlaf, 1937, S. 276, Abb. 102. Dalí, Salvador: Die drei Sphinxe von Bikini, 1947, S. 212, Abb. 79. Dalí, Salvador: Die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (Der Traum des Christoph Kolumbus), 1958/1959, S. 77, Abb. 22. Dalí, Salvador: Die Poesie Amerikas – Die kosmischen Athleten, 1943, S. 203, Abb. 74. Dalí, Salvador: Eigenarten, 1935/1936, S. 321, Abb. 123. Dalí, Salvador: Ein Teufel als Logiker – Luzifer, 1951, S. 212, Abb. 78. Dalí, Salvador: Frau mit Rosenhaupt, 1935, S. 215, Abb. 81. Dalí, Salvador: Geopolitisches Kind beobachtet die Geburt des neuen Menschen, 1943, S. 201, Abb. 73.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 347

Dalí, Salvador: Kannibalismus im Herbst, 1936/1937, S. 189, Abb. 67. Dalí, Salvador: Masochistisches Instrument, 1933/1934, S. 207, Abb. 76. Dalí, Salvador: Meine Frau, nackt, beim Betrachten ihres eigenen Fleisches, das sich in Treppen, drei Wirbel einer Säule, Himmel und Architektur verwandelt, 1945, S. 31, Abb. 9. Dalí, Salvador: Metamorphose des Narziß, 1937, S. 227, Abb. 83. Dalí, Salvador: Minotaurus, 1936, S. 299, Abb. 109. Dalí, Salvador: Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen oder Vorahnung des Bürgerkriegs, 1936, S. 188, Abb. 66. Duchamp, Marcel: Genre-Allegorie, 1943, S. 199, Abb. 72. Ernst, Max: Capricorn, 1948, S. 304, Abb. 114. Ernst, Max: Das Auge der Stille, 1943/1944, S. 161, Abb. 55. Ernst, Max: Das Massaker der Unschuldigen, 1920, S. 180, Abb. 63. Ernst, Max: Das Rendezvous der Freunde, 1922, S. 56, Abb. 13. Ernst, Max: Der Hausengel/Triumph des Surrealismus, 1937, S. 191, Abb. 69. Ernst, Max: Der König spielt mit seiner Königin, 1944, S. 304, Abb. 113. Ernst, Max: Der prädestinierte Blinde, 1922, S. 140, Abb. 45. Ernst, Max: Der Surrealismus und die Malerei, 1942, S. 18, Abb. 4. Ernst, Max: Die Anatomie, 1921, S. 183, Abb. 64. Ernst, Max: Die chinesische Nachtigall, 1920, S. 179, Abb. 62. Ernst, Max: Die Einkleidung der Braut, 1940, S. 284, Abb. 105. Ernst, Max: Die ganze Stadt, 1935/1936, S. 161, Abb. 54. Ernst, Max: Die Nymphe Echo, 1937, S. 160, Abb. 53. Ernst, Max: Eine Liebesnacht, 1927, S. 255, Abb. 92. Ernst, Max: Loplop stellt Loplop vor, 1930, S. 267, Abb. 98. Ernst, Max: Pietà oder die Revolution bei Nacht, 1923, S. 243, Abb. 88. Ernst, Max: Santa Conversazione, 1921, S. 179, Abb. 61. Ernst, Max: sodaliten, schneeberger, drückethäler (always the best man wins), 1920, S. 175, Abb. 60. Ernst, Max: Ubu Imperator, 1923, S. 208, Abb. 77. Ernst, Max: Zwischen den Polen der Höflichkeit, 1922, S. 140, Abb. 44. Fivian, Martin: Hans Arp, 2004, S. 33, Abb. 10. Giacometti, Alberto: Palast um vier Uhr nachts, 1932, S. 309, Abb. 118. Giacometti, Alberto: Schwebende Kugel, 1930, S. 317, Abb. 121. Jean, Marcel: Das Café Cyrano, in dem sich die Surrealisten um 1930 trafen, 1959, S. 103, Abb. 27. Kiesler, Friedrich: Model of the Endless House, 1947, S. 96, Abb. 24. Kiesler, Friedrich: Salle des Superstitions, 1947/1948, S. 129, Abb. 39. Magritte, René: Das fertige Bouquet, 1957, S. 123, Abb. 38.

348 | M INOTAURUS IM Z EITKRISTALL

Magritte, René: Das Prinzip der Lust, 1936/1937, S. 109, Abb. 29. Magritte, René: Das Schloß in den Pyrenäen, 1959, S. 165, Abb. 58. Magritte, René: Der Gesang des Veilchens, 1951, S. 152, Abb. 48. Magritte, René: Der Monat der Weinlese, 1959, S. 147, Abb. 47. Magritte, René: Die Büchse der Pandora, 1951, S. 145, Abb. 46. Magritte, René: Die Erscheinung, 1928/1929, S. 24, Abb. 8. Magritte, René: Golkonda, 1953, S. 164, Abb. 57. Magritte, René: La Condition humaine, 1933, S. 268, Abb. 99. Malewitsch, Kasimir: Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, 1915/1923, S. 312, Abb. 119. Masson, André: Das Labyrinth, 1938, Titelbild. Masson, André: Melancholie des Minotaurus, 1938, S. 265, Abb. 96. Masson, André: Der Stuhl vor dem Meer, 1938, S. 265, Abb. 95. Masson, André: Surrealistischer Thron, 1928, S. 265, Abb. 94. Matta Echaurren, Roberto: Die Initiation, 1941, S. 252, Abb. 91. Miró, Joan: Karneval des Harlekins, 1924/1925, S. 328, Abb. 125. Oelze, Richard: Die Erwartung, 1935/1936, S. 164, Abb. 56. Penrose, Roland: Fotographie Nusch Éluard, schwimmend, 1937, S. 116, Abb. 33. Picasso, Pablo: Der blinde Minotaurus wird von einem Mädchen geführt, 1935, S. 296, Abb. 107. Picasso, Pablo: Guernica, 1937, S. 192, Abb. 70. Picasso, Pablo: Minotaurus mit einem Dolch bewaffnet, 1933, S. 299, Abb. 108. Ray, Man: André Breton vor ,Das Rätsel eines Tages‘ von Giorgio de Chirico, 1922, S. 244, Abb. 89. Ray, Man: Electricité, 1931, S. 139, Abb. 43. Ray, Man: Gruppenfoto der Pariser Surrealisten, 1929/1932, S. 99, Abb. 26. Ray, Man: Nusch Éluard, 1936, S. 98, Abb. 25. Ray, Man: Sternwartenzeit – Die Liebenden, 1932-1934, S. 111, Abb. 30. Ray, Man: Surrealistisches Schachbrett, 1934, S. 63, Abb. 16. Ray, Man: Unzerstörbares Objekt, 1923/1933/1965, S. 314, Abb. 120. Seligmann, Kurt: Magischer Berg, 1949, S. 280, Abb. 104. Tanguy, Yves: Die große Mutation, 1942, S. 274, Abb. 100. Tanguy, Yves: Durch Vögel, durch Feuer, aber nicht durch Glas, 1943, S. 22, Abb. 7. Tanguy, Yves: Minotaurus, 1942, S. 300, Abb. 110. Tanguy, Yves: Minotaurus, 1943, S. 300, Abb. 111. Tanguy, Yves: Vervielfältigung der Bögen, 1954, S. 279, Abb. 103. Tanning, Dorothea: Beyond the Esplanade, 1940, S. 119, Abb. 35.

A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 349

Tanning, Dorothea: Birthday, 1942, S. 121, Abb. 36. Tanning, Dorothea: Max im blauen Boot, 1946, S. 305, Abb. 115. Tanning, Dorothea: Voltage, 1942, S. 122, Abb. 37.

Abbildungsnachweis

Agar, Eileen: Fotographie Nusch und Paul Éluard, Dora Maar und Pablo Picasso in Juan le Pins, 1937, vgl. Mary Ann Caws: Dora Maar, Die Künstlerin an Picassos Seite, London/Berlin 2000, S. 141. Arp, Hans © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Bellmer, Hans © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Bellon, Denise: André Breton und die surrealistische Gruppe, 1960, vgl. Diane Ketcham: Le Désert de Retz, A Late Eighteenth-Century French Folly Garden, The Artful Landscape of Monsieur de Monville, Cambridge/Massachusetts 1997/Fonds photographique Denise Bellon. Bellon, Denise: Hans Arps ,Mannequin‘, 1938, vgl. Ingrid Pfeiffer/Max Hollein (Hg.): Surreale Dinge – Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray, Ostfildern-Ruit 2011, S. 75/Fonds photographique Denise Bellon. Berman, Eugene: Muse of the Western World, 1942, vgl. Isabelle Dervaux: Surrealism USA, National Academy Museum, New York, New York/OstfildernRuit 2004, S. 114/The Metropolitan Museum of Art, George A. Hearn Fund. Brauner, Victor © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Breton, André © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Buñuel, Louis/Dalí, Salvador: Das Goldene Zeitalter/L’Age d’or, 1930, vgl. Gérard Durozoi (Hg.): History of the Surrealist Movement, Chicago/London 2002, S. 200. Calder, Alexander © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Chirico, Giorgio de © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Dalí, Salvador © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Dominguez, Oscar © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Duchamp, Marcel © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Ernst, Max © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

A BBILDUNGSNACHWEIS | 352

Fivian, Martin: Hans Arp, 2004 © Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, 2012. Giacometti, Alberto © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Jean, Marcel © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Kiesler, Friedrich: Model of the Endless House, 1947 © Estate of Frederick Kiesler/Courtesy of Jason McCoy Inc, N.Y., New York 2012/© Whitney Museum of American Art, New York 2012 Kiesler, Friedrich: Salle des Superstitions, 1947/1948, vgl. Fotographie in Jean Arp: Onze peintres vuz par Arp, Taeuber, Kandinski, Leuppi, Vordermberge, Arp, Delaunay, Schwitters, Kiesler, Morris, Magnelli, Ernst, Zürich 1949, S. 29. Magritte, René © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Malewitsch, Kasimir: Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, 1915/1923, vgl. Heiner Stachelhaus: Kasimir Malewitsch, Ein tragischer Konflikt, Düsseldorf 1989, S. 159. Masson, André © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Matta Echaurren, Roberto: The Initiation, 1941, vgl. Isabelle Dervaux: Surrealism USA, National Academy Museum, New York, New York/OstfildernRuit 2004, S. 119/Collección Cisneros, Caracas. Miró, Joan © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Oelze, Richard: Die Erwartung, 1935/1936, vgl. Christine Hopfengart/Kunsthalle Bremen (Hg.): Die Söhne des Junggesellen, Richard Oelze, Einzelgänger des Surrealismus, Ostfildern-Ruit 2000, S. 109/The Museum of Modern Art, New York, Purchase. Penrose, Roland: Fotographie Nusch Éluard, schwimmend, 1937; vgl. http://www.all-art.org/art_20th_century/penrose1.html Picasso, Pablo © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Ray, Man © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Seligmann, Kurt © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Taeuber-Arp, Sophie © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Tanguy, Yves © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Tanning, Dorothea © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters

November 2012, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Oktober 2012, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 48,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes Divina Commedia

August 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 264 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa September 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Mai 2012, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne November 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900

Roman Halfmann Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität

September 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Juni 2012, 242 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2117-4

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung

Anne-Kathrin Hillenbach Literatur und Fotografie Analysen eines intermedialen Verhältnisses

Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

April 2012, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1970-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

www.transcript-verlag.de