Michael Endes Philosophie im Spiegel von „Momo“ und „Die unendliche Geschichte“ 9783787338900, 9783787338894

Michael Ende (1929–1995) wird fälschlicherweise oft als »Kinderbuchautor« abgestempelt, dabei richten sich seine Werke n

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Michael Endes Philosophie im Spiegel von „Momo“ und „Die unendliche Geschichte“
 9783787338900, 9783787338894

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Michael Endes Philosophie  im Spiegel von Momo und Die unendliche Geschichte Alexander Oberleitner

Meiner

Alexander Oberleitner

Michael Endes Philosophie im Spiegel von Momo und Die unendliche Geschichte

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3889-4 ISBN eBook 978-3-7873-3890-0

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INH A LT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 TEIL I · Grundlagen A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Auswahl bisher vorliegender Veröffentlichungen zum ­Forschungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3. Methodik und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Biographische und textliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

1. Biographische Andeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Exkurs : Über die Anthroposophie und Endes Verhältnis zu ihr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Kurze Inhaltsangabe der Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 ■  Momo 30 | Die unendliche Geschichte 33

C. Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes . . . . . . . . . 39

1. Über die Möglichkeit einer philosophischen Interpretation poetischer Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. War Michael Ende ein Gegner des logischen (begrifflichen) Denkens ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Ausblick auf ein mögliches philosophisches Denken Endes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 ■  Reflexivität : Ende im Vergleich mit J. R. R. Tolkien 50 | ­ Kurzer Exkurs zu J. R. R. Tolkien 51 | Die Geschichte eines Mißverständnisses 51 | Über den reflexiven Charakter der ­Un­­end­lichen ­Geschichte 54 | Ethik 55

4. Warum »Momo« und »Die unendliche Geschichte« ? . . . . 59 5. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

TEIL II · Momo oder Die Kälte des Kapitalismus A. Der Weg zum Nirgend-Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 B. Die neue Welt des Marxentius Communus . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Momo in der Geschichte und eine Geschichte in Momo . 66 2. Ende und der Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 C. Der Dämon des Herrn Fusi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1. Ein Besuch mit Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Der Ursprung des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 ■  Sein und Bewußtsein 92  |  Sinnfragen 95  |  Empirismus und Quantifizierung 97

3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 D. Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 E. Der Wettlauf in die Unfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Die Konsumismusfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Gigis Begriff der Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 F. Der wohlgeordnete Weltuntergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 G. Die Angst vor dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Fusi revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Der Schwindel der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 H. Größer als die Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Im Herzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 ■  Die Harmonie der Sphären 139 | Was ist Zeit ? 145

2. Momo singt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 I. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 TEIL III · Die unendliche Geschichte oder Tu, was du willst ! A. Die Geschichte der Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 B. The Neverending Story : Die Rache der Grauen Herren . . . . . 157 C. Die Verwüstung der Innenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Phantásien in Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 ■  Innen und Außen 166 | Ist die Zerstörung Phantásiens ein privates Problem Bastians ? 170 6 | Inhalt

2. Mondenkind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Die Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 D. Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Die Erschaffung Phantásiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 ■ Vor dem Aufbruch : Kurzer Exkurs zu Nietzsche 184 |  Wille und Wunsch 185

2. Der Kindliche Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 ■  Xayíde 190 | Die Stadt der verlorenen Seelen 195

3. Die Wasser des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 E. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 TEIL IV  · Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik . . . . . . . . . . 211 A. Der Künstler als Philosoph ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 B. Das Denken Michael Endes im größeren philosophischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1. Marx oder Brecht ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Das Wesen der Erfahrungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 217 3. Die Vermittlung zwischen Phantásien und »Menschenwelt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4. Die Rolle der Mystik im Denken Michael Endes . . . . . . . . 224 C. Resümee und Beantwortung der Grundfragestellung . . . . . . 228

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Quellenangaben zu den einleitenden Zitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Inhalt | 7

VO RWO R T

Comme l’on serait savant si l’on connaissait bien seulement cinq à six livres …1 – Gustave Flaubert –

 D

ie unendliche Geschichte ist das erste Buch, an dessen Lektüre ich mich erinnern kann. Im Grunde war ich als Volksschüler sowohl mit dem Inhalt als auch mit dem (für mich) ungewohnt kleinen Schriftbild des Romans heillos überfordert, wollte aber aus kind­lichem Ehrgeiz nicht hinter meiner älteren Schwester zurückstehen, die das Buch mit großer Begeisterung gelesen hatte. Daß ich damals dennoch bis zu Bastians glücklicher Rückkehr in die »Menschenwelt« vorgedrungen bin, verdanke ich meiner Mutter, die sich die Zeit nahm, mich durch den Roman zu begleiten, mir manche Passagen vorzulesen und andere, die ich nicht verstand (oder die mich mit Angst erfüllten), kindgerecht zu erklären. Was sie mir bei dieser und unzähligen anderen Gelegenheiten vermittelt hat, zählt zu den wichtigsten Dingen, die man Kindern überhaupt vermitteln kann : die Liebe zu Büchern. Als ich Jahrzehnte später auf der Suche nach einem passenden Thema für meine Doktorarbeit war, fiel mir dieser Roman, der gleichsam mit mir mitgewachsen war und in dem ich in jeder Lebensphase Neues entdecken konnte, den ich inzwischen aber verschenkt hatte und nicht mehr besaß, durch einen Zufall wieder in die Hand. Probeweise und halb im Scherz versuchte ich mir vorzustellen, wie eine Dissertation über die philosophischen Aspekte dieses Buches – in Verbindung mit Endes Momo, das ich ebenfalls begeistert gelesen hatte – aussehen könnte. Das Ergebnis war derart verheißungsvoll, daß ich sofort mit ersten Entwürfen für diese Arbeit begann. Die Reaktionen, die diese Themenwahl bei anderen hervorrief, waren überraschend positiv – lediglich einige entfernte Bekannte ausgenommen (deren Entfernung zu mir seitdem noch drastisch angewachsen ist), die mich amüsiert fragten, was in aller Welt denn ein »Kinderbuchautor« mit Philosophie zu schaffen haben könne. Ich möchte bei dieser Gelegenheit Herrn Prof. Dr.  9

Gerhard Gotz sehr herzlich dafür danken, daß er sich sich ohne Zögern bereiterklärt hat, die Betreuung meiner Arbeit an diesem doch ungewöhnlichen und scheinbar entlegenen Thema zu übernehmen ; natürlich auch für die gewohnt kompetente, umsichtige Betreuung selbst ; und ganz besonders für seine große Geduld und Toleranz angesichts meiner Schwäche, Fristen stets bis zum Letzten auszureizen. Ich möchte dieses Vorwort auch dazu nutzen, ein Mißverständnis von vornherein auszuschließen. Diese Arbeit erhebt den Anspruch, im wissenschaftlichen Interesse das philosophische Denken Michael Endes aus seinen Romanen heraus aufzuweisen ; nicht aber jenen, diese Romane dadurch in irgendeiner Weise zu »adeln« oder gar zur Hochkultur »emporzuheben«. Zum einen ist die Einteilung in Hoch- und »populäre« Kultur ohnehin äußerst fragwürdig ; zum anderen haben weder Momo noch Die unendliche Geschichte dies in irgendeiner Weise nötig. Beide sind auf ihre jeweilige Weise großartige Bücher, welche weder einer philosophischen noch einer psychologischen noch auch einer literaturwissenschaftlichen Analyse bedürfen, die ihren Wert erst zweifelsfrei und »objektiv« zu beweisen hätte. Ohnehin gilt ewig, was Hermann Broch in den Notizen zum »Tod des Vergil« schreibt : »Ein Kunstwerk rechtfertigt sich nicht durch theoretische Erwägungen, sondern durch sich selbst.«2 Nichtsdestoweniger würde ich es natürlich begrüßen, wenn diese Arbeit, indem sie das philosophische Denken Michael Endes kritisch zu würdigen versucht, auch dabei helfen könnte, einen zugleich tieferen und umfassenderen Blick auf sein Werk zu ermög­ lichen. Dies wäre mir umso mehr ein Anliegen, als die (öffentliche) Ende-Rezeption diesen Blick bisher eher verstellt hat : Es scheint, daß gerade Michael Ende einer jener Autoren war, die am meisten unter oberflächlicher, verständnisloser und oft auch überheblicher Kritik zu leiden hatten.3 Zwar gibt es, vom Gilgamesch-Epos aufwärts, wohl kaum ein bedeutendes literarisches Werk, über das nicht jeden einzelnen Tag irgendein selbsternannter »Experte« im Brustton der Überzeugung haarsträubenden, hanebüchenen Unsinn von sich gibt. Dennoch macht es schlicht zornig, wenn ein zutiefst systemkritisches Werk wie Momo in der Rezeption auf eine Stufe mit primitiven Esoterik-Büchlein à la »Buddhismus für Manager« gestellt wird ;4 mehr noch, wenn ein Roman wie Die unend­liche 10 | Vorwort 

Geschichte, der einige der tiefsten Fragen des Menschengeschlechts in großartige Bilder faßt, in der Verfilmung gegen den erbitterten Widerstand des Autors zu einem plumpen, dumpfen, völlig sinnfreien Actionspektakel verwurstet wird, dessen einziger Zweck es ist, den Kinobesuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen ;5 und am meisten, wenn dann von ihrer intellektuellen Überlegenheit allzu überzeugte »Kritiker«, die das Buch selbst offenbar gar nicht gelesen haben, sich berufen fühlen, auf Basis dieses fil­mischen Machwerks in nasalem Tonfall über Michael Ende zu richten.6 Wenn diese Untersuchung nur ein klein wenig dazu beitragen könnte, Rezensenten wie diese vor ihrer eigenen Ignoranz zu schützen, würde mich das von Herzen freuen. Wie Endes Werke selbst und ein Großteil der verwendeten Sekundärliteratur, so wurde auch diese Arbeit nach den Regeln der sogenannten Alten Rechtschreibung verfaßt, um möglichst einheitliche Orthographie zu gewährleisten. Wien, im August 2020

Alexander Oberleitner

Vorwort | 11

Siglen MO Momo UG

Die unendliche Geschichte

AD

Die Archäologie der Dunkelheit

GM

Das Gauklermärchen

JK1

Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

JK 2

Jim Knopf und die Wilde 13

MB

Magische Bühnenwelten

NG

Der Niemandsgarten

SIS

Der Spiegel im Spiegel

WP

Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch

ZS

Die Zauberschule

TEIL I G RU NDL AG EN A. Einleitung […] es ging ihm in der Hauptsache um das Denken. Es war ein Denken in Bildern, ein Denken, das versuchte, die Welt auf einen Nenner zu bringen. […] Er war indessen alles andere als verschwommen-schwärmerisch ; die Welt schien ihm vielmehr ein Rätsel, das man mit logischem Werkzeug lösen könne […]. – Rainer Lübbren über Michael Ende –

1. Motivation

Gibt es ein philosophisches Denken, das sich in Michael Endes Werken spiegelt ? Die Frage allein mag in manchen Ohren absurd klingen – scheint sich doch die Kritik bis heute noch nicht einmal einig zu sein, ob Ende ein Schriftsteller von Rang und Bedeutung ist. In literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken sucht man seinen Namen meist vergeblich ;7 wo überhaupt, taucht er in der Regel als »[e]rfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor« 8 oder dergleichen auf. Abgesehen davon, daß letzteres als Pauschalurteil ganz entschieden Unsinn ist (wie jeder weiß, der auch nur einen kurzen Blick in Endes Erzählband Der Spiegel im Spiegel geworfen hat), implizieren derartige Punzierungen gemeinhin, daß das betreffende Werk wohl zu banal und oberflächlich sei, um als »ernsthafte Literatur« gelten zu können  – eine Haltung, die selbst von beträchtlicher Oberflächlichkeit zeugt und nicht selten dazu dient, dem Kritiker die konkrete Beschäftigung mit diesem Werk zu ersparen. Das überlegene Lächeln, mit dem sich manch selbsternannter Literaturexperte zu »Endes außerordentlich populären Romanen« herabließ und -läßt, um sie nach kaum einem halben Blick in wenigen Worten abzutun,9 gehörte denn auch zu jenen Dingen, die den Autor zeit seines Lebens am meisten erzürnten – und das wohl zu Recht. Angenommen selbst, Die unendliche Geschichte wäre tatsächlich ein »Kinder- und Jugendbuch« (was äußerst fragwürdig  13

ist) :10 Würde dies ihre literarische Bedeutung etwa von vornherein herabsetzen ? Wäre deshalb etwa ausgeschlossen, daß sie tiefe Gedankengänge birgt, die einer näheren Betrachtung durchaus wert sind ? Wenn wir im 21. Jahrhundert immer noch nicht gelernt haben, uns von solchen Vorurteilen zu lösen, sollten wir auf die Kritik literarischer Werke besser gänzlich verzichten. Uns Philosophen sollte derartige Kurzsichtigkeit, die weit eher den Kritiker als den Kritisierten entlarvt, jedenfalls von Berufs wegen fremd sein. Daß Michael Ende ein (nicht nur) philosophisch gebildeter Mann war, wissen wir aus zahlreichen direkten wie indirekten Belegen. Friedrich Nietzsche etwa, der dem Autor wohl schon durch die anthroposophische Prägung seiner Jugendzeit vermittelt wurde (s.u.), wird in der Unendlichen Geschichte sogar wörtlich zitiert ;11 eine kurze Passage in Momo erweist sich bei genauerem Hin­sehen als ironische Anspielung auf den Marxismus,12 mit dem Ende durch sein großes Vorbild Bertolt Brecht in Berührung kommen mußte. Seine intensive Auseinandersetzung mit anderen Denkern, wie z. B. Kierkegaard,13 ist durch das Zeugnis von Freunden und Bekannten belegt ; über den Widerhall einer beinah lebenslangen Beschäftigung mit fernöstlichen, v. a. japanischen Denkschulen in seinen Büchern wurde viel geschrieben.14 Endes Werk nach dem philosophischen Denken des Autors zu befragen, ist vor diesem Hintergrund wohl kaum abwegig. Wäre es nicht vielmehr seltsam, eine strikte Trennlinie zu ziehen zwischen dem Menschen Ende, dem es »in der Hauptsache um das Denken [ging]« (Rainer ­Lübbren), und dem Schriftsteller, in dessen Werk sich nichts von alledem spiegeln sollte ? Ein weiterer, nicht weniger evidenter Grund, nach dem Denken Michael Endes zu forschen, findet sich im Charakter seines Werkes selbst. Entsprechend der spezifischen Poetologie des Autors, an die wir uns im Rahmen dieses Teils der Untersuchung noch an­ nähern werden,15 regen seine Bücher praktisch in ihrer Gesamtheit dazu an, gleichsam einen Blick hinter die Kulissen zu werfen ; ja, sie verleiten den Leser geradezu, poetische Bilder nicht etwa für sich stehen zu lassen, sondern nach zugrundeliegenden Ideen und Konzeptionen zu fragen. Die Art und Weise dieses Fragens kann, je nach dem Interesse des Lesers, ganz verschieden sein – so mag der Psychologe oder Sozialwissenschaftler einen völlig anderen Zu14 | Grundlagen 

gang zum Denken Endes finden als der Philosoph. Daß aber der Grundcharakter des Endeschen Werkes, den Leser zum Mit- und Nachdenken anzuregen, nicht etwa bloß im Auge des Betrachters, sondern in der Intention des Autors liegt, erläutert Ende selbst z. B. in Die Archäologie der Dunkelheit, wo es heißt : Im Großen und Ganzen verharrt der jetzige Leser in einer konsumtiven Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, […] die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen. (AD 52 f.)

Können wir nicht dieselbe aktive Rolle, die Ende hier dem Leser seiner Werke zuweist, für uns in Anspruch nehmen, wenn wir auf wissenschaftliche Weise nach seinem Denken forschen ? Zu diesem Zweck wollen wir zuallererst die bisher vorliegende Literatur zu unserem Thema in den Blick nehmen. 2. Auswahl bisher vorliegender Veröffentlichungen zum ­Forschungsbereich

Die Michael-Ende-Forschung, schon zu Lebzeiten des Autors ein weites Feld, hat nach seinem Tod 1995 noch an Bedeutung zugenommen und ist mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Indes geht die überwiegende Mehrzahl jener Untersuchungen, die ein Mindestmaß an Seriosität aufweisen,16 von primär literaturwissenschaftlichen Fragestellungen aus, welche für die vorliegende Arbeit unter Umständen hilfreich, aber letztlich nur von marginalem Interesse sein können. Hierzu sei exemplarisch Claudia Ludwigs Dissertation »›Was du ererbt von deinen Vätern hast …‹ Michael Endes Phantásien-Symbolik und literarische Quellen« (Frankfurt 1997) genannt. Obwohl darin den Einflüssen v. a. fernöstlicher Philosophie auf Endes Werk großer Platz eingeräumt wird, ist es doch nicht die Intention der Autorin, die Verarbeitung dieser Einflüsse durch Ende kritisch zu durchleuchten oder gar nach einer »Philosophie« Endes zu fragen. Des weiteren gibt es eine Reihe von Arbeiten über Ende, die im Grenzbereich zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie anzusiedeln sind, so etwa die Diplomarbeit der Germanistin Eva-­ Einleitung | 15

Maria Kowatsch, »Zivilisationskritik in Michael Endes Werken ›Die unendliche Geschichte‹ und ›Momo‹« (Wien 1995). Thematisch kommt diese Untersuchung der vorliegenden vielleicht noch am nächsten, ohne aber nach den philosophischen Grundlagen jener »Zivilisationskritik« zu fragen – was freilich auch nicht ihre Aufgabe sein kann. Dennoch nimmt es wunder, wie konsequent Kowatsch die Tatsache ignoriert, daß es sich bei Ende fast ausschließlich um Kapitalismuskritik handelt. Dies bleibt im Rahmen dieses Abschnitts noch zu erörtern. Eine andere Art von Sekundärliteratur zu Endes Werk bewegt sich zwischen Literaturwissenschaft und Psychologie, wie z. B. Christian von Wernsdorffs »Bilder gegen das Nichts. Zur Wiederkehr der Romantik bei Michael Ende und Peter Handke« (Neuss 1983). Von Wernsdorff versucht u. a., die Verankerung von Endes Bilderwelt in den Grunderfahrungen der menschlichen Psyche aufzuweisen, ein Ansatz, der sich für die geplante Arbeit als nicht unfruchtbar erweisen mag, der aber einer philosophischen Fragestellung natürlich nicht genügt. Sucht man hingegen nach dezidiert philosophischen Herangehensweisen an Endes literarisches Schaffen, so wird man noch am ehesten bei jenen Autoren fündig, die sich mit dem bereits erwähnten Konnex zwischen Endes Romanen und fernöstlichen Philosophien wie dem Buddhismus oder Daoismus beschäftigen. Vor allem Sôiku Shigematsus »Momo erzählt Zen« (Berlin 1991) ist hier zu nennen. Indes bleibt Shigematsus Buch, bei all seiner Kenntnis von Endes Werk, doch in erster Linie eine Einführung in den Zen-Buddhismus, dessen Grundlagen anhand ausgewählter Zitate aus »Momo« erläutert werden – ganz ähnlich jenem anderen Werk Shigematsus,17 welches Saint-Exupérys »Der kleine Prinz« zum selben Zweck heranzieht. Ein tieferes Eindringen in die Gedankenwelten Endes findet also nicht statt und ist vom Autor auch gar nicht intendiert.18 Diese kurze Zusammenschau mag genügen, um Tilman Schröder zwar nicht grammatikalisch, wohl aber inhaltlich zuzustimmen, wenn er meint : »Eine […] umfassende Würdigung vom Denken Michael Endes steht noch aus.«19 Nicht weniger als eine solche – kritische – Würdigung soll die vorliegende Untersuchung leisten. 16 | Grundlagen 

3. Methodik und Zielsetzung

Wenn wir, wie im Falle Endes, einem Autor gegenüberstehen, dessen philosophische Einflüsse und Quellen wir recht genau kennen (s. o.), so ist die Verlockung nicht gering, sein Denken aus ebendiesen Quellen herzuleiten. Eine Untersuchung wie die vorliegende könnte dann z. B. diesem Rezept folgen : Anthroposophie vermengt mit Zen-Buddhismus, dazu ein kräftiger Schuß Nietzsche und eine Prise Marx – fertig wäre das »Endesche Denken«, welches der findige Interpret, gestützt auf jeweils passende Zitate, wohl ohne größere Schwierigkeiten in seinem Werk aufzuspüren vermöchte. Allein : Was würde dies mehr bedeuten als eine (weitere) literaturwissenschaftliche »Nacherzählung« dieses Werkes inklusive eines Aufweises seiner philosophischen bzw. weltanschaulichen Quellen ? Eine Untersuchung, die das eigenständige philosophische Denken Endes zum Thema hat, muß andere Wege einschlagen. Es soll deshalb versucht werden, dieses Denken grundsätzlich und primär aus dem Werk heraus zu erschließen, wobei es die sattsam bekannten philosophischen Quellen Endes methodisch vorläufig auszublenden gilt. Nur so besteht berechtigte Hoffnung, daß sich uns das Denken Michael Endes letztlich als ein Ganzes zeigt, das mehr bzw. anderes ist als die bloße Summe verschiedenster »Einflüsse«. Andererseits wäre es natürlich mehr als absurd, würde die vorliegende Arbeit zweieinhalb Jahrtausende Philosophiegeschichte ignorieren  – etwa indem wir uns mit Endes Kapitalismuskritik in einer Weise beschäftigen, als habe es weder Marx noch den Marxismus jemals gegeben. Wenn aber im Laufe dieser Untersuchung verschiedene Denker bzw. philosophische Traditionen auf das Ende­sche Denken bezogen werden, so soll dies in erster Linie dazu dienen, das Eigene in diesem Denken um so deutlicher herauszustellen. Wir wollen also z. B. nicht primär fragen, welche Elemente in Endes Kapitalismuskritik sich letztlich Marx verdanken, sondern im Gegenteil : Was macht Endes Denken in diesem Punkt einzigartig ? Wodurch zeichnet es sich hier aus, wenn wir es etwa – nahe­liegenderweise – mit dem Marxschen vergleichen ? Es liegt – wie schon das Beispiel zeigt – in der Natur der Sache, daß wir bei einem solchen vergleichenden Nachschreiten der Gedankenwege Endes mit hoher Wahrscheinlichkeit auf jene Denker treffen werEinleitung | 17

den, mit denen sich der Autor selbst intensiv auseinandergesetzt hat. Hier erst ist also der methodische Ort, um die philosophischen Quellen Endes in den Blick zu nehmen – freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern nur in dem Maße, wie dies inhaltlich gerechtfertigt erscheint. Was soll mit dieser Vorgehensweise letztlich erreicht werden ? Können wir tatsächlich hoffen, jenes »philosophische System Endes«, von dem etwa Friedhelm Mosers Büchlein in scherzhafter Weise spricht, 20 freizulegen ? Wohl kaum ; in einem nachgelassenen Manuskript Endes heißt es deutlich genug : Ich habe kein philosophisches System, das mir auf jede Frage eine Antwort bereithält, keine Weltanschauung, die fertig ist – ich bin immer unterwegs. Es gibt zwar einige Konstanten, die sozusagen im Zentrum stehen, aber nach den Rändern hin ist alles offen […]. (NG 304 f.)

Ob es wirklich, wie Ende hier impliziert, die Aufgabe eines philosophischen Systems sein kann, »auf jede Frage eine Antwort« bereitzuhalten, sei hier offengelassen. Evident ist jedenfalls, daß die vorliegende Arbeit der Versuchung, das Denken Endes in das Korsett eines solchen Systems zu zwängen, tunlichst widerstehen sollte. Genauso unangebracht wäre es natürlich andererseits, dieses Denken durch Analyse des Werkes als unsystematisch zu »entlarven« – als ob es etwa zur Aufgabe eines Künstlers gehörte, ein abgeschlossenes System im traditionellen philosophischen Sinne in der Hinterhand zu halten. Schieben wir hingegen diesen Anspruch beiseite und konzentrieren uns primär auf jene »Konstanten im Zentrum«, von denen Ende im Zitat spricht, so mag es durchaus sein, daß sich uns sein Denken letztlich, wenn auch als »nicht systematisch im traditionell-rationalistischen Sinn«,21 so doch als stringentes Ganzes erweist. Unsere ersten Fragen müssen also lauten : Welche sind – in Anbetracht seines Werkes – die mutmaßlichen Hauptthemen im philosophischen Denken Michael Endes ? Wo in diesem Werk finden wir sie in möglichst exemplarischer Weise vor ? Soviel sei hier vorausblickend gesagt, daß wir davon ausgehen können, in Endes Kapitalismuskritik einerseits und der Betonung des Schöpferischen im Menschen andererseits auf die Leitlinien seines Denkens zu stoßen ; und weiters, daß sich Endes Romane 18 | Grundlagen 

Momo und Die unendliche Geschichte als zentrale Werke für jeden erweisen werden, der diese Leitlinien nachzuschreiten versucht. Diese Thesen werden im Rahmen dieses Teils der Untersuchung noch ausführlich zu begründen sein ; vorläufig erlauben sie uns, die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wie folgt zu präzisieren : Ist es möglich, aus Michael Endes Romanen »Momo« und »Die unendliche Geschichte« ein eigenständiges, stringentes philosophisches Denken des Autors zu erschließen ? Falls nein, was hindert daran ? Falls ja, wodurch zeichnet sich dieses Denken aus ? 4. Quellen

Da sich die vorliegende Untersuchung auf Momo und Die unendliche Geschichte konzentriert, sollen andere Werke Endes nur in ihrem jeweiligen Kontext zu den beiden Romanen herangezogen werden.22 Prinzipiell wird zu Lebzeiten des Autors veröffentlichen Texten höherer Stellenwert eingeräumt als dem Nachlaß, da völlig unklar ist, wie Ende selbst die unzähligen erhaltenen Fragmente, Skizzen und Ideen im Einzelnen bewertete. Eine Ausnahme bildet das Romanfragment Der Niemandsgarten, das mit vollem Recht als »Missing Link« zwischen Momo und Unendlicher Geschichte bezeichnet werden kann.23 Die Aufzeichnungen von Podiumsdiskussionen und anderen Gesprächen, die der Autor im Laufe seines Lebens mit diversen Kunstschaffenden, aber auch Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens führte, stellen eine wichtige ergänzende Quelle für jeden dar, der Endes Denken aus den beiden Romanen zu erschließen versucht, 24 wobei natürlich der Unterschied zwischen Poesie und Argumentation (vgl. Abschnitt C.1) stets mitzubedenken bleibt. Dasselbe gilt für die zahlreichen erhaltenen Briefe Endes, der selbst am Höhepunkt seines internationalen Erfolges bemüht war, jede einzelne Zuschrift persönlich zu beantworten. Nicht berücksichtigt werden konnten hingegen – aus nachvollziehbaren Gründen – all jene Werke, die als Frucht von Endes Diskussionen mit japanischen Künstlern und Intellektuellen entstanden und bis heute nicht aus dem Japanischen übersetzt wurden.25 Es ist gut möglich, daß sich hier noch Aspekte verbergen, welche die Einleitung | 19

Ende-Forschung wesentlich bereichern würden. Generell wäre es hoch an der Zeit für eine Zusammenführung der deutsch- und japanischsprachigen Zweige des Diskurses um Ende – von welcher Seite auch immer. B. Biographische und textliche Grundlagen […] ich kann mir gut vorstellen, daß ein Buch wie die Unendliche Geschichte […], wenn es 20 Jahre früher erschienen wäre, kein Publikum gefunden hätte. Vorher war man sich sehr einig darüber in der gesamten Literaturszene, daß nur die […] realistische Literatur wirkliche Literatur ist. Es mußten also erst diese 20 Jahre vergehen und eine gewisse Übersättigung eintreten. Und in die hinein erschien plötzlich mein Buch und fand ein großes Publikum. Das war nicht berechnet und nicht beabsichtigt. Das ist mir halt widerfahren. – Michael Ende –

1. Biographische Andeutungen26

Michael Andreas Helmuth Ende wird am 12. November 1929 als einziges Kind des aus Hamburg stammenden surrealistischen Malers Edgar Ende und der Preziosenhändlerin Luise Ende (geb. Bartholomä) aus dem Saarland im bayerischen Garmisch-Partenkirchen geboren. Der sich abzeichnende Erfolg des Vaters erlaubt es der Familie schon 1931, in die damalige Kunsthauptstadt München zu übersiedeln. Doch Edgar Endes Aufstieg als Maler rätselhafter, visionärer und oft bedrückend intensiver Traumwelten wird 1933 von der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die sein Werk wie so vieles andere als »entartet« einstufen, jäh unterbrochen. Der Verhinderung von Ausstellungen und dem Ausbleiben jeglicher öffentlicher Aufträge folgt 1936 das endgültige Berufsverbot, das die Familie in eine ernsthafte materielle Krise stürzt. Im selben Jahr wird Michael Ende eingeschult, womit für das sensible und künstlerisch begabte Kind ein beinah zehnjähriger »Gefängnisaufenthalt«27 im autoritären Schulsystem des Dritten Reiches beginnt. 1944, als er im Zuge der sogenannten Kinderlandverschickung einige Zeit in seiner Heimatgemeinde Garmisch-Partenkirchen verbringt, erhält er als gerade 15jähriger den Stellungsbefehl. Er ignoriert ihn, 20 | Grundlagen 

schlägt sich zur Mutter nach München durch und schließt sich der Widerstandsbewegung »Freiheitsaktion Bayern« an, die ihn mit kleineren Botenaufträgen betraut. Dem erlösenden Kriegsende folgt bald auch die Befreiung aus dem schulischen Martyrium : Ende erhält die Möglichkeit, seine letzten beiden Schuljahre in der wiedereröffneten Freien Waldorf­ schule bei Stuttgart zu absolvieren (die Eltern stehen der anthroposophischen Bewegung nahe), wo er zum ersten Mal nachdrückliche Förderung seiner künstlerischen Begabungen erfährt (s. u.). Mit dem festen Vorsatz, Dramatiker zu werden, kehrt er 1948 nach München zurück. Ein Literaturstudium stellt sich indes als unfinanzierbar heraus, weshalb sich Ende für den »Umweg« über die Otto-Falckenberg-Schauspielschule, die ihm ein Stipendium gewährt, entscheidet. Die Jahre an der jungen und progressiven Schule, von Heinrich Sauer für damalige Verhältnisse geradezu antiautoritär geführt, erweisen sich in mancher Hinsicht als prägend für Endes spätere Entwicklung. Hier lernt er im Kreise seiner Mitschüler, von denen viele später bemerkenswerte Laufbahnen einschlagen, 28 jenes Theatermilieu kennen, zu dem er zeit seines Lebens intensive Beziehungen pflegt ; hier rezipiert er begeistert die Dramen und Theorien des großen Brecht, die ihm in der Folge sowohl Segen als auch Fluch werden. Denn jene von Brecht inspirierten dramatischen Versuche, die Ende während und nach dem Abschluß seiner Ausbildung verfaßt  – von der Komödie Sultan hoch zwei (1950) bis zum absurden Drama Die Häßlichen (1955) – scheitern allesamt kläglich und gelangen nie zur Aufführung. Es will und will ihm nicht gelingen, die Vorgaben seines Idols (dem er zu jener Zeit sogar in der äußeren Erscheinung nacheifert) 29 in adäquate künstlerische Formen zu gießen. Als Reaktion vertieft er sich nur noch mehr in Brechts theoretische Schriften wie etwa Das kleine Organon, bis deren ideologische Last sein eigenes Schaffen praktisch zum Erliegen bringt. Endes einziger Lichtblick in jener krisenhaften Zeit ist persönlicher Natur : In der Silvesternacht 1952 lernt er seine spätere Frau Ingeborg Hoffmann kennen, eine engagierte und erfolgreiche, wenn auch bei Regisseuren und Kollegen ob ihrer Direktheit in zwischenmenschlichen und Kompromißlosigkeit in künstlerischen Belangen gefürchtete Schauspielerin. Sie ist es auch, die Ende 1954 zum Bayerischen Rundfunk Biographische und textliche Grundlagen | 21

vermittelt, wo er vor allem als Filmkritiker arbeitet. Leben kann er davon kaum : »Meine finanziellen Umstände waren so finster, daß ich meine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Ich mußte von einem halben Liter Milch und ein paar Semmeln leben. Mir ging es hundsmiserabel […].«30 Künstlerische und materielle Krise lösen sich indes mit einem Schlag. Im Jahr 1956 trifft Ende einen befreundeten Grafiker, der ihn bittet, einen »kurzen Text für ein Bilderbuch«31 zu verfassen. Ohne den geringsten Handlungsentwurf beginnt er die Arbeit mit den berühmt gewordenen Worten : »Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein.«32 Durch absichtsloses Voranschreiten von Satz zu Satz, in bewußter Abkehr von jeder poetologischen Doktrin, entsteht aus diesem Anfang nach und nach die wundersame Welt von Lukas und seinem kleinen Freund Jim Knopf, der seine wahre Heimat finden muß. Als Ende das Manuskript nach zehn Monaten abschließt, ist aus dem kurzen Bilderbuchtext ein über 500seitiger Roman geworden, der schließlich in zwei Bänden (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13) 1960/62 im Stuttgarter Thienemann Verlag erscheint. Schon der erste Teil wird ein überwältigender Erfolg und noch im Jahr seines Erscheinens mit dem Deutschen Jugendbuchpreis prämiert  – sehr zur Verwunderung des Autors : »Ich hatte, ehrlich gesagt, noch nicht einmal eine Ahnung, daß solche Preise überhaupt existieren […].«33 Sein Durchbruch als Künstler entledigt Ende auch aller materiellen Sorgen – bis zur Katastrophe um die Verfilmung der Unendlichen Geschichte (s. u.). Schnell allerdings zeigen sich auch die Schattenseiten des Erfolges. In der deutschen Literaturszene tobt gerade die sogenannte Eskapismus-Debatte, in die Ende ganz gegen seinen Willen hineingezogen wird. Ausgerechnet er, der sich gerade erst von den didaktischen Fesseln der Brechtschen Kunsttheorie zu befreien beginnt und dessen gesamtes Werk in geradezu exemplarischer Weise sozialkritisch ist, sieht sich plötzlich als typischer Verfasser von »Fluchtliteratur« gebrandmarkt, die den Blick auf die ökonomischpolitisch-soziale »Realität« verstelle. 1970 hat Ende es schließlich satt, sich ständig für seine Art des Schreibens rechtfertigen zu müssen, und zieht mit seiner Frau nach Genzano bei Rom, wo er 1973 den noch in Deutschland begonnenen Märchenroman Momo voll22 | Grundlagen 

endet. Obwohl in Aufbau und erzählerischer Brillanz dem späteren Welterfolg Die unendliche Geschichte durchaus ebenbürtig, findet Momo ursprünglich wenig Resonanz. Erst nach der Prämierung mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974 beginnen sich die Leser langsam für Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte (so der Untertitel) zu interessieren. Zwischen und neben seinen Romanen verfaßt Ende ungeachtet seiner Selbsteinschätzung als »schrecklich faul« (NG 299) zahlreiche Gedichte und kurze Erzählungen, vor allem aber Dramen, darunter das jahrelang kaum beachtete, später jedoch viel gespielte Gauklermärchen. 1977 ermutigt ihn sein Verleger Hansjörg Weitbrecht, sich wieder einmal an einen Roman zu wagen, und läßt sich diverse Ideen aus Endes »Zettelkasten« vortragen. Bei einer kurzen Notiz über einen Jungen, der beim Lesen eines Buches buchstäblich in die Geschichte hineingerät, horcht er auf : »Du solltest das machen« (NG 300). Zögernd willigt Ende ein, meint aber, dieser Plot reiche maximal für ein Büchlein von hundert Seiten. Er irrt sich : Aus seiner Idee entsteht Weltliteratur. Als Die unendliche Geschichte im Herbst 1979 in einer Auflage von nur 20.000 Exemplaren erscheint, ist Ende der Stoff unter den Händen zu einem hochkomplexen Roman mit kunstvoll ineinander verschachtelter innerer und äußerer Handlung gewachsen, der gleichzeitig durch die Unmittelbarkeit und Vitalität seiner Bilder besticht. Die Vorsicht des Verlags, der eine Überforderung der Leserschaft befürchtet, erweist sich bald als völlig unbegründet : Nicht nur wird der Roman mit Preisen regelrecht überhäuft, auch die Verkaufszahlen steigen rasch in schwindelerregende Höhen. Übersetzungen in alle Weltsprachen und damit der internationale Durchbruch lassen nicht lange auf sich warten. Auch Momo wird nun in zahlreiche Sprachen übersetzt, wobei sich vor allem die Übertragung ins Japanische als folgenreich erweist : Die massiv von Phänomenen der Entwurzelung bedrohte japanische Gesellschaft saugt das kapitalismuskritische Märchen Endes geradezu auf. Auf diesem Höhepunkt des Erfolges tritt der Produzent Dieter Geissler mit dem Projekt einer Verfilmung der Unendlichen Geschichte an den Autor heran. Nach langem Zögern willigt Ende unter der Bedingung ein, daß die künstlerische Botschaft seines Romans gewahrt bleiben müsse. Geissler indes wählt – ohne Ende davon in Kenntnis Biographische und textliche Grundlagen | 23

zu setzen – die Neue Constantin von Bernd Eichinger (Das Boot) als Partner, der Die unendliche Geschichte rücksichtslos zu einem sinnfreien Actionspektakel Hollywoodscher Prägung pervertiert. Als der Autor dies zu spät bemerkt und die Notbremse ziehen will, droht ihm Eichinger wütend mit einer Schadenersatzklage in Millionenhöhe. Ende kann schließlich den (kommerziell sehr erfolgreichen) Film The Neverending Story, dessen Handlung aus Marketinggründen in eine amerikanischen Großstadt verlegt worden ist, nicht verhindern : Ein Prozess, den er gegen die Produktionsfirma anstrengt und der ihn an den Rand des finanziellen Ruins bringt, geht verloren. Daß das Gericht dabei sinngemäß feststellt, die erwiesenermaßen grobe Verzerrung von Endes Roman sei nicht weiter relevant, da dieser sich vorwiegend an jugendliches Publikum wende, muß Ende, der sich sein Leben lang gegen die Stigmatisierung als »Kinderbuchautor«, ja gegen die Einteilung von Literatur in »hochwertige« Erwachsenen- und »unterhaltende« Kinderliteratur als solche wehrt, als besondere Verhöhnung empfinden.34 Seine schwerste Prüfung steht ihm indes noch bevor : Seine energische Frau Ingeborg, die sich bis zuletzt mit ganzer Kraft gegen The Neverending Story gestemmt hat, stirbt, unmittelbar nachdem sie den Film in einem italienischen Kino gesehen hat, völlig unerwartet an einer Lungenembolie. Erschüttert bricht Ende die Zelte in Italien ab und kehrt nach München zurück, wo er erfährt, daß er durch betrügerische Machenschaften seines Steuerberaters vor dem endgültigen Bankrott steht. Er sieht sich gezwungen, nicht nur Möbel und Bilder seines Vaters, sondern auch die Zeichentrickfilmrechte zu Jim Knopf, Momo und Die unendliche Geschichte zu verkaufen. Halt findet der unermüdliche Ende, der 1983 inmitten des zeitund kraftraubenden Streits um The Neverending Story einen anspruchsvollen, bemerkenswert düsteren Erzählband mit dem Titel Der Spiegel im Spiegel vorgelegt hat, in neuen Projekten. Gemeinsam mit dem befreundeten Komponisten Wilfried Hiller verfaßt er mehrere Opern und Singspiele, wie das bis heute gern gespielte Traumfresserchen oder Der Rattenfänger, eine Auftragsarbeit des Theaters Dortmund – wobei Ende den weltbekannten Sagenstoff unvermutet zu einem »Aufschrei gegen das materialistische Denken« (Hocke/Neumahr)35 umgestaltet, was speziell bei den irritierten Einwohnern Hamelns auf wenig Begeisterung stößt. Als 24 | Grundlagen 

wichtigstes »Alterswerk« Endes gilt indes – zu Recht – sein Roman Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1989), sein zweifellos humorvollstes Werk, hinter dessen leichtfüßiger Ironie sich jedoch unschwer schärfste Zivilisationskritik erkennen läßt. Die Mischung aus Tierfabel und Schauerroman, die Themen wie Umweltzerstörung oder Geldgier Erwachsenen wie Kindern unmittelbar zugänglich macht, wird zu einem seiner meistgelesenen Bücher, dessen Theaterfassung unter der Intendanz von Endes Jugendfreundin Ruth Drexel mit großem Erfolg am Münchner Volkstheater aufgeführt. In jene Zeit fällt auch die Heirat Endes mit Mariko Sato, der japanischen Übersetzerin seiner Werke, mit der ihm indes nur noch sechs Jahre seines Lebens vergönnt sind. Seit 1992 verschlechtert sich seine Gesundheit zusehends ; im Juni 1994 erfährt er, daß er an Magenkrebs erkrankt ist. Operationen und Chemotherapien bleiben ohne Erfolg. Am 28. August 1995 stirbt Michael Ende in der Filderklinik bei Stuttgart und wird am 1. September im kleinen Kreis auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt. Über den Trauergästen ertönt ein Chor aus Endes einzigem in bairischer Mundart verfaßtem Werk, der Oper Der Goggolori : »Unsa Lem is zkurz und gar boid kummt da Dod, und is deangaschd [dennoch] a himm­ lische Gnadn.« 2. Exkurs : Über die Anthroposophie und Endes Verhältnis zu ihr

Wenn auch, wie oben betont, diese Arbeit keine Untersuchung der philosophischen und weltanschaulichen Quellen für Endes Werk sein kann und will, so wäre es doch methodisch zumindest fragwürdig, Endes Verhältnis zur Anthroposophie Rudolf Steiners völlig auszublenden. Neben der Prägung durch die Eltern ließen ihn wohl vor allem seine beiden letzten Schuljahre an der Freien Waldorfschule Stuttgart 1945 – 47, die er nach dem Martyrium des autoritären nationalsozialistischen Schulsystems als wahre Befreiung empfand (s. o.), der Person und den Ideen Steiners zeitlebens aufgeschlossen gegenüberstehen. Obgleich es keinen Beleg dafür gibt, daß Ende jemals Mitglied der Deutschen Anthroposophischen Gesellschaft gewesen wäre, bleibt doch als Tatsache bestehen, daß Biographische und textliche Grundlagen | 25

er in Podiumsdiskussionen und anderen Gesprächen wiederholt und dezidiert Positionen Steiners als die eigenen vertrat.36 Dies in Verbindung mit dem durchaus zweifelhaften Ruf, den Steiners Lehren (nicht nur) in akademischen Kreisen genießen, läßt es geraten erscheinen, die Anthroposophie als solche sowie Endes Verhältnis zu ihr genauer zu durchleuchten.37 Unter »Anthroposophie« versteht man jene spirituelle Weltanschauung, die auf die Lehren des Österreichers Rudolf Steiner (1861 – 1925) zurückgeht und deren Impulse bis heute in vielfältiger Weise, etwa in den Bereichen der Landwirtschaft (Demeterbund), der Pädagogik (Waldorfschulen) oder des Finanzwesens (Gemeinschaftsbanken), fortwirken. Obwohl Steiner als promovierter Philosoph in logisch-begrifflichem Denken durchaus geschult war (Dissertation : »Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre«, Rostock 1891), überschreitet vieles an seiner Lehre die Grenzen des rational Begründbaren. Tatsächlich rücken die Berufung auf »okkulte Erkenntnisse« sowie die Tendenz zur Ausbildung sogenannter »Geheimlehren« wesentliche Teile der Anthroposophie in die Nähe dessen, was heute gemeinhin als »Esoterik« bezeichnet wird. Auch der ausgeprägte weltanschauliche Eklektizismus Steiners, der u. a. Elemente des Deutschen Idealismus, der erfahrungswissenschaftlichen Methodik, der christlichen Mystik und der hinduistischen Reinkarnationslehre in sein Denken integrierte, kann als typisches Merkmal »esoterischer« Systeme und Bewegungen gelten.38 Bei all dem Synkretismus verwundert es auch nicht, daß sich Steiners zugrundeliegendes, nach Eigendefinition »christliches« Menschenbild stark an Friedrich Nietzsche orientiert, über den er eine vielgelesene Monographie verfaßte (Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit ; 1895) und dessen Konzeption des »Willens zur Macht« als Wesenskern des Menschen im Ansatz Steiners deutlichen Widerhall findet (vgl. auch Teil III dieser Untersuchung). Die daraus resultierende Betonung des Individuell-Schöpferischen, die freilich innerhalb des Steinerschen Denkens in einem latenten Spannungsverhältnis zur Idee »geschauter« oder »geoffenbarter« Wahrheiten steht, grenzt die Anthroposophie von zahlreichen anderen, meist kurzlebigen »spirituellen« Bewegungen des Fin de siècle ab und macht sie bis heute nicht zuletzt für Künstler und 26 | Grundlagen 

Kunsttheoretiker attraktiv, die einen weit überproportionalen Teil ihrer Anhängerschaft bilden. Neben Michael Ende waren etwa die Schriftsteller Christian Morgenstern, Saul Bellow und Andrej Bely, die bildenden Künstler Joseph Beuys und Wassily Kandinsky oder die Komponisten Viktor Ullmann und Bruno Walter in unterschiedlichem Maße von den Ideen Steiners beeinflußt. Eine Analyse der bis heute äußerst kontroversiell diskutierten Lehren Steiners39 ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich nicht möglich. Unumgänglich erscheint es hingegen, Endes Verhältnis zur Anthroposophie zumindest in vorläufiger Weise zu klären, nicht zuletzt, da ein begründeter Verdacht, Endes Denken würde letztlich in »okkulten Lehren« fußen, die vorliegende Untersuchung zu einem äußerst zweifelhaften Unternehmen machen würde. Zwei Fragen mögen hierbei hilfreich sein. Erstens : Welche Elemente und Motive in Endes Werk lassen sich – direkt oder indirekt – auf den Einfluß Steiners zurückführen ? Zweitens : Inwieweit war, unabhängig davon, Endes Weltbild anthroposophisch geprägt ? Vorneweg : Direkte Anleihen bei Steiner sind in Endes Werk so gut wie nicht zu finden. Die zweimalige beiläufige Erwähnung des anthroposophischen Grundbegriffes Astralleib (bei Ende : »Sternenleib«, s. Niemandsgarten 136 bzw. 273) in Skizzen, die wahrscheinlich nie zur Veröffentlichung gedacht waren, ist fast schon alles, was die Recherche zu Tage zu fördern vermag. Eventuell könnte man noch die »Elementargeister« aus dem Wunschpunsch (25 sowie 193 ff.) mit den gleichnamigen Wesen der Steinerschen Mythologie identifizieren oder die Reinkarnationsphantasie des alten Beppo in Momo (39 f.) mit der Anthroposophie in Verbindung bringen – aber hier befinden wir uns bereits auf schwankendem Boden. (Zum Vergleich : Allein in Momo findet etwa Sôiku Shigematsu Dutzende Bezüge zum Zen-Buddhismus, mit dem sich Ende zur Zeit der Niederschrift intensiv befaßte.)40 Daraus zu schließen, die Anthroposophie habe in Endes Denken kaum eine Rolle gespielt, wäre indes voreilig. Eher ist hier an Endes Arbeitsweise zu denken, die auf die Schaffung kraftvoller, vorstell- und damit erfahrbarer Bilder abzielte.41 Da sich aber die Kernbegriffe des Steinerschen Okkultismus wie etwa »Ätherleib«, »Astralleib« oder »Karma« dieser unmittelbaren Bildlichkeit weitgehend entzieBiographische und textliche Grundlagen | 27

hen, waren sie für Endes spezifische »Poetologie« offenbar schlicht unbrauchbar.42 Wenn also direkte Anleihen aus der Anthroposophie in Endes Werk nicht oder in nur ganz unwesentlichem Ausmaß anzutreffen sind, wäre weiters zu fragen, inwieweit die großen Themen, die sein Werk nach der Grundthese der vorliegenden Arbeit durchziehen, von den Lehren Steiners inspiriert oder angeregt wurden, ob sich also Endes Kritik des Kapitalismus oder die Betonung des Schöpferischen im Menschen in irgendeiner Weise auf eine anthroposophische Prägung zurückführen lassen. Indes ist erstere keineswegs ein zentrales Thema Steiners. Ansätze dazu sind am ehesten noch in der durch die »Vergöttlichung« der Natur (deren Begriff bei Steiner allerdings völlig unklar bleibt) bedingten Absage an »entnatürlichte« Lebens- und Produktionsformen zu finden – nicht umsonst brachte die anthroposophische Bewegung die ersten Ansätze bewußt ökologischer Landwirtschaft mit sich. 43 Die antikapitalistische Zielrichtung der Anthroposophie, wenn es eine solche denn gibt, ist also durch den Imperativ »Zurück zur Natur« geprägt – der in den Werken Endes, dessen »Helden« fast durchwegs Städter sind, keinen nennenswerten Widerhall findet. Daß er sich, wie etwa im Wunschpunsch, oft in pronouncierter Weise gegen den ökologischen Raubbau durch kapitalistische Gesellschaften wendet, kann man wohl kaum seiner anthroposophischen Prägung zuschreiben. Wer also nach biographischen Grundlagen für Endes Kapitalismuskritik sucht, wird zweifellos weit eher bei Bertolt Brecht als bei Rudolf Steiner fündig. Anders verhält es sich mit jener Betonung, ja Beschwörung des Schöpferischen im Menschen, die sich wie ein Refrain durch das Endesche Schaffen zieht und die  – so die oben in Abschnitt A.3 geäußerten Thesen zutreffen – einen der Eckpfeiler seines Denkens bildet. Nicht nur finden wir hier ein zentrales Motiv der Anthroposophie wieder, es läßt sich auch unschwer biographisch verorten : Neben der generellen Prägung durch jenes Künstlermilieu, in dem Ende aufwuchs und in dem er sich zeit seines Lebens heimisch fühlte, waren es zweifellos die Jahre an der Waldorfschule Stuttgart, die ihm die Bedeutung menschlicher Schaffenskraft vor Augen führten. Tatsächlich zählt es zu den wichtigsten Prinzipien der Waldorfpädagogik, die Schüler nicht nur theoretisch zu bilden, 28 | Grundlagen 

sondern zu eigenständigem kreativem Handeln zu ermutigen.44 Da jedoch Steiner jene Wertschätzung des Schöpferischen im Grunde Friedrich Nietzsche verdankt (s.o.), so scheint es, als habe Ende in seinem Werk vor allem jene Teile des Steinerschen Denkens verarbeitet, die eigentlich auf Nietzsche zurückgehen. Hiermit wird sich die vorliegende Untersuchung noch zu beschäftigen haben. Es bleibt zu fragen, inwieweit, ganz unabhängig von seinem Werk, Endes Weltbild von der Anthroposophie und vergleichbaren »okkulten Systemen« (Kowatsch) geprägt war. Roman Hocke, der dem Autor nicht nur als Lektor, sondern auch als persönlicher Freund nahestand, meint hierzu : [ Michael Ende ] hatte in der Tat ein magisch-mystisches Weltbild. Es war ein Amalgan aus den verschiedensten Denkrichtungen und Religionen – von der Mystik Jakob Böhmes, der Anthroposophie, dem Zen-Buddhismus, der christlichen Theologie bis hin zu Spiri­ tismus und Kabbala. Wie in seinen Theaterstücken, in denen er sich häufig verschiedener Genres bediente, war Michael Ende auch in geistigen Belangen ein Synkretist, der sich aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien. Nie aber war er der Jünger eines Meisters.45

»Okkulte Wahrheiten« waren Ende also keineswegs fremd. Ob nun jenes »magisch-mystische Weltbild« Ende für die Anthroposophie offen machte oder doch eher umgekehrt, wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht zu klären sein. Eine andere Frage drängt sich hingegen auf : Müssen wir nicht annehmen, dem »Denkwebel« Ende (Rainer Lübbren)46 sei sein geistiger Synkretismus selbst durchaus bewußt gewesen ? Daß sich der Autor, wie Hocke deutlich genug meint, »in geistigen Belangen […] aus dem Bestehenden heraussuchte, was ihm das Beste erschien«, läßt sich mit der Idee unmittelbar »geschauter« Wahrheiten im Sinne Steiners jedenfalls kaum vereinbaren. Ist es nicht viel wahrschein­ licher, daß Ende den einzelnen Komponenten seines »magischen« Weltbildes gerade deshalb Wirklichkeit zugestand, weil sie ihm eben keine »Offenbarungen von oben«, sondern ausgewählte Produkte der menschlichen schöpferischen Kraft waren ? Biographische und textliche Grundlagen | 29

3. Kurze Inhaltsangabe der Romane »Momo« und »Die unendliche Geschichte«

Momo In der Ruine eines Amphitheaters am Rande einer südlichen Großstadt taucht plötzlich ein etwa zehnjähriges Mädchen auf, das sich dort häuslich niederläßt. Auf die Fragen der besorgten Bewohner des Viertels hin stellt sich heraus, daß es aus einer Art »Heim« ausgerissen ist, wo man es geschlagen, aber weder lesen noch schreiben noch rechnen gelehrt hat, sodaß es nicht einmal sein eigenes Alter kennt (»Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da« (MO 13)). Selbst seinen Namen, Momo, hat es sich selbst gegeben. Ihre Nachbarn beschließen, sich gemeinsam um Momo zu kümmern, und freunden sich mehr und mehr mit dem stillen, schüchternen Kind an. Dabei zeigt sich, daß es eine scheinbar alltägliche, tatsächlich aber beinah magische Fähigkeit besitzt : Momo kann zuhören wie niemand andrer. »[…] sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, daß sie in ihm steckten.« (17) Aber die intakte Gemeinschaft, in der Momo nun lebt, ist wie die ganze Stadt einer schleichenden, fast unsichtbaren Bedrohung ausgesetzt. Überall tauchen namen- und gesichtslose graue Herren auf, die sich als »Agenten« einer »Zeit-Spar-Kasse« ausgeben und immer mehr Menschen überreden, Zeit zu sparen, indem sie die Angst ihrer Zielpersonen vor dem Tod ebenso geschickt ausnutzen wie deren diffusen Wunsch nach einem besseren Leben. Am Beispiel des kleinen Friseurs Fusi zeigen sich die drastischen Folgen ihrer Kampagne : Er entsagt allen »nutzlosen Dingen« (64), verzichtet auf Gespräche mit seinen Kunden, läßt seine sozialen Kontakte verkümmern und schiebt sogar seine betagte Mutter ins Altersheim ab  – alles, um »Zeit zu sparen« und so die Möglichkeit zu haben, irgendwann »das richtige Leben zu führen« (62). Dieses will und will sich indes nicht einstellen. Im Gegenteil : Das grassierende Zeitsparen führt gerade dazu, daß immer mehr Menschen immer weniger Zeit und damit Lebensfreude bleibt – was aber wiederum 30 | Grundlagen 

die betrogenen Zeitsparer erst recht in ihrem hektischen und verzweifelten Tun antreibt. Schließlich wandelt sich auch das Antlitz der Stadt selbst, die in atemberaubendem Tempo in eine funktionale Wüste völlig gleichförmiger Betonblocks umgestaltet wird. Allein die kleine Momo bleibt von dem allgemeinen Zeit- und Lebensverlust unberührt. Ihr, die ihre Zeit freigiebig an ihre Freunde verschenkt, ist das Prinzip des »Zeitsparens« völlig fremd, was sie gegen die Methoden der Grauen Herren immun macht. Trotz oder gerade wegen ihrer Passivität wird Momo so zum Zentrum jener, die sich der rasant fortschreitenden Funktionalisierung aller Lebensbereiche noch widersetzen. Als schließlich einer der »Agenten«, der sie mit teurem Spielzeug zu bestechen versucht, dem konsequenten Zuhören Momos unterliegt und das Geheimnis der »Zeit-Spar-Kasse« preisgibt (»alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren … Wir reißen sie an uns … uns hungert danach …« (99)), beschließen die Grauen Herren, sich des Mädchens zu bemächtigen. Da wird Momo Hilfe von unerwarteter Seite zuteil. Gerade rechtzeitig taucht eine Schildkröte namens Kassiopeia auf, rettet das Kind vor dem Zugriff der Grauen Herren und führt es langsam, aber zielstrebig durch einen seltsamen Stadtteil »aus dem Bereich der Zeit« (139) hinaus in die »Niemals-Gasse« zum »Nirgend-Haus« des geheimnisvollen Meister Hora. Hora, der einmal als Greis, einmal als Kind erscheint, nimmt Momo freundlich auf und gibt sich ihr als »Verwalter« aller menschlichen Zeit zu erkennen. Er klärt das Mädchen über das paradoxe Wesen der Grauen Herren auf (»In Wirklichkeit sind sie nichts« (155)), die sich von gestohlener menschlicher Zeit nähren. Um Momo gegen sie zu wappnen, führt er sie dorthin, »wo die Zeit herkommt« (162). Das Mädchen findet sich in einer gewaltigen goldenen Kuppel wieder, wo ein geheimnisvolles Pendel aus Licht eine Blume von vollkommener Schönheit nach der nächsten zum Er- und Verblühen bringt. Es sind die Stunden-Blumen der menschlichen Zeit. Nach und nach nimmt Momo im Klang des Pendels die verschiedenen »Stimmen« der Dinge wahr, die sich in Harmonie ineinanderfügen. Sie begreift, daß alle Kräfte des Universums, »bis hinaus zu den fernsten Sternen«, zusammenspielen müssen, um eine einzige der Stunden-Blumen hervorzubringen. »Und es überkam sie etwas, das größer war als Biographische und textliche Grundlagen | 31

Angst« (166). Zurück im Nirgends-Haus offenbart ihr Hora, daß sie in ihrem eigenen Herzen war. Als sie ihn bittet, ihren Freunden von der Musik der Sterne erzählen zu dürfen, versetzt er sie in einen tiefen Schlaf, »bis die Worte in dir gewachsen sein werden« (168). Erst viel später erwacht sie in ihrer Wohnstatt im Amphitheater. Aber während Momo »Jahr und Tag« (190) geschlafen hat, hat sich ihre Welt verändert. Die Umwandlung der Stadt in eine perfekt funktionierende Maschinerie ist weitgehend abgeschlossen ; alle früheren Freunde sind entweder kraftlos in ihr gefangen oder durch Erfolg und scheinbare Macht korrumpiert. Momo leidet unter bitterer Einsamkeit und empfindet ihren Reichtum an Zeit nun, da sie ihn mit niemandem teilen kann, zum ersten Mal als drückende Last. Darauf haben die Grauen Herren nur gewartet. Sie versuchen das Mädchen mit dem Versprechen zu ködern, seinen Freunden alle Zeit zurückzugeben, wenn es sie nur den Weg zu Meister Hora führe. Sie wollen aufs Ganze gehen und sich der Zeit aller Menschen auf einen Schlag bemächtigen. Momo jedoch weist sie ab, zumal sie auch den Weg selbst nicht kennt. Als sie aber wenig später zum zweiten Mal von der Schildkröte Kassiopeia in die Niemals-Gasse geführt wird, gelingt es den Grauen Herren, den beiden unbemerkt zu folgen und das Nirgends-Haus, in das sie selbst nicht eindringen können, zu belagern. Mit dem Rauch ihrer Zigarren, ohne die sie keine Sekunde existieren können und deren Tabak aus ihren Besitzern entrissenen Stunden-Blumen besteht, wollen sie die von Hora ausgesandte Zeit vergiften und so alle Menschen mit einer Krankheit namens »die tödliche Langeweile« (244) infizieren. In dieser dramatischen Situation entschließen sich die Belagerten zu einem verzweifelten Schritt. Hora, der stets wach bleiben muß, um die Zuteilung der Zeit nicht zu unterbrechen, schläft ein und läßt die Welt dadurch erstarren. Ausgenommen sind nur Momo, die eine ihrer Stunden-Blumen (»eine einzige, weil ja immer nur eine blüht« (245)) und damit eine Stunde Zeit erhält, Kassiopeia, die »ihre eigene kleine Zeit in sich selbst [trägt]« (247) – und die Grauen Herren, deren Zeitnachschub allerdings schlagartig zusammenbricht. Als sie daraufhin in Panik zu den »Zeitvorräten« im Tresorraum ihrer unterirdischen Zentrale streben, werden sie unmerklich von dem Mädchen und der Schildkröte zum Versteck der 32 | Grundlagen 

gestohlenen Stunden-Blumen verfolgt. Durch eine Berührung mit ihrer Stunden-Blume gelingt es Momo, die Tür des Tresorraums zu schließen, worauf sich die Grauen Herren, deren Zigarrenvorrat zur Neige geht, einer nach dem anderen in nichts auflösen. Als der letzte verschwunden ist, öffnet Momo die Tür wieder und befreit damit die Zeit der Menschen, die die Welt aus ihrer Erstarrung löst und in einem gewaltigen Sturm zu ihren Besitzern zurückkehrt. Die u nendliche Geschichte In das verschlafene Antiquariat Koreander stolpert eines Novembermorgens ein regennasser zehn- oder elfjähriger Junge namens Bastian Balthasar Bux. Er befindet sich auf der Flucht vor seinen Schulkameraden, gegen deren bösartige Streiche er sich nicht zu wehren wagt. Auch sonst ist Bastian, wie Herr Koreander bald abschätzig feststellt, »ein Versager auf der ganzen Linie« (UG 9) : Er ist dick, unsportlich und ein miserabler Schüler. Aber wie die kleine Momo jenes des Zuhörens, besitzt auch er ein ebenso verborgenes wie wunderbares Talent : Er ist ein begnadeter Träumer. »[V]ielleicht war es das einzige, was er wirklich konnte : sich etwas vorstellen, so deutlich, daß er es fast sah und hörte. Wenn er sich selbst seine Geschichten erzählte, dann vergaß er manchmal alles um sich herum« (26). So ist es nicht verwunderlich, daß er sich magisch von einem Buch namens Die unendliche Geschichte mit »Einband aus kupferfarbener Seide« und »wunderschöne[n] große[n] Anfangsbuchstaben«47 angezogen fühlt, das der beschäftigte Koreander einige Augenblicke zur Seite gelegt hat. Kurz entschlossen nimmt er es an sich und läuft davon. Als ihm schlagartig klar wird, daß er gestohlen hat, wagt er sich nicht mehr zu seinem Vater nach Hause, sondern schleicht sich auf den Dachboden seiner Schule, wo er, auf einem Mattenlager sitzend, Die unendliche Geschichte zu lesen beginnt. Zu seiner Freude stellt er fest, daß sie ihn – »genau […] wie seine eigenen Geschichten« (26) – in eine bunte, lebendige Welt voller fabelhafter, komischer und schauriger Figuren entführt : das weite, ja unendliche Reich Phantásien. Aber diese Welt ist in schrecklicher Gefahr : Sie löst sich langsam, aber stetig buchstäblich in Nichts auf (»anfangs [war es] nur ganz klein, ein Nichts, so groß wie ein Biographische und textliche Grundlagen | 33

Sumpfhuhn-Ei […]. Niemand von uns konnte sich erklären, was diese schreckliche Sache sein sollte, […] [die] sich immer mehr ausbreitete« (24)), eine Katastrophe, die ganz offenbar in Zusammenhang steht mit der unerklärlichen Krankheit der Kindlichen Kaiserin – des mystischen Zentrums von ganz Phantásien. Mit dem geheimnisvollen Amulett AURYN48 als Zeichen ihrer Macht versehen, wird die »Grünhaut« Atréju (der an einen Indianerjungen erinnert) auf die »Große Suche« (43) nach einem Heilmittel durch die vielgestaltigen Länder Phantásiens geschickt. Atréju erweist sich dabei als ausdauernd, tapfer und mutig und besitzt somit gerade jene Eigenschaften, die Bastian völlig fehlen. Doch als ihn sein Weg durch einen Zauberspiegel führt, der jedem »sein wahres inneres Wesen« (95) zeigt, widerfährt ihm etwas sehr Seltsames : Atréju erblickt »einen dicken Jungen mit blassem Gesicht – etwa ebenso alt wie er selbst – der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Mattenlager saß und in einem Buch las« (99). Bastian erschrickt gewaltig, versucht das Ganze jedoch als »Zufall« abzutun und verfolgt gebannt die weitere Große Suche. Von einem Orakel erfährt Atréju (und Bastian), daß nur ein »Menschenkind«, das sich entschließt, nach Phantásien zu kommen und der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen zu geben, ihren Tod und damit die völlige Vernichtung des Reiches abwenden kann. Dies jedoch ist seit undenkbaren Zeiten nicht mehr geschehen, da die Menschen, sehr zum Schaden auch ihrer eigenen Welt, den Weg nach Phantásien offenbar vergessen haben. Als die Grünhaut mit dieser dramatischen Botschaft zur Kindlichen Kaiserin zurückkehrt, geschieht etwas, das Bastian endgültig die Augen öffnet. Für einen kurzen, magischen Moment erblickt er die Kaiserin leibhaftig vor sich und weiß sofort : »Mondenkind. Es gab überhaupt nicht den geringsten Zweifel, daß dies ihr Name war« (161). Die Kindliche Kaiserin lobt Atréju dafür, daß er »unseren Retter« (166) mitgebracht habe, was jener nicht, Bastian aber nur zu gut versteht : Er und niemand anders kann dieser Retter sein. Dennoch wagt er nicht, der Aufforderung Mondenkinds nachzukommen, »mich bei meinem neuen Namen zu rufen, den nur er weiß« (170). Gequält muß er lesen, wie die Kaiserin lange vergeblich auf ihn wartet und schließlich ihren Palast verläßt, um als letztes Mittel den Alten vom Wandernden Berge aufzusuchen. Ihre Entschlossenheit verheißt Bastian nichts Gutes. 34 | Grundlagen 

Wer aber ist der Alte vom Wandernden Berge ? Er erweist sich als der Chronist Phantásiens, der alle Geschehnisse in seinem »in kupferfarbene Seide gebunden[en]«49 Buch vermerkt. Dessen Titel lautet – sehr zu Bastians Verblüffung – Die unendliche Geschichte. »[…] kein Zweifel, es war das Buch, das er in der Hand hatte, von dem da die Rede war. Aber wie konnte dieses Buch denn in sich selbst vorkommen ?« (183) Die Kindliche Kaiserin bedrängt den Alten, Die unendliche Geschichte von Anfang an vorzutragen, wovor er eindringlich warnt. Schließlich fügt er sich und beginnt zu lesen, aber nicht etwa das Buch in Bastians Händen, sondern  – Endes Roman ! Blankes Entsetzen packt Bastian, als er sein eigenes Erscheinen im Antiquariat Koreander, den Diebstahl, die Flucht auf den Dachboden der Schule und sogar all seine Gedanken bei der Lektüre der Unendlichen Geschichte detailliert wiedergegeben findet. Auch die Unendliche Geschichte selbst wird natürlich ein zweites Mal erzählt : von der Krankheit der Kindlichen Kaiserin über Atréjus Große Suche bis zum Alten vom Wandernden Berge. Hier aber zeigt sich die Katastrophe, vor der der Alte gewarnt hat : Erneut beginnt er sein Buch vorzutragen ; erneut betritt ein dicklicher Junge das Antiquariat Koreander. Bastian, der nicht mehr aufhören kann zu lesen, erkennt plötzlich, daß ihn die Kindliche Kaiserin in einem ausweglosen »Kreis der ewigen Wiederkehr«50 gefangen hat. Da endlich, mit dem Mut der äußersten Verzweiflung, »schrie er plötzlich : ,Mondenkind ! Ich komme !’« (190), sprengt so den Kreislauf, wird in das Buch hineingezogen und selbst Teil der Unend­ lichen Geschichte. Nun beginnt das Abenteuer für Bastian erst richtig. Allein mit der Kindlichen Kaiserin im Dunkel schwebend, wird er von ihr beauftragt, Phantásien aus einem winzigen Sandkorn (»alles, was von meinem grenzenlosen Reich übriggeblieben ist« (195)) nach seinem Willen neu zu errichten. Scheidend ermächtigt sie ihn durch ihr Zeichen AURYN, all jene Wesen und Welten Gestalt werden zu lassen, die seinen (bewußten oder unbewußten) Wünschen entsprechen. So erfüllt sich etwa Bastians Traum von Ausdauer und Zähigkeit auf dem Marsch durch »die größte Wüste Phantásiens« (207) ; jener von bewundernder Anerkennung zeitigt eine Art Ritterturnier, bei dem er durch seine Fähigkeiten zu glänzen vermag. Je mehr er aber auf diesem Weg voranschreitet, desto mehr erlischt Biographische und textliche Grundlagen | 35

die Erinnerung in ihm, »daß er nicht immer stark, schön, mutig und mächtig gewesen war« (268). So verleiht AURYN zwar dem »Menschenkind« Bastian ungleich größere Macht als zuvor dem Phantásier Atréju (den er sich bald als Gefährten »herbeiwünscht«), nimmt ihm dafür aber gleichzeitig Stück für Stück seiner Identität. Indes werden Bastians Wünsche im Laufe der Zeit immer düsterer : scheinbar harmlosen nach Verehrung als »großer Dichter« (256) oder »Wohltäter« (275) folgt bald schon jener, »gefährlich und gefürchtet« (301) zu sein. Vergebens drängt ihn Atréju, der sich zunehmend Sorgen um seinen Freund macht, heimzukehren und seine »Welt in Ordnung zu bringen, damit wieder Menschen […] nach Phantásien kommen« (289) ; denn nicht einmal der Gedanke an den eigenen Vater, den er seit dem Tod der Mutter als völlig verschlossen und unnahbar erlebt hat, zieht Bastian in jene Welt zurück. So strebt er stattdessen geradewegs ins Zentrum Phantásiens, dem Elfenbeinturm der Kindlichen Kaiserin zu, verschleudert dabei seine Erinnerungen für Wünsche nach Größe und Glanz und steigert sich mehr und mehr in fiebrige Allmachtsphantasien hinein. Als er Mondenkind im Elfenbeinturm nicht vorfindet, befällt ihn schließlich regelrechter Cäsarenwahn : Er erklärt, »daß er von nun an ihre Stelle einnehme« (349) als Herrscher »einer Welt, die bis in alle Einzelheiten nach [seinem] Belieben zu gestalten war, in der er nach Willkür schaffen und vernichten konnte, in der es keine Schranken und Bedingungen mehr gab« (347). Da sieht Atréju, der vom arroganten und aufbrausenden Bastian mittlerweile verstoßen wurde, nur noch eine Möglichkeit, seinen Freund zu retten : Er sammelt ein Heer und versucht Bastians Krönung zum Kaiser mit Gewalt zu verhindern. In der blutigen »Schlacht um den Elfenbeinturm« (337) behält er zunächst die Oberhand, zögert aber dann, Bastian das Amulett AURYN abzunehmen. Dieser brüllt ihn an : »Verräter ! […] Du bist mein Geschöpf ! Alles habe ich ins Dasein gerufen ! Auch dich !« (356), zieht sein Schwert und verwundet Atréju schwer, der nur um Haaresbreite gerettet wird und dessen Truppen sich daraufhin zurückziehen. Rasend vor Wut verfolgt ihn Bastian – verirrt sich jedoch in ein grauenhaftes »Tollhaus von Stadt« (370), das von offenbar unheilbar Geisteskranken bevölkert wird. Vom »Aufseher« des Ortes, dem zynischen Äffchen Argax, erfährt Bastian zu seinem 36 | Grundlagen 

Entsetzen, daß diese keine Phantásier, sondern Menschen sind, die den Weg zurück in ihre Welt verfehlt und so ihre Identität, ihre Sprache und ihren Verstand verloren haben. Bastian ist in die Alte Kaiser Stadt geraten : »[…] jeder, der nicht zurückfindet, will früher oder später Kaiser werden« (366). Aber auch jene, die »ihren letzten Wunsch zu irgend etwas anderem verwendet« (365) haben, landen in Argax’ schauriger Stadt. Da erst wird Bastian klar, daß mit seiner letzten Erinnerung auch seine Fähigkeit zu wünschen erlöschen wird. Als er von Argax »für diesmal noch« (369) aus der Stadt entlassen wird, ist nichts mehr für ihn, wie es vorher war. Einsam und voller Reue wandert Bastian durch Phantásien. Wünsche ganz neuer Art beginnen sich in ihm zu regen : Er will einer Gemeinschaft angehören ; er will geliebt werden als der, der er wirklich ist. Nachdem aber beide Wünsche erfüllt sind  – der eine durch die Kameradschaft der kollektivistischen Yskálnari, der andere durch die mütterliche Liebe der Blumendame Aiuóla – , hat Bastian beinah alle seine Erinnerungen verloren. Gestrandet schließlich beim blinden Bergmann Yor, der nach menschlichen Träumen schürft, bleibt Bastian nur noch ein einziger Wunsch, um den Weg zurück zu finden : jener, selbst lieben zu können. Aber Yor fragt : »Wen ? Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein. Du aber hast alles vergessen außer deinem Namen. […] Drum kann dir nur noch ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest« (402). So schürft Bastian in unendlich mühsamer Kleinarbeit in Yors Bergwerk der Bilder – bis er schließlich eines zu Tage fördert, das ihn sofort mit tiefer Sehnsucht erfüllt. Es zeigt einen Mann, der in einem Eisblock eingeschlossen ist und dessen Blick ihm zu sagen scheint : »Hilf mir ! Nur du kannst mich daraus befreien – nur du !« (406) Obwohl Bastian seinen Vater nicht mehr erkennt, weiß er, daß seine Suche zu Ende ist. Doch dem »Jungen ohne Namen«, der er nun ist, zerfällt das Bild und damit die letzte Hoffnung unter den Händen. Da taucht plötzlich Atréju auf, den Bastian im Kampf um AURYN beinah getötet und der ihn dennoch nie aufgeben hat. Nun aber legt der Junge ohne Namen das Amulett freiwillig ab – und findet sich darauf mit Atréju im Inneren des Zeichens wieder. So erweist sich AURYN als das Tor, das er die ganze Zeit gesucht hat ; denn die Grenzen Phantásiens »liegen nicht außen, sondern innen« (392). Doch erst als Atréju für ihn einBiographische und textliche Grundlagen | 37

steht, erhält der Junge ohne Namen seine Erinnerung zurück und darf jenes Tor durchschreiten. Wie beim Eintritt nach Phantásien den Namen der Kindlichen Kaiserin, so ruft Bastian nun : »Vater ! – Ich – bin – Bastian – Balthasar – Bux !« (419) Ohne Übergang findet Bastian sich auf dem Dachboden der Schule wieder, von wo er vor vermeintlich »langer Zeit« (419) zu Mondenkind aufgebrochen ist. Die unendliche Geschichte ist spurlos verschwunden. Heimkehrend zum besorgten Vater erfährt er, daß er nur eine einzige Nacht menschlicher Zeit in Phantásien verbracht hat. Und doch ist nichts mehr wie zuvor. Mit der Geschichte seiner Reise gelingt es Bastian, das Eis zwischen ihm und dem schwer depressiven Vater zu brechen, ja diesen sogar zu Tränen zu rühren. Aber auch Bastian selbst hat sich im Innersten verändert : Mutig sucht er anderntags Herrn Koreander auf und gesteht ihm den Diebstahl und das Verschwinden der Unendlichen Geschichte. Dieser jedoch meint, ihm fehle kein Buch. Er läßt sich Bastians haarsträubendes Abenteuer in allen Details schildern und bemerkt dann seelenruhig : »Du hast mir dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir […]. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selbst schon aus Phantásien. Wer weiß, vielleicht hat es genau in diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin.« Auf Bastians verblüffte Frage, ob er ihm das Erzählte denn glaube, erwidert er : »Selbstverständlich […] jeder vernünftige Mensch würde das tun.« Es stellt sich heraus, daß es sich bei dem griesgrämigen Koreander um einen erfahrenen Phantá­ sien­reisenden handelt. Die Unendliche Geschichte sei nicht das einzige Tor in jenes Reich, offenbart er Bastian, denn : »Jede wirkliche Geschichte ist eine Unendliche Geschichte« (426). Erleichtert und glücklich kehrt Bastian zum Vater zurück. Am Ende steht Koreanders Prophezeiung : »Bastian Balthasar Bux […] wenn ich mich nicht irre, dann wirst du noch manch einem den Weg nach Phan­ tásien zeigen […].« (428)

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C. P fade zum philosophischen Denken Michael Endes […] die künstlerische Form ist etwas anderes als Erkenntnis. Ein Philosoph ist kein Künstler, auch wenn er ein kreativer Philosoph ist. – Michael Ende –

Jeder – ernsthafte51 – Versuch, Poesie in begrifflicher Sprache nachzuvollziehen, stellt ein Wagnis dar, bei dem es mehrere scharfe Klippen zu umschiffen gilt. »Authentischen«, aber belanglosen Deutungen, die sich kaum von der Bildlichkeit des jeweiligen Werkes entfernen, steht die Tendenz gegenüber, literarische Texte durch gewaltsame »Interpretation« in vorgefertigte (ideo)logische Schemata zu pressen. Gemein ist beiden Irrwegen indes, daß der wesenhafte Unterschied zwischen logisch-begrifflicher und poetischer Sprache von vorneherein nicht oder nicht genügend ernstgenommen wird.52 Wer das philosophische Denken eines Schriftstellers aus dessen Werk heraus zu ergründen sucht, sollte also stets gewahr bleiben, »daß Literatur keine Struktur aus Gedanken ist, sondern eine aus Bildern« (Vladimir Nabokov53). Dies bedeutet aber auch, daß die grundsätzliche Frage nach der Übersetzbarkeit von Literatur in Philosophie bereits vor dem eigentlichen Beginn einer Untersuchung wie der vorliegenden geklärt werden müßte. Indes ist es doch mehr als unwahrscheinlich, daß das uralte Problem des Verhältnisses vom Logos zum Mythos, von begrifflicher zu bildhafter Sprache im Rahmen dieser Einleitung zufriedenstellend gelöst werden kann. Vielmehr geht es im folgenden darum, eine tragfähige Basis für die vorliegende Untersuchung zu gewinnen, indem mögliche Einwände gegen Ziel oder Methodik derselben, die aus einer (nicht unberechtigten !) Skepsis gegenüber »Deutungen« von Literatur entspringen, thematisiert und beantwortet werden. Hierbei haben wir zuallererst zu klären, auf welche Weise eine »Übertragung« von Poesie in Philosophie mit dem Anspruch exakten wissenschaftlichen Arbeitens vereinbar sein kann. Erst dann gilt es unseren spezifischen Gegenstand, das Werk des Schriftstellers Michael Ende, genauer ins Auge zu fassen : Zeigen sich hier vielleicht besondere Gründe, die gegen den Versuch einer solchen Übertragung sprechen, und falls ja, wie sind sie zu werten ? Da indes die vorliegende Untersuchung nicht die bloße MögPfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 39

lichkeit einer philosophischen Interpretation Endes, sondern sein eigenes philosophisches Denken zu ergründen sucht, hat sie noch weiter zu fragen : Welche Elemente birgt das Endesche Werk, die auf ein solches Denken hinweisen ? Mehr noch : Inwiefern ist zu erwarten, daß sich die Grundthemen dieses Werkes, so es solche gibt, letztlich als philosophische herausstellen ? All dies soll nicht zuletzt auch zur argumentativen Absicherung und zum besseren Verständnis der Grundfragestellung dieser Arbeit beitragen. 1. Über die Möglichkeit einer philosophischen Interpretation poetischer Texte

Im Gespräch mit Hanne Täschl und Erhard Eppler klagt Michael Ende : In unserem »verkopften« Jahrhundert dressiert man ja schon die Schulkinder im Umgang mit Literatur zu der Frage : Was wollte der Dichter uns sagen ? Man sucht immerfort nach einer »Aussage«, nach einer »Botschaft«, nach einer »Lehre«, die der Autor dem Leser oder dem Zuschauer erteilt. Wenn man die herausdestilliert hat, dann – meint man – habe man die Sache verstanden. Damit wird alle Poesie zu einer Verpackungsfrage degradiert. Der Dichter verpackt seine »Botschaft« in poetische Formeln wie in ein hübsches Einwickelpapier, und der Leser oder Zuschauer muß es [sic] bloß wieder auswickeln. 54

Diese Kritik kann wohl jeder nachvollziehen, der selbst den oft lieblosen Umgang mit Literatur im Schulunterricht erlebt hat, welcher nicht wenigen die Lust am Lesen raubt und zu dem auch das tendenziell gewaltsame und schematische »Interpretieren« von Texten gehört. Bedenklich daran ist vor allem, wie frag- und scheinbar mühelos hier oft der Abgrund (um ein Diktum aus Celans Theorie der Übersetzung zu verwenden)55 zwischen poetischer und argumentativer Sprache überschritten wird, ohne sich mit der Suche nach einem gangbaren Steg aufzuhalten. Tatsächlich sind es zwei Prämissen, auf denen diese Art der Interpretation von poetischen Texten fußt. Erstens wird davon ausgegangen, daß eine strikte Trennung zwischen Inhalt und Form 40 | Grundlagen 

(»Botschaft« und »Verpackung«) eines literarischen Werkes möglich und sinnvoll sei ; zweitens, daß es sich bei dieser um bloßes Beiwerk und Schmuck, bei jenem aber um das Eigentliche des Textes handle, das der Interpret daher herauszuarbeiten (»auszuwickeln«) habe. Beides ist freilich ausgesprochen fragwürdig, worauf nicht nur Ende nachdrücklich hingewiesen hat. Daniel Jones etwa schreibt in seiner Ausgabe der Lyrik des walisischen Dichters Dylan Thomas : […] wenn man versuchte, das Dichterische in andere Wörter zu »übersetzen«, es interpretierend in andere Gedanken zu fassen, dann wäre das so, als ob man die Umrisse einer Zeichnung begradigen und ihre Bedeutsamkeit durch das Ausmessen des Ergebnisses in Zoll vorführen würde. 56

Wie ist mit dieser Problematik umzugehen ? Wenn wir nicht überhaupt auf jede Art gedanklicher Auseinandersetzung mit Literatur verzichten wollen, so gilt es, einen Pfad abseits von »Botschaften« und »Begradigungen« zu suchen ; vor allem aber, uns der so naheliegenden wie selten gestellten Frage zuzuwenden : Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen argumentativer und poetischer Sprache ? Eine mögliche Antwort wurde bereits angedeutet : Die eine vollzieht sich in abstrakten Begriffen, die andere hingegen in unmittelbar-sinnlichen Bildern. Nun könnte man diesen Gegensatz, vom begrifflichen Denken aus, relativ leicht überbrücken, indem man letztere einfach als Metaphern versteht, die es entsprechend zu erschließen gilt. Die Aufgabe des Interpreten wäre in diesem Falle die der Abstraktion : Indem er den begrifflichen Kern aus dem poetischen Text herauslöst, hätte er diesen seiner Bildlichkeit zu entkleiden. So könnte er z. B. den Schlaf Dornröschens im gleichnamigen Märchen als ein Bild für Depression und die Dornenhecke als Symbol für die Abwehr von Hilfe erkennen, die Rettung durch den Prinzen hingegen als Metapher für die Möglichkeit der Heilung, usf. Es ist leicht zu sehen, daß wir hier bereits auf den Irrweg der »Botschaften« geraten sind. Was haben wir durch die »Übersetzung« etwa des Textelements Schlaf in De-pression (lat. »Niedergedrücktheit«) erreicht ? Nicht nur, daß wir das Märchen banalisiert, Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 41

trivialisiert und dadurch seines poetischen Zaubers beraubt haben, wir haben auch unser Ziel verfehlt : Wir sind jene Bildlichkeit, die wir zu entfernen glaubten, gar nicht losgeworden, sondern haben lediglich ein Bild durch ein anderes (vermutlich schwächeres) ersetzt. Mehr war uns schon deshalb nicht möglich, weil es eine von aller Metaphorik gereinigte Begrifflichkeit gar nicht gibt. 57 Tatsächlich ist das bildliche, oder sagen wir besser und genauer : das sinnliche Element 58 wesentlicher Bestandteil jeder menschlichen Sprache  – der wissenschaftlichen genauso wie der poetischen. Begründet ist dies letztlich in den Strukturen unseres Bewußtseins selbst. Wie nämlich kein Leser das Märchen verstehen kann, ohne sich eine konkrete Dornenhecke vorzustellen, so kann auch der Mathematiker »keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen« (Immanuel Kant 59). So setzt z. B. auch die entscheidende philosophische Frage nach dem Grund alles Endlichen bereits eine Leistung der Imagination voraus, für die stets auch ein sinnliches Element benötigt wird. Jeder Versuch, dieses abzuschütteln, etwa indem anstatt vom Grund vom Absoluten (lat. »das Abgelöste«) gesprochen wird, führt uns nur zu immer neuen Bildern. 60 Was poetische und argumentative Sprache wesenhaft trennt, ist also nicht einfach, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte, die Sinnlichkeit der einen und gedankliche Abstraktheit der anderen. Daß etwa zwischen den Sätzen »Der Prinz überwand die Dornenhecke, um Dornröschen aus ihrem Schlaf zu erwecken« und »Das Endliche in seiner Relativität setzt einen absoluten Grund voraus« ein essentieller Unterschied besteht, ist indes offensichtlich. Was aber macht diesen Unterschied aus ? Betrachten wir die angeführten Beispiele genauer, so fällt zunächst auf, daß die einzelnen Elemente des Märchens (der Prinz, die Hecke, Dornröschen, ihr hundertjähriger Schlaf) nicht einfach austauschbar sind. Wer aus der Dornenhecke einen Wassergraben macht, verändert das Märchen  – und zwar wesentlich, da dieser als Vorstellungsinhalt schlicht andere Emotionen »transportiert« als jene. Ganz anders verhält es sich bei unserem zweiten Beispiel, wo keine Geschichte erzählt, sondern ein Urteil gefällt wird, das seinerseits einer logischen Begründung bedarf. Während so der argumentative Text seiner Struktur nach strikt an die Regeln der Logik gebunden bleibt, ist er in seiner sinnlichen Komponente hin42 | Grundlagen 

gegen auffallend flexibel. Anders als im ersten Beispiel macht es hier keinen essentiellen Unterschied, ob wir vom End-lichen oder vom Be-dingten sprechen, obwohl doch beide Ausdrücke ganz verschiedene Bilder in sich tragen. Dies zeigt, daß das sinnliche Element, wenn auch unabdingbar für unseren argumentativen Text, doch nicht das ist, worum es ihm letztlich geht. Gerade die philosophische Sprache – um die es uns hier in erster Linie zu tun ist – kann relationale Zusammenhänge auf ganz unterschiedliche Weise »versinnlichen«, 61 ohne damit der Genauigkeit des Gedankenganges im geringsten Abbruch zu tun. Tasächlich birgt zwar jeder Text, vom banalsten Schlager bis zur »Kritik der reinen Vernunft«, immer schon beide Elemente in sich : einen unmittelbar-sinnlichen und einen gedanklich-reflexiven. Das entscheidende Merkmal argumentativer, zumal philosophischer Sprache ist es aber, die sinnliche Komponente im Argument beiseite lassen zu können. Zwar sind sowohl der Schreibende als auch der Leser, sowohl der Sprechende als auch sein Zuhörer gezwungen, sich Inhalte in anschaulicher Weise vorzustellen ; aber im Argument spielt dies dennoch keine wesentliche Rolle. Anders als poetische Sprache erhebt philosophische Argumentation keinerlei Anspruch, unmittelbar auf das Gefühl zu wirken (obwohl sie es natürlich auch tut ; aber dies wird ebenfalls wiederum beiseite gelassen). Der poetische Text steht also – im Gegensatz zur begrifflichen Argumentation, die, wie das Beispiel gezeigt hat, prinzipiell imstande und geeignet ist, von ihrer sinnlichen Komponente gewissermaßen abzusehen – immer schon ganz wesentlich in der Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion. Ihm eine jener Botschaften abzupressen, die Ende (berechtigterweise) so sehr verachtet, bedeutet, diese Spannung zu ignorieren, indem mit dem poetischen Text umgegangen wird, als ob er »in Wirklichkeit« ohnehin argumentativ wäre. So kommt es zur berüchtigten Frage : »Was will uns der Künstler eigentlich sagen ?«  – ganz so, als ob es dem Autor an Talent oder an Kraft gemangelt hätte, seine eigentliche Aussage zu Papier zu bringen. Die Antworten pflegen dementsprechend am Text vorbeizugehen. Wenn in der Unendlichen Geschichte die Kindliche Kaiserin todkrank in ihrem Gemach liegt, tut sie das dann in ihrer Funktion als Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 43

»Symbolfigur für das Selbst«62 oder doch eher als »archetypische[s] Mutterbild« ?63 Oder beides ? Ich sage nicht, daß man Bilder wie dieses nicht deuten kann. Tatsächlich bedeutet gerade die Krankheit der Kindlichen Kaiserin für Michael Ende, wie wir noch sehen werden, etwas schlicht Ungeheuerliches – aber so plump ist dieses Etwas nicht zu fassen. Eine Untersuchung, die immer wieder eine solche »Botschaft« Michael Endes zum Ausgangspunkt nähme, um sie dann mit anderen seiner »Botschaften« zu einem möglichst widerspruchsfreien »System« zu verbinden, würde also im Ergebnis ein Denken Endes aufweisen, das es so nie gegeben hat. Gerade wenn wir sein Denken tatsächlich ernst nehmen wollen, ist es daher nötig, stattdessen vom Sinn seiner einzelnen Texte, wie er der jeweiligen Gesamtheit ihrer sprachlichen Gefüge innewohnt, auszugehen, um von dort her nach seinem Denken zu fragen. Dies bedeutet, unablässig auf die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Denken, in der sie stehen, zu achten und auf diese im einzelnen immer wieder kritisch zu reflektieren. Dabei können wir natürlich darauf bauen, daß eine Vermittlung zwischen beiden nicht nur grundsätzlich möglich ist, sondern sogar permanent geschieht, da unsere gesamte Erfahrung sonst in eine sinnliche und eine reflexive Komponente auseinanderfallen würde – wovon glücklicherweise keine Rede sein kann. Ich möchte indes in diesen lediglich hinführenden Notizen noch nicht allzusehr in die Tiefe gehen, sondern nur darauf hinweisen, daß wir mit diesem Thema im Laufe der Untersuchung noch zu tun haben werden. 64 Es war in diesem Abschnitt meist vom argumentativen Denken im allgemeinen und weniger vom philosophischen im speziellen die Rede, in der berechtigten Annahme, daß alles, was für jenes gilt, auch auf dieses zutreffen muß. Es könnte indes scheinen, daß die Philosophie, welche ja geradezu ein Hort logischen Denkens ist (oder zumindest sein sollte), mehr von der Poesie trennt als andere Wissenschaften. In der Tat haben wir es hier in gewisser Weise mit Gegensätzen zu tun, Gegensätzen freilich, die nicht nur aufeinander bezogen werden können, sondern von sich aus aufeinander bezogen sind. 65 So kann die Philosophie, gerade wegen ihrer exemplarisch strengen Logik und dementsprechend geschärften Begrifflichkeit, in einen echten, sinnvollen Dialog zur Poesie 44 | Grundlagen 

treten – sofern sie sich nur nicht selbst poetisch gebärdet. 66 Wenn also der Begründer der modernen Fantasyliteratur, der Brite J. R. R. Tolkien, so treffend bemerkt : »Je klarer und schärfer die Vernunft, desto bessere Phantasien wird sie hervorbringen« 67, so bleibt nur zu betonen, daß dies auch vice versa gelten kann : Das begriffliche Denken vermag Bewußtseinswelten zu schaffen, welche die Dichter zu neuen Bildern anregen, die wiederum den Philosophen zu denken geben. Vielleicht kann auch die vorliegende Untersuchung einen bescheidenen Beitrag zu diesem fruchtbaren Kreislauf leisten. 2. War Michael Ende ein Gegner des logischen (begrifflichen) Denkens ?

Wenn wir Michael Endes zahlreiche Reflexionen – sei es in protokollierten Diskussionen, Interviews oder Briefen – über Möglichkeiten und Gefahren des begrifflichen oder auch logischen Denkens in ihrer Gesamtheit betrachten, so stoßen wir zuweilen auf eine gewisse Skepsis, die manchmal sogar an Ablehnung zu grenzen scheint. Daß Ende gern die »Verkopftheit« seines Jahrhunderts beklagte, wissen wir bereits aus Phantasie/Kultur/Politik. Was damit gemeint ist, wird an anderer Stelle desselben Gesprächs deutlicher, wo es um die tieferen, historischen Ursachen des Problems geht : Mit Sokrates hat im Grunde das argumentierende Denken angefangen, das die Vorsokratiker noch nicht kannten. […] Man kann sagen, daß das heraklitische Denken dem asiatischen, dem zenbuddhistischen Denken viel verwandter ist als irgendeinem begrifflichlogischen Denken von heute. Die Sokratiker haben eigentlich angefangen zu glauben, man könne durch das logische Argument zu Wahrheiten gelangen und mit diesen Wahrheiten etwas Festes, etwas »Objektives« in der Hand haben. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich dann im 16. Jahrhundert das nur noch quantifizierende Denken ergeben. Man hielt nur noch das für wahr, was zählbar, meßbar oder wägbar war, und leugnete schließlich sogar die Wirklichkeit aller Qualitäten, weil die eben nicht durch ein quantifizierendes Denken zu fassen sind. […] Im naturwissenschaftlichen Weltbild von heute wird nur noch das für wahr gehalten, was ein Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 45

einzelnes, farbenblindes Auge von der Welt wahrnimmt, und auch davon nur das, was sich in Zahlen ausdrücken läßt, alles andere ist reine Illusion. Die Farben Rot oder Blau existieren in Wirklichkeit nicht, sie werden nur subjektiv von unserem Gehirn erzeugt – was wir wahrnehmen, sind da in Wirklichkeit nur lange oder kurze Lichtwellen, die unsere Sehnerven entsprechend stimulieren. Schwingungen, die man in Zahlen ausdrücken kann.   Im Grunde wird alles zur Illusion erklärt, was Qualität ist […]. Als Musterbeispiel dafür könnte man etwa Bücher anführen wie Jenseits von Freiheit und Würde des amerikanischen Verhaltensforschers Skinner oder Zufall oder Bestimmung des französischen Chemikers Monod. 68

Diese Passage hat Kowatsch offenbar derart beeindruckt, 69 daß sie das gesamte Schaffen Endes kurzerhand als einen Versuch zur »Überwindung des abstrakt-begrifflichen Denkens«70 deutet. Hätte sie recht, wäre eine Untersuchung wie die vorliegende schlichtweg hinfällig. Das Werk eines Schriftstellers »in der Tradition des Antirationalismus«71, dessen Helden am »Intellektualismus der modernen Welt«72 leiden, einer begrifflich-intellektuellen Analyse zu unterziehen, gar nach seinem philosophischen Denken zu fragen, wäre nicht nur absurd, es käme geradezu einer posthumen Insultation Endes gleich, die auch keinerlei sinnvolle Ergebnisse zeitigen könnte. Sehen wir uns das obige Zitat genauer an, so fällt als erstes auf, daß Endes Stellungnahme selbst im Rahmen und in der Form abstrakt-begrifflicher Argumentation verläuft, womit er, wenn wir Kowatsch folgen, eine grobe Inkonsequenz beginge – würde er sich doch gerade auf jene Art der Ratio stützen, die er zu stürzen versuchte. Aber geht es hier wirklich um das Denken in Begriffen ? Viel eher hat man den Eindruck, daß sich Ende gegen die Allmacht der erfahrungswissenschaftlichen Methodik wehrt, die nur gelten läßt, was »zählbar, meßbar oder wägbar« ist, gegen jenes »nur noch quantifizierende Denken«, das »alles zur Illusion erklärt, was Qualität ist«. Eine Absage an das begriffliche Denken schlechthin, wie von Kowatsch impliziert, sähe anders aus. So sind auch die Werke von Skinner und Monod, die Ende hier nennt, Paradebeispiele nicht etwa für das »begriffliche Denken«, sondern für die Hybris 46 | Grundlagen 

einer naturwissenschaftlichen Ideologie, die sich selbst als Schlußund Gipfelpunkt menschlicher Geistesgeschichte ausgibt.73 Die erdrückende Dominanz der erfahrungswissenschaftlichquantifizierenden Methode ist für Ende freilich nur eine Seite der Medaille. Wie wenig später im selben Gespräch klar wird, wo er die Allgegenwart des »Machbarkeitskriterium[s]«74 als ein Grundübel unserer Gesellschaft brandmarkt, verfolgt für ihn jene Ideologie der Quantifizierung stets ganz bestimmte, materialistisch definierte Interessen. Hocke/Neumahr treffen es also wesentlich genauer als Kowatsch, wenn sie Endes eigentliches Angriffsziel im »zweckhaft-rationalen Denken«75 verorten. Sein Gedankengang (den wir übrigens in Momo wiederfinden werden) ist deutlich genug auszumachen : Jede Verzweckung setzt Quantifizierung voraus ; das Einzigartige als Einzigartiges kann niemals verzweckt werden. Was diese Verzweckung für Ende konkret bedeutete, damit wird sich der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung zu beschäftigen haben ; dort wird sich zeigen, inwieweit für ihn jenes Quantifizieren der historischen Wirksamkeit des Kapitalismus den Boden bereitete – jenes Kapitalismus, der zeitlebens im Zentrum seiner »Zivilisationskritik« stand, bei Kowatsch jedoch kurioserweise kaum Erwähnung findet. Auch an anderer Stelle in Phantasie/Kultur/Politik, wo Ende sich kritisch über das »kausallogische Denken« äußert, geht es ihm keineswegs um eine Absage an die Ratio, sondern um die Abwehr der angemaßten Allmacht der Erfahrungswissenschaften : […] Kultur entsteht nicht aus einer materialistischen Weltanschauung heraus. Unser ganzes Denken ist aber noch immer – vor allem auch das naturwissenschaftliche Denken – aus dem Materialismus des 19. Jahrhunderts geprägt. […] Das rein kausallogische Denken zum Beispiel ist in bestimmten Bereichen berechtigt. In der Physik, in der Chemie. Wenn ich aber auch den Menschen nur als kausales Gebilde sehe, als ein in Kausalitäten eingebundenes Wesen, dann kann ich keine Wertvorstellungen entwickeln, dann ist alles Reden von Kultur […] leeres Phrasendreschen.76

Mit diesem Gedankengang – die Verhinderung von Kultur durch die Hybris der materialistisch-naturwissenschaftlichen Ideologie – haben wir bereits einen Kern des Endeschen Denkens erreicht, auf Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 47

den im Rahmen dieser Einleitung noch nicht entsprechend eingegangen werden kann. Nur soviel sei hier angedeutet, daß das Schaffen eines gedanklichen Freiraums für die menschliche Kreativität, aus der jede Kultur im tieferen Sinne entspringt, zweifellos ein ganz zentrales Anliegen des Autors war. Wenn also Ende hier im Grunde, wie etwa auch im Gespräch mit Joseph Beuys, »das Schöpferische im Menschen außerhalb der Kausalität stell[t]«,77 so läßt sich dies nicht einmal als Kritik an der naturwissenschaftlichen Methodik schlechthin (die in ihrem Bereich ja durchaus Berechtigung hat), schon gar nicht aber als schwärmerische Absage an das logische Denken deuten. Um jenes Mißverständnis, das aus Ende einen »Antirationa­ listen« machen möchte, vollends auszuloten, sei hier noch ein kurzer Blick auf sein Verhältnis zur Romantik geworfen. Es besteht kein Zweifel, daß Endes Werk dieser literarischen Tradition, die er als »einzig original deutsche Kulturleistung«78 verstand, viel verdankt.79 Im Gespräch mit Dieter Zimmer betont er ausdrücklich : Ich knüpfe ganz bewußt an romantische Traditonen an. Wenn Sie Romantik als eine Frage der gesamten Haltung und nicht als eine Stimmungssache nehmen, bin ich Romantiker. 80

Diese Selbsteinschätzung ist freilich weit weniger eindeutig, als sie klingt, drängt sich doch sogleich die Frage auf, von welchen »romantischen Traditonen« hier die Rede ist. Die Romantik nämlich war eine ausgesprochen »ambivalente Bewegung« (Christian von Wernsdorff81), die nicht nur divergierende, sondern geradezu gegenläufige Strömungen hervorbrachte. Während sich die Früh­ romantik (Schlegel, Novalis) keineswegs der Ratio an sich, sondern lediglich »dem herrschenden Rationalitätstypus, der ökonomischen Verwertbarkeit, widersetzt«, 82 wobei sie »viele Positionen der Aufklärung übernimmt und weiterbildet, sodaß eine Konitinuität der Entwicklung besteht«, 83 tritt erst die Hochromantik (Brentano, Eichendorff) in jenen »deutlichen Gegensatz zur Aufklärung«, 84 der heute meist als konstituierendes Element der Romantik schlechthin gilt. 85 Welche dieser so grundverschiedenen romantischen Traditionen war es nun, der Ende sich verbunden fühlte ? Für Kowatsch steht zweifelsfrei fest, daß Ende »mit seiner Kritik an der Moderne 48 | Grundlagen 

an die Hochromantik an[knüpft]«86 . Belege für diese Einschätzung, die ihre gesamte Arbeit durchzieht, vermag sie nicht anzuführen. Mehr noch : Ihre mit Abstand wichtigste Sekundärquelle, Phanta­ sie/Kultur/Politik, widerspricht ihrer Darstellung völlig. Wenn Ende dort eine »Mutation im Denken«87 fordert, so stimmt er Erhard Eppler ausdrücklich zu, der präzisiert : Wenn eine ganze Kultur in der Weise wie die unsere auf dem rationalen Denken aufgebaut ist, dann kann eine solche Mutation, wie wir sie alle sehen, nicht antirational, nicht irrational sein, sondern sie müßte die Ratio im Hegelschen Sinne wieder aufheben. Das heißt aber auch, sie mitnehmen und aufbewahren […]. Es geht nicht darum, die Aufklärung rückgängig zu machen, sondern die Aufklärung über sich selbst und ihre Wirkungen aufzuklären. 88

Mit der aufklärungsfeindlichen Position der Hochromantik läßt sich dies ebensowenig in Einklang bringen wie mit der These vom »Antirationalimus« Endes. Jene »Aufklärung der Aufklärung«, die hier gefordert wird, läßt sich durchaus als deren Vertiefung verstehen. Dazu paßt auch, daß der Venunftbegriff Endes, zumindest nach dem Zeugnis der Unendlichen Geschichte, ein dezidiert positiver ist. Als der Antiquar Koreander keinerlei Erstaunen über Bastians phantásische Abenteuer zeigt, fragt ihn dieser verblüfft : »Dann glauben Sie mir also ?« […] »Selbstverständlich«, antwortete Herr Koreander, »jeder vernünftige Mensch würde das tun.« (UG 426)

Natürlich gilt es stets zu unterscheiden zwischen der Meinung eines Schriftstellers und jener, die er seinen Geschöpfen in den Mund legt. Tatsächlich entsprechen etwa die abwertenden Bemerkungen Koreanders über Kinder an anderer Stelle (UG 6) mit Sicherheit nicht der Position des Autors. Daß aber Ende diese klassische Figur des Alten Weisen (eng verwandt mit dem Archivarius Lindhorst aus E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf, weitschweifiger mit dem Gandalf von Tolkiens Der Herr der Ringe) mit all seiner eigenen phantásischen und philosophischen Kompetenz ausgestattet hat, erscheint mir unbestreitbar. Die Bemerkung Koreanders ist jedenfalls deutlich genug : Vernünftig ist, wer inneres, »subjektives« Erleben in die Wirklichkeit miteinbezieht (anstatt, wie man anfügen Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 49

könnte, diese auf materiell faßbare oder erfahrungswissenschaftlich quantifizierbare »Fakten« zu reduzieren) 89. Muß noch betont werden, daß dies nie und nimmer eine Flucht ins Ir- oder gar Anti­ rationale bedeuten kann ? 3. Ausblick auf ein mögliches philosophisches Denken Endes

Wir haben oben gesehen, daß die philosophische Interpretation poetischer Texte prinzipiell möglich und sinnvoll ist ; und weiters, daß es keinen spezifischen Grund gibt, das Werk Michael Endes hiervon auszunehmen. Um eine philosophische Interpretation Endes in Angriff zu nehmen, würde dies vollauf genügen. Da sich indes die vorliegende Untersuchung zum Ziel gesetzt hat, das eigene philosophische Denken Endes zu ergründen, gilt es im Rahmen dieser Einleitung noch weitere Fragen zu klären : Gibt es Elemente in Endes Werk, die auf ein solches philosophisches Denken hinweisen ? Sowie : Steht zu erwarten, daß sich uns im Laufe der Untersuchung so etwas wie die »philosophischen Grundthemen« Endes zeigen, und falls ja, welche könnten dies sein ? ■ Reflexivität : Ende im Vergleich mit J. R. R. Tolkien Der vielleicht auffallendste Zug von Endes bekanntestem Werk Die unendliche Geschichte ist die Tatsache, daß dieser Roman sich auf vielfältige Weise selbst zum Thema hat. Immer wieder schlägt die Handlung reflexive Bögen, die geeignet sind, den aufmerksamen Leser sowohl zu verwirren als auch zu faszinieren. Von der Literaturkritik hingegen wurde dieser reflexive Charakter der Unendlichen Geschichte, der den Roman innerhalb des Genres Fantasy so unverwechselbar macht, erstaunlicherweise fast völlig ignoriert, wofür vor allem die allzu rasche Parallelisierung Endes mit dem »Gründervater« der modernen Fantasy, dem Briten J. R. R. Tolkien, verantwortlich sein dürfte. Der Geschichte dieses Mißverständnisses, dessen Folgen tief in die sogenannte Eskapismus-Debatte hineinreichen (vgl. oben Abschnitt B.1), soll hier in aller gebotenen Kürze nachgegangen werden, um die Reflexivität in Endes Werk, gerade im Vergleich zu Tolkien, umso deutlicher herauszustellen.

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■ Kurzer Exkurs zu J. R. R. Tolkien 90 Das Werk des englischen Literaturprofessors und Sprachwissenschaftlers J(ohn) R(onald) R(euel) Tolkien (1889 – 1973) stellt sowohl Beginn als auch Höhepunkt der modernen Fantasyliteratur dar. Galten seine beiden Romane The Hobbit (1937) und The Lord of the Rings (1954/55) schon zu Lebzeiten des Autors als Meisterwerke fantastischer Erzählkunst, so brachte schließlich die Veröffent­lichung des Nachlasses (The Silmarillion 1977, Unfinished Tales from Núme­ nor and Middle-Earth 1980) durch Tolkiens Sohn Christopher die epochalen Dimensionen der zugrundeliegenden Konzeption ans Licht, welche eine komplexe Mythologie, mehrere bis ins Detail ausgearbeitete fiktionale Sprachen sowie eine Reihe weiterer Erfindungen in Bereichen wie Botanik oder Mineralogie umfaßt. Nicht ohne Grund wurde Tolkiens »außerordentlich kreative[r] Geist« (Karen Wynn Fonstad 91) von Lesern und Kritikern (sowie zahlreichen minder begabten Epigonen) bewundert ; was aber sein Werk innerhalb der phantastischen Literatur tatsächlich einzigartig macht, sind jene Konsequenz und Akribie, mit der er seine Einfälle harmonisch in die Struktur seines selbstgeschaffenen Kosmos einzuordnen verstand. Zwar handelt es sich bei Tolkiens Schöpfung Mittelerde nicht, wie oft angenommen, um eine fiktive »Parallelwelt« ;92 dennoch sah sich der Autor, gerade wegen der Perfektion seines Werkes, massiv mit dem Verdacht konfrontiert, er betreibe eine Art literarischer Weltflucht.93 Tolkiens Reaktion auf diese Kritik war es, den eskapistischen Charakter seiner Bücher offen zuzugeben, gleichzeitig aber den negativen Fluchtbegriff der Kritiker zu hinterfragen.94 ■ Die Geschichte eines Mißverständnisses Wie kam es zur Parallelisierung Endes mit dem Begründer der modernen Fantasy ? Unter den ersten Rezensionen zur Unendlichen Geschichte finden wir jenen Artikel der Zeit über das Werk des »deutschen Tolkien«, in dem Jürgen Lodemann, offenbar vom eigenen Vergleich überwältigt, seiner Hochachtung »vor einem, der seinen Einfallsreichtum jederzeit […] diszipliniert in der Schreibhand hat und seine Geschichte folgerichtig zum offenen Schluß bringt«,95 Ausdruck verleiht. Nicht zuletzt diese euphorische Kritik, die den Kern der Unendlichen Geschichte mit fast bewundernswerter KonPfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 51

sequenz verfehlt, verleitete offenbar Heerscharen späterer Interpreten, Endes Verwandtschaft mit Tolkien zu überschätzen und seinen Roman ebenso frag- wie nahtlos ins Genre der modernen Fantasy einzuordnen.96 Den Ansatz hierzu liefert indes die Unendliche Geschichte selbst, in der Tolkien (als einziger Dichter neben Shakespeare 97) wiederholt und nicht ohne Augenzwinkern zitiert wird : Das schaurige Reich Morgul etwa finden wir im Herrn der Ringe als Stadt der Ringgeister wieder ; sein Bewohner, der Drache Smärg (UG 266), ist offenbar ein naher Verwandter von Smaug aus dem Hobbit. Später war Ende hingegen merklich um Abgrenzung bemüht. So antwortete er bei einer Podiumsdiskussion mit Joseph Beuys auf dessen Frage, ob die Tolkien-Lektüre sein eigenes Werk beeinflußt habe : »Tolkien nicht so sehr. Tolkien habe ich als Schmökervergnügen gelesen. Mit Vergnügen, wie ich zugeben will.«98

Diese Distanzierung änderte freilich nichts mehr daran, daß derselbe Vorwurf des Eskapismus, dem sich Tolkien jahrzehntelang ausgesetzt sah, nun auch Ende traf, wobei der spezifische Charakter seines Werkes schlichtweg übersehen wurde. Zwei Beispiele hierfür seien in aller gebotenen Kürze angeführt. Winfred Kamin­ski, der in seiner »Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur« (1987) fantastische Literatur ganz allgemein verdächtigt, sie bezwecke »nichts anderes […] als ein Einlullen in irrationale Traumwelten«,99 stellt unter dem Titel »Auswege in eine andere Wirklichkeit«100 Die unendliche Geschichte als einen besonders drastischen Fall solch literarischer Realitätsflucht dar. Sein Angriff auf Ende gipfelt in dem Urteil : Endes Texte tendieren […] zur Stabilisation der Krisenlage, weil sie Kompensationsangebote machen. Seine Ideen sind nicht etwa Komplement der schlechten Wirklichkeit, sondern deren phanta­ stische Fortsetzung.101

Vier Jahre später veröffentlicht Heidi Aschenberg im Rahmen einer Untersuchung von »Eigennamen im Kinderbuch« ihre persönliche Abrechnung mit der Unendlichen Geschichte. Abgesehen davon, daß sie hierbei nicht zwischen dem Roman selbst und der ihn grob verzerrenden filmischen Adaption unterscheidet, was ihrer Kritik 52 | Grundlagen 

polemische Züge verleiht,102 schlägt Aschenberg in eine ganz ähnliche Kerbe wie Kaminski : Endes Werk fördere ein »unbedingtes Akzeptieren des Status quo in der ›Versöhnung‹ von phantastischer und wirklicher Welt«,103 anstatt doch den Leser zur »Überwindung der Unzulänglichkeiten der letzteren durch bewußtes und selbstbewußtes Handeln«104 anzuhalten. Diese und vergleichbare Kritiken sind insofern bemerkenswert, als sie einen prägnanten Beweis für die Macht des Vorurteils über das menschliche Denken erbringen. Verleitet vermutlich durch die Assoziationskette Tolkien – Fantasy – Eskapismus (sowie die Erinnerung daran, daß bereits Endes Erstlingswerk Jim Knopf ins Visier »realistischer« Kritiker geriet105), übersehen Kaminski und Aschenberg völlig, daß die Gefahren jenes »Auswegs in eine andere Wirklichkeit« ein zentrales Motiv des von ihnen gegeißelten Werkes darstellen : Thematisiert nicht Ende ganze vierzehn Kapitel lang (mehr als die Hälfte des Romans !) die trughafte Verlockung, sich in Phantásien zu verlieren, bis schließlich der Rückweg in die »Menschenwelt« für immer versperrt ist ? Stellt nicht die Schilderung jener Geisteskranken in der »Alten Kaiser Stadt«, denen ebendies widerfahren ist, die mit Abstand bedrückendste, ja schaurigste Szene des gesamten Buches dar ? Und »versöhnt« sich nicht der diesem Schicksal um Haaresbreite entkommene Bastian, ganz als habe er Aschenbergs Kritik bereits im vorhinein gelesen, mit seiner »wirklichen Welt« schließlich durch »bewußtes und selbstbewußtes Handeln«, das ihre »Unzulänglichkeiten überwindet« ? Wer solcherart den reflexiven Charakter von Endes fantastischer Erzählung außer acht läßt, die ebenso nach den Gefahren jener »Flucht ins Fantastische« wie den Möglichkeiten der Befruchtung des »Realen« durch das Imaginäre, kurzum : nach der Stellung von »Phantasie« zu »Wirklichkeit« schlechthin fragt, dem entgeht der wesentliche Teil des Romans. So aber geraten nicht nur abwertende, sondern auch positive Rezensionen wie jene Lodemanns unweigerlich auf eine schiefe Ebene : Als bloßer Fantasyroman betrachtet, reichte Die unendliche Geschichte in Wahrheit ebensowenig an The Lord of the Rings heran, wie ein noch so liebevoll gezeichnetes Phantásien neben den elaborierten Feinstrukturen Mittelerdes bestehen könnte. Indes ist Endes Werk viel mehr als das, oder genauer gesagt : Es ist etwas völlig anderes. Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 53

■ Über den reflexiven Charakter der Unendlichen Geschichte Betrachten wir die reflexiven Züge des Romans genauer, so wird der Unterschied zu Tolkien noch deutlicher. Ein Frodo Beutlin (die Hauptfigur des Herrn der Ringe), der auf seinem Weg nach Mordor plötzlich innehielte, um sich in gesetzten Worten an den Leser zu wenden, wäre eine Absurdität, die den Rahmen des Buches sprengen würde. Genau diese Art reflexiver Bewegung begegnet uns hingegen mehrfach und nachdrücklich in der Unendlichen Geschichte, etwa wenn das phantásische Wesen Uyulála klagt : »[…] Wir sind nur Figuren in einem Buch, und vollziehen, wozu wir erfunden. Nur Träume und Bilder in einer Geschicht’, so müssen wir sein, wie wir sind, und Neues erschaffen – wir können es nicht […].« (UG 109)

An wen aber richten sich die Worte der Uyulála ? An den Phantásier Atréju, der nach vielen Abenteuern in ihren Tempel vorgedrungen ist ? An das »Menschenkind« Bastian, das dies alles gebannt auf seinem Matratzenlager verfolgt ? Oder doch eher an den Leser von Endes Roman, der damit aufgefordert wird, zwischen innerer und äußerer Handlung, zwischen Atréjus Phantásien und Bastians »Menschenwelt« zu unterscheiden ? Aber wie »realistisch« ist diese eigentlich ? Nehmen wir das zentrale Kapitel der Unend­ lichen Geschichte, »Der Alte vom wandernden Berge« (UG 177 – 190), genauer in den Blick, so wird klar, daß die vermeintliche »Rahmenhandlung« um den Jungen auf dem Speicher tasächlich in höchstem Maße fiktiv ist, steht sie doch in einem Buch (die Unendliche Geschichte des Alten) in einem Buch (die Unendliche Geschichte aus dem Antiquariat Koreander) in einem Buch (Endes Roman) aufgezeichnet. Mehr noch : Augenzwinkernd geben auch die handelnden Personen dieser Ebene dem Leser zu verstehen, daß sie sich, ebenso wie die Uyulála, ihrer Rolle als »Figuren in einem Buch« durchaus bewußt sind, etwa wenn vom »erfahrenen Phantásienreisenden« (UG 427) Koreander gesagt wird : »Vielleicht hat [Die unendliche Geschichte] in genau diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin« (UG 426) – womit er offenkundig auf den Leser von Endes Roman anspielt. Auf der Suche nach der »eigentlichen« Rahmenhandlung rutscht so der Leser gleichsam im54 | Grundlagen 

mer wieder ein Stockwerk tiefer, bis er schließlich bei sich selbst, bei seiner eigenen Existenz anlangt. Dadurch aber hat die reflexive Bewegung in der Unendlichen Geschichte ihren äußersten Kreis geschlagen, hat nicht nur die Figuren im Buch, nicht nur dessen fiktiven Leser Bastian,106 sondern auch den realen Leser von Endes Roman in ihren Bann gezogen – und der Autor sein erklärtes Ziel erreicht : »Geschichten zu schreiben, die [den Leser] auf sich selbst zurückverweisen.«107 ■ Ethik In jener Reflexivität, die wir im vorigen Abschnitt als wesentlichen Zug der Unendlichen Geschichte erkannt haben, zeigt sich das Endesche Werk dem philosophischen Denken zweifellos verwandt – was sie zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die philosophische Interpretation macht. Dies klärt allerdings noch nicht die Frage, ob wir tatsächlich von einem eigenen philosophischen Denken Endes auszugehen haben, das sich in seinen Werken spiegelt. Bis hierher nämlich könnte man jene Reflexivität, wenn man wollte, noch als ein zwar tiefsinniges, aber letztlich bedeutungsloses künstlerisches Spiel abtun, wie wir es etwa schon bei Cervantes finden.108 Indes verfolgt die reflexive Bewegung innerhalb der Unendlichen Geschichte, anders als im Don Quijote, ein ganz bestimmtes Ziel. Je mehr der Leser sich selbst und seine Welt in den Roman einbezogen findet, desto mehr ist er geneigt, die darin aufgezeigten Problemstellungen als »wirklich« zu akzeptieren. Der drohende Untergang des Reiches menschlicher Phantasie und Kreativität wird ihm so zu dem, was er offenbar auch für Ende selbst war : zu einer realen, existentiellen Gefahr, der es zu begegnen gilt. Dies ist zweifellos vom Autor beabsichtigt. Im bereits erwähnten Gespräch mit Joseph Beuys vertritt Ende mit Nachdruck die Meinung, es sei gerade die Aufgabe des Schriftstellers, des Malers, des Bildhauers, daß er Vorstellungen entwirft, in denen sich viele Menschen wiedererkennen und sagen können : Ja, genau das […] betrifft uns ! Und zwar nicht abstrakt, nicht philosophisch, nicht begrifflich, sondern in ganz konkreten sinnlichen Bildern wird es deutlich. Und dann plötzlich wird eine solche Lebensgebärde zum Habitus aller, sie Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 55

können sie übernehmen, und sie können sich auch so verhalten, weil sie sagen : So wollen wir sein.109

Inwieweit sich diese Vermittlung einer Lebensgebärde eigentlich von jenem »Verpacken einer Botschaft« unterscheidet, das Ende so vehement ablehnte, wird in dieser Arbeit noch zu erörtern sein.110 Fest steht, daß hier ein Begriff von Kunst zugrunde liegt, der über das rein Ästhetische weit hinausgeht, ein Begriff, der seinem Wesen nach ethisch ist. Jene Problematik des Umgehens mit Phantasie- und damit Weltverlust, die sich in der Unendlichen Geschichte zeigt, betrifft indes nicht nur den Leser des Romans, sie betrifft auch – und sogar in erster Linie – den Schriftsteller Ende selbst, der sich vor die schwierige Aufgabe gestellt sieht, in einer sich zusehends funktionalisierenden Welt »Bilder gegen das Nichts«111 zu entwerfen. Was hier im Kontext der Unendlichen Geschichte angedeutet wurde, ließe sich mit ebensolcher, wenn nicht noch größerer Berechtigung auf Momo anwenden. Ganz ähnlich jenem blühenden Phantásien, das sich durch die zunehmende Funktionalisierung der »Menschenwelt« langsam, aber sicher in Nichts auflöst, ist die vitale Welt kindlicher Kreativität, in deren Zentrum Momo steht, durch die Agenten der »Zeit-Spar-Kasse« bedroht (die ja in Wahrheit ebenfalls »nichts« sind, wie wir von Meister Hora erfahren (MO 155)). Mehr noch : Ob im Gauklermärchen, wo der bunte Mikrokosmos eines Zirkus Gefahr läuft, ökonomischen Interessen und Zwängen geopfert zu werden (wovor das eigentliche Märchen, von einem der Gaukler erzählt, in poetischen Bildern warnt) ; ob in der Oper Der Rattenfänger, wo der dämonische Spielmann der Sage zum Symbol für die kathartische Kraft der Kunst wird, bekämpft und verfolgt von den geld- und machtgierigen Einwohner Hamelns, deren Kinder er letztlich zu retten vermag – überall finden wir Endes künstlerisches Credo widergespiegelt, wie er es am prägnantesten in einem Gedicht unter dem Titel »Das Umstellen der Lichter« formuliert hat : Das, was dich hindert Kunst zu machen, mache zum Thema deiner Kunst. (NG 137)

Es ist also ein ethisches Ziel, das die reflexive Bewegung in Endes Werk verfolgt. Wenn wir davon ausgehen, daß Endes Grundfrage 56 | Grundlagen 

in etwa lautet : »Unter welchen Bedingungen ist Kunst möglich, unter welchen nicht ?«, so bedeutet dies nicht weniger als eine Aufforderung an den Einzelnen, sich selbst und die Gesellschaft so zu gestalten, daß Kunst möglich ist. Wogegen es dabei anzukämpfen gilt, was es also für Ende vor allem und in erster Linie war, das uns »hindert Kunst zu machen«, läßt sich nach dem oben Gesagten schon relativ deutlich ausmachen. Der Autor selbst pflegte dieses »Hindernde« in zahlreichen Briefen und Gesprächen auf einen Begriff zu bringen, der philosophiehistorisch alles andere als unbekannt ist ; so heißt es etwa in Phantasie/Politik/Kultur : Der Kapitalismus ist doch der eigentliche Krankheitsherd […]. In Zukunft kann es nur eine nicht-kapitalistische Gesellschaft geben – oder gar keine mehr !112

Was Ende unter diesem Begriff versteht, worin er jene schier apokalyptische Bedrohung konkret erblickt – damit wird sich die vorliegende Arbeit noch zu beschäftigen haben. Wir müssen jedenfalls nicht erst die Figur der »Geldhexe« Tyrannja aus dem Wunschpunsch oder die bedrückende Erzählung von der »Wunderbaren Geldvermehrung« in Der Spiegel im Spiegel (30 – 44) heranziehen, um festzustellen, daß sich diese kapitalismuskritische Grundhaltung Endes massiv in seinen Werken niederschlägt. Auch die Bildlichkeit in Momo (man denke nur an die absurde Zinsrechnung des Agenten der »Zeit-Spar-Kasse« ! (MO 67 f.)) läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht im geringsten, wenn etwa Roman Hocke über Momo meint : […] mit Momo schreibt Michael Ende ein Buch, mit dem er etwas bewirken und verändern, dem »Funktionalisierungswahn« ent­ gegenwirken will. […] Momo ist kein absichtsloses Spiel der Kunst, wie Ende es eigentlich zu fordern pflegte.113

Aber klaffen Endes Anspruch und Werk hier tatsächlich auseinander, wie Hocke meint ? Dies wäre nur dann der Fall, wenn wir absichtslos mit unethisch oder neutral gleichsetzten. Neutralität in der Bedeutung von Gleichgültigkeit gegenüber den großen Fragen seiner (und unserer) Zeit war dem Schriftsteller wie dem Menschen Ende, der in zahlreichen Gesprächen seine Grundsätze geradezu Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 57

leidenschaftlich verfocht, freilich zeit seines Lebens fremd ; absichtslos in dem Sinne, wie es Hocke hier impliziert, ist wohl kaum eines seiner Werke. Müssen wir also damit rechnen, daß uns Ende letztlich doch wieder jene Art von »Botschaften« aufzudrängen versucht, die er eigentlich so vehement ablehnte ? Dem widerspricht, daß es sich bei seinen Werken eben nicht um bloße Illustrationen moralischer Lehr- oder philosophischer Grundsätze, sondern um in sich stimmige und für sich bestehende Kunst handelt, deren ethischer Gehalt gerade dadurch bedeutsam wird, daß er innerhalb des Werkes weitestgehend in den Hintergrund tritt. Es war niemand anderer als Tolkien, der dieses scheinbare Paradoxon auf den Punkt brachte : Es gibt […] keinen geeigneteren Träger moralischer Belehrung als ein gutes Märchen (worunter ich eine wahrhaft tiefverwurzelte Geschichte verstehe, die um ihrer selbst willen erzählt wird und nicht als Mäntelchen für eine moralische Allegorie dient).114

Hier also sind wir doch noch an einen Punkt gelangt, an dem sich Ende durchaus mit Tolkien trifft.115 Dem ethischen Gehalt von Tolkiens Werken, denen die Reflexivität Endes fehlt, haftet freilich nichts Unverwechselbares an ; er bleibt vergleichsweise allgemein. Tolkiens Schaffen stellt in erster Linie einen Triumph der imaginativen Vorstellungskraft dar ; Ende hingegen thematisiert die Bedingungen der Möglichkeit von Imagination, ja von Kunst überhaupt, was ihn zu sehr konkreten ethischen Fragestellungen führt – Frage­stellungen, die es im Zuge dieser Untersuchung auszuloten gilt.116 Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Grundfragestellung dieser Arbeit ? Wenn Endes philosophisches Denken tatsächlich begrifflich faßbar ist, so können wir davon ausgehen, daß es sich seinem Wesen nach als Kunsttheorie erweisen wird – freilich in jenem weiteren Sinne, in dem auch Bastian oder die Kinder um Momo Künstler sind. Die Frage, wie weit der Kunstbegriff Endes letztlich geht, würde in diesem Fall auch die Grenzen seiner Philosophie abstecken. Weiters steht zu erwarten, daß jener Begriff eine dezidiert ethische Komponente zumindest miteinschließt. Ob diese Thesen zutreffen, wird sich im Fortgang der Untersuchung erweisen.

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4. Warum »Momo« und »Die unendliche Geschichte« ?

Eine Frage bleibt im Rahmen dieses Abschnitts noch zu klären. Wenn es, wie oben angenommen, stets dieselben Grundthemen sind, die sich durch das künstlerische Schaffen Endes ziehen  – warum konzentriert sich diese Untersuchung dann ausgerechnet auf Momo und Die unendliche Geschichte ? Wodurch zeichnen sich diese Romane in bezug auf das (vermutete) Endesche Denken aus ? Und könnte es nicht zielführender sein, die Untersuchung auf einen der beiden zu beschränken ? Eines der gewichtigsten Argumente gegen eine isolierte Betrachtung von Momo oder Die unendliche Geschichte findet sich in der Tatsache, daß ein Verbindungsstück zwischen ihnen existiert, welches die beiden zentralen Romane Endes auf eindrucksvolle Weise als Einheit erscheinen läßt. Die posthume Veröffentlichung dieses Missing Link, des Romanfragments Der Niemandsgarten (1998), kann als mittlere literarische Sensation bezeichnet werden – beginnt dieses doch als eindeutige Fortsetzung von Momo (die lediglich das Happy End des Märchenromans ignoriert, also von einem Sieg der Grauen Herren ausgeht), um dann unverkennbar in eine Urfassung der Unendlichen Geschichte überzugehen, der eigentlich nur eines fehlt – die Idee, die Ende in Genzano di Roma aus dem Zettelkasten zog.117 Roman Hocke, der als Herausgeber zeichnete, schreibt über das Fragment : Wie der Leser mühelos feststellen wird, handelt es sich bei Der Niemandsgarten um eine Vorstufe zu Die unendliche Geschichte. Wir erkennen darin eine beeindruckende Verbindung zwischen der Welt Momos und der phantastischen Reise von Bastian Balthasar Bux. Während der Anfang von Der Niemandsgarten noch an die Welt der Momo erinnert – Norm heißt hier die Stadt, die von den Grauen Herren zu einem Muster an Effizienz umgestaltet wurde – , beginnt mit dem Eintritt in das »Niemandsland«, das niemand [sic] oder eben allen gehört, die Schilderung einer Phantasiewelt, in der der Leser rasch die wesentlichen Konturen des Phantásien aus der Unendlichen Geschichte erkennt. (NG 321)

Tatsächlich vollzieht sich der Übergang zwischen Momos und Bastians Welt nicht bloß durch jenen Eintritt des Mädchens Sophie Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 59

ins »Niemandsland«, sondern läßt sich das ganze Romanfragment hindurch verfolgen – nicht zuletzt deshalb, weil Sophie selbst eine Art »Übergangsfigur« zwischen Momo und Bastian darstellt. Als unschuldiges Kind in einer zutiefst feindlichen Welt gleicht sie Momo, deren mystische Aura ihr allerdings fehlt. Dies wiederum läßt sie plastischer, »menschlicher« wirken als jene, weniger plastisch freilich als Bastian, dessen negative Charaktereigenschaften sie nicht teilt. In einem jedoch gleicht sie Bastian völlig : Sie ist hochbegabt mit jener Fähigkeit des Träumens und Geschichtenerfindens, die Momo, wie ausdrücklich festgehalten wird (MO 25), keineswegs in besonderem Maße besitzt. Außer Zweifel steht, daß es sich bei Sophies Heimatstadt Norm um den vollkommen trostlosen Endzustand jener namenlosen Großstadt handelt, an deren Rand das Amphitheater Momos lag ; ebenso, daß die Unterschiede zwischen Niemandsland und Phantásien marginal und weitgehend bedeutungslos sind. Da die Hauptfigur des Romanfragments weiblich ist, finden wir anstelle der Kindlichen Kaiserin einen »kleinen Zaren«, in den sich Sophie ebenso auf kindliche Weise verliebt wie Bastian in Mondenkind ; der Elfenbeinturm ist hier noch ein »Schloß aus buntem Glas« (NG 215) ; und dergleichen mehr. Im Wesentlichen aber betritt Bastian Balthasar Bux mit Phantásien eine bereits fertige Welt, die von Ende in bewußtem Gegensatz zur von den Grauen Herren verwüsteten »Menschenwelt« gestaltet wurde. Selbst die fragile und komplexe Wechselwirkung der beiden Welten, die für die Unendliche Geschichte so bedeutsam sein wird, ist hier schon angedeutet : Die von den Grauen Herren mit der Krankheit der »tödliche[n] Langeweile« (MO 244) infizierten Menschen wissen nichts mehr vom Niemandsland ; dessen kleiner Zar aber, auf sie angewiesen wie die Kindliche Kaiserin in ihrer Krankheit, schläft und kann nicht mehr erwachen. Der Niemandsgarten lehrt uns also, daß Momo und Die unendliche Geschichte in Endes Schaffensprozess ursprünglich eine thematische Einheit bildeten. Dennoch fällt auf, daß die beiden Romane einander durchaus unähnlich sind. Worin ist diese Verschiedenheit begründet ? Hocke/Neumahr118 nennen Momo ein sozialkritisch-utopisches, Die unendliche Geschichte hingegen ein psychologisches Buch. Dies könnte man so verstehen, daß Die un60 | Grundlagen 

endliche Geschichte zu zeigen versucht, wie jene gesellschaftliche Problematik, welche in Momo das Individuum bedrängt und bedroht, im Individuum zu bewältigen ist. Es wäre – so dies zutrifft – kein Zufall, daß Ende im Verbindungsstück Der Niemandsgarten den märchenhaft-naiven Schluß von Momo revidiert. Anders als Momo hat das Mädchen Sophie nicht mehr die Möglichkeit, durch simple Kunstgriffe wie das Schließen und Öffnen einer Tresortür die Welt vor den Grauen Herren zu retten ; wie Bastian muß sie den Weg durch ihr ganz persönliches Niemandsland gehen – ihre »Innenwelt«119, das Reich ihrer Phantasie. Es wurde oben die These geäußert, die Grundfrage Endes sei jene nach den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst – und zwar im weitesten Sinne des Wortes. Betrachten wir Momo und Die unendliche Geschichte unter diesem Aspekt, so zeigt sich uns eine deutliche thematische Zweiteilung. Momo ist insofern sozialkritisch zu nennen, als es jene Strukturen und Mechanismen zum Thema hat, welche die menschliche Kreativität behindern, ja ersticken – und damit, wenn wir Ende folgen, das Menschsein selbst. Für ihn nämlich war, wie sich in seinem ganzen Werk zeigt, das Schöpferische einfach schlechthin das Menschliche. Es ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich daß er schöpferisch sein kann.120

Genau dieses »Schöpferische« aber, das in Momo eigentlich nur gestreift wird,121 wird in der Unendlichen Geschichte zum offenbar beherrschenden Thema. Es ist nichts anderes als seine eigene, im wahrsten Sinne des Wortes sinnstiftende Kreativität, die es dem orientierungslosen Außenseiter Bastian ermöglicht, sich selbst und damit letztlich auch seine Lebenswelt zum Positiven zu verändern. Warum dies in seinem Falle, im Gegensatz zu jenen kläglich Gescheiterten in der Alten Kaiser Stadt, deren Schaffenskraft sinnlos vergeudet wurde, auch tatsächlich gelingt, ist wohl die zentrale Frage, welche die vorliegende Arbeit an Die unendliche Geschichte zu stellen haben wird. Wir sehen, daß Die unendliche Geschichte insofern als thematisches Gegenstück zu Momo gelten kann, als sie die Bedingungen der Möglichkeit eines kreativen, sinnerfüllten Menschseins auslotet, während der Märchenroman in erster Linie jene StrukPfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 61

turen zum Thema hat, die ein solches verhindern. Damit hätten wir, wenn die oben geäußerte These zutrifft, beide Seiten von Endes Grundthematik vor uns – und zwar in exemplarischer Weise. Eine philosophische Betrachtung anderer Werke Endes muß deshalb natürlich nicht etwa fruchtlos verlaufen ; die Konzentration der vorliegenden Untersuchung auf seine beiden zentralen Romane scheint aber in jedem Falle geboten. Ich möchte hierbei die beiden nächsten (und zentralen) Teile dieser Arbeit primär der Darstellung des Endeschen Denkens im Spiegel von Momo und Die unendliche Geschichte widmen, bevor der vierte Teil die Untersuchung mit einer »kritischen« Rückschau abschließt. 5. Ergebnisse

Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels (C) soll dieses abschließen. Es sind dies gleichzeitig Arbeitshypothesen für den weiteren Fortgang der Untersuchung.

① Eine philosophische Interpretation poetischer Texte ist möglich,

vorausgesetzt, daß die prinzipielle Andersartigkeit poetischer gegenüber logisch-begrifflicher Sprache respektiert wird. ② Da jene These, die Endes künstlerisches Schaffen als einen Versuch zur »Überwindung des abstrakt-begrifflichen Denkens« deutet (Kowatsch122), nicht zu halten ist, gibt es keinen Grund, sein Werk von dieser Möglichkeit auszunehmen. ③ Endes Werk weist in erster Linie durch seinen reflexiven Charakter (der es etwa von den Werken Tolkiens unterscheidet) auf das eigene philosophische Denken des Autors hin. Diese Reflexivität fordert nicht zuletzt auch den Leser zu weiterführender Reflexion heraus. ④ Das Grundthema von Endes Kunst dürften die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst überhaupt sein. Sein philosophisches Denken ist also, wenn dies zutrifft, seinem Wesen nach Kunsttheorie – freilich im weiteren Sinne. Da nämlich für Ende das Künstlerische (Schöpferische) im Menschen dessen ureigenes Wesen ausmacht, hätten wir es mit einer Reflexion über das Menschsein überhaupt zu tun. 62 | Grundlagen 

⑤ Endes philosophisches Denken schließt, soweit wir bis jetzt se-

hen können, eine starke ethische Komponente mit ein, insofern nämlich, als die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen, welche schöpferisches Menschsein ermöglichen, einer Aufforderung an den einzelnen gleichkommt, diese Bedingungen real entstehen zu lassen. ⑥ Konkret versucht Ende vor allem in Momo jene Strukturen aufzuzeigen, welche das Schöpferische im Menschen zu ersticken drohen und die er selbst als Ausdrucksformen des Kapitalismus verstand – also in erster Linie die Bedingungen der Verhinderung von Kunst. ⑦ In der Unendlichen Geschichte hingegen rückt die menschliche Schaffenskraft selbst in den Blick, welche den einzelnen ermächtigt, jenen Strukturen auch und vor allem in sich selbst erfolgreich zu begegnen und so zu einem sinnvollen, d. h. kreativen Menschsein zu gelangen. Indem gezeigt wird, wie dies konkret gelingen kann, werden so letztlich die Bedingungen der positiven Möglichkeit von Kunst zum Thema.

Pfade zum philosophischen Denken Michael Endes | 63

TE IL II » M O M O « O DE R D IE K Ä LTE DES K A PITA LISM US A. Der Weg zum Nirgend-Haus Wenn man davon ausgeht, daß Literatur auch eine gesellschaftskritische, politische Aufgabe hat, so kenne ich eigentlich kein Buch, dessen Gesellschaftskritik so tief ansetzt und, wenn man so will, so systemgefährdend ist wie Momo. – Erhard Eppler –

Beginnen wir mit einer ganz naiven Frage. Worum geht es in Momo ? »Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte« – so untertitelte Ende selbst sein Werk. Was liegt näher als die Annahme, im Zentrum des Romans stehe der Begriff der Zeit ? So wurde Momo in der Tat interpretiert  – zuletzt etwa von Gernot Böhme, dem wir eine der raren philosophischen Annäherungen an Endes Werk verdanken.123 Indes läuft eine solche Lesart Gefahr, den Märchenroman auf eine belehrende Fabel über ein scheinbar abstraktes Thema zu reduzieren, was den Intentionen des Autors wohl kaum gerecht wird. Als gesellschaftskritisches Werk, das »etwas bewirken und verändern [will]« (Hocke/Neumahr),124 warnt Momo vor ausgesprochen realen Gefahren – wie ja auch der Untertitel, genau gelesen, nicht etwa von »der Zeit« als Abstraktum, sondern vom konkreten Verlust von Zeit spricht. In Momo geht in der Tat Dramatisches vor : Unbedarfte Opfer werden auf vampirische Weise ihres Lebens beraubt ; eine solidarische Gemeinschaft zerfällt in vereinzelte, verbitterte Individuen ; blühende Städte werden zu »endlosen Reihen« (MO 73) seelenloser Wohnsilos entstellt ; ja, das Überleben der gesamten Menschheit hängt an einem seidenen Faden. Ein beklemmender Alptraum ? Eine apokalyptische Vision ? Nein, so versichert uns der Autor, sondern schlicht und einfach  – ein »Bild unserer Welt« : ihr »wahres Gesicht«.125 Wie wir sehen, trifft Erhard Eppler ins Schwarze, wenn er Momo als  65

zutiefst »systemgefährdend« interpretiert. Dieses System aber läßt sich – zumal für Michael Ende – ganz konkret benennen. Wenn er im selben Gespräch eindringlich vor den »Krebsgeschwüren« des Kapitalismus warnt,126 so bringt er eine Sorge zum Ausdruck, die nicht nur sein Denken, sondern ohne Zweifel auch sein Schaffen in hohem Maße prägt. Auf welches Werk träfe dies mehr zu als auf Momo ? Was ist dieses »Bild unserer Welt«, mit dem uns Ende hier konfrontiert, wenn nicht das einer kapitalistischen Gesellschaft am Rande des Abgrunds ? Es wird zu zeigen sein, daß dieser nicht etwa bloß allgemein zivilisations-, sondern explizit kapitalismuskritische Kontext das Werk bis in die feinsten Verästelungen seiner Struktur durchzieht. Werden nun einzelne Elemente – und seien sie so zentral wie der Begriff der Zeit – aus diesem Kontext gelöst, so zerfällt der Märchenroman unter den Händen des Interpreten nur allzuleicht in glänzende Einzelteile. Fragestellungen, welche die systemkritische Grundtendenz des Werkes berücksichtigen, wären hingegen etwa folgende : Worin wurzelt für Ende das Phänomen des Kapitalismus ? Welcherart sind die Strukturen der kapitalistischen Ideologie, wie sie sich in Momo zeigt ? Was bezweckt sie – und was bewirkt sie praktisch ? Was stellt Ende ihr entgegen ? Und schließlich : Warum ist gerade der Begriff der Zeit hierbei derart bedeutsam ? Man sieht : Wir werden bis zu Meister Horas Weltuhr einen weiten Weg zu gehen haben. B. Die neue Welt des Marxentius Communus Der Kommunismus ist eine gewaltige Idee, die nur den Nachteil hat, daß sie sich verwirklichen läßt. – Karl Farkas –

1. Momo in der Geschichte und eine Geschichte in Momo

Als Warnung vor dem Kapitalismus hat Momo seine Aktualität nicht bloß bewahrt, es zählt mit Aldous Huxleys Brave New World zu jenen Büchern, die ihrer Zeit auf beklemmende Weise voraus sind. »Heute herrschen die grauen Herren fast unumschränkt«, stellt Anne-Catherine Simon (Die Presse) zum 40. Jahrestag der Erstausgabe lapidar fest.127 Mit anderen Worten : Jenes häßliche 66 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

»wahre Gesicht« unserer Gesellschaftsform ist am Beginn des dritten Jahrtausends auch außerhalb der Buchdeckel von Momo kaum mehr zu übersehen. Die Rasanz dieser Entwicklung, die sich insgesamt als eine der größten Herausforderungen der Menschheitsgeschichte erweisen dürfte, hat sich seit dem weltweiten Zusammenbruch »realsozialistischer« Systeme um das Jahr 1990 noch erhöht. Zur Zeit des Kalten Krieges, als sich zwei antagonistische Blöcke in prekärem Gleichgewicht gegenseitig belauerten, sahen sich »[d] ie kapitalistischen Oligarchien des Westens […] gezwungen, Zugeständnisse zu machen, ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und gewerkschaftlicher Freiheit zu gewähren […], weil um jeden Preis die kommunistische Option im Westen verhindert werden mußte« (Jean Ziegler)128 . Ohne auch nur im mindesten an den Wurzeln des herrschenden Systems zu rühren, wurden so seine bedrohlichsten Auswüchse lange Zeit leidlich gehemmt. Nach 1990 hatte der vermeintlich siegreiche Westen dies schlicht nicht mehr nötig. So folgte der »Wende« nicht nur ein Ende brutalster Unterdrückungsmethoden in den betroffenen Staaten, sondern bald auch das Gespenst eines im wahrsten Sinne des Wortes weltumspannenden, schrankenlosen, in sämtliche Gesellschafts- und Lebensbereiche eindringenden Kapitalismus – dem ein kümmerlicher Restbestand kommunistischer Systeme, die vollauf mit der Vermeidung des eigenen Untergangs beschäftigt sind, machtlos gegenübersteht. Ein ganz ähnliches Bild bietet der Kampfplatz der Theorie : Während ein marginalisiertes Grüppchen orthodoxer Marxisten darauf beharrt, daß lediglich die Umsetzung, nicht aber die Idee an sich gescheitert sei, gilt der historische Bauchfleck des Kommunismus neoliberalen Ideologen weltweit als Beweis für die ultimative Überlegenheit der kapitalistischen Gesellschaftsform. Mehr noch : Jenes berüchtigte »TINA-Argument« (There Is No Alternative), das darauf abzielt, jegliche Systemkritik im Keim zu ersticken, triumphiert seit 1990 auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Diskurses. Dessenungeachtet – oder vielmehr gerade deshalb – ist eine fundamentale und fundierte Kritik des Kapitalismus jenseits von Marx und Engels heute notwendiger denn je. Welche Position nimmt Momo hier ein ? Kann aus einem »Märchenroman« tatsächlich erschlossen werden, wie sein Verfasser zum Marxismus stand ? Es kann  – vorausgesetzt, man liest das Die neue Welt des Marxentius Communus | 67

Werk mit gebührender Sorgfalt. Oder sollte jene abenteuerliche Baugeschichte von Momos Amphitheater, die ihr bester Freund Girolamo amerikanischen Touristinnen auftischt, wirklich so ganz aus der Luft gegriffen sein ? »Selbstverständlich ist es sogar bei Ihnen im schönen, freien Amerika bekannt, meine hochverehrten Damen, daß der überaus grausame Tyrann Marxentius Communus, genannt der ›Rote‹, den Plan gefaßt hatte, die ganze Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern. Aber was er auch tat, es zeigte sich, daß die Menschen trotz allem so ziemlich die Gleichen blieben und sich einfach nicht ändern ließen. Da verfiel Marxentius Communus […] auf die Idee, die bestehende Welt hinfort sich selbst zu überlassen und lieber eine vollkommen nagelneue Welt zu bauen. Er befahl also, einen Globus herzustellen, der genauso groß sein sollte wie die alte Erde und auf dem alles, jedes Haus und jeder Baum und alle Berge, Meere und Gewässer ganz naturgetreu nachgestellt sein müßten. Die gesamte Menschheit wurde unter Androhung der Todesstrafe gezwungen, an dem ungeheuren Werk mitzuarbeiten. Zuerst baute man einen Sockel, auf dem dieser Riesenglobus stehen sollte. Und die Ruine dieses Sockels sehen Sie hier vor sich. […] Natürlich brauchte man sehr viel Material für diesen Globus, und dieses Material konnte man ja nirgends anders hernehmen als von der Erde selbst. So wurde eben langsam die Erde immer kleiner, während der Globus immer mehr wuchs. Und als die neue Welt schließlich fertig war, hatte man dazu haargenau das letzte Steinchen, das von der alten Erde noch übrig geblieben war, wegnehmen müssen. Und natürlich waren auch alle Menschen auf den neuen Globus umgezogen, denn der alte war ja verbraucht. Als Marxentius Communus erkennen mußte, daß nun trotz allem eigentlich alles beim Alten geblieben war, hüllte er sein Haupt in die Toga und ging davon. Wohin, hat man niemals erfahren. […]« (MO 49 f.)

Natürlich klingt dieser Vortrag eher nach einer Demonstration von »Gigis« erstaunlichem Witz und Erzähltalent als nach einer ernsthaften Abrechnung Endes mit dem Marxismus. Man braucht indes nur den Wunschpunsch zu lesen, um zu wissen, wie gerne Ende 68 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

scharfe inhaltliche Kritik hinter scheinbar verbindlichem Humor verbirgt. Der aufmerksame, philosophisch interessierte Leser wird den Versuch des erfundenen »Marxentius«129, eine neue Welt aus den Bestandteilen der alten zu bauen, jedenfalls ebenso bemerkenswert finden wie sein völliges und spektakuläres Scheitern. Wir werden im Laufe dieser Untersuchung vielleicht noch ausmachen können, welche Bauteile es für Ende sind, auf die »Marxentius« bei seinem ehrgeizigen Projekt wohl doch besser verzichtet hätte. Eines aber steht jetzt schon fest : Daß sich diese satirische Abgrenzung von Marx rein zufällig in den kapitalismuskritischen Märchen­ roman verirrt hätte, können wir aussschließen. Das würde wohl nicht einmal einem Girolamo einfallen. 2. Ende und der Marxismus

Werfen wir einen kurzen Blick zurück auf Endes Biographie, so zeigt sich, daß er selbst mehr mit Marxentius zu schaffen hatte, als der überlegen-ironische Ton von Gigis Parabel verrät. Waren es nicht die stramm ideologischen Theorien eines Bertolt Brecht, mit denen der junge Schriftsteller seinen eigenen kreativen Quell derart verschüttete, daß er gar »den Beruf aufgeben [wollte]« ?130 Hat er nicht selbst später beklagt, er habe lange Jahre am Marxismus Brechtscher Prägung »schwer […] laboriert« ?131 Und entstand sein Märchenroman nicht ausgerechnet in der Auf- und Umbruchszeit der späten Sechzigerjahre, als marxistisches Gedankengut im gesellschaftlichen Diskurs eine Rolle spielte, die uns heute kaum mehr vorstellbar ist ? Freilich hatte Ende zur Zeit der Arbeit an Momo bereits mit vielen seiner früheren Überzeugungen gebrochen, wie uns nicht nur die grandiose Niederlage des Marxentius Communus verrät. Im Vorwort zum 1967 uraufgeführten Drama Die Spielverderber betont er zwanzig Jahre danach : Der Marxismus schien mir in den wesentlichen Punkten längst überholt, an den Klassenkampf, aus dem Brecht sein rauhbeiniges Pathos bezog, glaubte ich damals schon nicht mehr […]. (MB 303)

Oberflächlich betrachtet, ließe diese Abkehr von marxistischen Ideen ein Abklingen der Endeschen Kapitalismuskritik erwarten. Die neue Welt des Marxentius Communus | 69

Das Gegenteil ist der Fall : Spannen wir einen Bogen von Momo über das Gauklermärchen bis hin zu Wunschpunsch und Rattenfänger, so kommen wir nicht umhin zu bemerken, daß sich wenn nicht die inhaltliche Kritik, so doch der Tonfall beständig verschärft.132 Noch klarer wird das Bild, wenn wir Gesprächsprotokolle und Interviews in Betracht ziehen, wo Ende seine Einschätzung des herrschenden Systems – wie wir gesehen haben – in durchaus drastische Metaphern zu kleiden pflegt. Wo aber herrscht dieses System ? Ende macht keinen wesentlichen Unterschied zwischen Ost und West ; selten vergißt er klarzustellen, es sei »der Staatskapitalismus kommunistischer Prägung ebenso wie unser Privatkapitalismus«133 gemeint. Schlägt nicht Girolamos Geschichte in dieselbe Kerbe ? Für Ende, so können wir folgern, ist der politisch-revolutionäre Marxismus seiner Zeit nicht etwa deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er sich dem Kapitalismus entgegenstellt, sondern weil er trotz allem in den Grundirrtümern der kapitalistischen Ideologie befangen bleibt. Und noch etwas legt der Autor von Momo nicht nur durch das Fiasko des alten Communus nahe : Der Fehler ist für Ende wohl bereits bei Marx selbst zu suchen. Das verspricht einiges. Zum einen scheint es, daß die Kapitalismuskritik des Michael Ende der eines Karl Marx an Schärfe durchaus gleichkommt ; zum anderen können wir annehmen, daß es nicht die ausgetretenen Pfade des Marxismus sein werden, auf die uns der Autor von Momo führt. Wir wollen uns von dieser Erwartung leiten lassen, wenn wir unsere Reise durch das Denken Michael Endes im Spiegel des Märchenromans nun mit der Frage nach dem Ursprung der kapitalistischen Ideologie beginnen. C. Der Dämon des Herrn Fusi Graue kalte Augen wissen nicht, was die Dinge werth sind ; graue kalte Geister wissen nicht, was die Dinge wiegen. – Friedrich Nietzsche –

Ich stieg also auf das Podest und las erstmal den Managern zur allgemeinen Verblüffung ein Kapitel aus der Momo vor. Die Stelle mit Herrn Fusi, dem Friseur. Danach herrschte Ratlosigkeit im Saal. […] Schließlich stand einer auf und sagte : Was soll der Quatsch ? 70 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Das hat doch überhaupt keinen Sinn, wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, und die Tatsachen sind eben die, daß wir, wenn wir nicht mindestens drei Prozent Wachstum im Jahr haben, nicht konkurrenzfähig sind und wirtschaftlich zugrundegehen.134

So hatten sich die Führungskräfte eines Großkonzerns den »ge­ mütliche[n] Teil«135 ihres Kongresses wohl nicht vorgestellt ! Die Veranstaltung endete im Eklat : Die Lesung mußte abgebrochen werden. Wer »die Stelle mit Herrn Fusi« kennt, den wird es indes kaum erstaunen, daß dieses Kapitel bei den selbsternannten Leistungsträgern unserer Gesellschaft – gelinde gesagt – für Irritationen sorgte. Die Rechnung ist falsch und geht doch auf (so die Überschrift ; MO 59 – 74) ist nicht allein das Herzstück des Märchenromans ; es ist das Kernelement der Endeschen Kapitalismuskritik schlechthin. Anders als jene vor den Kopf gestoßenen Zuhörer wollen wir uns deshalb die Zeit nehmen, uns dieser so wichtigen Passage mit aller gebotenen Sorgfalt zu widmen, um anschließend die Grundpfeiler von Endes Kapitalismuskritik – in seiner Abgrenzung zu Marx – herauszustellen. 1. Ein Besuch mit Folgen Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei, und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag, und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter. »Mein Leben geht so dahin«, dachte er, »mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.« (MO 60)

Was Fusi beschäftigt, sind recht eigentlich Sinnfragen. Daß es nicht etwa materiell gemeint sein kann, wenn es heißt : »Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ?«, liegt auf der Hand. Abgesehen davon, daß Fusi keineswegs unter Armut leidet (sein kleiner Laden ist »in seiner Straße gut angesehen« (MO 60)), zeigt uns schon der nächste Satz, was es in Wahrheit ist, das ihn quält – das Wissen um die eigene Sterblichkeit. »Wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als Der Dämon des Herrn Fusi | 71

hätte es mich nie gegeben.« Eine grauenhafte Vorstellung ! Sollte es denn gar keine Möglichkeit geben, diesem Schicksal zu entrinnen ? Daß es gerade die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit ist, an der sich Fusis Sinnfragen entzünden, ist gewiß kein Zufall.136 Zwar kann dem Denken prinzipiell jeder seiner bedingten Inhalte zum Anlaß werden, nach einem sinnstiftenden Grund zu suchen. Die ganze existentielle Schärfe der Frage tritt aber erst dadurch zu Tage, daß auch die eigene leibliche Existenz, an die das Denken unwiderruflich gekoppelt scheint, als einer dieser bedingten, endlichen Inhalte erkannt wird. Dies schließt nicht nur von vornherein aus, daß sie die gesuchte sinngebende Instanz sein könnte, es führt auch zu der wahrhaft abgründigen Frage, welchen Anspruch auf Sinnerfüllung ein Wesen, dem die eigene Vernichtung vor Augen steht, überhaupt zu stellen hat. Völlig zu Recht will daher Fusi wissen : »Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ?«, oder mit anderen Worten : »Welcher Sinn kann darin liegen, daß ich als endliches Wesen existiere ?« Nicht ein bestimmter Aspekt seines Lebens ist es, den Fusi hinterfragt, sondern sein Dasein als solches, in seiner Totalität : Er sucht Sinn hinter den Inhalten seines Bewußtseins. Daß sich dieser nicht etwa in »Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum« erschöpfen kann, leuchtet ein. Welchen Schluß aber zieht Fusi daraus ? Es lohnt sich, seinem inneren Monolog genau zuzuhören : »Mein ganzes Leben ist verfehlt«, dachte Herr Fusi. »Wer bin ich schon ? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch !« Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah. »Aber«, dachte er mißmutig, »für so etwas läßt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muß man Zeit haben. Man muß frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.« In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr 72 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Akten­ tasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte. Herr Fusi schloß die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum. (MO 60 f.)

Lassen wir den grauen Besucher eine Zigarre lang warten (er hat keine übertriebene Höflichkeit verdient), um uns Fusis Gedankengänge in Ruhe anzusehen. Deutlich können wir nun den praktischen Hintergrund seiner Sinnfragen ausmachen : Fusi möchte »das richtige Leben führen«. Wer wollte das wohl nicht ? Die alles entscheidende Frage ist indes, was darunter konkret verstanden wird. Gerade in diesem Punkt ist Fusi freilich völlig überfordert, sein Bild des »richtigen Lebens« denkbar diffus : »irgendetwas Bedeutendes«. Das können wir durchaus wörtlich nehmen : Was Fusi so schmerzlich vermißt, ist ja gerade die Bedeutung seiner bisherigen Existenz. Jede Bedeutung aber bedarf einer Instanz, auf die sie sich bezieht. Welche könnte das sein, hier, wo es um das Dasein in seiner Totalität geht ? Fusi ist orientierungslos ; er schwankt und – greift zu den Zeitschriften, die in seinem Laden aufliegen : »Er stellte sich […] etwas Luxuriöses [vor], etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.« Daß ausgerechnet deren Trug- und Scheinwelt zum Fluchtpunkt für Fusis existentielle Fragen und Ängste wird, verheißt nichts Gutes. Was geschieht hier ? Es scheint, daß Fusi seine eigenen Sinnfragen auf merkwürdige Weise mißversteht. Würde durch ein Leben in Luxus seine Sterblichkeit etwa an Schrecken verlieren ? Ließe sich die Leere, die er in seinem Dasein wahrnimmt, tatsächlich ausfüllen durch ein bloßes Mehr an Ansehen, an Macht – an Geld ? Freilich : Fusi wäre »ein anderer Mensch«, wäre er doch  – nach dem Urteil jener Hochglanzmagazine – »bedeutend«. Es ist indes leicht zu sehen, daß der Begriff der Bedeutsamkeit, der dieser Wertung zugrundeliegt, rein quantitativ ist : Wem es gelingt, die oberen Sprossen der menschlichen Gesellschaft (bzw. dessen, was hier dafür gehalten wird) zu erklimmen, gewinnt für diese an »Bedeutung«. Das aber war es mit Sicherheit nicht, wonach Fusi Der Dämon des Herrn Fusi | 73

eigentlich fragte. Ging es ihm nicht vielmehr um den Sinn seines endlichen, bedingten Daseins ? Und müßte ihn gerade diese Bedingtheit, gründlich durchdacht, nicht letztlich auf die Frage nach einem Un-bedingten stoßen, das jenes »richtige«, nämlich sinnvolle Leben überhaupt erst fundieren könnte ? Von derart tiefschürfenden Überlegungen ist Fusi indes weit entfernt, und es wäre absurd, ihm das zum Vorwurf zu machen. Daß einzig und allein philosophische Reflexion den Weg zu einem sinnerfüllten Dasein zu erschließen vermag, ist schließlich nicht gesagt. Mehr noch : Es besteht kein vernünftiger Zweifel, daß ein »richtiges Leben« – so es ein solches denn gibt – durchaus geführt werden kann, ohne zuvor in die Grundfragen der menschlichen Existenz hinabzusteigen. Andererseits wohnt die Tendenz, reflexiv nach Grund und Sinn zu fragen, prinzipiell jedem begrifflichen Denken inne.137 Ein möglichst hoher Grad an Reflexion ist dabei vor allem deshalb wünschenswert, weil er Schutz vor drastischen Kurzschlüssen à la Fusi bietet. Er kann helfen, Fragen wie »Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ?«, denen sich letztlich keiner von uns zu entziehen vermag, mit größtmöglicher Sorgsamund Genauigkeit zu beantworten – und unheilbringenden grauen Besuchern rechtzeitig die Türe zu weisen. »Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, daß Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.« »Das ist mir neu«, erklärte Herr Fusi […]. »Offen gestanden, ich wußte bisher nicht einmal, daß es ein solches Institut überhaupt gibt.« »Nun, jetzt wissen Sie es«, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort : »Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur ?« »Ganz recht, der bin ich«, versetzte Herr Fusi. »Dann bin ich an der rechten Stelle«, meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. »Sie sind Anwärter bei uns.« »Wie das ?«, fragte Herr Fusi, immer noch erstaunt. »Sehen Sie, lieber Herr Fusi«, sagte der Agent, »Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten, das richtige Leben zu führen, wären Sie ein ganz 74 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich recht ?« »Darüber habe ich eben nachgedacht«, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter. »Na, sehen Sie !«, erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. »Aber woher nimmt man Zeit ? Man muß sie eben ersparen ! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. […]« (MO 61 f.)

Hier müssen wir kurz unterbrechen. Woher kennt der Agent eigentlich Fusis Gedankengänge derart genau, daß er sie Wort für Wort wiederzugeben vermag ? Daß es sich um bloße Nachlässigkeit des Autors handelt, können wir bei einem Werk, das in sechs Jahren intensiver Arbeit entstand, getrost ausschließen.138 »Darüber habe ich eben nachgedacht«, erwidert Fusi auch noch – wirkt das nicht wie ein Wink mit dem Zaunpfahl an den Leser ? Wie berühren hier bereits eine Frage, deren Bedeutsamkeit für die Interpretation von Momo kaum überschätzt werden kann  – jene nach dem Wesen der Grauen Herren. Nicht zufällig waren es diese namenlosen »Agenten der Zeit-Spar-Kasse«, die im Zentrum der zeitgenössischen, zumal marxistischen Kritik standen. Ein aufschlußreiches Beispiel dafür gibt Ende in Phantasie/Kultur/Politik wieder : Ich erinnere mich gut daran, wie mir Malte Dahrendorf einmal in einer Diskussion vorwarf, daß ich die Gesellschaft der Ausbeuter als eine Geister- oder Gespenstergesellschaft zeige. Er fand, das sei ein Ausweichen vor dem eigentlichen Problem. Er meinte, man könne doch die Leute, die Ausbeuter sind, mit Vornamen und Nachnamen nennen. Ich antwortete ihm damals, daß ich nicht glaube, daß die Problematik, in der wir heute stehen, die Problematik der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, durch den bösartigen Charakter einiger weniger Ausbeuter zustande käme …139

Tatsächlich ist die Anonymität der Agenten, an der sich Dahrendorf stößt, nur ein Aspekt ihrer umfassenden Unpersönlichkeit. Ihre völlige, makellose Gleichartigkeit (MO 116 f.) ; ihr Entstehen aus dem und spurloses Vergehen ins Nichts (MO 117 – 121) ; ihr mysteriöses Verschwinden aus der Erinnerung ihrer Opfer140  – all Der Dämon des Herrn Fusi | 75

das stellt das »Geister- und Gespensterhafte« der Grauen Herren so nachdrücklich heraus, daß es schon ans Klischee grenzt. Was aber hat es zu sagen, wenn hier, am neuralgischen Punkt des Romans, plötzlich ein Geist in Erscheinung tritt ? – Was Dahrendorf in der gespenstischen Gilde sieht, wissen wir : ein bis zur Unkenntlichkeit verschwommenes Bild jener »Ausbeuter«, die vom kapitalistischen System profitieren. Läge er damit richtig, so wäre seiner Kritik nichts zu entgegnen. Wir werden indes noch entdecken, daß es sich genau umgekehrt verhält : In den Grauen Herren nimmt etwas Gestalt an, was per se gestaltlos ist – unauffällig, aber um so bedrohlicher.141 Natürlich ist hier auch ein gerüttelt Maß an Ideologie im Spiel. Durch die Brille des Marxisten vermag Dahrendorf die Problematik der kapitalistischen Gesellschaft nicht anders wahrzunehmen denn als Klassenkampf  – während sich Ende gerade von diesem Gedanken nachdrücklich abgewandt hat. Der Vorwurf, er anonymisiere die »Ausbeuter«, geht schon deshalb fehl, weil Ende an eine Klasse der Ausbeuter überhaupt nicht mehr glaubt. Aber das Mißverständnis wurzelt doch tiefer. Es ist gar nicht erst das Auftauchen des grauen Agenten, womit das Unheil in Momo beginnt – es sind Fusis Gedanken. Ist es Zufall, daß ihm der gespenstische Besucher wie auf Stichwort erscheint – um den inneren Monolog fortzusetzen ? Und noch ein Detail für aufmerksame Leser : Wohin blickt Fusi eigentlich während des folgenden Gesprächs ?142 »[…] Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen ?« »Gewiß«, sagte Herr Fusi. Der Agent Nr. XYQ/384/b begann, die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben. »Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden. Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin einunddrei76 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

ßigmillionenfünfhundert-undsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr. Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren. Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens ?« »Nun«, stotterte Herr Fusi verwirrt, »ich hoffe, so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.« »Gut«, fuhr der graue Herr fort, »nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an. Das wäre also dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimilliardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden.« Und er schreib die Zahl groß an den Spiegel : 2 207 520 000 Sekunden Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte : »Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht.« Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er hätte nie gedacht, daß er so reich sei. »Ja«, sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, »es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr ?« (MO 62 f.)

In der Tat ! Ist es nicht erstaunlich, wie grotesk die ganze Rechnung erscheint durch Endes einfachen Kunstgriff, die monströsen Zahlen auszuschreiben ? Und doch ist Fusi bereits in die Falle getappt, hat den Zeitbegriff des Agenten schon inhaliert : »Er hätte nie gedacht, daß er so reich sei.« Die Formel »Zeit ist (wie) Geld« (MO  73), die hier zum ersten Mal aufblitzt, wird bald die ganze Stadt in ihren Bann schlagen. Lassen wir uns nicht täuschen : Das ist keine Metapher ; es ist ein Programm. Wir werden darauf noch zurückzukommen haben. Es ist leicht zu sehen, daß auch hier wieder eine Quantifizierung geschieht – nun freilich schon auf einer wesentlich existentielleren Ebene : Abgezählt und in Sekundenbestandteile filetiert wird nichts anderes als Fusis Leben selbst. Das ist in der Tat notwendig – für das Ziel, das der Graue Herr verfolgt. Nur so läßt sich mit diesem Dasein rechnen ; nur so wird es für die Zeit-Spar-Kasse brauchbar. Seine entscheidende Bestimmung wird dabei schlichtDer Dämon des Herrn Fusi | 77

weg übergangen : daß es Fusis eigenes Leben ist, das nur er selbst und niemand anders für ihn zu führen vermag. Gerade von dieser Individualität, auf die es ankommt, bleibt im Medium der Zahlen, dem Instrument der Vergleichbarkeit, nicht das geringste zurück. Aber Fusis Existenz ist noch auf eine zweite Weise in-dividuell – und auch diese wird tunlichst beiseite geschoben. Jenes Zerhacken seiner Lebenszeit in Sekundenatome, das die grotesken Zahlen auf dem Spiegel produziert, geschieht nämlich in Wahrheit völlig willkürlich. Was sollen Einheiten wie diese, welche das menschliche Denken ihr aufpreßt, mit dem Wesen der Zeit zu tun haben, deren Bestimmung schlichtweg darin liegt, zu vergehen ? Dennoch wird hier der Eindruck erweckt, als wären diese Sekunden nicht nur »real«, sondern geradezu empirische Gegenstände : abzählbar, kontrollierbar, handhabbar. Agent XYQ/384/b wird uns gleich ein drastisches Beispiel dafür liefern. »[…] Aber nun wollen wir weitersehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi ?« »Zweiundvierzig«, stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewußt, als habe er eine Unterschlagung begangen. »Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht ?«, forschte der graue Herr weiter. »Acht Stunden etwa«, gestand Herr Fusi. Der graue Herr rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, daß sich Herrn Fusi die Haut kräuselte. »Zweiundvierzig Jahre – täglich acht Stunden – das macht also bereits vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. Wie viel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern, Herr Fusi ?« »Auch acht Stunden, so ungefähr«, gab Herr Fusi kleinlaut zu. »Dann müssen wir also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen«, fuhr der Agent unerbittlich fort. (MO 63)

Und schon ist ein beträchtlicher Teil von Fusis »Kapital« dahin. Daß er im Schlaf nichts von jener »Bedeutung«, nach der er sich sehnt, zu leisten vermag, kann er kaum leugnen. Auch der gesamte Aufwand für seine Arbeit, die er ja selbst soeben als »Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum« abgetan hat, fällt ohne weiteres dem »Minuskonto« anheim. (In Wahrheit übrigens »bereitete 78 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

[sie] ihm ausgesprochenes Vergnügen« (MO 60) – allein was zählt das schon ?) Aber das ist erst der Anfang ! Hilf- und fassungslos muß Fusi zusehen, wie sein »Vermögen« Stück für Stück zerbröselt. Kein Posten wird ausgelassen : »[…] Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und Sie kaum noch hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit : macht fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend. Aber …«, warf Herr Fusi flehend ein. »Unterbrechen Sie mich nicht !«, herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete. [Er hat keine Zeit zu verlieren.] »Da Ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wie viel Zeit kostet Sie das täglich ?« »Vielleicht eine Stunde, aber …« »Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, daß Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangsverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen Ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzig-tausend.  – Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi ?« (MO 64)

Wir sehen : Der Agent trägt nicht nur eine Nummer anstatt eines Namens, er scheint auch beinah ausschließlich in Zahlen zu denken – wie ein Computer, würde man heute wohl sagen. Dem armen Fusi ist in der Tat »nicht gut«, denn die mysteriöse Kälte, die der Graue Herr verbreitet, kriecht ihm tief in Herz und Knochen. Dennoch sollte man nicht vergessen, daß er selbst es war, der die ganze grausame Annihilierung seines Daseins überhaupt erst ermöglicht Der Dämon des Herrn Fusi | 79

hat. Nichts hat ihn gezwungen, sich auf das Abzählen seiner Lebenssekunden einzulassen ; nichts hindert ihn auch jetzt noch, seinen Besucher vor die Tür zu setzen – am allerwenigsten der Agent selbst. An keiner einzigen Stelle des gesamten Romans wenden die Grauen Herren Gewalt an.143 Halten wir also fest : Fusi wäre frei, sich zu wehren. Er könnte die Denkweise des Agenten schlichtweg ablehnen oder auch kritisch hinterfragen – allein, er tut es nicht. So bleibt schließlich nur, »Bilanz« zu ziehen : »[…] Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind einunddreißigmillionenfünfhundertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölftausend.« Er schrieb die Zahl unter die Summe der verlorenen Zeit : 1 324 512 000 Sekunden – 1 324 512 000 ” 0 000 000 000 Sekunden Er steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen auf Herrn Fusi wirken zu lassen. Und er tat seine Wirkung. Das, dachte Herr Fusi zerschmettert, ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens. Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, daß er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen. »Finden Sie nicht«, ergriff nun der Agent Nr. XYQ/384/b in sanftem Ton wieder das Wort, »daß Sie so nicht weiterwirtschaften können ? Wollen Sie nicht lieber zu sparen anfangen ?« Herr Fusi nickte stumm und mit blau gefrorenen Lippen. (MO 66 f.)

Die Rechnung des Agenten, »die so haargenau aufging«, zielt auf zweierlei ab. Zum einen wird Fusi mit kalter mathematischer Präzision vor Augen geführt, daß ihm von all seinen irdischen Jahren tatsächlich nicht ein einziger Moment – »geblieben ist«, bleibt oder bleiben wird, kurzum : daß er sterblich ist. War nicht genau das der 80 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Stachel, der ihn von Anfang an quälte ? »[W]enn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben« (MO 60). Aber auch jene so entscheidende Frage »Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ?«, die auf den Sinn, auf die »Bedeutung« seiner Existenz gerichtet war, scheint auf drastische Weise beantwortet. Fusis Leben wurde nach allen Regeln der Kunst seziert ; es wurde in handliche Stücke zerlegt und jedes genau unter die Lupe genommen. Das Ergebnis ist niederschmetternd : In diesem ganzen Dasein ist nicht das kleinste Körnchen Sinn zu finden. Im Spiegel der Zahlen betrachtet, erscheint es ohne jede Bedeutung, hinfällig, null und nichtig. Der Clou daran : Auch das ist vollkommen richtig. »Die Rechnung selbst stimmte« ; bei den Schlüssen, die aus ihr gezogen werden, liegt der Hase im Pfeffer. Treten wir gleichsam einen Schritt zurück. Die Ebene, auf der Fusis drängende Sinnfragen behandelt wurden, ist offensichtlich empirisch ; die Methode jene der durchgehenden Quantifizierung. Was an seinem Dasein meßbar ist, wurde gemessen ; es wurde gezählt, gewogen und – für zu leicht befunden. Das Menetekel auf dem Spiegel scheint unwiderlegbar : »Zahlen lügen nicht«. Nein – aber das bedeutet nicht, daß sie auf jede Frage eine Antwort geben könnten ! Das, was Fusi sucht, ist in der Empirie schlicht nicht zu finden ; rein empirisch betrachtet, ist jedes Dasein sinnlos. Genau darauf beruht der »Trick«, mit dem der Agent Fusi (und andere) buchstäblich ums Leben bringt : Seine scheinbar so objektive Methode, die Wirklichkeit durch Meßbarmachung zu erschließen, ist hier in Wahrheit völlig unbrauchbar ; sie kann gar nichts anderes produzieren als graue Nullen. Die »Bedeutung« von Fusis Existenz aber ist damit noch nicht einmal berührt ; dazu nämlich müßten wir die Ebene des Empirischen verlassen. Es scheint, als könne Fusi hier eine Menge von einem anderen Protagonisten Endes lernen, der sich einer ganz ähnlichen Prüfung gewachsen zeigt – und das, obwohl sein Inneres aus nichts als »Säge­mehl oder Schaumstoff« (ZS 186) besteht. In der Fabel Der Teddy und die Tiere (ZS 175 – 187) wird der alte Washable, der auszieht zu ergründen, »wozu man da ist« (ZS 178), von einem geschäftigen Kuckuck belehrt : Der Dämon des Herrn Fusi | 81

»Bei allem kommt es nur auf die Zahl an. Was man zählen kann, ist wirklich. Was man nicht zählen kann, das zählt nicht.« »Ach«, sagte Washable hoffnungsvoll, »könntest du mich dann vielleicht zählen ?« »Gern«, meinte der Kuckuck. »Stell dich mal in einer Reihe auf.« »Das kann ich nicht«, gab Washable zu. »Ich bin nur ich.« »Dann zählst du nicht«, sagte der Kuckuck und flog fort. (ZS 181)

Die Reaktion Washables ist bemerkenswert : Er pfeift auf diese empiristische Abfuhr und setzt – ein Philosoph unter den Teddy­ bären – seine Sinnsuche so unverzagt wie unermüdlich fort. Nicht so Fusi ! Dieser kommt, nachdem er sich dem Dämon der Quantifizierung einmal unterworfen hat, gar nicht mehr auf die Idee, die Denkebene des Agenten etwa zu hinterfragen. Die Folgen sind fatal : Anders als Washable, der seine Individualität völlig richtig einschätzt, wird Fusi nun verzweifelt versuchen, »ein ganz anderer Mensch« (MO 60) zu werden – jemand, »der zählt«. Der Weg dorthin scheint vorgezeichnet. Wenn nämlich all die Sekunden, empirisch betrachtet, den Lebenssinn Fusis schlicht nicht enthalten – was braucht es dann wohl, am meisten und vor allem ? Richtig : noch mehr Zeit. »Hätten Sie beispielsweise«, klang die aschfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr, »schon vor zwanzig Jahren angefangen, täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionenzweihundertachzigtausend Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also zweiundfünfzigmillionenfünfhundertundsechzigtausend. […]« »Großartig«, stammelte Herr Fusi und riß die Augen auf. »Warten Sie ab«, fuhr der graue Herr fort, »denn es kommt noch viel besser. Wir, das heißt die Zeit-Spar-Kasse, bewahren nämlich die eingesparte Zeit nicht nur für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen dafür. […] Wenn Sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen, dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu. Ihr Vermögen verdoppelt sich alle fünf Jahre, verstehen Sie ? Nach zehn Jahren wäre es bereits das Vierfache der ursprünglichen Summe, nach fünfzehn Jahren 82 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

das Achtfache und so weiter. Wenn Sie vor zwanzig Jahren angefangen hätten, täglich nur zwei Stunden einzusparen, dann stünde für Sie in ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr, also nach vierzig Jahren insgesamt, das Zweihundertsechsundfünfzigfache der bis dahin von Ihnen ersparten Zeit zur Verfügung. Das wären sechsundzwanzigmilliardenneunhundertundzehnmillionensiebenhundertundzwanzigtausend.« Und er nahm noch einmal seinen grauen Stift heraus und schrieb auch diese Zahl auf den Spiegel : 26 910 720 000 Sekunden. »Sie sehen selbst, Herr Fusi«, sagte er dann und lächelte zum ersten Mal dünn, »es wäre mehr als das Zehnfache Ihrer ursprünglichen gesamten Lebenszeit. Und das bei nur zwei ersparten Stunden täglich. Bedenken Sie, ob dies nicht ein lohnendes Angebot ist.« »Das ist es !«, sagte Herr Fusi erschöpft. »Das ist es ganz ohne Zweifel ! Ich bin ein Unglücksrabe, daß ich nicht schon längst ange­ fangen habe zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein und muß gestehen – ich bin verzweifelt !« (MO 68)

Nun also ist die Katze aus dem Sack : Fusi soll sein Vermögen der Zeit-Spar-Kasse überlassen  – natürlich nur, damit es Zinsen abwirft. Und was für Zinsen ! Kein Wunder, daß ihm bei diesen Zahlen buchstäblich die Luft wegbleibt.144 Abermals beweist der Agent, wie gut er Fusis wunden Punkt kennt : Zwar verspricht er ihm nicht gerade die Aufhebung seiner Sterblichkeit – das kann er gar nicht, ohne die Ebene des Empirischen zu verlassen. Nein, der Tod soll vielmehr soweit als irgend möglich hinausgeschoben werden, um so, kaum mehr am Horizont erkennbar, seinen Schrecken zu verlieren.145 Gelöst wäre dadurch selbstverständlich nichts. Was Fusi so fundamental fürchtet, ist nämlich gar nicht sein Lebensende als Zeitpunkt, sondern seine individuelle Sterblichkeit ; diese aber läßt sich gar nicht auf Distanz bringen, denn er trägt sie im Innersten mit sich herum. Indes : Wir ahnen bereits, daß der Graue Herr seine Versprechen ohnehin nicht halten wird. Aber nehmen wir die Rechnung des Agenten einmal versuchsweise ernst. Was soll Fusi mit all der »ersparten« Zeit eigentlich anfangen ? »[F]ür das richtige Leben muß man Zeit haben« (MO 60), hat er am Beginn des Kapitels gemeint. Hier also wäre Zeit in Menge – welches aber wäre das richtige Leben ? Wir wissen bis jetzt Der Dämon des Herrn Fusi | 83

nur, daß es irgendwie mit dem »Luxus« jener glitzernden Welt zu tun hat, welche billige Illustrierte ihren Lesern als wirklich verkaufen. Das Skurrile dabei : Auch Fusi weiß nicht mehr. Sein Wunsch nach »irgendetwas Bedeutende[m]« (MO 60) bleibt so diffus wie unreflektiert ; der eigentliche Zweck des »Zeitsparens« die große Leerstelle des ganzen Gesprächs. Sein Besucher wird sich freilich hüten, die Frage zu berühren – aus dem gegenteiligen Grund : Agent Nr. XYQ/384/b kennt den wahren Zweck nur zu genau. Daß die Passage durchgehend in der Terminologie der kapitalistischen Geld- und Zinswirtschaft gehalten ist, ist natürlich nicht zu übersehen. Tatsächlich machen es Stellen wie diese schwierig zu behaupten, der Kapitalismus wäre nicht zentrales Thema von Momo. Nochmals sei betont : Wir haben es hier nicht mit bloßen Metaphern zu tun, die ebensogut anders gewählt sein könnten. Alles, was der Graue Herr vorbringt, läuft letztlich darauf hinaus, Zeit mit Geld zu identifizieren. Der Knoten, der hier geschnürt wird, ist recht eigentlich der des gesamten Romans : die Verbindung individuellen Daseins mit der Akkumulation anonymen Kapitals. Auf einen Begriff gebracht : Zeit-Spar-Kasse. Warum das geschieht, wissen wir noch nicht ; was es für »Anwärter« (MO 61) wie Fusi praktisch bedeutet, können wir uns bereits ungefähr vorstellen. Lassen wir dazu noch einmal den Agenten zu Wort kommen : »[…] Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab ! […] Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder mit Ihren sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, ein große, gut gehende Uhr in Ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren können.« »Nun gut«, meinte Herr Fusi, »das alles kann ich tun, aber die Zeit, die mir auf diese Weise übrig bleibt – was soll ich mit ihr ma84 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

chen ? Muß ich sie abliefern ? Und wo ? Oder soll ich sie aufbewahren ? Wie geht das Ganze vor sich ?« »Darüber«, sagte der graue Herr und lächelte zum zweiten Mal dünn, »machen Sie sich nur keine Sorgen. Das überlassen sie ruhig uns. Sie können sicher sein, daß uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste bißchen verloren geht. Sie werden es schon merken, daß Ihnen nichts übrig bleibt.« »Also gut«, entgegnete Herr Fusi verdattert, »ich verlasse mich also darauf.« »Tun Sie das getrost, mein Bester«, sagte der Agent und stand auf. »Ich darf Sie also hiermit in der großen Gemeinde der Zeit-Sparer als neues Mitglied begrüßen. Nun sind auch Sie ein wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch, Herr Fusi. Ich beglückwünsche Sie !« […] Damit stieg der Agent in sein elegantes, graues Auto und brau­ ste davon. Herr Fusi sah ihm nach und rieb sich die Stirn. Langsam wurde ihm wieder wärmer, aber er fühlte sich krank und elend. Der blaue Dunst aus der kleinen Zigarre des Agenten hing noch lange in dichten Schwaden im Raum und wollte nicht weichen. (MO 69 f.)

Fusis naive Fragen, die der Agent elegant beiseite wischt, zielen auf den entscheidenden Punkt. Man kann keine Zeit sparen. Warum klingt uns diese banale Feststellung so fremd ? Vielleicht, weil wir es hier mit einer der fundamentalen Lebenslügen unserer Gesellschaft zu tun haben ? In Wahrheit vermag natürlich nichts, aber auch gar nichts die verrinnende Zeit zum Stehen zu bringen, geschweige denn zu sparen ; in Wahrheit läuft alles »Zeitsparen« schlichtweg darauf hinaus, dieselbe so dicht wie möglich mit »nützlicher« Aktivität vollzupfropfen, wodurch – im Sinne quantitativen Erfassens – mehr geleistet werden kann. Nichts anderes wird von Fusi verlangt : Widmet er jedem Kunden weniger Zeit (und Worte), so kann er natürlich mehr Kunden abfertigen. In der grauen Theorie wäre das zweifellos ein Gewinn. Als sich aber Fusi daranmacht, die Anweisungen des Agenten praktisch umzusetzen, zeigen sich rasch die Schattenseiten des »Zeitsparens« : Und dann kam der erste Kunde an diesem Tag. Herr Fusi bediente ihn mürrisch, er ließ alles Überflüssige weg, schwieg und war tatDer Dämon des Herrn Fusi | 85

sächlich statt in einer halben Stunde schon nach zwanzig Minuten fertig. Und genauso hielt er es von nun an bei jedem Kunden. Seine Arbeit machte ihm auf diese Weise überhaupt keinen Spaß mehr, aber das war ja nun auch nicht mehr wichtig. (MO 71)

Marxistisch gesprochen, hat sich Fusi seiner Arbeit entfremdet ; sie interessiert ihn nicht mehr. Aus welchem Grund ? Ganz offenbar deshalb, weil sie seinem Wesen nicht mehr gemäß ist. Die Schuld daran trägt niemand anderer als Fusi selbst, der sich von dem Grauen Herrn seine eigentliche Individualität hat abschwatzen lassen und nun damit beginnt, sein Leben diesem arg verkümmerten Selbstverständnis anzugleichen.146 Als Arbeitskraft funktioniert er wesentlich effektiver als zuvor ; als Mensch verliert er jeden Bezug zu seiner Tätigkeit – »aber das war ja nun auch nicht mehr wichtig.« Weshalb wohl ? Weil es sich nicht in Zahlen fassen läßt ; und etwas anderes zählt für Fusi nicht mehr. In diesem Sinne nimmt er nun, wie man in unseren Tagen wohl sagen würde, eine notwendige Strukturanpassung nach der anderen in seinem Leben vor. Alles läuft wie am Schnürchen. Unnütze Hobbys wie Singen oder gar Lesen werden schleunigst gestrichen, zeitraubende Freundschaften kurzerhand gekappt. Den lästigen Wellensittich nimmt ihm eine Tierhandlung ab, die betagte Mutter ein »gutes, aber billiges Altersheim«,147 wo er sie nach Möglichkeit einmal monatlich besucht – kurzum : Fusi ist auf dem besten Wege, endlich »ein wahrhaft moderner und fortschrittlicher Mensch« (MO 70 ; s. o.) zu werden, der sein Zeitbudget fest im Griff hat. Oder etwa nicht ? Er wurde immer nervöser und ruheloser, denn eines war seltsam : Von all der Zeit, die er einsparte, blieb ihm tatsächlich niemals etwas übrig. Sie verschwand einfach auf rätselhafte Weise und war nicht mehr da. Seine Tage wurden erst unmerklich, dann aber deutlich spürbar kürzer und kürzer. Ehe er sich’s versah, war schon wieder eine Woche, ein Monat, ein Jahr herum und noch ein Jahr und noch eines. […] Und wenn er manchmal mit Schrecken gewahr wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur umso verbissener. (MO 71) 86 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Da die Grauen Herrn selbst keinerlei Spur im Gedächtnis ihrer Opfer zu hinterlassen pflegen (MO 70), müßte sich Fusi freilich fragen, wohin seine wertvolle Lebenszeit eigentlich entschwindet. Allein – dazu fehlt ihm schlicht die Zeit. Aus gutem Grund hat der Agent darauf bestanden, Fusis »Viertelstunde Tagesrückschau« zu liquidieren : Reflexion wäre Gift für das Geschäftsmodell der ZeitSpar-Kasse. Da indes erst ein Kollege von Nr. XYQ/384/b, und zwar nicht ganz freiwillig, das grausige Geheimnis der grauen Gilde lüften wird, bleibt auch dem Leser hier noch verborgen, was mit Fusis verlorenen Jahren tatsächlich geschieht. Eines steht jedenfalls fest : Wenn er sein Dasein so konsequent alles »Unnützen« entkleidet, muß Fusi einem ganz bestimmten Begriff von Zweckmäßigkeit folgen. Was ist es wohl, worauf seine Maßnahmen abzielen – wenn nicht jene Bedeutung, nach der er sich so schmerzlich sehnt ? Diese hat freilich mittlerweile eine entschieden graue Färbung angenommen, die Fusis bunten, vielgestaltigen Alltag nun sukzessive durchdringt. Da er selbst als lebendiges (fühlendes, träumendes) Wesen in dieses allzu blasse Dasein nicht mehr paßt, rinnt ihm ergo seine eigene Lebenszeit durch die Finger – aber das ist ja, wie wir wissen, »nicht mehr wichtig«. Allein : was dann ? Sehen wir ein wenig weiter. Wie sich herausstellt, ist Fusi nicht das einzige Opfer der Zeit-Spar-Kasse ; als der Agent von der »großen Gemeinde der Zeit-Sparer« (MO 70 ; s. o.) sprach, so war das – ausnahmsweise – nicht gelogen : Wie Herrn Fusi, so ging es schon vielen Menschen in der großen Stadt. Und täglich wurden es mehr, die damit anfingen, das zu tun, was sie »Zeit sparen« nannten. […] Täglich wurden im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen die Vorteile neuer zeitsparender Einrichtungen erklärt und gepriesen, die den Menschen dereinst die Freiheit für das »richtige« Leben schenken würden. An Hauswänden und Anschlagsäulen klebten Plakate, auf denen man alle möglichen Bilder des Glücks sah. Darunter stand in leuchtenden Lettern : ZEIT-SPARERN GEHT ES IMMER BESSER ! Oder : ZEIT-SPARERN GEHÖRT DIE ZUKUNFT ! Oder : MACH MEHR AUS DEINEM LEBEN – SPARE ZEIT ! Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Zwar waren die ZeitDer Dämon des Herrn Fusi | 87

Sparer besser gekleidet als die Leute, die in der Nähe des alten Amphitheaters wohnten. Sie verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben. Aber sie hatten mißmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. […] Selbst ihre freien Stunden mußten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war. (MO 71 f.)

Wir verstehen immer besser, warum all die ersparten Stunden gar so spurlos entschwinden. Der erfolgreiche Zeit-Sparer hat nämlich nicht etwa deshalb alles »Zeitraubende« aus seinem Leben verbannt, um sich der gewonnenen »Freizeit« zu erfreuen. Im Gegenteil : Auch hier muß wiederum gespart werden ! Nicht anders als seine Arbeitswelt werden seine freien Stunden funktionalisiert, um »in aller Eile« – ein köstliches Paradoxon – soviel Entspannung zu bieten wie irgend möglich. Jener »fortschrittlich[e] Mensch« (MO 70), den die Zeit-Spar-Kasse züchtet, scheint also nur noch zwei Daseinsmodi zu kennen : Arbeitet er nicht, so konsumiert er. Er arbeitet, um zu konsumieren – und vice versa, zumal jenes Maximum an Zerstreuung, das er seiner Freizeit abverlangt, wiederum seine Arbeitsfähigkeit erhält. Schmiermittel und zugleich Grundlage dieses Kreislaufs ist Geld. Hier, gegen Ende des Kapitels, fällt das Wort wie beiläufig zum ersten Mal. Untergründig war es freilich von Anfang an präsent : vom diffusen »Luxus«, den sich Fusi erträumt, über sein vermeintliches »Vermögen« an Sekunden bis hin zur Idee des ZeitSparens und den aberwitzigen Zinsverheißungen des Agenten. Die Klimax ist indes noch nicht vollendet ; denn jetzt, wo jene Idee sich anschickt, die ganze Stadt in ihren Bann zu schlagen, ist der Moment gekommen, die Dinge beim Namen zu nennen. Schon hängen [ü]ber allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern […] Schilder, auf denen stand : ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT ! Oder : ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE ! Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon ausgenommen. (MO 73) 88 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Mit der Formel »Zeit ist (wie) Geld« ist einer der Kernsätze des Kapitalismus erreicht. Den Vergleichspartikel in der Klammer, der ihn als harmlose Metapher tarnen soll, können wir getrost streichen. Was hier behauptet wird, ist schlicht Identität ; und zwar in einer Weise, welche keinen Widerspruch duldet. Überall dort, wo jene Devise in Köpfe und Herzen eindringt, wird sie sich mit aller Macht zu bewahrheiten suchen. Denken wir nur an Fusi ! Seine Lebenszeit wurde objektiviert, indem von seiner Individualität abstrahiert wurde ; sie wurde quantifiziert, indem von der Individualität der Zeit abstrahiert wurde. Das Ergebnis : Sie ist von einem Kapital, das man anhäufen kann, gar nicht mehr zu unterscheiden. Nichts anderes als diese »Kommerzialisierung der Zeit« (Hocke/ Neumahr)148 ist es, was all die Fusis in der großen Stadt praktisch vollziehen. Und siehe da – verformt zu Geld, läßt sich Zeit nunmehr tatsächlich sparen ! Der Trick funktioniert ; woran es hakt, ist ganz allein die Rückverwandlung. Das »Zeit-Sparen« entpuppt sich so als Programm zur umfassenden Umgestaltung des Daseins. Zeit soll Geld werden ; individuelles Leben soll zu anonymem Kapital gerinnen. Dann – und nur dann – zählt es. Für den Einzelnen läuft das auf die vollständige Verzweckung seiner Existenz hinaus, die auf einen einzigen, rein ökonomisch definierten Punkt fokussiert wird. Ihm bleibt nur, seine Zeit noch besser, schneller und effektiver – zu Geld zu machen : Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig – im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, daß er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete. (MO 73)

Dann nämlich steht ihm – so die Botschaft – die Tür zum »rich­ tige[n] Leben« (MO 60 ; s. o.) offen ; dann werden jene »Bilder des Glücks« (MO 72 ; s. o.), die an allen Wänden prangen, für ihn erreichbar : Es ist alles bloß eine Frage der Ökonomie. Falls uns dies vielleicht gar nicht so absurd erscheint, so deshalb, weil wir selbst in einer kapitalistischen Gesellschaft sozialisiert wurden. Wie oft haben wir etwa die Formel »Zeit ist (wie) Geld« schon gehört ? Tatsächlich ist ausgesprochen fragwürdig, wie gerade Geld zum Parameter für ein »richtiges«, geglücktes Leben werden kann. Was liegt dieser »Umwertung« zugrunde ? Welches Interesse steht hinter dem Der Dämon des Herrn Fusi | 89

Prozess der Kommerzialisierung ? Ist es allein der Wille der Grauen Herren ? Wie kann das sein, wenn uns Hora erklärt, sie seien in Wirklichkeit nichts ?149 Kehren wir kurz zu jenem Zeit-Sparer zurück, dessen Anwerbung wir miterleben durften. Was Fusi bei seiner Wandlung zum »wahrhaft moderne[n] und fortschrittliche[n] Mensch[en]« (MO 70) motiviert, wissen wir : Es ist der Wunsch nach Bedeutung, hinter dem sich seine drängenden Sinnfragen verbergen. Da indes davon auszugehen ist, daß jeder Mensch versucht, sein Leben sinn-voll zu gestalten,150 kann es dies allein nicht sein, das ihn in die Fänge der Agenten treibt. Entscheidend ist, welches Bild er sich von dieser »Bedeutung« macht. Seine Vorstellung ist diffus, sie ist unreflektiert, sie ist klischeehaft – aber sie wirkt : etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah. (MO 60)

Damit hat sich Fusi nicht nur für eine ganz bestimmte Auslegung des »richtigen Lebens« entschieden ; er legt auch sein eigenes Wesen auf eine bestimmte Weise aus. Wer Luxus als Lebensziel ansteuert, reduziert sich auf seine empirisch-leiblichen Bedürfnisse, zeichnet sich selbst als eine Kreatur, die im Genuß ihre eigentliche und einzige Erfüllung findet. Insofern scheinen die rastlosen Bemühungen der Zeit-Sparer, die schließlich mehr Mittel zur Verfügung haben und »auch mehr ausgeben« können als andere (MO 72 ; s. o.), sogar von Erfolg gekrönt : Es fällt ihnen offenbar leichter, zu genießen. (Ist das tatsächlich so ? Wir werden sehen.) Was dabei freilich völlig ausbleibt, ist Glück und Zufriedenheit, ist das tiefe Empfinden, das »richtige Leben« zu führen. Dieser nur allzu deutliche Hinweis auf die fundamentale Insuffizienz des Zeit-Sparens spielt aber – paradoxerweise – wiederum den Agenten in die Hände, deren Opfer »nur um so verbissener« sparen (MO 71). Mit anderen Worten : Es ist gerade ihr offensichtlicher Defekt, der die allgemeine »Kommerzialisierung« vorantreibt. Zugrunde liegt überall derselbe Fehler, den Fusi begeht, wenn er seine drängenden Sinnfragen mit den Bedürfnissen seines empirischen Daseins vermengt. Was aber ist es, das die Zeit-Sparer so fieberhaft an sich raffen ? Nun, eben Geld. Was gerade Geld auszeichnet, ist seine Doppeldeutigkeit : Es öffnet einerseits alle Türen zum konkreten Genuß, ist aber andererseits 90 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

abstrakt genug, um als Projektionsfläche für Sinnansprüche zu dienen. Kann es eine bessere Synthese von »Luxus« und »Bedeutung« geben ? Mit dem Thema »Geld«, das sich am Ende des Kapitels in den Vordergrund drängt, schließt sich also jener Kreis, der in Fusis Gedanken beginnt. Dazwischen liegt – wiederum ganz folgerichtig, wie sich noch zeigen wird  – die Reduktion Fusis auf sein empirisches Vorhanden-Sein, gefaßt in Zahlen. Ehe wir dies alles im Folgenden noch zu vertiefen suchen, bleibt nur noch, einen letzten Blick auf die große Stadt und ihre Bewohner in der anbrechenden Ära des Zeit-Sparens zu werfen. Es ist kein schönes Bild : Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen, und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt […]. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung ! Und genauso verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten : schnurgerade bis zum Horizont ! Denn hier war alles berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand schien zu merken, daß er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, daß sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit. Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie. (MO 73 f.)

Der Dämon des Herrn Fusi | 91

2. Der Ursprung des Kapitalismus

■ Sein und Bewußtsein Am Anfang dieses Abschnitts wurde die Frage aufgeworfen, wie Ende seinen eigenen Bericht über die Grundlagen des Kapitalismus von der Geschichte abgrenzt, die Marx erzählt. Nachdem wir den Fall Fusi in allen Einzelheiten studiert haben, müßten wir nun imstande sein, erste Antworten darauf zu finden. Offensichtlich ist, daß wir die Grauen Herren unmöglich mit jener Klasse der »Ausbeuter« oder »Kapitalisten« identifizieren können, die in der Marxschen und marxistischen Theorie eine so zentrale Rolle spielen. Es ist nicht allein ihre totale und buchstäbliche Anonymität, die dem entgegensteht ; es ist vor allem die nahtlose Kontinuität zwischen ihren Argumenten und Fusis Gedanken.151 Momo lehrt uns, daß die Geschichte des Kapitalimus im Bewußtsein eines Einzelnen beginnt, dem es gegeben ist, von sich aus über sein bisheriges Leben und die Gestaltung seiner Zukunft nachzudenken. Ein Blick in Phantasie/Kultur/Politik weckt den Verdacht, daß Ende hier nicht so sehr un- als vielmehr (wie er es versteht) geradezu antimarxistisch denkt. Dort nämlich heißt es : »Das Sein bestimmt das Bewußtsein«, das ist für mich ein un­ akzeptabler Satz.152 Marx meint damit doch, daß die äußeren Umstände, die Gesellschaftsordnung, die Machtverhältnisse und die ökonomischen Bedingungen das Bewußtsein des Menschen total konditionieren. […] Damit gerät er aber in einen Widerspruch mit sich selbst, denn wenn sein Satz richtig wäre, hätte er seine eigene Weltanschauung gar nicht schaffen können. Das Bewußtsein von Marx war eben nicht ausschließlich von seinem Sein bestimmt. Es ging darüber hinaus. Ich will euch sagen, warum ich da etwas hartnäckig erscheine. Für mich besteht nämlich gerade die Würde des Menschen in erster Linie darin, daß der Mensch als einziges Wesen auf dieser Welt die Kausalitätskette durchbrechen und aus sich heraus schöpferisch werden kann. Damit kämen wir wieder auf das Problem der Phantasie. Der Mensch kann nämlich ursachlos, das heißt nicht grundlos, aber ohne zwingende Ursache – also nicht einfach in der Verkettung von Ursache und Wirkung – aus sich heraus Neues erschaffen. Der Mensch kann schöpferisch sein, er kann neue Anfänge in die Welt bringen […].153 92 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Teile von Endes Argumentation wirken auf den ersten Blick paradox. Was hätte Marx gehindert, aus einem durchgehend konditionierten Bewußtsein heraus »seine eigene Weltanschauung« zu »schaffen« ? Worin liegt der »Widerspruch« ? Um das zu verstehen, müssen wir zuallererst dem Begriff des »Schaffens«, der die Gespräche mit Ende wie ein Leitfaden durchzieht, ein Stück weit nachgehen. Gemeint ist stets, im ursprünglichen Sinne schöpferisch zu sein : »ohne zwingende Ursache […] neue Anfänge in die Welt [zu] bringen«. Diesen Begriff des Schaffens, als Willensakt eines freien Individuums, sieht Ende bei Marx offenbar gänzlich ausgeschlossen – mit welcher Berechtigung auch immer. Das erklärt freilich noch nicht, welcher »Widerspruch mit sich selbst« Marx eigentlich vorgeworfen wird. Der zugrundeliegende Gedankengang dürfte in etwa folgender sein :154 Jede »Weltanschauung« (jede Philosophie, jedes Denken) erhebt so grundsätzlich wie selbstverständlich Anspruch darauf, Wahrheit auszusagen. Ein Bewußtsein freilich, das sich selbst vollständig durch das gesellschaftliche Sein determiniert weiß, gerät durch diesen Anspruch in fundamentale Schwierigkeiten. Als bloßes Produkt dieses Seins, das gleichsam gesetzmäßig aus diesem hervorgeht, hat es selbst keinerlei Einfluß auf den Grad und die Art seiner Einsicht in das Wesen der Welt ; als rein passiver Ausdruck seiner empirisch-gesellschaftlichen Grundlage kann es stets nur die Gedanken entwickeln, die diese ihm zuschickt. Wie sollte es auf dieser Basis wissen, was wahr ist ? Wie könnte es den Anspruch erheben, die Wahrheit zu kennen ?155 Es ist nicht zu übersehen, daß es letztlich die Idee der individuellen Freiheit ist, die Ende in der zitierten Passage so »hartnäckig« (s. ebd.) gegen Marx verteidigt. Aus gutem Grund : Ohne diese Idee stünde seine eigene Kapitalismuskritik auf tönernen Füßen. Fiele Fusi der Zeit-Spar-Kasse mit Notwendigkeit zum Opfer, so müßten wir das zentrale Kapitel des Romans als bloßes Protokoll einer gewiß bedenklichen, aber eben unvermeidlichen Entwicklung lesen. Mehr noch : Es wäre gar nicht auszumachen, was denn der Autor »mit Momo […] bewirken und verändern [will]«,156 wenn jene Wege, die im Kapitalismus enden, ohnehin vorherbestimmt wären. Das ist für Ende nicht der Fall ; die Menschen, die er zeichnet, handeln stets aus freiem Willen – bahnen selbst ihren je eigenen »Weg der Wünsche«, wie es in der Unendlichen Geschichte (228) Der Dämon des Herrn Fusi | 93

heißt  – , ohne bloßes Treibgut ihres »gesellschaftlichen Seins«157 oder einer »geschichtlichen Bewegung«158 zu sein. Das bedeutet nicht, daß jene Welt, in die er sie stellt, entrückt oder geschichtslos wäre. Nicht zufällig wird zu Beginn von Momo (10) ein Bogen von der Antike bis hin zu »unseren Tagen« (d. h. die Zeit um 1970, in welcher der Roman entstand) gespannt : Das Mißverständnis, wir befänden uns in der zeitlosen Sphäre klassischer Märchen, soll offenbar von vornherein ausgeschlossen werden. Auch der Ort der Handlung – eine italienische Großstadt, sehr wahrscheinlich Rom – läßt sich mit erstaunlicher Genauigkeit bestimmen.159 Aber weder der Gang der Geschichte noch die gesellschaftlichen Gegebenheiten sind Subjekte des Geschehens. Nicht sie sind es, die den Geist des Kapitalismus auf den Plan rufen – sondern ein einzelnes Individuum, das sich an einem Regentag trübe Gedanken über sein Leben macht. Schön und gut – aber die Anfänge des Kapitalismus liegen wohl kaum in den 1970ern ? Wie ernst können wir eine Kapitalismuskritik nehmen, die Marxens zeitliche Voraussetzungsreflexion links liegen läßt ? Das ist freilich nicht gesagt ! Der trügerische Glanz der Illustrierten, an dem sich Fusi orientiert (eine Parodie auf »gesellschaftliches Sein« ?) ; die Idee des Zeit-Sparens, der er zum Opfer fällt ; die imaginäre Zinslawine, die seine letzten Zweifel hinwegfegt – all dies hat selbstverständlich seine Geschichte, fußt auf jenen ökonomisch-sozialen Grundlagen, deren Wandel von der Steinbis in die Neuzeit Marx auf so bahnbrechende Art analysiert hat. Tatsächlich spricht einiges dafür, daß Ende Marxens historische Bestimmung des Kapitalismus nicht nur durchaus schätzt, sondern hier wie andernorts sogar voraussetzt.160 Was er vornimmt, ist ein grundlegender Wechsel der Perspektive – und damit eine Verlagerung des Schwerpunktes. Vom Individuum aus betrachtet, hat selbst eine noch so erfolgreiche »geschichtliche Bewegung« nicht die Macht, zu einer bestimmten Haltung zu zwingen. Daß Fusi von Strukturen einer kapitalistischen Gesellschaft umgeben ist, liegt nicht an ihm ; inwieweit er sie aber verinnerlicht und fortführt, ist ganz allein seine Entscheidung. Oder mit den Worten Horas :

94 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

»[Die Grauen Herren] entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben zu entstehen. […] Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit, sie zu beherrschen.« (MO 155)

Hora, der ja jedem Einzelnen »die Zeit zuzuteilen [hat], die ihm bestimmt ist« (MO 161), meint keine anonyme Masse, wenn er von »den Menschen« spricht. Spinnen wir den Gedanken weiter, so gelangen wir zu dem unausweichlichen Schluß, daß die Geschichte des Kapitalismus im Grunde durch freie Entscheidungen von Individuen geprägt sein müßte. Wenn dies zutrifft, würde Marxens brillante Analyse lediglich die Oberfläche einer historischen Entwicklung erfassen, deren Wurzeln in der Tiefe des menschlichen Bewußtseins und der individuellen Freiheit liegen.161 ■ Sinnfragen Bleiben wir noch ein wenig am Anfang des Kapitels. Wir konnten feststellen, daß Ende sich selbst, wenn er seine Geschichte des Kapitalismus im Bewußtsein eines frei entscheidenden Einzelnen beginnen läßt, in krassem Gegensatz zu Marx sieht. Dasselbe müßte dann klarerweise auch für den nächsten Akt des Dramas gelten. Gemeint ist Fusis Frage »Was habe ich eigentlich von meinem Dasein ?«, welche ursprünglich keineswegs auf seine materielle Situation abzielt, sondern auf die metaphysische Bedeutung seiner Existenz als Ganzes. Freilich ist Fusi damit nicht allein : Genauer betrachtet, befinden sich eigentlich fast alle Protagonisten Endes auf die eine oder andere Weise auf einer solchen Sinnsuche.162 Es besteht kein Zweifel, daß dies dem Denken des Autors entspricht. In Endes aufschlußreichen Interpretationen des von ihm verehrten Samuel Beckett163 heißt es : Warten auf Godot ist durchaus kein nihilistisches Stück, ganz im Gegenteil, es zeigt, daß es dem Menschen unmöglich ist, Nihilist zu sein. Becketts Clowns finden sich sozusagen selbst vor, sie wissen nicht, wo und warum, aber sie sind nun einmal da. Und eben weil sie da sind, schließen sie daraus, daß sie zu etwas da seien, daß ihr Dasein irgendeinen Sinn habe. Zwar ist ihnen dieser Sinn nicht bekannt, darum können sie gar nicht anders, als darauf zu warten, daß er ihnen früher oder später mitgeteilt werde. Wer wird aber die Botschaft bringen ? Nun, eben Godot. Also warten sie auf Godot, Der Dämon des Herrn Fusi | 95

um zu erfahren, warum sie auf Godot warten, das heißt, warum sie überhaupt da sind. (MB 219)

Ende argumentiert hier zwar knapp, aber durchaus schlüssig. Was ­Becketts exemplarisches Menschenpaar wesenhaft von Tieren unterscheidet, ist die Reflexivität seines Wissens. Vladimir und Estragon finden nicht bloß eine Situation oder eine Welt, sie »finden sich selbst vor« ; und deshalb »schließen sie […], daß ihr Dasein irgend­ einen Sinn habe«. Anders gesagt : Ihre schiere Existenz genügt bereits, um einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der notwendigerweise auf den umfassenden Sinn dieser Existenz zielt. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß dieser auch zwingend erreicht wird. Die Reflexion kann an jedem beliebigen Punkt abgebrochen werden ; sie kann an eine »höhere Instanz« delegiert werden, sei dies nun Vladimirs und Estragons Godot oder Fusis Illustriertenwirklichkeit. Da sie alle aber genau das selbst wiederum wissen (und ihre Entscheidung revidieren) können, ist die Reflexion erst recht wieder einen Schritt voraus. Zur Ruhe kommen könnte sie erst dort, wo das Dasein in seiner Totalität begründet und so die Sinnfrage in positiver Weise beantwortet wäre. Die praktische Seite der Frage nach dem Sinn des Daseins ist jene nach dem »richtigen Leben«. Nur ein umfassender Sinn könnte es tatsächlich fundieren ; jeder bloß relative Handlungsgrund verlangt selbst wieder nach einer Begründung. Wie dringend und drängend dieses Problem ist, zeigt nicht zuletzt das Beispiel Fusis, den sein Streben nach dem »richtigen Leben« dazu bringt, sich der ZeitSpar-Kasse zu unterwerfen. Tatsächlich steht jeder von uns in jedem Augenblick seines bewußten Lebens vor der Herausforderung, sinn-voll zu handeln. Das bedeutet, daß wir unsere Entscheidungen aus einem ganz bestimmten, je eigenen Verständnis vom Sinn unseres Daseins heraus treffen. Wenn es nun einen umfassenden Sinn überhaupt gibt, so kann er dabei natürlich eminent mißverstanden werden – mit verheerenden praktischen Folgen. Genau das ist es, was in Momo geschieht. Kann man dem entgehen, indem man einfach nicht fragt ? Gibt es ein Bewußtsein, dem das »richtige Leben« gleichgültig ist ? Endes literarische Antwort darauf findet sich an jener Stelle der Unendlichen Geschichte, wo Atréju von einer riesenhaften Sumpfschild96 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

kröte, der Uralten Morla, ein Heilmittel für die todkranke Kind­ liche Kaiserin zu erfahren sucht. Das Mittel, meint Morla, kenne sie wohl ; allein : »[…] Warum sollen wir nicht sterben, du, ich, die Kindliche Kaiserin, alle, alle ? Ist doch alles nur Schein, nur ein Spiel im Nichts. Ist alles ganz gleich. Laß uns in Ruh’, Kleiner, geh fort.« […] »Wenn es dir wirklich ganz gleich ist«, drang Atréju in sie, »dann könntest du es mir ebensogut sagen.« »Könnten wir auch, Alte, nicht wahr ?« grunzte die Morla, »haben aber keine Lust dazu.« »Dann«, rief Atréju, »ist es dir eben nicht wirklich gleich ! Dann glaubst du selber nicht, was du sagst !« Es blieb lange still, dann hörte er ein tiefes Gurgeln und Rülpsen. Es muß wohl eine Art Lachen gewesen sein, falls die Uralte Morla überhaupt noch Gelächter kannte. Jedenfalls sagte sie : »Bist schlau, Kleiner. Schau mal. Bist schlau. […]« (UG 59 f.)

Atréju hat recht. Was immer die Uralte Morla tut oder auch unterläßt, verletzt ihren eigenen Grundsatz »Alles ist gleich«. Solange sie überhaupt existiert, hat sie Entscheidungen zu treffen, muß sie das eine dem anderen vorziehen. Lehnt sie dies ab, so entscheiden eben ihre unmittelbaren Antriebe für sie : Morla hat »keine Lust«, Atréju in ihr Wissen einzuweihen. Dabei hört sie freilich nicht auf, ein reflexives Lebewesen zu sein,164 das seine Handlungen trotz allem zu begründen sucht ; denn wie könnte sie sonst Atréjus Kritik überhaupt verstehen ? Sobald aber ihr Denken ins Spiel kommt, bringt es unweigerlich ein ganz bestimmtes Verständnis von Sinnhaftigkeit mit sich, aus dem heraus sie ihre Entscheidungen trifft oder auch wieder umstößt (wie es am Ende der Szene geschieht, wenn sie Atréju grummelnd und grunzend das Geheimnis der Rettung Phantásiens anvertraut). Ihr »praktischer Nihilismus« ist schlicht und einfach nicht durchzuhalten ; ja, er ist nicht einmal denkbar. ■ Empirismus und Quantifizierung Wenn es dem Wesen des Menschen entspricht, nach dem »richtigen Leben« zu streben, läuft letztlich alles darauf hinaus, wie Leben eigentlich aufgefaßt wird. Das muß nicht in der Form einer abstrakten Definition geschehen, die etwa ein Fusi schwerlich geben Der Dämon des Herrn Fusi | 97

könnte. Indes kommt allein darin, daß sich ihm die Frage nach dem Wert seiner irdischen Existenz überhaupt stellt, die Ahnung eines Daseinsbegriffs zum Ausdruck, der jedenfalls mehr als ein bloß physisches Vorhanden-Sein umfaßt. Freilich gibt es jemanden, dem sehr daran gelegen ist, alles »Metaphysische« aus Fusis Gedanken zu bannen ; jemanden, für dessen Auslegung von Leben sich dieser letztlich entscheidet. Lassen wir hierzu Michael Ende zu Wort kommen, der in Phantasie/Kultur/Politik mit einer eigenen Deutung der Fusi-Szene überrascht : [Es] wird hier etwas quantifiziert, was an sich nicht quantifizierbar ist, und wird dadurch seines gesamten Wertes beraubt. Für mich sind die Grauen Herren nichts anderes als die Repräsentanten des nur und ausschließlich quantifizierenden Denkens. Wenn ich alles wägbar, zählbar und meßbar mache, hebe ich damit den Wert auf[,] und dann steht nur noch eine Null unter dem Strich. Es gilt nichts mehr, oder es gilt alles gleich, alles wird gleichgültig. Wenn ich das berühmte »wertfreie Denken« auf die Tatsachen des menschlichen Lebens übertrage, mache ich aus dem Individuum eine Sache. […] Es handelt sich um die totale Entfremdung des Menschen von seiner Lebenswirklichkeit.165

Jenes nur und ausschließlich quantifizierende Denken, welches alles wägbar, zählbar und meßbar macht – kommt uns das nicht bekannt vor ? Bereits im ersten Teil dieser Untersuchung wurde deutlich, wie vehement sich Ende gegen die angemaßte Allmacht der Erfahrungswissenschaften wehrt.166 Weite Teile von Phantasie/Kultur/ Politik drehen sich um dieses  – wie er es begreift  – verheerende Erbe des 16. Jahrhunderts, als sich das nur noch quantifizierende Denken ergeben [hat]. Man hielt nur noch das für wahr, was zählbar, meßbar oder wägbar war und leugnete schließlich sogar die Wirklichkeit aller Qualitäten, weil die eben nicht durch ein quantifizierendes Denken zu fassen sind. […] Im naturwissenschaftlichen Weltbild von heute wird nur noch das für wahr gehalten, was ein einzelnes, farbenblindes Auge von der Welt wahrnimmt, und auch davon nur das, was sich in Zahlen ausdrücken läßt, alles andere ist reine Illusion. Die Farben Rot oder Blau existieren in Wirklichkeit nicht, sie werden nur subjektiv von 98 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

unserem Gehirn erzeugt – was wir wahrnehmen, sind da in Wirklichkeit nur lange oder kurze Lichtwellen, die unsere Sehnerven entsprechend stimulieren. Schwingungen, die man in Zahlen ausdrücken kann. Im Grunde wird alles zur Illusion erklärt, was Qualität ist, also auch die moralischen oder ästhetischen Werte. […] Aber damit verliert man buchstäblich die Wirklichkeit der Welt.167

Es besteht kein Zweifel : Für den Autor selbst steht hinter den Grauen Herren das naturwissenschaftliche Weltbild der Neuzeit. Diese Deutung gibt zu denken. Was hat der »klein[e] Friseur« (MO 60) Fusi mit jenem »Weltbild« zu schaffen ? Und was verbindet die Naturwissenschaften mit dem Kapitalismus, dessen Kritik doch im Zentrum von Momo steht ? Oder müssen wir diese Einschätzung revidieren ? Versuchen wir Endes Interpretation Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Daß die Agenten im Dienste einer umfassenden Quantifizierung stehen, ist derart mit Händen zu greifen, daß es kaum eines Kommentars bedarf. Wir brauchen uns gar nicht erst die Zahlenkolonnen in Erinnerung zu rufen, die XYQ/384/b auf Fusis Spiegel hinterläßt ; allein schon, daß er eine Nummer anstatt eines Namens trägt, ist bezeichnend genug. Aber Endes Auslegung geht wesentlich weiter. Für ihn sind die Grauen Herren nicht bloß durch ihre strikt quantifizierende Denkweise bestimmt, sondern sie sind schlicht »nichts anderes als die Repräsentanten des nur und ausschließlich quantifizierenden Denkens«.168 Das würde freilich erklären, warum sie als Romanfiguren – im wahrsten Sinne des Wortes – derart farblos bleiben. Mehr noch : Jene Darstellung der Agenten als »Geister- oder Gespenstergesellschaft«, die etwa Dahrendorf so heftig kritisiert,169 erscheint im Lichte dieser Deutung ganz und gar schlüssig. Wie anders sollen bloße Emanationen eines Denkens, die als solche weder der Körperlichkeit noch der Individualität bedürfen, gezeichnet werden ? Eines hingegen benötigt Nr. XYQ/384/b sehr wohl : ein Individuum, in dessen Bewußtsein er entstehen (vgl. MO 117) und tätig werden kann ; ein Individuum wie Fusi. So fügt sich auch das Motiv des Spiegels, auf dem der Graue Herr seine mathematischen Zaubertricks vollführt, wie ein Puzzleteil in diese Interpretation. Im Gespräch mit Sôiku Shigematsu betont Ende : Der Dämon des Herrn Fusi | 99

»Der Spiegel ist in allen meinen Büchern einfach ein Bild für das Bewußtsein.«170

Damit bestätigt sich ein Verdacht, den wir von Anfang an hegten : Fusis Besucher hat den Laden nicht von außen betreten. Was uns der Autor vor Augen führt, ist eine Szene aus der Innenwelt (vgl. NG 248) eines Individuums – jener Welt, die er Jahre später zum Thema seines berühmtesten Romans machen wird. Auch die Geschehnisse gleichen einander : Nicht anders als Bastians Phantásien durch das allesverschlingende Nichts wird Fusis Bewußtsein durch das ausschließlich quantifizierende Denken verheert (oder strukturbereinigt, falls man den modernen und fortschrittlichen Jargon vorzieht). Hier wie dort macht die gänzlich rücksichts- und grenzenlose Expansion die eigentliche Bedrohung aus. Jenes Denken nämlich, das die Agenten repräsentieren, ist im wahrsten Sinne des Wortes ausschließlich : Es drängt alles, was nicht zählt (d. h. alles, was es nicht verarbeiten kann), an den Rand. Wie sich diese »Innenweltverwüstung« (Ende in : NG 248) auf Fusis Alltag auswirkt, haben wir gesehen. Am Ende »verliert [er] buchstäblich die Wirklichkeit der Welt«171 – und damit das eigene Leben. Hat Ende recht, wenn er jenes ausschließlich quantifizierende Denken mit dem »naturwissenschaftlichen Weltbild von heute« in eins setzt ? Fest steht, daß die Naturwissenschaften zumindest auch mit jenen Denkmustern arbeiten, welche die Grauen Herren repräsentieren.172 Hier war es von Anfang an Programm, zu quantifizieren, um vergleich- und brauchbare Ergebnisse zu erhalten. So kann jene Galileo Galilei zugeschriebene Aufforderung, zu »messen, was meßbar ist, und meßbar [zu] machen, was zunächst nicht meßbar ist«,173 auf die Ende in den zitierten Passagen anspielt, bis heute als Wappenspruch der Naturwissenschaften gelten. Daß diese Herangehensweise nicht etwa auf neutralen Erkenntnisfortschritt, sondern auf möglichst effiziente Beherrschung und Aneignung der Natur abzielt, wurde schon oft bemerkt.174 In dieser Hinsicht kann die naturwissenschaftliche Methode in der Tat auf beispiellose Erfolge verweisen, die unser – und Fusis – »wissenschaftliches Zeitalter« entsprechend stolz vor sich herträgt. Weit weniger präsent ist die Frage, welches »Weltbild« ihr eigentlich zugrundeliegt – und was es für die Existenz des Einzelnen in diesem Zeitalter bedeutet. 100 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Es liegt indes auf der Hand, daß jene Wirklichkeit, die auf diese Weise erfaßt werden kann, empirisch sein müßte. Das würde nicht weniger bedeuten, als daß die Welt, wie sie sich in der Erfahrung zeigt, als solche bereits real ist – vorausgesetzt bloß, man erschließt sie methodisch korrekt. Daß z. B. Fusi zu einem bestimmten Zeitpunkt 1. 324. 512.000 Sekunden lang existiert hat, ist eine unbestreitbare wissenschaftliche Tatsache ; wie erfüllt dieses Leben war, interessiert die Naturwissenschaft nicht im geringsten. Gesetzt freilich, wir könnten Fusis Gehirnströme messen und daraus die statistische Wahrscheinlichkeit berechnen, daß er sich selbst als glücklichen Menschen betrachtet – nun, dann stünden wir wieder auf dem festen Boden der Fakten. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive nimmt sich diese Erwartung, in der Empirie messend auf »Wirklichkeit« zu stoßen, ausgesprochen naiv aus.175 In unserem Kontext ist indes noch bedeutsamer, daß ein solches Weltbild unausweichlich in Konflikt mit der Lebenswirklichkeit des Einzelnen gerät, der sein Dasein sinn-voll zu gestalten versucht.176 Subjektiv gesehen, hängt für Fusi alles davon ab, wie er sich als Individuum in Freiheit zum Sinn seines Lebens verhält. Im »objektiven« Verständnis der Naturwissenschaften aber hat keiner dieser Begriffe irgend­ eine Bedeutung. Fusis eigentliche Tragödie scheint es demnach zu sein, daß seine existenziellen Fragen gleichsam auf eine Ebene abrutschen, auf der sie gar nicht erst verstanden, geschweige denn beantwortet werden können. Strikt empirisch betrachtet, ist sein Leben bloß eine weitere meßbare Größe – und sonst nichts ! Dieses Nichts als Antwort kann Fusi begreiflicherweise nicht akzeptieren. »[I]ch bin verzweifelt !« ruft er aus (MO 68) – und stürzt sich Hals über Kopf in eine »Lösung«, die selbst ausschließlich quantitativ und empirisch ist. Sein verbissenes Zeit-Sparen ist im buchstäb­ lichen Sinne eine Verzweiflungsaktion. Welchen Schluß läßt dies nun auf das Denken Michael Endes im Gesamten zu ? Ist jenes Weltbild für ihn das Grundübel schlechthin, an dem unsere Gesellschaft krankt ? Ist es das, wozu uns Momo zu bewegen sucht : die Denkmuster der Naturwissenschaften auszumerzen ? Die Antwort wurde bereits gegeben : Der Agent verursacht Fusis Verhängnis nicht ; noch tritt er von selbst auf den Plan. Wie es sich für einen Geist gehört, wird Nr. XYQ/384/b regelrecht beschworen – und zwar durch Fusis Entscheidung für »Luxus« als Der Dämon des Herrn Fusi | 101

Lebensziel. Wohlgemerkt : Es ist Fusi, der sich selbst in dieser Weise auf seine leiblichen Bedürfnisse reduziert, bevor noch der Agent die Bühne betritt.177 Vom Vertreter des naturwissenschaftlichen Weltbildes bekommt diese drastische Reduktion das Siegel der Objektivität verpaßt – selbstverständlich, denn dazu ist er ja da. Zum einen kann er Fusis Grundangst, sein bisheriges Leben entbehre jeglicher Bedeutung, nur voll und ganz bestätigen (wie er es in jedem Fall könnte, selbst wenn Napoleon persönlich vor ihm stünde). Zum anderen aber unterstützt er Fusis verzweifelte Bemühungen, seinem Dasein doch noch so etwas wie Sinn abzuringen (auf der empirischen Ebene !), indem er ihm mit dem Konzept des Zeit-Sparens eine »objektive« Möglichkeit in die Hand gibt, seine Welt (Mutter, Freunde, Hobbys) im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit abzuschätzen. Brauchbarkeit wofür ? Natürlich für den von Fusi gewählten Endzweck ! Abgesehen davon, daß das richtige, nämlich sinn-volle Leben auf diesem Wege eine bloße Fata Morgana bleibt – weshalb unter dem Strich niemals etwas anderes als eine graue Null stehen wird – , erscheint dieser Dämon also durchaus als dienstbarer Geist. Die Wüste, die er in Fusis Innenwelt hinterläßt, hat dieser selbst gewählt. Versuchen wir das Gesagte auf einer Metaebene zu rekapitulieren, so zeigt sich ein deutliches Bild. Das naturwissenschaftliche Denken ist keineswegs Ursache jener Entwicklung, die in den Kapitalismus führt ; nichtsdestoweniger spielt es offenbar eine tragende Rolle. Worin diese konkret besteht, ist nicht schwer zu erraten. Wie oben erwähnt, sind die Denkmuster der Naturwissenschaften zwar gänzlich ungeeignet, um Wirklichkeit zu erkennen, aber ausgesprochen effektiv darin, empirische Prozesse vorherseh- und damit beherrschbar zu machen. Nichts anderes ist freilich innnerhalb einer Ideologie wie der kapitalistischen, die auf den Genuß der empirischen Welt abzielt, gefragt. Hier erfüllen die Naturwissenschaften eine entscheidende Funktion : Sie zeichnen ein »Weltbild«, dessen einziger und allgemeiner Fluchtpunkt das kapitalistische Brauchbarkeitskriterium ist. Diese nicht bloß beiläufige oder begrenzte, sondern wesenhafte Kollaboration hat Ende in seinen Werken, wo »Wissenschaftler« generell wenig wohlwollend dargestellt werden,178 wiederholt thematisiert. So ist es gewiß kein Zufall, daß im Wunschpunsch der fortschrittliche »Labor-Zauberer« Beelzebub 102 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Irrwitzer und die »Geldhexe« Tyrannja Vamperl Hand in Hand die Zerstörung der Umwelt vorantreiben.179 Aber auch in Momo selbst braucht man – abseits der Fusi-Szene – nicht lange nach Hinweisen auf die unheilige Allianz der Naturwissenschaften mit dem Kapitalismus zu suchen. Als die Kinder um Momo beratschlagen, wie der um sich greifenden Seuche des Zeit-Sparens zu begegnen sei, wird der Vorschlag, sich an einen »Wissenschaftler« zu wenden, brüsk abgeschmettert : »Du immer mit deinen Wissenschaftlern !« rief Franco. »Denen kann man schon gar nicht trauen ! Nimm mal an, wir finden einen, der Bescheid weiß – woher willst du wissen, daß er nicht mit den ZeitDieben zusammenarbeitet ? Dann sitzen wir schön in der Tinte !« Das war ein berechtigter Einwand. (MO 108)

Das ist es allerdings. Ich glaube, daß wir von hier aus auch imstande sind zu beurteilen, welchen Grundfehler Michael Ende Marxentius Communus eigentlich vorwirft. Tatsächlich liegt es nahe anzunehmen, daß Ende das Marxsche Denken in seine entschiedene Kritik des naturwissenschaftlichen Empirismus, den er als Erfüllungsgehilfen des Kapitalismus begreift, kurzerhand miteinschließt.180 Wer aber – so könnten wir Ende deuten – versucht, den Teufel des Kapitalismus ausgerechnet mit dem Beelzebub der Erfahrungswissenschaften auszutreiben, dem kann es nur allzuleicht widerfahren, daß am Ende seiner Unternehmung »eigentlich alles beim Alten geblieben war« (MO 50). Da bleibt nur, sich in die rote Toga zu hüllen und abzudanken. 3. Zusammenfassung

Um diesen langen Abschnitt (C) gebührend zu beenden, wollen wir nun das Wagnis unternehmen, die Geschichte des Herrn Fusi auf einer Metaebene nachzuerzählen. Indem er seine eigenen Sinnfragen fundamental mißversteht, beschwört Fusi den Geist des Empirismus herauf. Dieser verliert keine Zeit : Ehe er sich’s versieht, ist Fusis Dasein so gründlich in Zahlen gefaßt, daß nicht das kleinste Fünkchen Sinn mehr darin zu finden ist. Fusi, der doch nichts als »das richtige Leben führen« wollte (MO 60), verzweifelt. Und siehe Der Dämon des Herrn Fusi | 103

da : Sein Dämon hat die Lösung parat. Unter der Devise »ZEIT IST (WIE) GELD – DARUM SPARE !« (MO 73) wird Fusis gesamte Existenz auf einen einzigen, rein ökonomisch definierten Punkt hin ausgerichtet. Der Lebenssinn, der auf diese Weise lukriert werden soll, besteht im unbeschränkten Genuß der empirischen Welt : »etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah« (MO 60). D. Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse Aus Gold und Silber habt ihr Gott gemacht ; Was ist’s, das euch von Götzendienern scheidet, Als daß ihr ein Idol verhundertfacht ! – Dante Alighieri : Die Göttliche Komödie –

Es ist indes nicht das am wenigsten Gespenstische an der Geschichte des Herrn Fusi, daß all die Zeit, die er unter solchen Entbehrungen zusammenspart, einfach spurlos verschwindet. Man kann das als deutlichen Hinweis darauf sehen, daß er sich bei seiner Reise zum »richtigen Leben« auf dem Holzweg befindet. Um so mehr stellt sich die Frage, wohin die Millionen von Sekunden eigentlich entweichen, oder mit anderen Worten : was denn der wirkliche Zweck des Zeit-Sparens ist. Es ist Momo, der es schließlich gelingt, dieses schaurige Geheimnis zu enthüllen. Als die Agenten erkennen, daß das Mädchen ihren Plänen im Weg steht, rückt einer der ihren aus, um es mit aufwendigem Spielzeug zu bestechen.181 Aber der Schuß geht nach hinten los, denn der Graue Herr ist Momos magischem Zuhören nicht gewachsen : Der Agent unterbrach sich. Er starrte Momo an und schien gegen etwas anzukämpfen, das er nicht begreifen konnte und mit dem er nicht fertig wurde. Sein Gesicht wurde noch eine Spur aschengrauer. Als er nun wieder zu reden begann, war es, als geschehe es gegen seinen Willen, als brächen die Worte von selbst aus ihm hervor und er könne es nicht verhindern. Dabei verzerrte sich sein Gesicht mehr und mehr vor Entsetzen über das, was mit ihm geschah. Und nun hörte Momo endlich seine wahre Stimme : »Wir müssen unerkannt bleiben«, vernahm sie wie von weitem, »niemand darf wissen, daß 104 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

es uns gibt und was wir tun … Wir sorgen dafür, daß kein Mensch uns im Gedächtnis behalten kann … Nur solang wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen … ein mühseliges Geschäft, den Menschen ihre Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen … denn alle Zeit, die sie einsparen, ist für sie verloren … Wir reißen sie an uns … wir speichern sie auf … wir brauchen sie … uns hungert danach … Ah, ihr wißt nicht, was das ist, eure Zeit ! … Aber wir, wir wissen es und saugen euch aus bis auf die Knochen … Und wir brauchen mehr … immer mehr … denn auch wir werden mehr … immer mehr … immer mehr …« Diese letzten Worte hatte der graue Herr fast röchelnd hervorgestoßen, aber nun hielt er sich mit beiden Händen selbst den Mund zu. (MO 98 f.)

Diese Entgleisung – für die der Agent von seinen Kollegen umge­ hend zur Auslöschung durch Zeitentzug verurteilt wird (MO 116 – 121) – markiert einen Wendepunkt des Romans : Mit den wahren Absichten der Grauen Herren wird auch das ganze Ausmaß der Bedrohung offenbar. Die grausigen Details ihrer vampirischen (Schein-)Existenz werden wir später von Hora erfahren : der dreiste Diebstahl der wundersamen Stunden-Blumen aus den Herzen ihrer Hüter ; ihr Horten in riesigen Zeit-Speichern, wo sie absterben und verdorren ; schließlich die Verarbeitung der toten Stunden zu jenen Zigarren, von deren grauem Rauch sich die Agenten nähren (MO 242 f.). Das sind zweifellos starke, abgründige Bilder, die zu einer Deutung geradezu auffordern. Als Interpreten des Romans stellen uns diese Enthüllungen freilich vor ein nicht unbeträchtliches Problem. Was im Kontext der Fusi-Szene so schlüssig schien, paßt nun nicht mehr ; Endes eigene Auffassung der Grauen Herren als »Repräsentanten des quantifizierenden Denkens« greift hier offenbar zu kurz. Das hat natürlich damit zu tun, daß ein neues inhaltliches Element eingeführt wurde, welches das Fusi-Kapitel – auf das sich Endes Deutung primär bezieht182 – noch nicht kennt : Das rasante Wachstum der Zeit-Spar-Kasse auf Kosten der Zeit-Sparer. Es steht weit mehr hinter diesem bemerkenswerten Geschehen als ein bloßer Betrug durch die Grauen Herren. Wir haben gesehen, daß all die fieberhaften Bemühungen der Sparer von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Jenes sinnerfüllte Leben, das ihnen Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse | 105

am Herzen liegt, läßt sich auf diese Weise schlicht nicht verwirklichen, weshalb »alle Zeit, die sie einsparen, […] für sie verloren [ist]« (MO 98 ; s. o.). Aber nicht genug damit ! Ihr Guthaben verschwindet nicht einfach, sondern nimmt – in einem wahrhaft schauerlichen Prozess – die Gestalt unablässig neu entstehender Agenten an. Was von all den Fusis tatsächlich angespart und nach Kräften vermehrt wird, sind daher im Grunde – die Grauen Herren selbst ! Sie sind die ultimative Währung, in die all die gesparten Stunden umgemünzt werden ; sie sind es, deren Zahl mit jenem Zins und Zinseszins zunimmt, der Fusi versprochen wurde. Mit einem Wort : Sie sind das eigentliche Kapital der Zeit-Sparer. Die Folgen dieser Wendung sind gravierend – für das Gefüge des Romans im Ganzen, vor allem aber für die Sparer selbst, deren Rolle nun gänzlich verändert erscheint. Wie wir wissen, steht hinter ihrem Handeln nichts anderes als die unerfüllte Sehnsucht nach dem »richtigen Leben«. Bei all den einschneidenden Maßnahmen, die Fusi in seinem Alltag setzt, hat er jene »Bilder des Glücks« (MO 72) vor Augen, die auf den Plakatwänden prangen : Bilder bedeutender Menschen, die durch ein Leben in Luxus von ihren bohrenden Sinnfragen erlöst wurden. Kurzum : Das Anhäufen von Vermögen – sei es nun in Zeit- oder Währungseinheiten – war niemals als Selbstzweck gedacht ! Nun aber zeigt sich, daß jenes Ersparte, das man im Dienste künftigen Glückes zu horten meint, ein mehr als bedenkliches Eigenleben entwickelt. Nicht allein, daß es sich von den Wünschen und Hoffnungen seiner vermeintlichen Besitzer gänzlich abkoppelt ; es beginnt, seine eigenen Interessen zu verfolgen : »[W]ir brauchen mehr… immer mehr… denn auch wir werden mehr… immer mehr…« Was hier spricht, ist kein Individuum, sondern jenes Gestalt gewordene Kapital, das seine eigene Vermehrung zum Endziel menschlichen Handelns erklärt. Das also ist es, worauf all die Anstrengungen der Sparer in Wahrheit hinauslaufen. Welche Rolle aber bleibt ihnen selbst in diesem Prozess der rastlosen Akkumulation ? Sie werden zum bloßen Werkzeug herabgedrückt  – eine völlige Umkehrung von Mittel und Zweck ! Indem sie dahinschwinden und sich in ihren verzweifelten Bemühungen verzehren, wächst und gedeiht ihr gesammeltes Guthaben und bevölkert – im Gewand Grauer Herren – bald die ganze Stadt. Es entzieht sich ihnen nicht bloß – es drängt zur Macht : »Wir 106 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

werden die Welt beherrschen !« prophezeit einer der Agenten später (MO 229 ; s. u.). Wie ist das möglich ? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir einen kurzen Blick auf eine Erzählung werfen, die im zeitlichen Umkreis von Momo entstand, um später einen zentralen Platz in Der Spiegel im Spiegel zu finden. Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle183 ist einer jener surrealistischen Texte Endes, die für sich allein bereits genügen, um das Klischee vom »Kinderbuchautor« zu widerlegen. Schon der Beginn führt in eine kafkaesk anmutende Zwischenwelt ein : Die Bahnhofskathedrale stand auf einer großen Scholle aus schiefergrauem Gestein, die durch den leeren, dämmernden Raum dahinschwebte. Es gab noch andere solche Inseln, größere oder kleinere, die in verschieden großem Abstand hinzogen […]. Die meisten schienen unbewohnt oder waren jedenfalls dunkel, nur wenige waren illuminiert wie die, auf der die Bahnhofskathedrale stand, ein babylonisches Bauwerk 184 von verwirrenden Ausmaßen, noch lange nicht fertig, wie die vielen Gerüste erkennen ließen. (SIS 30)

Mit einer Mischung von Erstaunen und Abscheu mustert ein Neuankömmling, der nur »der Feuerwehrmann« genannt wird, die Bewohner der Scholle. Auf der Zwischenstation – so ihr Name – drängt sich dicht an dicht Lumpengesindel, Bettelvolk, verlaust, triefäugig, schorfig, verkommen. Aber die Körbe, Koffer und Säcke, die sie bei sich hatten, quollen über vor Geldscheinen. (SIS 30)

Woher stammt all dieser Reichtum ? Mühsam schlägt sich der Feuerwehrmann durch das Heer der Elenden ins Innere der Bahnhofskathedrale durch, das Schalterhalle und Kirchenschiff zugleich ist : [Es] war riesig und verlor sich nach oben in der Dunkelheit. […] Hoch auf der Apsis befand sich anstelle der Rosette eine große Uhr, deren Ziffernblatt von hinten erleuchtet war, doch fehlten die Zeiger. Darunter, auf erhöhter Ebene, stand der Altar, in dessen Mitte sich das Tabernakel erhob. Es hatte die Gestalt eines mächtigen Tresors mit fünf Nummernschlössern auf der Tür, die als umgekehrDie Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse | 107

tes Pentagramm angeordnet waren. Nicht nur der Altar und das Tabernakel, sondern jeder Vorsprung, jede Balustrade, jede Stelle, die es nur irgend zuließ, war mit flackernden Kerzen beklebt. […] Vor dem Altar hopsten wie in einem Tanzritual beständig einige arme Schlucker in knöchellangen, schmutziggrauen Kitteln herum, […] hantierten mit allerlei Gerät oder machten mit den Fingern Zeichen über die Köpfe der Menge weg wie Börsenmakler. Von Zeit zu Zeit wurde der Tresor geöffnet, dann fiel eine Ladung gebündelter Geldscheine heraus. Einer der Schlehmihle nahm ein solches Bündel, hielt es feierlich mit beiden Händen hoch und zeigte es der Menge. Diese sank in die Knie, die Orgel brauste gewaltig, und ein tausendstimmiger Chor schrie : »Wunder und Geheimnis !« Die Bündel wurden an die vorderen Reihen der Elendsgestalten verteilt und der Tresor geschlossen. Das Ritual begann unverzüglich wieder von neuem. Die Empfänger schlugen sich durch die Menge, um ihren Gewinn in Sicherheit zu bringen, und die Nachdrängenden nahmen ihre Plätze ein. Auf den Leitern turnten fortwährend behende Handlanger auf und ab und deponierten die Geldscheinbündel irgendwo hoch droben an den Wänden. Erst jetzt bemerkte der Feuerwehrmann, daß sämtliche Mauern, sämtliche Säulen und Pfeiler, auch der des Torbogens, gegen den er gedrängt stand, aus solchen aufgetürmten Geldscheinbündeln bestanden. Die ganze Kathedrale war aus Papiergeldziegeln errichtet. Und weiter und weiter wurde an ihr gebaut, denn jedes Öffnen des Tabernakels spie neue Mengen aus. Die tausend und abertausend Kerzenflammen tanzten und wehten, und das Wachs rann und tropfte. »Gott im Himmel !« murmelte er, »das ist gegen jede Sicherheitsvorschrift ! Das ist hellichter Wahnsinn !« (SIS 33 f.)

Von einem zwielichtigen Verkäufer, der ihm »die letzten Aktien der Bahnhofskathedrale« aufzudrängen versucht, erfährt der Feuerwehrmann unversehens die schreckliche Wahrheit über das Ritual und die Zwischenstation : »[D]ie Wunderbare Geldvermehrung wird immer weitergehen. Sie hört niemals auf. Und solang sie nicht aufhört, will niemand abreisen. Und solang niemand abreisen will, gehen keine Züge. Alles wird bleiben, wie es ist ! […]« (SIS 35 f.) 108 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Von einer Kanzel aus Geldscheinen herab beginnt unterdessen ein »ausgemergelter Greis« mit schriller Stimme zu predigen. Sein Appell an die »Aktionäre« gipfelt in einem fanatischen Bekenntnis zur Allmacht des Kapitals : »Mysterium aller Mysterien – und selig ist, wer daran teil hat ! Geld ist Wahrheit und die einzige Wahrheit. Alle müssen daran glauben ! Und euer Glaube sei unverbrüchlich und blindlings ! Erst euer Glaube macht es zu dem, was es ist ! Denn auch das Wahre ist eine Ware und untersteht dem ewigen Gesetz von Angebot und Nachfrage. Darum ist unser Gott ein eifersüchtiger Gott und duldet keine anderen Götter neben sich. Und doch hat er sich in unsere Hände begeben und sich zur Ware gemacht, auf daß wir ihn besitzen können und seinen Segen empfangen …« […] »Das Geld vermag alles !« rief der Prediger, »es verbindet die Menschen miteinander durch Geben und Nehmen, es kann alles in alles verwandeln, Geist in Stoff und Stoff in Geist, Steine macht es zu Brot und schafft Werte aus dem Nichts, es zeugt sich selbst in Ewigkeit, es ist allmächtig, es ist die Gestalt, in der Gott unter uns weilt, es ist Gott ! Wo alle sich an allen bereichern, da werden am Ende alle reich ! Und wo alle auf Kosten aller reich werden, da zahlt keiner die Kosten ! Wunder aller Wunder ! Und wenn ihr fragt, liebe Gläubige, woher kommt all dieser Reichtum ? Dann sage ich euch : Er kommt aus dem zukünftigen Profit seiner selbst ! Sein eigener zukünftiger Nutzen ist es, den wir jetzt schon genießen ! Je mehr jetzt da ist, desto größer ist der zukünftige Profit, und je größer der zukünftige Profit, desto mehr ist wiederum jetzt da. So sind wir unsere eigenen Gläubiger und Schuldner in Ewigkeit, und wir vergeben uns unsere Schulden in Ewigkeit, Amen !« (SIS 41 f.)

Als der Feuerwehrmann versucht, dem wahnwitzigen Treiben in der Kathedrale ein Ende zu setzen, wird er von der wütenden Menge beinah totgetrampelt. Mit letzter Kraft kann er sich in einen der papierenen Beichtstühle retten, worauf sich die Gläubigen erneut der Wunderbaren Geldvermehrung zuwenden. Leider bleibt dabei keine Zeit, jene tödliche Bombe zu entschärfen, die auf der ganzen Plattform vernehmlich tickt, sodaß die Sekunden der Zwischenstation gezählt sind. Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse | 109

Vom literarischen Standpunkt aus kann dieser Text neben Momo nur sehr bedingt bestehen, da er vergleichsweise einfach gestrickt und  – trotz des surrealistischen Szenarios  – weniger poetisch wirkt. Indes ist es nicht zuletzt die unmittelbare, beinah verstörend direkte Bildlichkeit der Erzählung, die sie zu einer wichtigen Quelle für unsere Untersuchung macht. Hier spielt kein anonymes Heer grauer Geister die Rolle des Kapitals ; hier ist es ausdrücklich das zum Kultobjekt erhobene Geld, dessen Vermehrung – Mysterium aller Mysterien – zum Endzweck einer sichtlich aus den Fugen geratenen Gesellschaft wird. Weit über den Status eines Zahlungsmittels hinaus (es gibt auf der Scholle nichts zu kaufen !), erscheint es als abstrakte Ordnungsmacht einer Menschenmasse, die sich im eigentlichen Sinne ent-individualisiert hat. Das allumfassende Verlangen, an der Wunderbaren Geldvermehrung teilzuhaben, drängt nicht allein die je eigenen Charakterzüge der »Aktionäre«, sondern selbst ihre elementarsten individuellen Bedürfnisse zurück : »[V] erlaust, triefäugig, schorfig, verkommen« (SIS 30), sind sie ihrem eigenen körperlichen Dasein gegenüber gleichgültig geworden. Was wie ein Widerspruch zu dem erscheint, was wir oben über die Ursprünge das Kapitalismus erfahren haben,185 ist tatsächlich seine konsequente Weiterentwicklung. Irgendwann muß auf der Zwischenstation dasselbe geschehen sein wie in Momos »großer Stadt« : Das Kapital hat sich von den Wünschen der Bewohner, denen es seine Macht verdankt, gelöst und zieht nun seinerseits alles Interesse auf sich. Da es indes keine überirdische Instanz, sondern lediglich bedrucktes Papier ist, das auf dem Altar der Bahnhofskathedrale angebetet wird, kann die Kraft zu jenem Schritt einzig und allein – von den Aktionären selbst gekommen sein ! Sie sind es, die die leblosen Scheine so vehement mit Bedeutung aufladen, daß sie zur mystischen Macht, ja gar zum »Gott« jener schwebenden Welt emporsteigen. Damit kommt jene Problematik, die wir vom Anfang der Fusi-Szene an verfolgen konnten, zum drastischen Abschluß. Das egoistische Streben nach Luxus als Lebensweg läßt ja letztlich alle Sinnfragen offen ; denn die unmittelbaren Bedürfnisse, an denen es sich orientiert, werden den Makel der Endlichkeit nicht los.186 Jenes Kapital hingegen, das ursprünglich bloßes Mittel zum egoistischen Zweck war, erweist sich als wesentlich flexibler. »In Wirklichkeit nichts« (d. h. bloße Vorstellung und Konvention), 110 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

vermag es die Rolle einer absoluten Sinnebene mit verführender Leichtigkeit zu spielen. Es verleiht die Möglichkeit, von den unmittelbaren Bedürfnissen zu abstrahieren, wodurch deren pein­liche Endlichkeit aus dem Blickfeld gerät. Es läßt die Sparer (oder Aktionäre) den einmal eingeschlagenen Weg stur fortsetzen, selbst dann, wenn längst mehr als genug Mittel zur Erfüllung ihrer Wünsche angehäuft wurden.187 Es ist – als alleingültiger Parameter für ein geglücktes Leben im Sinne des Kapitalismus – sein eigenes Korrektiv und seine eigene Bestätigung als Gottheit. Kurzum : Es ist von einer Zwischen- zur Endstation geworden. Im sakralen Charakter des Kapitals, den uns der Spiegel im Spiegel so bildlich vor Augen führt, liegt indes nicht allein das Geheimnis seiner Macht, sondern auch das seiner unendlichen Vermehrung. Da jene Sinnebene, die all der faule Zauber vorgaukelt, sich der Gesellschaft der Gläubigen wie ein Traumbild entzieht, entsteht ein innerer Zustand des permanenten »Noch nicht« : Die Bahnhofskathedrale ist »noch lange nicht fertig« (SIS 30 ; s. o.) ; die Menschenmasse der Aktionäre wähnt sich »nur auf der Durchreise« (SIS 31) – wie auch Fusi sein buntes Illustriertenglück leider immer noch nicht erreicht hat. Von außen betrachtet, entspricht dem die Tendenz zur rastlosen Expansion, welche so charakteristisch ist, daß sie geradezu als Erkennungszeichen kapitalistischer Systeme gelten kann. Sobald Kapital absolut gesetzt wird, sprengt es alle Grenzen : »[D]ie Wunderbare Geldvermehrung wird immer weitergehen«, bis die Kommunion mit der Gottheit vollendet, bis alle Zeit in Geld verwandelt ist und es nichts mehr gibt außer Kapital. Oder aber – bis die Gläubigen die Ressourcen jener »großen Scholle […], die durch den leeren, dämmernden Raum dahinschwebte«, aufgebraucht haben und ihre Welt in die Luft fliegt. Der Weg ist jedenfalls derselbe : rückhalt- und rücksichtsloses Wachstum im Sinne des Kapitals. Denn wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, und die Tatsachen sind eben die, daß wir, wenn wir nicht mindestens drei Prozent Wachstum im Jahr haben, nicht konkurrenzfähig sind und wirtschaftlich zugrundegehen.188

Betrachten wir diese aggressive Wachtumsblase, die vor nichts Halt macht, aus der Distanz, so wirkt sie geradezu wie ein verzweifelter Die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse | 111

Versuch, das Absolute im Empirischen nachzubilden – und die unendliche Vermehrung, welche den überirdischen Charakter des Kapitals erweisen soll, wie ein blasses Abziehbild göttlicher Allmacht. Die Fehlkalkulation ist indes offensichtlich : Wäre Geld tatsächlich die ersehnte Gottheit, hätte es all diese babylonischen Anstrengungen wohl kaum nötig. In demselben Maße, in dem das Kapital gesellschaftlich in den Vordergrund drängt, schwindet der Spielraum des einzelnen Individuums ; praktische Unfreiheit folgt der kapitalistischen Umwertung auf den Fuß. Der Spiegel im Spiegel zeigt sie in zweierlei Gestalt : Innerer, wie sie in der manischen Hast der Aktionäre zum Ausdruck kommt, steht handfeste äußere Unfreiheit gegenüber, wenn etwa der besonnene Feuerwehrmann »von der Masse des Gelichters […] [wie] von einem Mahlstrom erfaßt und mitgerissen« (SIS 37) wird. Ein ganz ähnliches Schicksal trifft die standhafte Momo, die der grassierende Wahn des Zeit-Sparens sukzessive all ihrer Freunde und damit ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt. In einer Gesellschaft, die sich ganz und gar der rastlosen Anhäufung von Kapital verschrieben hat, bleibt kein Platz mehr für »Faulenzer« wie sie : »Ich darf vielleicht bald nicht mehr kommen«, sagte Paolo, der Junge mit der Brille. »Warum denn nicht ?«, fragte Momo verwundert. »Meine Eltern haben gesagt«, erklärte Paolo. »ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott[ !] die Zeit, haben sie gesagt. Deshalb habt ihr so viel.«189

Je weiter die Bewegung des Zeit-Sparens voranschreitet, desto mehr wird ihr totalitärer Charakter offenbar, der dem Einzelnen die Luft zum Atmen nimmt. Bald schon werden Worten Taten folgen – und »herumlungernde Kinder« in lagerähnliche »Anstalten« gepfercht, um sie zu »nützlichen und leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft« zu formen (MO 187). Schlimmer noch : Die ganze Stadt scheint langsam, aber unaufhaltsam die Konturen eines gewaltigen Internierungslagers anzunehmen. Sehen jene so kostengünstigen Wohnblocks, die bald bis zum Horizont hin wuchern, Gefängnissen nicht zum Verwechseln ähnlich ?190 Das mag uns alles überzeichnet erscheinen – noch. Die Tendenz kapitalistischer Systeme, 112 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

individuelle Freiheit der reibungslosen Kapitalvermehrung zu opfern, ist indes nicht zu leugnen.191 Ihr Absolutheitsanspruch, der aus den Grundfragen der menschlichen Existenz stammt, läßt keine Kompromisse zu : Sofern ihr Siegeszug nicht durch Willensakte aufgehalten wird, können die Grauen Herren gar nicht ruhen, ehe alles menschliche Handeln ihrer eigenen Vermehrung dient. Wie meint doch einer der Agenten gegen Ende in aller gebotenen Kälte ? »Menschen […] sind längst überflüssig. Sie selbst haben die Welt so weit gebracht, daß für ihresgleichen kein Platz mehr ist. Wir werden die Welt beherrschen !« (MO 229)

E. Der Wettlauf in die Unfreiheit »Jetzt ! Jetzt !« rief die Königin. »Schneller ! Schneller !« Und nun sausten sie so schnell dahin, daß sie beinahe nur noch durch die Luft segelten und den Boden kaum mehr berührten, bis sie plötzlich, als Alice schon der Erschöpfung nahe war, innehielten, und im nächsten Moment saß Alice schwindlig und atemlos am Boden. […]  Voller Überraschung sah sich Alice um. »Aber ich glaube fast, wir sind die ganze Zeit unter diesem Baum geblieben ! Es ist ja alles wie vorher !« »Selbstverständlich«, sagte die Königin, »was dachtest du denn ? […] Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muß man noch mindestens doppelt so schnell laufen !« – Lewis Carroll : Alice hinter den Spiegeln –

Noch ist es freilich nicht so weit ; noch ist die goldene Epoche der Zeit-Diebe nicht angebrochen ; noch klagen die Agenten über ihr »mühseliges Geschäft, […] Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen« (MO 98). Tatsächlich setzt jene radikale Umwertung (Nietzsche), die freie Menschen zu Werkzeugen der Kapitalvermehrung degradiert, weder plötzlich noch unvermittelt ein. Vom kleinen Laden Fusis, der an einem trüben Tag von Luxus träumt, bis zur monströsen Bahnhofskathedrale führt ein weiter Weg. Man kann erwarten, in seinen Leitlinien die Strukturen der kapitalistischen Ideologie zu finden : die Konsequenzen aus ihrem strikt egoistischen Ansatz. Welche sind dies ? In welchen Bahnen Der Wettlauf in die Unfreiheit | 113

verläuft die Machtübernahme der Zeit-Spar-Kasse ? Befragen wir Momo. 1. Die Konsumismusfalle

Wir wollen zunächst zu jener aufschlußreichen Szene zurückkehren, in der die Agenten zum ersten Mal versuchen, Momo in die rasant expandierende Welt der Zeit-Spar-Kasse zu integrieren. Das Ergebnis kennen wir bereits : Anders als Fusi besteht Momo die Prüfung, was letztlich zur entscheidenden Begegnung mit Hora führt. Nicht weniger bedeutsam ist indes die Methode, welche die Grauen Herren anwenden. Daß die Wucht ellenlanger Zahlen­kolonnen Momo kaum beeindrucken würde, leuchtet ein : Sie ist ein Kind, dem das abstrakte Konzept des Zeit-Sparens gänzlich fremd bleiben muß.192 Die Agenten aber haben noch andere Tricks auf Lager. Es beginnt damit, daß Momo eines Tages auf den Steinstufen des Amphitheathers eine nagelneue Puppe findet – und nicht bloß eine Puppe ; ein Wunderwerk. Sie ist lebensgroß, elegant gekleidet, kann mit den Wimpern schlagen und sogar sprechen (wir schreiben die Sechzigerjahre !). Es kommt noch besser ; Bibigirl, die vollkommene Puppe – wie sie sich selbst vorstellt – versichert Momo mit schnarrender Stimme : »Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um mich.« »Ich glaub nicht, daß du mir gehörst«, meinte Momo. »Ich glaub eher, daß dich jemand hier vergessen hat.« Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder, und sie sagte : »Ich möchte noch mehr Sachen haben.« (MO 90)

Momo bietet ihr daraufhin bereitwillig jene Schätze an, die sie in einer kleinen Schachtel hortet : eine Vogelfeder, eine Muschel, ein Stück buntes Glas. Bibigirl aber erweist sich als vollkommen unbescheiden : Stets will sie »noch mehr Sachen«. Auch sämtliche Spiele, die Momo ihr vorschlägt, scheitern an dieser allzu einseitigen Interessenslage. Momo beginnt zu verzweifeln :

114 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Ja, wenn die Puppe gar nichts gesagt hätte, dann hätte Momo an ihrer Stelle antworten können, und es hätte sich die schönste Unterhaltung ergeben. Aber so verhinderte Bibigirl gerade dadurch, daß sie redete, jedes Gespräch. Nach einer Weile überkam Momo ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Und weil es ihr ganz neu war, dauerte es eine Weile, bis sie begriff, daß es die Langeweile war. (MO 91)

Plötzlich wird Momo gewahr, daß sie beobachtet wird : In einem nahebei geparkten Wagen sitzt ein Grauer Herr, der ihr lächelnd zunickt. »Und obwohl es so heiß an diesem Mittag war, daß die Luft in der Sommerglut flimmerte, begann Momo plötzlich zu frösteln« (MO 92). Die Kälte nimmt zu, als der Agent – wie sich später herausstellt, hört er auf den klangvollen Namen BLW/553/c – aus seinem aschengrauen Fahrzeug steigt, um dem Mädchen vor Augen zu führen, »wie man mit einer so fabelhaften Puppe spielen muß. Soll ich es dir zeigen ?« Momo blickte den Mann überrascht an und nickte. »Ich will noch mehr Sachen haben«, quäkte die Puppe plötzlich. »Na, siehst du, Kleine«, meinte der graue Herr […] und öffnete den Kofferraum. »Zuerst einmal«, sagte er, »braucht sie viele Kleider. Hier ist zum Beispiel ein entzückendes Abendkleid.« Er zog es hervor und warf es Momo zu. »Und hier ist ein Pelzmantel aus echtem Nerz. Und hier ist ein seidener Schlafrock. Und hier ein Tennisdress. Und ein Skianzug. Und ein Badekostüm. Und ein Reitanzug. Ein Pyjama. Ein Nachthemd. Ein anderes Kleid. Und noch eins. Und noch eins. Und noch eins …« (MO 92 f.)

Mit Kleidern allein ist es freilich nicht getan ; Bibigirl braucht mehr : »eine Halskette, Ohrringe, ein Puppenrevolver, Seidenstrümpfchen, ein Federhut, ein Strohhut, ein Frühjahrshütchen, Golfschlägerchen, ein kleines Scheckbuch, Parfümfläschchen, Badesalz, Körperspray …« Die Flut der Gegenstände, die sich vor Momo auftürmen, reißt nicht ab, denn »es ist ganz einfach. Man muß nur immer mehr und mehr haben, dann langweilt man sich niemals.« Der Wettlauf in die Unfreiheit | 115

Für den unwahrscheinlichen Fall aber, daß es eines Tages doch gelingen sollte, Bibigirls Ansprüchen Genüge zu tun, steht schon der passende Gefährte bereit : »Das ist Bubiboy ! […] Und zu Bubiboy gibt es noch einen dazupassenden Freund, und der hat wieder Freunde und Freundinnen.« Daß diese ganze Sippschaft ebenfalls immer »noch mehr Sachen« benötigt, versteht sich von selbst. Kurzum : »[…] die Sache ist endlos fortzusetzen, und es bleibt immer noch etwas, das du dir wünschen kannst.« Und all das, all die vollkommenen Bibigirls und Bubiboys mitsamt ihren Pelzmänteln, Handtaschen, Fotoapparaten und Tennisschlägern, die Momo mitttlerweile fast unter sich begraben, soll nach und nach ihr gehören, wenn – ja wenn sie sich nur auf dieses äußerst unterhaltsame Immer-mehr-Spiel einläßt. »Und das willst du doch ? Du willst doch diese fabelhafte Puppe ? Du willst sie doch unbedingt, wie ?« Aber Momo bleibt skeptisch. »Was denn, was denn ?«, sagte der graue Herr und zog die Augenbrauen hoch. »Du bist immer noch nicht zufrieden ? Ihr heutigen Kinder seid aber wirklich anspruchsvoll ! Möchtest du mir wohl sagen, was dieser vollkommenen Puppe denn nun noch fehlt ?« Momo blickte zu Boden und dachte nach. »Ich glaub«, sagte sie leise, »man kann sie nicht lieb haben.« (MO 93 – 95)

Was Momo hier in aller Unschuld äußert, wird sich als einer der Grundgedanken Endes erweisen.193 Den Agenten erwischt sie damit völlig auf dem falschen Fuß. Da wir indes den Ausgang des Gesprächs bereits kennen,194 wollen wir uns der Frage zuwenden, was es denn eigentlich ist, womit Nr. BLW/553/c das Mädchen hier zu ködern versucht. Welchen Zweck verfolgen die Grauen Herren, die ja niemals eine Sekunde verschwenden, wenn sie Momo mit vollkommenen Puppen und ihren Accessoires überschütten ? Vor allem aber : Was hat das Ganze mit dem ominösen Zeit-Sparen zu tun ? Auf den ersten Blick scheint es, als hätte die ganze Szene mit dem listigen Übergriff auf Fusis Lebenszeit, der oben besprochen wurde, wenig gemein. Das liegt freilich primär an Momos Reaktion : Eine »kleine Heilige« (Ende195), erweist sie sich als gänzlich unangreifbar für die Zeit-Spar-Kasse. Dem Mädchen zu schaden, sind die Agenten zwar sehr wohl in der Lage (wie sie später beweisen) ; jeder Ver116 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

such aber, Momo auf ihre Seite zu ziehen, scheitert kläglich. Das ist jedoch nicht so zu begreifen, daß sie etwa einer Versuchung tapfer widerstände, der andere erliegen. Tatsache ist, daß es schlicht nichts gibt, womit die Zeit-Spar-Kasse Momo verlocken könnte. Ihr – und ihr allein  – bleiben die Grauen Herren stets ein rein äußerliches Phänomen, das in ihr selbst keine Entsprechung findet. Das ist der eigentliche Grund, warum ihre Begegnung mit dem Agenten so völlig anders verläuft als jene des bedauernswerten Fusi. Am Ende wird sie seine »wirkliche Stimme« vernehmen (MO 100) ; sie wird seinen Besuch im Gedächtnis behalten als etwas, das ihr widerfahren ist und erzählt werden kann.196 Der Graue Herr ist eben nicht ihr »böser Geist« – er ist der jener Gesellschaft, in der sie lebt. Nehmen wir hingegen den Auftritt von Nr. BLW/553/c als solchen in den Blick, so zeigt sich, daß er sich gänzlich gemäß seiner Spezies verhält. Selbstverständlich ist es sein Ziel, Momo zum Zeit-Sparen zu bewegen – was sonst ? Da aber Kinder sinnlicher bestimmt sind als Erwachsene, gilt es in diesem Falle, vorläufig auf der Ebene der Dinge zu bleiben : Der Agent versucht, Momo mit »etwas Luxuriösem« zu ködern, das ihr Leben erfüllen und so nach und nach den Platz und Status einer absoluten Sinnebene einnehmen soll. Und zwar wie ? Natürlich durch grenzenlose Expansion (wir kennen das Schema mittlerweile zur Genüge). Später würde Momo dann erfahren müssen, daß es leider nichts umsonst gibt auf dieser Welt ; sie würde lernen, Zeit zu sparen, um die ganze Schar von Bibis, Bubis und Barbies sowie deren zahllose Nachfolger als Ziel aller Wünsche finanzieren zu können. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie jenes Schema bereits derart verinnerlicht, daß kaum mehr Platz bliebe für all die Erfahrungen, die über das bloße Anhäufen und Konsumieren von Dingen hinausgehen. Irgendwann hätte die ZeitSpar-Kasse ihr Ziel erreicht : Momos ganzes Dasein wäre in eine rastlose Jagd nach »noch mehr Sachen« verwandelt. Das schließt übrigens soziale Bindungen keineswegs aus. Wie sagt BLW/553/c im Laufe des Gesprächs ? »[W]er mehr wird und mehr hat als die anderen, dem fällt alles Übrige ganz von selbst zu : Freundschaft, Liebe, Ehre und so weiter« (MO 96). Muß noch betont werden, daß all dies hier nichts als käufliche Konsumgüter sind ? Wozu Momo verlockt werden soll, kann man als Konsumismus bezeichnen : den Genuß von immer neuen und immer mehr Gütern Der Wettlauf in die Unfreiheit | 117

als Selbst- und Lebenszweck. In ihm kündigt sich – auf sinnlicherer Ebene  – bereits das wahnhafte Treiben im Innern der Bahnhofskathedrale an. Der »Wunderbaren Geldvermehrung« geht die Vervielfachung »fabelhafter« Dinge voraus, welche offenbar schon zum selben sakralen Status drängen wie später das Kapital, das sie erwirbt. Wie dieses, tendieren auch die angehäuften Konsumgüter dazu, ihren vermeintlichen Eigentümern nur allzu rasch über den Kopf zu wachsen. »Ich gehöre dir«, versichert Bibigirl und klimpert treuherzig mit den Wimpern ; in Wahrheit aber läuft jeder, der sich mit ihr und ihresgleichen einläßt, eminent Gefahr, über kurz oder lang zum Besitz seines Besitzes, zum Sklaven der Sucht nach »noch mehr Sachen« zu werden. Daß es evident widersprüchlich ist, empirische Gegenstände zum absoluten Fluchtpunkt menschlicher Perpektiven zu machen, hemmt diese Entwicklung nicht im geringsten ; im Gegenteil, es bringt die bunte Wunderwelt des Konsumismus erst richtig in Schwung. Gerade weil sich Bibigirl vergeblich bemüht, dem göttlichen Attribut der Vollkommenheit zu entsprechen, muß ihre gesamte Verwandtschaft ebenfalls vor den Vorhang – die freilich an demselben Makel leidet. Auch hier wird wiederum versucht, eine fundamentale Insuffizienz durch Quantität auszugleichen ; auch hier wirkt das anwachsende Gefühl der Sinnleere (vom Agenten euphemistisch »Langeweile« genannt) gerade als Stimulans zum rastlosen Anhäufen zahlloser Konsumgüter.197 Sobald das natürliche Streben nach genußvollem Konsum absolut gesetzt wird, wandelt sich also offenbar sein ganzer Charakter. Schon die Analyse der Fusi-Szene hat ja gezeigt, daß jenem trügerischen Lebenstraum von Luxus, der die Zeit-Spar-Kasse überhaupt erst auf den Plan ruft, eine eigenartige Inkohärenz anhaftet : Indem Fusi seine leiblichen Bedürfnisse zum Nonplusultra erhebt, greift er bereits entscheidend über sie hinaus. Nicht unmittelbares Wohlbefinden, wie es jedes Tier instinktiv ansteuert, ist sein eigentliches Ziel, sondern die Befreiung von jenen existenziellen Ängsten, die als Stachel in seiner Seele sitzen. Mit anderen Worten : Luxus soll schlichtweg sein Leben retten. Was Wunder, daß er niemals genug bekommen kann ! Ganz anders Momo : Um mit und in ihrer kindlichen Welt zufrieden zu sein, benötigt sie nicht mehr als eine Vogelfeder oder ein Stück buntes Glas ; ja, wie wir noch sehen 118 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

werden, benötigt sie nicht einmal das. Bedürfnisse dieser Art – als naturgegebene, eng begrenzte Regungen endlicher Wesen – sind für die kapitalistische Ideologie freilich völlig unbrauchbar, weshalb sie der Agent nicht einfach nur übergeht, sondern geradezu systematisch zu verdrängen sucht. Momo soll endlich damit beginnen, eine gute Konsumentin zu werden : Dinge anzuhäufen, die sie nicht braucht, um Bedürfnisse zu erfüllen, die nicht ihre eigentlichen sind, verlockt und angestachelt von einer Werbeindustrie, die sie selbst durch ihr Konsumverhalten finanziert – einer Werbe­ industrie übrigens, die der Graue Herr mit seiner Ein-Mann-Show sehr treffend imitiert. Momo freilich macht ihm einen Strich durch die Rechnung : Sie spielt – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht mit. Daß diese Verweigerung Nr. BLW/553/c aus der Fassung bringt, ist nur allzu verständlich, zumal die Grauen Herren die aktive Teilnahme Momos an der Konsumgesellschaft bitter nötig haben. Ungeachtet ihrer rasant anwachsenden Macht sind sie ganz und gar vom schlechten Willen der Konsumenten abhängig : »Wenn es mehr von deiner Sorte gäbe, dann könnten wir unsere Zeit-Spar-Kasse bald zumachen und uns selbst in Nichts auflösen – , denn wovon sollten wir dann noch existieren ?« (MO 98),

fragt sich der Agent entsetzt, als sich Momo resistent gegen all seine Bibis und Bubis zeigt. Das ist durchaus nachvollziehbar. Tatsächlich zählte es gerade in den Sechzigerjahren, als der Märchen­ roman entstand, zu den Binsenweisheiten ökonomischen Denkens, daß jedes kapitalistische System entsprechendes Konsumverhalten braucht, um als solches bestehen zu können. Die Wunderbare Vermehrung des Kapitals (das »Wachstum«) ist dermaßen eng an den exzessiven Gebrauch von Gütern gekoppelt, daß Bescheidenheit und Besinnung auf das Nötige, wie sie Momo vorlebt, die gesamte Gesellschaftsordnung in ihren Grundfesten erschüttern.198 Hier blitzt also nicht bloß die Frustration eines erfolglosen Agenten auf, sondern ein möglicher Ausweg aus der Kapitalismusfalle schlechthin. Dem betont individualistischen Ansatz Endes entsprechend, stößt die Zeit-Spar-Kasse im Individuum, welches sich dem grassierenden Konsumwahn verweigert, an die Grenzen ihrer realen Macht.199 Der Wettlauf in die Unfreiheit | 119

Soviel also zum praktischen Status des Konsumismus innerhalb kapitalistischer Systeme. Wie verhält es sich nun auf ideologischer Ebene ? Die Zusammenschau des oben Gesagten ergibt ein deutliches Bild. Kapitalismus zeigt sich in Momo als ideologisches Konstrukt, dessen Basis die egoistische Absolutsetzung der je eigenen Bedürfnisse bildet (s. Abschnitt C), während sein Endziel in der grenzenlosen Vermehrung des sakralisierten Kapitals liegt (D). Konsumismus, wie ihn uns Nr. BLW/553/c so überaus plastisch präsentiert, scheint eine Art Bindeglied zwischen beidem zu sein. Der fundamentale Widerspruch, absolutes Interesse an der Erfüllung endlicher Begehrlichkeiten zu hegen, drückt sich praktisch im paradoxen Hinausstreben über deren Grenzen aus. So beginnt die hektische Hetzjagd nach »noch mehr Sachen«, bei der jener unbeschwerte, unmittelbar sinnliche Genuß, den Tiere empfinden, wohl als allererstes auf der Strecke bleibt.200 Das ist nur deshalb möglich, weil das Verlangen nach exzessivem Konsum eben nicht unmittelbar-animalisch, sondern ausgesprochen geistig motiviert ist (Fusi). So kann sich letztlich die bloße abstrakte Möglichkeit zu konsumieren, wie sie im ersparten Kapital liegt, zur tyrannischen Macht über die eigene Lebenswelt wandeln. Bis zur Vermehrung und Verehrung des Kapitals um seiner selbst willen ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. 2. Gigis Begriff der Konkurrenz

Bleiben wir indes noch einen Augenblick beim Phänomen des Konsumismus. Wie wir gesehen haben, kommt im manischen Anhäufen von Bibi-Klonen eine Art geistig motivierter Selbstsucht zum Tragen. Diese bringt es mit sich, daß andere nur insofern in Betracht kommen, als sie Mittel zum Zweck sein können – etwa indem sie »Freundschaft, Liebe, Ehre« (MO 96) und andere Konsumgüter zu liefern versprechen. Nun stellt sich freilich die Frage, ob die Welt sich tatsächlich so ohne weiteres instrumentalisieren läßt. Zwar steht es jedem frei, durch sein Leben zu schreiten wie Oscar Wildes »Remarkable Rocket«, die ihre Umgebung zurechtzuweisen pflegt : 120 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

You should be thinking about others. In fact, you should be thinking about me. I am always thinking about myself, and I expect everybody else to do the same.201

Allein : Wer aus dieser Erwartung heraus handelt, wird feststellen müssen, daß er schnell an praktische Grenzen stößt. Die Sphäre des Einzelnen reibt sich an jenen der anderen ; Konkurrenz zeigt und verschärft sich. Was dies konkret bedeutet, können wir an den Menschen um Momo beobachten, die an den Händen der Agenten tiefer und tiefer in Konkurrenzsituationen tappen. Ein besonders drastisches Beispiel bietet Momos engster Freund Girolamo (»Gigi«), den wir bereits als unkonventionellen Fremdenführer kennenlernen durften.202 Gigi, der einem Bastian Balthasar Bux an Phantasie und Einfallsreichtum in nichts nachsteht, lebt von der Hand in den Mund, ehe er eines Tages von einer Zeitung »entdeckt« wird. Erfreut ergreift er die Gelegenheit beim Schopf, aus seiner Fabulierkunst Profit zu schlagen – und macht in atem­beraubendem Tempo Karriere. Bald schon unterhält er im Fernsehen Millionen, mietet ein protziges Haus, läßt sich in eleganten Wagen chauffieren und stellt drei Sekretärinnen ein, denen er unablässig neue Geschichten diktiert. Denn seine geruhsamen Tage sind vorbei : All der Luxus muß bezahlt, die Konkurrenz auf Distanz und das Publikum bei Laune gehalten werden. Im vergeblichen Versuch, sich Luft zu verschaffen, begann [er], haushälterisch mit seinen Einfällen umzugehen. Aus einem einzigen machte er jetzt manchmal fünf verschiedene Geschichten. Und als auch das nicht mehr genügte, um der immer noch zunehmenden Nachfrage gerecht zu werden, tat er eines Tages etwas, das er nicht hätte tun dürfen : Er erzählte eine der Geschichten, die Momo ganz allein gehörte. Sie wurde ebenso hastig verschlungen wie alle anderen und war sofort wieder vergessen. Man forderte weitere Geschichten von ihm. Gigi war so benommen von diesem Tempo, daß er, ohne sich zu besinnen, hintereinanderweg alle Geschichten preisgab, die nur für Momo bestimmt gewesen waren. Und als er die letzte erzählt hatte, fühlte er plötzlich, daß er leer und ausgehöhlt war und nichts mehr erfinden konnte. (MO 175) Der Wettlauf in die Unfreiheit | 121

Unter dem unaufhörlich zunehmenden Erfolgsdruck hat Gigi den entscheidenden Fehler begangen, »etwas gegen Geld zu verkaufen […], das nur verschenkt werden darf«,203 und büßt nun mit dem Verlust seiner Kreativität. Nicht, daß dies seiner Karriere im geringsten schaden würde ! Es stellt sich heraus, daß sein Publikum gar keine neuen, kreativen Ideen von ihm will ; als er in seiner Angst, den Anschluß zu verlieren, seine Geschichten einfach leicht verändert wiederzuerzählen beginnt, beeinträchtigte es die Nachfrage nicht. Daran hielt Gigi sich fest wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke. Denn nun war er doch reich und berühmt – und war es nicht das gewesen, wovon er immer geträumt hatte ? Aber manchmal des Nachts, wenn er in seinem Bett mit der seidenen Steppdecke lag, sehnte er sich zurück nach dem anderen Leben, wo er mit Momo […] und den Kindern hatte zusammen sein können und wo er wirklich noch zu erzählen verstanden hatte. Aber dorthin führte kein Weg zurück […]. (MO 175)

Als Momo schließlich nach »Jahr und Tag« (MO 190) vom NirgendHaus zurückkehrt, erkennt sie ihren Freund beinah nicht wieder. Der stete Konkurrenzdruck hat seine Persönlichkeit verändert – Gigi wirkt gehetzt und fahrig und kann kaum mehr Zeit für sie erübrigen. Ihr mißlungenes Gespräch, bei dem Momo nicht ein einziges Mal zu Wort kommt, wird obendrein ständig von Gigis Sekretärinnen unterbrochen, die ihn bedrängen, das Wiedersehen publizistisch auszuschlachten : »[…] Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie sich’s zur Zeit leisten können, eine solche Gelegenheit auszulassen !« »Nein«, schrie Gigi verzweifelt, »ich kann es mir nicht leisten ! […] Und jetzt – ich flehe Sie an – lassen Sie uns beide für fünf Minuten in Ruhe !« Die Damen schwiegen. Gigi fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Da siehst du’s nun – so weit ist es mit mir gekommen.« Er ließ ein kleines bitteres Lachen hören. »Ich kann nicht mehr zurück, selbst wenn ich wollte. Es ist vorbei mit mir. […]« (MO 209)

Gigis Situation erscheint in der Tat ausweglos ; selbst Momos liebevolles Zuhören kann ihm nicht mehr helfen. Umso mehr drängt 122 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

sich die Frage auf, was ihn denn eigentlich in diese Falle hat tappen lassen. Daß seine Beweggründe denen Fusis nicht unähnlich sein dürften, ist leicht zu erraten : Wer vom Wunsch getrieben wird, »reich und berühmt« zu werden, hat dabei wohl »etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah«,204 vor Augen. Was er sich von seinem märchenhaften Einkommen dann tatsächlich leistet, entspricht denn auch ganz und gar dem landläufigen Klischee von Luxus. Sobald es darum geht, den lang ersehnten Reichtum praktisch zu gebrauchen, fehlt dem genialen Kreativgeist Gigi plötzlich jede eigene Idee, weshalb er vor allem in wenig originellen Pomp investiert. Was ist es also, wofür er sich die Karriereleiter emporquält ? Seine natürlichen materiellen Bedürfnisse sind längst erfüllt ; sein Wohlbefinden opfert er selbst dem immensen Konkurrenzdruck. Die Lösung liegt auf der Hand : Gigi möchte schlicht und einfach »noch mehr Sachen haben«. Genau wie seine anonymen Kontrahenten hat ihn das Fieber des Konsumismus gepackt. Ein Wettrennen aber, welches allein dem »Immer mehr« gilt, hat im Grunde genommen überhaupt kein faßbares Ziel. Das führt uns zur nächsten Frage, die wir angesichts der drastischen Entwicklung Gigis zu stellen haben : jene nach dem Wesen der Konkurrenzsituation als solcher, die sein neues Leben so nachdrücklich prägt. Versuchen wir zuallererst nachzuvollziehen, wie er selbst sie begreift. Schon allein seine resignative Haltung im Gespräch mit Momo läßt keinen Zweifel daran, daß er sich als wehrloses Opfer eines Prozesses empfindet, den er weder vorhersehen noch steuern konnte. Dabei sind es kaum seine namenlosen Rivalen, die ihn derart vor sich hertreiben – zumal sich diese, wie wir vermuten können, in genau der gleichen Zwangslage befinden. Es ist die Konkurrenzsituation selbst, die kein Verharren, geschweige denn einen Schritt zurück zuzulassen scheint. Sie bestimmt auch nicht bloß einen abgrenzbaren Teil seiner Existenz ; sie drückt seinem Dasein als Ganzem ihren Stempel auf. Das geht soweit, daß sogar die vermeintlich freie Erfüllung materieller Wünsche, die sich Gigi so hart erarbeitet hat, selbst wiederum dem Konkurrenzdruck unterliegt. Daß ihm weder seine prunkvolle Villa, in der er nachts wach liegt, noch die protzigen Limousinen, in denen er von Termin zu Termin hetzt, nachhaltige Freude bereiten, ist offensichtlich genug ; dennoch meint er, genau diese Dinge nicht mehr entbehren zu Der Wettlauf in die Unfreiheit | 123

können. Warum wohl, wenn nicht deshalb, weil sie allgemein anerkannte Symbole sozialen Aufstiegs sind ? (»Alle beneiden dich um mich«, sagte schon Bibigirl, die vollkommene Puppe.) Indem er sich mehr, größere, vor allem aber kostspieligere dieser Symbole leistet als seine Nachbarn, muß sich Gigi permanent selbst bestätigen, den anderen immer noch voraus zu sein.205 Insgesamt läßt sich sagen, daß ein derart umfassender Begriff von Konkurrenz mit menschlichen Maßstäben kaum mehr zu messen ist : Ähnlich dem Kapital der Wunderbaren Geldvermehrung wird jene hier nicht mehr als ideelles Konstrukt oder als Resultat menschlichen Handelns, sondern als quasi-metaphysische Macht erlebt, der sich niemand zu entziehen vermag. Um nun diesen absoluten Charakter des kapitalistischen Konkurrenzbegriffs, der sich an Gigis Beispiel zeigt, mit Ende kritisch zu hinterfragen, wollen wir uns kurz dem letzten seiner Romane zuwenden. Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch kon­frontiert uns mit einer ausgesprochen dramatischen Ausgangslage : Um sich bei »Seiner Höllischen Exzellenz« (offenbar niemand anders als der Leibhaftige selbst) Liebkind zu machen, finden sich die raffgierige »Geldhexe« Tyrannja Vamperl und ihr Neffe, der hochwissenschaftliche »Laborzauberer« Beelzebub Irrwitzer, in einer schaurigen Silvesternacht zu einem wahrhaft diabolischen Werk zusammen (WP 15). Ihr perfider Plan zielt auf nichts Geringeres als die Zerstörung der gesamten Biosphäre ab – zugunsten unbegrenzter Kapitalvermehrung, versteht sich.206 Nur eines fehlt noch zur Verwirklichung dieser Apokalypse : der titelgebende Zaubertrank, dessen Rezept ihnen zu gleichen Teilen in die Hände gefallen ist. Was sollte sie da noch aufhalten ? Ihr böser Wille ist gestählt, jede einzelne Zutat besorgt, der Wunschpunsch zum Greifen nah – wäre da bloß nicht diese infernalische Rivalität, die Tante und Neffe dazu verführt, einander wieder und wieder auszutricksen. Ihr sich unaufhörlich zuspitzender Konkurrenzkampf kulminiert in einer kuriosen Szene, in der sich beide gegenseitig hypnotisieren : […] Tante und Neffe konnten sich […] nicht mehr bewegen. Beide waren mitten im schönsten Hypnotisieren vom anderen hypnotisiert worden. Und natürlich konnten sie genau dadurch auch nicht mehr aufhören, sich gegenseitig zu hypnotisieren. […] Keiner 124 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

durfte das ja auch tun, ehe es nicht der andere tat, weil er sonst der Macht des anderen widerstandslos ausgeliefert gewesen wäre. Die Hexe konnte nicht aufhören, ehe der Zauberer nicht aufhörte, und der Zauberer konnte nicht aufhören, ehe die Hexe nicht aufhörte. Sie waren durch ihre eigene Schuld in etwas hineingeraten, das man in Zauberkreisen einen Circulus vitiosus nennt […]. (WP 182)

Entscheidend für die Struktur des Romans ist es, daß Ende dieses Paradebeispiel einer totalen Ellbogengesellschaft en miniature nicht einfach alternativlos stehenläßt. Im Wechselspiel mit den Winkelzügen von Tante und Neffe verfolgen wir die Bemühungen von Rabe Jakob und Kater Moritz, die vom Hohen Rat der Tiere bei den beiden eingeschleust wurden, um ihnen das schwarzmagische Handwerk zu legen. Obwohl als Geheimagenten eigentlich eine ziemliche Fehlbesetzung (der abgelebte Rabe neigt zur Resignation, Moritz ist kugelrund und nicht der Hellste), erfüllen sie ihren Auftrag am Ende mit Bravour. Das haben sie nicht allein ihrer Fähigkeit zu verdanken, situationsbedingt und temporär zusammenzuwirken – wozu auch Hexe und Zauberer durchaus imstande sind. Was sie so fundamental von ihren dämonischen Widersachern unterscheidet, ist die Motivation hinter ihrem Handeln, welche ihnen Spielräume eröffnet, die jenen ganz prinzipiell verschlossen bleiben. Weil es den beiden Tieren wesentlich um die gemeinsame Mission geht, sind sie in der Lage, ihre jeweiligen Eigeninteressen immer wieder zu relativieren und sich im wahrsten Sinne des Wortes »zusammenzuraufen«. Tyrannja und Beelzebub hingegen, die stets Gefangene ihrer eigenen egoistischen Grundhaltung bleiben, können das gar nicht, sosehr sie auch die Umstände zu kurzfristiger Kooperation zwingen mögen. Im entscheidenden Moment läßt ihre strikte Fixierung auf den Eigennutz ein anderes Szenario als das Ausschalten des lästigen Kontrahenten schlicht nicht zu. So entsteht überhaupt erst die Absurdität einer scheinbar absoluten Konkurrenz, die niemanden zurückstecken läßt, weil es der jeweils andere auch nicht tut – eine Absurdität übrigens, welche die beiden Abgesandten des Tierreichs als ganz genuin menschlich wahrnehmen.207 Was also können wir dem Wunschpunsch für unsere Unter­ suchung entnehmen ? Der universale Konkurrenzbegriff des Kapitalismus ist keineswegs alternativlos – und ebensowenig »naturDer Wettlauf in die Unfreiheit | 125

gegeben«. Er kann sich nur dort entfalten, wo der Einzelne sein empirisches Eigeninteresse zum absoluten Maßstab seines Handelns macht. Nichts anderes hat Gigi getan, indem er dem Traum von Reichtum und Berühmtheit nach und nach alles zum Opfer gebracht hat, was ihm am Herzen liegt : seine Freiheit, seine künstlerische Begabung, seine Freundschaft mit Momo. Damit ist er – im Verein mit all seinen Rivalen – selbst der Urheber jenes Szenarios, dessen Ausweglosigkeit er so bitter beklagt. Weil er seine eigenen Bedürfnisse unendlich wichtig nimmt, findet auch der Wettlauf mit den anderen, die ebenso denken, kein Ende. Versuchen wir zuletzt, dieses Phänomen einer totalen Konkurrenzgesellschaft in den gedanklichen Gesamtzusammenhang von Momo einzuordnen. Wir haben gesehen, daß der scheinbar absolute Verdrängungswettbewerb, in den sich Gigi manövriert hat, wiederum aus der Absolutsetzung der je eigenen Bedürfnisse erwächst. Man könnte ihn als soziale Konsequenz des Konsumismus bezeichnen, die in Bibigirls Puppentheater (»alle beneiden dich um mich«) bereits angedeutet wurde. Sein Mehrwehrt für die Zeit-Spar-Kasse besteht darin, konsumistische Verhaltensmuster noch zu verstärken – etwa wenn Gigi und seine Rivalen einander durch das Anhäufen hohler Statussymbole zu überbieten suchen. Dieser Effekt der Ellbogenmentalität steht neben einem weiteren, der den Grauen Herren nicht minder in die Hände spielt : Reflexion zu verhindern. An sich wäre Gigi fraglos intelligent genug, um das Netz an Begehrlichkeiten, in dem er sich verheddert hat, sowohl zu erkennen als auch zu durchtrennen. Wie aber sollte er die Zeit dazu finden, wo ihm doch permanent seine Kontrahenten im Nacken sitzen ? Wie könnte er sich kritische Fragen leisten angesichts der allgegenwärtigen Gefahr, zurückzubleiben, übrigzubleiben, ausgeschlossen aus der modernen und fortschrittlichen Gesellschaft ? Auf psychologischer Ebene bricht hier erneut ein Charakteristikium des gesamten Zeit-Sparens durch, dem wir bereits zu Beginn der Fusi-Szene begegnet sind : Seine eigentliche Triebfeder scheint nicht etwa maßlose Gier (die sich vielmehr als Symptom zeigt), sondern Angst zu sein. Dies bleibt noch zu ergründen.208

126 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

F. Der wohlgeordnete Weltuntergang Ich fragte ihn : »Wie heißt denn dieses Tier ?« »Das ist die Freiheit«, sagte er zu mir. »Die gibt es jetzt so selten auf der Welt, Drum wird sie hier für wenig Geld zur Schau gestellt !« Ich schaute, und ich sagte : »Lieber Herr, Ich seh ja nichts ; der Käfig ist doch leer !« »Das ist ja grade«, sagte er, »der Gag : Man sperrt sie ein, und augenblicklich ist sie weg !« – Georg Danzer : Die Freiheit –

In den vorangegangenen drei Kapiteln haben wir es unternommen, mit Michael Ende einen Blick hinter die Kulissen der kapitalistischen Ideologie zu werfen. Wir konnten am Fall Fusi den Ursprung des Zeit-Sparens studieren, wurden von Nr. BLW/553/c über dessen eigentlichen Zweck aufgeklärt und haben mit Momos Augen sowie an Gigis Beispiel den Weg zu diesem Ziel verfolgt. Indes bleibt die wunderbare Vermehrung des Kapitals – sei es in Gestalt grauer Geister, sei es in jener bedruckten Papiers – als Endstation allen kapitalistischen Strebens im Grunde genommen gänzlich abstrakt. Welche praktischen Konsequenzen aber zeitigt jene Ideologie, sobald sie gesellschaftlich Raum gewinnt, im Leben des Einzelnen ? Wie wirkt Kapitalismus ? Kaum eine andere Frage beantwortet uns Momo so detailliert wie diese. Ob Haupt- oder Nebenfigur, ob flüchtig skizzierter oder scharf umrissener Charakter – die Herrschaft der Zeit-Spar-Kasse hinterläßt ihre Spuren im Leben jedes Einzelnen. Wie dies geschieht, sagt viel über das Denken Endes im gesamten aus. Gefangen in einem System von kalter Funktionalität, sehen wir die Mitmenschen Momos nicht so sehr materiell als schöpferisch verarmen. Der Maurer Nicola etwa, der »künstlerische Fähigkeiten« besitzt und Momos dürftige Kammer einst liebevoll durch ein improvisiertes Gemälde verschönert hat, zieht nun im Rekordtempo menschenunwürdige »Seelensilos« hoch, wie er sie selbst verächtlich nennt (MO 15, 84). Der bescheidene Beppo, der den Leser in die hohe Kunst des bedächtigen Straßenkehrens eingeführt (und dabei unversehens die Grundgedanken des Zen-Buddhismus entwickelt) Der wohlgeordnete Weltuntergang | 127

hat, hetzt jetzt wie besessen besenschwingend durch die Gassen.209 Das Drama Gigis, dessen kreativer Quell völlig versiegt, haben wir soeben verfolgt. Am deutlichsten aber zeigt sich das Wirken der Agenten am Beispiel der Kinder um Momo. In den ersten Teil des Romans ist eine Szene eingeflochten, in der sie Momos Amphitheater kraft ihrer Phantasie in ein stählernes Expeditionsschiff verwandeln : Ganz und gar Matrosen, Taucher, Forscher und rätselhafte Eingeborene, reißt sie ihr Abenteuer so sehr mit sich, daß nicht einmal ein höchst reales Gewitter sie aus der Rolle fallen läßt (MO 25 – 36). Und so sehen ihre Spiele jetzt aus : »Wo geht ihr denn jetzt hin ?« wollte [Momo] wissen. »In die Spielstunde« antwortete Franco. »Da lernen wir spielen.« »Was denn ?« fragte Momo. »Heute spielen wir Lochkarten«, erklärte Paolo, »das ist sehr nützlich, aber man muß höllisch aufpassen.« »Und wie geht das ?« »Jeder von uns stellt eine Lochkarte dar. Jede Lochkarte enthält eine Menge verschiedener Angaben : wie groß, wie alt, wie schwer und so weiter. Aber natürlich nie das, was man wirklich ist, sonst wäre es ja zu einfach. Manchmal sind wir auch nur lange Zahlen, MUX/763/y zum Beispiel. Dann werden wir gemischt und kommen in eine Kartei. Und dann muß einer von uns eine bestimmte Karte herausfinden. Er muß Fragen stellen, und zwar so, daß er alle anderen Karten aussortiert und nur die eine am Schluß übrig bleibt. Wer es am schnellsten kann, hat gewonnen.« »Und das macht Spaß ?« fragte Momo etwas zweifelnd. »Darauf kommt es nicht an«, meinte Maria ängstlich, »so darf man nicht reden.« […] »Bei Dir war’s viel schöner«, sagte Franco plötzlich. »Da ist uns selber immer eine Menge eingefallen. Aber dabei lernt man nichts, sagen sie.« (MO 218)

Die Zeichenfolge, die Paolo nennt, läßt den Leser schaudern : Sie ist die Nummer eines künftigen Grauen Herrn. Auf den ersten Blick mag der Gedanke, daß in einer Gesellschaft von manischen Zeit-Sparern kein Platz für individuelle Kreativität bleibt, nicht allzu bemerkenswert erscheinen. Tatsächlich folgt er schlicht aus der Totalität des kapitalistischen Systems. Wo alles 128 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

menschliche Streben dem grenzenlosen »Wachstum« (der ZeitSpar-Kasse) zu gelten hat, kann freies schöpferisches Handeln nichts anderes als ein lästiges Hemmnis sein. Es ist unberechenbar, nicht effektiv genug und ökonomisch nur bedingt zu verwerten, kurzum : Es »stiehlt dem lieben Gott die Zeit«.210 Was Wunder also, daß nun gerade die Kinder, deren Kreativität bekanntlich keine Grenzen kennt, ins Fadenkreuz geraten ! Was hier tatsächlich zerstört wird, wird indes erst offenbar, wenn wir uns das zugrundeliegende Menschenbild des Autors vor Augen führen. Ist nämlich »das Schöpferische einfach schlechthin das Menschliche« (Ende211), so verlieren Momos Freunde nicht bloß eine Fähigkeit unter anderen. Ist es »das, was den Menschen vom Tier unterscheidet«, 212 so bleibt Stück für Stück ihres Wesens auf der Strecke. Auf die gesamte Gesellschaft umgelegt, kommt dies geradezu einer geistigen Selbstauslöschung gleich. Daß wir das Endstadium dieser Entwicklung in Momo nicht sehen können, hat einen einfachen Grund : Die Agenten werden ausgetrickst. Da sich Momos Mitmenschen als völlig unfähig erweisen, selbst mit der verheerenden Seuche des Zeit-Sparens fertigzuwerden, greift der »metaphysische« Meister Hora ein, hält kurzerhand die Zeit an und macht so – mit Hilfe des Mädchens und einer prophetischen Schildkröte  – den grauen Geistern den Garaus. Schieben wir diesen (allzu ?) märchenhaften Schluß beiseite, so kommen die ersten Kapitel des Romanfragments Der Niemandsgarten zum Vorschein. Hier, in der Fortsetzung von Momo, tritt uns eine Welt entgegen, die zur Gänze von den Agenten beherrscht wird. Der Beginn erinnert frappant an die Beschreibung von Momos »großer Stadt«213 in der Ära des Zeit-Sparens : Die Stadt, in der Sophiechen lebte, hieß Norm und war sehr groß. Sie war sogar so groß, daß niemand, der in ihr wohnte, jemals alle Straßen und Stadtteile gesehen hatte. Allerdings wäre das auch für niemanden besonders interessant gewesen, denn alle Straßen und Häuser in Norm glichen einander wie ein Ei dem anderen. Es waren riesengroße viereckige Wohnblocks, die immer in einer Reihe nebeneinander lagen. Und jede dieser Reihen reichte von einem Horizont bis zum anderen. Zwischen den Häusern lagen schnurgerade Straßen, die sich mit anderen Straßen kreuzten. Die Der wohlgeordnete Weltuntergang | 129

einen liefen von Osten nach Westen, die anderen von Süden nach Norden, immer schnurgerade von einem Horizont zum anderen. Von oben sah die ganze Stadt aus wie eine unermeßlich große Seite aus einem karierten Heft. (NG 172)

Das eigentlich Schauerliche an diesem Muster städtebaulicher Effizienz sind indes – und hier geht Der Niemandsgarten deutlich über Momo hinaus – seine Einwohner. In Norm nämlich sind nicht allein Straßen oder Häuser einander zum Verwechseln ähnlich ! Im Laufe der Zeit waren auch die Bewohner der großen Stadt einander ganz und gar gleich geworden. Jeder Mann sah aus wie alle anderen Männer, jede Frau sah aus wie alle anderen Frauen, jeder Junge sah aus wie alle anderen Jungen und jedes Mädchen sah aus wie alle anderen Mädchen. Es war eigentlich so, als ob es nur einen einzigen Mann und eine einzige Frau in millionenfacher Vervielfältigung und natürlich in allen Altersstufen gäbe. Alle Leute hatten die gleichen Bedürfnisse, aßen das gleiche Essen, lasen die gleiche Zeitung oder das gleiche Heft, sahen zur gleichen Stunde das Gleiche im Fernsehen, hatten die gleichen Meinungen und Gedanken, die gleichen Vorlieben und Abneigungen und putzten sich mit der gleichen Zahnpasta die Zähne. (NG 173)

Später wird das Geheimnis all dieser roboterhaften Existenzen enthüllt : Sie haben jede Fähigkeit zu schöpferischem Handeln verloren. Man hat verlernt zu spielen oder Geschichten zu erzählen (NG 182 f.) ; allein schon zu träumen ist »etwas, das in Norm niemand mehr konnte und das obendrein strengstens verboten war« (NG 176). Was bleibt da übrig, als die ewig gleichen Muster stupide nachzuvollziehen ? Menschenwürdig ist ein solches Dasein nicht. So verwundert es auch nicht zu hören, daß fast die gesamte Bevölkerung der Stadt von einer entsetzlichen seelischen Krankheit befallen ist, die stark verharmlosend »Langeweile« genannt wird : Diese Langeweile verschwand […] nicht wieder nach einiger Zeit, sondern sie blieb und nahm zu. Sie wurde von Tag zu Tag, von Woche zu Woche schlimmer. Der Betroffene fühlte sich immer mißmutiger, immer leerer im Inneren, immer unzufriedener, aber nach und nach hörte sogar dieses Gefühl auf, und man fühlte gar nichts mehr. Man wurde immer gleichgültiger und immer grauer, die 130 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

ganze Welt kam einem fremd vor und ging einen nichts mehr an. Schließlich verlor man ganz und gar die Fähigkeit, irgendwen oder irgendwas lieb zu haben. Man konnte sich nicht mehr freuen, keine Feste mehr feiern, weder lustige noch ernste, man konnte nicht mehr lachen und nicht mehr weinen, es gab keinen Zorn mehr und keine Begeisterung, ja, noch nicht einmal wirkliche Traurigkeit. Manche Leute setzten sich einfach in eine Ecke und taten gar nichts mehr, aber die meisten hasteten mit leeren grauen Gesichtern umher, ohne Rast und Ruh, und machten Lärm. Denn wenn sie Lärm machten, spürten sie wenigstens, daß sie noch am Leben waren. Sobald es still war, spürten sie gar nichts mehr. Und deshalb hatten sie Angst vor der Stille. So also stand es in Wahrheit um die große Stadt Norm. (NG 175)

Das ist eine Apokalypse. Diese menschliche Gesellschaft ist am Ende – ganz gleich, wie lange es ihr noch gelingt, sich mechanisch und monoton zu reproduzieren. »Tödlich« nennt Hora in Momo jene »Langeweile«, beschreibt ihren Verlauf mit fast genau denselben Worten wie oben und fügt hinzu : »Dann ist es kalt geworden in einem […], dann ist die Krankheit unheilbar.«214 Jener charakteristische Frost, der nicht nur Fusi in Gegenwart der Agenten befällt, erweist sich so als Symptom inneren Absterbens. Für die Bewohner von Norm ist er zum Dauer- und Endzustand geworden. Was bliebe für Sophiechen – vielleicht die letzte, die ihre kreative Kraft noch bewahrt hat – hier noch zu erleben ? Ende wählt den einzig gangbaren Weg : Er verhilft seiner kleinen Heldin zur Flucht. Durch eine magische Tür gerät sie unversehens in ihr privates »Niemandsland«, eine Art Prä-Phantásien, wo sich ihre Schaffensfreude frei entfalten kann. Dort sitzt das Mädchen freilich fest – und mit ihr die Handlung des Romanfragments. Kein Atréju kann Sophiechen zur Rückkehr raten, um »deine Welt gesund zu machen« (UG 268) ; denn für Norm kommt jede Hilfe zu spät. Damit stößt nicht nur Der Niemandsgarten, sondern auch Endes individualistischer Ansatz an seine Grenzen. Solange die Macht der Agenten noch Schranken kannte, waren es individuelle Entscheidungen, die das Geschehen bestimmten – wie Fusis Verwandlung zum eifrigen Zeit-Sparer, die in seinem gesamten sozialen Umfeld Kreise der Verwüstung zog. Notwendig war sie nicht. Hätte er nicht Der wohlgeordnete Weltuntergang | 131

umgekehrt vieles zum Guten verändern können, wenn er sich entschieden hätte, den Sinn seines Daseins anderswo als in billigen Hochglanzmagazinen zu suchen ? Es lag bei ihm  – zumal Ende seinen Geschöpfen, wie wir gesehen haben, grundsätzlich freien Willen zugesteht.215 In diesem, umfassenden Sinn ist allerdings auch Sophiechen noch frei. Sie kann sich täglich entscheiden, lebendig zu bleiben in einer toten Welt ; sie kann, ihrem Wesen entsprechend, ihr eigenes Phantásien schöpferisch gestalten. Allein : Sie kann damit praktisch nichts mehr bewirken, weil der soziale Raum, um ihre Träume mit anderen zu teilen, schlicht nicht mehr existiert. Im Grunde bleiben ihr nur zwei Möglichkeiten : Lebenslanger Eskapismus – oder Resignation und inneres Erkalten. Im ersten Teil dieser Untersuchung wurde die Frage aufgeworfen, worin Ende die existentielle Bedrohung der Menschheit durch die kapitalistische Ideologie konkret erblickt.216 Die Betonwüste von Norm gibt die Antwort. Die unbändige Vitalität menschlicher Schaffenskraft, welche den obligatorischen Endzweck der Geldvermehrung ignoriert, kann eine kapitalistisch verfaßte Gesellschaft schlicht nicht dulden. Damit aber beraubt sie sich selbst ihres innersten Wesens, bis am Ende nur noch eine leere Hülle übrigbleibt. Diese Dystopie, die jene von Huxleys Brave New World an Düsternis noch übertrifft, 217 macht nicht zuletzt auch die Dringlichkeit des ethischen Appells deutlich, den Ende mit Momo an den Leser richtet. Noch ist Norm nur eines von vielen Zukunftsszenarien. Die Welt von Momo kennt mehr als genügend Wege, die Katastrophe zu verhindern. Ob Fusi, Gigi oder der Leser des Romans – niemand muß sich mit dem Virus des Zeit-Sparens infizieren. Jeder Einzelne hat die Wahl – noch. G. Die Angst vor dem Tod Die Wüste wächst : weh dem, der Wüsten birgt ! – Friedrich Nietzsche : Dionysos-Dithyramben –

Fast scheint es, als wären wir bereits am Ende unserer Analyse angelangt. In Norm haben wir jenen Punkt erreicht, an dem sich die menschliche Freiheit endgültig und unwiderruflich selbst aufhebt. 132 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Und doch ist der Kosmos des Michael Ende alles eher als hoffnungslos ; und doch ist gerade Momo »ein Buch, mit dem er etwas bewirken und verändern […] will«.218 Wo soll diese Veränderung ansetzen ? Welche Hoffnung liegt in Momo verborgen ? Jene über­ raschende Wendung, die für ein glückliches Ende des Romans sorgt, läßt uns ein wenig ratlos zurück. Auf den Reset der menschlichen Gesellschaft durch Meister Hora zu warten, ist ganz offenbar keine sinnvolle Option. Der ethische Kern des Werkes ist anderswo zu suchen : in all den individuellen, freien Entscheidungen, die das Märchen prägen. Hier wird der Zeit-Spar-Kasse der Weg geebnet ; hier wäre der geeignete Ort, um ihr Einhalt zu gebieten. Wenn wir Momo wirklich verstehen wollen, müssen wir uns deshalb nochmals der subjektiven Seite des Kapitalismus widmen. Was geht in einem Menschen vor, der sich für »Luxus« als Lebensziel entscheidet ? Worauf gründet der Glaube an die Göttlichkeit des Geldes ? Was sind die Bedingungen der Möglichkeit für die kapitalistische Ideologie, im Individuum Fuß zu fassen ? Vor allem aber : Wie geht es eigentlich Fusi ? 1. Fusi revisited »Neulich habe ich in der Stadt einen alten Bekannten getroffen [– sagte Gigi –], einen Friseur, Fusi heißt er. Ich hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen und hätte ihn bald nicht mehr wiedererkannt, so verändert war er, mürrisch, nervös, freudlos. Früher war er ein netter Kerl gewesen, konnte sehr hübsch singen und hatte über alles seine ganz besonderen Gedanken. Für alles das hat er plötzlich keine Zeit mehr. Der Mann ist nur noch sein eigenes Gespenst, er ist überhaupt nicht mehr Fusi, versteht ihr ? Wenn er’s nur allein wäre, dann würde ich einfach denken, daß er ein bißchen verrückt geworden ist. Aber wo man hinschaut, sieht man solche Leute. Und es werden immer mehr. Jetzt fangen sogar unsere alten Freunde auch damit an ! Ich frage mich wirklich, ob es Verrücktheit gibt, die ansteckend ist ?« Der alte Beppo nickte. »Bestimmt«, sagte er, »es muß eine Art Ansteckung sein.« (MO 81 f.)

Die Angst vor dem Tod | 133

Früher als andere hat der intelligente und aufgeweckte Gigi das Ausmaß der Gefahr erkannt. Nicht nur das : Obwohl er im Trüben fischt (die Entlarvung der Grauen Herren durch Momo steht noch aus), scheint er auch die Ursache von Fusis drastischer Veränderung erstaunlich genau zu erfassen. Weist nicht dessen eigene Empfindung an jenem unglückseligen Regentag (»er fühlte sich krank«219) in eine ganz ähnliche Richtung ? Noch ahnt Gigi indes nicht, daß er den Keim jener »Verrücktheit« selbst bereits in sich trägt. Als Momo vom Nirgend-Haus zurückkehrt, muß sie zu ihrem Entsetzen feststellen, daß ihr Freund genau dieselben Symptome zeigt wie Fusi : Momo sah ihn nur an. Sie verstand vor allem, daß er krank war, todkrank. Sie ahnte, daß die grauen Herren dabei ihre Finger im Spiel hatten. (MO 210)

Es sind stets die gleichen Bilder. »[E]ine blinde Besessenheit« (MO 71) ist über Momos große Stadt gekommen ; »krank« wird bald auch der alte Beppo genannt, den sie als nächsten ergreift (MO 185). Wir haben also Grund genug, diese anscheinend »ansteckende Verrücktheit«, die einzigartige Menschen in uniforme Zeit-Sparer verwandelt, als solche genauer zu durchleuchten, um schließlich – so steht zu hoffen – ein Heilmittel zu finden. Beginnen wir mit dem Offensichtlichen : Eine körperlich übertragbare Seuche ist auszuschließen. Obwohl die Zeit-Sparer durchaus an Untote erinnern, ist Momo mit Sicherheit keine ZombieApokalypse für jüngeres Publikum. Wenn also hier von einer Art Virus die Rede sein kann, so allein von einem geistigen. Ihm einen Namen zu geben, ist nach unseren bisherigen Ergebnissen wohl der einfachste Teil : Es handelt sich augenscheinlich um die kapitalistische Ideologie selbst (für die ja Ende auch in Gesprächen meist nur Krankheitsmetaphern übrig hat 220), welcher Momos Freunde einer nach dem anderen zum Opfer fallen. Das nimmt dieser »Verrücktheit« freilich noch nichts von ihrem widersprüchlichen Charakter. Auf welche Weise kann etwas, das doch allein der freien Entscheidung des einzelnen entspringt, 221 ansteckend sein und sich ausbreiten wie irgendein Infekt ? Oder umgekehrt gefragt : Was wäre einem Fusi vorzuwerfen, hätte ihn in jener verhängnisvollen Stunde hinterrücks eine geistige Epidemie erfaßt ? Wäre er nicht offenbar 134 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

schuldlos – er und all die anderen ? Ginge der ethische Appell von Endes Märchenroman nicht gänzlich ins Leere ? 2. Der Schwindel der Freiheit

Licht ins Dunkel kann wohl nur einer bringen – »jener Sogenannte« (MO 141), wie die Grauen Herren ihren Erzfeind voll Abscheu zu nennen pflegen : Meister Secundus Minutius Hora, wie sein voller Name lautet (MO 136). Er ist es, der Momo (und den Leser) über das Wesen der Agenten aufklärt ; er, der Verwalter der Zeit, weiß zweifellos am besten über die Krankheit der Zeit-Sparer Bescheid. Mehr noch : Wer Momo aufmerksam zu Ende liest, erfährt im Nachwort zu seinem Erstaunen, daß nicht etwa Michael Ende der eigentliche Erzähler der Geschichte ist, sondern Secundus Hora (MO 270). Daß seine Gestalt über die »alltägliche« Handlungsebene hinausragt, ist nicht zu übersehen ; auch Momo macht sich ihre Gedanken darüber. Mitten im Gespräch über die Lebenszeit der Menschen, die er jedem einzelnen zuteilt, fragt sie unvermittelt : »Bist du der Tod ?« Meister Hora lächelte und schwieg eine Weile, ehe er antwortete : »Wenn die Menschen wüßten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen.« »Dann braucht man es ihnen doch bloß zu sagen«, schlug Momo vor. »Meinst du ?« fragte Meister Hora. »Ich sage es ihnen mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören. Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen.« (MO 162)

Eigentlich hat es Hora vermieden, Momos Frage zu beantworten. Dennoch sind seine Hinweise von unschätzbarem Wert. Nicht etwa Gier, sondern Angst treibt die Menschen in die Fänge der Agenten – Angst vor dem Tod. Damit nimmt Ende jenes Motiv wieder auf, das wir schon seit dem Beginn des Fusi-Kapitels kennen. Hier wird es zu dem Beweggrund der Zeit-Sparer schlechthin. Wollen Die Angst vor dem Tod | 135

wir das Rätsel ihrer infektiösen Besessenheit lösen, so müssen wir deshalb bei Fusis Angst den Anfang machen. Erinnern wir uns : Schon die Analyse der Schlüsselszene von Momo hat gezeigt, daß das eigentliche Grundthema von Fusis innerem Monolog, das auch im Gespräch mit seinem grauen Gegenüber stets präsent bleibt, der eigene Tod ist. Fusi ist kein junger Mann mehr. Anfang vierzig und körperlich gesund, hofft er nicht ohne Grund, »so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden« (MO 62 f.), womit er sich im berühmt-berüchtigten »mezzo del camin di nostra vita« (Dante)222 wiederfindet – oder in der Midlife Crisis, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen. An einem trüben Tag blickt Fusi in die Zukunft – und hat seine eigene Auslöschung vor Augen : »[W] enn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben« (MO 60). Daß ihm vor dieser Aussicht graut, ist nur allzu verständlich. Indes fällt auf, daß seine Angst im Grunde keiner herannahenden Gefahr gilt, sondern dem Charakter seines eigenen Da-Seins. Fusi fürchtet sich nicht zu sterben ; er fürchtet seine Sterblichkeit. An ihr droht jeglicher Sinnanspruch zu scheitern : Nichts wird übrigbleiben ! Und kein Weg, dem Verhängnis zu entgehen ? Was Fusi heimsucht, ist Angst um das Dasein im Ganzen ; es ist totale Angst ; es ist Angst schlechthin. Zu verdanken hat er dies seiner Fähigkeit zur Reflexion : Wäre er ein Tier, so wäre der Tod als Begriff für ihn schlicht nicht vorhanden.223 Doch nicht genug damit : Es ist dieselbe Reflexivität, die Fusi zur praktischen Entscheidung zwingt. Wie soll er umgehen mit der Aussicht auf den Sturz ins Nichts ? Wie handeln unter dem Damoklesschwert ? Denn handeln muß er ! Was nun geschieht, läßt sich auf zwei gänzlich verschiedenen Ebenen deuten. Die eine ist verlockend offensichtlich : Fusi, befangen in Todesangst, wird mit dem Zeit-Sparen eine scheinbare Möglichkeit vor Augen geführt, sein Leben beträchtlich zu verlängern. Da er den doppelten Betrug nicht durchschaut – die »Lösung« geht am Problem vorbei und ist obendrein eine Lüge – , greift er zu. Freilich hätten wir damit die Schuld an Fusis weiterem Schicksal am Ende doch noch dem Agenten in die grauen Schuhe geschoben – was so gut wie allen bisherigen Ergebnissen unserer Untersuchung widerspricht. Tatsächlich ist es niemand anderer als Fusi selbst, der diesen Geist überhaupt erst heraufbeschwört, indem er eine rein materialistische Auffassung des »richtigen Le136 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

bens« wählt. Soviel läßt sich nun sagen : Es ist eine Entscheidung, die er in Angst und aus Angst heraus trifft. Zu behaupten, dies zwänge ihn auf einen bestimmten Weg, wäre zwar absurd. Aber gesetzt, Fusi hätte keine Angst : Würde er auch dann auf die verzweifelte Idee verfallen, sein Seelenheil im Luxus zu suchen ? Wenn Angst hier als eine Art Sprungbrett ins Verderben erscheint, so entspricht dies in bemerkenswerter Weise der Auffassung jenes Philosophen, der den Autor von Momo vielleicht am tiefsten beeindruckte. In den von Ende »leidenschaftlich aufgegriffenen«224 Schriften des dänischen Denkers Søren Kierkegaard spielt Der Begriff Angst – wie schon der Titel eines seiner Hauptwerke lautet – eine zentrale Rolle als »Zwischenbestimmung«225 an der Grenze von Unschuld und Schuld : Man kann die Angst mit einem Schwindel vergleichen. Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muß, dem wird schwindlig. Doch was ist die Ursache dafür ? Es ist in gleicher Weise sein Auge wie der Abgrund – denn was wäre, wenn er nicht hinuntergestarrt hätte ? Demgemäß ist die Angst jener Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn […] die Freiheit nun hinunter in ihre eigene Möglichkeit schaut und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. […] Im selben Moment ist alles verändert, und wenn sich die Freiheit wieder erhebt, sieht sie, daß sie schuldig ist.226

Zwar ist der Begriff der Schuld bei Kierkegaard stark mit christ­ licher Theologie aufgeladen, die hier nicht Thema sein kann. Indes dürfte auch ohnedies klar ersichtlich sein, worin die Verfehlung besteht : Es ist schlicht nicht die Aufgabe der menschlichen Freiheit, »die Endlichkeit [zu] ergreif[en]«. Mit der Fähigkeit zur Reflexion beschenkt oder geschlagen (dem »Auge«), ist der Homo Sapiens offenbar auf eine absolute Sinnebene hin bestimmt, in der allein sein Dasein gerechtfertigt und geborgen wäre.227 Die paradoxe Tragik des Menschengeschlechts liegt indes nicht nur für Kierkegaard darin, daß sich dieses notwendige Absolute der Reflexion selbst zu entziehen scheint. Das »Auge« starrt in den Abgrund : »Wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben«. Das also ist Angst in ihrem tiefsten Sinne ; Angst, aus der heraus ein Fusi »die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten«. Große Die Angst vor dem Tod | 137

Worte für einen neidischen Blick in billige Hochglanzmagazine ? Vielleicht ! Indes illustriert gerade Fusis so banales wie tragisches Beispiel das von Kierkegaard Gemeinte sehr gut. Wenn der übergeordnete Sinn des eigenen Daseins schlicht nicht auszumachen ist (»[m]ein ganzes Leben ist verfehlt« (MO 60)) – was bleibt dann noch übrig, als sich an etwas Luxuriöses zu halten ? Welche »Endlichkeit« läge wohl näher als der eigene Genuß ?228 Und noch etwas zeigt gerade der Fall Fusi deutlich : Es bleibt nicht beim einmaligen Fehlgriff. Unablässig verlangt die Angst nach einer Lösung ; unablässig versucht Fusi sein Guthaben zu vergrößern. Währenddessen kommt er dem Abgrund, den er fürchtet, täglich näher. Neue, verzweifelte Anstrengungen sind die Folge : »[W]enn er manchmal mit Schrecken gewahr wurde, wie schnell und immer schneller seine Tage dahinrasten, dann sparte er nur umso verbissener« (MO 71). Doch dem Schrecken ist so nicht beizukommen. Wie Gigi, Nicola und all die anderen Zeit-Sparer wird Fusi in Angst schuldig, und zwar in erster Linie an sich selbst. Damit ist keineswegs gesagt, daß seine Angst die Ursache jener fatalen Entscheidung wäre (zumal dann weder von Entscheidung noch von Schuld überhaupt die Rede sein könnte) ; aber ohne Angst kein Verrat an der eigenen Sinnsuche, kein Schielen nach »etwas Luxuriösem« und auch kein Agent, der wie auf Stichwort aus den Kulissen hervortritt. Mit anderen Worten : Angst ist Bedingung der Möglichkeit des Zeit-Sparens schlechthin. Sobald wir uns diese Relation vergegenwärtigen, erhellt sich mit einem Schlag auch das Problem der mysteriösen »Ansteckung«, das Gigi und Beppo so sehr beschäftigt. Eine Gesellschaft, die ihre Angst zu verdrängen sucht, bringt unablässig neue Angst hervor. Wenn die Stadt von modernen und fortschrittlichen Menschen wimmelt, die »mit leeren grauen Gesichtern umher[hasten], ohne Rast und Ruh« (NG 175), um nur ja keinen Gedanken an den Tod aufkommen zu lassen – wieviel Raum bleibt dann wohl noch den anderen, zu sich zu kommen und sich ruhig den eigenen Sinnfragen zu stellen ?229 Was auf diese Weise tatsächlich »übertragen« wird, ist also nicht etwa – wie es oberflächlich betrachtet erscheint – der ideologische Irrsinn der Zeit-Sparer selbst ; es ist jene Angst, die allein erst den Boden bereitet, auf dem das Unternehmen der Grauen Herren sich behaupten, wachsen und gedeihen kann. 138 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Damit schließt sich der Kreis zurück zum Ausgangspunkt dieses Kapitels. Welche Hoffnung verbirgt sich in Endes Märchen­roman ? Soviel ist mittlerweile deutlich auszumachen : Wenn Momo überhaupt eine Lösung bietet – und davon gehen wir aus – , so ist sie im Umgang mit der eigenen Angst vor dem Tod zu finden. Daß jeder Versuch, sie durch den unablässigen Genuß der endlichen Dinge zum Schweigen zu bringen, ins Desaster führt, zeigt nicht nur Fusis Fall drastisch genug. Aber auch die Alternative liegt nach allem, was bisher gesagt wurde, auf der Hand : Es gilt, ihr mit Sinn zu begegnen. Allein : wie ? H. Größer als die Angst Wir haben die Sterne zu sehr geliebt, um die Nacht zu fürchten. – Grabinschrift zweier Astronomen –

1. Im Herzen

■ Die Harmonie der Sphären Um diese Frage zu beantworten, wollen wir zunächst einen kurzen Blick in die Zentrale der Zeit-Spar-Kasse werfen, wo gerade eine Krisensitzung die nächste jagt. Soeben hat Hora Momo vor dem Zugriff der Grauen Herren gerettet : eine Niederlage, mit der sie nicht gerechnet haben. Die Stimmung unter den Agenten – »soweit man bei diesen Herren überhaupt von so etwas wie Stimmung reden konnte« (MO 137) – ist freilich nicht nur deshalb mehr als frostig. Ihr so erfolgreiches Unternehmen scheint plötzlich ernsthaft bedroht : »Wenn jener  – Sogenannte dem Mädchen Momo geholfen hat, dann hat er seine Gründe dafür. Und diese Gründe, das liegt wohl auf der Hand, sind gegen uns gerichtet. Kurzum, meine Herren, wir müssen damit rechnen, daß jener – Sogenannte dieses Kind nicht einfach nur zurückschickt, sondern daß er es obendrein noch gegen uns ausrüsten wird. Dann wird es eine tödliche Gefahr für uns werden. Wir müssen also nicht nur bereit sein, die Zeit eines Menschenlebens […] zu opfern oder ein Vielfaches davon – nein, meine Größer als die Angst | 139

Herren, wir müssen, wenn es sein muß, alles, ich wiederhole, alles einsetzen !« (MO 140 f.)

Wenn nüchterne Kalkulierer wie die Grauen Herren derart in Panik geraten, muß die Gefahr allerdings gewaltig sein. Der Agent hat völlig recht : Hora hat Momo keineswegs zu sich gerufen, nur um ihr Kostüme aus vergangenen und kommenden Jahrhunderten vorzuführen (MO 149 f.). Das Mädchen wird aus dem Nirgend-Haus etwas mitnehmen, das geeignet ist, die gesamte Zeit-Spar-Kasse in ihren Grundfesten zu erschüttern. Keinen magischen Gegenstand à la Tolkien freilich ; und noch viel weniger »einen Lichtpanzer oder sonst irgend etwas«, womit »schlechte Schriftsteller« (Ende230) ihre Helden auszustatten pflegen. Horas Geschenk an Momo ist einfacher und großartiger zugleich. Er zeigt ihr, »wo die Zeit herkommt« (MO 162) : Er geleitet sie mitten in ihr eigenes Herz.231 Es ist eine der eindrücklichsten Passagen des Romans, die uns diesen magischen Ort vor Augen führt. Am Ende eines langen Ganges, durch den Momo von Hora getragen wird, findet sie sich unter einer »gewaltigen, vollkommen runden Kuppel« wieder, die ihr so groß schien wie das ganze Himmelsgewölbe. Und diese Kuppel war aus reinstem Gold. Hoch in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung, durch die eine Säule von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel. Dicht über dem Wasser funkelte etwas in der Lichtsäule wie ein heller Stern. Es bewegte sich mit majestätischer Langsamkeit dahin, und Momo erkannte ein ungeheures Pendel, welches über dem schwarzen Spiegel hin- und zurückschwang. Aber es war nirgends aufgehängt. Es schwebte und schien ohne Schwere zu sein. (MO 163)

Als sich dieses Sternenpendel langsam dem Rand des Teiches nähert, beginnt sich dort etwas im dunklen Wasser zu regen. Atemlos beobachtet das Mädchen, wie sich eine Blüte von berückender Schönheit öffnet : »Momo hatte nie geahnt, daß es diese Farben überhaupt gab.« Zum ersten Mal erblickt sie eine der StundenBlumen ihrer eigenen Lebenszeit. »Der Duft allein schien ihr wie etwas, wonach sie sich immer gesehnt hatte, ohne zu wissen, was es war.« Doch als das Pendel wendet, muß sie zu ihrer Bestürzung 140 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

bemerken, daß all die Pracht langsam verblaßt, um schließlich verblüht zurück in die Tiefe zu sinken. Im selben Augenblick hebt auf der anderen Seite des Teiches, welcher der funkelnde Stern nun entgegenschwebt, eine zweite Knospe an, sich »noch viel reicher und kostbarer« zu entfalten : »Dies war die Blüte aller Blüten, ein einziges Wunder !« Auch sie ist indes nicht von Dauer : »Momo hätte am liebsten laut geweint, als sie sehen mußte, daß […] diese Vollkommenheit anfing, hinzuwelken«. Aber schon ruft das geheimnisvolle Pendel eine neue Blüte aus dem schwarzen Naß hervor. Stunde um Stunde verbringt Momo so am Ufer des dunklen Teichs, versunken in den Anblick der wundersamen Blumen, von denen stets »diejenige, die gerade blühte, die allerschönste zu sein schien«. Dabei wird sie langsam gewahr, daß mit ihr selbst eine Veränderung vor sich geht : Sie beginnt das Sternenpendel zu hören. Anfangs war es wie ein Rauschen, so wie von Wind, den man fern in den Wipfeln der Bäume hört. Aber dann wurde das Brausen mächtiger, bis es dem eines Wasserfalls glich oder dem Donnern der Meereswogen gegen eine Felsenküste. Und Momo vernahm immer deutlicher, daß dieses Tosen aus unzähligen Klängen bestand, die sich untereinander ständig neu ordneten, sich wandelten und immerfort andere Harmonien bildeten. Es war Musik und war doch zugleich etwas ganz anderes. Und plötzlich erkannte Momo sie wieder : Es war die Musik, die sie manchmal leise und wie von fern gehört hatte, wenn sie unter dem funkelnden Sternenhimmel der Stille lauschte. Aber nun wurden die Klänge immer klarer und strahlender. Momo ahnte, daß dieses klingende Licht es war, das jede der Blüten in anderer, jede in einmaliger und unwiederholbarer Gestalt aus den Tiefen des Wassers hervorrief und bildete. Je länger sie zuhörte, desto deutlicher konnte sie einzelne Stimmen unterscheiden. Aber es waren keine menschlichen Stimmen, sondern es klang, als ob Gold und Silber und alle anderen Metalle sangen. Und dann tauchten, gleichsam dahinter, Stimmen ganz anderer Art auf, Stimmen aus undenkbaren Fernen und von unbeschreibbarer Mächtigkeit. Immer deutlicher wurden sie, sodaß Momo nun nach und nach Worte hörte, Worte einer Sprache, die sie noch nie vernommen hatte und die sie doch verstand. Es waren Sonne und Mond Größer als die Angst | 141

und die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun und wie sie alle zusammenwirken, um jede diese Stunden-Blumen entstehen und wieder vergehen zu lassen. Und auf einmal begriff Momo, daß alle diese Worte an sie gerichtet waren ! Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Gesicht, das sie anblickte und zu ihr redete ! Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst. (MO 164–166)

Das ist die Antwort : auf Momos Fragen, auf Fusis Todesangst, auf Gigis und Beppos Getriebenheit. Mehr noch : Es ist Endes Antwort auf die kapitalistische Ideologie. Was Momo am Stundenblumenteich zuteil wird, ist eine Vision vom tiefsten Wesen der Welt. Am Ende findet sie sich selbst inmitten der Harmonie der Sphären wieder, überwältigt von einem namenlosen Empfinden, das über alle Angst erhaben ist. Dabei geht es nicht um die abstrakte Erkenntnis, die sie aus dem Geschauten gewinnt, sondern um die schier unfaßbare Größe der Erfahrung selbst. Der bloße Gedanke, daß sämtliche Kräfte und Mächte des Universums zusammenwirken müssen, um einem Menschen auch nur eine Stunde seines Lebens zu gewähren, wäre für sich genommen tautologisch und banal. Entscheidend ist, wie dieses Zusammenspiel erlebt wird. Nicht als Zufallsprodukt einer kalten, anonymen Maschinerie erfährt Momo ihr eigenes Dasein in dieser Stunde, sondern als Geschenk eines beseelten, harmonischen κόσμος, der sie persönlich anspricht und den sie intuitiv versteht. Hier scheint nicht nur jede Trennung zwischen Lebendigem und toter Materie aufgehoben ; auch die fundamentale Grenze zwischen Subjekt und Objekt verschwimmt. »Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du […] gehört hast«, erklärt Hora, als er zu Momo über den Tod spricht. »Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin« (MO 162). Hier, wo die Harmonie der Welten sie im Innersten berührt, ist diese künftige All-Einheit bereits angedeutet. Jener Sinn, den Fusi so verzweifelt in sämtlichen Winkeln seines Daseins sucht – hier ist er : erfahrbar und gegenwärtig. In ihm 142 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

erlischt die Angst, weil sie schlicht keinen Gegenstand mehr hat. Ein Individuum, das sich selbst in der zeitlosen Ordnung des Alls geborgen weiß, braucht den Tod nicht zu fürchten. Was ihm dereinst bevorsteht, ist die freudvolle Rückkehr in dieselbe, nie verklingende Melodie, die es hervorgebracht hat. Das sind natürlich Bilder – Bilder, denen eine Erfahrung zugrundeliegt, die sich der Sprachlichkeit entzieht. Selbst Hora kann Momo nicht erklären, »wo die Zeit herkommt« (MO 162) ; er kann es ihr nur zeigen. Eine andere Art der sprach-losen Mitteilung wird später Momo selbst wählen, wenn sie versucht, ihren Freunden die Musik der Sterne näherzubringen und den Weg ins eigene Herz zu weisen.232 Das setzt voraus, daß jene namenlose Erfahrung nicht ihr allein, sondern auch allen anderen zuteil werden kann. Genau das ist es, was die Grauen Herren so sehr fürchten – und zwar zu Recht : Es wäre ihr Untergang. In Phantasie/Kultur/Politik wird Ende von Erhard Eppler eine bemerkenswerte Frage gestellt : Erschöpft sich Momo eigentlich darin, die Strukturen eines unmenschlichen Systems aufzuzeigen, oder weist die Handlung des Romans bereits über dieses System hinaus ? Mit anderen Worten : »Markiert sie die Grenze, oder deutet sie schon an, was hinter der Grenze ist ?«233 Endes Antwort zieht die eben zitierte Stelle heran : Sie deutet schon an, was hinter der Grenze ist. Damit meine ich vor allem den Teil der Geschichte, der bei Meister Hora spielt. Hier geht die Geschichte aus der zunächst äußeren alltäglichen Wirklichkeit in einen transzendenten, metaphysischen oder surrealen Bereich über. Momo erfährt am Stundenblumenteich ihr eigenes Menschsein auf eine ganz andere Art, sie erkennt sich als ein Kind des geistigen und physischen Kosmos. Der gesamte Kosmos wirkt zusammen, um ihr jede einzelne Stunde ihres Lebens zu geben. Dieses Erlebnis gibt ihr dann jenes Gefühl, »das größer ist als Angst«. […] In dieser Perspektive, meine ich, liegt schon ein Stück von dem, was sich als kommendes Bewußtsein jetzt in vielen Bewegungen abzeichnet, die sich heute artikulieren wollen. Man mag diese Bewegungen belächeln, man mag sie zum Teil grotesk finden. Ich nehme sie alle sehr ernst, weil ich überall dahinter ein ungeheures Verlangen sehe, den Menschen selbst anders zu sehen, als man Größer als die Angst | 143

ihn bisher gesehen hat. Der Mensch möchte sich wieder in einen ganz anderen, viel größeren Zusammenhang hineingestellt sehen, aus dem sich der unschätzbare Wert jedes einzelnen Menschen neu ergibt. Die Frage nach einer neuen Wirklichkeit ist eben im Grunde eine religiöse Frage, eine Frage nach der Wirklichkeit einer ganz konkreten geistigen Welt, die mit der äußeren physischen Welt in einem erlebbaren und erfahrbaren Zusammenhang steht.234

Das läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Momos Erlebnis am Stundenblumenteich ist deshalb so zentral für den Roman, weil es in Richtung einer »neuen Wirklichkeit« weist, in der die Angst vor dem Tod überwunden und die Macht der Grauen Herren gebrochen ist. Wer nicht allein gedanklich, sondern in seinem Herzen den »größeren Zusammenhang« seines Daseins begreift, »aus dem sich der unschätzbare Wert jedes einzelnen Menschen neu ergibt«, wird aus einem neuen Bewußtsein heraus handeln und so dazu beitragen, die gesellschaftliche Realität grundlegend zu verändern. Die Vorboten dieses Bewußtseinswandels meint Ende bereits in »vielen Bewegungen« seiner Zeit zu erkennen – womit er ziemlich sicher auf die zahlreichen spirituellen Strömungen des New Age anspielt, die in derselben Auf- und Umbruchszeit entstanden wie Momo.235 Zwar wissen wir heute, da die Überreste des New Age vollständig in die kapitalistische Maschinerie integriert sind, daß diese Hoffnung trügerisch war. Wesentlich wichtiger ist aber ohnehin, warum es gerade Bewegungen dieser Art sind, denen Ende die Kraft zur Veränderung zutraut : »Die Frage nach einer neuen Wirklichkeit ist eben im Grunde eine religiöse Frage«. Ihr liegt dieselbe Sehnsucht nach Sinn zugrunde, welche Religionen, Kulte und – wie wir gesehen haben – letztlich auch Ideologien wie den Kapitalismus erfüllt. Hier, am Stundenblumenteich, scheint diese uralte Sehnsucht durch etwas gestillt, das man ein mystisches Erleben nennen könnte. Damit aber wandelt sich der Charakter des Daseins im Ganzen. Es ist nicht zu übersehen, daß das Denken dabei keine tragende Rolle mehr spielt. Zwar ist rationale Reflexion durchaus imstande, das ewige Streben des Menschen nach einem sinn-vollen Dasein zu verstehen.236 Ebenso kann sie die Irrwege erkennen – zu denen für Ende auch und vor allem die kapitalistische Ideologie zählt – , 144 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

auf die er dabei gerät. Dort aber, wo es darum geht, diesen Sinn selbst positiv zu bestimmen, tritt sie gänzlich in den Hintergrund. Jener »geistige Kosmos«, in dem sich Momo geborgen weiß, ist kein mundus intellegibilis (Kant) ; er wird erfahren. Möglich ist das natürlich nur dann, wenn er von vornherein »mit der äußeren physischen Welt in einem erlebbaren […] Zusammenhang steht«. Für das Denken ist dies freilich nicht mehr als ein Postulat ; doch das Denken hat hier nicht das letzte Wort. Ende, der sich nicht zufällig fast sein ganzes Leben lang mit christlicher wie buddhistischer Mystik beschäftigte, 237 geht an dieser Stelle ganz bewußt über den Bereich der Ratio hinaus. Damit aber wählt er einen Weg, auf welchem ihm diese Untersuchung nicht weiter zu folgen vermag. Mit anderen Worten : Eine philosophische Analyse mystischer Erfahrung verbietet sich von selbst.238 ■ Was ist Zeit ? Das heißt freilich nicht, daß wir über jenen »geistigen Kosmos«, auf den diese Erfahrung verweist, gleicherweise zu schweigen hätten. Wenn auch seine Gegenwart dem Denken unbeweisbar bleibt, so hindert doch nichts daran, seine Eigenschaften genauer in den Blick zu nehmen. Klar ist, daß Momo diesen Kosmos nicht erst am Stundenblumenteich, sondern schon wesentlich früher betritt : als Kassiopeia sie an den lauernden Agenten vorbei in jenen gänzlich unbekannten, zaubrischen Stadtteil führt, in dem Hora wohnt. Und hier begegenen wir bereits einer entscheidenden Bestimmung : In diesem Moment hat Momo, wie ihre Verfolger trocken feststellen, »den Bereich der Zeit verlassen« (MO 140). Was bedeutet das ? In erster Linie ist »Zeit« hier natürlich so verstanden, wie sie die Grauen Herren kennen : als meß- und berechenbare Größe. Was nicht summiert werden kann, zählt für sie nicht  – weshalb sie die je einzigartigen und unverwechselbaren Stunden-Blumen erst entwurzeln, abtöten, austrocknen, in Zigarren pressen und verbrennen müssen, bevor sie ihren strikt quantitativen Bedürfnissen genügen. »Lebendige Zeit ist […] für die grauen Herren unbekömmlich« (Hora ; MO 243) : Erst als Leichnam gleicht ein Augenblick tatsächlich dem anderen. Zu diesem Zeitbegriff der Agenten, die sich hier einmal mehr als »Repräsentanten des nur und ausschließlich quantifizierenden Denkens«239 erweisen, steht Größer als die Angst | 145

jener geistige Kosmos, dem Hora und Kassiopeia angehören, allerdings im größtmöglichen Gegensatz. Hier wird das äußerliche, meßbare Voranschreiten der Zeit, das Fusi in Angst und Schrecken versetzte, allenfalls noch mit amüsiertem Augenzwinkern zur Kenntnis genommen. Die Schildkröte vermag die Zukunft so deutlich zu sehen wie die Gegenwart (MO 152) ; für Hora selbst spielt das Verrinnen der Zeit überhaupt keine Rolle. Das zeigt nicht allein seine erstaunliche Fähigkeit, nach Belieben zwischen der Gestalt eines Knaben und eines alten Mannes zu wechseln oder Momo (»nur ein kleiner Spaß«) in der Mode einer fernen Zukunft gegenüberzutreten (MO 150). Entscheidend ist, daß er tatsächlich eine außerzeitliche Perspektive kennt. Auch das können wir dem aufschlußreichen Nachwort des Märchenromans entnehmen, wo der Autor gesteht, »diese ganze Geschichte« selbst bei einer nächtlichen Zugfahrt von einem »rätselhafte[n] Passagier« erfahren zu haben, in dem der Leser unschwer Secundus Hora zu erkennen vermag. Kurz vor seinem ebenso plötzlichen wie mysteriösen Verschwinden habe dieser noch hinzugefügt : »Ich habe Ihnen das alles erzählt […], als sei es bereits geschehen. Ich hätte es auch so erzählen können, als geschehe es erst in der Zukunft. Für mich ist das kein so großer Unterschied.« (MO 270)

All dies läuft darauf hinaus, daß jener »metaphysische Bereich«, 240 in dem sich Hora mit der gleichen Selbstverständlichkeit bewegt wie die Agenten in den engen Gängen ihrer unterirdischen Zentrale oder Momo auf den Stufen des Amphitheaters, über die quantitative Dimension der Zeit erhaben ist. Für Hora ist sie bloße Konvention, die er um der besseren Verständlichkeit Willen aufrechterhält, wenn er es mit Sterblichen wie Michael Ende oder Momo zu tun hat. Das läßt freilich auch jene Worte, die er zu ihr über den Tod spricht, in einem ganz neuen Licht erscheinen : »Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du […] gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin« (MO 162). Ist hier wirklich ein Fortdauern in der Zeit gemeint ? Für das Kind genügt es natürlich, Hora so zu verstehen ; aber sein eigener Blick dringt ohne Zweifel tiefer. Das ist deshalb so bedeutsam, weil es die eigentliche Grundfrage von Momo betrifft : jene nach der Sterblichkeit des Menschen. 146 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Die offenbare Überzeitlichkeit jenes »geistigen Kosmos«, den der alterslose Meister und seine prophetische Schildkröte bewohnen, hilft uns, Endes Antwort besser zu verstehen. Auf Horas »metaphysischer« Ebene der Wirklichkeit kann es schon deshalb keinen Tod geben, weil es kein lineares Voranschreiten der Zeit gibt. Dort erweisen sich all die Sekunden, die den verzweifelten Zeit-Sparern durch die Finger rinnen, als bloßer Schein ; Schein, den auch Momo am Ende ihres irdischen Weges durchschauen wird. Die Harmonie der Sphären, in die sie heimkehrt, ist ewig, nicht weil sie ins Unendliche weiter währt, sondern weil die lineare Zeit in ihr erlischt. In der Unendlichen Geschichte ist es niemand Geringerer als die Kindliche Kaiserin selbst, die dieses scheinbare Paradoxon auf den Punkt bringt. Als Bastian ihr zum ersten Mal begegnet, ist er so von Glück überwältigt, daß er nur einen Wunsch hat : »Ich möchte, daß es ewig so bleibt wie jetzt«. Sie aber erwidert nichts als : »Ewig ist der Augenblick« […]. Bastian schwieg. Er verstand ihre Antwort nicht, aber ihm war jetzt nicht nach Grübeln zumut. (UG 197)

Daß diese Entgegnung den zehn- oder elfjährigen Bastian (noch) überfordert, ist freilich verständlich, zumal sie wiederum auf Endes intensive Kierkegaard-Lektüre verweist.241 Dabei sind Mondenkinds Worte wohl gar nicht so sehr Ausdruck einer abstrakten Reflexion, sondern vor allem ein handfester Kommentar zu dem, was Bastian soeben erlebt hat. Nur einen Wimpernschlag zuvor sehen wir ihn noch in einer Art Zeitschleife gefangen, in die er sich und ganz Phantásien manövriert hat : ein »Ende ohne Ende« (UG 190), eine schaurige, sinnentleerte Pseudo-Ewigkeit, ganz ähnlich der, welche die Grauen Herren ihren Opfern zu versprechen pflegen. Bastian durchbricht diesen Teufelskreis, indem er die Kindliche Kaiserin bei ihrem Namen ruft. Und nun ? Frei schwebend in »sam­ te­ne[m], warme[m] Dunkel, in dem er sich geborgen und glücklich fühlte«, ganz erfüllt von Mondenkinds spürbarer Gegenwart, ist ihm »so wohl wie nie zuvor in seinem Leben«.242 Es ist seine »mystische Erfahrung« : Was Wunder, daß er sie für alle Zeit festhalten möchte ! »Ewig ist der Augenblick«, entgegnet die Kindliche Kaiserin – und spricht damit einen Begriff von Ewigkeit aus, der nichts mit einer unendlichen Zeitspanne zu tun hat. Wie Hora, kennt Größer als die Angst | 147

auch Mondenkind eine Tiefe der Gegenwart, in welcher der Fluß der Zeit zum Stillstand kommt. Allein mit ihr im bergenden Dunkel schwebend, ahnt vielleicht auch Bastian, warum : weil die Zeit in dieser Sphäre vollkommen erfüllt ist. Hier ist Vergänglichkeit schlicht nicht notwendig. Nun bleibt freilich die Zeit in diesem magischen Moment nicht tatsächlich stehen : Die Unendliche Geschichte geht weiter. Das soll sie auch, denn Bastian bleibt am Leben, als er die Grenze zu Phantásien überschreitet. Was er erfährt, kann daher nicht die Erfüllung der Zeit selbst, sondern nur ihr irdisches Spiegelbild sein. Nicht anders als Momo am Stundenblumenteich wird ihm eine Art Ausblick zuteil, um sein Herz für den gefahrvollen Weg, den er zu gehen hat, zu stärken. Das ist zweifellos ein großes Geschenk ; aber wie sich zeigt, bewahrt es ihn nicht vor verheerenden Fehlern. Uns gibt dieser Ausblick die Möglichkeit, nochmals zu präzisieren, was Zeit in jenem »metaphysischen Bereich« im Unterschied zum Zeitbegriff der Agenten bedeutet. Die Differenz könnte größer nicht sein. Während sich die Grauen Herren meisterhaft auf die zählbare Quantität von Zeiteinheiten verstehen, eine Qualität des Augenblicks aber gar nicht kennnen (weshalb sie keine einzige ihrer geraubten Sekunden tatsächlich erleben), verhält es sich in Horas und Mondenkinds »geistigem Kosmos« gerade umgekehrt : Hier schmilzt alle Zeit zu einem einzigen Augenblick von höchster Harmonie und Vollendung zusammen. Dieser Augenblick ist Ewigkeit ; er ist das, was Bastian, Momo und all die betrogenen Zeit-Sparer in Wahrheit suchen. Jene Unendlichkeit, welche die Agenten anzubieten haben, erweist sich dagegen als hohl und ebenso nichtig wie sie selbst. Wer sich wie Momo als »Kind« jenes κόσμος begreift, wird sein Leben nicht mit dem angsterfüllten Abzählen oder gar dem vergeblichen An-sich-Raffen von Sekunden verschwenden, sondern ruhig im Augenblick leben, ohne an der Ewigkeit zu zweifeln. Oder wie es Ende in einem seiner Gedichte ausdrückt, das in die Erzählung von der Wunderbaren Geldvermehrung eingeflochten wurde : Seele, mache dich bereit : Jetzt und hier ist Ewigkeit ! (SIS 37)

148 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

2. Momo singt

Wir sind bei den letzten Seiten des Märchenromans angelangt. Mit Horas Hilfe hat Momo vielleicht die Menschheit, zumindest aber ihre Stadt vor dem Untergang bewahrt. Und doch hat uns der Autor noch etwas zu erzählen. Das Ende, mit dem etwas Neues beginnt nennt er sein Schlußkapitel, in dem in der Tat etwas noch nie Dagewesenes geschieht : Momo, das schüchterne kleine Mädchen, tritt in den Mittelpunkt, um sich ihren Freunden mitzuteilen. Sie hält keinen Vortrag ; sie spricht überhaupt nicht : Sie singt. Denn als die kleine Momo und der alte Beppo an diesem Tag ins alte Amphitheater zurückkamen, waren sie alle schon da und warteten : Gigi Fremdenführer, Paolo, Massimo, Franco, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, Claudio und alle anderen Kinder, Nino, der Wirt, mit Liliana, seiner dicken Frau und seinem Baby, Nicola, der Maurer und alle Leute aus der Umgebung, die früher immer gekommen waren und denen Momo zugehört hatte. Dann wurde ein Fest gefeiert, so vergnügt, wie nur Momos Freunde es zu feiern verstehen, und es dauerte, bis die alten Sterne am Himmel standen. Und nachdem der Jubel und das Umarmen und Händeschütteln und Lachen und Durcheinanderschreien sich gelegt hatten, 243 setzten alle sich rundherum auf die grasbewachsenen steinernen Stufen. Es wurde ganz still. Momo stellte sich in die Mitte des freinen runden Platzes. Sie dachte an die Stimmen der Sterne und an die Stunden-Blumen. Und dann begann sie mit klarer Stimme zu singen. (MO 268)

Das geht deutlich über einen bloßen Epilog hinaus. Ende schlägt hier nicht allein einen Bogen zurück zu einer Schlüsselszene des Romans ; er schließt zugleich mit jenem Thema, das ihm wohl am meisten am Herzen liegt. Was nämlich sollte es anderes sein als eine Form von Kunst, wenn Momo ihren Freunden die Klänge der Gestirne nahebringt ? Tatsächlich ist es sogar mehr als das : Es ist Kunst in ihrer reinsten Form überhaupt. Hier geschehen zwei Dinge auf einmal : Indem das Mädchen sein eigenes tiefstes Wesen verwirklicht – das schöpferisch ist – , teilt es anderen zugleich jene Harmonie der Sphären mit, die es in seinem Innersten vernommen Größer als die Angst | 149

hat. Der Unterschied zwischen beidem ist indes für Ende ohnehin nur scheinbar. Hat nicht Hora prophezeit (MO 162), Momo werde einst selbst ein Ton in jener Sternenmusik sein – sie und alle anderen Wesen ? Diese All-Einheit, welche Momo ja bereits vorweg erfahren durfte, ist es, die der Welt in Wahrheit zugrunde liegt. So vermittelt sie nicht allein  – wie wir gesehen haben  – Subjekt und Objekt ;244 sie vermittelt auch Kunst und Ethik.245 Deshalb ist das, was Momo in Freiheit schaffen will, zugleich auch das, was sie schaffen soll. Mit ihrem Gesang kann sie jene Wunden heilen, welche die Zeit-Spar-Kasse ihren Freunden zugefügt hat, und das lebendige Gefüge füreinander sorgender Menschen wiederherstellen, das die Agenten zerstört haben. Es gibt nur eine einzige Voraussetzung dafür : Sie muß bereit sein, auf ihr eigenes Herz zu hören. Damit läßt sich schließlich auch die Frage beantworten, was Ende meint, wenn er stets betont, Kunst müsse ihrem Wesen nach »absichtslos« bleiben.246 Immanente Absichten wie der Hunger nach Ruhm oder der Wunsch, eine bestimmte Ideologie zu transportieren (Brecht !), sind damit freilich entschieden ausgeschlossen. Der transzendenten, aber doch mystisch erfahrbaren Musik der Sterne eine menschliche Stimme zu geben, ist indes keine dieser irdischen Intentionen. Momo erfüllt damit schlicht ihre wahre Bestimmung, weil ihr Innerstes (jene »Kuppel […] aus reinstem Gold« (MO 163)) von vornherein auf dieses Transzendente hin ausgerichtet ist. Deshalb ist der Anlaß ihres Gesanges ein Fest : Indem sie freudig ihrem eigenen Herzen folgt, verändert sie bereits ihre Welt zum Guten. Nichts anderes begegnet uns übrigens im Schlußkapitel der Unendlichen Geschichte. »Bastian Balthasar Bux«, brummt der mürrische Herr Koreander dort (428), »wenn ich mich nicht irre, wirst du noch manch einem den Weg nach Phatásien zeigen«. Bastians Gabe als Dichter legt nahe, auf welche Weise. Aber wie auch immer sich Koreanders Prophezeiung erfüllt : Bastian wird damit nicht nur Phantásien ein ums andere Mal vor dem Untergang bewahren. Indem er schöpferisch seinem wahren Willen entspricht, wird er zugleich mithelfen, »[s]eine Welt in Ordnung zu bringen« (Atréju ; UG 289). Was hier über Momo und Bastian gesagt wurde, trifft sinngemäß genauso auf den Schöpfer der beiden zu. Mit Momo hat Michael 150 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

Ende ein Buch geschrieben, das nicht allein »dem [kapitalistischen] ›Funktionalisierungswahn‹ entgegenwirken will«, 247 sondern auch klar vor Augen führt, was derjenige verliert, der den Sinn seines Daseins auf Konsum und Genuß reduziert. Er hat Menschen porträtiert, die mit dem Quell ihrer Kreativität auch ihr eigentliches Menschsein unter einem Berg von »noch mehr Sachen«248 verschütten. Er hat mit Momos »großer Stadt« – und später noch drastischer mit Norm – eine ganze Gesellschaft gezeichnet, die auf diese Weise in blinder Funktionalität erstickt. Das freie Spiel der Kinder ; Gigis geniale Erzählkunst ; Momos Gesang – das ist es für Ende, was es vor allem gegen diese Verwüstung zu schützen gilt, weil in ihm das tiefste Wesen des Menschen zum Ausdruck kommt. Und Momo selbst ? Der Märchenroman ist jenes Stück Kunst, das eindrücklich vor den Gefahren des Kapitalismus warnt, damit die Musik der Sterne weiter vernommen und gesungen wird ; er ist jene Geschichte, die erzählt wird, damit auch in Zukunft noch Geschichten erzählt werden können. In ihm hat Ende seine Devise auf beeindruckende Weise verwirklicht : »Das, was dich hindert Kunst zu machen, mache zum Thema deiner Kunst.« (NG 137)

Damit sind wir freilich noch nicht am Ende. Tatsächlich gibt es noch eine weitere Ebene, auf welcher die Harmonie der Sphären freudig vollzogen werden soll : jene des Lesers. Wer mit Momo und ihren Freunden unter der verheerenden Seuche des Zeit-Sparens gelitten hat ; wer mit ihr vor den Agenten ins Nirgend-Haus geflohen ist ; wer mit Hora selbst gesprochen, wer die Musik der Sterne gehört und die Stunden-Blumen erblühen gesehen hat – der wird die Welt vielleicht mit anderen Augen betrachten als zuvor. Mehr noch : Er mag den tiefen Wunsch verspüren, es Momo gleichzutun, indem er jener metaphysischen Harmonie irdischen Raum gibt, und so zu einer Zukunft beizutragen, in der Graue Herren keinen Platz mehr finden. Auch er braucht dazu kein Künstler im engeren Sinn zu werden : »[S]chöpferisch kann jeder Mensch in jedem Beruf sein« (Ende249) – zumindest solange er in einer Gesellschaft lebt, die dieses Schöpferische nicht gänzlich erstickt. Daß auf diese Weise ein anderes Menschsein als das kapitalistische möglich und erreichbar ist, stand für Ende nie in Frage. Im unmittelbar nach Größer als die Angst | 151

Momo entstandenen Gauklermärchen ist es der Zauberspiegel Kalophain, der diese Hoffnung in Bilder faßt. Als seine Gegenspielerin, die grausame Spinne Angramain, von ihm wissen will, ob in seinem Land der Zukunft denn auch vollkommene Ordnung herrsche (hier aber im Sinne von Norm !), antwortet Kalophain : Vollkommen ? Nein, es ist lebendig ! Und jene, die dort wohnen, sind’s zumal. Dort sind die Menschen frei in ihrem Geist, Zu schaffen, was ihr Innnerstes sie heißt. Dem selbstgegebenen Gesetz fügt jeder sich. Der Erde Güter teilt man brüderlich : Man wirkt zusammen, hilft sich arbeitsteilig. Jeder ist Künstler dort auf seine Art. Das absichtslose Spiel ist ihnen heilig, Weil es des Menschen Freiheit offenbart. (GM 39)

I. Ergebnisse Wer allzu sorgsam spart, wird groß vergeuden ; Wer viel sich häuft, in Fülle büßt der ein. – Lao-tse : Tao-Tê-King –

① Weit davon entfernt, bloß ein unterhaltsames Märchen für Kin-

der und Erwachsene oder auch eine belehrende Fabel über das Wesen der Zeit zu sein, erweist sich Momo dem aufmerksamen Leser als zutiefst »systemgefährendendes« Buch (Erhard Eppler250), welches die Grundlagen und Charakteristika der herrschenden kapitalistischen Ideologie aufzudecken sucht und vor ihren drastischen Folgen warnt. ② Dies wirft zunächst die Frage nach dem Verhältnis des Verfassers zum Marxismus auf, der in der Entstehungszeit des Romans den kapitalismuskritischen Diskurs in hohem Maße prägte. Allein schon jene ironische Parabel über Anspruch und Verwirklichung der Marxschen Ideologie, die in Momo eingeflochten wurde, läßt erwarten, daß Endes seinen eigenen Ansatz klar gegen den des »Marxentius Communus« abgrenzt. 152 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

③ Ein Blick auf das zentrale Kapitel des Märchenromans macht

deutlich, daß Ende seine Geschichte des Kapitalismus im Bewußtsein eines Einzelnen beginnt, der von Sinnfragen gequält wird. Indem er diese fundamental mißversteht, entschließt er sich, sein Seelenheil im Luxus zu suchen. Schon eilt der Vertreter des »naturwissenschaftlichen Weltbildes« herbei, um ihn in dieser Fehlentscheidung zu bestärken und ihm bei der Umgestaltung seines Lebens nach rein ökonomischen Gesichtspunkten behilflich zu sein. Mit all dem sieht sich Ende offenbar im strikten Gegensatz zum Marxschen Denken, dem er weder den Ansatz beim Bewußtsein des Einzelnen noch auch ein kritisches Hinterfragen des naturwissenschaftlichen Empirismus zutraut. ④ Die kapitalistische Ideologie, wie sie sich in Momo zeigt, setzt also den empirischen Genuß an die Stelle einer absoluten Sinnebene. Praktisch äußert sich diese Lebenshaltung im egoistischen Drang zum unbegrenzten Konsum. Dies führt notwendigerweise zu Konkurrenzsituationen, welche ihren scheinbar ausweglosen Charakter dem unbedingten Verlangen aller Beteiligten nach dem eigenen Vorteil verdanken. ⑤ Da indes selbst der schillerndste Luxus die Rolle einer sinngebenden Instanz gar nicht zu spielen vermag, zumal er den Makel der Endlichkeit nicht los wird, nimmt letztlich das Kapital als universales Genußmittel seinen Platz an der Spitze der Ideologie ein. Abstrakt genug, um der Sehnsucht nach Sinn eine Projektionsfläche zu geben, wird es geradezu Gegenstand allgemeiner Anbetung, sein unbeschränktes Wachstum Haupt- und Endzweck allen menschlichen Strebens. ⑥ Die Folgen für den Einzelnen, der sich in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft wiederfindet, sind verheerend. Zum bloßen Werkzeug der Kapitalvermehrung degradiert, verliert er jede Möglichkeit, sein eigentliches, schöpferisches Ich zu leben. Da Ende gerade in dieser Gabe das genuin Menschliche erblickt, steht für ihn die Zukunft der Menschheit schlechthin auf dem Spiel. Im Nachfolgewerk von Momo, dem Romanfragment Der Niemandsgarten, steigert sich diese Sorge zur apokalyptischen Vision. Größer als die Angst | 153

⑦ Die Basis, auf der sich die kapitalistische Weltanschauung aus-

zubreiten vermag, bildet die Angst vor dem Tod. Wer in den Abgrund der eigenen Sterblichkeit blickt, gerät in Versuchung, »die Endlichkeit [zu] ergreif[en], um sich daran zu halten« (Kierke­ gaard 251). Wo sich jeder meta-physische Sinn des Daseins zu entziehen scheint, ist es nicht weit zur verzweifelten Vergötzung des leiblichen Genusses. ⑧ In Wahrheit aber erweist sich der Tod in Momo als nichtig und scheinbar. In einer mystischen Erfahrung, die dem Mädchen in seinem eigenen Herzen zuteil wird, »erkennt [es] sich als ein Kind des geistigen und physischen Kosmos« (Ende 252), der es anspricht und den es intuitiv versteht. Dieser beseelte κόσμος ist es, in den der Mensch am Ende seines irdischen Weges zurückkehrt, um selbst als ein Ton in der ewigen Harmonie der Sphären zu erklingen. Es gibt nichts, was daran zu fürchten wäre. ⑨ In diesem Kontext erschließt sich auch Endes Begriff der Zeit, der in Momo eine so zentrale Rolle spielt. In jenem geistigen Kosmos nämlich fließt alle Vergangenheit und Zukunft zu einem einzigen, unvergänglichen Moment höchster Vollendung zusammen, während sich der lineare Verlauf der Zeit, mit dem die Vertreter des »naturwissenschaftlichen Weltbildes« so meisterhaft zu rechnen verstehen, als Chimäre erweist. »Ewig ist der Augenblick« (UG 197), wird die Kindliche Kaiserin in der Unendlichen Geschichte dem staunenden Bastian verkünden. ⑩ Was Momo in jener mystischen Stunde erfahren hat, steht jedem offen, der den Weg ins eigene Herz nicht scheut. Allein deshalb ist es möglich, jene Harmonie der Sphären anderen mitzuteilen, wie es in jedem echten schöpferischen Akt geschieht. Kunst findet so ihre wahre – ethische – Bestimmung, indem sie der metaphysischen Ordnung der Dinge irdischen Raum gibt. Da jeder Mensch von vornherein Teil dieses harmonischen Ganzen ist, kommt dadurch gleichzeitig seine höchste Freiheit zum Ausdruck.

154 | »Momo« oder Die Kälte des Kapitalismus  

TE IL III » DIE U NENDLI C HE G ESC HI C H TE« O D E R T U, WAS DU W ILL S T ! A. Die Geschichte der Geschichten […] die künstlerische Erfindung birgt weit mehr innere Wahrheit als die Wirklichkeit des Lebens. – Vladimir Nabokov : Verzweiflung –

»Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.« Dieser Satz, der sich wie ein Refrain durch die Unendliche Geschichte zieht, ist im Laufe der Jahrzehnte geradezu Bestandteil der deutschsprachigen Populärkultur geworden.253 Tatsächlich ist es nicht zuletzt der überwältigende inhaltliche Reichtum des Romans, aus dem gleichsam Geschichten über Geschichten sprießen, der ihn zu einem Werk der Weltliteratur macht. Umso bemerkenswerter erscheint es, wie stringent seine Handlung insgesamt verläuft. Die unendliche Geschichte ist eben keine »in verschiedene fiktive Landschaften projizierte Monstershow« (Aschenberg 254), sondern folgt erstaunlich genau einer Struktur, die sich dem Leser erst am Ende vollständig erschließt. Anhand dieser Struktur – und nicht etwa der einzelnen Bilder für sich, so brillant sie auch sein mögen 255 – wollen wir nun den Versuch unternehmen, das philosophische Denken Michael Endes weiter zu erhellen. Wie wir wissen, ging die Unendliche Geschichte aus dem Ro­man­ fragment Der Niemandsgarten hervor, welches wiederum unverkennbar an Momo anknüpft.256 Ich möchte deshalb gar nicht erst versuchen, die beiden Romane gleichsam künstlich voneinander zu trennen, sondern die Kontinuität zwischen ihnen in den Vordergrund stellen. Tatsächlich können wir davon ausgehen, daß die Grundthematik von Momo  – das Absterben des Schöpferischen in der kalten Funktionalität des Kapitalismus – bis tief in die Unendliche Geschichte hinein gegenwärtig bleibt. Während aber im Märchenroman jene »eigentliche Kraft des Menschen«257 selbst eigentlich nur gestreift wird, 258 rückt sie Endes nächstes großes Werk  155

entschieden in den Mittelpunkt. Der Unterschied liegt also im Akzent : In Momo geht es um die Bedrohung des Schöpferischen ; in der Unendlichen Geschichte hingegen um die Bedrohung des Schöpferischen. Indes soll hier, um eine Brücke zwischen dem zweiten und dritten Teil dieser Untersuchung zu schlagen, nicht erneut auf den Niemandsgarten eingegangen werden, zumal die philosophischen Implikationen dieses doch noch merkbar unausgereiften und sich gleichsam planlos vorantastenden Werkes recht eng begrenzt sein dürften. Stattdessen will ich mit einer kurzen Schilderung des Konflikts um The Neverending Story, wie die »Filmfassung« der Unendlichen Geschichte betitelt wurde, beginnen.259 Obwohl dieser erste Abschnitt keinen Anspruch darauf erhebt, im engeren Sinne philosophisch zu sein, möchte ich ihn nicht als bloßes Beiwerk verstanden wissen. Zum einen, weil er die praktischen Auswirkungen genau jener Strukturen und Mechanismen, vor denen Momo warnt, in drastischer Weise vor Augen führt. Tatsächlich kann man es als eine bittere Ironie des Schicksals sehen, daß ausgerechnet Michael Ende – und zwar Jahre, nachdem er seinen kapitalismuskritischen Märchenroman verfaßt hatte – zum unfreiwilligen Paradebeispiel eines Künstlers wurde, der im Kampf gegen die rücksichtslose Kommerzialisierung seines eigenes Werkes unterliegt. Zum anderen gibt jener Konflikt einen guten Einblick darin, wie der Autor selbst die Unendliche Geschichte auffaßte. Je mehr er sich nämlich von Produzent und Regisseur an den Rand gedrängt sah, desto nachdrücklicher versuchte Ende, seine Position zu erklären und argumentativ zu untermauern (was freilich wirkungslos bleiben mußte, da er es nicht etwa mit mangelndem Verständnis, sondern mit völligem Desinteresse am Wesen seines Werkes zu tun hatte). Die Beschäftigung mit The Neverending Story soll also nicht allein unsere Analyse von Momo abrunden, sondern auch einen ersten Blick in die philosophische Tiefe der Unendlichen Geschichte ermöglichen.

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B. The Neverending Story : Die Rache der Grauen Herren Es kann aber auch sein, sprach der Student Anselmus zu sich selbst, daß der superfeine starke Magenliqueur, den ich bey dem Monsieur Conradi etwas begierig genossen, alle die tollen Phantasmata geschaffen, die mich vor der Hausthüre des Archivarius Lindhorst ängsteten. – E.T.A. Hoffmann : Der goldene Topf –

Im Jahre 1980 steht Michael Ende auf dem Höhepunkt seines internationalen Erfolges. Von Südamerika bis Japan halten Millionen von Lesern Die unendliche Geschichte in Händen. Ohne es zu wollen oder gar zu planen, hat Ende mit seinem Roman den Nerv der Zeit getroffen. Umso unverständlicher erscheint es vielen, daß sich der Verfasser lange nicht dazu entschließen kann, die lukrativen Filmrechte zu verkaufen. Müßte er nicht dankbar sein für die Gelegenheit, sein Buch noch populärer zu machen ? Doch die Zurückhaltung des Autors hat gute Gründe. Da er sich durch den Welterfolg seines Romans finanziell abgesichert weiß und das kinderlose Ehepaar Ende für niemanden zu sorgen hat, vermag ihn die Aussicht auf üppige Tantiemen nicht zu locken.260 Schwer wiegt hingegen der Einwand, die Verfilmung eines Werkes, das gerade die Vorstellungskraft des Lesers in den Mittelpunkt rückt, sei ein Widerspruch in sich. Andererseits ist es gerade diese Herausforderung einer adäquaten Verbildlichung, die den Dramatiker in Ende reizt. Vermag nicht das Medium Film – genauso wie literarische Texte – Lebensgebärden261 im Endeschen Sinne zu vermitteln ? Hat sich nicht auch ein Genie wie Samuel Beckett in den Dienst dieses Mediums gestellt ?262 Aus diesen Erwägungen heraus und mit der strikten Auflage, den Charakter seines Romans zu respektieren, gibt der Autor schließlich dem Produzenten Dieter Geissler grünes Licht. Er ahnt nicht, daß er damit eine Lawine auslöst, die ihn am Ende selbst überrollen wird. Anfangs scheint es, als hätte Ende die richtige Entscheidung getroffen. Ehe noch erste Rohfassungen eines Drehbuchs vorliegen, macht sich Geissler bereits mit Feuereifer an Umsetzung und Organisation. Je weiter aber das Projekt voranschreitet, desto deutlicher zeigt sich eine eigentümliche Spaltung : Während Ende noch an jenen »künstlerisch-experimentelle[n] Film«263 glaubt, auf den sich Die Rache der Grauen Herren | 157

die Vertragspartner geeinigt haben, nimmt das Unternehmen wie von selbst immer größere Ausmaße an. Geissler, dem die Finanzierung bald über den Kopf wächst, macht sich auf die Suche nach zahlungskräftigen Partnern. So wird Die unendliche Geschichte hinter dem Rücken des Verfassers weiter- und weitergereicht, um schließlich in den Händen eines jungen, ehrgeizigen Produzenten zu landen, den man Jahrzehnte später im Nachruf einen »strikt kommerziell orientierte[n] Megalomane[n]«264 nennen wird : Bernd Eichinger. Anders als Ende, der immer noch um die adäquate bildliche Umsetzung seines Werkes ringt, weiß Eichinger von vornherein recht genau, wie das Endprodukt auszusehen hat. Der Regisseur Wolfgang Petersen wird abkommandiert, um das Projekt auf Vordermann zu bringen und Ende bei der Ausarbeitung des Skripts zu »unterstützen«. Zu Beginn noch von gegenseitigem Respekt getragen, entwickelt sich die Zusammenarbeit zur zermürbenden Nervenprobe für beide. Der Autor kann sich des Eindrucks nicht erwehren, beiseite geschoben zu werden. Als er die letzte (schließlich umgesetzte) Fassung des Drehbuchs zu Gesicht bekommt, traut er seinen Augen kaum : »Damit sind wir bei der totalen Entwertung meines Buches angelangt«.265 In einem unveröffentlichten Typoskript sucht er seiner Empörung Luft zu verschaffen : Das ganze alte Phantásien ist plötzlich wieder da. Damit wird der ganze Ernst des Untergangs von Phantásien zu einer Art April­ scherz […]. Kein Wort mehr davon, daß Bastian aus eigenen, schöpferischen Kräften eine neue Welt erschaffen muß. Nicht einmal in der Andeutung will man diese Kernaussage des Buches dem Publikum zumuten.266

Was ist geschehen ? Es stellt sich heraus, daß Eichinger den gesamten zweiten Teil des Romans (»zu leise, zu ernst«267) ersatzlos gestrichen hat, wodurch sich nicht nur die dramatische Gefährdung der Innenwelt als »Aprilscherz« entpuppt, sondern das ganze Gefüge der Geschichte ad absurdum geführt wird : Bastian kehrt, kaum daß er nach Phantásien gekommen ist, auch schon wieder mühelos […] zurück. Ich muß hier erwähnen, daß das Buch damals ein Jahr später als geplant erschienen ist, weil Bastian den Rückweg aus Phantásien nicht finden konnte.268 Dazu 158 | »Die unendliche Geschichte« 

mußte er erst eine lange Irrfahrt (von Wunsch zu Wunsch) durchmachen, und erst als er seinen »Wahren Willen« gefunden hatte, stand ihm der Rückweg offen. […] Hätte ich es mir so einfach gemacht wie die Drehbuchschreiber, dann wäre die Geschichte im Handumdrehen fertig gewesen […]. Im Drehbuch erfährt Bastian in Phantásien lediglich : »You are important !« Und er kehrt mit neugestärktem Selbstbewußtsein (was hat er eigentlich geleistet ?) in die Alltagswelt zurück und sagt zum Vater : »Wait a minute« usw. Aus der Suche nach dem Lebenssinn ist eine belanglose »americanway-of-life-story« geworden.269

Während also Eichinger und Petersen mit Hochdruck daran arbeiten, mit einem glatten und oberflächlichen Produkt den (amerikanischen) Massengeschmack zu treffen, beharrt Ende darauf, die »Suche nach dem Lebenssinn« bilde den eigentlichen Kern seiner Geschichte. Man kann das naiv nennen. Für Ende steht indes nicht weniger als »[s]eine moralische und künstlerische Existenz auf dem Spiel«.270 In einer grotesken Wiederholung sieht er sein Phantásien ein weiteres Mal am Rande des Abgrunds : von Bastian vor dem Nichts bewahrt, nur um erbarmungsloser Kommerzialisierung zum Opfer zu fallen. Aber was ist denn eigentlich dieses Phantásien ? Eine »Parallelwelt« ? Ein Land auf einem fernen Planeten ? Ist der Roman in Bastians Händen ein magisches Artefakt, das Türen in andere Galaxien oder gar Dimensionen öffnet ? Es sieht ganz danach aus : Bastian bringt aus Phantásien einen Stein mit. Hiermit will das Drehbuch, laut Brief von Petersen, beweisen, daß Bastians Phantásienreise »eben doch nicht nur ein Hirngespinst war«. An dieser Veränderung wird ganz besonders deutlich, wie […] versucht wird, den wirklichen inneren Erlebnisgehalt durch Äußerlichkeiten zu ersetzen.271

Ein belangloser Stein (war in Mondenkinds grenzenlosem Reich nichts Besseres zu finden ?) muß also als Faustpfand für die reale Existenz der phantásischen Gefilde dienen. Immerhin steht seine Eignung außer Frage : Wägbar und meßbar, ist er ebenso unzweifelhaft vorhanden wie die grauen Zahlenkolonnen auf Fusis Spiegel. Tatsächlich erweist sich Petersen hier als Anhänger eines WirklichDie Rache der Grauen Herren | 159

keitsbegriffs, den Nr. XYQ/384/b nicht besser auf den Punkt bringen könnte, selbst wenn er zu diesem alleinigen Zwecke aus dem Nirwana der Auslöschung zurückkehren würde.272 So betrachtet, hört Phantásien als eigenständiges Reich der Imagination auf zu existieren, weshalb Bastian dort auch buchstäblich nichts mehr zu suchen hat. Stattdessen stürzt er sich »mit neugestärktem Selbstbewußtsein« in die materielle, einzig wahre Welt, wo ihm zweifellos große Erfolge bevorstehen : Vielleicht wird aus ihm gar ein neuer Girolamo ? Dieser radikalen Umdeutung fällt auch jene Inschrift auf dem magischen Amulett AURYN zum Opfer, welche Endes Bastian auf seiner gefahrvollen Pilgerfahrt durch Phantásien geleitet : »Do what you dream !« Diese Inschrift ist nun wirklich das Gegenteil dessen, was die Botschaft meines Buches meint. Petersen glaubt, daß mein Englisch vielleicht nicht ausreiche, um zu erkennen, daß es sich dabei um die richtige sinngemäße Übersetzung von »Tu, was du willst !« handle. Er vergißt dabei nur – obgleich ich es ihm gesagt habe – , daß der Satz ursprünglich aus dem Englischen stammt, und zwar von dem Schriftsteller Aleister Crowley (gestorben 1947), und dort heißt : »Do what thou wilt« (feierliches Kirchenenglisch). Das »Do what you dream !« ist Petersens Interpretation, und zwar die falsche. Es ist genau der Irrtum, dem auch Bastian unterliegt und um dessentwillen er aus Phantásien nicht mehr herausfindet. Auch er meint zunächst, es ginge darum, zu tun, was man wünscht, ersehnt, gerne möchte. Der Löwe Graógramán wird zornig, als Bastian ihm diese Deutung sagt. Seinen »Wahren Willen« finden, heißt ganz und gar nicht, zu tun, was man möchte. Diese Formel »Tu, was du willst !« geht über Rabelais bis zum Hl. Augustin zurück. In Phantásien kann man seinen »Wahren Willen« auch nicht tun, man kann ihn dort nur finden. Eben deshalb führt er einen in die Menschenwelt zurück.273

Es ist im übrigen bezeichnend, welchen Widerhall diese klare und nachvollziehbare Argumentation in den Worten des Journalisten Ulli Pfau findet, der eine Pressekonferenz mit Michael Ende folgendermaßen zusammenfaßt : Ein Kollege möchte nochmals die Vorwürfe Endes präzisiert haben. Bei seiner Antwort habe ich den Eindruck, daß der Autor sich 160 | »Die unendliche Geschichte« 

schwer tut, die vielen Details in einen unmittelbar einleuchtenden Zusammenhang zu bringen. Wer kennt das Buch schon so genau, den geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund ? Neben mir sitzt eine Hörfunkjournalistin, die sich verzweifelt bemüht, die Flut an Erläuterungen […] aufzunotieren. Als Ende schließlich die Inschrift des Amuletts Auryn, »Tu was du willst«, über Rabelais bis hin zum Heiligen Augustin zurückverfolgt, legt sie kapitulierend den Kuli aus der Hand.274

Dieses Detail zeigt vielleicht besser als jedes andere die bittere Ironie im Scheitern von Endes zunehmend verzweifelten Erklärungsund Überzeugungsversuchen : Der vermeintliche »Kinderbuchautor«, der sich tatsächlich sein Leben lang in intellektuell geprägten Milieus bewegte, hatte schlichtweg keine Erfahrung mit Zeitgenossen, die nur »unmittelbar einleuchtende Zusammenhänge« zu verarbeiten imstande sind und denen allein schon die Erwähnung antiker Denker das Schreibwerkzeug aus der Hand fallen läßt. Es kommt indes für Ende noch schlimmer. Nicht allein, daß seinem Werk mit der phantásischen Selbst- und Sinnsuche Bastians das Herzstück genommen wurde ; auch in der Darstellung dessen, was von der Unendlichen Geschichte noch übrig ist, vermag der Autor nur noch »eine Art Joint-trip«275 zu erkennen. Vor allem an der Umsetzung jener zentralen Passage, die Atréju auf seinem Weg zum Südlichen Orakel begleitet, entzündet sich seine Kritik. Ende hat dieses Kapitel mit besonderer Sorgfalt gestaltet : Zuerst gilt es, sich durch das Große-Rätsel-Tor zwischen zwei lebendigen Sphinxen zu wagen, in deren Blicken »alle Rätsel der Welt« (UG 91) lauern, um den Wanderer für immer zu bannen ; danach sein eigenes wahres Ich im Zauber-Spiegel-Tor zu durchschreiten (das bei Atréju ein Bild Bastians zeigt !) ; und schließlich, als schwerste Prüfung, das Ohne-Schlüssel-Tor zu passieren, welches sich allein demjenigen öffnet, der gänzlich absichtslos an seine Schwelle herantritt. Eichinger und Petersen hingegen schicken die schneidige Grünhaut (nach der Degradierung Bastians nun unumstrittene Hauptfigur) auf einen Hindernisparcour, der vor allem physische Anforderungen stellt : Die drei »Magischen Tore« sind völlig verhunzt. Atréju muß, um ins innerste Geheimnis seiner Welt vorzudringen, zuerst einen Die Rache der Grauen Herren | 161

Bereich der Welträtsel durchschreiten, die einen erstarren lassen, wenn sie einen anblicken. Warum manche doch durch diese Region kommen können, ist dem kleinen, nur intellektuellen Verstand (dem Gnom Engywuck) unerforschlich. Atréju muß allen Mut und alle Kraft zusammennehmen, um diesen Bereich zu durchschreiten. Im Drehbuch sind daraus Laserstrahlen und Flashs geworden, die rings um Atréju einschlagen. Er kommt durch, weil er so schnell laufen kann. »Run, Atréju ! Run !« schreit Bastian ihm zu wie auf dem Fußballplatz. Das zweite, das »Zauber-Spiegel-Tor«, ist eine große runde Scheibe, die auf einer glatten, leeren Ebene steht. Darunter kann Petersen sich nichts Rechtes vorstellen, schreibt er. Hat er denn noch nie Bilder von Magritte oder Dalí gesehen ? Die kosmische Stille dieser Szene muß, weil offenbar noch nicht genug Lärm in diesem Film gemacht wird, durch einen heulenden Sandsturm ersetzt werden. Daß das dritte, das »Ohne-Schlüssel-Tor«, durch das man nur kommen kann, wenn man alle Absicht verliert, weggelassen ist, scheint mir geradezu demaskierend. Natürlich können Filmleute, die ständig nur Absichten haben, und zwar kommerzielle, selbst nicht durch dieses »Ohne-Schlüssel-Tor« kommen. Deshalb lassen sie es einfach weg. Statt dessen befinden wir uns wieder unversehens bei den Sphinxen, die vorher das Laserbombardement veranstalteten, jetzt aber auf einmal die entscheidende Botschaft verkünden : Nur ein Mensch kann Phantásien retten. Daß die ganze Passage, die im Buch ›Die Stimme der Stille‹ heißt, 276 im Filmdrehbuch eine der lautesten und lärmendsten Stellen ist, versteht sich bei dem unerbittlichen Streben nach Äußerlichkeit im Drehbuch schon fast von selbst.277

In Passagen wie diesen ist ein gewisser resignativer Ton nicht zu überhören. Mehr und mehr muß sich Ende mit der Erkenntnis abfinden, daß zwischen ihm, der Gehalt und Charakter seines Romans gewahrt wissen will, und jenen »Filmleuten«, die vor allem kommerzielle Absichten hegen, eine Verständigung schlicht nicht möglich ist. Dennoch meint er immer noch, die wichtigsten Fäden selbst in der Hand zu halten – ein verhängnisvoller Irrtum ! Als er Eichinger mit seiner Absicht konfrontiert, den Verfilmungsvertrag zu kündigen, droht ihm dieser wütend mit einer Schadenersatz162 | »Die unendliche Geschichte« 

klage in Millionenhöhe. Ende, der sich plötzlich in seiner Existenz bedroht sieht, fällt aus allen Wolken : Ist es tatsächlich möglich, einen Künstler dafür, daß er sein eigenes Werk zu schützen versucht, in den Ruin zu treiben ? Der Anwalt seines Verlages hält die Gefahr für durchaus real, zumal Eichingers Neue Constantin über eine hoch dotierte Rechtsabteilung verfügt. Am 10. März 1983 unterzeichnet Ende schließlich das sogenannte »Stuttgarter Dokument«, wonach er sich verpflichtet, dem Projekt keine Steine mehr in den Weg zu legen. Er hat auf ganzer Linie verloren. Die Gegenseite garantiert ihm lediglich, seinen Namen im Nachspann des fertigen Produkts nicht zu nennen – ein bitterer Trost. Indes findet das Drama damit noch kein Ende ; denn der Autor, dem im Vorfeld ausdrücklich ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung des Drehbuchs zugesichert wurde, zieht nun seinerseits vor Gericht. Tatsächlich ist der Vertragsbruch durch die Neue Constantin in diesem Punkt offensichtlich. Nichtsdestoweniger zieht sich der Prozess in die Länge, bis Endes Gerichtskosten seine Einnahmen aus der Verfilmung weit übersteigen – womit der Autor zumindest den endgültigen Beweis führt, daß es ihm niemals um finanzielle Aspekte ging. Als schließlich das Urteil fällt, kommt es für Ende einem Schlag ins Gesicht gleich. Seine Klage wird abgewiesen : »Es sei zwar richtig, daß es sich um eine grobe Entstellung meines Buches handle, doch da der Film sich vorwiegend an ein jugendliches Publikum wende, spiele das keine Rolle« (Ende278). Nicht einmal das Gericht selbst, so mutmaßt der Kläger verbittert, könne diese Begründung ernst nehmen : »Die Wahrheit war natürlich, daß auf der einen Seite ein Betriebskapital von über sechzig Millionen D-Mark auf dem Spiel stand, auf der anderen die Meinung eines einzelnen, größenwahnsinnig gewordenen Autors […].«279 Das eingesetzte Kapital rentiert sich : The Neverending Story, wie der durch und durch amerikanische Film schließlich heißt, erweist sich an den Kinokassen als glänzendes Geschäft. Eichinger und Petersen lösen mit ihrem Triumph die Eintrittskarte in das kalifornische Phantásien aller karrierebewußten Fimschaffenden, wo sie als Spezialisten für sinnbefreiten Bombast in den folgenden Jahrzehnten einen Blockbuster nach dem nächsten abdrehen (und gar nicht daran denken, gleich Bastian zurückzukehren). Michael Ende, den Die Rache der Grauen Herren | 163

just zur selben Zeit sein schwerster persönlicher Schicksalsschlag trifft, 280 bleibt hingegen nur die bittere Erkenntnis, daß jegliche Naivität im Umgang mit kapitalistischen Strukturen schwer bestraft wird. Das Ende der Geschichte hat er vorausgeahnt : »Daß dieser Fim gerade deswegen kommerziell erfolgreich sein wird, weil er das wirkliche Phantásien vernichten hilft, ist nicht unwahrscheinlich. Ich kann und will aber an dieser Art von Erfolg nicht teilhaben.«281 C. Die Verwüstung der Innenwelt O Fittige gieb uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. – Friedrich Hölderlin : Patmos –

Bastian Balthasar Bux ist ein junger Mensch, der sich im Leben nicht zurechtfindet. Nach dem Tod seiner Mutter allein mit dem stets kalten und abweisenden Vater, erfährt er auch in der Schule nichts als Zurücksetzung : Ein ängstliches, dickliches Kind, muß er die derben Streiche seiner Kollegen ebenso wehrlos über sich ergehen lassen wie den verletzenden Spott der Lehrer. Wer kann es ihm verdenken, daß er sich eine Gegenwelt erträumt ? Tage-, ja nächtelang erzählt er sich selbst Geschichten von Rittern und Drachen, von heldenhaften Indianerjungen, von sprechenden Tieren und wandernden Bäumen. Und er liest ­w ie besessen – am liebsten »Bücher, in denen erfundene Gestalten fabelhafte Abenteuer erlebten und wo man sich alles mögliche ausmalen konnte« (UG 26). Wie sich im Laufe des Romans herausstellt, kennt er nicht nur Tolkiens Hobbit, sondern hat auch einen Blick in dessen episches Werk Der Herr der Ringe geworfen ;282 ja, irgendwo (vermutlich nicht in der verhaßten Schule) hat er sogar ein paar Verse Shakespeare aufgeschnappt.283 Um zu lesen, schwänzt er den Unterricht ; um an ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel Die unendliche Geschichte zu gelangen, begeht er sogar einen regelrechten Diebstahl. In der Welt des Zehn- oder Elfjährigen (UG 5) kommt das einem Abbrechen aller Brücken gleich, weshalb er sich nicht mehr nach Hause wagt. Nach einigem Zögern schlägt er schließlich auf dem 164 | »Die unendliche Geschichte« 

Speicher (Dachboden) der Schule sein Lager auf, um sich in einer Stimmung zwischen Neugier und Verzweiflung seinem erbeuteten Schatz zu widmen. Er beginnt Die unendliche Geschichte zu lesen – und wird mit einer alarmierenden Nachricht konfrontiert : Phantásien, das Reich der Kindlichen Kaiserin, schwebt in großer Gefahr. Nicht etwa durch äußere Feinde – die es gar nicht geben kann, da Phantásien grenzenlos und die Zahl seiner Völker unendlich ist – , sondern durch das buchstäbliche, von winzigen Keimzellen ausgehende Nichts, welches das Reich allerorten von innen her verzehrt. »Es ist«, wie sich die aufgeregten Bewohner gegenseitig berichten, »als ob man blind wäre, wenn man auf die Stelle schaut« (UG 23). In höchster Eile brechen »turbangeschmückte Dschinns, winzige Kobolde, dreiköpfige Trolle, bärtige Zwerge, leuchtende Feen, bocksbeinige Faune, Wildweibchen mit goldlockigem Fell, glitzernde Schneegeister und zahllose andere Wesen« (UG 29 f.) als Sendboten zum Elfenbeinturm der Kindlichen Kaiserin auf, um Rat und Hilfe in dieser Stunde der Gefahr zu erbitten. Doch die Kaiserin, innerstes Zentrum und mystischer Daseinsgrund ganz Phantásiens, liegt todkrank in ihrem Gemach. Als guter, intelligenter Leser erahnt Bastian recht rasch, wovon hier die Rede ist. Was er in Händen hält, ist kein Buch wie alle anderen ; worauf er gestoßen ist, ist die Geschichte der Geschichten. All seine eigenen erdachten Geschöpfe sind in diesem Phantásien zu Hause ; all jene verwunschenen Wälder, weglosen Wüsten und sturmdurchpeischten Meere, die er sich in bunten Farben ausgemalt hat, bilden nur einen Teil seiner grenzenlosen Weiten. Das Reich der Kindlichen Kaiserin – es ist Bastians Zufluchtsort vor der trostlosen äußeren Realität. Und diese ganze Welt mitsamt ihren Helden und Ungeheuern, Riesen und Zwergen, Elfen und Hobbits ist im Begriff, sich aufzulösen, ganz einfach zu verschwinden, und übrig bleibt – Nichts ! »Das«, sagte der Nachtalb dumpf, »– huhu ! – ist eine Katastrophe.« »Ja«, antwortete der Winzling, »das ist es.« (UG 30)

Die Verwüstung der Innenwelt | 165

1. Phantásien in Gefahr

Die Innenweltverwüstung  – so pflegte Michael Ende das Phänomen zu nennen,284 mit dem Bastian hier unvermittelt konfrontiert wird. Allein die Tatsache, daß es die Handlung seines wichtigsten Romans fast genau bis zur Hälfte prägt, zeigt zur Genüge, welch zentralen Platz dieses Thema im Denken Endes einnimmt. Wir wollen deshalb in diesem Abschnitt möglichst genau zu ergründen versuchen, was es ist, das auf so schaurige Weise der Verwüstung anheimfällt, und wodurch dies geschieht, ehe wir uns jenen Fragen zuwenden, die Bastian wie auch die entsetzten Bewohner Phantásiens zweifellos am meisten interessieren : Welche Rettung gibt es ? Gibt es überhaupt Rettung ? ■ Innen und Außen Was ist Phantásien ? Phantásien ist das Reich der Imagination. Doch was ist Imagination ? Imagination ist die Fähigkeit, sich bestimmte Dinge bzw. Prozesse bildlich vorzustellen. Sitz dieser Fähigkeit ist das menschliche (in geringerem Maße auch das tierische) Gehirn, genauer gesagt die Großhirnrinde, wo sie sich im Laufe der biologischen Evolution entwickelt hat. Vorstellungen aller Art sind also stets auf neurologische bzw. -chemische Prozesse rückführund auch durch diese erklärbar. So hat sich auch Bastians (durchaus unterhaltsame, ja sogar lehrreiche) Reise durch das Reich der Kindlichen Kaiserin lediglich in seinem Gehirn ereignet, während er in Wirklichkeit die ganze Zeit über auf einem Matratzenlager am Dachboden seiner Schule saß. Hätten seine Abenteuer hingegen tatsächlich stattgefunden, dann müßte es dafür auch irgendeine materielle Evidenz geben – welche aber nicht vorhanden ist. Was hier skizziert wurde, ist der GAU (Größte Anzunehmende Unsinn) unter sämtlichen möglichen Interpretationen der Unendlichen Geschichte. Daß er dennoch seine Anhänger gefunden hat, versteht sich von selbst. Aus ihm gehen nicht allein voll­endete Absurditäten wie Petersens berüchtigter Stein hervor285 (der kaum jener der Weisen sein dürfte), er kommt auch in einem guten Teil jener (positiven wie negativen) Rezensionen zum Ausdruck, die Anfang und Ende des Romans als »realistische« Rahmenhandlung und die »innere« Unendliche Geschichte als mehr oder weniger un166 | »Die unendliche Geschichte« 

terhaltsame Fantasy auffassen.286 Zugrunde liegt stets derselbe Reduktionismus, der die geistige oder Innenwelt des Einzelnen nicht – wie es im Roman selbst mit Nachdruck geschieht – als eigenes und gleichwertiges Reich, sondern lediglich als eine Art Auswuchs der äußeren, materiell vorhandenen »Menschenwelt« (UG 140) begreifen kann oder will. Dies entbehrt indes nicht allein jeder erkenntnistheoretischen Grundlage,287 sondern paßt auch zu Endes gesamtem Werk gerade so wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Tatsächlich lehnte Ende diesen materialistischen Monismus nicht nur stets entschieden ab (»Materialismus ist eine Weltanschauung, die sich selbst nicht zu Ende gedacht hat«288), er erblickte in einer solchen Haltung selbst bereits einen wesentlichen Beitrag zur Innenweltverwüstung : »Daß dieser Film gerade deswegen kommerziell erfolgreich sein wird, weil er das wirkliche Phantásien vernichten hilft, ist nicht unwahrscheinlich«,289 lesen wir etwa in einer Presseerklärung zu Petersens Neverending Story. Der Werwolf Gmork, grausamer Gegenspieler Atréjus im ersten Teil der Unendlichen Geschichte, drückt es noch wesentlich weniger diplomatisch aus : »Es gibt da eine Menge armer Schwachköpfe – die sich natürlich selbst für sehr gescheit halten und der Wahrheit zu dienen glauben  – die nichts eifriger tun, als sogar den Kindern Phantásien auszureden.«290

Gerade vom kindlichen Vertrauen auf die Wirklichkeit der Innenwelt aber, das auf diese Weise zerstört wird, »hängt alles ab« (UG 144), wie Gmork amüsiert bemerkt, denn »wenn sie glauben, daß es Phantásien nicht gibt, kommen sie nicht auf die Idee, euch zu besuchen« (UG 143). Und genau das ist der Grund, warum Mondenkinds grenzenloses Reich dem Verfall preisgegeben ist.291 Was also ist Phantásien ? Phantásien ist das Reich der Vorstellungen. Aber was sind Vorstellungen ? Sind es metaphysische Urbilder im Verständnis der antiken Philosophie, welche Ende im Sinn hat, wenn er das bunte Bild der Innenwelt zeichnet ? War er, der sich ja so entschieden vom Materialismus distanziert, folglich – Idealist ? Auch diese Rechnung geht nicht auf. Es hieße Endes Denken Gewalt anzutun, wollten wir versuchen, das Reich der Kindlichen Kaiserin in die Nähe der Platonischen Ideenwelt zu rücken ;292 und nicht einmal die geballte Gewitztheit Gigis würde ausreichen, um Die Verwüstung der Innenwelt | 167

eine glaubwürdige Brücke zwischen Bastian Balthasar Bux und Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu schlagen. Die Fragestellungen, welche sich aus der Dualität von Innen und Außen, von Phantásien und »Menschenwelt« (UG 140) ergeben, wären zwar durchaus eines idealistischen Denkers würdig ; allein, dieser würde die Synthese beider Seiten in einem übergeordneten geistigen Prinzip aufzuweisen suchen – wovon bei Ende keine Spur zu finden ist. Tatsächlich läßt sich in der Unendlichen Geschichte nicht nur keinerlei Versuch ausmachen, den Gegensatz zwischen beiden Welten auf idealistische Weise zu vermitteln – es zeigt sich vorderhand überhaupt kein Versuch einer Synthese. Für die Struktur des Romans ist das kein Problem – bezieht die Unendliche Geschichte doch ihre Spannung und Kraft gerade aus der strikten Entgegensetzung der zwei »Reiche«.293 Sogar in den Sentenzen der Kindlichen Kaiserin, die immerhin philosophisch genug bewandert ist, um aus dem Stand Kierkegaard zu zitieren, 294 ist keine Rede von einem vermittelnden Dritten : »Das Elend, das über beide Welten gekommen ist«, erklärt sie etwa Atréju, »ist auch zweifachen Ursprungs« (UG 169). So betrachtet, sind Innen- und Außenwelt vorläufig nur aneinander bestimmt, bestimmt also dadurch, nicht das jeweils andere zu sein. Während diese den Stempel der Materie trägt, ist jene geistig verfaßt – so vollständig, daß sogar das Buch in Bastians Händen, das »selbst schon aus Phantásien [stammt]« (Karl Konrad Koreander ; UG 426), am Ende spurlos verschwindet. Genießt der Mensch im Inneren schrankenlose schöpferische Freiheit, so sieht er sich außen der eisernen »Zwangsläufigkeit« der »Kausallogik« unterworfen, die für Ende an sich sämtliche »physikalischen Prozess[e]« prägt.295 Vor allem aber ist Phantásien, wie in der Unendlichen Geschichte immer wieder herausgestellt wird, ganz allein auf subjektive Weise gegenwärtig. Während wir durchaus mit Gmork von »der Menschenwelt« (an sich) sprechen können (UG 140), kann es das Reich der Kindlichen Kaiserin schlechthin nicht geben : »Die subjektive Imagination ist der einzige Weg nach Phantásien, und sie ist nicht übertragbar« (Hocke/Neumahr).296 »Dann ist die Unendliche Geschichte also für jeden anders ?« [fragte Bastian.] »Das will ich meinen«, versetzte Herr Koreander […]. (UG 427) 168 | »Die unendliche Geschichte« 

Als phantásischer Gegenstand ist das Werk, das Bastian aus dem Antiquariat entwendet, eben nicht »objektiv vorhanden«, weshalb Herr Koreander sein Verschwinden gar nicht bemerken kann : »So ein Buch hab ich nie besessen. Also kannst du mir’s auch nicht gestohlen haben« (UG 425). Es ist im tiefsten Sinne Bastians Buch ; sein Phantásien ; seine Geschichte. Das erklärt auch, warum er auf unübersehbare Weise gleichzeitig Leser und Erzähler der Unendlichen Geschichte ist. Immer wieder begegnet es uns im ersten Teil des Romans, der zwischen Bastians und Atréjus Welt pendelt, daß Bastian auf dem Speicher Dinge sieht und erlebt, die dann plötzlich in anderer und doch ähnlicher Form innerhalb von Mondenkinds Reich wieder auftauchen.297 Was hier geschieht, nennt Michael Ende das schöpferische Verwandeln der Außen- in Innenbilder ;298 und es ist Bastian, der diese Verwandlungen vollzieht. Am deutlichsten wird dies in der Hauptfigur der ersten Romanhälfte selbst, dem tapferen, mutigen, ausdauernden Atréju, der auf die »Große Suche« (UG 43) nach einem Heilmittel für die dahinsiechende Kindliche Kaiserin – und damit für ganz Phantásien – geschickt wird. Welche Gemeinsamkeit könnte es zwischen einem Bastian Balthasar Bux, dem »Versager auf der ganzen Linie« (UG 9), und der heldenhaften Grünhaut geben ? Und doch – als Atréju auf seinem Weg zum Südlichen Orakel jenes Zauber Spiegel Tor durchschreitet, das jedem Wanderer »sein wahres inneres Wesen« zeigt (wobei schon so manche »schreiend vor dem Ungeheuer geflohen sind, das ihnen im Spiegel entgegengrinste« (UG 95)), erlebt er eine gewaltige Überraschung : Indessen, statt eines Schreckbildes sah er etwas, worauf er ganz und gar nicht gefaßt gewesen war und das er auch nicht begreifen konnte. Er sah einen dicken Jungen mit blassem Gesicht – etwa ebenso alt wie er selbst – der mit untergeschlagenen Beinen auf einem Matratzenlager saß und in einem Buch las. Er war in graue, zerrissene Decken gewickelt. Die Augen dieses Jungen waren groß und sahen sehr traurig aus. (UG 99)

Das Zauber Spiegel Tor kann weder lügen noch trügen : Atréjus »wahres Wesen« – ist Bastian ! In ihm hat der Junge auf dem Speicher sein eigenes Innenbild geschaffen, das ihm gerade deshalb entspricht, weil es jene Seiten seines Charakters ergänzt, die er bisher Die Verwüstung der Innenwelt | 169

so wenig unter Beweis gestellt hat. Literarisch ist diese Figur genau das, was Vladimir Nabokov Bastians »Stellvertreter«299 nennen würde ; psychologisch ist sie eine Imagination seines idealen Selbst. Auch wenn dies der Zehnjährige naturgemäß nur dunkel erahnt, wird in der Unendlichen Geschichte immer wieder auf die unauflösliche Verbindung zwischen beiden angespielt : […] Atréju hatte weder Vater noch Mutter. Dafür war Atréju aber von allen Männern und Frauen gemeinsam aufgezogen worden und war »der Sohn aller« [die Bedeutung seines Namens], während er, Bastian, im Grunde gar niemand hatte – ja, er war »der Sohn niemands«. Trotzdem freute Bastian sich darüber, daß er auf diese Weise etwas mit Atréju gemeinsam hatte, denn sonst hatte er ja leider keine große Ähnlichkeit mit ihm, weder was dessen Mut und Entschlossenheit noch was seine Gestalt betraf. Und doch war auch er, Bastian, auf einer Großen Suche, von der er nicht wußte, wohin sie ihn führen und wie sie enden würde. (UG 44)

■ Ist die Zerstörung Phantásiens ein privates Problem Bastians ? Diese radikale Subjektivität Phantásiens führt zu einer Frage, deren Bedeutung für die Interpretation der Unendlichen Geschichte gar nicht überschätzt werden kann. Ist es ganz allein Bastians Innenwelt, die der Verwüstung durch das grassierende Nichts anheimfällt ? Tatsächlich scheint einiges dafür zu sprechen. Daß Bastians miserable Lebenssituation geeignet ist, ihn früher oder später seiner schöpferischen Kraft zu berauben, leuchtet ein ; ohne diese aber kann es auch kein Phantásien mehr geben. In diesem Sinne könnte man im Verlöschen von Mondenkinds Reich einen Hinweis darauf sehen, daß ein radikaler Eskapismus, wie ihn Bastian notgedrungen betreibt, auf Dauer gar nicht funktionieren kann – was übrigens tatsächlich eine der Implikationen der Unendlichen Geschichte ist. Letztlich aber läßt sich jene Frage nur beantworten, indem wir das »Herz […] des unermeßlichen Reiches Phantásien« (UG 34), dessen Krankheit die Vernichtung dieses Reiches nach sich zieht und das zu retten Atréju ausgesandt wurde, genauer in den Blick nehmen. Ist auch dieses rein subjektiv und allein in Bastians Innenwelt zu finden ? Anders gefragt : Wer ist die Kindliche Kaiserin ?

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2. Mondenkind

Ich möchte hier weder Zeit noch Platz damit verschwenden, auf all die Theorien über die Kindliche Kaiserin einzugehen, die in der Sekundärliteratur zur Unendlichen Geschichte kursieren. Allein Kowatsch (110 – 13) sieht in ihr zugleich eine Symbolfigur für das Selbst, die Verkörperung von Phantasie, Poesie und Kunst, das Innenbild der Welt sowie ein archetypisches Mutterbild( !) – wobei ihr offenbar entgeht, daß diese Bestimmungen wohl nicht gänzlich kompatibel sind. Bemerkenswert daran erscheint mir vor allem, daß das Rätsel im Grunde gar keines ist  – zumal in der Unendlichen Geschichte selbst wiederholt darüber gesprochen wird, wer oder was die Kindliche Kaiserin denn sei. »Sie ist kein Geschöpf Phantásiens«, weiß etwa Atréjus treuer Gefährte, der Glücksdrache Fuchur, und fügt hinzu : »Wir alle sind da durch ihr Dasein.«300 Zwar lehnt Fuchur (bzw. Michael Ende) jede weitere Spekulation entschieden ab (»wer es ganz verstehen könnte, der würde […] sein eigenes Dasein auslöschen« (UG 158)), aber das Wesentliche ist damit ohnehin bereits gesagt : Mondenkind ist die Bedingung der Möglichkeit Phantásiens. Allein : Von wessen Phantásien ist hier die Rede ? Ist die Kindliche Kaiserin der Daseinsgrund nur für Bastians Innenwelt, dann ist ihre Krankheit tatsächlich ganz allein sein persönliches Problem. Indes läßt sich dies leicht überprüfen. Welchen Phantásienreisenden außer Bastian kennt die Unendliche Geschichte ? Den griesgrämigen Antiquar Koreander. Und was antwortet Koreander am Ende des Romans auf die Frage, ob auch er »Mondenkind« schon begegnet sei ? »Ja, ich kenne die Kindliche Kaiserin […], allerdings nicht unter diesem Namen. Ich habe sie anders genannt. Aber das spielt keine Rolle.« (UG 426)

Damit erweist sich die Kindliche Kaiserin – nicht etwa als Bedingung der Möglichkeit eines Phantásien schlechthin (das es nicht gibt), sondern – als konstituierendes Element jeder einzelnen, individuellen Innenwelt, ohne ihr aber selbst anzugehören.301 Ebensowenig hat sie Anteil an der konkreten Gestaltung der phantásischen Gefilde (»[s]ie herrschte nicht, sie […] befahl nichts und richtete niemanden, sie griff niemals ein« (UG 34)) ; aber sie ist der Grund Die Verwüstung der Innenwelt | 171

dafür, daß Bastian, Koreander und all die anderen ihr je eigenes Phantásien schöpferisch gestalten können. Michael Ende selbst, der mit mythologischen Bildern und Begriffen stets recht großzügig umging, schreibt über Mondenkind : Die Kindliche Kaiserin ist eine Göttin in Gestalt eines kleinen Mädchens, unnahbar, mitleidlos, wie Göttinnen und Götter nun mal zu sein pflegen […]. Sie, die Kindliche Kaiserin, schickt Bastian auf seine Reise durch [ihr] Reich (auf den Weg der Wünsche) und überläßt ihn seinem Schicksal, auf die Gefahr hin, daß er darin zugrunde geht und nie wieder herausfindet. Sie gibt ihm eine große Chance, aber diese Chance ist zugleich eine tödliche Gefahr. Bastian könnte auch im Wahnsinn enden. Sie würde keinen Finger rühren, um ihn zu retten. Sie meint es ernst, tödlich ernst. So sind die Götter und die Musen nun einmal. 302

Bastians Weg der Wünsche werden wir uns im nächsten Kapitel dieser Untersuchung widmen. Bevor es überhaupt so weit kommt, gilt es einer Bedrohung zu begegnen, die gar nicht zu überschätzen ist. Wenn es nämlich tatsächlich der unverfügbare Grund (um das Wort »Göttin« ins Denken zu übersetzen) alles Schöpferischen ist, 303 der in und mit der Kindlichen Kaiserin dahinsiecht, dann ist nicht allein die Totalität von Bastians Phantásien, dann ist die Totalität aller Phantásien in Gefahr. 3. Die Wechselwirkung

Atréjus Suche nach einem Heilmittel für die Kindliche Kaiserin führt ihn zunächst in die Sümpfe der Traurigkeit zum ältesten Geschöpf Phantásiens, der riesenhaften Sumpfschildkröte Morla. Morla lehnt es erst einmal rundweg ab, ihm weiterzuhelfen, da ohnehin alles sinnlos und das ganze Dasein ein bloßes »Spiel im Nichts« sei. Durch das magische Amulett AURYN vor diesem lähmenden Nihilismus geschützt, läßt Atréju indes nicht locker, worauf sie sich schließlich grummelnd dazu herabläßt, ihr Wissen mit ihm zu teilen : 172 | »Die unendliche Geschichte« 

»Die Kindliche Kaiserin […] braucht einen neuen Namen, immer wieder einen neuen. Kennst du ihren Namen, Kleiner ?« »Nein«, gab Atréju zu, »ich habe ihn noch nie gehört.« »Kannst du auch nicht«, antwortete die Morla. »nicht mal wir [d. h. sie selbst] können uns daran erinnern. Und doch hat sie schon viele gehabt. Sind alle vergessen. […] Braucht nur einen neuen Namen, die Kindliche Kaiserin, dann wird sie wieder gesund. Liegt aber nichts daran, ob sie’s wird.« (UG 60 f.)

Das ist nicht viel mehr als eine erste Spur ; und tatsächlich steht Atréju (und mit ihm Bastian) erst am Anfang seiner Suche. Dennoch wird an dieser Stelle bereits etwas sehr Wesentliches gesagt : Das Einzige, das die Kaiserin und damit ganz Phantásien retten kann, ist ein schöpferischer Akt. Tatsächlich bedeutet ein Name hier unendlich viel mehr als eine bloße Objektbezeichnung. »Nur der richtige Name gibt allen Wesen und Dingen ihre Wirklichkeit« (UG 170), wird es die Kindliche Kaiserin später auf den Punkt bringen (und damit wie üblich sowohl Atréju als auch Bastian überfordern). Einen neuen Namen zu geben heißt in diesem Kontext – wie wir noch sehen werden – das Benannte schöpferisch zu verwandeln und dadurch in seiner Wirklichkeit zu bewahren. Aber wer vermag das ? Nicht einmal Morla weiß die Antwort. So zieht Atréju weiter, bis er durch die Drei Magischen Tore (UG 87 – 102) ins Südliche Orakel des körperlosen Tonwesens Uyulála (»diese Stimme selber schon / ist mein ganzes Sein« (UG 107)) gelangt, das ihn mit der erschütternden Wahrheit konfrontiert : Niemand unter der Sonne Phantásiens besitzt die schöpferische Kraft, um der Kindlichen Kaiserin zu helfen ! Denn : »[…] Wir sind nur Figuren in einem Buch, und vollziehen, wozu wir erfunden. Nur Träume und Bilder in einer Geschicht’, so müssen wir sein, wie wir sind, und Neues erschaffen – wir können es nicht, kein Weiser, kein König, kein Kind. Doch jenseits Phantásiens gibt es ein Reich, das heißt die Äußere Welt, und die dort wohnen – ja, sie sind reich, um sie ist es anders bestellt ! Die Verwüstung der Innenwelt | 173

Die Adamssöhne, so nennt man mit Recht die Bewohner des irdischen Ortes, die Evastöchter, das Menschengeschlecht, Blutsbrüder des Wirklichen Wortes. Sie alle haben seit Anbeginn die Gabe, Namen zu geben. 304 Sie brachten der Kindlichen Kaiserin zu allen Zeiten das Leben. Sie schenkten ihr neue und herrliche Namen, doch ist es schon lange her, daß Menschen zu uns nach Phantásien kamen. Sie wissen den Weg nicht mehr. Sie haben vergessen, wie wirklich wir sind […].«305

Hier zeigt sich zum ersten Mal die ganze Tiefe von Endes Roman. Bis jetzt konnte man – zumindest als sehr oberflächlicher Leser – die Unendliche Geschichte noch als Fantasy mißverstehen. Tatsächlich wirkt Atréjus Reise bis zu diesem Zeitpunkt noch fast wie eine klassische Queste (wie es Fantasyjargon heißt), die sich nicht wesentlich von der eines Bilbo oder Frodo Beutlin (Der Hobbit ; Der Herr der Ringe) zu unterscheiden scheint. Nun aber werden die Grenzen Phantásiens unwiderruflich überschritten. Weder Weiser noch König noch Kind, welche das Reich der Kaiserin bevölkern, vermögen schöpferisch tätig zu werden – natürlich nicht, denn sie sind ja allesamt »Figuren in einem Buch« ! Als Gestalten der Innenwelt sind sie zwar, wie die Uyulála betont, in höchstem Maße wirklich ;306 wie aber könnten sie Neues erschaffen ? Ihre Welt aus Freiheit heraus selbst mitgestalten ? »[S]o müssen wir sein, wie wir sind« – genau so, wie sie ihr Schöpfer (d. h. letztlich Michael Ende) gezeichnet hat. Aber trifft das nicht ebenso auf Bastian zu ? Selbstverständlich ! Genau das ist die subtilste Pointe der Unendlichen Geschichte : Wie Koreander und sein eigener Vater ist Bastian Balthasar Bux ein Phantásier, der einen Menschen darstellt – und zwar so überzeugend, daß der Leser geneigt ist zu glauben, der »äußere« Strang der Handlung ereigne sich tatsächlich in der »Menschenwelt«. Diese Illusion ist von Michael Ende zweifellos beabsichtigt, 307 dem es damit gelingt, den Leser seines Romans unmittelbar in das dramatische 174 | »Die unendliche Geschichte« 

Geschehen einzubeziehen. Dieser ist es nämlich, an den sich die Worte der Uyulála in Wahrheit richten ; dieser ist es, der im Gegensatz zur literarischen Figur Bastian Balthasar Bux tatsächlich schöpferisch tätig werden kann. So weit sind wir allerdings noch nicht ; vorläufig wollen wir dabei bleiben, Bastian als einen Menschen zu betrachten, dem die Worte der Uyulála zu denken geben. In ihrem Orakelspruch wird zum ersten Mal das Gegenstück zum Reich der Kindlichen Kaiserin genannt : die Äußere Welt, welche wir mit Gmork als Menschenwelt bezeichnet haben (UG 140). Das ist freilich insofern etwas mißverständlich, als die »Evastöchter« und »Adamssöhne« ja durchaus in beiden Welten zu Hause sind. Genau das ist indes der springende Punkt : Indem sich die Menschen auf die Wirklichkeit ihres jeweiligen Phantásien nicht mehr einlassen, beschränken sie sich selbst auf ihre empirische »Realität«  – was ihrem Wesen nicht gerecht wird und zur Verheerung des Reiches der Kindlichen Kaiserin führt. Nun ist dies allerdings ein Vorwurf, den man gerade Bastian, dem die Äußere Welt gänzlich fremd und ungastlich und der tatsächlich nur in seinem Phantásien heimisch ist, nicht machen kann. Seine Innenwelt müßte eigentlich kerngesund sein, zumal er dort unablässig – und mit größter Begeisterung – schöpferisch tätig ist. Dennoch siecht auch in seinem Phantásien die Kindliche Kaiserin dahin ; dennoch wird auch seine Innenwelt vom Nichts verzehrt. Dieser Mißstand muß  – wie wir auch den Worten der Uyulála entnehmen können – etwas mit der Äußeren Welt zu tun haben. In einem Brief an eine Leserin beschreibt Michael Ende jene »Grenzüberschreitung« zwischen beiden Welten, welche in den Worten der Uyulála zum ersten Mal angedeutet wird, wie sie eigentlich sein sollte : Was mich dazu bewegt, [Geschichten im Phantastischen anzusiedeln,] ist nichts anderes als das, was unser Unterbewußtsein dazu bewegt, innerseelische Vorgänge in Traumbildern auszudrücken. Da für mich Poesie und Kunst überhaupt in nichts anderem besteht, als Außenbilder in Innenbilder und Innenbilder in Außenbilder zu verwandeln (wie es im übrigen in allen Kulturen üblich war), liegt diese Form des Ausdrucks nahe. Nach meiner Ansicht wird Die Verwüstung der Innenwelt | 175

die Welt nur durch diese »Poetisierung« (Novalis) für den Menschen bewohnbar. Damit will ich sagen, nur wenn der Mensch sich in der ihn umgebenden Welt wiedererkennt, und umgekehrt, wenn er die Bilder der Welt in seiner eigenen Seele wiederfindet, kann er sich auf der Welt heimisch fühlen. Genau darin liegt das Wesen jeder Kultur. 308

Vordergründig ist das »nur« eine Reflexion über Endes eigene künstlerische Tätigkeit, die jedoch stark an Bedeutung gewinnt, sobald wir uns vergegenwärtigen, daß für ihn jeder Mensch auf seine spezifische Weise »Künstler« ist.309 Was es heißt, »Außenbilder in Innenbilder zu verwandeln«, wissen wir : Es ist genau das, was Bastian vollbringt, wenn er sich von jenen Gegenständen, die ihn auf dem Dachboden der Schule umgeben, zu phantásischen Bildern inspirieren läßt (UG 94 f.). Der umgekehrte Vorgang aber ist uns bis jetzt in der Unendlichen Geschichte noch nicht begegnet. Ende hat hier offenbar die praktische Tätigkeit des schöpferischen Menschen (d. h. des Menschen schlechthin) im Blick : etwa des Bildhauers, der eine Statue aus dem Marmorblock meißelt, des Malers, der ein Fresko vollendet – oder Bastians, wenn er seine Geschichten seiner einzigen gelegentlichen Zuhörerin, einem kleinen Mädchen namens Christa (oder Kris Ta, wie ihr Name auf phantásisch lautet (UG 258)), erzählt. Jede dieser Handlungen, die in Freiheit aus dem jeweiligen Phantásien heraus gesetzt werden, verändert das Antlitz der »Menschenwelt« und gestaltet sie schöpferisch mit, wodurch wiederum neue Außenbilder entstehen. Im Gauklermärchen heißt es in diesem Sinne : Du meinst, daß Phantasie nicht wirklich sei ? Aus ihr allein erwachsen künftige Welten : In dem, was wir erschaffen, sind wir frei. (GM 93)

Hier treffen wir auf eine zweite Bedeutung des Wortes wirklich, das Ende dem Reich der Kindlichen Kaiserin mit solcher Entschiedenheit zuschreibt : Wirklich ist, was in die jeweils andere Welt hinein zu wirken vermag. Was auf diese Weise skizziert wird, ist eine Art »Stoffwechsel« zwischen Innen und Außen, ein beständiger Austausch zwischen geistiger und materieller Welt, welchen jeder Künstler (das heißt bei Ende : jeder schlechthin) gewährleistet. 176 | »Die unendliche Geschichte« 

­ amit aber wird auf praktische Weise genau das erreicht, was bisD her vergeblich gesucht wurde : eine Vermittlung zwischen beiden.310 Soviel zum Idealzustand – den Ende indes in der Unendlichen Geschichte offensichtlich nicht beschreibt. Warum nicht ? In jener Passage von Phantasie/Kultur/Politik, wo er über den Entstehungsprozeß von Momo spricht, dabei aber unverkennbar beide Romane meint, betont er : Mir ging es […] darum, die äußeren Bilder unserer Welt in Innenbilder zu verwandeln. Ich wollte eigentlich nichts anderes tun, als was der mittelalterliche Märchenerzähler auch getan hat : Der Wald, der König, die Hexe, der Wolf waren Bilder seiner realen Umwelt. Durch einen Akt poetischer Alchemie hat er sie in innere Bilder verwandelt, die Seelisch-Geistiges ausdrücken. Damit wird die Welt eigentlich erst wirklich erfahrbar. Innen und Außen fallen in eins zusammen. […] Bei diesem Vorgang offenbaren die Dinge sozusagen ganz von selbst ihren Wert oder Unwert. Ein Schwert beispielsweise läßt sich ohne weiteres in ein Innenbild verwandeln – aber versucht mal das gleiche mit einer Maschinenpistole zu machen ! Ihr könnt den Erzengel Michael eben nicht mit einer Maschinenpistole ausstatten – obwohl sie ja ebenso eine Waffe ist wie ein Schwert. Oder denkt an das Telefon – was für ein Innenbild gibt das ? Wir leben im Grunde mit lauter Dingen, die wir zwar selbst geschaffen haben, für die es aber keine Entsprechung in unserem Inneren gibt. Das heißt : Unsere Welt bleibt uns im Grunde völlig fremd. Solange das der Fall ist, wird es auch keine Kultur mehr geben. 311

Das ist nicht allein deshalb aufschlußreich, weil es zeigt, wie sehr Ende auch in der Unendlichen Geschichte seinem Leitsatz »Das, was dich hindert Kunst zu machen, / mache zum Thema deiner Kunst« (NG 137) treu geblieben ist. Selbstverständlich geht es ihm hier weder um die Ablehnung des technischen Fortschritts als solchen noch um plumpe Mittelalter-Nostalgie (was beides nicht ernstzunehmen wäre), sondern um die zunehmende Funktionalisierung unserer Lebenswelt, die uns im wahrsten Sinne über den Kopf wächst, da wir sie seelisch nicht mehr nachvollziehen können. Das Innenbild eines Schwertes ist ein phantásisches Zauberschwert wie später Bastians Sikánda (UEG 222 f.) ; das Innenbild einer MaDie Verwüstung der Innenwelt | 177

schinenpistole hingegen – ist Nichts ! Mit dem, was diese »Äußere Welt« gleichsam an Bildern liefert, vermag das schöpferische Ich des Einzelnen nichts mehr anzufangen, weil sie ihm schlicht nicht mehr entsprechen : Sie bleiben – im Endeschen Sinne des Wortes – unwirklich. Das Ergebnis ist ein Phantásien in Auflösung. Diese »Äußere Welt«  – welche ist das ? Obwohl es im Roman nicht zur Sprache kommt, können wir davon ausgehen, daß Bastian (hier übrigens wiederum Michael Endes »Stellvertreter«312) genau wie Momo und letztlich wie wir alle in jener »großen Stadt« (MO 10) lebt, in der es vor Grauen Herren nur so wimmelt. Die kapitalistische Gesellschaftsform, die in der Unendlichen Geschichte ganz im Gegensatz zu Momo nie ausdrücklich zum Thema wird, bleibt so doch ständig im Hintergrund präsent.313 Nicht allein, daß sie die Menschen durch äußere Fesseln (d. h. im Kapitalismus : erst sozialer Druck, dann ökonomischer Zwang, schließlich physische Gewalt) daran hindert, »Innenbilder in Außenbilder zu verwandeln« – sie können es auch gar nicht mehr, weil schon in ihrer Innenwelt die Wüste wächst und wächst. Aus einer »Menschenwelt« nämlich, die sich auf dem Wege zur kalten Effektivität von Norm befindet, lassen sich schlicht keine Innenbilder mehr schöpfen, die wiederum in Freiheit nach außen gesetzt werden und so ihrerseits die empirische Realität bereichern könnten. Was stattdessen geschieht, erfährt Atréju ausgerechnet von seinem schlimmsten Feind, dem Werwolf Gmork, der (von den Grauen Herren ?) ausgesandt wurde, um ihn zu töten und so die Rettung Phantásiens zu verhindern. 314 Jedes phantásische Wesen, das vom Nichts verschlungen wird – so Gmork – , gelangt in die »Äußere Welt« ; aber nicht als es selbst : »[…] [W]enn ihr da hineingeraten seid, dann haftet es an euch, das Nichts. Ihr seid wie eine ansteckende Krankheit, durch die die Menschen blind werden, so daß sie Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Weißt du, wie man euch dort nennt ?« »Nein«, flüsterte Atréju. »Lügen !« bellte Gmork. Atréju schüttelte den Kopf. Alles Blut war von seinen Lippen gewichen. »Wie kann das sein ?« 178 | »Die unendliche Geschichte« 

Gmork weidete sich an Atréjus Schrecken. Die Unterhaltung belebte ihn sichtlich. Nach einer kleinen Weile fuhr er fort : »[…] Was seid ihr denn, ihr Wesen Phantásiens ? Traumbilder seid ihr, Erfindungen im Reich der Poesie, Figuren in einer unendlichen Geschichte ! Hältst du dich selbst für Wirklichkeit, Söhnchen ? Nun gut, hier in deiner Welt bist du’s. Aber wenn du durch das Nichts gehst, dann bist du’s nicht mehr. Dann bist du unkenntlich geworden. Dann bist du in einer anderen Welt. Dort habt ihr keine Ähnlichkeit mehr mit euch selbst. Illusion und Verblendung tragt ihr in die Menschenwelt. […] Vielleicht wird man mit deiner Hilfe Menschen dazu bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen, oder zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht, oder zu bezweifeln, was sie erretten könnte. Mit euch, kleiner Phantásier, werden in der Menschenwelt große Geschäfte gemacht, werden Kriege entfesselt, werden Weltreiche begründet …«315

Jetzt wissen wir also, woher die Grauen Herren ihren schier unerschöpflichen Vorrat an Lügen beziehen. Was Gmork hier zynisch zur Sprache bringt, ist etwas sehr Bedenkenswertes : Jeder bewußt in die Welt gesetzten Un- und Halbwahrheit, Illusion und Irreführung liegt zweifelsfrei ein schöpferischer Akt zugrunde, welcher aber nicht dazu verwendet wurde, die Welt lebenswerter zu gestalten, sondern um sich persönliche (empirische) Vorteile zu erschleichen. Wieviel Kreativität wird in der Werbeindustrie kapitalistischer Gesellschaften dafür eingesetzt, »Menschen dazu [zu] bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen« !316 Wieviel schöpferische Kraft fließt jeden Tag in politische Propaganda, die sie dazu aufstachelt, »zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht« ! »Deshalb hassen und fürchten die Menschen Phantásien und alles, was von hier kommt. Sie wollen es vernichten. Und sie wissen nicht, daß sie gerade damit die Flut von Lügen vermehren, die sich ununterbrochen in die Menschenwelt ergießt – diesen Strom aus unkenntlich gewordenen Wesen Phantásiens, die dort das Scheindasein lebender Leichname führen müssen und die Seelen der Menschen mit ihrem Modergeruch vergiften. Sie wissen es nicht. Ist das nicht lustig ?« (UG 143) Die Verwüstung der Innenwelt | 179

An die Stelle des fruchtbaren Kreislaufs zwischen Innen und Außen ist also ein wahrer »Teufelskreis« (UG 144) getreten, der letztlich beide Welten zu vernichten droht  – wenn er nicht unterbrochen wird. Aber wodurch ? Nehmen wir jenen »Stoffwechsel« zwischen dem Reich der Kindlichen Kaiserin und der Menschenwelt, welcher im Denken Michael Endes eine so wichtige Rolle spielt, genauer in den Blick, so lassen sich darin zwei gestaltende Kräfte ausmachen. Die erste ist natürlich das Schöpferische Ich des Menschen selbst, welches »durch einen Akt poetischer Alchemie«317 Außen- in Innenbilder verwandelt und diese dann wiederum in Freiheit nach außen setzt. Die zweite bildet (was Ende nirgendwo direkt sagt, sich aber leicht erschließen läßt) die materielle Welt in der Kausalität ihrer physikalischen Prozesse. Zwar »setzt [der Mensch] die Ursachen« (Ende318), sobald er schöpferisch tätig wird, allein : Was sich aus diesen Ursachen heraus entwickelt, liegt nicht in seiner Hand – zumal ihm buchstäblich unablässiges kreatives Schaffen rein praktisch gar nicht möglich ist. Zu dieser zeitlichen Einschränkung tritt eine räumliche : Ungeachtet ihrer Bezeichnung ist die Menschenwelt tatsächlich niemals bloß unser eigenes Werk, sondern zum guten Teil Natur, welche am Panoptikum der Außenbilder immer schon »mitarbeitet«. Diese werden also auch von jener strikten Kausalität bestimmt, welche für Ende die äußere Welt an sich (d. h. ohne Interventionen durch das Schöpferische Ich) kennzeichnet.319 Wäre nun jene offensichtliche Störung der Harmonie zwischen Phantásien und Äußerer Welt, welche uns die erste Hälfte der Unendlichen Geschichte so drastisch vor Augen führt, in der Konstitution der materiellen Sphäre begründet, so wären wir gegen sie letztlich machtlos. Wir können zwar immer wieder schöpferisch in unsere »Menschenwelt« eingreifen, aber wir vermögen weder die Kausalität als solche auszuhebeln noch die Natur je vollständig zu kontrollieren – einfach deshalb nicht, weil wir endliche, fehlbare Wesen sind und bleiben werden. (Abgesehen davon würde sich die knifflige ethische Frage stellen, ob wir überhaupt danach trachten sollten, eine Entwicklung aufzuhalten, welche in der Natur der Dinge angelegt ist.) Uns bliebe lediglich die vage Hoffnung, daß Marx doch recht haben könnte – daß also jener gesetzmäßige Prozeß, der uns in die kalte Funktionalität des Kapitalismus geführt 180 | »Die unendliche Geschichte« 

hat, letzten Endes in eine (menschen)gerechte Gesellschaft umschlagen muß und wird. Es bleibt uns also nur übrig, den Ansatz zur Vernichtung und Rettung Phantásiens gleichermaßen beim Schöpferischen Ich des Menschen zu suchen, 320 welches – den Anteil der Naturkräfte abgerechnet – selbst für die Gestaltung beider Welten verantwortlich ist. Wie sich schon in Momo gezeigt hat, ist es der Einzelne in seiner Freiheit, welcher der kapitalistischen Ideologie, die letztlich Außen und Innen verheert, die Türe öffnet. Natürlich nicht zwingend jeder Einzelne : Gerade der zehnjährige Bastian kann zweifellos sehr wenig für jene Kälte, die ihm überall in der Menschenwelt entgegenweht ! Dennoch ist es auch und gerade seine Aufgabe, beide Reiche zu heilen : »Die Rettung liegt bei den Menschenkindern«, wie die Kaiserin nochmals unmißverständlich betont. 321 Doch die Zeit drängt. Solange es überhaupt noch möglich ist, sollen Innen und Außen von Phantásien her gleichsam neu aufgebaut werden : »Es gibt Menschen, die können nie nach Phantásien kommen«, sagte Herr Koreander, »und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantásien und kehren wieder zurück. […] Und die machen beide Welten gesund.« (UG 426)

Soweit sind wir freilich noch lange nicht ; zunächst muß Bastian tatsächlich in Die unendliche Geschichte »hineingeraten«, 322 indem er der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen gibt. Was bedeutet das in diesem Kontext ? Ich möchte es so ausdrücken : Es geht darum, Phantásien auf neue Fundamente zu stellen. Die Relation zur Kindlichen Kaiserin ist – wie wir gesehen haben – die Relation zur Grundlage des Schöpferischen selbst. Ihr einen »Namen zu geben« setzt daher in der Unendlichen Geschichte eine Reflexion des Schöpferischen Ich auf seinen eigenen Grund – und damit auf sein eigenes Wesen – in Gang, die deshalb so dringend notwendig ist, weil dieses Schöpferische Ich sich selbst und seine Bestimmung offenbar fundamental mißversteht.323 Wie sonst hätte jene Disharmonie zwischen beiden »Reichen« entstehen können ? Vor allem gilt es eine Frage zu klären, deren Bedeutung – wie uns die Ausführungen Gmorks drastisch vor Augen führen – gar nicht überschätzt werden kann : Wozu ist das Ich schöpferisch ? Von dieser theoretischen Die Verwüstung der Innenwelt | 181

Basis aus soll dann auch die Äußere Welt in einer Weise gestaltet werden, welche dem Wesen des Schöpferischen wieder entspricht (was Bastian selbstverständlich nicht allein bewältigen kann). Wenn er also, nachdem er sich, die Kaiserin und ganz Phantásien lange Zeit mit ängstlichem Zögern gequält hat, schließlich ausruft : »Mondenkind ! Ich komme !« (UG 190)

– so ist damit seine Aufgabe noch lange nicht erfüllt, im Gegenteil : Sie hat gerade erst begonnen. D. Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux Die längste Reise ist die Reise nach innen. – Dag Hammarskjöld –

1. Die Erschaffung Phantásiens

Als Bastian nach Phantásien gelangt, ist er ein schüchterner, dicklicher Junge, auf kindliche Weise in Mondenkind verliebt und ganz bezaubert von ihrer sanften, melodischen Stimme. Nicht lange danach finden wir ihn als grausamen Gewaltherrscher wieder, der sein Reich in verheerende Schlachten stürzt. Und am Ende wird er nackt sein, ein »Junge ohne Namen« (UG 414), dem nichts geblieben ist als die verzweifelte Hoffnung, daß jemand für ihn einsteht. Doch diese erstaunliche Reihe von Metamorphosen, welche die Unendliche Geschichte in die Nähe eines Entwicklungsromans rückt, ist bei weitem nicht alles, was der zweite Teil des Werkes zu bieten hat. Was uns hier vor Augen geführt wird, ist nicht weniger als die Erschaffung einer Welt ; denn jede von Bastians Verwandlungen bringt ein neues Stück Phantásien hervor. Von der wild wuchernden Pracht des Nachtwaldes Perelín bis zur Schneewüste des blinden Bergmanns Yor : Wohin er seine Schritte auch lenkt, ist Bastian Entdecker und Schöpfer zugleich. Immer wieder sind wir im Laufe dieser Untersuchung auf Endes Überzeugung gestoßen, »das Schöpferische [sei] einfach schlechthin das Menschliche« ;324 doch erst hier, im zweiten Teil der Unendlichen Geschichte, finden wir es rein und gleichsam unbedrängt am Werk. Wo, wenn nicht 182 | »Die unendliche Geschichte« 

hier, sollen wir diesen Wesenskern des Menschen bei Michael Ende genauer in den Blick nehmen ? Schon im zweiten Teil dieser Arbeit wurde der Ansatz gewählt, Endes bedeutendste philosophische Einflüsse in gewissem Maße miteinzubeziehen, um auf diese Weise das Eigene seines Denkens umso deutlicher herauszustellen. Ähnliches soll auch hier wieder unternommen werden. War es dort der durch Brecht vermittelte Marxismus, der bei der Analyse von Momo nicht gänzlich übergangen werden sollte, so ist es hier vor allem das Denken Friedrich Nietzsches, dem der Verfasser der Unendlichen Geschichte wichtige Impulse verdankt. Die Wege, auf denen dieses Denken zu Michael Ende gelangte, mögen gewunden und sogar obskur sein 325 – daß es ihn nicht nur erreichte, sondern auch intensiv beschäftigte, erscheint mir unbestreitbar. Gerade Endes eigene Reflexionen über Inhalt und Wesen seines Romans sprechen hier eine deutliche Sprache : Das ist nämlich die Geschichte eines Jungen, der seine Innenwelt, also seine mythische Welt, verliert in dieser einen Nacht der Krise, einer Lebenskrise, sie löst sich in Nichts auf, und er muß hineinspringen in dieses Nichts, das müssen wir Europäer nämlich auch tun. Wir haben […] den Nullpunkt erreicht. Es ist uns gelungen, alle Werte aufzulösen. Und nun müssen wir hineinspringen, und nur indem wir den Mut haben, dort hineinzuspringen in dieses Nichts, können wir die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wieder erwecken und ein neues Phantásien, das heißt eine neue Wertewelt aufbauen. 326

Das ist kein Einzelfall : Viele der Bemerkungen des Autors zur Unendlichen Geschichte bewegen sich hart am Rande zur NietzscheParaphrase.327 Der europäische Nihilismus, dem es »gelungen« ist, »alle Werte aufzulösen« ; die Notwendigkeit, eine »neue Wertewelt« auf den Trümmern der überkommenen zu erbauen – es sind wahrlich zentrale Themen, die Ende mit dem vielleicht größten deutschen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts328 teilt. Vor allem aber ist es gerade das Leitmotiv der Unendlichen Geschichte, bei dem Ende fraglos vom Denken Nietzsches zehrt : jene »innersten schöpferischen Kräfte«, denen es allein gegeben ist, Phantásien von Grund auf neu zu errichten. Ehe wir uns mit Bastian in das Reich Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 183

der Kindlichen Kaiserin aufmachen, sind wir daher gut beraten, einen Blick auf den Begriff des Schöpferischen bei Nietzsche zu werfen. Wie denkt er diese »eigentliche Kraft des Menschen« ?329 ■ Vor dem Aufbruch : Kurzer Exkurs zu Nietzsche Die herausragende Stellung, welche das Schöpferische bei Nietzsche einnimmt, beruht auf seiner tiefen Skepsis dem Denken gegenüber, dessen Idealität das »stete Im-Werden-Sein« der empirischen Welt (Kierkegaard 330) niemals adäquat zu fassen scheint. Das Problem selbst ist keineswegs neu. Nietzsche resümiert : Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaßen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum ; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. 331

Von dieser Erkenntnis ausgehend, vollzieht Nietzsche einen radikalen Bruch mit beinahe jeder philosophischen Tradition : Er lehnt das Denken als Fundierungsinstanz schlichtweg ab. Die Folgen sind dramatisch. Daß »[u]nsere Welt als Schein [und] Irrthum«332 entlarvt wird, würde wohl auch ein hartgesottener Idealist noch begrüßen ; den Betrug aber gerade im Denken auszumachen, dem die Sinne völlig richtig nichts als das reine »Werden, das Vergehen, den Wechsel zeigen«, 333 rüttelt entschieden an den Grundfesten sämtlicher metaphysischer Gebäude, die vor Nietzsche errichtet wuden. Dabei könnte man es nun belassen und sich in das bequeme Schneckenhaus universaler Skepsis zurückziehen. Nietzsche denkt nicht daran : »[A]ber wie ist Schein und Irrhtum möglich ?«334 Anders gefragt : Wenn alles bloßes Werden ist und als solches gänzlich unzugänglich, wie können dann Chimären von Einheit, Identität, Dauer und dergleichen in unserem Denken auftauchen ? Wie kommt überhaupt Erkenntnis zustande, und sei sie noch so unzulänglich ? Die Antwort liegt für Nietzsche auf der Hand : »Eine Art Werden muß die Täuschung des Seienden schaffen.«335 Und zwar als eine Kraft, die vorerst nur dem Lebendigen zugeschrieben wird : 184 | »Die unendliche Geschichte« 

Das Ganze der organischen Welt ist die Aufeinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich […]. Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten[,] Erfinden[,] Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit […]. 336

Dieses »Schöpferische in jedem organischen Wesen«337 ist indes nicht allein der wahre Grund aller Erkenntnis ; es ist der Grund der Dinge schlechthin. Konsequent gedacht, können nämlich jene »Wesen«, wie alles andere im unentwirrbaren Werden verstrickt, selbst wiederum nur Fiktionen sein. Was übrig bleibt, ist allein der Akt des schöpferischen Wahrnehmens an sich, der Wille, eine bestimmte Welt aus sich heraus zu setzen. Das klingt harmloser, als es ist. Für Nietzsche bedeutet es ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. 338

So versucht jeder einzelne Wille jene Perspektive, die er ist, gegen alle anderen durchzusetzen : Er ist Wille zur Macht. Als solcher vermag er auch die Grenze zwischen lebendigen Wesen und toter Materie, die im Angesicht des gestaltlosen Werdens ohnehin kaum mehr zu begründen ist, endgültig aufzuheben. Folgerichtig stellt Nietzsche fest, daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt führt, oder vielmehr, daß es keine unorganische Welt giebt. 339

Selbstverständlich ist damit nicht gemeint, daß sich die biologische Sphäre als solche auch auf scheinbar unbelebte Gegenstände erstreckt. Leben waltet deshalb in allen Dingen, weil in allen der Wille zur Macht pulsiert, der ihr tiefstes, eigentliches und einziges Wesen bildet. So kann uns Nietzsche am Ende zurufen : Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem !340

■ Wille und Wunsch »Phantásien wird aus deinen Wünschen neu entstehen, mein Bastian. Durch mich werden sie Wirklichkeit« (UG 194). Dies sind beinah die ersten Worte, die Bastian nach seiner Ankunft im InDer Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 185

neren der Unendlichen Geschichte vernimmt. Die unendliche Geschichte – das ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Gefühl des Schwebens in »samtene[m], warme[m] Dunkel« und Mondenkinds »vogelzarte« Stimme, die Bastian Zuversicht und Geborgenheit gibt (UG 193). Ihr Reich aber ist spurlos verschwunden. Ist es am Ende doch dem verheerenden Nichts zum Opfer gefallen ? Aber selbst dieses ist verschwunden ! In der Mitte des Romans beginnt die Geschichte nochmals gänzlich von neuem, und es ist Bastian, der sie zu schreiben hat. Es fällt ihm nicht leicht, das zu begreifen : »Wo sind die anderen alle ? Wo ist Atréju […] ? Und der Alte vom Wandernden Berge und sein Buch ? Gibt es sie nicht mehr ?« (UG 194) Aber zum alten Phantásien führt kein Weg zurück. Das Reich der Kindlichen Kaiserin zu retten bedeutet – wie Bastian schlagartig klar wird – es neu zu erschaffen. Die Anrufung Mondenkinds war in Wahrheit nur der Anfang seiner Aufgabe. Die völlige, buchstäblich grenzenlose Freiheit, die Bastian bei der Erfüllung dieser Aufgabe gewährt wird, ist geradezu beängstigend (weshalb ihm vorderhand überhaupt kein Wunsch einfallen will). Dazu kommt, daß er dabei ganz auf sich allein gestellt ist.341 Denn Mondenkinds Gegenwart ist nicht von Dauer : Sobald sie ihn auf seinen Weg der Wünsche gebracht hat, ist sie mit einem Wimpernschlag verschwunden. Während er so dasaß und zu verstehen versuchte, was Mondenkind veranlaßt haben mochte, ihn ohne Erklärung und ohne Abschiedswort zu verlassen, spielten seine Finger mit einem goldenen Amulett, das an einer Kette um seinen Hals hing. Er betrachtete es und stieß einen Laut der Überraschung aus. Es war AURYN, das Kleinod, der Glanz, das Zeichen der Kindlichen Kaiserin, das seinen Träger zu ihrem Stellvertreter machte ! Mondenkind hatte ihm ihre Macht über alle Wesen und Dinge Phantásiens hinterlassen. Und solange er dieses Zeichen trug, würde es sein, als wäre sie bei ihm. Bastian blickte lange die beiden Schlangen an, die helle und die dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Dann drehte er das Medaillon um und fand zu seiner Verwunderung auf der Rückseite eine Inschrift. Es waren vier Worte in eigenartig verschlungenen Buchstaben : 186 | »Die unendliche Geschichte« 

Was

Tu Willst

Du

Davon war bisher in der Unendlichen Geschichte nie die Rede gewesen. Hatte Atréju diese Inschrift nicht bemerkt ?342 Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war allein, daß die Worte die Erlaubnis, nein, geradezu die Aufforderung ausdrückten, alles zu tun, wozu er Lust hatte. (UG 199)

Wir wollen Bastians leichtfertige Deutung (die im übrigen schlicht altersadäquat ist) hier nicht weiter verfolgen, zumal er ohnehin bald eines Besseren belehrt wird. Schon der erste Gefährte seines phantásischen Abenteuers, der grimmige Löwe Graógramán, rückt die Dinge mit Nachdruck zurecht : Graógramáns Gesicht sah plötzlich erschreckend ernst aus, und seine Augen begannen zu glühen. »Nein«, sagte er mit […] tiefe[r], grollende[r] Stimme, »[das] heißt, daß du deinen Wahren Willen tun sollst. Und nichts ist schwerer.« »Meinen Wahren Willen ?« wiederholte Bastian beeindruckt. »Was ist denn das ?« »Es ist dein eigenes tiefstes Geheimnis, das du nicht kennst.« »Wie kann ich es denn herausfinden ?« »Indem du den Weg der Wünsche gehst, von einem zum andern und bis zum letzten. Der wird dich zu deinem Wahren Willen führen.« »Das kommt mir eigentlich nicht so schwer vor«, meinte Bastian. »Es ist von allen Wegen der gefährlichste«, sagte der Löwe. (UG 228)

Damit sind gewisssermaßen die »Spielregeln« für den zweiten Teil des Romans festgelegt. Fassen wir kurz zusammen :

① Bastian wird ermächtigt, Phantásien aus dem Nichts neu zu er-

schaffen. ② Die Quelle dieser Macht ist die Kindliche Kaiserin. Dies verdient umso entschiedener festgehalten zu werden, als es Bastian bald ganz und gar vergißt. Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 187

③ Um seine Aufgabe zu erfüllen, braucht er lediglich dem Weg sei-

ner Wünsche zu folgen. Dies birgt jedoch Gefahr, denn : ④ Wer auf diesem Weg seinen Wahren Willen verfehlt, scheitert. Die Folgen sind unabsehbar. Oberflächlich betrachtet, könnte diese Konstellation den Eindruck erwecken, das Thema der Unendlichen Geschichte würde hier mit der Erschaffung Phantásiens und der Suche nach dem Wahren Willen in zwei grundverschiedene Motive zerfallen. Tatsächlich aber sind beide durch Bastians Wünsche verbunden, die seinem Willen entspringen, um in ihrer Gesamtheit eine neue »Innenwelt« zu errichten. Im Grunde ist es also Bastians Wille selbst, der auf diese Weise aus sich heraus schöpferisch tätig wird. Nur deshalb kann Bastian diesem Willen auf dem Weg der Wünsche überhaupt auf die Spur kommen, der im besten Falle gleichsam – und buchstäblich 343  – zum Quell zurückführt : Jener »letzte Wunsch«, der auf seinen Wahren Willen weist, ist in anderer Hinsicht der erste und ursprünglichste. Bastians Wünsche entspringen also nicht nur seinem Willen ; sie interpretieren ihn auch. Wenn Bastian wünschend versucht, seinem Wahren Willen näher zu kommen, so setzt dies ein reflexives Element in seinem Wünschen voraus. Mit anderen Worten : Er wünscht immer schon denkend und aus einer bestimmten Interpretation dessen heraus, was er eigentlich und im Grunde will. Ohne diese reflexive Ebene könnte gar keine Rede davon sein, den Wahren Willen zu finden – oder auch zu verfehlen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der zehnjährige Bastian angehalten ist, eine philosophische Bestimmung seines Willens vorzunehmen. »Tu was du willst«, steht auf AURYN geschrieben, und nicht etwa : »Ergründe deinen Wahren Willen durch Denken allein«. Tatsächlich gibt es für Bastian zum Weg der Wünsche keine Alternative : Als er eine Zeit lang versucht, sich des Wünschens zu enthalten, reagiert Phantásien geradezu feindselig, indem es ihn immer wieder an ein und denselben Ort zurückführt (UG 289 – 293). Was hingegen Michael Ende betrifft, so können wir sehr wohl davon ausgehen, daß ihm philosophische Reflexionen über den Willen an sich nicht gänzlich fremd sind. Insofern ist das Terrain, auf 188 | »Die unendliche Geschichte« 

dem Bastian seinen Wahren Willen sucht, durch Endes Begriff des Willens bereits abgesteckt ; und insofern können wir hoffen, daß der Weg der Wünsche Bastian nicht nur zu seinem wahren Willen führt. Was wissen wir bis jetzt über jenen Begriff ? Daß der Wille identisch ist mit jener »eigentliche[n] Kraft des Menschen«, 344 liegt auf der Hand. Daß er schlechthin schöpferisch ist, davon legt allein schon die Pracht der phantásischen Gefilde ein beredtes Zeugnis ab. Doch dieses Attribut als solches bringt weder uns noch Bastian wesentlich weiter.345 Die entscheidende Frage ist : mit welchem Ziel ? Der Wille allein kann »eine neue Wertewelt aufbauen«, 346 meint Ende. Aber welche ? 2. Der Kindliche Kaiser

Die Reihe von Bastians Wünschen auf seinem Weg durch Phan­ tásien liest sich, vom Beginn bis nah an ihr Ende, wie folgt : die Kindliche Kaiserin erblicken zu dürfen ; auszusehen wie ein junger Prinz ; stärker als alle anderen zu sein ; zäher als die Zähesten ; mutiger als die Mutigsten ; für diese Eigenschaften bewundert zu werden ; als genialer Dichter Hochachtung zu erringen ; sich als »guter Mensch« und großer Wohltäter hervorzutun ; Mondenkind wiederzusehen (was sich als unmöglich erweist) ; gefährlich und bei allen gefürchtet zu sein ; als großer Weiser über den Dingen zu stehen ; selbst Kindlicher Kaiser zu werden. Ehe man den Großteil dieser Wünsche als typisch kindlich oder bestenfalls pubertär abqualifiziert, sollte man bedenken, wie viele erwachsene Menschen ihr Leben damit zubringen, der einen oder anderen Variante von Bastians Idealen nachzujagen ; und man sollte die Möglichkeit auch keineswegs ausschließen, selbst unter diesen Menschen zu sein. Als roter Faden in diesem Panoptikum läßt sich auf den ersten Blick das Bestreben ausmachen, andere zu übertrumpfen und sich selbst in jedem Bereich an die Spitze zu setzen. Keiner dieser Siege vermag indes Bastian zufriedenzustellen, der deshalb sofort das Interessensgebiet wechselt, sobald sich einer seiner Wünsche erfüllt hat. Am Ende bleibt nur noch übrig, sich selbst zum absoluten Herrscher Phantásiens zu erhöhen, was in gewisser Weise alle bisherigen Ambitionen Bastians zusammenfaßt. Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 189

Dazu paßt auch, daß er sich die ganze Zeit (obwohl er es lange nicht bemerkt) auf den von Mondenkind verlassenen Elfenbeinturm zubewegt, während er mit jedem seiner Schritte arroganter, aufbrausender und herrischer wird. Es gibt bemerkenswerte Wegmarken auf diesem Pfad – etwa dort, wo Bastian wutentbrannt sein Alter Ego Atréju verstößt, der es gewagt hat, seine Wünsche zu hinterfragen. Noch folgenreicher ist freilich das Auftauchen der Magierin Xayíde ; und dies ist daher auch der Punkt, von dem an wir Bastians Entwicklung genauer in Augenschein nehmen wollen. ■ Xayíde Xayíde verdankt ihre Existenz Bastians Wunsch, »gefährlich und gefürchtet« zu sein (UG 301). Indem sie drei seiner Gefährten entführt und einkerkert, gibt sie ihm Gelegenheit, ihre Armee schwerbewaffneter Panzerriesen im Alleingang in Stücke zu schlagen – wobei sich herausstellt, daß jene buchstäblich hohl und allein vom Willen ihrer Herrin beseelt sind. Doch ihre Niederlage erweist sich als Finte : Durch geschickte Schmeicheleien und hinterhältige Intrigen saugt sich Xayíde, ohne daß Bastian dessen gewahr wird, wie ein Vampir an ihm fest und beginnt, seine Schritte in ihrem Sinne zu steuern. »Alles, was leer ist, kann mein Wille lenken« (UG 322), versichert sie demütig lächelnd ihrem »Gebieter« – der nicht begreift, daß er auf dem besten Wege ist, sich selbst in einen ihrer hohlen Untertanen zu verwandeln. Xayíde würde als skrupellose Schurkin par excellence natürlich perfekt in jeden Fantasyroman passen.347 Doch wie so oft in der Unendlichen Geschichte, verbirgt sich auch hinter dieser Figur mehr, als es zunächst den Anschein hat. Wenn sich die Magierin selbst scheinbar unterwürfig als Geschöpf Bastians bezeichnet, so sagt sie ausnahmsweise die reine Wahrheit. Mit anderen Worten : Der stolze Retter Phantásiens wird mehr und mehr von etwas beherrscht, das ihm selbst entspringt. In Xayíde nimmt pures Machtstreben Gestalt an : »Ich will, daß sie [alle] wollen was ich will«, 348 spricht sie durch Bastians Mund, als er schon fast ganz in ihrer Gewalt ist. Sie ist es, die Bastians Ehrgeiz unablässig weiter aufstachelt ; sie ist es auch, die ihm schließlich den Gedanken einpflanzt, sich selbst zum Kindlichen Kaiser auszurufen. Und Mondenkind ? Mondenkind habe in Wahrheit längst abgedankt, behauptet Xayíde dreist : 190 | »Die unendliche Geschichte« 

»Sie hat dir das Zeichen ihrer Vollmacht gegeben. Sie hat dir ihr Reich überlassen. Du wirst nun der Kindliche Kaiser sein, mein Herr und Meister. Und es ist dein gutes Recht. Du hast Phantásien nicht nur gerettet, indem du kamst, du hast es doch erst geschaffen ! Wir alle – auch ich selbst – sind nur deine Geschöpfe ! Du bist der Große Wissende, warum erschreckt es dich nun, auch die Allmacht zu ergreifen, die dir doch nach allem gebührt ?« Und während Bastians Augen mehr und mehr in einem kalten Fieber zu glänzen begannen, erzählte ihm Xayíde von einem neuen Phantásien, von einer Welt, die bis in alle Einzelheiten nach Bastians Belieben zu gestalten war, in der er nach Willkür schaffen und vernichten konnte, in der es keine Schranken und Bedingungen mehr gab, wo jedes Geschöpf, ob gut oder böse, schön oder häßlich, töricht oder weise, einzig seinem Willen entsprungen war und er erhaben und rätselhaft über allem thronte in ewigem Spiel. »Erst dann«, schloß sie zuletzt, »bist du wahrhaftig frei, frei von allem, was dich beengt, und frei zu tun, was du willst. Und wolltest du nicht deinen wahren Willen finden ? Das ist er !« (UG 347)

Xayídes Beredsamkeit ist beeindruckend ; von ihr hätten selbst die Grauen Herren noch etwas zu lernen. Daß es hier in Wahrheit um nichts anderes geht, als durch »die Macht der Kindlichen Kaiserin […] ihr genau diese Macht wegzunehmen« (UG 367), wie es das Äffchen Argax später gewohnt sarkastisch auf den Punkt bringen wird, wird durch die Trugbilder der Magierin geschickt verschleiert. Indes wollen wir nicht vergessen, daß der absurde Putschversuch, den dieses Prachtexemplar unter seinen Geschöpfen Bastian ans Herz legt, nur ein weiterer Schritt auf jenem Weg ist, den er verfolgt, seit sein Fuß zum ersten Mal phantásischen Boden berührte. Was soll damit erreicht werden ? Zum einen wird jene wundersame Gabe, die Bastian von der Kindlichen Kaiserin empfangen hat, nun endgültig zum universalen Herrschaftsinstrument umgedeutet. Indem er sich selbst zum allgewaltigen Gebieter erhöht, zieht er die äußerste Konsequenz dessen, was er für seinen »wahren Willen« hält : des Willens zur Macht. Wenn Xayíde ihrem »Herr[n] und Meister« vorgaukelt, er werde »erhaben und rätselhaft über allem thron[en] in ewigem Spiel«, so ist die Grenze zur Vergöttlichung bereits überschritten. Zum andeDer Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 191

ren ist es natürlich kein Zufall, daß es ausgerechnet der Platz Mondenkinds ist, den er um jeden Preis einzunehmen versucht. Der neuralgische Punkt im zweiten Teil der Unendlichen Geschichte ist im Grunde derselbe wie im ersten : Bastians Verhältnis zur Kindlichen Kaiserin. Bastian kann blühende Landschaften aus dem Nichts erschaffen – aber etwas vergleichsweise so Einfaches wie ein Wiedersehen mit ihr wird ihm schlichtweg verweigert : Mondenkind entzieht sich ihm. »Was auch immer sie für einen Grund zu diesem Verhalten haben mochte, er fand es unbegreiflich, nein, es war kränkend !«349 Nicht einmal in ihren verwaisten Pavillon an der Spitze des Elfenbeinturms, wo er sein Lager aufzuschlagen gedenkt, vermag er vorzudringen, denn der Zutritt in dieses innerste Zentrum Phantásiens »muß einem geschenkt werden« (UG 348) und ist mit Gewalt nicht zu erzwingen. In der Person der Kindlichen Kaiserin zeigt sich für Bastians Streben gleichsam eine Grenze ; und wenn sein Wahrer Wille tatsächlich Wille zur Macht ist, kann er diese Grenze gar nicht akzeptieren. Obwohl er es tunlichst verdrängt, weiß er im Grunde seines Herzens sehr wohl, daß seine schöpferische Kraft nur von Mondenkind geliehen ist und daß sie ihm diese Kraft auch jederzeit wieder entziehen kann. Insofern ist seine anmaßende Erhöhung zum Kaiser Phantásiens ein verzweifelter Versuch, sich von dieser eigenen Bedingtheit loszureißen. Der logische letzte Schritt auf diesem Weg – der nicht mehr erfolgt, weil Bastians Krönung zum völligen Desaster wird – wäre es, Mondenkind selbst zu einem seiner Geschöpfe zu erklären. Damit wären wir, wenn man so will, tatsächlich bei Nietzsche angelangt : bei einem frei schwebenden Willen, für den »es keine Schranken und Bedingungen mehr [gibt]« und der von nichts und niemandem abhängig ist. Werfen wir nun einen Blick darauf, was jener Tag, von dem er die Erfüllung seines Wahren Willens erhofft, für Bastian bereithält. Anfangs scheint alles nach Plan zu verlaufen : Aus ganz Phantásien treffen Gesandte am Elfenbeinturm ein, um seiner Krönung beizuwohnen und ihm als Gebieter und Schöpfer zu huldigen. Der eitle, unwirkliche Pomp, den sein künftiger Hofstaat bei dieser Gelegenheit zur Schau stellt, mutet wie eine ins Monströse gesteigerte Form jenes Luxus an, mit dem sich etwa ein Girolamo in Momo umgibt. Doch gerade, als sich die ermüdende Veranstaltung ihrem feierlichen Höhepunkt nähert, geschieht etwas gänzlich Unerwartetes : 192 | »Die unendliche Geschichte« 

Atréju, für den Bastian auf seinem Triumphzug zum Kaiser keine Verwendung mehr hatte, taucht unvermittelt wieder auf. Mehr noch : Er führt ein Heer mit sich, um Bastians Schritt notfalls mit Gewalt zu verhindern. Der stolze Thronprätendent ist völlig außer sich. Wie kann es die Grünhaut wagen, gegen seinen Willen zu rebellieren ? Steht es nicht ihm allein zu, den Lauf der Unendlichen Geschichte zu bestimmen ? Ohne zu zögern gibt er den Befehl zur Schlacht. Ein Gemetzel beginnt, wie es Phantásien nie zuvor gesehen hat. Als sein verstoßener Gefährte trotz erbitterter Gegenwehr in den Elfenbeinturm eindringt, rüstet sich Bastian zum Duell um ­ URYN. Doch anstatt die Hand gegen ihn zu erheben, fleht ihn A Atréju an : »Gib mir das Zeichen […] um deiner selbst willen.« »Verräter !« schrie Bastian zurück. »Du bist mein Geschöpf ! Alles habe ich ins Dasein gerufen ! Auch dich ! Willst du dich gegen mich wenden ? Knie nieder und bitte mich um Verzeihung !« (UG 356)

Bastian hat Recht und Unrecht zugleich. Atréju ist sein Geschöpf ; aber er hat ihn nicht verraten. Als ein Kind jener unschuldigen Tage, da beide gemeinsam Phantásien vor dem Untergang bewahrten, will und kann er die Wandlung seines Freundes nicht hinnehmen. Über das Verständnis dieser Zusammenhänge ist der stolze Bastian indes weit hinaus. Besinnungslos vor Zorn stürzt er auf seinen Widersacher los : Er schlug auf Atréju ein, der sich mit seinem Schwert zu decken versuchte. Doch [Bastians Klinge] Sikánda zerschnitt Atréjus Waffe und traf seine Brust. Eine tiefe Wunde klaffte auf, und Blut quoll hervor. Atréju taumelte rückwärts und stürzte von der Zinne des großen Tores hinunter. (UG 356)

Atréju überlebt schwer verletzt ; doch seine Truppen ziehen sich zurück. Bastian hat die Schlacht um den Elfenbeinturm für sich entschieden. Es ist ein bitterer Sieg ; denn Mondenkinds Palast brennt. Vor Bastians Augen stürzt das prachtvolle Zentrum Phantásiens »wie ein Scheiterhaufen« (UG 357) in sich zusammen. Das also ist aus dem schüchternen Jungen geworden, der einst bittere Tränen über den Tod von Atréjus treuem Pferd Artax verDer Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 193

goß (UG 57) : ein grausamer Diktator. Dennoch sollten wir uns vor allzu plumpen moralischen Deutungen der Unendlichen Geschichte hüten. Wenn es Ende tatsächlich ernst damit ist, »eine neue Wertewelt auf[zu]bauen«, 350 so können wir uns wohl kaum auf die alte und überkommene stützen, indem wir Bastians Verhalten kurzerhand als verabscheuungswürdig oder schlicht unethisch abtun. Halten wir deshalb vorläufig nur fest, daß er bei dem Versuch, seinen Wahren Willen als einen Willen zur Macht zu verwirklichen, einen herben Rückschlag erleidet. Bemerkenswert ist außerdem, daß sich ihm ausgerechnet Atréju in den Weg stellt  – und nicht etwa die Kindliche Kaiserin, die auf den dreisten Versuch, sie zu stürzen, in keiner Weise reagiert. Tatsächlich ist es ein auffallender Unterschied zu Momo, daß sich hier die »metaphysische« Figur im entscheidenden Moment gänzlich aus der Handlung heraushält ;351 und das, obwohl sie doch (was Bastian glatt übersieht) durch ihr Zeichen AURYN die ganze Zeit über gegenwärtig ist (UG 167 f., 199). Mondenkind aber läßt buchstäblich alles gelten und geschehen – was übrigens keineswegs heißt, daß sie auch alles gleich bewertet. Ganz anders Atréju, der energisch einschreitet, wobei er nicht nur Bastians Zorn, sondern auch sein eigenes Leben riskiert. Daß es niemand anders als sein eigener Stellvertreter ist, 352 der den entscheidenden Schritt zur Macht verhindert, legt natürlich die Deutung nahe, Bastian habe sich im Grunde selbst vom Kaiserthron zurückgerissen. Selbstverständlich hegt Atréju keines der egoistischen Motive, die ihm Bastian unterstellt (UG 345)  – dazu wäre er gar nicht fähig, zumal er gänzlich frei von Charakterzügen wie Hab- oder Machtgier geschaffen wurde. Atréju ist schlicht davon überzeugt, daß mit Bastians Weg der Wünsche etwas ganz und gar nicht stimmt. Ob er nun recht hat oder nicht : Er löst durch sein Eingreifen etwas aus. Während er noch dem geflohenen »Verräter« nachjagt, stellt sich Bastian plötzlich die Frage : Warum hatte Atréju gezögert ? Warum hatte er es nach allem nicht über sich gebracht, ihn zu verwunden, um ihm AURYN mit Gewalt zu nehmen ? Und nun mußte Bastian plötzlich an die Wunde denken, die er Atréju geschlagen hatte, und an dessen letzten Blick, als er zurücktaumelte und abstürzte. (UG 362)

194 | »Die unendliche Geschichte« 

Damit tritt zum ersten Mal etwas in den Vordergrund, das Bastian implizit schon seine ganze Reise über begleitet hat : das Element der Reflexion. Bisher hat er sich – durchaus denkend, reflektierend zwar  – gleichsam von Wunsch zu Wunsch vorangetastet, dabei aber niemals in Zweifel gezogen, seinem Wahren Willen stets näher zu kommen. Nun aber beginnt er, sein Handeln als Ganzes in Frage zu stellen. Der Keim, den Atréju durch seine Bereitschaft, sich für seinen Freund zu opfern, gesät hat, geht auf : Bastian bricht die Verfolgung ab und wandert »ohne Ziel dem heller werdenden Morgenhimmel entgegen« (UG 362). Da aber in Phantásien jedes innere Geschehen Bastians unmittelbar in ein äußeres Ereignis umgesetzt wird  – oder besser gesagt, da es in Phantásien keine »äußeren Ereignisse« gibt  – , dauert es nicht lange, bis ihn seine Selbstzweifel an den schaurigen Ort der Wahrheit führen : Bastian betritt die Alte Kaiser Stadt. ■ Die Stadt der verlorenen Seelen Gegen Mittag kam Bastian an einen hohen Erdwall, der sich quer durch die Heidelandschaft zog. Er kletterte hinauf. Dahinter lag ein weiter Talkessel, der – nach innen zu immer tiefer abfallend – wie ein flacher Krater geformt war. Und dieses ganze Tal war angefüllt mit einer Stadt – jedenfalls legte die Menge von Bauwerken diese Bezeichnung nahe, obgleich es die verrückteste Stadt war, die Bastian je erblickt hatte. Plan- und sinnlos schienen alle Gebäude durcheinandergewürfelt, als habe man sie einfach aus einem Riesensack dort hingeschüttet. Es gab weder Straßen noch Plätze, noch irgendeine erkennbare Ordnung. Aber auch die einzelnen Bauwerke sahen irrsinnig aus, hatten die Haustür im Dach, Treppen dort, wo man nicht hinkommen konnte, oder auch solche, die man nur kopfüber hätte betreten können und die in der leeren Luft endeten : Türmchen standen quer, und Balkone hingen senkrecht an den Wänden, Fenster anstelle von Türen und Fußböden anstelle von Mauern. Es gab Brücken, deren geschwungene Bögen plötzlich irgendwo aufhörten, so als habe ihr Erbauer mitten in der Arbeit vergessen, was das Ganze werden sollte. Es gab Türme, die wie Bananen gebogen waren, auf die Spitze gestellte Pyramiden. Kurz, diese ganze Stadt vermittelte den Eindruck des Wahnsinns. Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 195

Dann sah Bastian die Bewohner. Es waren Männer, Frauen und Kinder. Der Gestalt nach schienen sie gewöhnliche Menschen, doch ihre Kleidung sah aus, als seien sie allesamt närrisch geworden und könnten nicht mehr unterscheiden zwischen Dingen, die zum Anziehen, und Gegenständen, die zu anderen Zwecken dienten. Auf den Köpfen trugen sie Lampenschirme, Sandeimerchen, Suppenschüsseln, Papierkörbe, Tüten oder Schachteln. Und um ihre Leiber hingen Tischtücher, Teppiche, große Stücke Silber­papier oder sogar Tonnen. […] »Kleine Stadtbesichtigung gefällig, Herr ? Sagen wir mal – ­er­ste Bekanntschaft machen mit deinem künftigen Wohnort ?« (UG 362– 365)

Es ist der »Aufseher« der Siedlung, das zynische Äffchen Argax, der Bastian auf diese Weise anspricht. Argax ist das einzige Wesen in diesem Zerrbild einer Stadt, das die Fähigkeit zu reden nicht verloren hat. Er scheint auch der einzige zu sein, der noch weiß, was er tut. Die restlichen Bewohner sind in gespenstischer Stille damit beschäftigt, etwa Erbsen mit Stopfnadeln von Tellern zu picken oder brennende Kerzen im Boden zu vergraben. Dabei ist jeder von ihnen völlig für sich ; keiner erweckt den Eindruck, den anderen auch nur wahrzunehmen. »[…] Schau sie dir an ! Würdest du glauben, daß manche von ihnen schon tausend Jahre und sogar noch länger hier sind ? Aber sie bleiben so, wie sie sind. Für sie kann sich nichts mehr ändern, weil auch sie selbst sich nicht mehr ändern können.« (UG 366)

Das also ist die Art Ewigkeit, die Bastian als Kindlicher Kaiser tatsächlich bevorstünde.353 Denn die Bewohner der Stadt sind Menschen (keine Phantásier !), Menschen, die sich in Mondenkinds Reich rettungslos verirrt, die ihren Wahren Willen und damit den Weg zurück in ihre Welt für immer verfehlt haben. Allesamt aber sind sie Alte Kaiser : »[J]eder, der nicht zurückfindet, will früher oder später Kaiser werden« (UG 366). Wer jedoch den Thron erklimmt, der verliert mit einem Schlag all seine Erinnerungen und damit seine Identität. Mehr noch : Er verliert die Fähigkeit, sich etwas zu wünschen. So schlagen die Alten Kaiser die endlose Zeit nun mit Beschäftigungen wie dem »Beliebigkeitsspiel« tot, wie es der stets quietschvergnügte Argax sarkastisch nennt : 196 | »Die unendliche Geschichte« 

Da stand eine große Gruppe von Leuten, Männern und Frauen, Alte und Junge, alle in den wunderlichsten Kleidungen, aber sie redeten nicht. Jedes war ganz für sich. Auf dem Boden lag eine Unmenge großer Würfel, und auf den sechs Seiten jedes Würfels standen Buchstaben. Immer wieder von neuem mischten die Leute die Würfel durcheinander und starrten dann lange darauf hin. […] Bastian las : HGIKLOPFMWEYVXQ YXCVBNMASDFGHJKLÖÄ QWERTZUIOPÜ […] »Ja«, kicherte der Argax, »so ist es meistens. Aber wenn man es sehr lang spielt, jahrelang, dann ergeben sich manchmal durch Zufall Wörter. Keine besonders geistreichen Wörter, aber wenig­ stens Wörter. »Spinatkrampf« zum Beispiel, oder »Bürstenwür­ ste« oder »Kragenlack«. Wenn man es aber hundert Jahre, tausend Jahre, hunderttausend Jahre immer weiterspielt, dann muß nach aller Wahrscheinlichkeit dabei durch Zufall auch einmal ein Gedicht herauskommen. Und wenn man es ewig spielt, dann müssen dabei alle Gedichte, alle Geschichten, die überhaupt möglich sind, entstehen, dazu auch alle Geschichten der Geschichten und sogar diese Geschichte, in der wir beide uns gerade unterhalten. Das ist logisch, nicht wahr ? »Das ist entsetzlich«, sagte Bastian. »Oh«, meinte Argax, »das kommt auf den Standpunkt an. Diese dort – könnte man sagen – sind eifrig bei der Sache. Und außerdem, was sollen wir in Phantásien mit ihnen machen ?« (UG 367 f.)

Das Grauen Bastians ist nur allzu verständich : Selbst dem Zehnjährigen dürfte bewußt sein, an welchen Orten in der Menschenwelt ganz ähnliche Verhaltensweisen wie die hier beschriebenen zu finden sind. Dennoch greift die Erklärung, die Bewohner der Alten Kaiser Stadt seien allesamt dem unheilbaren Wahnsinn verfallen, zu kurz. Selbst ein Geisteskranker versucht innerhalb seiner abgeschlossenen Welt, durch sein Handeln etwas zu bewirken oder zu erreichen ; jene aber handeln gewissermaßen überhaupt nur noch der äußeren Form nach. Nichts von all dem, was sie verrichDer Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 197

ten, hat irgendeine Bedeutung – auch für sie selbst nicht : »Es gilt nichts mehr, oder es gilt alles gleich«, 354 wie es Ende im Kontext von Momo formuliert hat. Tatsächlich ist die Alte Kaiser Stadt in gewisser Hinsicht das genaue Gegenstück zu Norm. Dort wurde das Schöpferische schlichtweg erstickt ; hier aber ist es in völlige Beliebigkeit umgeschlagen. Absolutes Chaos hier steht absoluter Ordnung dort gegenüber. Für die Bewohner läuft das indes recht eigentlich auf dasselbe hinaus : Für sie ist alles zu Ende. Und doch waren sie alle – vom Jungen, der mit einem Hammer Nägel in Strümpfe schlägt, bis zum älteren Herrn, der unablässig Briefmarken auf Seifenblasen zu kleben versucht  – einst stolze Kaiser Phantásiens. Was sie an diese schaurige Stätte geführt hat, war ihr Wille zur Macht, oder genauer gesagt : der Glaube, im Willen zur Macht ihren »Wahren Willen« zu finden. Zwar würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, daß Ende hier eine gezielte Kritik an Nietzsche im Sinne hat. Zum einen hieße dies, die Unendliche Geschichte als chiffrierte Philosophie(kritik) zu lesen, womit diese Untersuchung weit über ihr Ziel hinausschießen würde ; zum anderen würde es eine systematischere Nietzsche-Lektüre voraussetzen, als wir sie Ende realistischerweise zuschreiben können. Nichtsdestoweniger läßt sich aus dem erbärmlichen Schicksal all der Alten Kaiser doch deutlich erschließen, daß der Verfasser der Unendlichen Geschichte Nietzsches Konzept des Willens zur Macht als die »eigentliche Kraft des Menschen und der Welt«355 nicht teilt ; und auch, daß seine Gründe dafür nicht (oder zumindest nicht primär) moralisch sind.356 Die Alte Kaiser Stadt mag eine Hölle sein, durchaus ; aber sie ist wohl kaum ein Ort der Strafe. Die unglück­ lichen Bewohner büßen nicht etwa für ihre bösen Taten (die sie auf dem Weg zum Kaiserthron zweifellos ebenso begangen haben wie Bastian), wie überhaupt Gut und Böse in diesem plumpen Sinne in der Unendlichen Geschichte keine wesentliche Rolle spielen. 357 Was aber ist dann der Grund dafür, daß ihr langer Weg zur Macht ausgerechnet in jenem »Tollhaus von Stadt« (UG 370) sein trostloses Ende findet ? Beginnen wir damit, daß jene totale innere Aushöhlung, die der Erhebung zum Kaiser Phantásiens auf dem Fuße folgt, keineswegs eine plötzliche und schicksalshafte Wendung bedeutet. Ergreift nicht das beklemmende Gefühl, schon beinah gänzlich »leer 198 | »Die unendliche Geschichte« 

und hohl« (UG 350) zu sein, Bastian schon vor der gescheiterten Krönung ?358 Was ihn so weit gebracht hat, ist sein eigener Weg der Wünsche, der von Anfang an auf den Gipfel der Allmacht zuläuft. »Ich will, daß sie wollen was ich will« :359 Was ist das ? Eine Bestimmung seines eigenen Willens ? Oder nicht vielmehr ein gänzlich leerer Zirkel ? Ist das überhaupt ein Wille, der ausschließlich danach strebt, zu wachsen, sich auszudehnen und aufzublähen, bis buchstäblich nichts mehr neben und außer ihm besteht ? Aber wozu ? Was wird mit der Macht gewollt – außer noch mehr Macht ? Weder Bastian noch seine Meisterin Xayíde könnten diese Frage auch nur im Geringsten beantworten. Deshalb kippt das verbissene Streben nach Macht, sobald es vollständig erfüllt ist (was natürlich nur in Phantásien möglich ist, wo ihm kein fremder Wille entgegensteht), sofort in völlige Beliebigkeit. Oder genauer gesagt : Es erweist sich als Beliebigkeit. Ist es Zufall, daß Xayíde, die Personifikation der Machtgier, ausschließlich hohle Puppen zu steuern vermag – und danach trachtet, alle anderen Wesen in solche zu verwandeln ? Aber was dann ? Was wären jene Geschöpfe, über die Bastian als Kaiser Phantásiens »im ewigen Spiel« (UG 347) gottgleich zu thronen gedenkt, anderes als bloße Erscheinungen seines eigenen Willens zur Macht ? Es wäre wahrlich »ein Spiel im Nichts« (UG 60), wie es die uralte Morla ausdrücken würde, ein Imperium ohne Untertan  – oder ein Kaiserreich im Tollhaus. Damit trifft Ende – ob nun bewußt oder nicht – den wunden Punkt in Nietzsches Definition des Willens in der Tat genau : Das »zur Macht« ist im Grunde eine Scheinbestimmung. Zwar vermag Nietzsches Modell durchaus zu überzeugen, solange man bei der bloßen Vorstellung einer Unmenge individueller Willen verharrt, die unaufhörlich miteinander um Macht ringen – und so in ihrem jeweiligen Bestreben, sich gegen alle anderen durchzusetzen, gewissermaßen aneinander bestimmt wären. Sobald aber der Wille zur Macht als allumfassendes, weltbildendes Prinzip herausgestellt wird (was Nietzsche notwendigerweise ständig tun muß, da sein Denken sonst in völliges Chaos abgleiten würde), zeigt sich, daß es dieser Wille in Wahrheit stets nur mit sich selbst zu tun hat : Es ist jenes gänzlich unerkennbare Werden, das sich schöpferisch eine erfaßbare Welt vorgaukelt, die es an sich nicht gibt. Damit aber sind Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 199

wir einer Definition dieses Schöpferischen keinen Schritt nähergekommen, sondern finden uns erst recht zurück am Ausgangspunkt von Nietzsches Denken wieder. Dem Willen ist hier genau das zur Aufgabe gestellt, was dem Denken aus guten Gründen nicht zugetraut wird : das per se chaotische Werden (mit dem er identisch ist) soweit zu organisieren, daß Erkenntnis  – und sei es in Form von »Schein und Irrhtum«360 – überhaupt möglich wird. Ohne den Zusatz »zur Macht« (der sinnlos wird, sobald wir den Willen als Prinzip auffassen) ist er indes ausschließlich über diese Aufgabe definiert. Was übrigbleibt, ist lediglich die wahrlich erstaunliche Tatsache, daß wir es trotz dem sich jeder Erkenntnis entziehenden Werden ständig mit einer Welt zu tun haben – und nicht bloß mit einem reinen Chaos ohne jeden Namen und Begriff. Das ist zweifellos ein Problem, das es zu lösen gilt­ ; doch allein dadurch, daß man es auf den Namen »der Wille« tauft, kommt man dieser Lösung nicht näher. Im Grunde ist damit eben wieder nur ausgedrückt, daß es in Wahrheit nicht das Denken ist, dem wir unsere Fähigkeit zu »erkennen« verdanken. So betrachtet, bleibt der Wille stets nur das Andere des Denkens – dasjenige also, das sich unserem Denken gänzlich entzieht. Ins Praktische übersetzt : Beliebigkeit und reine Willkür.361 Nochmals : Inwieweit sich Ende dieser Zusammenhänge bewußt ist, muß hier offen bleiben. Fest steht, daß nicht nur im erbärmlichen Ausgedinge der Alten Kaiser, sondern in der gesamten Konstruktion der Unendlichen Geschichte eine Auffasung des Willens zum Tragen kommt, die sich von der Nietzsches sehr deutlich abgrenzen läßt. Schon die Kindliche Kaiserin selbst, der Bastian seine schöpferische Kraft überhaupt erst verdankt, würde unmöglich ins Denken Nietzsches passen. Dasselbe gilt für all jene Orte und Dinge in Bastians Phantásien, die nicht seiner Macht unterstehen, weil er sie – entgegen seinem eigenen Anspruch 362 – ganz offenbar nicht geschaffen hat : Mondenkinds Pavillon (weshalb ihm der Einlaß in dieses Zentrum ihres Reiches verwehrt bleibt) ; die Alte Kaiser Stadt (weshalb er ihr, sobald er seinen Wahren Willen endgültig verfehlt hätte, auf keine Weise entgehen könnte) ; und schließlich AURYN, dessen Inschrift ihn unerbittlich an seinen Auftrag gemahnt und das sich am Ende als einziges Tor zurück in die Menschenwelt erweisen wird.363 Bastians Willen sind Grenzen gesetzt ; doch genau 200 | »Die unendliche Geschichte« 

wie die Grenzen Phantasiens »liegen [sie] nicht außen, sondern innen«.364 All dies weist darauf hin, daß für Ende das Schöpferische im Menschen (der Wille, die eigentliche Kraft oder wie immer man es nennen möchte) selbst an etwas rückgebunden ist ; oder – um es noch pointierter auszudrücken – daß es selbst wiederum geschaffen ist. Dies bleibt noch zu ergründen. Bastian selbst steht unterdessen vor wesentlich handfesteren Problemen. Soeben mußte er erfahren, daß er sich die ganze Zeit über zielstrebig auf seinen eigenen Untergang zubewegt hat : Alle seine bisherigen Ziele und Pläne waren zusammengebrochen. Ihm war, als sei in seinem Inneren alles auf den Kopf gestellt […]. Was er gehofft hatte, war sein Verderben, und was er gehaßt hatte, seine Rettung. (UG 370)

In der Tat nimmt Bastians Weg der Wünsche nach seinen Erfahrungen in der Alten Kaiser Stadt eine radikale Wende, wodurch die Unendliche Geschichte in gänzlich neue Bahnen gelenkt wird. Unmittelbar nach seinem Entrinnen aus Argax’ Reich (das sich alptraumhaft schwierig gestaltet, da er im Gewirr der Gebäude wieder und wieder den Weg verliert) folgt eine der stärksten Szenen des gesamten Romans : Mit bloßen Händen verscharrt der verhinderte Kaiser jenes Schwert, mit dem er Atréju verwundet hat, tief im Boden einer sturmdurchpeitschten Heide – ein Lear, der nicht dem Wahnsinn, sondern der Vernunft verfällt. Es ist nur konsequent, wenn Xayíde bald danach ein ebenso mysteriöses wie absurdes Ende findet, indem sie von ihren eigenen willenlosen Panzerriesen zu Tode getrampelt wird (UG 381). Der eigentliche Grund ihres Dahinscheidens liegt auf der Hand : Auf dem Pfad, welchen Bastian nun beschreitet, wird eine Ratgeberin ihres Schlages schlicht nicht mehr benötigt. 3. Die Wasser des Lebens

Von Bastians Aufenthalt in der Alten Kaiser Stadt an läuft die Unendliche Geschichte gleich in mehrerer Hinsicht rückwärts. Jene Wünsche, die sich nun ihm regen, entkleiden ihn nicht nur wieder jeglicher Macht ; sie führen ihn auch unverkennbar in einer Art Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 201

Regression zum eigenen Ursprung zurück. Sein Bedürfnis, Teil einer Gemeinschaft zu werden »als der Kleinste oder am wenigsten Wichtige, aber als einer, der selbstverständlich dazugehört« (UG 372), erfüllen die kollektivistischen Yskálnari, die ihn als einfachen Lehrling in ihre Gilde der »Nebelschiffer« aufnehmen (UG 375) ; der Wunsch, »so geliebt zu werden, wie er war« (UG 377), führt ihn zum Haus der fürsorglichen Blumendame Aiuóla, die den verzweifelten, von seinen Erlebnissen immer noch aufgewühlten Bastian wie eine Mutter in ihren Armen wiegt und ihm Schlaflieder singt : »Schlaf, mein Liebling ! Gute Nacht ! Hast so vieles durchgemacht. Großer Herr, sei wieder klein ! Schlaf, mein Liebling, schlafe ein !«365

Gestrandet schließlich im ewigen Winter des blinden Bergmanns Yor, der in den Fundamenten Phantásiens geduldig nach vergessenen Träumen schürft, fühlt Bastian etwas in sich aufkeimen, »das sich in jeder Hinsicht von all seinen bisherigen Wünschen unterschied : Die Sehnsucht, selbst lieben zu können.«366 Hat er damit seine Bestimmung gefunden ? Ist das schon sein Wahrer Wille ? Man könnte es meinen ! Tatsächlich wäre dies wohl genau die Lösung, die viele bei einem Autor wie Michael Ende, der dem New Age bekanntermaßen nicht fernstand, 367 erwarten würden. Bastian könnte mit der Erkenntnis in die Äußere Welt zurückkehren, daß es im Leben um Liebe geht, und es sich mit und in dieser Erkenntnis gemütlich einrichten. Er könnte sogar eine esoterische Sekte gründen, in der tagaus, tagein von Liebe und Harmonie die Rede ist. Aber Yor, der schweigsame, gestrenge Bergmann, läßt das nicht gelten : »[…] Du möchtest lieben können, um zurückzufinden in deine Welt. Lieben – das sagt sich so ! […] Wen ? Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein […]. Drum kann dir nur ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest, ein Bild, das dich zur Quelle führt. Aber dafür wirst du das Letzte vergessen müssen, was du noch hast : Dich selbst. Und das bedeutet harte und geduldige Arbeit. […]«368

202 | »Die unendliche Geschichte« 

Also geht es noch einen Schritt zurück : Er folgte dem Bergmann zu dem Schacht, bestieg mit ihm zusammen den Förderkorb, und dann fuhr er in die Grube Minroud ein. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Längst war der letzte spärliche Lichtschein, der durch die Öffnung des Schachtes drang, geschwunden, und noch immer sank der Korb in der Finsternis abwärts. Dann endlich zeigte ein Ruck, daß sie auf dem Grunde angelangt waren. Sie stiegen aus. Hier unten war es sehr viel wärmer als oben auf der winterlichen Ebene, und schon nach kurzem begann Bastian der Schweiß am ganzen Körper auszubrechen, während er sich bemühte, den Bergmann, der rasch vor ihm herging, nicht im Dunkeln zu verlieren. […] Nach und nach erlernte er, sich dort unten in der völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er erkannte die Gänge und Stollen mit einem neuen Sinn, den er nicht hätte erklären können. Und eines Tages wies Yor ihn wortlos, nur durch Berührung mit seinen Händen an, von nun an allein in einem niedrigen Stollen zu arbeiten, in den man nur kriechend eindringen konnte. Bastian gehorchte. Es war sehr eng vor Ort, und über ihm lag die Berglast des Urgesteins. Eingerollt wie ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter lag er in den dunklen Tiefen der Grundfesten Phantásiens und schürfte geduldig nach einem vergessenen Traum […]. 369

Wie so oft bei Ende, ist auch hier die psychologische Konsequenz seiner Bilder beeindruckend. Was hier gesetzt wird, ist natürlich auch ein Kontrapunkt zum sich gleichsam maßlos aufblähenden Bastian auf dem Weg zum Kaiser, der alle und alles seiner Macht zu unterwerfen suchte. Nicht weniger aber erinnert es an jenes Gespräch, das Meister Hora mit Momo über den Tod führt : »[…] Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst herinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.« »Und was ist auf der anderen Seite ?« »Dann bist du dort, wo die Musik [der Gestirne] herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.«370 Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 203

Mit Fug und Recht kann man sagen, daß Bastian gerade auf symbolische Weise denselben Weg geht.371 Schließlich stößt er auf ein Traumbildnis, das sofort tiefe Sehnsucht in ihm erweckt : Es zeigt seinen eigenen Vater, der hilflos in einem Eisblock eingeschlossen ist und dessen Blick ihm zu sagen scheint : »Nur du kannst mich daraus befreien – nur du !«372 Seine Suche ist zu Ende ; der Sinn seiner phantásischen Reise ist erfüllt. Dennoch benötigt er noch einmal die Hilfe Atréjus, um das Tor zurück in die Äußere Welt zu finden : Es ist AURYN selbst, das Zeichen seiner phantásischen Macht. Im selben Moment, in dem Bastian das Amulett freiwillig ablegt, wurde der goldene Glanz AURYNS so über alle Maßen hell und strahlend, daß er geblendet die Augen schließen mußte, als hätte er in die Sonne geschaut. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß er in einer Kuppelhalle stand, groß wie das Himmelsgewölbe. Die Quader dieses Bauwerks waren aus goldenem Licht. Mitten in diesem unermeßlichen Raum aber lagen, riesig wie eine Stadtmauer, die beiden Schlangen [die auf dem Amulett zu sehen sind ; s. oben S. 186 sowie UG 199]. Atréju, Fuchur und der Junge ohne Namen [Bastian] standen nebeneinander auf der Seite des schwarzen Schlangenkopfes, der in seinem Rachen das Ende der weißehn Schlange hielt. Das starre Auge mit der senkrechten Pupille war auf die drei gerichtet. Im Vergleich zu ihm waren sie winzig ; sogar der Glücksdrache erschien klein wie ein weißes Räupchen. Die reglosen Riesenleiber der Schlangen glänzten wie unbekanntes Metall, nachtschwarz die eine, silberweiß die andere. Und das Verderben, das sie hervorrufen konnten, war nur gebannt, weil sie sich gegenseitig gefangenhielten. Wenn sie sich je losließen, würde die Welt untergehen. Das war gewiß. Aber indem sie sich gegenseitig fesselten, hüteten sie zugleich das Wasser des Lebens. Denn in der Mitte, um die sie lagen, rauschte ein mächtiger Springquell, dessen Strahl auf und nieder tanzte und im Fallen tausende von Formen bildete und wieder auflöste, viel schneller, als das Auge zu folgen vermochte. Die schäumenden Wasser zerstiebten zu feinem Nebel, in dem das goldene Licht sich in allen Regenbogenfarben brach. Es war ein Brausen und Jubeln 204 | »Die unendliche Geschichte« 

und Singen und Jauchzen und Lachen und Rufen mit tausend Stimmen der Freude. 373

Und wieder befinden wir uns, wie damals im Herzen Momos, in einer goldenen Kuppel, »groß wie das Himmelsgewölbe« ; und wieder betreten wir einen jener Orte mystischer Kraft, die in kaum einem größeren Werk Michael Endes fehlen. Es bedarf keiner besonderen Mühe, um sowohl die beiden Schlangen, »die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so ein Oval bildeten« (UG 10), als auch die Wasser des Lebens als uraltes alchemistisches Symbol zu erkennen.374 Ende, der eine wahre Leidenschaft für mystische Literatur aller Art hegte, kann hier aus einem unüberschaubaren Fundus kraftvoller archetypischer Bilder schöpfen. Entscheidend ist indes, was er aus diesen Bildern macht. Für Bastian erweist sich jene Quelle, zu der ihn die beiden Wächter schließlich zulassen, als Ort nicht allein des Übergangs zurück in die »Äußere Welt«, sondern auch einer Erfahrung, welche der Momos am Stundenblumenteich um nichts nachsteht : Aber dann sprang er einfach in das kristallklare Wasser hinein, wälzte sich, prustete, spritzte und ließ sich den fukelnden Tropfenregen in den Mund laufen. Er trank und trank, bis sein Durst gestillt war. Und Freude erfüllte ihn von Kopf bis Fuß, Freude zu leben und Freude, er selbst zu sein. Denn jetzt wußte er wieder, wer er war und wohin er gehörte. Er war neu geboren. Und das Schönste war, daß er jetzt genau der sein wollte, der er war. Wenn er sich unter allen Möglichkeiten eine hätte aussuchen dürfen, er hätte keine andere gewählt. Denn jetzt wußte er : Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können. Beides war ein und dasselbe. Auch späterhin, als Bastian längst wieder in seine Welt zurückgekehrt war, als er erwachsen und schließlich alt wurde, verließ ihn diese Freude nie ganz. Auch in den schwersten Zeiten seines Lebens blieb ihm eine Herzensfrohheit, die ihn lächeln machte und die andere Menschen tröstete. (UG 416)

Das ist ein wunderbar passender und zugleich doch auch über­ raschender Abschluß einer Reise, die eigentlich weder für Bastian Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 205

selbst noch auch für die phantásischen Wesen um ihn herum sonderlich freudvoll verlaufen ist. Selbst wenn wir die christlichen Assoziationen, die sich mit dieser Taufe des »neu geboren[en]« Jungen (es geht also wieder vorwärts !) natürlich zuhauf einstellen, beseite schieben, ist diese Szene immer noch ergiebig genug. Der Wahre Wille ist der Wille zu lieben  – das ist ebensowenig Bastians Privaterkenntnis, die bei jedem anderen Phantásienreisenden anders ausfallen könnte, wie das Siechtum der Kindlichen Kaiserin sein privates Problem war. Die Wasser des Lebens – auch sie ein Ort, den Bastian nicht geschaffen hat – lassen gar keinen Zweifel daran : »Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können. Beides war ein und dasselbe.« Daß sich durch die eigene Übereinstimmung mit dem Wahren Willen jene Freude einstellt, die Bastian allzu lange vermißt hat, ist ein so naheliegender wie überzeugender Gedanke. Was aber bedeutet hier Liebe ? Indem wir davon ausehen, daß alle mystischen Orte im Werk Michael Endes näher beieinander liegen, als sich dies auf einer Landkarte des Inneren darstellen ließe, wollen wir kurz zu Momos Stundenblumenteich zurückkehren. Ihr wurde in einer Erfahrung, die »größer war als Angst«, die Harmonie der Sphären als Musik der Gestirne gegenwärtig, an der sie selbst Anteil nimmt und in die sie – nach ihrem physischen Tod – selbst als ein Ton eingehen wird.375 Im Grunde ist es genau dieses Mitklingen in der Musik der Sphären, das Teil-Nehmen an jener Allharmonie, aus welcher die und der Einzelne herstammt, das Ende meint, wenn er von Liebe spricht – allerdings nicht als jenseitiger, den Lebendigen nur sehr unzulänglich durch Bilder zu vermittelnder Zustand, sondern als ausgesprochen irdische, konkrete (Yor !), schöpferische Tätigkeit. Das beste Beispiel hierfür liefert Bastian selbst, wenn er nach seiner Rückkehr in die Menschenwelt zum Vater nach Hause eilt, um ihm die unglaubliche Geschichte seiner phantásischen Wandlungen zu berichten. Er erzählt nicht, um sich als »genialer Dichter« zu profilieren oder dem Vater gegenüber als »großer Wohltäter« zu erweisen ; er erzählt, weil er den Vater liebt und seine Erfahrungen aus tiefstem Herzen mit ihm teilen möchte. Nur deshalb kann er ihn mit seinen Worten erreichen und berühren ; nur deshalb gelingt es ihm am Ende, das Eis zwischen beiden zu brechen (UG 422). So wie 206 | »Die unendliche Geschichte« 

Momos Stunden-Blumen ganz von selbst jener Säule aus Licht und Klang, welche sie zum Leben erweckt, entgegenstreben, so wendet sich auch das Schöpferische im Menschen ganz von selbst der Harmonie der Sphären zu und hilft dadurch mit, sie irdisch zu verwirklichen, wenn es nur – wie der Reisende vor dem »Ohne Schlüssel Tor« (UG 95 f.) – für sich nichts mehr will. Diese tiefe Übereinstimmung zwischen dem schöpferischen Wesen des Menschen und der Harmonie der Sphären liegt natürlich darin begründet, daß jenes aus diesem – wie wir ja schon aus Momo wissen  – herstammt und sich diesem überhaupt erst verdankt. Das Schöpferische im Menschen ist also selbst wieder geschaffen ; und diese Geschaffenheit ist das Band, das es mit dem Grund aller Dinge verbindet.376 Indem das Schöpferische im Menschen liebend tätig wird, vollbringt es nicht mehr, als diese Verbindung irdisch nachzuvollziehen – aber das genügt. Wie sang doch die Uyulála ? Die Adamssöhne, so nennt man mit Recht die Bewohner des irdischen Ortes, die Evastöchter, das Menschengeschlecht, Blutsbrüder des Wirklichen Wortes. Sie alle haben seit Anbeginn die Gabe, Namen zu geben.377

Wir sind damit von Nietzsche letztlich zu einer religiösen, ja sogar christlichen Haltung gelangt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man darin Spuren des Steinerschen Synkretismus erblickt.378 Um das Niveau dieser Arbeit nicht unnötig zu senken, möchte ich hier dennoch nicht mit einem Steiner-Zitat schließen, sondern stattdessen nochmals J. R. R. Tolkien zu Wort kommen lassen. In seinem Essay »Über Märchen« schreibt Tolkien : […] entfremdet ist er längst, der Mensch, aber noch nicht ganz verändert und verlassen. Mag er auch die Gnade verloren haben, bewahrt er von seiner einstigen Würde doch so manchen Rest : Noch immer ist er der Zweitschöpfer, in dem sich das Licht aus dem einen Weiß in die vielen Farben bricht, aus deren endloser Mischung die lebendigen Gestalten hervorgehen. Mögen wir alle Winkel der Welt mit Elben und Kobolden anfüllen, mögen wir es selbst wagen, aus Der Irrweg des Bastian Balthasar Bux | 207

Licht und Dunkel Götter und ihre Häuser zu bilden, oder mögen wir Drachensaat säen – so war es unser Recht, ob wir nun guten oder schlechten Gebrauch davon machten. Und dies Recht ist nicht verfallen : Noch immer schaffen wir nach demselben Gesetz, nach dem wir geschaffen wurden. 379

E. Ergebnisse Sollen wir unsere uralte Freundschaft, die großen niemals werbenden Götter, weil sie der harte Stahl, den wir streng erzogen, nicht kennt, verstoßen oder sie plötzlich suchen auf einer Karte ? – Rainer Maria Rilke : Die Sonette an Orpheus –

① Michael Ende geht in der Unendlichen Geschichte von zwei

gänzlich verschiedenen »Reichen« aus : Phantásien, der geistigen oder Innenwelt, welche allein subjektiv erfahrbar, und der Äußeren oder »Menschenwelt«, die materiell bestimmt ist. ② Keine der beiden Welten ist auf die jeweils andere rückführbar ; insbesondere ist die subjektive Innenwelt keineswegs durch einen Erfahrungsgegenstand in der Außenwelt, wie es das menschliche Gehirn ist, »erklärbar«. ③ Auch eine idealistische Synthese der beiden »Reiche« in einem übergeordneten geistigen Prinzip unterbleibt bei Ende. So prallen beide gleichsam unvermittelt aufeinander. ④ Tatsächlich gibt es allerdings die Möglichkeit einer Art praktischer Vermittlung in Form eines fruchtbaren »Kreislaufs« zwischen Phantásien und »Menschenwelt«. Es ist das schöpferische Ich des Menschen, das diesen Kreislauf gewährleistet, indem es Eindrücke von »außen« durch einen Akt der »Alchemie« (Ende) in poetische »Innenbilder« verwandelt, diese wiederum durch praktische Tätigkeit in die empirische Realität setzt und so deren Antlitz verändert, wodurch neue, inspirierende »Außenbilder« entstehen. ⑤ Dieser Kreislauf ist jedoch offenbar empfindlich gestört. Die »Menschenwelt« liefert gleichsam keine Bilder mehr, mit denen das Schöpferische Ich des Menschen etwas anfangen könnte, 208 | »Die unendliche Geschichte« 

wodurch die Innenwelt verödet. Durch die enge Abhängigkeit beider »Reiche« voneinander führt dies wiederum erst recht zur Verheerung der Äußeren Welt. ⑥ Dieser »Teufelskreis« (Ende) hat mit der Verwandlung der »Menschenwelt« in eine den »Bedürfnissen« der kapitalistischen Ideologie angepasste Maschinerie zu tun. Diese stets zunehmende Funktionalisierung, welche kapitalistische Gesellschaften prägt, führt letztlich zu einer Äußeren Welt, welche dem Wesen des schöpferischen Ich nicht mehr entspricht. Seine eigene »Menschenwelt« wird ihm fremd, weshalb sie es auch nicht mehr zu poetischen »Innenbildern« inspiriert. An ihre Stelle treten Lüge und Illusion, welche zu dem alleinigen Zweck nach »außen« getragen werden, um sich empirische Vorteile im Sinne des Kapitalismus zu verschaffen. Hier wird unverkennbar eine Brücke zwischen den Grundthemen von Momo und Unendlicher Geschichte geschlagen. ⑦ Verantwortlich für diesen Mißstand ist das schöpferische Ich des Menschen selbst. Dieses muß sich wieder auf sein wahres Wesen besinnen, um jenen fruchtbaren Kreislauf wieder zu ermöglichen und »beide Welten gesund zu machen«. ⑧ Der zweite Teil der Unendlichen Geschichte widmet sich daher der Frage nach dem Wesen des Schöpferischen im Menschen. Ende grenzt sich hier vor allem von Nietzsche und dessen Definition des Schöpferischen als Wille zur Macht ab. ⑨ Tatsächlich erweist sich, daß Nietzsches Bestimmung so nicht zu halten ist. Das »zur Macht« konstituiert im Grunde nur einen leeren Kreis, der nicht dabei hilft, diese wahre und einzige Grundkraft bei Nietzsche zu verstehen. Übrig bleibt völlige Beliebigkeit. ⑩ Ende selbst wählt einen gänzlich anderen Weg, indem er das Schöpferische im Menschen in der Harmonie der Sphären (s.  oben Teil II) und damit letztlich im religiös verstandenen Absoluten verankert. Die wahre Bestimmung des Menschen ist es demnach, zu lieben, d. h. an der Allharmonie, der man selbst entstammt, durch schöpferische Tätigkeit freudig teilzunehmen. Genau wie in Momo werden mit dieser Lösung die Grenzen philosophischen Denkens überschritten.

Ergebnisse | 209

TEIL I V  DIE G RENZEN PH A N TÁSIE N S : K E INE K R IT IK A. Der Künstler als Philosoph ? Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit. – Karl Kraus –

Am Ende einer Arbeit wie dieser ist es üblich, das Denken des besprochenen Autors einer kurzen, aber fundierten Kritik zu unterziehen. Inwieweit basiert es auf unausgesprochenen Dogmen und Postulaten ? Wo mangelt es ihm an systematischer Genauigkeit ? Inwieweit ist er seinem eigenen Anspruch, Lösungen für fundamentale philosophische Probleme zu bieten, gerecht geworden ? All dies soll helfen, die Verdienste desjenigen um den Fortschritt der Wissenschaften gebührend zu würdigen, oder weniger wohlwollend ausgedrückt : ihm seinen Rang in der Hackordnung der akademischen Forschung zuzuweisen. Es versteht sich von selbst, daß von einer »Kritik« in diesem Sinne hier überhaupt keine Rede sein kann. Nie ist Michael Ende als Philosoph an die Öffentlichkeit getreten ; nie hat er auch nur angedeutet, seine Werke hätten irgendeinen Wert für die akademische Philosophie. Was sein Denken betrifft, so wurde er selbst nicht müde, dessen unsystematischen Charakter zu betonen.380 Der Aufweis logischer Lücken in diesem Denken als solcher wäre mithin in etwa so sinnvoll und notwendig wie der auf zweihundert Seiten ausgebreitete Beleg eines Geographen, daß die Erde rund ist. Ebensowenig ersprießlich wäre es, Ende mit dem einen oder anderen Großen der Philosophiegeschichte in summa zu vergleichen (und nicht bloß in einzelnen Details seines Denkens, wie dies hier geschehen ist). Als unausweichliches Ergebnis würde sich zeigen, daß Endes Denken vergleichsweise völlig zu vernachlässigen ist. Der Grund liegt auf der Hand : Während ein Marx, ein Kierkegaard oder ein Nietzsche ihre Tage damit zubrachten, beeindruckende  211

Gebäude des Denkens zu errichten, konzentrierte sich Michael Ende zeit seines Lebens darauf, gute Bücher zu schreiben. Daß sich in seinem literarischen Werk durchaus auch philosophisches Denken manifestiert, konnte in dieser Untersuchung hoffentlich gezeigt werden ; aber das ändert nicht das Geringste daran, daß Ende kein Philosoph, sondern Künstler war. Selbst wenn wir annehmen wollten, er hätte bei seiner Berufswahl gänzlich fehlgegriffen und sein wahres Talent wäre im Bereich des abstrakten Denkens gelegen (was nicht der Fall ist) – selbst dann müßten wir zugeben, daß ein solches Handicap rein praktisch unmöglich wettzumachen wäre. – Ich möchte das Gesagte durch ein Beispiel mit vertauschten Rollen verdeutlichen. Es wäre möglich, eine literaturwissenschaftliche Arbeit über die stilistischen Qualitäten und Eigenheiten des Karl Marx zu schreiben. Warum nicht ? Wem es gelänge, etwa Marx’ literarische Einflüsse und ihre spezifische Verarbeitung durch den Philosophen erschöpfend darzustellen, der würde sich durchaus Verdienste um die Wissenschaft erwerben. Wer aber abschließend die Marxsche Prosa ernsthaft mit der Sprachkunst Friedrich Hölderlins vergliche, würde sich und seine Arbeit schlicht und einfach der Lächerlichkeit preisgeben. Im übrigen gehe ich davon aus (auch wenn es natürlich nicht beweisbar ist), daß Ende durchaus imstande gewesen wäre, die Linien seines Denkens weiter zu verfolgen. Mir scheint indes, daß er seine eigene Philosophie genau soweit entwickelt hat, wie es notwendig war, um Werke wie Momo und Die unendliche Geschichte zu schreiben. Wir sollten nie vergessen, daß hier das Denken im Dienste der Literatur steht  – und nicht etwa umgekehrt !381 Weder ist es für einen Roman wie Momo, der duch seine »Bilder von großer poetischer Verwandlungskraft«382 besticht, nötig, die kapitalistische Ideologie in all ihren Ausprägungen und Facetten zu erfassen, noch braucht Die unendliche Geschichte, um ihre kathartische Wirkung auf den Leser zu entfalten, eine gänzlich widerspruchsfreie Definition des Schöpferischen im Menschen als Basis. Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, daß allzu stringente Denkstrukturen dem schöpferischen Prozeß, wie er jedem künstlerischen Werk zugrunde liegt, geradezu feindlich sind. Insofern hat Ende völlig recht, wenn er sein Denken an bestimmten Punkten abbricht – erfüllt er doch damit schlicht seine Aufgabe 212 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

als Schriftsteller, die selbstverständlich in seinem literarischen Schaffen und nicht etwa in der Makellosigkeit seiner Philosophie liegt. Das Denken Michael Endes so zu kritisieren, als ob er Philosoph und als ob sein Werk in Wahrheit nichts anderes als chiffrierte Philosophie wäre, würde also die Ergebnisse dieser Untersuchung grob verfälschen. So könnte man z. B. meinen, in Momo würde bei aller Schärfe der Systemkritik die brutale Gewalt, mit der sich widersetzende Menschen, ja ganze Kulturkreise in die kapitalistische Konsum- und Konkurrenzgesellschaft hineingezwungen zu werden pflegen, nicht genügend akzentuiert. Tatsächlich wird die Brutalität des real existierenden Kapitalismus im Märchenroman wie auch in anderen Werken Endes durchaus immer wieder angedeutet. Zwar ist es wahr, daß sich die Grauen Herren selbst ihre geisterhaften Hände nicht durch Gewaltanwendung schmutzig machen (können), 383 da sie damit gänzlich aus ihrer Rolle fallen und das kunstvolle Gefüge des gesamten Romans zum Einsturz bringen würden. Wenn aber Momo durch die Zeit-Sparer all ihrer Freunde beraubt und drückender Einsamkeit preisgegeben wird, 384 so werden uns die Auswirkungen struktureller Gewalt vor Augen geführt. Wenn sich herausstellt, daß diese Freunde in Lager gepfercht und soldatischem Drill unterzogen wurden, um sie zu »nützlichen und leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft« zu formen, 385 so ist es wohl mehr als naheliegend, auf physische Gewalt zu schließen (ganz abgesehen von schaurigen historischen Assoziationen). Und wenn – um ein anderes Beispiel zu bringen – der Feuerwehrmann in der Geschichte von der Wunderbaren Geldvermehrung vom Mob der wütenden Gläubigen attackiert wird, weil er es gewagt hat, anstatt wie alle anderen Aktien zu erwerben, an ihre Vernunft zu appellieren, 386 so sind wir nur noch einen kleinen Schritt von tödlicher Gewalt entfernt. Wem dies immer noch zu wenig deutlich ist, der sei auf das Spätwerk Endes verwiesen, wo zuweilen – zweifellos bedingt durch bittere persönliche Erfahrungen387 – die ruhige, überlegte und überlegene Art, mit der er in Momo den Kapitalismus entlarvt, zugunsten eines frontalen Angriffs aufgegeben wird. Das Ergebnis sind Werke wie Der Rattenfänger, das die Brutalität des Systems, in dem wir leben, tatsächlich in allen ihren Aspekten direkt und schonungslos auf die Bühne bringt – Der Künstler als Philosoph ? | 213

und sich damit literarisch um Welten unter Momo bewegt, weshalb es kaum mehr gelesen, noch seltener aufgeführt und spätestens in einigen Jahrzehnten vollständig vergessen sein wird. Und das völlig zu Recht – zumal nicht erst seit gestern bekannt ist, daß die Andeutung als literarische Technik stets wesentlich größere Wirkung entfaltet als die offene Darstellung. Es verwundert kaum, wenn ein Schriftsteller, welcher solcherart die fundamentalen Regeln seines eigenen Handwerks außer acht läßt, sein Publikum nicht mehr zu erreichen vermag. Auch sollte man nicht vergessen, daß die bemerkenswerte Analyse der kapitalistischen Ideologie, die wir aus Momo erschließen konnten, für Michael Ende niemals Selbstzweck war. Der Märchenroman wurde als ein Buch geschrieben, das dem Leser Mut zur Veränderung machen soll – und das in einer Sprache und in Bildern, die Erwachsenen und Kindern unmittelbar zugänglich sind. Es ist daher nur konsequent, wenn er die Entscheidungen Einzelner, in deren Macht es durchaus läge, andere Formen des Zusammenlebens zu finden, und nicht etwa das gewaltsame Einpassen wehrloser Opfer in die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft oder auch den verbissenen Kampf der Konkurrenten gegeneinander in den Vordergrund stellt.388 Dies ist schlicht künstlerische Freiheit, die Ende zusteht – und von der er gerade in Momo durchaus vernünftigen und dem Charakter des Romans angemessenen Gebrauch macht. B. Das Denken Michael Endes im größeren philosophischen Kontext When that I was and a little tiny boy, With hey, ho, the wind and the rain, A foolish thing was but a toy, For the rain it raineth every day. But when I came to man’s estate, With hey, ho, the wind and the rain, ‘Gainst knaves and thieves men shut their gate, For the rain it raineth every day. – William Shakespeare : Twelfth Night –389

214 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

All das bedeutet natürlich andererseits nicht, daß auf jene reflektierende Rückschau, wie sie im letzten Teil einer Untersuchung wie der vorliegenden ansteht, hier kurzerhand zu verzichten wäre. Wir wollen uns daher im folgenden nochmals jenen Punkten des Denkens Michael Endes, wie wir es aus seinen Romanen erschließen konnten, widmen, zu denen es vom philosophischen Standpunkt aus Wesentliches anzumerken gibt. Auf diese Weise soll dieses Denken in einen größeren philosophischen Kontext eingeordnet werden, was nicht zuletzt dabei helfen dürfte, die Grundfragestellung dieser Arbeit zu beantworten. 1. Marx oder Brecht ?

Der erste Aspekt seines Denkens, den wir uns genauer ansehen sollten, ist Endes Abgrenzung von Marx.390 Vorneweg sei festgehalten : Es gibt keine Anzeichen dafür, daß der Autor von Momo Marx tatsächlich je im Original gelesen hätte, sehr deutliche hingegen, daß ihm das Marxsche Denken durch die Schriften seines »Übervater[s]«391 Bertolt Brecht vermittelt wurde.392 Diese Vermittlung dürfte – bei allem gebotenen Respekt vor Brecht – doch mit einer nicht unbeträchtlichen Verflachung dieses Denkens einhergegangen sein. Endes Auseinandersetzung mit Marx gleicht daher einem »Schattenboxen« gegen einen Kontrahenten, der so nicht existiert. Das betrifft schon den ersten und grundlegenden Teil von Endes Marx-Kritik : den Vorwurf nämlich, Marx denke ausschließlich vom gesellschaftlichen Sein her, während Ende seine eigene Kapitalismuskritik im Gegensatz dazu im Bewußtsein des Einzelnen beginnen läßt.393 Tatsächlich aber ist der Ansatz im Bewußtsein bei Marx keineswegs gänzlich ausgeschlossen. In den Philosophischökonomischen Manuskripten lesen wir z. B. : Der Atheismus […] hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen ; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr ; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen […]. Er ist poDas Denken Michael Endes | 215

sitives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen […]. 394

Zwar ist es richtig, daß das Individuum später bei Marx in den Hintergrund tritt ; aber keineswegs dadurch, daß er in einen blinden, unreflektierten Materialismus verfiele, der den Menschen gleichsam zum hilflosen Roboter degradiert (wie Ende meint). Entscheidend für die Entwicklung des Marxschen Denkens dürfte seine Auseinandersetzung mit Max Stirner sein, 395 in deren Folge er Stirners Willen (als geistiger Metaebene) etwas Sinnlich-Natürliches entgegensetzt, das aber gleichzeitig allgemein ist. Es ist dies die Gesellschaft, welche in einem dialektischen Prozeß (den Marx grosso modo von Hegel übernommen, aber gewissermaßen nach »außen« übertragen hat) durch den (gegenwärtigen) Zustand der Entfremdung hindurch in die Harmonie mit der Natur zurückkehrt, indem sie in einen Stoffwechsel mit dieser tritt. In diesem Sinne ist auch Marxens »Universalisierung« des Individuums zu verstehen, die sich bereits in der jetzigen Entfremdung zeigt – wenn auch nur als Karikatur : In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anderes, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen ? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eigenen Natur ? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht ? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität prodzuiert ? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben versucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist ? In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung ; diese universielle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck. 396 216 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

Der Sinn der Geschichte – und damit auch des Daseins des Einzelnen ! – liegt für Marx letztlich genau in diesem (Wieder-)Eintreten in diese Harmonie mit der Natur, deren Universalität allem zugrunde liegt, nachdem der dialektische Prozess zu seinem Abschluß gekommen ist : dem positiven Ende der Menschheitsgeschichte. 397 Man kann also auch keineswegs behaupten (wie dies Ende nahelegt), daß Marx die Sinnebene des menschlichen Daseins von vornherein ausklammern würde. Generell dürfte Ende also den Marxschen Materialismus sehr plump und »undialektisch« begreifen, weshalb er für ihn auch in einen simplen und unhinterfragten Empirismus kippt. 398 Marx erscheint so als Gläubiger an die von Ende so entschieden abgelehnte Allmacht der Erfahrungswissenschaften, 399 ohne dies aber selbst zu durchschauen. Diese Kritik vermag so freilich nicht zu treffen – Marx, wohlgemerkt ! Bei Endes »Übervater« Brecht hingegen finden sich tatsächlich Anzeichen jenes »plumpen« Empirismus (gepaart mit blindem Fortschrittsglauben), 400 den der Autor von Momo Marx vorzuwerfen scheint. Dies dürfte die Pointe seiner wenig geglückten Abgrenzung von Marx sein : Setzten wir für »Marxentius Communus« Bertolt Brecht ein, so gäbe es auf Endes Kritik kaum etwas zu erwidern. 2. Das Wesen der Erfahrungswissenschaft

Der zweite Punkt, an dem eine philosophische Kritik einzuhaken hätte, ist Endes Auffassung der Erfahrungswissenschaften selbst. Es sei hier kurz daran erinnert, wie er die Grauen Herren sieht : Für mich sind die Grauen Herren nichts anderes als die Repräsentanten des nur und ausschließlich quantifizierenden Denkens. Wenn ich alles wägbar, zählbar und meßbar mache, hebe ich damit den Wert auf[,] und dann steht nur noch eine Null unter dem Strich. Es gilt nichts mehr, oder es gilt alles gleich, alles wird gleichgültig. Wenn ich das berühmte »wertfreie Denken« auf die Tatsachen des menschlichen Lebens übertrage, mache ich aus dem Individuum eine Sache. […] Es handelt sich um die totale Entfremdung des Menschen von seiner Lebenswirklichkeit.401 Das Denken Michael Endes | 217

Jenes nur und ausschließlich quantifizierende Denken, welches alles wägbar, zählbar und meßbar macht, identifiziert Ende dann wiederum – im selben Gespräch – mit dem »naturwissenschaftlichen Weltbild von heute« : [I]m 16. Jahrhundert [hat sich] das nur noch quantifizierende Denken ergeben. Man hielt nur noch das für wahr, was zählbar, meßbar oder wägbar war und leugnete schließlich sogar die Wirklichkeit aller Qualitäten, weil die eben nicht durch ein quantifizierendes Denken zu fassen sind. […] Im naturwissenschaftlichen Weltbild von heute wird nur noch das für wahr gehalten, was ein einzelnes, farbenblindes Auge von der Welt wahrnimmt, und auch davon nur das, was sich in Zahlen ausdrücken läßt, alles andere ist reine Illusion. Die Farben Rot oder Blau existieren in Wirklichkeit nicht, sie werden nur subjektiv von unserem Gehirn erzeugt – was wir wahrnehmen, sind da in Wirklichkeit nur lange oder kurze Lichtwellen, die unsere Sehnerven entsprechend stimulieren. Schwingungen, die man in Zahlen ausdrücken kann. Im Grunde wird alles zur Illusion erklärt, was Qualität ist, also auch die moralischen oder ästhetischen Werte. […] Aber damit verliert man buchstäblich die Wirklichkeit der Welt.402

Auch an dieser Stelle sei nochmals betont : An den Grauen Herren als Bild in Momo als Roman gibt es nicht das Geringste auszusetzen. Tatsächlich ist gerade dieses Heer namenloser Geister, die sich auf nichts als auf Zahlen verstehen, eine der genialsten Schöpfungen Endes überhaupt, welche die Handlung seines Märchenromans zum großen Teil trägt und die nicht ohne Grund in die deutschsprachige Populärkultur eingegangen ist.403 Problematisch wird es hingegen, wenn Ende diese Ausgeburten des »nur und ausschließlich quantifizierenden Denkens« so ohne weiteres mit dem »naturwissenschaftlichen Weltbild von heute« in eins setzt, wie er dies tut. Hätte er recht, so wäre Naturwissenschaft nichts als reine Mathematik und als solche – ironischerweise – gar nicht imstande, jene Rolle als Erfüllungsgehilfin der kapitalistischen Ideologie zu spielen, die ihr Ende vorwirft. Indem Naturwissenschaft kategorisiert, geht sie immer schon von verschiedenen Qualitäten aus ; indem sie ihre Hypothesen in der Empirie überprüft, überbrückt sie unentwegt den Abgrund zwischen ihrer rein formalen (auf die sie 218 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

Ende reduziert) und ihrer inhaltlichen Seite. Nur weil sie auf diese Weise anstrebt, die empirische Welt durch übergeordnete Gesetze durchschaubar zu gestalten, kann sie überhaupt mithelfen, die Natur im kapitalistischen Sinne unter Kontrolle zu bringen, d. h. mit größtmöglicher Effizienz verwertbar zu machen. Dahinter steht letztlich die sinnliche Komponente des menschlichen Erkenntnisvermögens, welche selbst in einer so »vergeistigenden« Ideologie wie dem Kapitalismus, wo ein rein abstraktes Kapital zum höchsten Wert erhoben wird, niemals ausgeschaltet werden kann. Das alles ändert freilich nicht das Geringste daran, daß Endes Kritik grundsätzlich völlig zutrifft. Der Anspruch der Erfahrungswissenschaft, Wirklichkeit zu erfassen, geht ins Leere, weil sie dazu methodisch schlicht nicht imstande ist.404 Worauf sie tatsächlich abzielt (ob dies nun im einzelnen bewußt wird oder nicht), ist auch gar nicht die Wahrheit ihrer Theorien, sondern deren Brauchbarkeit im Sinne der herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsform. Gerhard Gotz hat diese Abhängigkeit in »Das Rätsel Mensch« wie folgt begründet : Die Erfahrungswissenschaft behauptet zwar, dass [die experimentelle] Überprüfung an der Wirklichkeit selbst vorgenommen wird, weil es dabei ja auf das Verhalten der wirklichen Objekte außerhalb des Denkens ankommt. Aber auch wenn nach Prognose und Experiment genau das eintritt, was die Hypothese vorhergesagt hat, zeigen sich uns dabei nur die äußerlich beobachtbaren Fakten, nie die Gründe, die zu diesen Fakten geführt haben. Wir können nur eine zeitliche Folge von Ereignissen wahrnehmen, aber nie, warum sie ablaufen. Die Gründe selbst, die in der Theorie zur Erklärung des Beobachteten erdacht worden sind, können als solche nicht beobachtet und daher auch durch keine Beobachtung überprüft oder gar verifiziert werden. Die Erfahrungswissenschaft nimmt anhand ihrer zutreffenden Vorhersagen wieder nur an, dass die Gründe für das Geschehen genau die sind, die sie sich ausgedacht hat. Sie projiziert ihre Gedankenkonstrukte als wirkliche Gründe, als zugrunde liegende Wirklichkeit, in die beobachteten Ereignisse hinein, ohne dafür je eine Bestätigung bekommen zu können. Die Wirklichkeit selbst entzieht sich der Erfahrungswissenschaft prinzipiell und unverDas Denken Michael Endes | 219

meidlich. Was zu den wahrgenommenen Fakten geführt hat, bleibt unbekannt. Daher ist – unabhängig davon, wie die ErfahrungswissenschaftlerInnen selbst ihre Tätigkeit verstehen und motivieren – das tatsächliche Kriterium erfahrungswissenschaftlicher Theorien nicht die Wahrheit ihrer begründenden Aussagen, ja nicht einmal deren logische Stimmigkeit und nachvollziehbare Plausibilität, sondern die – wenn auch nie ganz risikolose – Brauchbarkeit für bestimmte Zwecke. Von diesen Zwecken her werden die Wissenschaftsbereiche und die Forschungsschwerpunkte festgelegt, von den Zwecken ist natürlich auch die Beobachtung geleitet. Weil Erfahrungswissenschaft im Laufe ihrer vier- bis fünfhundertjährigen Geschichte derart kompliziert und aufwändig geworden ist, dass ihr lohnender Gebrauch als Mittel nur für große, finanzstarke Organisationseinheiten wie Staaten oder Großkonzerne tragbar ist, werden auch die dahinter stehenden Zwecke gesellschaftlich relevant, ja dominant sein müssen. Um welche Zwecke und Interessen es sich handelt, ist wegen der historisch engen Verflechtung und wechselseitigen Hilfestellung zwischen Erfahrungswissenschaft und unserem derzeitigen kapitalistischen Gesellschaftssystem leicht einzusehen : es sind hauptsächlich Profit­ interessen und militärische Interessen, also Herrschaftsinteressen. Das Wissen der Erfahrungswissenschaften gibt Macht über Mensch und Natur.405

Endes Kritik an den Erfahrungswissenschaften rührt also, wie im ersten und zweiten Teil dieser Untersuchung schon gezeigt werden konnte, keineswegs von einer irrational-»esoterischen« Grundhaltung her, die mit exaktem wissenschaftlichem Denken nichts anfangen kann. Ende hat die Grundproblematik der Erfahrungswissenschaften schlicht durchschaut ; und er hat auch deren Allianz mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem, die manch anderem kapitalismuskritischen Denker entgangen ist, deutlich gesehen.

220 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

3. Die Vermittlung zwischen Phantásien und »Menschenwelt«

Gehen wir nun zur Unendlichen Geschichte über. Wir haben gesehen, daß Ende in seinem Roman zwei grundverschiedene »Reiche« konstituiert : das innere, »geistige«, subjektive Phantásien406 und die äußere, materiell bestimmte, objektive »Menschenwelt«. Vom Standpunkt der Philosophie aus, die hier natürlich eines ihrer ältesten Themen überhaupt wiederfindet, sieht dies zunächst so aus, als ob Phantásien zwar einerseits buchstäblich grenzenlos sei, andererseits aber doch gleichsam unvermittelt an der Menschenwelt anpralle. Dieser »harte« Dualismus zwischen Innen und Außen, zwischen Geist und Materie wird freilich im Laufe des Romans erheblich gemildert durch die Möglichkeit des Schöpferischen Ich, Eindrücke von außen in Innenbilder zu verwandeln und diese dann wiederum praktisch kraft seiner Freiheit (»in dem, was wir erschaffen, sind wir frei« (GM 93)) nach außen zu setzten. Wie aber denkt Ende diese praktische »Verwirklichung« konkret ? Im Gespräch mit Joseph Beuys versucht er zu präzisieren : Ende :  »Wissen Sie, das wissenschaftliche Denken beruht im Wesentlichen auf einer Kausallogik. Ohne Kausallogik gibt es keine exakte Naturwissenschaft. Nun ist aber der Mensch gerade dort, wo er am allermeisten Mensch ist, nämlich im Schöpferischen, nicht kausal bedingt, sonst wäre es nämlich nicht frei. Deshalb wird es vom naturwissenschaftlichen Denken meist übersehen. Man kann es nicht beweisen, eben weil es nicht kausal bedingt ist. Sicherlich gibt es für alles Voraussetzungen, aber das ist nicht dasselbe wie die notwendige Folge von Ursache und Wirkung. Das Schöpferische ist das Akausale, es ist das, was ein Mensch aus sich selbst heraus schafft, ohne ursächlichen Zwang. Das heißt, […] daß der Mensch über das Kausallogische hinaus eine Möglichkeit hat, die eben sonst in der Natur nirgendwo vorhanden ist. Alles in der Natur kann man […] kausallogisch erkären, nur das Wesen des Menschen nicht und damit auch die gesellschaft­ lichen Probleme nicht. Die gesellschaftlichen Probleme sind nicht kausallogisch zu lösen, sie sind eben keine natürlichen Probleme, sondern Fragen der Kultur.« Beuys :  »Ich bin ein Gegner von einer solchen Auffassung. Wenn man alle gewaltigen Möglichkeiten, die der Mensch in der Zukunft Das Denken Michael Endes | 221

erreicht, wenn er will – das kann er ja, ist in seine Freiheit gelegt, wenn er will – , erreichen wird, dann werden dennoch niemals die Gesetze der Logik, d. h. der Kausallogik, außer Kraft gesetzt werden. Nur muß man die Kausallogik natürlich nicht in diesem reduzierten exakten naturwissenschaftlichen Denkmodell alleine sehen, sondern muß sehen, daß die Ursache dessen, was ich heute kann, ein Ergebnis einer Ursache ist, die ich in einer anderen Zeitdimension vorbereitet habe. Das ist das Karma-Gesetz. Ich glaube nicht, daß man die wiederholten Erdenleben ausklammern kann, wenn man Auskunft bekommen will über die Gestalt eines zukünftigen Wirtschaftslebens, über die Gestaltung der Rechte und über die Organisation der menschlichen Freiheit in der Gesellschaft […].« Ende :  »Wenn ich das Schöpferische im Menschen außerhalb der Kausalität stelle, bedeutet das nicht Voraussetzungslosigkeit. Alles hat natürlich seine Vorgeschichte. Kausallogik bedeutet, daß aus einer bestimmten Ursache eine bestimmte Wirkung entsteht und entstehen muß, mit Zwangsläufigkeit. Das ist der Sinn der Kausallogik. In den physikalischen Prozessen können Sie das sagen. Da können Sie eine zwingende Kausalkette feststellen. […] Wenn es je soweit käme, daß ich den Menschen vollständig in eine Kette von Ursache und Wirkung eingespannt sähe, dann gäbe es für mich keinen Bereich mehr für menschliche Freiheit. Sondern dann muß der Mensch einer ganz bestimmten Gesetzmäßigkeit folgen, nach der er angetreten ist, und ist auf dieser Schiene und kann nicht runter. Dann ist alle menschliche Freiheit illusorisch.« Beuys :  »Diese Folgerichtigkeit für das menschliche Schicksal ist ein Ergebnis der menschlichen Freiheit, allerdings – jetzt muß man einfügen – nicht zu allen Zeiten gewesen. Denn daß der Mensch zu seiner eigenen Freiheit fähig ist, ist ein erst in neuerer Zeit aufgekommenes Evolutionselement in der menschlichen Entwicklung. Denn ältere Kulturen sind in der Tat geführte Kulturen, sind also Inspira­ tionskulturen.« Ende :  »Aber dann müssen Sie doch selber sagen : Gut, wann nun dieses Freiheitsmoment hineingekommen ist …« Beuys :  »Wir brauchen diese Grenze doch gar nicht so weit zurückzuverlegen. Sagen wir doch ruhig 200 Jahre zurück.« Ende :  »Wann auch immer, aber indem es hineingekommen ist, ist etwas hineingekommen, was sich durch Kausallogik nicht fassen 222 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

läßt. Man kann nicht zur Freiheit gezwungen sein. Wenn Sie sich auch innerhalb der Freiheit nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung verhalten müssen, dann können Sie sich niemals anders verhalten, als Sie sich verhalten müssen.« Beuys :  »Nein, natürlich nicht ! Aber dieses Verhalten, wozu ich mich nachher verhalten muß, bestimme ich selbst. […] Das Wirken der Freiheit gibt es dem Menschen völlig frei an die Hand, neue Ursachen zu setzen, die neue Folgen haben.« Ende :  »Aber er setzt die Ursachen.« Beuys :  »Er setzt die Ursachen.« Ende :  »Die setzt er aber nicht aufgrund von Kausalitäten.« Beuys :  »Doch, sicher ! Die setzt er auf den alten Kausalitäten auf ; nur sind diese Setzungen jetzt seine eigenen Setzungen und nicht die Setzungen anderer.« Ende :  »Aber dann ist doch alles Schöpferische eine Schimäre, dann existiert es doch nicht ! Denn schöpferisch sein heißt ja gerade, neue Anfänge zu setzen, die wir nur aus uns selbst heraus setzen.«407

Daß Gesprächspartner aneinander vorbeireden, kommt selbst unter verwandten Künstlerseelen vor. Unverkennbar ist indes, daß Ende auch hier wieder energisch auf seinem Hauptthema schlechthin beharrt : der schöpferischen Freiheit des Menschen, welche er praktisch durch den real existierenden Kapitalismus, theoretisch durch Denkkonstrukte wie den naturwissenschaftlichen Empirismus bedroht sieht. In der Wahrnehmung dieser akuten Bedrohung können wir Ende zweifellos folgen ; und insofern ist es durchaus nachvollziehbar, daß er so sehr auf diesem Thema insistiert. Aber wie denkt er diese schöpferische Freiheit, aus einer geistigen Welt heraus praktisch in die materielle Menschenwelt einzugreifen ? In dem zitierten Gespräch wirkt es ein wenig so, als bewege er sich auf derselben Ebene wie einst Descartes mit seiner berüchtigten »Lösung«, wonach die menschliche Zirbeldrüse den Austausch zwischen geistiger und materieller Substanz gewährleiste.408 Oder steckt doch mehr dahinter ? Es scheint mir nicht klar, ob Ende tatsächlich darauf reflektiert, daß beide »Reiche« – Phantásien wie die »Menschenwelt« – bewußt sind ; daß also »Erfahrungsgegenstände und bloße Gedanken aller Art […] insofern dasselbe [sind], als sie Gewusstes, Bewusstes, Das Denken Michael Endes | 223

Bewusstseinsinhalte oder Vorstellungen sind«.409 Falls er das tut, ist seine Konzeption des schöpferischen Ich allerdings sehr bemerkenswert. Daß Ende daran denkt, daß die eigentliche und radikale Grenze im Bewußtsein zwischen der Reflexion und den unmittelbaren Sinnesqualitäten verläuft und daß dieses Bewußtsein als schöpferischer Wille ständig das eine in das andere transzendiert (einerseits denkend die Unmittelbarkeit in allgemeine Zusammenhänge überführend, andererseits durch praktisches Eingreifen neue unmittelbare Inhalte schaffend)410 – diese Spekulation ginge zwar wohl doch zu weit. Nichtsdestoweniger könnte man zuweilen durchaus den Eindruck gewinnen, daß sein Denkweg zumindest in eine ähnliche Richtung verläuft ; zuweilen aber – wie in der zitierten Passage  – scheint er dieses Niveau dann doch wieder zu unterschreiten. Letztlich muß die Frage offen bleiben, zumal wir hier an die Grenzen der philosophischen Interpretation eines Lite­ raten stoßen. 4. Die Rolle der Mystik im Denken Michael Endes

Die letzte und umfassendste »Kritik«, die wir vom philosophischen Standpunkt aus am Denken Michael Endes zu üben haben, betrifft Momo und Die unendliche Geschichte gleichermaßen. Mehr noch : Sie betrifft sein Denken insgesamt, wie es sich etwa auch im Wunschpunsch (168 – 79) und anderen Werken zeigt. Die Rede ist von Endes Entscheidung, letztlich alles in mystischen Erfahrungen zu fundieren. Im Märchenroman ist dies Momos Erlebnis am Stundenblumenteich, wo sie der Harmonie der Sphären und dadurch ihrer eigenen Geborgenheit in einem sinn-vollen Kosmos gewärtig wird ; in der Unendlichen Geschichte Bastians »Taufe« in den Wassern des Lebens, welcher er die unmittelbare Gewißheit verdankt, daß es sein Wahrer Wille ist, freudig-schöpferisch an ebendieser Harmonie teilzunehmen – oder schlichter gesagt : zu lieben. Dabei ist es wichtig festzuhalten, daß dies keine exklusiven, nur ganz bestimmten Menschen (wie Momo, Bastian oder auch Michael Ende) in ganz bestimmten Situationen zukommenden Erfahrungen sind, während alle anderen darauf angewiesen wären, die durch diese Auserwählten verkündeten Offenbarungen zu glauben. Im Spek224 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

trum der Spiritualität ist Michael Ende ein Mystiker reinsten Wassers, der stets davon ausgeht, daß jene Erlebnisse, die Momo oder Bastian in ihrem Inneren zuteil werden, prinzipell jedem Menschen zugänglich sind. Mehr noch : Ende ist davon überzeugt, daß jedem Menschen diese Erfahrungen auch tatsächlich zuteil werden, während sie aber in vielen Fällen schlicht verschüttet sind. Wie sagt Meister Hora zu Momo ? »Dann bist du dort, wo die Musik [der Gestirne] herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.«411

Hora weiß, daß Momo jene Musik der Gestirne kennt, weil sie jeder Mensch in seinem Herzen kennt ; und weil jeder Mensch auch ursprünglich den »Weg« in dieses eigene Herz ganz von selbst zu finden vermag. Das erklärt zum Teil, warum so viele von Endes Protagonisten Kinder sind, denen diese ursprüngliche Erfahrung nicht nur rein zeitlich, sondern auch aufgrund ihres naiveren, unmittelbareren Zugangs zur Welt und zu ihrem eigenen Dasein in dieser Welt näher liegt. Damit ist keineswegs gesagt – um dieses Mißverständnis nochmals auszuschließen412 – , daß Michael Ende jenes logische Denken, das sich im Laufe des Heranwachsens zu immer komplexeren und reflexiveren Formen ausdifferenziert (oder dies doch zumindest tun sollte), ablehnt ; aber er bricht es doch an ganz bestimmten Punkten ab und verweist auf etwas, das nicht Denken ist. Er erinnert damit – wenn auch natürlich auf anderem Niveau – an jenen Søren Kierkegaard, dessen Schriften er mit großer Begeisterung las.413 Nun geht jede Mystik grundsätzlich davon aus (und auch Michael Ende tut dies), daß mit Hillfe der Erfahrung genau das bewerkstelligt werden kann, was dem Denken – wie es scheint – versagt bleibt : eine Brücke zwischen dem Menschen in seiner Relativität und dem in religiöser Weise zumeist als Gott angesprochenen Absoluten zu schlagen. Wäre dies möglich, so wären die philosophischen Probleme des Menschengeschlechts tatsächlich gelöst : Indem der größere Sinnzusammenhang des menschlichen Daseins unmittelbar erfahren wird (Momos Erlebnis am Stundenblumenteich), könnte vom in dieser Erfahrung gegenwärtigen Absoluten her eine verbindliche Ethik aufgebaut werden (das harDas Denken Michael Endes | 225

monische Mitklingen in der Musik der Gestirne, welches in der Unendlichen Geschichte auf das Wort Liebe gebracht wird). Die Frage ist indes, wie wir dieses mystische Erleben selbst einordnen sollen. Offensichtlich ist, daß es nicht selbst wiederum Denken sein kann, da es ja genau das leisten soll, was dem Mystiker denkend nicht gelingt. Mystische Erfahrung zeigt sich so als das Andere des Denkens, das dieses auf das Absolute hin übersteigt. Wie aber kann über diese Erfahrung dann überhaupt gesprochen werden ? Die klassische Antwort der Mystik (die zweifellos auch Michael Ende geben würde), wäre : mit Hilfe von Bildern, die auf das eigentlich Unsagbare verweisen. Dieses »Auf-etwas-Verweisen« ist indes eine Scheinlösung, die sich einer optisch-räumlichen Metapher bedient, um das Problem zu umgehen. Tatsächlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder das Denken wird doch gleichsam in die Erfahrung »mitgenommen«, wodurch diese ihren Status als unmittelbare, durch das Denken nicht mehr kritisch hinterfragbare Brücke zum Absoluten verlöre. Oder aber wir nehmen die mystische Erfahrung als das Andere des Denkens tatsächlich ernst, wodurch über diese Erfahrung überhaupt nichts mehr gesagt werden könnte – auch nicht in Bildern ! Sogar der Begriff »Erfahrung« selbst wäre noch zu viel. Es ist dies das Problem aller Mystik überhaupt : ihre prinzipielle Nicht-Mitteilbarkeit. Man könnte nun darauf erwidern, es sei gerade die besondere Qualität mystischer Erfahrung, stets unmittelbar (und deshalb auch Kindern leichter zugänglich) zu sein und daher einer Mit-Teilung im Grunde gar nicht zu bedürfen. Bastians »Taufe« in den Wassern des Lebens, die ihn mit der Gewißheit erfüllt : »Es gab in der Welt tausend und tausend Formen der Freude, aber im Grunde waren sie alle eine einzige, die Freude, lieben zu können« (UG 416), könnte man als Beispiel für eine solche aller Reflexion und allem Zweifel entzogene, direkt in das Denken hineinwirkende Erfahrung nehmen. Allein : Solch eine unmittelbare, tatsächlich unbezweifelbare Gewißheit aus einer Erfahrung heraus gibt es nicht. Jede Erfahrung, sei sie nun besonders oder alltäglich, schön oder schrecklich, erhebend oder bedrückend, läßt sich auf unzählige Weisen durch das Denken deuten. (Mehr noch : In jeder Erfahrung, die wir überhaupt kennen, ist das Denken selbst immer schon interpretierend gegenwärtig, da es diese sonst gar nicht geben könnte. Ein Gefühl ist 226 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

immer schon ein Gefühl von etwas, und zwar auch dann, wenn dieses »Etwas« sich nicht ohne weiteres sprachlich formulieren läßt ; wäre es ein reines Gefühl ohne irgendeine Bestimmung, so wäre es gar nicht da.) Eine bestimmte Erfahrung, wie sie Menschen z. B. beim Betrachten eines prachtvollen Sternenhimmels zuteil wird, als mystische Brücke zum Absoluten aufzufassen, ist also nur eine Möglichkeit von vielen – zumal z. B. ein überzeugter Materialist bei derselben Gelegenheit an spezifische neurochemische Prozesse in seinem eigenen Gehirn denken würde. Ende aber glaubt, daß es jene mystischen Erfahrungen gibt, und zwar deshalb, weil er es glauben will. Es ist dies der Punkt, an dem sich jede Mystik (ob sie will oder nicht) mit der ihr an sich entgegengesetzten Offenbarungstheologie trifft. Was Ende vollzieht – und auch dem Leser seiner Romane nahelegt – nennt Søren Kierkegaard den »Sprung« in den Glauben :414 »die Entscheidung schlechthin«, 415 die dem Einzelnen obliegt und die ihm keiner abnehmen kann. Vom Standpunkt des Denkens aus betrachtet, ist das freilich eine ausgesprochen unzufriedenstellende Lösung. Tatsächlich bleibt es so der individuellen Entscheidung jedes Einzelnen überlassen, ob er einem Mystiker, wie es Michael Ende zweifellos auch ist, folgen will – oder nicht. Die Philosophie kann hier nicht mehr tun, als ein Fragezeichen zu setzen. Auf keinen Fall aber kann sie Endes Entscheidung folgen, den philosophischen Denkweg einfach abzubrechen, um in mystischer Erfahrung einzukehren. Dieser Entschluß nämlich, den sowohl Momo als auch Die unendliche Geschichte dem Leser nahelegen­, wäre philosophisch erst dann zu erwägen, wenn zweifelsfrei erwiesen wäre, daß das menschliche Denken schlicht nicht imstande und geeignet ist, zum Absoluten aufzusteigen. Tatsächlich aber steht ein solcher Beweis noch aus ; und es ist auch nicht absehbar, wie und daß er jemals erbracht werden könnte.

Das Denken Michael Endes | 227

C. Resümee und Beantwortung der Grundfragestellung »Dann glauben Sie mir also ?« fragte Bastian. »Selbstverständlich«, antwortete Herr Koreander, »jeder vernünftige Mensch würde das tun.« – Michael Ende : Die unendliche Geschichte –

Die Grundfragestellung der vorliegenden Arbeit lautete wie folgt : Ist es möglich, aus Michael Endes Romanen »Momo« und »Die unendliche Geschichte« ein eigenständiges, stringentes philosophisches Denken des Autors zu erschließen ? Falls nein, was hindert daran ? Falls ja, wodurch zeichnet sich dieses Denken aus ? Von dieser Basis ausgehend, galt es zunächst die Frage zu klären, ob eine philosophische Interpretation poetischer Texte überhaupt möglich und sinnvoll sei. Die Analyse dieses Problems führte zu einer Reflexion über die Verschiedenheit von logisch-begrifflicher und dichterischer Sprache schlechthin, welche letztlich in der Differenz zwischen Sinnlichkeit und Denken, die das menschliche Erkenntnisvermögen prägt, fundiert ist. Als Ergebnis hat sich gezeigt, daß poetische Texte einer philosophischen Untersuchung durchaus zugänglich sein können, vorausgesetzt, ihre prinzipielle Andersartigkeit gegenüber logisch-begrifflicher Argumentation wird verstanden und respektiert. Danach wurde versucht, das Vorurteil auszuräumen, Ende habe mit seinem Schaffen geradezu eine »Überwindung des abstrakt-begrifflichen Denkens«416 bezweckt – was, wenn es wahr wäre, eine Untersuchung wie die vorliegende natürlich von vornherein ad absurdum führen würde. Tatsächlich aber hat sich erwiesen, daß sich Endes tiefe Skepsis lediglich auf die Allmacht der erfahrungswissenschaftlichen Denkmodelle (ein Motiv, daß wir später in Momo wiederfinden konnten), keinesfalls jedoch auf stringente, logische Argumentation an sich bezieht. Daran anschließend sollte ein erster Vorausblick auf den Gegenstand dieser Untersuchung gewonnen werden, indem gefragt wurde, welche Elemente im Werk Michael Endes vor allem auf das spezifisch philosophische Denken des Autors hinweisen. Hierbei rückte zunächst der ausgeprägt reflexive Charakter vor allem der Unendlichen Geschichte in den Vordergrund, der den Roman auf signifikante Weise nicht nur von den Werken J. R. R. Tolkiens, 228 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

sondern vom literarischen Genre der Fantasy überhaupt, dem er oft vorschnell zugeordnet wurde, abgrenzt. Indem die vielfältigen und komplexen reflexiven Wendungen des Romans nachvollzogen wurden, die letztlich auch den Leser selbst einzubeziehen suchen, konnte ein erster Blick auf ein, wenn nicht das Grundthema im Denken Endes geworfen werden : Die Frage nach den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst. Sein philosophisches Denken konnte so vorläufig als Kunsttheorie bestimmt werden – freilich im weitestmöglichen Sinne des Wortes, da für Ende das Künstlerische (Schöpferische) im Menschen dessen ureigenes Wesen ausmacht. Jede Kunsttheorie wird unter diesen Voraussetzungen zu einer Reflexion über das Menschsein schlechthin. Als nächstes war im Denken Michael Endes eine deutliche ethische Komponente auszumachen, zumal die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen, welche schöpferisches Menschsein ermöglichen, bei Ende einer Aufforderung an den einzelnen gleichkommt, dafür Sorge zu tragen, daß diese Bedingungen tasächlich eintreten. Dabei ließ sich eine deutliche thematische Zweiteilung feststellen. In Momo schien Ende vor allem jene Strukturen herauszustellen, welche für ihn das Schöpferische im Menschen zu ersticken drohen und die er als Manifestationen des Kapitalismus begriff – mithin die Bedingungen der Verhinderung von »Kunst« im umfassenden Endeschen Sinne. In der Unendlichen Geschichte hingegen – so wurde es als Arbeitshypothese formuliert – rückt Ende die menschliche Schaffenskraft selbst in den Mittelpunkt, welche den einzelnen ermächtigt, jenen Strukturen auch und vor allem in sich selbst erfolgreich zu begegnen und so zu einem sinnvollen, d. h. kreativen Menschsein zu gelangen. Die Unendliche Geschichte hätte so letztlich die Bedingungen der positiven Möglichkeit eines schöpferischen Daseins zum Thema. Mit diesen Hypothesen im Gepäck wurde der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung begonnen, der sich Endes Märchenroman Momo zuwandte. Dabei ging es zunächst um den Charakter des Werkes schlechthin, das etwa von dem deutschen Politiker Erhard Eppler zu Recht als zutiefst systemgefährdend aufgefaßt wurde. Wie schon im ersten Teil dieser Untersuchung deutlich wurde, ist mit diesem »System« die kapitalistische Gesellschaftsform gemeint, welche Ende stets als größte Herausforderung – oder Bedrohung – Resümee und Beantwortung der Grundfragestellung | 229

unseres Zeitalters betrachtet hat. Momo wurde so als ein Werk begriffen, das die Grundlagen und Charakteristika der herrschenden kapitalistischen Ideologie aufzudecken sucht und entschieden vor ihren drastischen Folgen warnt. Dies warf die Frage nach dem Verhältnis des Verfassers zum Marxismus auf, der in der Entstehungszeit des Romans den kapitalismuskritischen Diskurs in hohem Maße prägte. Eine erste, deutliche Antwort fand sich im Roman selbst : Eine ironische Parabel über Anspruch und Verwirklichung der Marxschen Philosophie, welche in Momo eingeflochten wurde, ließ sich unschwer als Abgrenzung Endes gegenüber Marx deuten. Durch eine eingehende Analyse des zentralen Kapitels von Momo wurde danach damit begonnen, Endes eigenen Kapitalismusbegriff zu erhellen. Dabei zeigte sich, daß Ende seine Geschichte des Kapitalismus im Bewußtsein eines Einzelnen beginnen läßt, der von Sinnfragen gequält wird. Dabei kommt es zu einer Art »Sündenfall«, indem sich dieser Einzelne selbst auf seine leiblichen Bedürfnisse reduziert und entschließt, sein Seelenheil im »Luxus« zu suchen. Vom Vertreter des »naturwissenschaftlichen Weltbildes« (wie es Ende begreift), welcher alsbald wie auf Stichwort herbeieilt, wird er in dieser fatalen Entscheidung noch bestärkt. Derselbe »Agent«, welcher ausschließlich in Zahlen zu denken vermag, ist ihm bei der Umgestaltung seines Lebens nach rein ökonomischen Maßstäben »behilflich«, was zu einer drastischen Verarmung seiner gesamten Existenz führt. Durch Einbeziehen von Gesprächs­protokollen und anderen Quellen ließ sich aufweisen, daß sich Ende selbst mit dieser Darstellung in striktem Gegensatz zu Marx sieht, dem er weder den Ansatz beim Bewußtsein des Einzelnen noch auch ein kritisches Hinterfragen des naturwissenschaftlichen Empirismus zutraut. Der Kapitalismus ließ sich also von Momo her als eine Ideo­ logie verstehen, welche den empirischen Genuß in den Rang einer absoluten Sinnebene emporhebt. Wie sich dies praktisch im egoistischen Streben nach immer neuen Konsumgütern (worunter hier z. B. auch soziale Beziehungen verstanden werden) manifestiert, wurde anhand einer sehr eindringlichen Passage des Märchenromans analysiert. Endes Denkweg weiter verfolgend, stieß diese Untersuchung auf seinen Begriff der kapitalistischen Konkurrenz, welche ihren absoluten Charakter dem unbedingten Verlangen je230 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

des einzelnen Kontrahenten nach dem eigenen empirischen Vorteil verdankt. Freilich vermag selbst der üppigste Luxus die Rolle einer sinngebenden Instanz letztlich gar nicht zu spielen, da ihm stets das Stigma der Endlichkeit anhaftet. Daher nimmt, wie Endes Erzählung von der Wunderbaren Geldvermehrung auf drastische Weise zeigte, schließlich das Kapital selbst – als universales Genußmittel und abstrakte Projektionsfläche für die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Sinn zugleich – seinen Platz an der Spitze der nach ihm benannten Ideologie ein. Indem es geradezu zum Gegenstand allgemeiner Anbetung wird, erblickt die von ihm geprägte Gesellschaft in seinem unbeschränkten Wachstum den Endzweck allen menschlichen Strebens. Aus Momo ließ sich erschließen, wie Ende die Stellung des einzelnen in dieser Gesellschaftsform sieht : Zum bloßen Instrument der Kapitalvermehrung herabgedrückt, vermag er sein schöpferisches Ich nicht mehr zu verwirklichen. Da Ende indes in diesem Schöpferischen den Wesenskern des Menschen schlechthin erblickt, kommt dies geradezu einer drohenden Selbstauslöschung des Menschengeschlechts gleich. Von dieser apokalyptischen Vision auf die Grundlagen der Ende­ schen Kapitalismuskritik zurückgehend, konnte die individuelle Angst vor dem Tod als die eigentliche Basis für die Ausbreitung der kapitalistischen Ideologie ausgemacht werden. Mit Søren Kierkegaard, den Ende intensiv rezipierte, wurde diese Angst als jener »Schwindel der Freiheit« verstanden, in dem diese »die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten«.417 Dort, wo der einzelne Mensch hoffnungslos in den Abgrund seiner eigenen Sterblichkeit blickt, während sich jeder metaphysische Sinn seines endlichen Daseins gänzlich entziehen scheint, liegt für Ende die so verzweifelte wie fatale Entscheidung nahe, diesen Sinn in möglichst unbeschränktem empirischen Genuß zu suchen. Es ließ sich indes zeigen, daß Ende den individuellen Tod als nichtig und scheinbar versteht. Mit Blick auf Endes eigene Deutung, wie er sie in Phantasie/Kultur/Politik gibt, wurde jenes mystische Erleben analysiert, das Momo in ihrem »eigenen Herzen« (womit nicht das Organ gemeint ist) zuteil wird. Dort erfährt sie sich selbst als Kind des »geistigen und physischen Kosmos«, 418 dem sie entstammt und der sie unaufhörlich anspricht. Momo (bzw. Michael Ende) weiß : In diesen beseelten κόσμος, in diese Harmonie Resümee und Beantwortung der Grundfragestellung | 231

der Sphären wird sie nach ihrem physischen Tod zurückkehren, um selbst als ein Ton in einem nie endenen Wohlklang mitzuklingen. Mit und in dieser Erfahrung verliert der Tod seinen Schrecken und damit die kapitalistische Ideologie ihr Fundament im Individuum. Von diesem Punkt aus konnte schließlich auch der Begriff der Zeit bei Michael Ende erschlossen werden, welcher den linearen Zeitverlauf, mit dem die »Agenten« des naturwissenschaftlichen Weltbildes rechnen, in Hinblick auf den metaphysischen Grund der Dinge letztlich als scheinbar und rein »irdisch« versteht. In der Unendlichen Geschichte bringt dies die Kindliche Kaiserin mit dem beinah wörtlichen Kierkegaard-Zitat »Ewig ist der Augenblick« (UG 197) auf den Punkt. Es hat sich abschließend zeigen lassen, wie entschieden Ende darauf besteht, daß jene mystische Erfahrung prinzipiell jedem Menschen offensteht und auch tatsächlich jedem Menschen unaufhörlich »in seinem Herzen« zuteil wird (während sie aber, sofern er den Verlockungen des Kapitalismus folgt, verschüttet ist). Jeder einzelne ist deshalb auch imstande, jene Harmonie der Sphären anderen mitzuteilen, was in jedem »wahren« schöpferischen Akt erfolgt. Kreatives Schaffen – für Ende die menschliche Tätigkeit schlechthin – bedeutet in diesem Kontext nichts anderes, als der meta-physischen Ordnung der Dinge irdischen Raum zu geben – worin gleichzeitig die höchste Freiheit des Menschen, dessen innerstes Wesen ja immer schon auf dieses harmonische Ganze hin ausgerichtet ist, zum Ausdruck kommt. Damit wandte sich diese Untersuchung der Unendlichen Geschichte zu. Zunächst wurde in einem kurzen Abschnitt, welcher sich als Epilog zur Beschäftigung mit Momo verstand, der zugleich aber auch einen ersten Blick in die philosophische Tiefe der Unendlichen Geschichte ermöglichen sollte, der Konflikt um die Verfilmung des Romans unter dem Titel The Neverending Story zum Thema. Endes vergebliches Ringen um eine adäquate filmische Umsetzung seines Werkes  – gegen die strikt kommerziellen Interessen der Filmindustrie – erwies sich dabei geradezu als praktische Bestätigung seines kapitalismuskritischen Denkens (auf die der Autor indes zweifellos lieber verzichtet hätte). Zum Roman selbst voranschreitend, wurde im ersten Teil der Unendlichen Geschichte die Zweiteilung in Innen und Außen, geistiges und und materielles »Reich«, Phantásien und »Menschenwelt« als zentrales 232 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

Element ausgemacht. Dabei konnte jede materialistische Rückführung der Innen- auf die Außenwelt (etwa indem das menschliche Gehirn als empirischer Gegenstand zum »Träger« des Geistigen gemacht wird), aber auch jede idealistische Vermittlung beider in einem übergeordneten geistigen Prinzip bei Ende ausgeschlossen werden. Im Fortgang des Romans zeigte sich indes eine praktische Vermittlung in Form eines fruchtbaren Kreislaufs zwischen beiden »Welten«, welcher durch das Schöpferische Ich des Menschen gewährleistet wird. Dieses verwandelt Eindrücke von »außen« in einem Akt der »Alchemie«, wie es Ende im Gespräch bezeichnet, in Innenbilder, die dann wiederum praktisch hinaus in die empirische »Menschenwelt« gesetzt werden können. Damit aber verändert sich deren Gestalt : Neue, inspirierende »Außenbilder« entstehen. Es ließ sich indes feststellen, daß Ende in seinem Roman von einer empfindlichen Störung dieses Kreislaufs ausgeht. Die Innenwelt (Phantásien) zeigt sich zusehens verwüstet, da die »Menschenwelt« gleichsam keine Bilder mehr liefert, mit denen das Schöpferische Ich des einzelnen sinnvoll arbeiten könnte. Da aber genau dadurch wiederum die empirische Lebenswelt des Menschen verödet, verkommt jener fruchtbare Zirkel zum »Teufelskreis« (Ende). Ursächlich dürfte für Ende die Umgestaltung der »Menschenwelt« in eine den »Bedürfnissen« des Kapitals angepaßte Maschinerie sein, welche dem schöpferischen Wesen des Menschen schlicht nicht mehr gerecht wird  – womit sich unverkennbar eine Brücke zwischen den Grundthemen von Momo und Unendlicher Geschichte zeigte. Die Welt, die er selbst geschaffen hat, wird dem Menschen derart fremd, daß sie ihn nicht mehr zu poetischen Innenbildern zu inspirieren vermag. An ihre Stelle treten – als degenerierte Form – Illusion und Lüge, welche nach »außen« getragen werden, um sich Vorteile im beinharten kapitalistischen Konkurrenzkampf (s. oben) zu verschaffen. Als verantwortlich für diesen Mißstand, der letztlich beide »Reiche« essentiell bedroht, erwies sich das schöpferische Ich des Menschen selbst. Es liegt daher – so konnten wir die Unendliche Geschichte deuten  – an diesem schöpferischen Ich, sich auf sein wahres Wesen zu besinnen und so den fruchtbaren Kreislauf zwischen Phantásien und »Menschenwelt« wieder zu ermöglichen. Dies führte zur Frage nach dem Wesen des Schöpferischen selbst, welche Ende im zweiten Teil der Unendlichen Geschichte beantworResümee und Beantwortung der Grundfragestellung | 233

tet. War es im Kontext der Kapitalismuskritik Karl Marx, von dem sich Ende abzugrenzen suchte, so rückte hier seine Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche in den Vordergrund, dessen Denken er zweifellos viel verdankt, dessen Begriff des Schöpferischen als Wille zur Macht er aber offensichtlich nicht teilt. Tatsächlich führt dieser Begriff, wie wir anhand des Romans verfolgen konnten, letztlich in bloße Beliebigkeit, da sich das »zur Macht« als Scheinbestimmung entpuppt. Es hat sich zeigen lassen, daß Ende selbst hier einen gänzlich anderen Weg beschreitet, indem er das Schöpferische in der Harmonie der Sphären und damit letztlich im religiös verstandenen Absoluten verankert. Wie in Momo, ist es auch in der Unendlichen Geschichte eine mystische Erfahrung, in welcher diese Verbindung gegenwärtig wird ; und genau wie in Momo, werden damit die Grenzen des Denkens überschritten. Der letzte Teil dieser Untersuchung unterzog schließlich das Denken Michael Endes nochmals einer prüfenden Betrachtung. Vorneweg wurde darauf hingewiesen, daß das Schaffen eines Literaten, der selbst keinerlei Anspruch auf einen philosophischen Wert seiner Werke erhob, nicht Gegenstand einer philosophischen Kritik im herkömmlichen Sinne sein kann. Nichtsdestoweniger wurde in einer kritisch-reflektierenden Rückschau versucht, das Denken Michael Endes, wie es sich aus seinen Romanen erschließen ließ, in einen größeren philosophischen Kontext einzuordnen. Vier Punkten wurde hierbei besonderes Augenmerk zuteil : Endes wenig geglückter Auseinandersetzung mit Marx, seiner einseitigen Auffassung der Naturwissenschaften (wobei seine Kritik hier jedoch grundsätzlich zutrifft), der etwas unklaren Vermittlung zwischen geistiger und materieller Welt sowie schließlich der nicht unproblematischen Rolle der Mystik in seinem Denken. Ich denke, daß auf dieser Basis die Grundfrage der vorliegenden Arbeit umfassend positiv zu beantworten ist. Wir konnten ein Denken Endes verfolgen, das schon allein deshalb philosophisch zu nennen ist, weil es in seiner Gesamtheit auf den metaphysischen Grund der Dinge hin ausgerichtet ist. Seine Reflexion über die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit einer ursprünglich-schöpferischen Existenz ist eine Reflexion über das Da-Sein und Wesen des Menschen im ganzen und in Bezug auf das Ganze. Wie das zentrale Kapitel von Momo seinen Ausgang bei den Sinnfragen des einzelnen 234 | Die Grenzen Phantásiens : Keine Kritik 

nimmt, so handelt Die unendliche Geschichte in ihrer Tiefe und im Grunde von der »Suche nach dem Lebenssinn«.419 Ungeachtet seiner Sympathie für die Bewegungen des New Age erweist sich Endes Denken dabei keineswegs als esoterisch-diffus, sondern besticht durch klare, kritische Reflexionen, die ihn zu einer Vielzahl von Themen führen. Sie alle sind philosophische Themen par excellence : seine Kapitalismuskritik ; die Frage nach dem Wesen der Zeit ; das Verhältnis von Geist und Materie ; die Frage nach dem Schöpferischen im Menschen. All dies wird von Ende keineswegs nur in Bildern abgehandelt, die man auf tausenderlei Weise deuten könnte, sondern in der Tiefe durchdacht, was zu bemerkenswerten Ergebnissen führt. Und all dies wird von Ende zu einem Ganzen verbunden, das zwar natürlich nicht unangreifbar, dessen gedankliche Geschlossenheit aber beeindruckend ist. Das Denken Endes mag nicht systematisch im engeren Sinne sein ; stringent ist es allemal. Wodurch zeichnet sich das philosophische Denken Michael Endes aus ? Diese Frage ist wohl schon etwas schwieriger zu beantworten. Naheliegend wäre es, auf die Rolle des Schöpferischen in seinem Denken zu verweisen – womit Ende freilich Gefahr liefe, als bloßer Epigone Nietzsches zu erscheinen. Freilich konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, wie entschieden sich Ende von Nietzsches Begriff des Willens zur Macht abgrenzt  – der ja das Schöpferische auch tatsächlich nicht zu fassen vermag. Ende geht hier gänzlich andere Wege, indem er das Schöpferische letztlich im religiös verstandenen Absoluten verankert (was wiederum an Kierkegaard erinnert). Und er geht auch insofern andere Wege, als ihn die Frage nach der Möglichkeit schöpferischer Praxis zu einer detaillierten und durchaus fundierten Kapitalismuskritik führt (ein Thema, das bei Nietzsche so gut wie keine Rolle spielt).420 Vielleicht ist gerade das das Besondere am Denken Michael Endes : daß er die Grundthemen eines Marx, eines Kierkegaard und eines Nietzsche auf eigenständige Weise miteinander verbindet, wobei er mit seinen Quellen und philosophischen Einflüssen (meist) durchaus souverän umgeht und sie stets kritisch hinterfragt. Wo dies zu zweifelhaften Ergebnissen führt (bei Marx), liegt dies schlicht an unzureichender Kenntnis der Quelle selbst, während er das eigentliche Ziel seiner Kritik – Bertolt Brecht – auch hier durchaus zu treffen vermag. All dies macht aus Michael Ende noch keinen »großen PhilosoResümee und Beantwortung der Grundfragestellung | 235

phen«. Die Herausgeber philosophischer Lehrbücher und Enzyklopädien können beruhigt sein : Die Geschichte der Philosophie wird dieser Untersuchung wegen nicht umgeschrieben werden müssen. Es beweist meiner Meinung nach aber doch, daß das Denken Michael Endes bisher drastisch unterschätzt wurde. Das ist umso erstaunlicher, als die Eignung seiner Bücher, kritische Gedanken und grundsätzliche Diskussionen anzustoßen, sich in den letzten vier Jahrzehnten auf vielfältige Weise gezeigt hat. Daß Momo und Die unendliche Geschichte, welche weltweit millionenfach begeistert gelesen wurden, bei unzähligen Menschen, die ansonsten kaum je mit philosophischem Denken in Berührung gekommen wären, Reflexionen über den Sinn ihres Daseins und das Wesen ihrer Gesellschaftsform ausgelöst haben, steht außer Frage. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist die Ende-Rezeption in Japan :421 In einer in jeder Hinsicht radikalkapitalistischen Gesellschaft, die den Marxismus bis heute kaum bzw. fast ausschließlich als Schreckgespenst kennt, wurde durch Momo ein breiterer kapitalismuskritischer Diskurs überhaupt erst eröffnet (was Ende in Japan geradezu zu einer »intellektuellen und moralischen Instanz«422 machte). Von der Warte der Philosophie aus gesehen, liegt Michael Endes größte Leistung also trotz allem wohl weniger in seinem Denken selbst als in der Art und Weise, wie er zu denken gibt. »Michael Ende hat Bilder von großer poetischer Verwandlungskraft geschaffen«423 – diesen Satz aus einer Besprechung von Momo könnte man mit großer Berechtigung über sein gesamtes umfangreiches Lebenswerk stellen. Fast durchgehend gelingt es ihm, drängende Problemstellungen und Fragen, die jeden Einzelnen von uns angehen, in Erwachsenen wie Kindern zugänglicher, zugleich unaufdringlicher und unmißverständlicher Weise zu vermitteln. Das bedeutet indes, daß auch seine rein schriftstellerischen Möglichkeiten keineswegs so limitiert gewesen sein können, wie es dem angeblichen »Kinderbuchautor« gerne unterstellt wird. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

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242 | Literaturverzeichnis 

A NMERKU N G EN Anmerkungen 1  »Wieviel

doch zu wissen vermöchte, wer nur fünf oder sechs Bücher gründlich kennte …“« 2  Broch 463. Die genauen Angaben zu den zitierten Werken finden sich im Literaturverzeichnis der vorliegenden Untersuchung. 3  Zuweilen hat sich Ende literarisch gerächt. Im Wunschpunsch (27) heißt es : »Übrigens gab es [unter den Schreckgestalten] auch ein besonders scheuß­liches kleines Monster, ein sogenanntes Büchernörgele, im Volksmund auch Klugscheißerchen oder Korinthenkackerli genannt. Diese kleinen Geister verbringen normalerweise ihr Dasein damit, daß sie an Büchern herumnörgeln. Es ist bisher noch nicht eindeutig erforscht, wozu es solche Wesen überhaupt gibt […]«. 4  »Ein eindrucksvolles Plädoyer, den Alltag […] mit einer Summe aus Glücksmomenten […] anzufüllen«, zitiert der Piper Verlag zu Werbezwecken stolz Die Welt (Magische Bühnenwelten 649). 5  S. Kapitel III.B dieser Arbeit. 6  S. Aschenberg 126 – 2 8 sowie unten den Abschnitt »Die Geschichte eines Mißverständnisses« in Unterkapitel I.C.3. TEIL I · Grundlagen

S. 13

7 

Vgl. z. B. Horst Dieter Schlosser : dtv-Atlas Deutsche Literatur. München 2010. 8  Annika Renker u. a. (Hg) : Schülerduden Literatur, S. 116. 9  So etwa Bengt Algot Sørensen im zweiten Band seiner Geschichte der deutschen Literatur (München 2012), S. 400. ; vgl. hierzu auch Anm. 96 der vorliegenden Untersuchung. 10  Vgl. z. B. Roman Hocke/Uwe Neumahr über Die unendliche Geschichte : »[…] hier entfernt sich Ende weit vom Kinder- und Jugendbuch« (112). 11  S. Unendliche Geschichte 190 (»Der Kreis der ewigen Wiederkehr«) sowie unten den Exkurs zu Nietzsche in Unterkapitel III.D.1. 12  S. Momo 49 f. sowie unten Kapitel II.B. 13  S. Hocke/Neumahr 42. 14  Vgl. z. B. Sôiku Shigematsu : Momo erzählt Zen (s. u.). 15  Vgl. hierzu sowie zum gesamten Absatz : Abschnitt C.3. 16  Im Kontext dieser Untersuchung ist natürlich nur jene Literatur relevant, die in irgendeiner Weise wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, weshalb zahlreiche durchaus kuriose Blüten, die die Diskussion um Ende hervorgebracht hat, unberücksichtigt bleiben müssen, so groß ihr Unterhaltungswert 11

 243

auch sein mag. Als Bespiel hierfür seien zwei Beiträge völlig verschiedener ideologischer Färbung angeführt. In Klaus Bergers »Michael Ende. Heilung durch magische Phantasie« (Wuppertal 1985) unternimmt der von tiefem missionarischem Eifer beseelte Autor den Versuch, die dämonische Besessenheit Endes u. a. durch Zitate aus dem düsteren Erzählband Der Spiegel im Spiegel zu belegen, was ihn zu dem originellen, wenn auch nicht ganz unvorhersehbaren Schluß führt : »Die Dämonen […] sind in der heutigen Zeit wieder gefragt. Ihre Existenz und Wirksamkeit kann in Endes Büchern gefunden werden« (127). Es ist Berger nur zu wünschen, daß ihm eine Möglichkeit geoffenbart wurde, Endes teuflische Werke grosso modo zu exorzieren und sich so den mühsamen Weg durch die Buchhandlungen der Welt zu ersparen.  – Nicht mit der Bibel, sondern dem Kapital bewaffnet rückt hingegen Andreas von Prondczynsky aus, um in seinem 1983 erschienen Essay »Die unendliche Sehnsucht nach sich selbst« die »ideologischen und politischen Implikationen« (87) der Unendlichen Geschichte zu untersuchen. Sein Urteil fällt indes nicht weniger niederschmetternd aus als das Bergers : Nicht allein der Autor, auch die begeisterten Leser des Romans würden »den Schritt zu materialistischdialektischer Denkweise scheuen (weil sie auch diese dem allgemeinen Verdikt tötlicher [sic] Vernunft subsumiert haben)« (90). Gehemmt durch solche Verstocktheit, »gelangt [Ende] nicht über die Reproduktion des Kantschen Dilemmas hinaus, der Tugendlehre und Vernunftkritik als schroffe Gegensätze unvermittelt lassen mußte« (88). Nicht einmal über Kant ist Ende also hinausgekommen ! Das ist wahrhaft tödlich. 17  Sôiku Shigematsu : Hoshi no ôjisama, zen wo kataru (»Der kleine Prinz erzählt Zen«). Tôkyô 1988. 18  Übrigens gibt es sogar eine Untersuchung, die sich den philosophischen Grundlagen und Implikationen eines Werkes von Michael Ende zu widmen scheint, nämlich Friedhelm Mosers »Jim Knopf und die sieben Weisen«. Diese vorgebliche »Einführung in das philosophische System von Michael Endes Kinderbuch-Klassiker« (Klappentext) birgt jedoch keinerlei Versuch einer Analyse von »Jim Knopf«, sondern bringt einzelne Passagen daraus in willkürliche, »originelle« Kontexte zu Brocken und Bröckelchen philosophischer Tradition, wie etwa die Beschreibung der Insel Lummerland zu Gedanken aus Platons »Staat« (5 – 11). Obwohl ihm auf diese Weise einige recht amüsante Pointen gelingen, ist Mosers Büchlein insgesamt wenig geistreich geraten. Die eigentliche Pointe nämlich entgeht ihm völlig : daß »Jim Knopf« tatsächlich ein eminent philosophisches Buch ist, das sich eine ernsthafte Deutung mehr als verdient hätte. 19  Tilman Schröder : »Erwachsene nur in Begleitung von Kindern zugelassen !« Erinnerungen an Jim Knopf, Momo und Michael Ende zu dessen 75. Geburtstag (www.uni-stuttgart.de/esg/zettelkasten/Ende.pdf), S. 26. 20  Vgl. Anmerkung 18. 21  So Alfred Schmidt (Salaquarda 132) über das Denken des von ihm durch244 | Anmerkungen 

aus hochgeschätzten Nietzsche. Wenn es selbst dem Ruhm eines großen Philosophen keinen Abbruch tut, jenen Anspruch auf Systematik nicht erfüllt zu haben, so ist er mit Sicherheit keiner, der an den Schriftsteller Ende heranzutragen wäre. 22  Siehe hierzu Abschnitt C.4 dieses Teils der Untersuchung. Falls die dort geäußerten Thesen zutreffen, wird sich ohnehin eine ausgeprägte thematische Verwandtschaft innerhalb des Endeschen Schaffens zeigen. 23  Siehe ebd. – Der Niemandsgarten, erstmals publiziert 1998, wird nach dem gleichnamigen Sammelband (München 2009) zitiert. 24  Besonders hervorzuheben sind hierbei : Erhard Eppler ; Michael Ende ; Hanne Täschl : Phantasie/Kultur/Politik. Protokoll eines Gesprächs. Stuttgart 1982 (im folgenden zitiert als : Phantasie/Kultur/Politik) sowie Joseph Beuys ; Michael Ende : Kunst und Politik : ein Gespräch. Wangen 1989 (im folgenden : Kunst und Politik). 25  Vgl. Rzeszotnik 206. 26  Erstaunlicherweise gibt es bis heute keine Lebensbeschreibung Endes, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Vgl. zum Folgenden aber Peter Boccarius : Michael Ende. Der Anfang der Geschichte (München 1995), eine immerhin detaillierte, wenn auch durch reißerischen Stil und entbehrliche psychologische Spekulationen einigermaßen entwertete Darstellung der ersten Lebenshälfte des Künstlers ; sowie Roman Hockes/Uwe Neumahrs lesenswerten Ausstellungskatalog : Michael Ende. Magische Welten (München 2007), dessen Schwerpunkt indes auf Endes dramatischem Schaffen liegt. 27  So Michael Ende im Gespräch mit seiner späteren Frau Mariko Sato (Manuskript aus dem Nachlaß des Autors). Zitiert nach : Hocke/Neumahr 24. 28  Genannt seien etwa  : der spätere Leiter des Goethe-Instituts, Rainer Lübbren ; der international bekannte Schauspieler Mario Adorf ; sowie Ruth Drexel, die spätere Intendantin des Münchner Volkstheaters und populäre Seriendarstellerin (Der Bulle von Tölz). 29  Vgl. die Photographien von Brecht und Ende in : Hocke/Neumahr 49. 30  »Playboy Interview : Michael Ende«. In : Playboy, Heft 10/1982, S. 71 – 81 ; hier : S. 79. 31  Hocke/Neumahr 59. 32  Jim Knopf 3. Dies erinnert übrigens an J. R. R. Tolkien (s. u.), dessen Erstlingswerk The Hobbit aus dem gedankenlos hingekritzelten Satz »In a hole in the ground there lived a hobbit« entsprang (vgl. Carpenter 181). 33  Hocke/Neumahr 60. 34  Der hier geschilderte Konflikt, dessen Bedeutung über den rein biographischen Kontext hinausgeht, wird in Abschnitt III.B ausführlich behandelt. 35  Hocke/Neumahr 184. 36  Vgl. etwa Phantasie/Kultur/Politik 42 – 45, im besonderen 44, wo Ende sich ausdrücklich auf Steiner beruft. 37  Vgl. zum folgenden Absatz Christoph Lindenbergs übersichtliche EinAnmerkungen | 245

führung in Leben und Werk Rudolf Steiners (Rowohlts Monographien 50500), der es leider etwas an kritischer Distanz mangelt. 38  Vgl. Auffarth u. a. (Hg.) : Metzler Lexikon Religion, Bd. I, S. 295. 39  Vgl. etwa die Artikel zum 150. Geburtstag Steiners in der Tageszeitung Der Standard vom 15. 1. 2011, S. A1 f. (»Steiner ›entsteinern‹«) mit differenziertpositiver Bewertung der Anthroposophie sowie im Wochenmagazin Profil 9/2011 S. 76 – 80 unter dem geistreichen Titel »Steinereien« (polemisch-negativ). 40  Vgl. Sôiku Shigematsu : Momo erzählt Zen (Berlin 1991). 41  Vgl. z. B. Hocke/Neumahr 97. 42  Im Gegensatz dazu impliziert freilich Kowatsch (42), daß gerade Endes »Beschäftigung mit fast allen okkulten Systemen der Welt, vom Zen-Buddhismus bis zu […] der Anthroposophie Rudolf Steiners«, ihn zur Schaffung seiner intensiven Bilder inspiriert haben könnte, denn »diese Denksysteme bauen auf der Eigengesetzlichkeit von Bildern auf, im Gegensatz zu Begriffen, die immer etwas Erstarrtes sind.« Abgesehen davon, daß diese Entgegensetzung so nicht zu halten ist (s. Abschnitt C.1 dieses Teils), verkennt die obige Annahme ganz offenbar den Okkultismus Steiners, dessen nebelhafte »Bilder« mit den kraftvollen Imaginationen Endes in keiner Weise verwandt sind. Anders verhält es sich wohl mit dem Zen-Buddhismus, der aber wiederum kein »okkultes System« darstellt und daher von Kowatsch zu Unrecht in ihre Argumentation einbezogen wird. 43  Vgl. Lindenberg 137. 44  Vgl. Burkard/Weiß 115 45  Hocke/Neumahr 173 46  Erinnerungen 18 ; zit. nach : Hocke/Neumahr 38. Vgl. auch das der Einleitung vorangestellte Zitat. 47  Unendliche Geschichte 10. Diese und weitere Details entsprechen exakt dem Erscheinungsbild des Buches, das der Leser (der gebundenen Ausgabe) von Endes Roman in Händen hält. Diese kunstvolle Inversion, die Ende in der Folge sogar noch potenziert (s. u.), wird im Abschnitt »Über den reflexiven Charakter der Unendlichen Geschichte« auf S. 54 f. behandelt. 48  Die Schreibung in Blockbuchstaben folgt Ende, der das Amulett damit offenbar als etwas – selbst für phantásische Verhältnisse – Außergewöhnliches kennzeichnen wollte. 49  Unendliche Geschichte 183 ; vgl. Anm. 47. 50  Unendliche Geschichte 190. Zu diesem Ausdruck s. u. Anm. 361. 51  Vgl. Anmerkung 18. 52  Wie wichtig es ist, die Sphären von Poesie und Intellekt scharf zu trennen, zeigt sich übrigens besonders dort, wo dies nicht erst vom Rezipienten, sondern bereits vom Autor verabsäumt wurde. Ohne auf diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit genauer eingehen zu können, seien als Beispiele für die zweifelhaften Ergebnisse derartiger Zwangsvermählung Saint-Exupérys Die Stadt in der Wüste sowie Nietzsches Also sprach Zarathustra genannt, welche 246 | Anmerkungen 

meiner Meinung nach vor allem das Diktum Schopenhauers bestätigen, wonach »man nicht Dichter und Philosoph zugleich seyn kann« (Parerga II 710). 53  Die Kunst des Lesens 414. 54  Phantasie/Kultur/Politik 102. 55  Vgl. Shakespeare/Celan 56. 56  Zitiert in der Übersetzung von Klaus Martens nach : Thomas 386. 57  Zum rezenten Stand der Metapherndiskussion vgl. z. B. : Anselm Haver­ kamp (Hg.) : Theorie der Metapher (Darmstadt 1996). 58  Zumal Bildhaftigkeit selbst immer auch mit Begrifflichkeit beladen ist. Insofern ist die Gegenüberstellung, die Nabokov vornimmt (s. oben S. 39), etwas ungenau. 59  Kritik der reinen Vernunft I 150 (B 154). 60  Übrigens ist der Ausdruck Bild, genauso wie auch Be-griff, im philosophischen wie linguistischen Kontext natürlich selbst wieder ein Bild – was in einen unendlichen Regress führt. 61 Nebenbei bemerkt  : Dies bedeutet natürlich nicht, daß diese dem menschlichen Bewußtsein bereits zuvor, gewissermaßen »nackt«, als Inhalt gegeben sein könnten. Ebensowenig kann die Frage, wie man sich eine solche Relation denn ohne sinnliche »Zutat« zu denken habe, auch nur sinnvoll gestellt, geschweige denn beantwortet werden. 62  Kowatsch 110. 63  Ebd. 111 f. 64  S. im bes. Kapitel III.C sowie Abschnitt IV.B.3. 65  S. ebd. sowie auch Abschnitt II.H.2. 66  Vgl. Anm. 52. 67  Die Monster und ihre Kritiker 185. 68  Phantasie/Kultur/Politik 32 f. Daß Ende hier den philosophischen »Sündenfall« mit Sokrates ansetzt, Heraklit hingegen ausdrücklich freispricht, verbindet ihn übrigens – und wohl nicht zufällig, wie in Teil III der vorliegenden Untersuchung zu zeigen sein wird – mit Nietzsche (vgl. Götzen-Dämmerung 75 sowie Oberleitner 20, i. bes. Anm. 46). 69  Vgl. etwa die Paraphrase des obigen Zitats in : Kowatsch 49. 70  Ebd. 122. 71  Ebd. 49. 72  Ebd. 121 ; gemeint ist ausgerechnet der »Bücherwurm« Bastian. 73  Natürlich kann nicht übersehen werden, daß Ende im obigen Zitat, bei aller Schärfe der Kritik, ein Kernstück dieser Ideologie durchaus akzeptiert – nämlich deren Selbstverständnis als einzig legitimen Erben der sokratischen Tradition. Tatsächlich ließe sich viel gegen dieses Selbstverständnis sagen, etwa wenn wir die grundlegende sokratische Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen bedenken, zu der der maßlose Anspruch einer »welterklärenden« Naturwissenschaft so gar nicht passen will. Daß Ende das Kind gleichsam mit dem Bade ausschüttet, wenn er Sokrates beinah schon zum Anmerkungen | 247

ersten Erfahrungswissenschaftler macht, liegt auf der Hand. Von dieser einen Stelle her könnte man auch tatsächlich den Eindruck gewinnen, Ende wolle mit dem Allmachtsanspruch der Erfahrungswissenschaften – um deren Kritik es hier natürlich geht – sicherheitshalber gleich das gesamte »argumentierende Denken« zu Fall bringen. Der Gesamtkontext seines Denkens zeigt aber doch sehr deutlich, daß dem nicht so ist und daß er an dieser Stelle schlicht über sein Ziel hinausschießt. 74  Phantasie/Kultur/Politik 34. 75  Magische Welten 79. 76  Phantasie/Kultur/Politik 30 f. Der Zusammenhang der Begriffe von Kultur und Wertvorstellungen (Ethik) bei Ende wird im Laufe der vorliegenden Untersuchung noch deutlicher werden. 77  Kunst und Politik 59. 78  »Interview mit Michael Ende«. In : Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr.102, 21. 12. 1990 ; zit. nach : Hocke/Neumahr 63. 79  Vgl. Wernsdorff 33 – 74 sowie Ludwig 141 – 163. 80  Dieter Zimmer : Der Mann, der unserer Zeit die Mythen schreibt, S. 46. In : Zeitmagazin Nr. 6, 1981. 81  Wernsdorff 8. Vgl. zum gesamten Absatz ebd. 11 – 21. 82  Ebd. 22. 83  Ebd. 16. 84  Ebd. 18. 85  Vgl. z. B. Ulrike Hönsch u. a. : Der Große Brockhaus, S. 881 unter dem Stichwort Romantik : »geistige, künstler., v. a. literar. Strömung in Europa (ca. 1790 – 1850) ; typisch war die Abkehr von Aufklärung […]« 86  Kowatsch 50. 87  Phantasie/Kultur/Politik 35. 88  Ebd. 36. 89  Dies völlig verkannt zu haben, stellt einen der gravierendsten Fehler der Verfilmung von Eichinger/Petersen dar (vgl. Abschnitt III.B der vorliegenden Untersuchung). Der Bastian der Neverending Story muß aus Phantásien einen Stein mitnehmen, und zwar, wie Ende selbst verbittert bemerkt, um zu »[…] beweisen, daß [seine] Phantásienreise ›eben doch nicht nur ein Hirngespinst war‹« (Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. n. Hocke/Neumahr 127). Während also bei Ende das einzige, das an Phantásien tatsächlich materiell faßbar war – die Unendliche Geschichte selbst – , spurlos verschwindet, muß bei Eichinger/Petersen ein (obendrein vollkommen belangloser) Gegenstand dafür Gewähr leisten, daß Bastian am Ende nicht bloß als der »Spinner« dasteht, für den ihn seine Mitschüler halten. Ein gröberes Mißverstehen der Unendlichen Geschichte ist überhaupt nicht möglich. 90  Vgl. zum Folgenden : Humphrey Carpenter : J. R. R. Tolkien. A Biography sowie die in der Literaturliste angeführten Werke Tolkiens. 91  Historischer Atlas von Mittelerde 188. 248 | Anmerkungen 

92 

Vgl. J. R. R. Tolkien : Nomenclature of The Lord of the Rings, S. 189. Dieses selbst innerhalb der begeisterten Leserschaft weitverbreitete Mißverständnis beruht wohl darauf, daß man sich zu sehr an den plumpen Kunstgriff späterer Fantasyautoren, die »andere Welt/Dimension/Galaxie«, gewöhnt hat. Tolkien hingegen integrierte seine epischen Erzählungen auf subtile Weise (etwa durch genaue Angaben zu »Quellen« und »Übersetzung«, vgl. Lord of the Rings 26 – 28 sowie 1167 – 1172) in die reale Menschheitsgeschichte, wodurch sich Mittelerde dem aufmerksamen Leser als vorzeitliches Europa erschließt. Auch Endes Phantásien ist im übrigen alles andere als eine »Parallelwelt« (vgl. Teil III der vorliegenden Untersuchung). 93  Vgl. Carpenter 232. 94  S. Die Monster und ihre Kritiker 187 – 199. 95 Jürgen Lodemann  : Träume vom Nachtwald Perelin. In : Die Zeit 47 (1979), S. 22. 96  So z. B. Frederik Hetmann in seinem Werk Die Freuden der Fantasy. Von Tolkien bis Ende (Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984) ; oder auch Bengt Algot Sørensen, in dessen Geschichte der deutschen Literatur (München 2012, 2 Bde.) Die unendliche Geschichte gar als ein Paradebeispiel herhalten muß für »Fantasyliteratur, in deren Mythen und Sagenwelten Gut und Böse genau festgelegt sind« (Bd.2, 400) – was derart unsinnig ist, daß es den Schluß nahelegt, Sørensen habe sich die Lektüre des besprochenen Werkes schlichtweg erspart. 97  Vgl. Unendliche Geschichte 273 sowie S. 163 f. der vorliegenden Untersuchung. 98  Kunst und Politik 76. 99  Kaminski 129. 100  Ebd. 112. 101  Ebd. 115. 102  Vgl. Kapitel III.B. Weite Teile von Aschenbergs Kritik erwecken tatsächlich den Eindruck, es sei weit eher der nicht erwähnte Film als der angegriffene Roman gemeint, etwa wenn es heißt : »Die […] den Lesern angetragene Öffnung gegenüber dem Reich der Phantasie wird all jenen schwer fallen [sic], die sich darunter etwas anderes als eine in verschiedene fiktive Landschaften projizierte Monstershow vorstellen […] dies könnte der bösartige Kritiker als eine Konzession an den Publikumsgeschmack deuten, an die Pappmaché-Welt der Walt-Disney-Lands« (126). 103  Aschenberg 128. 104 Ebd. 105  Vgl S. 22. 106 Tasächlich liegt die vielleicht subtilste Pointe der Unendlichen Geschichte darin, daß auch Bastian, sein Vater, Koreander etc. in Wahrheit gar keine Menschen, sondern Phantásier sind. Vgl. hierzu auch Teil III der vorliegenden Untersuchung, im besonderen S. 174 f. 107  Notiz vom 5. Februar 1994 ; zit. nach : Niemandsgarten 303. Anmerkungen | 249

108  Vgl.

Don Quijote II 27 – 41, wo der erste Teil des Romans von dessen eigenen Figuren wenig wohlwollend kommentiert wird. 109  Kunst und Politik 22 f. 110  Vgl. v. a. Abschnitt II.H.2. 111  So der Titel von Christian von Wernsdorffs bereits zitiertem Essay über »die Wiederkehr der Romantik bei Michael Ende und Peter Handke« (s. Lite­ raturliste). 112  Phantasie/Politik/Kultur 53. 113  Hocke/Neumahr 85. 114  Die Monster und ihre Kritiker 93. 115  Dies sind soweit nur Andeutungen. Wie Kunst und Ethik bei Ende tatsächlich vermittelt sind, wird sich in Abschnitt II.H.2 zeigen. 116  Liegt es angesichts dessen nicht nahe, hier einen ganz anderen Einfluß als den Tolkiens zu vermuten ? Erinnert diese reflexive Frage nach der Möglichkeit von Kunst nicht an jenen deutschen Schriftsteller, dessen »Dichten am meisten vom Dichten handelt« (Walser 22) – an Friedrich Hölderlin ? Wohl nicht zufällig reihte Ende Hölderlin auch ausdrücklich unter seine Lieblingsautoren ein (s. Hocke/Neumahr 136). 117  Siehe S. 23. 118  Hocke/Neumahr 60. 119  Ein von Ende häufig gebrauchter Ausdruck ; s. z. B. Niemandsgarten 248. 120  Ende in : Kunst und Politik 16. 121  Und zwar in jenem kurzen Kapitel, das vom Spiel der Kinder in Momos Amphitheater erzählt, welches sich in ihrer Phantasie in ein Expeditionsschiff verwandelt (Momo 25 – 36). Da diese Passage scheinbar nichts zum Gang der Handlung beiträgt, wurde sie von den zahlreichen Rezensenten des Romans kaum eines Blickes gewürdigt. Tatsächlich kann sie in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden, handelt es sich doch um die Keimzelle der Unendlichen Geschichte innerhalb von Momo. 122  Kowatsch 122. TEIL II · Momo

S. 65

Gernot Böhme : Zeitphilosophie in Michael Endes Momo. In : Philosophie im Spiegel der Literatur (2007), S. 79 – 89. 124  Magische Welten 85. 125  Phantasie/Kultur/Politik 124. 126  Ebd. 48. 127  »Rette uns, liebe Momo !« Tageszeitung Die Presse, 18. August 2013, S. 41. Die Deutung, Simon habe bei den zitierten Worten in erster Linie die Redaktionsräume ihrer eigenen Zeitung im Blick, ist zwar durchaus plausibel, soll aber hier nicht weiter verfolgt werden. 128  Die neuen Herrscher der Welt 27. Man kann es eine Ironie der Geschichte 123 

250 | Anmerkungen 

nennen, daß der politisch-revolutionäre Marxismus somit ausschließlich dort positive Wirkungen entfaltete, wo ihm der Griff zur Macht verwehrt blieb. 129  Nebenbei sei bemerkt, daß Ende hier wohl auch mit dem Namen des römischen Kaisers Maxentius (278 – 312) spielt, der sich durch großangelegte Bauprojekte zu verewigen suchte und – zumindest nach christlicher Überlieferung – tatsächlich als »grausamer Tyrann« gilt (s. Clauss 302 – 305). 130  Brief an eine Leserin vom 24. 2. 1982. Nachlaß des Autors. Zit. nach : Hocke/Neumahr 51 ; s. auch : ebd. 50. 131  Kunst und Politik 103. 132  Vgl. Hocke/Neumahr 184. 133  Phantasie/Politik/Kultur 53. 134  Michael Ende in : Phantasie/Kultur/Politik 21 f. 135  Ebd. 21. 136  Vgl. hierzu Oberleitner 68 f. sowie Abschnitt G dieses Teils. 137  S. unten den Abschnitt »Sinnfragen« in C.2 dieses Teils. 138 Siehe Niemandsgarten 47 sowie Hocke/Neumahr 192. Ohnedies ist Ende Stilist genug, um wörtliche Wiederholungen zu meiden. 139  Phantasie/Kultur/Politik 37. Das Gespräch, auf das sich Ende hier bezieht, wird in keiner anderen Quelle erwähnt und läßt sich daher nicht datieren. 140  Siehe Momo 70 sowie u.  – Dieses Sujet hat Ende übrigens mehrmals verwendet, so im Niemandsgarten (s. ebd. 224 f.) oder in der Erzählung Nieselpriem und Nasenküss (Zauberschule 119 – 132), wo es sogar den Angelpunkt der Handlung bildet. Während aber der gesellige Nieselpriem auf tragikomische Weise darunter leidet, niemandem in Erinnerung zu bleiben, gewinnen die Grauen Herren durch dieselbe Eigenschaft an Bedrohlichkeit. 141  Daß sich hinter den Grauen Herren nie und nimmer reale Personen verbergen können, müßte sich im Grunde schon bei genauer Lektüre von Momo erschließen. »In Wirklichkeit sind sie nichts« erklärt Meister Hora (155), der seine Erzfeinde gewiß am allerbesten kennt. Auf Menschen bezogen, wäre das übler Zynismus. 142  S. dazu auch unten den Abschnitt »Empirismus und Quantifizierung« in C.2 dieses Teils. 143  Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die sich dieses Sujets bedienten, hat Ende nämlich das Wesen von Geistern sehr genau verstanden (s. u.). 144  Ende liebte es geradezu, die Verheißungen von Zinsrechnungen zu parodieren ; vgl. Wunschpunsch 174 f., Zauberschule 217 – 223 sowie Spiegel im Spiegel 30 – 4 4, im bes. 41 f. 145  Es ist dies übrigens genau die Haltung, welche die kapitalistische Gesellschaft im allgemeinen – und deren Gesundheitswesen im besonderen – zum Tod des Menschen einnimmt ; vgl. hierzu auch Abschnitt G dieses Teils. 146  Worin das eigentlich Individuelle für Ende besteht, kann hier noch nicht Thema sein. Anmerkungen | 251

Momo 71 ; die Betonung liegt fraglos auf billig. Magische Welten 63 149  S. Momo 155 sowie oben Anm. 141. 150  S. dazu den Abschnitt »Sinnfragen« in C.2 dieses Teils. 151  S. oben S. 75 f. 152  »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt« (Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8 f.) ; oder auch Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26 : »Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.« 153  Phantasie/Kultur/Politik 63 f. 154  Es sei daran erinnert, daß es sich bei Phantasie/Kultur/Politik nicht um einen ausgearbeiteten Text, sondern um die weitgehend wörtliche Wiedergabe eines Gesprächs handelt. 155  Um uns nicht allzu weit von Momo zu entfernen, sei hier nur angedeutet, was dieser Kritik von Marx‘ Position aus zu entgegnen wäre. Dieser war keineswegs so naiv, seine »eigene Weltanschauung«, wie es Ende nennt, von der Bedingtheit durch das »gesellschaftliche Sein« auszunehmen. Die Sonderstellung seines Denkens beruht für Marx indes darauf, diese Bedingtheit erstmals vollständig begriffen zu haben. Im Gegensatz zu allen bloß »ideologischen« Konstrukten (worunter er grosso modo die gesamte Philosophiegeschichte rechnet : s. »Deutsche Ideologie«, MEW 3, S. 2, 19 sowie 83) kommuniziert es unmittelbar mit seiner eigenen empirisch-sozialen Grundlage. Nur so ist es zu verstehen, wenn etwa das »Kommunistische Manifest« die »Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« (MEW 4, S. 475) für sich in Anspruch nimmt. Seine theoretischen Sätze nämlich, so betonen die Autoren, fußen »keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung« (ebd.). Zur breiteren Kritik an Endes Sicht auf Marx s. Abschnitt IV.B.1. 156  Hocke/Neumahr 85. 157  S. Vorrede zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 10. 158  Kommunistisches Manifest, MEW 4, S. 475. 159  Bis auf den Phantasienamen Momo sowie das antike Gespann Hora und Kassiopeia sind sämtliche Personennamen italienisch. Die gigantischen Ausmaße der Stadt (vgl. die Zeichnung Endes in : Momo 58) sowie ihre offenbar zahlreichen Touristenattraktionen (vgl. Momo 11) sprechen für Rom als Ort der Handlung. Ende verbrachte einen Großteil seines Lebens im römischen Vorort Genzano, wo er auch Momo vollendete (s. o. S. 22 f.). 160 »Selbstverständlich meine ich nicht, daß auf das, was der Marxismus […] an Bewußtseinsschärfung für ganz bestimmte gesellschaftliche Proble147 

148 

252 | Anmerkungen 

matiken hervorgebracht hat, zu verzichten sei.« – Ende 1982( !) in : Phantasie/ Kultur/Politik, S. 61 ; Hervorh. v. mir. 161  Siehe dazu unten Abschnitt G.2 sowie den dritten Teil, wo dem Freiheitsbegriff des Michael Ende breiterer Raum gegeben werden kann, als es an dieser Stelle möglich ist. 162  Der Bogen ließe sich z. B. von Jim Knopf über Fusi und Bastian bis hin zu Hor (Spiegel im Spiegel 9 – 12 sowie 225 – 235) oder Washable (Zauberschule 175 – 187, s. oben) spannen. Die große Ausmahme hingegen bildet  – Momo selbst. Sie sucht den Sinn ihres Daseins eigentlich nicht ; sie findet ihn bloß. Wir werden noch sehen, warum. 163  Vgl. dazu Hocke/Neumahr 136. 164  Selbstverständlich ist Morla ebensowenig wie ihre kleinere (und wesentlich umgänglichere) Verwandte Kassiopeia in Momo ein Tier, sondern ein vernunftbegabtes Fabelwesen. 165  Phantasie/Kultur/Politik 41. 166  Vgl. Abschnitt I.C.2. 167  Phantasie/Kultur/Politik 32 f. 168  Ebd. 41 ; s. oben S. 75 f. 169  Phantasie/Kultur/Politik 37. 170  Shigematsu 132. Mit Erstaunen stellen wir fest, daß Ende der Versuchung, seine eigenen Bilder zu deuten, durchaus nicht immer widerstand. Im Gegenteil : »Übersetzungen« wie diese finden sich in Gesprächen mit dem Autor ausgesprochen häufig. Daß dies allem widerspricht, was er selbst über den Umgang mit poetischen Bildern sagt (vgl. Abschnitt I.C.1), braucht wohl nicht betont zu werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der »Denkwebel« Ende hier, seiner eigenen Skepsis zum Trotz, schlicht und einfach nicht aus seiner Haut konnte. Im Kontext dieser Untersuchung nehmen wir solche Eigeninterpretationen des Autors dankbar als Hinweise an, die helfen mögen, sein Denken aus dem Werk heraus zu erschließen. Das bedeutet nicht, daß wir methodisch an sie gebunden wären. 171  Phantasie/Kultur/Politik 33 ; s. oben. 172  S. dazu aber auch Abschnitt IV.B.2. 173  Zitiert nach : Kleinert 200. Es ist im übrigen bezeichnend, daß jenes berühmte Zitat in Wahrheit kaum von Galilei stammt (vgl. ebd. 199 – 203), sondern ihm in seiner Funktion als »Säulenheiliger« der Naturwissenschaften posthum untergeschoben wurde. 174  Siehe z. B. Nietzsche, KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 1885), S. 194. 175  Tatsächlich besteht die »Realität«, mit der die Naturwissenschaften operieren, zur Gänze aus vom Denken gesetzten Konstrukten – wie »Naturgesetzen«, »Materie« oder »Energie«. Siehe dazu Gerhard Gotz : Das Rätsel Mensch, sowie unten Abschnitt IV.B.2. 176  Vgl. den vorherigen Abschnitt »Sinnfragen«. 177  Das ist nur konsequent, zumal das Denken als solches überhaupt keine Anmerkungen | 253

Entscheidungen treffen, sondern lediglich Handlungsmöglichkeiten anbieten kann. Folglich kann der Agent von sich aus die Handlung nicht in Gang setzen, sondern muß hinter den Kulissen warten, bis Fusi dies tut. 178  Wie der obskure »Juxologe« in Nieselpriem und Naselküss (Zauberschule 119 – 132) oder der Hochstapler »Einstein« in Der lange Weg nach Santa Cruz (ebd. 188 – 229) – um nur zwei Beispiele zu nennen. Selbst der so gastfreundliche Gnom Engywuck (s. Unendliche Geschichte 81 – 117) wirkt nur noch lächerlich, sobald er in die Rolle eines Erforschers des Südlichen Orakels schlüpft. 179  Siehe Wunschpunsch 138 sowie 62. Daß das Zusammenwirken der beiden letztlich an ihrem persönlichen Konkurrenzdenken scheitert (vgl. unten Abschnitt II.E.2), steht auf einem anderen Blatt. 180  Ich verweise hierzu wiederum auf Abschnitt IV.B.1. 181  S. dazu Abschnitt E.1. 182  S. Phantasie/Kultur/Politik 41. 183  Spiegel im Spiegel 30 – 4 4. Sämtliche Erzählungen dieses Bandes sind nach ihren Anfangsworten benannt. 184  Hier klingt nicht allein der Mythos vom Turmbau zu Babel an (Gen 11,1 – 9), sondern vor allem auch – wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung zeigt – der Fluch auf die Stadt in der Offenbarung des Johannes (14,8 ; 16,19 ; 17,1 – 6 ; usf.). In letzterem Sinne ist »Babylon« bei Ende ein Signalwort, das stets auf die Korruption einer Gesellschaft durch den Fetisch Geld verweist ; so z. B. in einem Essay zum Thema »Unschuld« (Niemandsgarten 276) : »[…] etwas zur Ware [zu] machen, das keine Ware sein darf – oder, noch deutlicher, etwas gegen Geld zu verkaufen […], das nur verschenkt werden darf[ :] Das geschieht nun allerdings fortwährend und allenthalben in unserer kommerzialisierten Kultur. […] Kunst, Religion, Erkenntnis, Güte, Liebe usw. – alles wird heute eigentlich unter dem Gesichtspunkt der Verkäuflichkeit gesehen. Wir sind da mitten in Babylon.« 185  S. Abschnitt C.1 dieses Teils. 186  S. Abschnitt E.1 dieses Teils. 187  Daß ohne dieses permanente Hinausstreben über die eigenen Bedürfnisse – auf vermeintliche Bedeutung zu – kein kapitalistisches System Bestand haben könnte, liegt auf der Hand (vgl. hierzu auch unten Abschnitt E). Besonders drastisch zeigt sich dies naturgemäß an der Spitze der Gesellschaftspyramide, wo jenes eine Prozent der Weltbevölkerung, das über 50% der globalen Ressourcen verfügt (nach Credit Suisse, Global Wealth Report Oktober 2015, Download : publications.credit-suisse.com/index.cfm/publikationen-shop/ research-institute ; s. z. B. auch Südwind Magazin Nr.1 – 2/2016, S. 32), unmöglich noch realen Gebrauch vom Wachstum seines immensen Vemögens machen kann – was freilich sein Verlangen nach Wunderbarer Geldvermehrung nicht im geringsten vermindert. Einem ehemaligen Topmanager, der seinen Posten aufgrund von »Steuermalversationen« verloren hatte, wurde in einem 254 | Anmerkungen 

Zeitungsinterview die naheliegende Frage gestellt : »Wenn man eine Millionengage wie Sie kassiert hat, warum muß man dann noch Steuer optimieren ?« Seine Antwort kulminiert in dem Satz : »Ich bin Kaufmann« (Kurier, 10. 10. 2015, S. 11). Mit anderen Worten : Es ist meine Mission, mein Kapital unter allen Umständen zu vermehren, selbst wenn mir daraus keinerlei Vorteil mehr erwachsen kann. 188  Phantasie/Kultur/Politik 22 ; s. oben S. 70 f. Daß der Begriff der Konkurrenz hier nicht zufällig auftaucht, wird das nächste Kapitel zeigen. 189  Momo 80. Wie gut Ende hier das »moralische« Empfinden innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft trifft, läßt sich vielleicht am besten an vermeintlichen Details zeigen. So pflegen Zahlungserinnerungen aller Art in unseren Tagen mit den Worten zu beginnen : »In der Hektik des Alltags haben Sie wohl vergessen …«, womit man dem säumigen Zahler entgegenzukommen meint. Zugrunde liegt der unausgesprochene Konsens, daß es gesellschaftlich verpönt ist, kein Geld, nicht aber, keine Zeit zu besitzen. 190  S. Endes Zeichnung in : Momo 58. 191 Vgl. hierzu z. B. Albert Wirz’ detaillierte historische Untersuchung Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem (Frankfurt am Main 1984). 192  Es ist charakteristisch für Momo, daß sie nicht zählen kann. Als sie am Anfang des Romans in dem alten Amphitheater auftaucht, wird sie von den besorgten Bewohnern des Viertels gefragt, wie alt sie sei. »Hundert«, antwortet sie zögernd ; als die Erwachsenen dies für einen Scherz halten, versucht sie es mit »Hundertzwei« (Momo 13). Es stellt sich heraus, »daß das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte, weil niemand es zählen gelehrt hatte« (ebd.). Später lernt sie unter Gigis freundlicher Anleitung zwar nach und nach die Buchstaben kennen (Momo 75), nicht aber die Zahlen, an denen sie offenbar schlicht kein Interesse hat. 193  Siehe dazu Teil III. 194  S. oben Kapitel II.D. 195  Brief an eine Leserin vom 20. 2. 87 ; zit. nach : Niemandsgarten 45. 196  Vgl. dagegen Momo 70 sowie oben S. 75 f. 197  Vgl. oben Abschnitt II.D. 198  Dies ist, wie gesagt, die (berechtigte) Sicht der Sechzigerjahre, während sich in unserer Situation des Spät- oder Endkapitalismus die Kapitalvermehrung – in einem letzten Schritt – auch vom Konsum mehr und mehr abzukoppeln beginnt. 199  Vgl. dazu unten S. 214. 200  Hat sich genau das nicht schon im Konsumstress von Fusis Leidensgenossen gezeigt ? »Selbst ihre freien Stunden mußten, wie sie meinten, ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung liefern, wie nur möglich war« (Momo 72 ; s. oben S. 87 f.). Platz für eigentliches Genießen bleibt hier wohl kaum ! Anmerkungen | 255

201 

Wilde 58 ; dt. : »Ihr solltet an andere denken. Tatsächlich solltet ihr an mich denken. Ich denke ständig an mich selbst, und ich erwarte, daß alle andern dasselbe tun.« 202  S. oben S. 68. 203  Niemandsgarten 276 ; s. oben Anm. 184. 204  Momo 60 ; s. oben Abschnitt II.C.1. 205  Das bedeutet, daß das rastlose An-sich-Raffen von Gütern, welches wir als Charakteristikum des Konsumismus kennengelernt haben, durch diese Art der Konkurrenz nicht allein vorausgesetzt, sondern in der Folge auch potenziert wird (s. u.). 206  Siehe Wunschpunsch 211 – 216, wobei die »Umkehrwirkung« des Punsches (s. ebd. 92) zu berücksichtigen ist. 207  Vgl. z. B. Wunschpunsch 133. Es bedürfte wohl gewaltiger Scheuklappen, um in all dem keine Spitze gegen den Konkurrenzbegriff des Darwinismus zu sehen, auf den sich die Apologeten des kapitalistischen Verdrängungswettbewerbs nur allzugern berufen. Hier wird bekanntlich, indem Beispiele ausgesprochen sozialen Verhaltens zwischen Tieren ignoriert bzw. umgedeutet werden, the survival of the fittest (Darwin) zum unhintergehbaren Universalprinzip der biologischen Evolution erklärt. Es ist bemerkenswert, daß auch viele Forscher der jüngeren Zeit – d. h. nach dem ultimativen Sündenfall des nationalsozialistischen Rassenwahns – dieser These ähnlich kritisch gegenüberstehen wie der Autor des Wunschpunschs. Der Paläohistoriker Hansjürgen Müller-Beck z. B. erblickt in ihr eine Rückprojektion der (früh)kapitalistischen Ellbogenmentalität in die gesamte belebte Natur (25 sowie 31 f.) – was Endes Auffassung ziemlich genau entsprechen dürfte. Sogar dem einen oder anderen Biologen dämmert mittlerweile, daß jenes Bild der unablässig und rückhaltlos konkurrierenden Individuen, das durch Darwins Schule in die Welt gesetzt wurde, äußerst problematisch ist. Desmond Morris, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Vergleichenden Verhaltensforschung, kann in seinem bahnbrechenden Werk »Animalwatching« nicht genug betonen : »Es ist ein Mißverständnis, wenn die Natur als grausam und sogar blutrünstig geschildert wird […]. Leider glauben immer noch viele Menschen, in der Natur würden sich Tiere dauernd auf Leben und Tod duellieren, um eine bessere Position in der Rangordnung zu ergattern. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als das« (174). Bedauerlicherweise verhallen diese und ähnliche Stimmen in unserem Gesellschaftsgebäude fast ungehört – warum wohl ? 208  S. Abschnitt G.2 dieses Teils. 209  Momo 38 f. sowie 185 f. Vgl. dazu auch Shigematsus Momo erzählt Zen, wo Beppo eine zentrale Rolle spielt. 210  Vgl. Momo 80 sowie oben S. 112. 211  Kunst und Politik 16. S. dazu Teil III. 212 Ebd. 213  S. Momo 73 f. sowie oben S. 91. 256 | Anmerkungen 

214 

Momo 244. Daß es sich hier um eine extreme Form von Depressionen handelt, braucht wohl nicht betont zu werden. 215  S. oben den Abschnitt »Sein und Bewußtsein« in II.C.2. 216  Siehe S. 57. 217  Man könnte diese negative Zukunftsvision mit dem (grundsätzlich berechtigten) Argument beiseiteschieben, daß der real existierende Kapitalismus auf sozialen Unterschieden basiert, weshalb eine so völlige Gleichheit, wie wir sie in Norm vor uns sehen, als Endzustand einer kapitalistischen Gesellschaft gar nicht in Frage kommt. Das hieße aber meiner Auffassung nach, Michael Ende mißzuverstehen. Wir können uns problemlos neben, ja sogar in Norm – fein säuberlich getrennt – eines jener feinen Villenviertel vorstellen, wie sie etwa der neureiche Girolamo nach seinem steilen beruflichen Aufstieg bewohnt (und zwar zu einem Zeitpunkt, nachdem die restliche Stadt bereits zu einer Wüste gleichartiger Betonblocks umgestaltet wurde). Worauf Ende mit seinem Bild abzielt, ist die wesentliche innere Gleichheit aller Bewohner, die ihrer eigentlichen, schöpferischen Individualität verlustig gegangen sind  – ganz unabhängig von ihrem Einkommen oder sozialen Status. Was unterscheidet einen Girolamo, der leer und innerlich absterbend in seiner prunkvollen Villa sitzt, wesentlich von seinen weniger begüterten Zeitgenossen ? 218  Hocke/Neumahr 85. 219  Momo 70 ; s. oben S. 85. 220  S. Phantasie/Kultur/Politik 48 und 53. 221  S. oben den Abschnitt »Sein und Bewußtsein« in II.C.2. 222  Nel mezzo del camin di nostra vita / Mi ritrovai per una selva oscura / Que la diritta via era smaritta : Als unseres Lebens Mitte ich erklommen / Befand ich mich in einem dunklen Wald, / Da ich vom rechten Wege abgekommen (Divina Comedia, erster Gesang, Vers 1 – 3 ; dt. nach Wilhelm G. Hertz, S. 7). 223  Epikurs oft zitiertes Epigramm, wonach »der Tod uns in keiner Weise betrifft ; denn alles Gute und Üble liegt in der Wahrnehmung ; der Tod aber bedeutet, der Wahrnehmung beraubt zu werden« (57), trifft also tatsächlich nur auf Tiere zu – die freilich dieser Tröstung gar nicht bedürfen. 224  Rainer Lübbren in : Erinnerungen 20 (unveröffentlichtes Manuskript) ; zit. nach : Hocke/Neumahr 42. 225  Der Begriff Angst 59. 226  Der Begriff Angst 72. (Zur hier wiedergegebenen Übertragung von ­Gisela Perlet vgl. Anm. 425.) 227  Vgl dazu auch oben den Abschnitt »Sinnfragen« in II.C.2. 228  Kierkegaard hat dieser »ästhetischen Lebensanschauung«, wie er sie nennt, einen großen Teil seines Erstlingswerkes Entweder-Oder gewidmet. Auf das fiktive Tagebuch des Verführers (ebd. 351 – 521), das die inneren Widersprüche dieser Grundhaltung auf eindringliche Weise veranschaulicht, bezieht sich Michael Ende u. a. in Phantasie/Kultur/Politik (98). Anmerkungen | 257

229 

Phänomene wie dieses nennt Kierkegaard den »quantitive[n] Zuwachs« der Angst, »den die Gattung erwirbt« (Begriff Angst 62) – im Gegensatz zum »qualitativen Sprung« (ebd.), in dem die individuelle Schuld hervorbricht. 230  »Interview für Moe«, Typoskript aus dem Nachlaß des Autors, S. 14. Zitiert nach : Hocke/Neumahr 81. 231  Siehe Momo 167. Daß hier nicht jenes Organ gemeint ist, das Blut durch Momos Adern pumpt, braucht wohl nicht betont zu werden. 232  S. den nächten Abschnitt (H.2). 233  Phantasie/Kultur/Politik 125. . 234  Ebd. 125 f. 235  S. Auffarth u. a. (Hg.) : Metzler Lexikon Religion, Bd. I, S. 295. 236  S. oben den Abschnitt »Sinnfragen« in II.C.2. 237  S. oben S. 29. 238  Hier ist ein alter Philosophen-Witz am Platz (dessen schriftliche Quelle, so es eine gibt, mir unbekannt ist). Was ist der Unterschied zwischen einem Philosophen und einem Mystiker ? Ein Philosoph ist jemand, der in einem stockdunklen Raum eine schwarze Katze sucht – die es gar nicht gibt. Ein Mystiker hingegen ist jemand, der in einem stockdunklen Raum eine schwarze Katze sucht, die es gar nicht gibt – und plötzlich ruft : »Ich hab sie !« 239  Phantasie/Kultur/Politik 41. 240  S. ebd. 125 sowie oben S. 143 f. 241  Vgl. hierzu und zum Folgenden : Der Begriff Angst 96 – 109, im besonderen S. 104, wo sich die Sentenz der Kindlichen Kaiserin beinahe wörtlich wiederfindet. 242 Unendliche Geschichte 193. Psychologisch wäre das natürlich nicht schwer zu deuten ; und tatsächlich erlebt Bastian durch seine Abenteuer in Phantásien eine Art zweite Geburt. 243  Wir befinden uns in Italien (Anm. von mir, A.O.). 244  S. oben S. 142. 245  Und natürlich auch die Philosophie, der die Rolle zukommt, auf all dies zu reflektieren. 246  Siehe z. B. Kunst und Politik 102. 247  Hocke/Neumahr 85. 248  Momo 90 ; s. oben Abschnitt II.E.1. 249  Kunst und Politik 16. 250  S. Phantasie/Kultur/Politik 123. 251  Der Begriff Angst 72. 252  Phantasie/Kultur/Politik 125.

258 | Anmerkungen 

TEIL III · Die unendliche Geschichte

S. 155

253 

Wie übrigens auch der Titel des Werkes. Kaum ein Journalist, der etwa von einem ausufernden Gerichtsprozess als einer »Unendlichen Geschichte« berichtet, dürfte sich bewußt sein, daß er damit Michael Ende zitiert. 254  Eigennamen im Kinderbuch 126 ; s. oben Anm. 102. 255  S. dazu oben Abschnitt I.C.1. 256  S. oben Abschnitt I.C.4. 257  Ende in : Shigematsu 131 ; s. u. 258  Siehe z. B. Momo 25 – 36. 259  S. dazu Hocke/Neumahr 113 – 131. 260  Vgl. dagegen Abschnitt II.D, im besonderen Anmerkung 187. 261  S. Kunst und Politik 22 f. 262  S. Hocke/Neumahr 136 sowie Birkenhauer 135 – 38. 263  Pfau 43. 264 Magazin Profil, 31. 1. 2011, S. 94. 265  Presseerklärung von Michael Ende am 11. März 1983 ; zit. nach : Pfau 162. 266  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 128. 267  Hocke/Neumahr 124. 268  S. dazu Hocke/Neumahr 104. 269  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 127. 270  Presseerklärung von Michael Ende am 11. März 1983 ; zit. nach : Pfau 163. 271  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 127. 272  S. oben Abschnitt II.C.1. 273  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 127 f. 274  Pfau 103 f. 275  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 127. 276  Das ist nicht ganz korrekt. Tatsächlich heißt das Kapitel, dessen fast schon parodistische Verzerrung Ende hier beklagt, »Die Drei Magischen Tore« (Unendliche Geschichte 87 – 102). »Die Stimme der Stille« ist indes der Titel des nächsten, von Eichinger/Petersen kurzerhand gestrichenen Kapitels (103 – 117), in dem das körperlose Tonwesen Uyulála (eine der genialsten Schöpfungen Endes) Atréju den Weg zur Rettung Phantásiens weist. Diese Aufgabe wird im Film, wie von Ende erwähnt, von den Sphinxen übernommen, die auch sonst völlig aus der Rolle fallen. 277  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Hocke/Neumahr 129 f. Hervorh. v. mir. 278  Schriftliches Interview vom 6. 1. 1995 ; Nachlaß des Autors. Zitiert nach : Hocke/Neumahr 130. 279  Schriftliches Interview vom 6. 1. 1995 ; Nachlaß des Autors. Zitiert nach : Hocke/Neumahr 130 f. 280  S. Hocke/Neumahr 158. 281  Presseerklärung von Michael Ende am 11. März 1983 ; zit. nach : Pfau 162. Anmerkungen | 259

282 

S. Unendliche Geschichte 266 sowie oben den Abschnitt »Reflexivität« in I.C.3. 283  »Ab und zu sangen sie [d. h. die Ritter Hýkrion, Hýdorn und Hýsbald, die Bastian erfunden hat] mehr herzhaft als schön mit lauten Stimmen gegen den Sturm an, mal einzeln, mal im Chor. Ihr Lieblingslied war offenbar eines, das mit den Worten begann : ›Als ich ein kleines Büblein war, juppheißa bei Regen und Wind […]‹ Wie sie erklärten, stammte es von einem Phantásienreisenden aus längst vergangenen Tagen, der Schexpir oder so ähnlich geheißen hatte« (UG 273). – Und zwar aus seinem Stück Twelfth Night (The Alexander Text 405) : When that I was and a little tiny boy, With hey, ho, the wind and the rain, A foolish thing was but a toy, For the rain it raineth every day. But when I came to man’s estate, With hey, ho, the wind and the rain, ‘Gainst knaves and thieves men shut their gate, For the rain it raineth every day. 284  Siehe z. B. Niemandsgarten 248. 285  Siehe oben S. 159 f. 286  S. oben den Abschnitt »Reflexivität« in I.C.3. 287  S. Gerhard Gotz : Der »intelligible Charakter« des Menschen, S. 95 – 98. 288  Kunst und Politik 67 ; vgl. auch Endes Kritik am naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriff im Abschnitt »Empirismus und Quantifizierung« (II.C.2). 289  Presseerklärung von Michael Ende am 11. März 1983, zit. nach : Pfau 162. 290  Unendliche Geschichte 144. Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung distanziert sich in aller Form von der Wortwahl Gmorks, die nur unter Werwölfen entschuldbar ist. 291  S. u. 292  Die einzige unter den sehr zahlreichen Aufzeichnungen Endes, welche in die Richtung Platons weist (dies allerdings recht deutlich), wurde wenige Wochen vor seinem Tod verfaßt (20. Mai 1993) und lautet wie folgt : »Die andere, unsichtbare Seite der Wirklichkeit, das Verborgene, ist nicht so weit weg, wie wir gewohnt sind zu glauben. Sie liegt für jeden auf der Hand, der wahrnehmen will. Folgt das Beispiel vom Löwenzahn : Same – Pflanze – Blume – Same : ein Wesen, das nur zeitlich immer anders erscheint. Aber die Erscheinung ist unwirklich, vergänglich, das Wirkliche ist das Ganze. Und nicht nur der eine Löwenzahn, alle Löwenzähne der Welt sind ein einziges Wesen, das im Verborgenen existiert« (zit. nach : Niemandsgarten 134). Es leuchtet indes ein, daß Endes gesamtes restliches Werk auf der Waage der Interpretation mehr Gewicht haben muß als eine vereinzelte, sehr späte Notiz. 260 | Anmerkungen 

293 

S. dazu unten Abschnitt IV.B.3. Siehe oben S. 147. 295  Kunst und Politik 59. Freilich geht Ende – wie wir noch sehen werden – davon aus, daß der Einzelne diese Zwangsläufigkeit kraft seines Schöpferischen Ich immer wieder zu durchbrechen vermag. Diesem Vor- steht jedoch ein nicht unbeträchlicher Nachteil gegenüber : daß alle anderen dies auch können. So machen sowohl Bastians Mitschüler, die ihn mit üblen Streichen quälen, als auch seine Lehrer, wenn sie ihn vor versammelter Klasse der Lächerlichkeit preisgeben, von der ureigenen Kraft ihres Schöpferischen Gebrauch. Dieser doppelte Widerstand, welcher sowohl von der unerbittlichen Kausalität der physikalischen Prozesse – unter der er etwa im Turnunterricht regelmäßig zu leiden hat (s. Unendliche Geschichte 55) – als auch vom (bösen) Willen der anderen herrührt, ist zweifellos einer der Gründe, warum es Bastian so sehr in das Reich der Kindlichen Kaiserin zieht. 296  Magische Welten 108. 297  Siehe z. B. Unendliche Geschichte 94 f. 298  S. Brief an eine Leserin vom 25. 10. 1981 (in : Hocke/Neumahr 111). 299  Nabokov : Mademoiselle O., S. 28. 300  Unendliche Geschichte 157 ; Hervorh. v. mir. 301  Dies erklärt auch, warum sie als einziges Wesen in Phantásien Bastian mit Inhalten konfrontiert, die unmöglich von ihm selbst stammen können (und die er deshalb auch nicht versteht). Daß der Zehnjährige irgendwo zwei Verse aus Shakespeares »Was ihr wollt« aufgeschnappt hat, die er dann auf schöpferische Weise in seine phantásischen Abenteuer einflicht, wollen wir gerne glauben (s. Unendliche Geschichte 273 sowie oben Anm. 283) – zumal Hýkrion/Hýsbald/Hýdorn den Namen des Dichters durchaus kindgemäß zu Schexpir verballhornen. Die Vorstellung aber, daß Bastian Kierkegaard gut genug kennen sollte, um der Kindlichen Kaiserin genau im passenden Kontext ein Zitat aus Der Begriff Angst in den Mund zu legen (s. oben S. 147), ist schlicht absurd. Übrigens zeigt sich auch Bastians Alter Ego Atréju den pointierten Sprüchen Mondenkinds nicht gewachsen (173) : »Ja«, antwortete die Kindliche Kaiserin, »den Alten vom Wandernden Berge kann man nicht suchen. Man kann ihn nur finden.« »Auch du ?« fragte Atréju. »Auch ich«, sagte sie. »Und wenn du ihn nicht findest ?« »Wenn es ihn gibt, werde ich ihn finden«, versetzte sie mit rätselhaftem Lächeln, »und wenn ich ihn finde, wird es ihn geben.« Atréju verstand die Antwort nicht. Zögernd fragte er : »Ist er – wie du ?« »Er ist wie ich«, erwiderte sie, »denn er ist in allem mein Gegenteil.« Atréju sah ein, daß er auf diese Weise nichts von ihr erfahren würde. 302  Brief an eine Leserin ; zit. nach : Niemandsgarten 45 f. Das Wort »Muse« 294 

Anmerkungen | 261

ist hier selbstverständlich in der ursprünglichen, griechischen Bedeutung gebraucht. Man vergleiche übrigens diese Charakterisierung mit der Darstellung des »metaphysischen« Meister Hora in Momo, der mehrmals energisch in das Geschehen eingreift, um das Mädchen und schließlich die gesamte Menschheit vor dem Zugriff der Grauen Herren zu schützen. Es liegt nahe anzunehmen, daß sich Endes Denken in diesem Punkt zwischen den beiden Romanen weiterentwickelt hat (s. dazu auch oben S. 192). 303  Siehe dazu auch Abschnitt D dieses Teils der Untersuchung, wo gerade dieser unverfügbare Charakter der Kindlichen Kaiserin sehr deutlich zutage treten wird – und zwar vor allem dadurch, daß Bastian ihn nicht versteht. 304  Unverkennbar wird hier auf das Adamitische Namensgeben angespielt, wie es in Gen 2, 19 – 20, sogar noch eindringlicher aber im Koran beschrieben wird (Zweite Sure, Vers 31 – 35, übersetzt von Ludwig Ullmann/L. W. Winter) : Dann sprach dein Herr zu den Engeln : »Ich will auf Erden einen Statthalter (den Menschen) setzen.« Sie antworteten : »Willst du dort einen einsetzen, der zerstörend wütet und Blut vergießt ? Wir aber singen dir Lob und heiligen dich.« Er aber […] zeigte alles den Engeln und sprach : »Nennet mir die Namen dieser Dinge, wenn ihr recht habt !« Sie antworteten : »Lob dir ! Wir wissen nur das, was du uns gelehrt hast, denn du nur bist der Allwissende und Allweise !« Dann sprach er : »Adam, verkünde du ihnen die Namen !« Als dieser sie genannt hatte, fuhr er fort : »[…] Fallt vor Adam nieder !« Und sie taten es […]. 305  Unendliche Geschichte 109 ; Hervorh. v. mir. 306  Daß dieser Hinweis ausgerechnet von einem Wesen kommt, das selbst innerhalb Phantásiens keinen Körper besitzt, ist natürlich besonders passend. 307  Siehe dazu auch oben den Abschnitt »Über den reflexiven Charakter der Unendlichen Geschichte« in I.C.3. Ende geht hier genau umgekehrt vor wie der belgische Maler René Magritte, der einst unter sein Bild einer Pfeife schrieb : »Ceci n’est pas une pipe.« (Und tatsächlich müßten wir ernsthaft am Verstand eines jeden zweifeln, der etwa versuchte, Magrittes Bild mit Tabak zu befüllen.) 308  Brief an eine Leserin vom 25. 10. 1981, zit. nach : Hocke/Neumahr 111 ; Hervorh. v. mir. 309  S. Kunst und Politik 16. 310  S. dazu auch Abschnitt IV.B.3. 311  Phantasie/Kultur/Politik 123 f. 312  S. Nabokov : Mademoiselle O., S. 28, sowie oben S. 170. 313  Daß es tatsächlich der Kapitalismus ist (hier allerdings in seiner Form als »Staatskapitalismus«, wie Ende den Realsozialismus in Phantasie/Kultur/ Politik 53 nennt), der die Innenwelt verheert, führt drastischer die legendäre tschechische TV-Serie Die Märchenbraut (Drehbuch : Miloš Macourek) aus dem Jahr 1981 vor Augen, die den Einfluß der Unendlichen Geschichte nicht verleugnen kann. Hier indes hat die Verwüstung unmittelbareren Charakter – wird doch die Märchenwelt im Namen von Fortschritt und Prosperität mit 262 | Anmerkungen 

Plattenbauten zugepflastert, ehe es den Zauberwesen durch eine List gelingt, ihre Autonomie und schließlich auch ihre Idylle wiederzuerlangen. Bemerkenswert ist, wie geschickt Macourek dasselbe Vorurteil, das Michael Ende im Gerichtsprozeß um The Neverending Story zum Nachteil gereichte (s. oben Abschnitt III.B), zu nutzen verstand : Anders als im Gewand einer »Kinderserie« hätte dieser Stoff die Zensurbehörde der ČSSR nie und nimmer passiert. 314  S. Unendliche Geschichte 147. Gmork ist in mehrerer Hinsicht eine dämonische Figur, auch deshalb, weil er als »Halbwesen« (168), welches nach Belieben sowohl menschliche als auch phantásische Gestalt annehmen kann, aber keiner der beiden Welten angehört (s. 140), aus der gesamten Konstruktion des Romans gleichsam herausfällt. 315  Unendliche Geschichte 142 – 4 4 ; Hervorh. v. mir. 316  S. dazu auch oben Abschnitt II.E.1. 317  Ende in : Phantasie/Kultur/Politik 123. 318  Kunst und Politik 60. 319  S. Kunst und Politik 59 – 61 ; s. dazu auch unten Abschnitt IV.B.3. 320  Warum aber spricht die Kindliche Kaiserin dann ausdrücklich vom zweifachen Ursprung jenes »Elend[s], das über beide Welten gekommen ist« (Unendliche Geschichte 161, s. oben S. 168) ? Sie hat hier etwas gänzlich anderes im Blick. Schöpferisch wird jeder Mensch zunächst in der Freiheit seiner Innenwelt ; aber er muß seine Kreationen erst praktisch aus sich heraus setzen, ehe sie im vollen Sinne des Wortes wirklich werden, d. h. Wirkungen auch in die andere, die Menschenwelt hinein entfalten (s. Gauklermärchen 93 sowie oben S. 176), die dann wiederum die Innenwelt zu neuen Schöpfungen inspirieren. Das Schöpferische hat also eine theoretische und eine praktische Seite, welche die Kindliche Kaiserin gleichermaßen für die Verwüstung der beiden Welten verantwortlich macht. Deshalb bliebe es auch gänzlich fruchtlos, wenn Bastian in Phantásien zwar seinen Wahren Willen fände, es aber verabsäumen würde, ihn praktisch umzusetzen (s. u.). 321  Unendliche Geschichte 169. Und zwar ausdrücklich bei den Kindern, denen ursprüngliche, unverdorbene Kreativität offenbar eher zugetraut wird als Erwachsenen. Dies erklärt wohl auch, warum die Kaiserin selbst stets in Gestalt eines »kleine[n] Mädchen[s] von höchstens zehn Jahren« (Unendliche Geschichte 160) auftritt. Siehe dazu auch unten Abschnitt IV.B.4. 322  Wir erinnern uns, daß diese simple Idee die Keimzelle des gesamten Romans war (s. oben S. 23). 323  S. Teil II. 324  Kunst und Politik 16. 325  Zu Endes Nietzsche-Rezeption über die Anthroposophie Rudolf Steiners s. oben Abschnitt I.B.1 und I.B.2. 326  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors ; zit. nach : Magische Welten 106. 327  Siehe z. B. : Shigematsu 131. Anmerkungen | 263

328  Dies

ist meine persönliche Einschätzung, die keinerlei Anspruch auf Objektivität erhebt. 329  Ende in : Shigematsu 131. 330  Nachschrift I 78. 331  KSA 6 (Götzen-Dämmerung), S. 77 ; Hervorhebungen von Nietzsche. 332  KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 85), S. 503. 333  KSA 6 (Götzen-Dämmerung), S. 75. 334  KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 85), S. 503. 335  KSA 12 (Nachgelassene Fragmente 1885 – 87), S. 382. 336  KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 85), S. 503 ; Hervorh. v. mir. 337 Ebd. 338  KSA 12 (Nachgelassene Fragmente 1885 – 87), S. 424. 339  KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 85), S. 504. 340  Ebd. 611 ; Hervorhebung von Nietzsche. 341  Vgl. dazu Endes Charakterisierung der Kindlichen Kaiserin in : Niemandsgarten 45 f., sowie oben S. 172. 342  Das Problem, daß diese Aufforderung für den Phantásier Atréju, der den »Glanz« im ersten Teil der Unendlichen Geschichte trägt, sinnlos wäre, wird später übrigens elegant gelöst : Die Grünhaut kann Fährten, aber keine Buchstaben lesen (254). Dies ist wohl einer der Gründe, warum er von der Kindlichen Kaiserin (und Michael Ende) für die Große Suche ausgewählt wurde. 343  S. unten Abschnitt D.3 dieses Teils. 344  Ende in : Shigematsu 131. 345 Nach Nietzsche (s. den vorherigen Abschnitt) wäre ein »schöpferischer Wille« ein bloßer Pleonasmus. 346  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors, zit. nach : Magische Welten 106 ; s. oben S. 183. 347  Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich Ende bei dieser Figur vom größten Redner, Verführer und Verräter in den Werken J. R. R. Tolkiens inspirieren hat lassen : dem Zauberer Saruman. Auch Xayídes Schloß Hórok (s. Unendliche Geschichte 308) weist wohl nicht zufällig die Form jener Hand auf, die Saruman als Zeichen der Macht im Wappen führt (Lord of the Rings 436). 348  Unendliche Geschichte 351 ; Hervorh. v. mir. Wir werden uns mit dieser Formulierung, die in ihrer Prägnanz ein wahres Kleinod ist, noch zu beschäftigen haben. 349  Unendliche Geschichte 341 ; Hervorh. v. mir. 350  Typoskript aus dem Nachlaß des Autors, zit. nach : Magische Welten 106 (s. oben S. 183). 351  Man kann dies insofern als einen Fortschritt von Momo hin zur Unendlichen Geschichte sehen, als es der Erfahrung des neuzeitlichen Menschen schlicht mehr entspricht. Während ein Zeitgenosse Homers noch jederzeit auf metaphysische Interventionen hoffen durfte, ist uns schmerzlich bewußt, wie 264 | Anmerkungen 

wenig sinnvoll es wäre, etwa auf das Einschreiten Meister Horas zu warten. Im Wunschpunsch (185 f.) wird diese Skepsis nochmals in humorvoller Weise thematisiert, wenn Jakob und Moritz den unvermutet erschienenen »Sankt Sylvester« [sic] anflehen, die stündlich drohende ökologische Apokalypse abzuwenden : »Wahrscheinlich, Monsignore, kann uns jetzt nur noch eine Art Wunder retten. Sie sind doch ein Heiliger. Könnten Sie nicht einfach ein Wunder tun – nur ein ganz kleines vielleicht ?« »Einfach ein Wunder !« wiederholte Sankt Sylvester ein wenig betreten. »Mein lieber kleiner Freund, so einfach ist es nicht mit den Wundern, wie du dir das vorstellst. Keiner von uns kann Wunder tun, es sei denn, er wird von oben damit beauftragt. Ich müßte dazu erst ein Gesuch einreichen an höherer Stelle, und es kann lange dauern, bis es bewilligt wird – wenn überhaupt.« »Wie lange ?« fragte Moritz. »Monate, Jahre, Jahrzehnte vielleicht«, antwortete Sankt Sylvester. »Zu lang !« krächzte Jakob verdrossen. »Da kann’s uns gestohlen bleiben …« 352  Siehe oben S. 170. 353  Vgl. Unendliche Geschichte 347 sowie oben S. 191. 354  Phantasie/Kultur/Politik 41. 355  Ende in : Shigematsu 131. 356  Das verdient deshalb festgehalten zu werden, weil es gerade der bewußt provokant formulierende Nietzsche seinen Kritikern zuweilen leicht macht, seine Thesen als unmoralisch abzulehnen, wobei sie das Niveau des Philosophen natürlich drastisch unterschreiten. Ende hingegen verdankt Nietzsche schlicht zu viel, um sein Denken derart beiseitezuschieben. 357  Vgl. dazu oben Anm. 96. 358  Und könnte nicht genau das der Grund für Atréjus plötzliches Erscheinen sein, das ihn um Haaresbreite vor dem Untergang bewahrt ? 359  Unendliche Geschichte 351 (Hervorh. v. mir) ; s. oben S. 190. 360  KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884 – 85), S. 503 361  Es wäre natürlich in höchstem Maße naiv zu glauben, Nietzsche selbst hätte dieses Problem übersehen. Tatsächlich setzt er alles daran, den Willen zur Macht über das Denken zu stellen, wodurch dieser scheinbar kritikresistent wird. Freilich fällt er dadurch vom Denken aus erst recht in völlige Unbestimmtheit zurück, und es stellt sich erneut und sogar noch verschärft die Frage, wie Nietzsche eigentlich zu seiner positiven Bestimmung des Willens gelangt. Auch Umwege über andere Grundgedanken des Philosophen wie etwa die Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, die als erhabenste Form des Willens zur Macht dem künftigen Übermenschen vorbehalten bleiben soll, führen lediglich zu einer Verlagerung des Problems. Als Menschen nämlich, denen die überlegene Einsicht des Übermenschen verwehrt bleibt, vermögen wir jene Lehre vom unaufhörlichen Kreisen der Welt lediglich als »Übersetzung« eines sich selbst wollenden Willens ins »Empirische« zu beAnmerkungen | 265

greifen (wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck im Kontext von Nietzsches Denkens zu verwenden). Wenn sich dieser Wille als leerer Zirkel erweist, vermag daher selbst das geballte Pathos Zarathustras die Ewige Wiederkehr nicht zu rettten. Was Ende von dieser Art der Ewigkeit hält, erschließt sich aus dem sinnlosen Dahinvegetieren der Alten Kaiser – mehr aber noch aus dem zentralen Kapitel der Unendlichen Geschichte (177 – 190 ; s. oben S. 35), wo deutlich genug von Bastians Gefangenschaft im »Kreis der ewigen Wiederkehr« als dem »Ende ohne Ende« (190) die Rede ist. 362  S. Unendliche Geschichte 356 sowie oben S. 193. 363  S. u. 364  Unendliche Geschichte 392 ; s. den nächsten Abschnitt (D.3). 365  Unendliche Geschichte 390. Bastian hat seine Mutter durch eine Krankheit verloren (s. Unendliche Geschichte 9). 366  Unendliche Geschichte 393 ; Hervorh. v. mir. 367  Siehe oben S. 143 f. 368  Unendliche Geschichte 402 ; Hervorh. v. mir. 369  Unendliche Geschichte 404 ; Hervorh. v. mir. 370  Momo 161 f. (s. auch oben S. 142). 371  S. u. 372  Unendliche Geschichte 406. Für den Leser ist das beinah ein Schock ; denn erst hier wird klar, warum der Vater, über dessen Kälte und Gleichgültigkeit Bastian sich immer wieder bitter beklagt, ihm gegenüber so abweisend ist : weil er nach dem Tod seiner Frau unter schweren Depressionen leidet (vgl. dazu Tölle 18 – 23). 373  Unendliche Geschichte 413 ; Hervorh. v. mir. 374  Siehe z. B. Jung 297 (Abb. 20) und 346 (Abb. 79). 375  S. oben den Abschnitt »Die Harmonie der Sphären« in II.H.1. 376  Ob jene Harmonie der Sphären für Ende selbst schon jener Grund aller Dinge ist, welcher die Individuen hervorbringt, oder ob dahinter noch ein (christlicher) Schöpfergott steht, bleibt unklar. In seinem Werk finden sich Hinweise auf beides : Während er in Momo eher der ersten Vorstellung zuzuneigen scheint, tritt das »Göttliche« im Wunschpunsch (s. ebd. 185 f. sowie oben Anm. 351) in ausgesprochen christlicher, ja geradezu katholischer Form auf. Ende selbst würde vermutlich darauf verweisen, daß dies alles ohnehin nur Bilder für das letztlich Unsagbare, allein Erfahrbare seien. Tatsächlich ist die Frage auch für diese Untersuchung irrelevant, zumal beide Vorstellungen aus dem Bereich des philosophischen Denkens herausfallen (vgl. oben S. 144 f.). 377  Unendliche Geschichte 109 ; Hervorh. v. mir. 378  S. oben Abschnitt I.B.2. 379  Die Monster und ihre Kritiker 185 ; Hervorh. v. mir.

266 | Anmerkungen 

TEIL IV · Die Grenzen Phantásiens

S. 211

380 

S. Niemandsgarten 304 f. sowie oben S. 18. 381  Wobei für Ende Literatur natürlich wiederum kein Selbstzweck ist, sondern in einem größeren Kontext steht, indem sie der Harmonie der Sphären irdischen Raum gibt – oder doch geben sollte. 382  Süddeutsche Zeitung zit. nach : Momo 274 (Klappentext) 383  Siehe oben S. 80. 384  Momo 80 ; s. oben S. 32. 385  Momo 187 ; s. oben S. 112. 386  Spiegel im Spiegel 42 ; s. oben S. 109. 387  S. oben Abschnitt III.B. 388  In anderen Werken tut er dies übrigens sehr wohl. Im Wunschpunsch etwa versuchen sich Hexe und Zauberer gegenseitig aus dem Weg zu räumen, indem sie einander hypnotisieren (182 ; s. oben S. 124). Das Eindringen in den Geist eines anderen wider dessen Willen zum Zwecke seiner Manipulation und psychischen Unterwerfung stellt einen Gewaltakt dar, der von kaum einer Form der physischen Gewalt übertroffen wird. 389  S. auch Unendliche Geschichte 273 sowie oben Anm. 283. 390  S. oben Abschnitt II.B sowie II.C.2. 391  Hocke/Neumahr 40. 392  S. oben Abschnitt II.B. 393  S. oben den Abschnitt »Sein und Bewußtsein« in II.C.2. 394  MEW, Ergänzungsband I, S. 546. 395  Siehe MEW 3, S. 101 – 438. 396  Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 395 f. 397  Was daran tatsächlich zu kritisieren wäre, ist die Tatsache, daß die Marxsche Natur als bloße »unendliche Endlichkeit« die Rolle als Letztgrund kaum zu spielen vermag. Indes bleibt dieser Letzgrund auch bei Ende fragwürdig (s. u.). 398  Siehe oben S. 103. 399  Vgl. Phantasie/Kultur/Politik 32 f. 400  Siehe z. B. Brecht 32 f. 401  Phantasie/Kultur/Politik 41. 402  Ebd. 32 f. 403  Vgl. oben S. 75. 404  Siehe oben S. 100 f. 405  Gerhard Gotz : Das Rätsel Mensch, S. 91 f. 406  Selbstverständlich könnte man Phantásien auch (aber nicht nur) den Bereich des Denkens nennen, was schon rein sprachlich deutlich wird, wenn es heißt, Bastian denke sich Geschichten aus (s. z. B. Unendliche Geschichte 9). Tatsächlich könnte er sich kein einziges phantásisches Abenteuer selbst erzählen, ja nicht einmal ein einziges inneres Bild erschaffen, ohne zu denken. (Ohne sich etwas sinnlich vorzustellen, allerdings auch nicht ; s. u.) Anmerkungen | 267

407 

Kunst und Poltik 58 – 61. Descartes XI, 180 (L’homme). Einen guten Überblick zu Descartes’ problematischer Konstruktion gibt Rainer Specht, S. 121 – 23. 409  Gotz : Der »intelligible Charakter« des Menschen, S. 99. 410  Ich verdanke diese Überlegungen den Vorlesungen von und Gesprächen mit Herrn Prof. Gotz. 411  Momo 162 ; Hervorh. v. mir. 412  Vgl. oben Abschnitt I.C.2. 413  Natürlich war Kierkegaard kein Mystiker, was in diesem Kontext aber nicht von Belang ist (s. u.). 414  S. dazu Nachschrift I 86 – 97. 415  Ebd. 97. 416  Kowatsch 122. 417  Der Begriff Angst 72. 418  Ende in : Phantasie/Kultur/Politik 125. 419  Ende in : Hocke/Neumahr 127. 420  Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung gesteht indes, zeitweise mit dem Gedanken gespielt zu haben, eine Disseration über »Kapitalismuskritik bei Nietzsche« zu verfassen. Ich habe mich aber entschieden, dieses Wagnis anderen, spitzfindigeren Denkern zu überlassen. 421  S. Rzeszotnik 206. 422  Hocke/Neumahr 187. Tatsächlich gab es im japanischen Fernsehen sogar eine eigene (allerdings erst nach dem Tod des Autors ausgestrahlte) Sendung, in der er Millionen Zusehern in englischer Sprache die Grund­lagen der Kapitalismuskritik näherbrachte : »Michael Ende on the Money-go-Round« (s. ebd.). 423  Süddeutsche Zeitung zit. nach : Momo 274 (Klappentext) ; Hervorh. v. mir. 424 Die Seitenangaben in der vorliegenden Untersuchung beziehen sich auf die (inhaltlich unveränderte) lizenzierte Taschenbuchausgabe (München 2002), da diese mittlerweile weiter verbreitet und leichter verfügbar ist als die gebundene Originalausgabe. 425  Ich zitiere die Nachschrift in der vorliegenden Untersuchung notgedrungen aus den Gesammelten Werken (Düsseldorf/Köln 1950 ff.), weil in diesem einen Fall keine andere, wissenschaftlich fundierte Übersetzung vorzuliegen scheint. Insgesamt empfehle ich jedoch dringend, die deutschsprachige Gesamtausgabe zu meiden (und stattdessen zu Einzelausgaben zu greifen), da ich deren Sprache wie Konrad Paul Liessmann als »antiquiert und problematisch« (151) empfinde. Dies betrifft v. a. den von Emanuel Hirsch verantworteten Teil, dem ein sehr bedenklicher ideologischer Mief anhaftet. Hirsch bleibt lediglich das zweifelhafte Verdienst, das schier Undenkbare praktisch bewiesen zu haben : daß ein und derselbe Mann tatsächlich Theologe, KierkegaardÜbersetzer und überzeugter Nationalsozialist sein kann – nicht ohne freilich in zwei dieser drei Rollen erbärmlich zu versagen. 408 

268 | Anmerkungen 

426 Ausdrücklich

gewarnt sei vor der sogenannten »Neuübersetzung« durch W. Krege (Stuttgart 2000), hinter deren willkürlichen Verfremdungen The Lord of the Rings kaum mehr auszumachen ist. Die ältere Carroux-Übertragung sowie Kreges andere Übersetzungen sind vergleichsweise annehmbar, können aber die Originallektüre des brillanten Erzählers Tolkien in keiner Weise ersetzen.

Anmerkungen | 269

Q U E LLE N A N G A B EN ZU DEN EINLEITEND E N ZITATE N

Vorwort:  zitiert nach Nabokov: Die Kunst des Lesens 9 I.A:  Erinnerungen 18 (unv. Manuskript); zitiert nach: Hocke/Neumahr 38 I.B:  Die Archäologie der Dunkelheit 25 I.C:  Kunst und Politik 50 II.A:  Phantasie/Kultur/Politik 123 II.B:  zitiert nach: Markus 203 II.C:  Nietzsche: KSA 11 (Nachgelassene Fragmente 1884–1885) 270 II.D:  Dante: Die Göttliche Komödie, Inferno XIX, Vers 112–114 (S. 86) II.E:  Carroll 38 f. II.F:  Liedtext von Georg Danzer (www.georgdanzer.at) II.G:  Nietzsche: KSA 6, 387 II.H:  zitiert nach: Sagan 207 II.I:  Lao-tse: Tao-Tê-King, Kapitel 44 (S. 73) III.A:  Nabokov: Verzweiflung 161 III.B:  Hoffmann 59 III.C:  Hölderlin 177 III.D:  Hammarskjöld 81 III.E:  Rilke: Die Sonette an Orpheus I/24 (S. 25) IV.A:  Kraus 99 IV.B:  Shakespeare: The Alexander Text 405 IV.C:  Die unendliche Geschichte 426

270 

N A ME NR EG IS TER

Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Anmerkungen. Aschenberg, Heidi 52 f., 155, 249 Adorf, Mario 245 Augustinus von Hippo 160 f. Beckett, Samuel 95 f., 157 Bellow, Saul 27 Bely, Andrej 27 Berger, Klaus 244 Beuys, Joseph 27, 48, 52, 55, 221–23 Boccarius, Peter 245 Böhme, Gernot 65 Böhme, Jakob 29 Brecht, Bertolt 14, 21 f., 28, 69, 150, 183, 215, 217, 235, 245 Brentano, Clemens 48 Broch, Hermann 10 Carroll, Lewis 113 Carroux, Margaret 269 Celan, Paul 40 Cervantes Saavedra, Miguel de 55 Crowley, Aleister 160 Dahrendorf, Malte 75 f., 99 Dalí, Salvador 162

Dante Alighieri 104, 136 Danzer, Georg 127 Darwin, Charles 256 Descartes, René 223, 268 Drexel, Ruth 25, 245 Eichendorff, Joseph von 48 Eichinger, Bernd 24, 156, 158 f., 161–63, 248, 259 Ende, Edgar 20, 24 Ende, Luise 20 f. Engels, Friedrich 67 Epikur 257 Eppler, Erhard 40, 49, 65, 143, 152, 229 Farkas, Karl 66 Flaubert, Gustave 9 Galilei, Galileo 100, 253 Geissler, Dieter 23, 157 f. Gotz, Gerhard 10, 219 f., 268 Hammarskjöld, Dag 182 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49, 168, 216

Heraklit 45, 247 Hetmann, Frederik 249 Hiller, Wilfried 24 Hirsch, Emanuel 268 Hocke, Roman 24, 29, 47, 57–60, 65, 89, 168, 243, 245 Hoffmann, E[rnst] T[heodor] A[madeus] 49, 157 Hoffmann, Ingeborg 21, 24 Hölderlin, Friedrich 164, 212, 250 Huxley, Aldous 66, 132 Jones, Daniel 41 Kaminski, Winfred 52 f. Kandinsky, Wassily 27 Kant, Immanuel 42, 244 Kierkegaard, Søren 14, 137 f., 147, 154, 168, 184, 211, 225, 227, 231 f., 235, 257 f., 261, 268 Kowatsch, Eva-Maria 15 f., 29, 46–49, 62, 171, 246 Kraus, Karl 211 Krege, Wolfgang 269  271

Lao-tse 152 Liessmann, Konrad Paul 268 Lindenberg, Christoph 245 Lodemann, Jürgen 51, 53 Lübbren, Rainer 13, 14, 29, 245 Ludwig, Claudia 15 Macourek, Miloš 262 Magritte, René 162, 262 Marx, Karl 17, 67–71, 92–95, 103, 152 f., 180, 211 f., 215–17, 230, 234 f., 252, 267 Maxentius, Marcus ­Aurelius 251 Monod, Jacques 46 Morgenstern, Christian 27 Morris, Desmond 256 Moser, Friedhelm 18, 244 Müller-Beck, Hans­ jürgen 256 Nabokov, Vladimir 39, 155, 170, 247 Neumahr, Uwe 24, 47, 60, 65, 89, 168, 243, 245

272 | Namenregister 

Nietzsche, Friedrich 14, 26, 29, 70, 132, 183–85, 198–200, 207, 209, 211, 234 f., 246 f., 263–66, 268 Novalis 48, 176 Petersen, Wolfgang 156, 158–63, 166 f., 248, 259 Pfau, Ulli 160 f. Platon 167, 244, 260 Prondczynsky, Andreas von 244 Rabelais, François 160 f. Saint-Exupéry, Antoine de 16, 246 Sato, Mariko 25, 245 Sauer, Heinrich 21 Schlegel, Friedrich 48 Schmidt, Alfred 244 Schopenhauer, Arthur 247 Schröder, Tilman 16 Shakespeare, William 52, 164, 214, 260 f. Shigematsu, Sôiku 16, 27, 99 Simon, Anne-Catherine 66, 250 Skinner, Burrhus ­Frederic 46

Sokrates 45, 247 Sørensen, Bengt Algot 243, 249 Specht, Rainer 268 Steiner, Rudolf 25–29, 207, 245 f., 263 Stirner, Max 216 Täschl, Hanne 40 Thomas, Dylan 41 Tolkien, Christopher 51 Tolkien, John Ronald Reuel 45, 49–54, 58, 62, 140, 164, 207 f., 228, 245, 249 f., 264, 269 Ullmann, Viktor 27 Walter, Bruno 27 Weitbrecht, Hansjörg 23 Wernsdorff, Christian von 16, 48 Wilde, Oscar 120 Wirz, Albert 255 Wynn Fonstad, Karen 51 Ziegler, Jean 67 Zimmer, Dieter 48