Meuten - Broadway-Cliquen - Junge Garde: Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich 9783412213251, 9783412205942

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Meuten - Broadway-Cliquen - Junge Garde: Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich
 9783412213251, 9783412205942

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Alexander Lange

Meuten – Broadway-Cliquen – Junge Garde

Geschichte und Politik in Sachsen Band 27 Herausgegeben von

Ulrich von Hehl, Günther Heydemann und Hartmut Zwahr

Alexander Lange

Meuten – Broadway-Cliquen – Junge Garde Leipziger Jugendgruppen im Dritten Reich

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Horst-Springer-Stiftung für Neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, und der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.

Betreuender Herausgeber: Ulrich von Hehl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Eine proletarische Kinder- und Jugendgruppe aus Leipzig im Frühjahr 1933 (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Fotosignatur Nr. 3204).

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20594-2

Inhaltsverzeichnis

VORWORT ............................................................................................................................ 9 ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN ................................................................................10 EINLEITUNG.....................................................................................................................13 1. Fragestellung und Zielsetzung ................................................................................13 2. Methodik und Begriffe.............................................................................................16 3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik ...................................................23 I. JUGENDGRUPPEN IN LEIPZIG AM ENDE DER WEIMARER REPUBLIK....................................................................................................................32 1. Leipzig vor 1933. Eine Einführung .......................................................................32 a. Leipzig als Hochburg der Arbeiterbewegung...............................................32 b. Arbeiterviertel ....................................................................................................33 c. Wahlergebnisse 1932/1933 .............................................................................35 2. Linkssozialistische Jugendgruppen ........................................................................36 a. Die Sozialistische Arbeiterjugend...................................................................37 b. Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands..................................39 3. Jugendbünde in Leipzig ...........................................................................................45 a. Die Deutsche Freischar....................................................................................47 b. dj 1.11 und Deutsche Jungentrucht ...............................................................49 c. Die Zeitschrift „Speerwacht“..........................................................................50 d. Weitere nichtkonfessionelle Bünde in Leipzig.............................................51 4. Konfessionelle Jugendbünde ..................................................................................53 a. Die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands...........................................54 b. Die Quickborn-Jungenschaft ..........................................................................56 c. Jüdische Jugendgruppen ..................................................................................56 II. PHASE I: „MACHTERGREIFUNG“, VERBOT UND VERFOLGUNG.....58 1. Die Hitlerjugend........................................................................................................58 a. Die Hitlerjugend in Leipzig 1933 bis 1938 ...................................................63 b. Die Mitgliederentwicklung in Leipzig 1935 bis 1938..................................67 c. Das Problem der Heimbeschaffung ..............................................................71 2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD ..............................73 a. Die Zeitung „Der Junge Sturmrufer“............................................................75 b. Die Situation im Sommer 1933 ......................................................................76 c. Die Neugliederung des Leipziger KJVD Anfang 1934 ..............................80 d. Politische Arbeit des illegalen KJVD.............................................................84 e. Die illegale Zeitung „Junge Garde“ ...............................................................86 f. Die Zerschlagung des KJVD im Sommer 1934 ..........................................88 g. Der illegale KJVD ab August 1934................................................................89 h. Neue Versuche illegaler Arbeit 1936 .............................................................95

6 3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ....................................98 a. SPD, SAJ und Widerstand...............................................................................98 b. Die Kampfstaffeln ..........................................................................................100 c. Der illegale SAJ-Vorstand in Leipzig...........................................................101 d. Die „Vorstoß“-Gruppe ..................................................................................103 e. Die Sozialistische Schülergemeinschaft Leipzig ........................................106 f. Weitere illegale Aktivitäten von SAJ-Mitgliedern ......................................108 4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933..........................................................109 a. Die Deutsche Freischar in Leipzig...............................................................111 b. Die Reichsschaft Deutscher Pfadfinder......................................................116 c. Die Zeitschrift „Eisbrecher“ und der Günther Wolff-Verlag.................117 d. dj 1.11, Jungentrucht und die „Rote Garnison“ ........................................119 e. dj 1.11/Jungentrucht an der Universität Leipzig .......................................125 f. „Die Gemeinschaft“ .......................................................................................128 g. Ein weiterer dj 1.11er .....................................................................................132 h. „Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“ ....................................................................134 i. Der Polnische Pfadfinderbund .....................................................................136 j. Eine illegale Scharnhorst-Gruppe in Taucha bei Leipzig.........................137 5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933..........................................137 a. Die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands.........................................140 b. Der Bibelkreis christlicher Pfadfinder .........................................................145 c. Christliche Pfadfinder im Verein für Kanusport Leipzig.........................146 d. Jungenwacht - Spielschar Leipzig.................................................................148 e. Katholische Jugendgruppen ..........................................................................150 f. Der Jüdische Pfadfinderbund - Makkabi Hazair .......................................151 6. Zusammenfassung des Zeitraumes 1933 bis 1936............................................155 III. PHASE II: WILDE ARBEITERJUGENDCLIQUEN – DIE LEIPZIGER MEUTEN 1937 BIS 1939 .........................................................................................160 1. Entstehung und Spezifik der Leipziger Meuten ................................................160 2. Meuten im Leipziger Osten...................................................................................166 a. Die Meute „Horst-Wessel-Platz“ .................................................................166 b. Die Meute „Lille“............................................................................................169 c. Weitere Meuten im Leipziger Osten............................................................175 3. Die Meute „Hundestart“ im Leipziger Südwesten............................................176 4. Die Meute „Reeperbahn“ im Leipziger Westen................................................182 5. Meuten im Leipziger Zentrum .............................................................................192 a. „St.-Pauli“-Meute und Meute „Gerberstraße“...........................................192 b. Die Meute „Johannisthal” .............................................................................193 c. Meute Sidonienstraße und „Texas“-Meute.................................................195 6. Meuten im Leipziger Süden ..................................................................................196 a. Die Meute „Arndtstraße“ ..............................................................................196 b. Die Connewitzer Meute .................................................................................200 7. Meuten im Leipziger Norden ...............................................................................204 8. Meuten im Leipziger Umland ...............................................................................205

7 9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten ................................................................208 a. Die Arbeit der Gestapo..................................................................................208 b. Die Arbeit des Sondergerichts Freiberg......................................................213 c. Prozesse gegen die Leipziger Meuten..........................................................214 d. Leipziger Jugendamt und Jugendschulungslager Mittweida ....................219 10. Einschätzung der Leipziger Meuten..................................................................224 a. Kommunistische Einstellung und politische Bewertung .........................224 b. Die Ausmaße der Meutenbewegung............................................................227 c. Leipziger Meuten – eine Ausnahmeerscheinung in Sachsen und Mitteldeutschland? ..........................................................................................229 IV. MITGLIEDER LINKSSOZIALISTISCHER JUGENDGRUPPEN AB 1936 ........................................................................................................................232 1. Die Ausgangssituation nach 1935 ........................................................................232 2. Der Kreis um Kurt Gittel......................................................................................234 3. Der Kunststudentenkreis um Karl Krauße ........................................................236 4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe........................................................................237 a. Die Entstehung der KdF-Jugendgruppe.....................................................237 b. KdF-Gruppe und Leipziger Meuten............................................................239 c. Das Wirken Alfred Nothnagels in der KdF-Gruppe................................241 d. KdF-Wandergruppe, illegale Lesezirkel und soziales Netzwerk.............244 e. Die KdF-Gruppe und die Brüsseler Beschlüsse der KPD ......................250 f. Hüttenabende und neue Kontakte...............................................................252 g. Waffenbeschaffung, Leipziger NKFD und Unterstützerarbeit ..............258 h. Einschätzung der KdF-Gruppe....................................................................264 V. PHASE III: LEIPZIGER JUGEND IM KRIEG .................................................267 1. Leipzig während des Krieges ...............................................................................267 2. Die Veränderung der Jugendkultur ....................................................................269 3. Die Hitlerjugend als Pflicht..................................................................................272 4. „Jugendschutz“ im Krieg......................................................................................278 5. Der „Broadway“.....................................................................................................285 a. Die „Broadway-Gangster“.............................................................................286 b. Der Freundeskreis um Werner Teumer ......................................................292 6. „Bündische Jugend“ nach 1940............................................................................296 a. „Bündische Jugend” im Leipziger Westen .................................................297 b. Der „Tiroler Bund des Roten Ostens“ .......................................................299 c. „Bündische Jugend“ im Leipziger Süden....................................................299 7. Die Gestapo-Arbeit nach 1940............................................................................302 8. Der „Hot Club Leipzig“ .......................................................................................304 9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“.................................................................310 10. Einschätzung der Gruppen nach 1940 .............................................................320

8 VI. JUGEND IN LEIPZIG NACH 1945 ....................................................................322 1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes .............................................................................................................322 a. Das NKFD nach der Befreiung Leipzigs ...................................................323 b. Organisierte Jugendarbeit nach 1945...........................................................327 c. Die Gründung der Freien Deutschen Jugend............................................334 2. Die Anerkennung der Leipziger Meuten als Verfolgte des Naziregimes......340 3. Zum Problem der DDR-Historiker mit den Leipziger Meuten .....................342 4. Bürgerliche Jugendliche nach 1945......................................................................344 ZUSAMMENFASSUNG.................................................................................................346 ANHANG ...........................................................................................................................352 Quellen- und Literaturverzeichnis............................................................................352 Ungedruckte Quellen.............................................................................................352 Interviews des Verfassers mit Zeitzeugen..........................................................353 Zeitungen und Zeitschriften.................................................................................354 Gedruckte Quellen.................................................................................................354 Bibliographie ...........................................................................................................354 PERSONENINDEX........................................................................................................368

Vorwort

Die vorliegende leicht überarbeitete Untersuchung wurde im Sommersemester 2009 unter dem Titel „Jugend zwischen Nichtanpassung und Widerstand in Leipzig während der NS-Zeit“ von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig als Dissertation angenommen. Eine Vielzahl von Personen hat mich bei meiner Arbeit zu diesem Thema unterstützt, bei denen ich mich an dieser Stelle auf das herzlichste bedanken möchte. Zunächst ist mein Doktorvater zu nennen, Prof. Dr. Werner Bramke, der mir jederzeit mit Rat und Tat engagiert zur Seite stand. Von meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Alfons Kenkamm erhielt ich ebenso hilfreiche Hinweise und Unterstützung. Danken möchte ich auch den Herausgebern der Reihe „Geschichte und Politik in Sachsen“ und hier namentlich Prof. Dr. Ulrich von Hehl für die Möglichkeit der Veröffentlichung meiner Arbeit. Der HorstSpringer-Stiftung für neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-EbertStiftung, Bonn und der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, bin ich für die finanzielle Förderung der Drucklegung zu großem Dank verpflichtet, letzterer darüber hinaus besonders für die großzügige Förderung meines Promotionsstudiums. Bedanken möchte ich mich ebenso bei den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive, die ich aufgesucht habe. Frau Prof. Dr. Christina Vanja, Sabine Kircheisen, Kurt Michaelis, Werner Tautz und nicht zuletzt dem im letzten Jahr verstorbenen Prof. Dr. Karl-Heinz Jahnke sowie vielen anderen danke ich für die zur Verfügungstellung von Dokumenten aus ihrem Privatbesitz. Dr. Carsten Voigt danke ich vor allem für die technische Unterstützung. Meiner Lebensgefährtin und unseren beiden Söhnen danke ich für ihr Verständnis, dass ich so viele Stunden am Computer, zwischen Buchseiten und in Archiven zugebracht habe. Nicht nur in finanzieller Hinsicht haben mich meine Eltern während des Studiums tatkräftig unterstützt, weswegen sie diese Arbeit überhaupt erst möglich gemacht haben. Dafür bedanke ich mich hiermit auf das allerherzlichste und widme ihnen dieses Buch. Leipzig, im Frühjahr 2010

Alexander Lange

Abkürzungen und Siglen

ADGB ATSB Agitprop BArch BBC Bd. BDM oder BdM BJ BL Bl. BPA BRD CDU CP ČSR CVJM DC DAF DDP DDR ders. dies. DF dj 1.11 DJ oder JV DRK ebda. EKKI FAD FDJ FSJ geb. Gestapo Hg. HJ HStAD IWK

Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Arbeiterturn- und Sportbund Agitation und Propaganda Bundesarchiv Berlin British Broadcast Corporation Band Bund deutscher Mädel Bündische Jugend Bezirksleitung Blatt Bundesparteiarchiv Bundesrepublik Deutschland Christdemokratische Partei Christliche Pfadfinderschaft Tschechoslowakei Christlicher Verein junger Männer Deutsche Christen Deutsche Arbeitsfront Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik derselbe dieselbe/dieselben Deutsche Freischar Deutsche Jungenschaft 1.11.1929 Deutsches Jungvolk Deutsches Rotes Kreuz ebenda Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale Freiwilliger Arbeitsdienst Freie Deutsche Jugend Freie Sozialistische Jugend geboren Geheime Staatspolizei Herausgeber Hitlerjugend Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung

Abkürzungen und Siglen

IAK Jg. JuA KdF KgdF KJI KJVD Komintern KPD KPKK KPO KS KZ LDP LG LL LNN LVZ MdL MdR LVB MfS NKFD NLZ NS NSDAP NSV NVA OBM OdF OLG Org.-Leiter PP RAD RFB RGO RJF SA SAJ SAP SBZ SchuA SD

Internationales Antifaschistisches Komitee Jahrgang Akten des Jugendamtes Leipzig Kraft durch Freude Kämpfer gegen den Faschismus Kommunistische Jugendinternationale Kommunistischer Jugendverband Deutschland Kommunistische Internationale Kommunistische Partei Deutschland Kreisparteikontrollkommission Kommunistische Partei Opposition Kampfstaffeln Konzentrationslager Liberaldemokratische Partei Landgericht Landesleitung Leipziger Neueste Nachrichten Leipziger Volkszeitung Mitglied des Landtages Mitglied des Reichstages Leipziger Verkehrsbetriebe Ministerium für Staatssicherheit Nationalkomitee Freies Deutschland Neue Leipziger Zeitung Nationalsozialismus, nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Nationale Volksarmee Oberbürgermeister Opfer des Faschismus Oberlandesgericht Organisationsleiter Polizeipräsidium Reichsarbeitsdienst Roter Frontkämpferbund Revolutionäre Gewerkschaftsopposition Reichsjugendführung Sturm-Abteilung Sozialistische Arbeiterjugend Sozialistische Arbeiterpartei Sowjetische Besatzungszone Akten des Schulamtes Leipzig Sicherheitsdienst der SS

11

12 SED SJV SMAD Sopade SPD SS SSB SSG StAL SU UB UBL VdN VGH Vgl. VVN ZK ZPKK

Abkürzungen und Siglen

Sozialistische Einheitspartei Deutschland Sozialistischer Jugendverband Sowjetische Militäradministration in Deutschland Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Exilvorstand) Sozialdemokratische Partei Deutschland Sturm-Staffel Sozialistischer Schülerbund Sozialistische Schülergemeinschaft Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Sowjetunion Unterbezirk Unterbezirksleitung Verfolgter des Naziregimes Volksgerichtshof vergleiche Verein der Verfolgten des Naziregimes Zentralkomitee Zentrale Parteikontrollkommission

Einleitung

1.

Fragestellung und Zielsetzung

„Seit langer Zeit musste die Beobachtung gemacht werden, dass unter der Leipziger Jugend in bemerkenswerter Weise Unruhe herrscht.“1 Diese Arbeit soll zeigen, was es während der Zeit des Nationalsozialismus an oppositionellem Verhalten und Widerstand von Jugendlichen in Leipzig gegeben hat und wie dies zu bewerten ist. Der Focus liegt auf dem Arbeitermilieu, jedoch werden auch verschiedene bürgerliche Jugendgruppen dargestellt. Während bislang in Lokal- und Regionalstudien anderer deutscher Städte meist nur über proletarische oder bürgerliche oder konfessionelle Jugendopposition während der NS-Zeit geforscht oder allgemein gehaltene Gesamtüberblicke zu einzelnen Gruppen veröffentlicht wurden, sollen diese Aspekte erstmalig in einer Arbeit zusammengeführt werden. Mit der Darstellung von oppositionellem Verhalten von Jugendlichen anhand einer Großstadt wird versucht, einen zusammenhängenden und gleichzeitig differenzierten Einblick in jugendliche Lebensumstände der NS-Zeit zu geben. Mit neuen konkreten Erkenntnissen über die Basis vor Ort können außerdem damalige deutschlandweite Trends erkannt und gegebenenfalls modifiziert werden. Die Arbeit hat einen lokalhistorischen Anspruch, weshalb versucht wurde, die relevanten Gruppen detailliert darzustellen. Leipzig war zu Beginn der 30er Jahre die fünftgrößte Stadt in Deutschland und ein internationales Industrie- und Handelszentrum. Leipzig eignet sich für eine Regionalstudie besonders, weil hier Anfang/ Mitte des 20. Jahrhunderts zwei polarisierte Welten aufeinander treffen: eine politisch und kulturell hoch organisierte Arbeiterschaft auf der einen Seite und ein selbstbewusstes, politisch konservatives Bürgertum auf der anderen.2 Die Arbeit soll darum am Ende der Weimarer Zeit beginnen und zunächst alle relevanten Jugendgruppen darstellen: linkssozialistische Arbeiterjugendorganisationen, bündische Jugend und bün-

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Aus einem Bericht der Leipziger Gestapo vom Mai 1938; BArch NJ 9156, Bl.19. Zur genannten Polarität siehe W. BRAMKE/S. REISINGER: Leipzig in der Revolution von 1918/1919, Leipzig 2009 besonders S. 27-39. Zur Arbeiterbewegung in Leipzig siehe u.a. T. ADAM: Arbeitermilieu und Arbeiterbewegung in Leipzig 1871-1933, Köln, 1999. Sowie M. RUDLOFF/T. ADAM/J. SCHLIMPER: Leipzig - Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996; W. BRAMKE/U. HEß (Hg.): Sachsen und Mitteldeutschland, Weimar 1995.

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Einleitung

disch geprägte konfessionelle Gruppen. Die vielfältige jugendliche Gruppenlandschaft in Leipzig zu Beginn der 30er Jahre bietet eine gute Ausgangsbasis, sich mit den massiven Veränderungen zu beschäftigen, der sie unter dem NSRegime ab 1933 ausgesetzt war. Bei den bisherigen Betrachtungen des KJVD und der SAJ nach 1933 standen diese Jugendorganisationen meist im Schatten ihrer Mutterparteien oder wurden generell vernachlässigt.3 In dieser Arbeit soll darum für Leipzig beiden Gruppen ausführlich Raum gegeben werden. Wie reagierten sie auf die NSMachtergreifung und auf die verhängten Verbote? Arbeiteten sie in der Illegalität weiter und welche Wirkung erzielten sie dabei? Darüber hinaus wird erstmals ausführlich eine illegal organisierte linkssozialistische Gruppe Leipziger Jugendlicher beleuchtet, welche von etwa 1938 bis zum Ende des Krieges unter dem Deckmantel einer „Kraft durch Freude“Wandergruppe agierte, als einzige Jugendgruppe Kontakt zum organisierten kommunistischen Widerstand der Leipziger Gruppierung „Nationalkomitees Freies Deutschland“ hatte und teilweise dort aktiv mitarbeitete.4 Es soll der Frage nachgegangen werden, wie es zu deren Gründung kam und was sie von anderen oppositionellen Jugendgruppen zu der Zeit unterschied. Außerdem ist von Interesse, was konkret an illegaler Arbeit geleistet wurde. Ein weiteres Ziel der Arbeit ist, erstmalig für Leipzig die wichtigsten bündischen und bündisch geprägten konfessionellen Jugendgruppen darzustellen. Hierfür sind keinerlei Vorarbeiten in der Forschung bekannt. Es soll darum zunächst versucht werden aufzuzeigen, welche Relevanz diese Gruppen vor 1933 sowohl in der Stadt als auch reichsweit hatten. Ließen sie sich 1933/34, wie allgemein angenommen, relativ schnell und unkompliziert in die neue Staatsjugend integrieren oder versuchten einige, ihre Autonomie unbedingt zu erhalten?

3

4

Sichtbar in allgemeinen Darstellungen z.B. K.-M. MALLMANN: Kommunisten in der Weimarer Republik, Darmstadt 1996; Sowie D. PEUKERT: Die KPD im Widerstand, Wuppertal 1980; Die Arbeit von K.-H. JAHNKE: Jungkommunisten im Widerstandskampf gegen den Hitlerfaschismus, Berlin(Ost) 1977, kann aufgrund der tendenziösen Betrachtung des KJVD im Sinne der SED nur bedingt für eine Bewertung herangezogen werden; Konkret für die SAJ in Leipzig wurden mittlerweile erste Forschungslücken geschlossen: H.-D. SCHMID: Der organisierte Widerstand der Sozialdemokraten in Leipzig 1933-1935. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte unterm Hakenkreuz, Leipzig 1994, S.26-70. Zum KJVD in Leipzig: S. HÖPPNER: Die „Zelle Zentrum“, Leipzig 1991. Das Leipziger NKFD hatte eine linkssozialistische Ausrichtung, im Gegensatz zu dem in der SU gegründeten. Auch bestand es nicht aus Wehrmachtsoffizieren und arbeitete zudem unabhängig vom NKFD in der SU. Siehe: J. TUBBESING: Nationalkomitee Freies Deutschland, Beucha 1996, S.53f. Sowie C. VOIGT: Kommunistischer Widerstand in Leipzig 1943/44, Leipzig 2001, S.48f.

1. Fragestellung und Zielsetzung

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Die Leipziger Meuten sind bis zum heutigen Tag sowohl in der lokalen als auch in der überregionalen Forschung nur teilweise behandelt worden.5 In dieser Arbeit soll darum das Phänomen der Leipziger Meuten umfassend dargestellt und ihre Besonderheit im Vergleich zu den westdeutschen Edelweißpiraten erfasst werden. Auch wird der Frage nachgegangen, in welchem Umfang die Meuten Jugendgruppen der Weimarer Republik entstammten, welche Ausmaße sie erreichten und welche Wirkung sie erzielten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges änderte sich das Lebensumfeld für alle Jugendlichen in Deutschland entscheidend. Ausgangshypothese ist, dass eine neue „Generation“ von bislang für Leipzig weitgehend unbekannten Jugendlichen sich dem NS-Regime verweigerte, welche nahezu keine Bezüge zur Weimarer Zeit hatte und sich vorrangig für angloamerikanischen Kultur- und Lebensstil interessierte.6 Es wird zu klären sein, was diese Gruppen von den Leipziger Meuten unterschied und wie sie in der Öffentlichkeit agierten. Von Interesse ist jeweils, inwieweit Leipzig während der NS-Zeit damalige deutschlandweite Erscheinungen widerspiegelte oder aufgrund des bis 1933 für Leipzig bekannten starken Arbeiterkulturmilieus andere Entwicklungen aufwies. Ausgangsthese ist, dass Arbeiterjugendliche sich in Leipzig qualitativ und quantitativ stärker dem NS-Regime zu widersetzen versuchten als Jugendliche aus dem bürgerlichen Milieu. Wie sich das konkret äußerte, möchte diese Arbeit aufzeigen. Die Handlungen von Jugendlichen können nicht isoliert betrachtet, sondern sollten in die jeweilige – auch milieubedingte – soziale und gesellschaftliche Gesamtsituation eingeordnet werden. Beispielgebend für die Probleme bei der Einordnung jugendlichen Verhaltens ist die kontroverse Diskussion über die „Ehrenfelder Gruppe“ im Köln der Endphase des NS-Regimes, deren Handeln zwischen partisanenähnlichem Jugendwiderstand und kleinkriminellem Verhalten bewertet wird.7 Eine sachliche Einordnung jenseits von jeglichem Heldenpathos’ ist deshalb für die zu untersuchenden Gruppen anzustreben. Im Vergleich der einzelnen Jugendgruppen mit der Hitlerjugend soll außerdem gezeigt werden, inwieweit der NS-Staat seine angestrebte totale Durch-

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6 7

Eine Ausnahme bildet die - leider unveröffentlichte - Diplomarbeit von S. KIRCHEISEN: Zu Erscheinungen der jugendlichen Opposition gegen das Hitler-Regime in Leipzig (1937-1939), Rostock 1988, welche vorrangig die drei bekanntesten Meuten beschreibt. Erste Hinweise siehe: W. BRAMKE: Der unbekannte Widerstand in Westsachsen 19331945. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 13, Weimar 1986, S.220-253. Eine gute Zusammenfassung der Kontroverse bietet B.-A. RUSINEK: Desintegration und gesteigerter Zwang. Die Chaotisierung der Lebensverhältnisse in den Großstädten 1944/45 und der Mythos der Ehrenfelder Gruppe. In: W. BREYVOGEL (Hg.): Piraten, Swings und Junge Garde, Bonn 1991, S.271-294.

Einleitung

16

dringung der Gesellschaft erreichen konnte und wie es andererseits für Jugendliche möglich war, sich dem zu entziehen.8

2.

Methodik und Begriffe

Die vorliegende Arbeit hat einen kultur- und sozialgeschichtlichen Ansatz. Für die Darstellung der jugendlichen Basis einer Großstadt bietet sich darum die Milieutheorie von Rainer M. Lepsius an, der mit dem Begriff „sozialmoralische Milieus“ soziale Einheiten bezeichnet, „die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtenspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden.“9 Auch wenn in den 90er Jahren an der Milieutheorie von Lepsius Kritik geübt wurde, hält der Verfasser sie dennoch für eine seriöse Ausgangsbasis für diese Untersuchung.10 Lepsius stellte vier Milieus fest: das linkssozialistische, das katholische, ein liberales und ein konservativ- protestantisches Milieu. Für die vorliegende Arbeit ist vorrangig die Begriffsverwendung für das linkssozialistische Milieu von Bedeutung.11 Peter Steinbach stellte außerdem die Wichtigkeit des Milieukonzeptes für die Widerstandsgeschichte heraus, „weil es zu erklären vermag, weshalb es in modernen Diktaturen nicht zu einer völligen weltanschaulichen Gleichschaltung sozialer, kultureller und politischer Gruppen kommt. Sie entfalten vielmehr auf eine häufig beeindruckende Weise die Kraft zur Dissidenz, zur Nonkonformität und zum abweichenden Verhalten.“12 In diesem Zusammenhang stellt sich die in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierte Frage, ob die Milieus, und für diese Arbeit vor allem das linkssozialistische Milieu, erst in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt erreichten13 oder durch die sich ausbreitende Massenkultur der Moderne bereits einem Erosionsprozess unterlagen.14 Für Leipzig, wie auch für andere Regionen 8 9 10 11 12 13 14

Siehe auch I. KERSHAW: Der NS-Staat, Reinbeck 2002, S.301. R.M. LEPSIUS: Parteien und Sozialstruktur. In: DERS.: Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S.38. Vgl. D. RINK: Politisches Lager und ständische Vergesellschaftung. In: COMPARATIV, Heft 2, Leipzig 1999, S.16-29. Leipzig hatte und hat nur eine kleine katholische Minderheit, wie auch Sachsen weitgehend protestantisch geprägt war und ist. P. STEINBACH in: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, Verweigerung, Widerstand, Berlin 1997, S.9. F. WALTER/H. MATTHIESEN: Milieus in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, S.46-75. Siehe I. MARßOLEK: Milieukultur und modernes Freizeitverhalten. In: SCHMIECHENACKERMANN (Hg.): Anpassung, S. 77-93; Siehe auch C. VOIGT: Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund, Diss. Leipzig 2008, S.18.

2. Methodik und Begriffe

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in Deutschland, kann festgehalten werden, dass das linkssozialistische Milieu genau in dieser Zeit seinen Höhepunkt erreichte.15 Franz Walter und Helge Matthiesen begrenzen diese Stabilität im Deutschland der Weimarer Republik jedoch nur auf das linkssozialistische und katholische Milieu. Den Schlüssel zur Erklärung des Aufstiegs der NSDAP zu Beginn der 30er Jahre sehen sie in den Entwicklungsprozessen des konservativen und liberalen Milieus.16 Aus Gründen der Übersichtlichkeit und wegen zeitlicher Aktionsschwerpunkte verschiedener Jugendgruppen ist die Arbeit weitgehend chronologisch aufgebaut und hat für die Darstellung der NS-Zeit eine Grobgliederung in drei Entwicklungsphasen. Erste Phase ist die Zeit unmittelbar nach der „Machtergreifung“ 1933 bis 1935. Hier sollen die aus der Weimarer Zeit bekannten organisierten linkssozialistischen sowie die bündischen und konfessionellen Jugendgruppen in Leipzig untersucht werden. Die um 1938 aktiven informellen Gruppen der Leipziger Meuten stellen eine zweite Phase dar. In der Kriegszeit wurden um 1942/43 in einer dritten Phase neue Jugendgruppen mit teilweise angloamerikanischer Ausrichtung verstärkt aktenkundig. Somit ergeben sich für den beschriebenen Forschungszeitraum mehrere „Generationen“ von Jugendlichen. Im Allgemeinen werden für eine Generation zehn bis zwölf Jahre gezählt. Die Bezeichnung „Generation“ wird für die vorliegende Arbeit verwendet, um Abstände von etwa fünf Jahren zu beschreiben. Hierbei sind vorrangig die Geburtsjahrgänge zwischen 1910 und 1930 von Interesse. Die vieldiskutierte „Ehrenfelder Gruppe“ um 1944 in Köln ist ein Beispiel jugendlicher Radikalisierung in der Endphase des NS-Regimes. Es gilt die Frage zu beantworten, ob es ähnliche Tendenzen in Leipzig gab oder dem nicht so war. Die Betrachtung des Zeitraumes 1933 bis 1945 schließt die Hitlerjugend als dominierende Kraft mit ein. Ausgehend von der These, dass die HJ es zeit ihres Bestehens nicht schaffte, die gesamte deutsche Jugend zu führen und ihre Autorität unter Jugendlichen stets begrenzt war, sollen am Beispiel Leipzigs die Probleme der HJ konkret aufgezeigt werden. Abschließend soll, ausgehend von Alfons Kenkmanns Forschungsansatz bei seiner Arbeit über westdeutsche Edelweißpiraten, der Blick über das Ende der NS-Diktatur hinaus gerichtet werden, um Kontinuitäten und Brüche der han-

15 16

Siehe J. VOGEL: Der sozialdemokratische Parteibezirk Leipzig in der Weimarer Republik, Diss. Leipzig 2005, S.668ff. Siehe FRANZ/MATTHIESEN: Milieus in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, S.56; Insgesamt ist das konservative und liberale Milieu zu dieser Zeit in Deutschland noch zu wenig erforscht, um eine umfassende Einschätzung zu treffen. Für Leipzig gibt es einen ersten Überblick: BRAMKE: Konservatives Milieu in einer weltoffenen Stadt. Das Beispiel Leipzig zur Zeit der späten Monarchie. In: BECKER/LADEMACHER (Hg.): Geist und Gestalt im Historischen Wandel, Münster 2000, S.201-211.

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Einleitung

delnden Akteure aufzuzeigen und einschätzen zu können. Dabei stellt sich die Frage ob Resistenz, Opposition und Widerstand der behandelten Leipziger Jugendgruppen nur daraus entstanden, weil man sich dem Totalitätsanspruch des NS-Regimes verweigerte oder ob über das Ende des Nationalsozialismus hinaus politische bzw. jugendkulturelle Einstellungen Bestand hatten.17 Jugendliche der für diese Arbeit relevanten Geburtsjahrgänge bedürfen einer altersspezifischen Verortung. Im Arbeitermilieu endete die Schulzeit in der Regel nach der 8. Klasse mit 14 Jahren. Dem schloss sich der Einstieg in die Arbeitswelt an, mit einer Berufsausbildung oder zunächst Gelegenheitsarbeiten. Durch das erste eigene verdiente Geld erlangte man eine größere Unabhängigkeit von den Eltern und steuerte außerdem finanziell zum Familienunterhalt bei. Rituell unterstrich die besonders in Leipzig weit verbreitete „Jugendweihe“ den Übertritt vom Kind zum Jugendlichen. Mit der juristischen Volljährigkeit mit 21 Jahren wurde man schließlich in die Erwachsenenwelt „aufgenommen“. Darüber hinaus gab es eine Anzahl von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen, welche weiterhin in ihren gewohnten sozialen Zusammenhängen von Jugendgruppen agierten, weshalb die Altersspanne für diese Untersuchung bis Mitte 20 erweitert wurde. Voraussetzung dafür ist, dass diese Gruppen jugendspezifische Merkmale aufweisen, wie z. B. ein eigenes Selbstverständnis, eigene Kleidung und Symbole sowie eine Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen.18 Neben politischen Jugendgruppen gab (und gibt) es Jugendcliquen ohne übergeordneten organisatorischen Hintergrund. Für die vorliegende Arbeit wird neben der allgemeinen Bezeichnung „Clique“ darum der Begriff „informelle Jugendgruppe“ verwendet, welcher eine zwanglose, offene Gruppe bezeichnet, die sich aufgrund sozialer Zusammenhänge und Freundschaften konstituiert und keinerlei organisatorische Verbindlichkeiten eingeht.19 Bündische Jugend als Begriff ist in dem zu behandelnden Zeitraum einer Modifikation unterworfen. Neben dem allgemeinen Verständnis von Wesen und Art bündischer Gruppen bis 1933 wurde ab Mitte der 30er Jahre sowohl von NS-Verfolgungsinstanzen, wie z. B. dem HJ-Streifendienst, als auch von immer mehr Arbeiterjugendlichen der Begriff „Bündische Jugend“ weiterverwendet, obgleich es kaum noch innere Zusammenhänge zur Bündischen Jugend vor 1933 gab. Darum wird dieser Begriff in der vorliegenden Arbeit in Anführungszeichen genannt, wenn von Gruppen oder Einzelpersonen die Rede ist, welche vor 1933 nicht Mitglied der Bündischen Jugend waren und erst Mitte der

17 18 19

Vgl. hierzu A. KENKMANN: Wilde Jugend, Essen 1996, S.19ff. Siehe ebda. S.25. Zur näheren Erläuterung der informellen Jugendgruppen siehe M. MITTERAUER: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt/M. 1986, S.236-246.

2. Methodik und Begriffe

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30er Jahre mit dieser Bezeichnung operierten oder unter diesem Begriff von NS-Verfolgungsinstanzen zusammengefasst wurden. Für alle Jugendgruppen des zu behandelnden Zeitraumes gilt, dass sie männlich dominiert bzw. reine Jungengruppen waren – bei bürgerlichen Gruppen wesentlich stärker als bei proletarischen. Die Geschichte junger Frauen ist somit stark unterrepräsentiert. Ein Grund sind zum einen die fehlenden Quellen, was eine ausgewogene Darstellung unmöglich macht. Zum anderen liegt die Ursache auch im Rollenbild von Mädchen bzw. Frauen in dieser Zeit. So kommt Inge Marßolek zu dem Schluss, dass in der Weimarer Zeit das Geschlecht ein entscheidender Faktor war, wie viel Freizeit neben der Arbeit zur Verfügung stand. „In der Regel waren männliche Jugendliche, sobald sie einem Beruf nachgingen, von häuslicher Arbeit befreit. Ihr Freizeitkontingent war größer als das der Mädchen.“20 Da nach 1933 die Nationalsozialisten das patriarchale Rollenbild der Frau (und der Mädchen als zukünftige Frauen) als Mutter und Hausfrau propagierten, wurde auf die Darstellung des Bundes Deutscher Mädchen in dieser Arbeit weitgehend verzichtet, auch weil er nicht in die Auseinandersetzungen zwischen HJ und oppositionellen Jugendgruppen eingebunden war.21 Die vorliegende Arbeit zeigt verschiedene Schattierungen nonkonformen Verhaltens von Nichtanpassung bis hin zu Widerstand auf. Darum ist es sinnvoll, zunächst auf die Probleme und Modifikationen der Begriffsbestimmung von Widerstand im Nationalsozialismus in der Geschichtswissenschaft einzugehen, um anschließend die Verwendung für diese Arbeit – auch unter jugendspezifischen Gesichtspunkten – zu erläutern.22 In den ersten Jahren nach Kriegsende und besonders ab 1949 bildete sich der Widerstandsbegriff auf recht unterschiedliche Weise heraus. „Jeder der beiden deutschen Staaten war bemüht nachzuweisen, dass er der legitime Nachkomme des antinationalsozialistischen Deutschlands sei.“23 Die DDR verstand 20 21

22

23

MARßOLEK: Milieukultur. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, S.80. Zum BDM siehe M. KLAUS: Mädchen im 3. Reich, Köln 1998; G. MILLER-KIPP (Hg.): „Auch Du gehörst dem Führer“, Weinheim 2002; D. REESE (Hg.): Die BDMGeneration, Berlin 2007. Eine gute Zusammenfassung zur Diskussion um den Widerstandsbegriff bietet KERSHAW: NS-Staat, S.279-328; Außerdem: M. BROSZAT: Resistenz und Widerstand. In: DERS. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd.IV, München 1981, S.692-709; STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994; BRAMKE: Der unbekannte Widerstand. In: Jahrbuch, S.220-253, besonders S.241f.; G. PAUL: Zwischen Traditionsbildung und Wissenschaft. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, S.30-45; Zuletzt: KENKMANN: Zwischen Nonkonformität und Widerstand. In: SÜß/SÜß (Hg.): Das „Dritte Reich“, München 2008, S.143-164. P. HÜTTENBERGER: Heimtückefälle vor dem Sondergericht München, In: BROSZAT (Hg.): Bayern, Bd. IV., S.519.

20

Einleitung

sich als Erbe des kommunistischen Widerstandes, welcher bekanntermaßen die Nationalsozialisten am entschiedensten abgelehnt, bekämpft und zahlenmäßig die meisten Opfer erbracht hatte. Gleichwohl sah man in der Münchner Studentengruppe „Weiße Rose“ und in einigen Personen des bürgerlichmilitärischen Widerstandes Vertreter der „Volksfront“ gegen das NS-Regime und beurteilte sie entsprechend.24 Andere Formen oppositionellen Verhaltens während der NS-Zeit wurden insgesamt von der SED-dominierten Geschichtsforschung erst mit Beginn der 80er Jahre in einigen Regionalstudien näher beleuchtet, ohne insgesamt den Fokus auf den kommunistischen Widerstand zu verlassen.25 In der Bundesrepublik hingegen berief man sich in den Anfangsjahren zum Großteil auf den konservativ-militärischen Widerstand der Kriegszeit.26 Widerstandsformen seitens der Kirchen und der „Weißen Rose“ wurden nicht ausgeblendet. Jedoch spielte der linkssozialistische Widerstand in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle. Das Verständnis von Widerstand war somit in dieser Zeit in beiden deutschen Staaten sehr eng gefasst, was dazu führte, dass informelle Jugendgruppen wie die Edelweißpiraten oder die Leipziger Meuten keine nennenswerte Beachtung fanden.27 Mit dem ab den 60er Jahren in der Bundesrepublik zunehmenden Interesse an Sozialgeschichte veränderte sich auch die Sicht auf das Verständnis und die Definition von Widerstand. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das 1973 initiierte Projekt „Bayern in der NS-Zeit“ des Münchner Instituts für Zeitgeschichte. Eine Begriffserweiterung für die Erforschung von Alltagsgeschichte im Nationalsozialismus wurde nötig, da der „aktive, fundamentale Widerstand gegen das NS-Regime fast überall vergeblich geblieben, dagegen wirkungsvolle Resistenz in den verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Sektoren der deutschen Bevölkerung vielfältig zu registrieren ist.“28 24 25

26 27 28

Siehe I. REICH: Das Bild vom deutschen Widerstand in der Öffentlichkeit und Wissenschaft der DDR. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand, S.557-571. Die einseitige Fokussierung auf den kommunistischen Widerstand verdeutlicht die „Bibliographie über die in der DDR angefertigten Arbeiten zur Geschichte der Jugendbewegung“, vom Zentralrat der FDJ (Hg.), 6. Auflage, Berlin 1988, Kapitel „Arbeiten über den Zeitraum von 1917 bis 1945“, S.23-45; Vgl. auch MALLMANN: Kommunistischer Widerstand 1933-1945. IN: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand, S.113-125; Sowie KERSHAW: NS-Staat, S.282f.; Für ein differenziertes Bild von Widerstand in der DDR plädierte bereits Mitte der 80er Jahre Werner Bramke in seinem leider zu wenig bekannten Aufsatz: DERS.: Der unbekannte Widerstand in Westsachsen. In: Jahrbuch. Siehe auch STEINBACH: Widerstandsforschung im politischen Spannungsfeld. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand, S.597-622. Ausnahmen bilden G. WEIßENBORN: Der lautlose Aufstand, Hamburg 1952; Sowie A. KLÖNNE: Gegen den Strom, Hannover 1957. BROSZAT: Bayern, Bd.IV, S.698.

2. Methodik und Begriffe

21

Broszat führte hierfür den – nicht unumstrittenen – Begriff der „Resistenz“ ein.29 Darunter ist allgemein zu verstehen: „Wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen und Kräften her.“30 Mit diesem wirkungsgeschichtlichen Begriff sollte aufgezeigt werden, „was im Dritten Reich an Herrschaftsbegrenzung tatsächlich möglich war.“31 Konkret versteht Broszat darunter u. a. Punkte wie: die Fortexistenz von bestimmten Institutionen (z. B. der Kirchen), die Geltendmachung anderer künstlerischer Maßstäbe als die der Nationalsozialisten, zivilen Ungehorsam (wie die Verweigerung des Hitler-Grußes), Aufrechterhaltung von Gesinnungsgemeinschaften außerhalb der gleichgeschalteten NSOrganisationen (wie z. B. wilde Jugendcliquen), innere Bewahrung von dem Nationalsozialismus widerstrebenden Grundsätzen und die dadurch bedingte Immunität gegenüber der NS-Ideologie und Propaganda. „Voraussetzung dafür, dass diese unterschiedlichen Formen der Einstellung oder des Reagierens den wirkungsgeschichtlichen Begriff der Resistenz erfüllen, ist einzig und allein, dass sie tatsächlich eine die NS-Herrschaft und NS-Ideologie einschränkende Wirkung hatten.“32 Somit wurde es möglich „den Begriff ‚Widerstand’ als Sammelbezeichnung für sämtliche den Nationalsozialismus ablehnende Denk- und Verhaltensweisen zu verwenden, allerdings unter verschiedener Gewichtung einzelner Arten.“33 Da die vorliegende Arbeit einen sozial- und kulturgeschichtlichen Anspruch verfolgt, ist der von Broszat eingeführte Resistenz-Begriff in all seinen Abstufungen von Bedeutung und zur Analyse und Bewertung der dargestellten Gruppen unverzichtbar. Das breite Spektrum der vorliegenden Arbeit von jugendlicher Nichtanpassung bis hin zu Widerstand benötigt den Resistenz-Begriff umso mehr, als die tatsächlichen Motive der einzelnen Handlungen im Nachgang aus den Quellen in vielen Fällen nicht immer schlüssig rekonstruierbar sind. Sowohl von den damaligen Verfolgerorganen als auch im Nachgang von Zeitzeugen (z. B. in Erinnerungsberichten) wurden sie jeweils nur im eigenen Sinne dargestellt. Die Wirkungen der Handlungen, die die Gruppen und Personen auf das NS-Regime entfalteten, sind hingegen auch heute noch nachzuvollziehen. Dennoch sollte die Frage nach der Motivation von „Resistenz“ nicht außer Acht gelassen werden, da es für die Bewertung einer Handlung letztlich nicht unerheblich ist, aus welchen Motiven heraus gehandelt wurde. Die Einordnung 29

30 31 32 33

Zur Kritik am Resistenz-Begriff siehe KERSHAW: NS-Staat, S.303; Kershaw kritisierte am Resistenz-Begriff vor allem die wirkungsgeschichtliche, „wertfreie“ Ausrichtung unter Vernachlässigung der Motive. BROSZAT: Bayern, Bd.IV, S.697. Ebda., S.698. Ebda., S.697. P. HÜTTENBERGER: Heimtückefälle. In: Broszat (Hg.) Bayern, Bd.IV, S.520.

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Einleitung

von Widerstand unter verhaltensgeschichtlichen Gesichtspunkten muss berücksichtigen, dass „Teilopposition, ihre Verbindung mit zeitweiliger oder partieller Regime-Bejahung, dass das Neben- und Miteinander von Nonkonformität und Konformität die Regel darstellten.“34 Darum ist es notwendig, dem Begriff „Widerstand“ einen Rahmen zu geben, um seine inflationäre Verwendung zu verhindern und um ihn vom Resistenz-Begriff unterscheiden zu können.35 Hierfür greift der Verfasser zusätzlich auf Detlev Peukert zurück, der unter Widerstand im engeren Sinne politisch bewusste Verhaltensformen verstand, die sich fundamental gegen das System richten.36 Peukert erarbeitete hierfür eine (idealtypische) aufsteigende Pyramide von zunächst einer breiten Basis von privater und partieller Kritik am NS als „Nonkonformität“, über „Verweigerung“ und „Protest“ bis zur schmalen Spitze des Widerstands im engeren Sinne.37 Wenn in der Praxis die einzelnen Verhaltensmuster sich zumeist nicht in dieser aufsteigenden Reihenfolge entfalteten und vielfach mit (Teil-) Konformität gegenüber dem NS-Regime einhergingen, so bietet Peukerts Modell eine für diese Arbeit treffliche Möglichkeit, Widerstand im engeren Sinne zu bezeichnen. Mit der näheren Betrachtung jugendlicher Protestformen während der NSZeit, vor allem zu Beginn der 80er Jahre von Historikern aus der Bundesrepublik, versuchte man diese auch in den Gesamtzusammenhang von Opposition und Widerstand einzuordnen.38 Wilfried Breyvogel plädierte 1991 für eine weitere Differenzierung des Widerstandsbegriffes in Bezug auf Jugendliche. Er meinte, „dass politische Einsichten – besonders Jugendlicher – gerade nicht nach dem Schema ‚Stein auf Stein’ oder ‚Stufe für Stufe’ verlaufen, sondern dem Modus der Betroffenheit unterworfen sind und zumeist dem Zeitrhythmus der Plötzlichkeit folgen.“39 Hierbei bezog er sich auf das Pyramidenmodell von Peukert unter Auslassung des Resistenz-Begriffes von Broszat. Spontane Betroffenheit war ebenso bei Erwachsenen vielfach Auslöser von Widerstand und Opposition. Durch die wirkungsgeschichtliche Verwendung des ResistenzBegriffes ist es hingegen möglich, das Verhalten von Jugendgruppen treffender zu erfassen. Der Unterschied von Jugendlichen und Erwachsenen ist in diesem Zusammenhang konkret darin zu suchen: Jugendliche wurden als Lehrlinge und Jungarbeiter von ihren Eltern zunehmend wirtschaftlich unabhängig und konnten 34 35

36 37 38 39

BROSZAT: Bayern, Bd.IV, S.699. Siehe auch K. TENFELDE: Soziale Grundlagen von Resistenz und Widerstand. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München 1985, S.799-812. Siehe PEUKERT: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde, Köln 1982, S.142. Zitiert nach KERSHAW: NS-Staat, S.311. Grundlegend hierfür u.a. PEUKERT: Edelweißpiraten, Köln 1988, S.146ff. BREYVOGEL: Resistenz, Widersinn und Opposition. In: DERS. (Hg.): Piraten, S.10f.

3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

23

eigene Entscheidungen treffen. Andererseits hatten sie selbst noch keine Familien gegründet und mussten somit auch keine Verantwortung für andere übernehmen. Dieses Bewusstsein schafft einen größeren Raum an Freiheiten und Spontaneität: man ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Gleichwohl können Handlungen aus Unüberlegtheit heraus entstehen. Doch auch Jugendliche können bereits ein relativ fest gefügtes Weltbild haben, welches ihnen ihr Umfeld in den sozialmoralischen Milieus vermittelt hat. Der verhaltensgeschichtliche Ansatz bei der Bewertung von Widerstand hat gezeigt, „dass sich nonkonformes Verhalten im Wesentlichen und vorwiegend innerhalb beschreibbarer sozialer Milieus ereignete.“40 Darum muss das unmittelbare soziale Milieu, aus dem heraus Handlungen begangen wurden, in die Bewertung einbezogen werden. Die Kontroverse um die Ereignisse in Köln-Ehrenfeld 1944 zeigte Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre die Notwendigkeit, sich mit der Frage nach den Motiven und Motivationen der jugendlichen Akteure für die Bewertung ihrer Handlungen zu beschäftigen.41 Über den wirkungsgeschichtlichen Aspekt hinaus plädiert deshalb Alfons Kenkmann dafür, spezifische Merkmale jugendlichen Verhaltens unter der NS-Herrschaft durch langzeitanalytische Aspekte zu erhellen und die Entwicklung von Jugendlichen sowohl vor 1933 als auch nach 1945 in die Bewertung mit einzubeziehen. Seine Fragestellung war, ob die informellen Gruppen an Rhein und Ruhr ein originäres Produkt des NS-Systems waren oder ob diese bereits zuvor entstanden und somit „Ausdruck subkultureller Kontinuitäten im regionalen Arbeitermilieu“ waren.42

3.

Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

Erste größere Publikationen über Jugend im Nationalsozialismus erschienen in der BRD in den 60er Jahren. Sie behandelten die Hitlerjugend, die bündische sowie die konfessionelle Jugend. Diese Werke wurden in der Regel von Autoren verfasst, welche die NS-Zeit unmittelbar selbst erlebt hatten.43 Die Münchener

40 41

42 43

TENFELDE: Soziale KE/STEINBACH (Hg.):

Grundlagen von Resistenz und Widerstand. In: SCHMÄDEWiderstand gegen den NS, S.803. Die strittige Frage war, ob die Edelweißpiraten der Ehrenfelder Gruppe als Widerstandskämpfer anzusehen sind, oder ob ihr Verhalten lediglich kriminelle bzw. gar „terroristische“ Züge hatte. Siehe RUSTINEK: Desintegration. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.271294; Außerdem K. SCHILDE: Jugendopposition 1933-1945, Berlin 2007, S.136-150. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend., S.20f. Kritische Auseinandersetzungen zur HJ lieferten W. KLOSE: Generation im Gleichschritt, Oldenburg 1964; sowie H.-C. BRANDENBURG: Die Geschichte der HJ, Köln 1968; Zum Wesen der Bündischen Jugend und ihrem Verhältnis zum NS siehe F. RAABE: Die Bündische Jugend, Stuttgart 1961; W. Z. LAQUEUR: Die deutsche Jugendbewegung, Köln

24

Einleitung

Studentengruppe „Weiße Rose“ war zu dieser Zeit das einzige öffentlich diskutierte Beispiel jugendlichen Widerstandes im engeren Sinne. Opposition und Widerstand von linkssozialistischen sowie informellen Jugendgruppen wurde hingegen bis in die 70er Jahre in der BRD kein größerer Forschungsgegenstand. Gleichwohl lag mit der Arbeit von Arno Klönne „Gegen den Strom“ bereits 1957 eine erste Überblicksdarstellung zum Jugendwiderstand vor. Mit dem zunehmenden Interesse in der BRD an Arbeiter- und Sozialgeschichte ab den 60er Jahren entstanden Anfang der 80er Jahre, teilweise durch eine jüngere Generation von Historikern, mehrere Publikationen, welche sich speziell mit dem Thema Jugendopposition und -widerstand aus dem Arbeitermilieu während der NS-Zeit auseinandersetzten. Zu nennen ist Detlev Peukerts 1980 erschienenes Buch „Die Edelweißpiraten. Protestbewegung jugendlicher Arbeiter im ‚Dritten Reich“ sowie Matthias von Hellfelds „Edelweißpiraten in Köln“. Veröffentlicht wurden außerdem regionalgeschichtliche Publikationen, welche von früheren Mitgliedern der Arbeiterjugendbewegung verfasst wurden und daher weniger einen wissenschaftlichen Ansatz verfolgten.44 In diesem Zusammenhang ist auch die Veröffentlichung „Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933-1945“ zu nennen, in welcher mehrere illegale Jugendgruppen dargestellt werden.45 1982 erschien von Arno Klönne das viel beachtete „Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner“, welches auch heute noch als eines der Standardwerke zu diesem Thema anzusehen ist. Eine kritische Zusammenfassung der in den 80er Jahren geleisteten wissenschaftlichen Arbeit bietet der 1991 von Wilfried Breyvogel herausgegebene Sammelband „Piraten, Swings und Junge Garde. Jugendwiderstand im Nationalsozialismus“. Hervorzuheben ist außerdem die umfangreiche Arbeit von Alfons Kenkmann über die Edelweißpiraten aus dem Jahre 1996.46 Publikationen der letzten Jahre zu Jugendopposition und -widerstand während der NS-Zeit brachten zwar teilweise weitere regionalgeschichtliche De-

44

45 46

1962; R. KNEIP: Wandervogel - bündische Jugend, Frankfurt/M. 1967. Bereits 1948 veröffentlichte H. MAU seine nüchterne Bilanz. DERS.: Die deutsche Jugendbewegung. Rückblick und Ausblick. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Heft 2, Marburg 1948, S.135-148; Zur evangelischen Jugend siehe: M. PRIEPKE: Die evangelische Jugend im „Dritten Reich“, Hannover 1960. F. NEULAND/A. WERNER-CORDT (Hg.): Die Junge Garde. Arbeiterjugendbewegung in Frankfurt am Main, Gießen 1980; Die Werke zur SAJ beziehen sich, trotz teilweiser gegenteiliger Titel, nur auf die Weimarer Zeit: E. EBERTS: Arbeiterjugend 1904-1945, Frankfurt/M. 1980; Ebenso: C. SCHLEY: Die sozialistische Arbeiterjugend Deutschlands, Frankfurt/M. 1987. U. HOCHMUTH/G. MEYER: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand, Frankfurt/M. 1980. KENKMANN: Wilde Jugend.

3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

25

tails,47 insgesamt stellen sie aber nur eine Zusammenfassung der zuvor geleisteten Forschungsarbeit dar, ohne das Thema weiter zu vertiefen und neue methodische Ansätze zu versuchen.48 Konkret zu Leipzig gab es bereits 1954 in dem in Hamburg veröffentlichten Buch von Günther Weisenborn „Der lautlose Aufstand“ erste Hinweise zu den Leipziger Meuten. Um einen Überblick speziell über den Forschungsstand zu Leipziger Jugendgruppen bzw. -organisationen zu geben, müssen im Folgenden drei Blöcke unterschieden werden: Forschung in der DDR, in der BRD und im vereinten Deutschland nach 1990. Da Leipzig auf dem Gebiet der früheren DDR liegt, ist es nahe liegend, zuerst die DDR-Publikationen zu betrachten. Zunächst lässt sich über wissenschaftliche Veröffentlichungen aus DDRZeiten zum Thema Jugendbewegung und -widerstand während der NS-Zeit sagen, dass sie ideologisch oftmals durch das vorgegebene SEDGeschichtsverständnis von der Dominanz und Kontinuität des KPD-geführten Widerstandes gefärbt waren und darum kritisch hinterfragt werden sollten.49 Einen umfassenden Überblick zur Forschungsarbeit bietet die „Bibliographie über die in der DDR angefertigten Arbeiten zur Geschichte der Jugendbewegung“ von Ingo Koch, welche in der „Schriftenreihe zur Geschichte der FDJ“ in der 6. erweiterten und neu zusammengestellten Auflage 1988 erschien.50 Diese Auflistung zeigt deutlich die Fixierung auf die Arbeiterjugend unter der Führung bzw. Beeinflussung durch den KJVD und die KPD. Bürgerliche Jugendverbände aus der Weimarer Zeit sowie informelle Jugendgruppen nach 1933 spielten in der DDR-Forschung nahezu keine Rolle. Als früheste bekannte Arbeiten über Jugendwiderstand in Leipzig existieren aus den Jahren 1964 und 1966 zwei nicht veröffentlichte Staatsexamensarbeiten an der Universität Greifswald.51 Es wurden wesentliche relevante Quellen bearbeitet (Prozessunterlagen und illegale Flugschriften des KJVD-Leipzigs) und neben bereits verfassten Erinnerungsberichten zusätzliche Zeitzeugenaussagen 47 48 49 50

51

C. SCHOTT/ S. STEINHACKER: „Wilde Gesellen am Wupperstrand, verfolgt von Schirachs Banditen.“ Jugendopposition und -widerstand in Wuppertal, Grafenau 2004. K.-H. JAHNKE: Jugend unter der NS-Diktatur, Rostock 2003; sowie SCHILDE: Jugendopposition. Eine Ausnahme bildet z.B. K. MEIER: Der evangelische Kirchenkampf, Bd.1, Halle/S. 1976, Kapitel: Die Eingliederung des Evangelischen Jugendwerkes in die HJ, S.146-153. Die erste Auflage wurde von Jahnke mitgestaltet, welcher zu dem Historiker für Arbeiterjugendbewegung und -widerstand in der DDR avancierte. Eine kritische Auseinandersetzung mit seiner wissenschaftlichen Arbeit leistet K. SCHILDE in: Forschungen zum antifaschistischen Widerstandskampf der deutschen Jugend an der Rostocker Universität 1968 bis 1989. In DERS.: Jugendopposition, S.29-35. U. SCHMIDT/G. HEILEMANN: Der Anteil der Jugend am antifaschistischen Widerstandskampf 1933 bis 1945 im Bezirk Leipzig, Greifswald 1964. Sowie: G. HEILEMANN: Die Teilnahme junger Menschen am antifaschistischen Widerstandskampf der Parteiorganisation der KPD in Leipzig, Greifswald 1966.

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Einleitung

ausgewertet. Die Darlegung der Faktenlage ist auch aus heutiger Sicht über weite Strecken als solide zu bezeichnen. Die Gesamtanalyse, besonders was die Bedeutung der KPD im Widerstandskampf während der NS-Zeit angeht, ist hingegen schwer von ideologischen Phrasen der SED durchzogen. Zu einem Standardwerk in der DDR avancierte das 1977 veröffentlichte Buch „Jungkommunisten im Widerstandskampf gegen den Hitlerfaschismus“ von Karl-Heinz Jahnke. Darin wird u. a. die illegale Arbeit des KJVD in Leipzig und die KdF-Jugendgruppe beschrieben – insgesamt jedoch eine sehr parteiische Darstellung der Jungkommunisten im Sinne der SED.52 Jahnke stellt darüber hinaus als erster Historiker – sowohl in der DDR als auch in der BRD – mit fundierten Quellenkenntnissen auf mehreren Seiten die Leipziger Meuten dar.53 Bei der Einordnung wählte Jahnke allerdings einen missverständlichen Ansatz: Er überschrieb das Kapitel zu den Meuten mit „Erscheinungen der Opposition in der HJ“. Dies trifft jedoch nicht zu. Nahezu alle Mitglieder der Leipziger Meuten waren keine HJ-Mitglieder. Obgleich er ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung vor 1933 richtig erkannte, stellte er die Meuten in die Ecke bündischer (und damit bürgerlicher) Jugendgruppen. Ihre besondere Spezifik jenseits der Reste bürgerlicher Bünde wurde nicht erkannt bzw. nicht dargestellt, trotz vorliegender Quellen. Die erste ausführlichere und grundsolide Gesamtdarstellung über die Leipziger Meuten leistete 1988 Sabine Kircheisen mit ihrer leider unveröffentlichten Diplomarbeit an der Universität Rostock. Neben dem überproportional dargestellten Widerstand der Leipziger Jungkommunisten und den kleineren Hinweisen zu den Leipziger Meuten waren andere Leipziger Jugendgruppen sonst nicht Gegenstand wissenschaftlicher Aufarbeitung in der DDR. Lediglich Werner Bramke veröffentlichte 1986 im Jahrbuch für Regionalgeschichte eine Dokumentation über einen Prozess gegen die „Broadway-Gangster“, eine Gruppe oppositioneller Arbeiterjugendlicher um 1942 in der Leipziger Innenstadt.54 In der Bundesrepublik Deutschland rückten in den frühen 80er Jahren die Leipziger Meuten im Zuge der Beschäftigung mit den Edelweißpiraten in den Focus der Historiker. Zu nennen ist Lothar Gruchmanns wegweisender Aufsatz aus dem Jahr 1980 über die Probleme der NS-Justiz bei der Verfolgung der Leipziger Meuten.55 Peukerts Dokumentation über die Edelweißpiraten aus demselben Jahr enthält einige NS-Dokumente mit ausführlichen Hinweisen zu 52

53 54 55

Sichtbar wird das auch in Publikationen anderer Autoren. Siehe: KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DER GESCHICHTE DER ÖRTLICHEN ARBEITERBEWEGUNG BEI DER BEZIRKSLEITUNG LEIPZIG DER SED U.A. (Hg.): In der Revolution geboren, Leipzig 1986. JAHNKE: Jungkommunisten, S.258-263. BRAMKE: Der unbekannte Widerstand. In: Jahrbuch, S.247-253. L. GRUCHMANN: Jugendopposition und Justiz im Dritten Reich. Die Probleme bei der Verfolgung der „Leipziger Meuten“ durch die Gerichte. In: W. Benz (Hg.): Miscellanea, Stuttgart 1980, S.103-129.

3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

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den Meuten.56 Eine treffende Analyse des Wesens der Leipziger Meuten formulierte außerdem Peukert in seinem Aufsatz „Edelweißpiraten, Meuten, Swing. Jugendsubkulturen im Dritten Reich“, welcher ebenfalls 1980 erschien.57 Anders als in der DDR waren die Jugendbünde der 20er Jahre in der BRD frühzeitig Gegenstand wissenschaftlicher und erinnerungsgeschichtlicher Auseinandersetzung. In diesem Zusammenhang ist die 1967 erschienene Dokumentation „Jugend zwischen den Kriegen“ des „Arbeitskreis für Dokumentation des Sachsenkreises“ aus dem Umfeld der früheren „Deutschen Freischar“ mit einigen Leipzig-Bezügen von Interesse.58 Mit dem Ende der DDR und dem ungehinderten Zugang zu den Archivbeständen ergaben sich neue ideologiebefreite Möglichkeiten regionalgeschichtlicher Arbeit. In den letzten 20 Jahren entstanden Arbeiten zu einer Gruppe des illegalen KJVD bzw. zum kommunistischen Widerstand in Leipzig59 sowie zu den Repressionsorganen60, jedoch wurden sie nur zum Teil veröffentlicht und behandeln lediglich Teilaspekte. Auch die zu DDR-Zeiten vernachlässigte bzw. verzerrt wiedergegebene sozialdemokratisch geprägte Arbeiterkulturbewegung in Leipzig wurde in verschiedenen Publikationen aufgearbeitet. Zum Widerstand von Seiten der SPD bzw. der SAJ in Leipzig konnten somit einige Forschungslücken geschlossen werden.61 Wenn mittlerweile zu Leipzig in der NSZeit eine Reihe von Arbeiten erschienen sind, so berühren sie das vorliegende Thema, wenn überhaupt, nur am Rande oder in kleineren Teilaspekten.62 Die Quellenlage zur vorliegenden Untersuchung ist als außerordentlich umfangreich zu bezeichnen, wenn auch ungleich verteilt. Einen Großteil der überlieferten Quellen stellen Prozessakten und Verhörprotokolle der Gestapo und der NS-Justiz dar. Neben einigen zeitgenössischen Flugblättern sind sie die einzigen zeitnahen Quellen und darum von großer Bedeutung bei der Rekonstruktion der Ereignisse. Hierbei muss beachtet werden, dass diese Unterlagen in erster Linie die Sicht der Verfolger wiedergeben. Auch beinhalten die Gestapo-Verhörprotokolle nicht zwangsläufig den O-Ton des Verhörten, sondern in erster Linie das, was der Polizeibeamte aus den Aussagen abgeleitet hat. Zudem ist zu beachten, dass die Festgenommenen in der Regel im Verhör versuchten, die ihnen unterstellte illegale Tätigkeit zu verharmlosen oder gar abzustreiten.

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PEUKERT: Edelweißpiraten. In: G. HUCK (Hg.): Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1980, S.307-328. Außerdem KNEIP: Wandervogel. Siehe HÖPPNER: Zelle Zentrum; VOIGT: Kommunistischer Widerstand. Siehe H.-D. SCHMID: Gestapo Leipzig, Beucha 1997; C. SCHREIBER: Politische Polizei und KPD, Leipzig 1998. Z.B.: SCHMID (Hg.): Zwei Städte; RUDLOFF/ADAM/SCHLIMPER: Leipzig - Wiege; Generell zur SPD in Leipzig vor 1933: VOGEL: Parteibezirk. G. STEINECKE: Drei Tage im April. Kriegsende in Leipzig, Leipzig 2005; M. LEHMSTEDT (Hg.): Leipzig wird braun, Leipzig 2008.

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Einleitung

Somit sind die Akten von Gestapo, Staatsanwaltschaft und Gerichten in erster Linie als das anzusehen, was die Verfolgerorgane sich unter dem jeweiligen Sachverhalt vorstellten bzw. wie sie ihn rekonstruiert hatten. Generell lässt sich festhalten, dass es zwischen 1933 und 1940 umfangreiche Aktenbestände seitens der Gestapo sowie Prozessakten in den Archiven mit Leipzig-Bezug gibt. Nach 1940 wird die Aktenlage deutlich lückenhafter, was durch die verschiedenen kriegsbedingten Auswirkungen erklärbar ist. Ein Großteil der Akten des Landgerichts Leipzig wurde zudem 1943/44 durch Bombenangriffe zerstört. Des Weiteren vernichtete die Gestapo kurz vor Kriegsende in Leipzig den Hauptteil ihrer Unterlagen. Hinzu kommt, dass sich die Gestapo ab 1940 kaum noch mit Jugenddelikten beschäftigte. Mögliche schriftliche Quellen über oppositionelle Jugendliche von anderen Überwachungsinstanzen, wie z. B. dem Jugendamt, sind kaum überliefert. Von der Hitlerjugend, Bann Leipzig, konnten keinerlei Aktenbestände gefunden werden. Besonders ihr Streifendienst wird umfangreiche Unterlagen gehabt haben. Die einzigen konkreten Überlieferungen zur Leipziger HJ fanden sich bei den Schul- und Jugendamtsakten im Stadtarchiv Leipzig. Über den KJVD-Leipzig nach 1933 existieren umfangreiche Aktenbestände, sowohl in Leipziger Archiven als auch im Hauptstaatsarchiv Dresden und im Bundesarchiv Berlin. Die Leipziger Gestapo hat darüber hinaus einen detaillierten Bericht über die Tätigkeit des illegalen KJVD nach dessen wesentlicher Zerschlagung im Sommer 1934 angefertigt. Darüber hinaus enthalten die Akten auch Flugblätter und Zeitschriften des illegalen Leipziger KJVD. Die Quellen sind derart umfangreich, dass für die vorliegende Arbeit nur der wesentliche Teil durchgearbeitet werden konnte. Ähnlich ist der Aktenbestand zu den Leipziger Meuten. In den Beständen des Hauptstaatsarchivs Dresden, Abteilung Sondergericht Freiberg finden sich z. B. Gestapo-Verhörprotokolle. Im Bundesarchiv Berlin, Abteilung Reichsjustizministerium sind darüber hinaus Anklage- und Urteilsschriften sowie einiger Briefverkehr zwischen den zuständigen Staatsanwaltschaften erhalten. In der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gab es frühzeitig das Interesse, die Widerstandsgeschichte der linkssozialistischen Arbeiterbewegung während der NS-Zeit auch in Form von Erinnerungsberichten zu dokumentieren, jedoch besonders ab den 50er Jahren vorrangig im Sinne der SED. Es existieren zum einen mehrere allgemein gehaltene Berichte (sowohl früherer Meuten- als auch KJVD-Mitglieder) aus den späten 40er Jahren, zum anderen wurde Mitte der 60er eine ganze Anzahl von ausführlichen Erinnerungsberichten verfasst, einige auch noch in den 70ern. Standen die Erinnerungsberichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit im Zusammenhang mit den „Opfer des Faschismus“-Anträgen des Vereins der Verfolgten des Naziregimes (VVN), ging in den späteren Jahrzehnten die Initiative oftmals von der „Stadtkommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung“

3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

29

aus und richtete sich in erster Linie an aktive SED-Mitglieder. Obwohl die Berichte aus den 60er Jahren reflektierter sind als die Berichte unmittelbar nach Kriegsende, wurden nicht alle bis zur Unkenntlichkeit ideologisch verfärbt. Bei mehreren Texten ist aber erkennbar, dass der Verfasser seine geleistete illegale Arbeit so darstellen wollte, als habe er schon immer auf der „richtigen Seite“ gestanden. Dies war offenbar besonders denen wichtig, die im Sinne der SED vor 1933 der „falschen“ Arbeiterpartei (KPO, SPD, SAP) angehörten. Stellenweise hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass der Verfasser mittels seines Erinnerungsberichtes seine uneingeschränkte Verbundenheit mit der SED bekunden wollte. Bereits in mehreren Texten von 1948 ist dies erkennbar.63 Besonders der ehemalige politische Leiter der KdF-Gruppe Alfred Nothnagel, welcher auch im illegalen Leipziger NKFD aktiv war, hat in den 60er Jahren umfangreiche Aufzeichnungen über die Gruppe verfasst, in die er stellenweise auch die Erinnerungsberichte anderer Mitglieder einarbeitete. Nothnagel hatte das Problem, dass er bis zu seiner Verhaftung 1935 zur SAP gehörte und sich erst Ende der 30er Jahre dem kommunistischen Widerstand anschloss. Er war also vorher in der „falschen Partei“, was er in seinen Niederschriften zu rechtfertigen bzw. zu kaschieren versuchte.64 Generell gibt es bei den Erinnerungsberichten zur KdF-Gruppe das Problem, dass sie – besonders in den 60er Jahren – nicht unabhängig voneinander entstanden, sondern teilweise erst nach der Lektüre anderer Berichte. So ist bei manchen Niederschriften nicht immer erkennbar, was der jeweilige Autor selbst erlebt und was er sich später angelesen hat. Besonders aufgrund der Einseitigkeit der Quellenart in Bezug auf die KdFGruppe ist bei der Auswertung der Berichte besondere Aufmerksamkeit und Quellenkritik notwendig gewesen.65 Finden sich unter den VVN-Akten Ende der 40er Jahre noch mehrere Erinnerungsberichte von Meutenmitgliedern, so gab es bei der „Stadtkommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung“ in den Folgejahren kein näheres Interesse an den Leipziger Meuten.66 Erst Ende der 80er Jahre regte Karl-Heinz Jahnke in Rostock eine seiner Studentinnen, Sabine Kircheisen, an, sich mit den Leipziger Meuten in einer Diplomarbeit zu beschäftigen. Durch mehrere Interviews mit früheren Meutenmitgliedern in Leipzig entstanden 1987/88 einige Erlebnisberichte, welche trotz des großen Zeit-

63 64 65 66

Vgl. BArch RY 1/I 2/3/122, Erinnerungsberichte VVN-Leipzig. Siehe StAL SED-Erinnerungen V/5/313, Erinnerungsbericht von Alfred Nothnagel. Es existieren von der Gruppe keinerlei Gestapo- oder Gerichtsakten. Einzige Überlieferungsart sind Erinnerungsberichte und einige vom Verfasser geführte Interviews. Der einzige bekannte Bericht von 1963, verfasst von Hans W. aus dem Umkreis der Meute „Lille“, ist zu stark von ideologischen Phrasen der SED der 60er Jahre durchsetzt und gibt darum kein realistisches Bild der Meuten wieder. Vgl. StAL SED-Erinnerungen V/5/331.

30

Einleitung

abstandes die Geschehnisse weitgehend befreit von ideologischen Zwängen widerspiegeln.67 Neben den Erinnerungsberichten gibt es im Zusammenhang mit dem vorliegenden Dissertationsthema auch noch eine Reihe von autobiographischen Publikationen. Letztere haben oftmals eine längere Entstehungsgeschichte und sind dementsprechend detailliert. Herausragendstes Beispiel ist das weitgehend unbekannte autobiographische Buch von Rolf Pabst „Aufzeichnungen aus 1001 Jahr“ von 1998. Rolf Pabst (Jg. 1917) kam aus einem linkssozialistischen Elternhaus und schloss sich immer wieder bündischen Gruppen an, vor allem nach 1933. Dieses Buch bietet wie kein anderes einen detaillierten Einblick in die Lebenswelt eines jugendlichen bündischen Leipzigers in dieser Zeit. Hervorzuheben ist auch Carola Sterns „In den Netzen der Erinnerung“, welches 1986 in der BRD erschien. Das Buch beinhaltet u. a. den Lebensbericht des Jungkommunisten Heinz Zöger (Jg. 1915), der im Leipziger Osten aufwuchs und nach 1933 in verschiedenen Gruppen illegal aktiv wurde. Hingegen basiert das Buch des ehemaligen KJVD-Funktionärs Gerhard Zschocher „Zeichen aus dem Zuchthaus“ aus dem Jahr 2000 weitgehend auf seinem Erinnerungsbericht, welchen er bereits in den 60er Jahren verfasst hatte.68 Sowohl bei den Erlebnisberichten als auch bei den veröffentlichten autobiographischen Werken war aus den oben genannten Gründen eine genaue Quellenkritik und – wo möglich – der Abgleich mit anderen Quellen unumgänglich. Dies wurde notwendig, da sich mit den Jahren, neben dem selbst Erlebten, weitere nachträgliche Informationen zu den Ereignissen sowie Loyalitätsbekundungen zur SED stellenweise vermischten. Beachtet man diese Umstände, sind die Erlebnisberichte wertvolle Quellen, die für die vorliegende Arbeit unverzichtbar waren. Unumgänglich ist auch die Quellenkritik bei Zeitzeugeninterviews. Der Verfasser hat seit 2001 mit einer Anzahl noch lebender Akteure aus der Zeit Interviews geführt. Zeitzeugeninterviews sind, besonders im Falle der Leipziger Meuten, der KdF-Gruppe sowie weiterer Gruppen unverzichtbar gewesen, da sie stellenweise die einzige Quelle waren, um Personen und Gruppen darzustellen. Die geführten Interviews mussten daher ebenfalls einer genauen Quellenkritik unterzogen werden und es wurde versucht, sie mittels anderer Quellen zu verifizieren. Da dies im Allgemeinen keine groben Widersprüche zu Tage förderte, können die geführten Interviews als weitgehend glaubwürdig eingestuft werden.69

67

68 69

Das lag auch daran, dass die befragten Zeitzeugen mittlerweile das Rentenalter erreicht hatten und aus Karrieregründen nicht mehr genötigt waren, die damaligen Ereignisse überhöht im Sinne der SED darzustellen. Siehe StAL SED-Erinnerungen V/5/401/1. Siehe Verzeichnis der geführten Interviews im Anhang.

3. Forschungsstand, Literatur- und Quellenkritik

31

Vergleicht man bei der Menge und Ausführlichkeit der Quellen (NS-Akten und Erinnerungsberichte) zwischen linkssozialistischen Arbeiterjugendgruppen und bürgerlichen Jugendgruppen, so zeigt sich, dass Erstere überproportional in den Archiven vertreten sind. Bei den Erinnerungsberichten wird dies erklärbar, da es in der DDR allein von Staats wegen ein größeres Interesse an der Aufarbeitung des (kommunistischen) Arbeiterwiderstandes gegeben hatte. Aber auch anhand der überlieferten Akten der NS-Verfolgerorgane konnte eine qualitativ und quantitativ hohe Beteiligung von Arbeiterjugendlichen an nonkonformem Verhalten gegen den NS-Staat bis hin zu Widerstand ermittelt werden. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass diese Arbeit letztlich nur das an Quellen und Berichten wiedergeben kann, was die Jahrzehnte seit der NS-Zeit überdauert hat. Besonders die zahlreichen Erinnerungsberichte von früheren Arbeiterjugendlichen, welche zu DDR-Zeiten angefertigt wurden, können schnell das Bild von Opposition und Widerstand verzerren, da demgegenüber vergleichbare Berichte früherer Mitglieder von bündischen oder kirchlichen Jugendgruppen aus Leipzig fehlen.

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

1.

Leipzig vor 1933. Eine Einführung

Leipzig, im nordwestlichen Sachsen gelegen, entwickelte sich aufgrund der weltbekannten Messe und im Zuge der Industrialisierung zu einem internationalen Industrie- und Handelszentrum und zu einem wichtigen Standort vor allem der metallverarbeitenden Industrie und des graphischen Gewerbes. Sachsen nahm während der Industrialisierung zeitweise eine Pionierrolle in Deutschland ein und wurde zu einem Wirtschaftsfaktor von internationalem Rang.1 Parallel dazu stieg die Einwohnerzahl in Leipzig (wie auch in anderen sächsischen Städten) sprunghaft an. Zählte man 1875 in Leipzig etwa 127.000 Einwohner, waren es 1931 bereits 719.000.2 Die Stadt zeichnete sich, analog zu ganz Sachsen, außerdem durch eine homogene Konfessionsstruktur der evangelischlutherischen Kirche aus.3 Die traditionelle Messe, die bedeutende Universität, die über Jahrhunderte gewachsene bürgerliche Identifikation mit der Stadt als Gegenpol zum aristokratischen Dresden sowie die sprunghaft wachsende Industrialisierung in der Stadt etablierten in Leipzig ein selbstbewusstes, wenn auch konservatives Bürgertum.

a.

Leipzig als Hochburg der Arbeiterbewegung

Für den „einzigartigen Aufstieg“ der sächsischen Arbeiterbewegung seit dem Kaiserreich lassen sich mehrere Faktoren benennen: die frühzeitige Industrialisierung und Urbanisierung Sachsens im 19. Jahrhundert, die günstige geographische Lage für Handel und Verkehr, eine hochqualifizierte, selbstbewusste Arbeiterschaft, welche sich frühzeitig marxistisch orientierte, sowie die homogene Konfessionsstruktur und die konservative Ausrichtung des Bürgertums, dessen

1 2 3

Vgl. BRAMKE: Sachsens Industrie(Gesellschaft) in den Jahren der Weimarer Republik. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen, Leipzig 1998, S.31. H. RIEDEL: Chronik der Stadt Leipzig, Gudenberg-Gleichen 2001, S.105; Zum Vergleich: Heutzutage hat Leipzig etwa 520.000 Einwohner. 1905 wurden fast 95 Prozent der sächsischen Bevölkerung zur evangelisch-lutherischen Kirche gezählt, knapp 5 Prozent zum römisch-katholischen Glauben. Wenn auch in der ersten Hälfte des 20. Jh. die Kirchenaustritte (vor allem in Leipzig) zunahmen, wird die konfessionelle Homogenität Sachsens sichtbar. Siehe VOGEL: Parteibezirk, S.25f, S.45f.

1. Leipzig vor 1933. Eine Einführung

33

Angst vor sozialistischen Zuständen zu einer ungewöhnlichen Polarisierung zwischen den sozialen Lagern führte.4 1863 wurde in Leipzig der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ durch Ferdinand Lassalle gegründet. August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren ebenfalls in der Messestadt politisch aktiv. Darum wird Leipzig auch als die „Wiege der Sozialdemokratie“ bezeichnet.5 Durch das zeitweilige Verbot der Sozialdemokraten entstanden Ende des 19. Jahrhunderts in Leipzig zahlreiche proletarische Vereine für Musik und Sport, welche für das linkssozialistische Milieu in der Folgezeit zunehmend an Bedeutung gewannen und auch unter dem Begriff „Arbeiterkulturbewegung“ zusammengefasst werden.6 Eine herausragende Rolle spielten dabei die Arbeitersportvereine. 1922 fand in der Messestadt das erste reichsweite Arbeiter-Turn-und-Sportfest statt. 1927 waren in Leipzig 27.000 Arbeiter in 38 Sportvereinen organisiert. Ein Jahr zuvor eröffnete die Bundesschule des Arbeiter-Turn-und-Sportbundes (ATSB) in der Südvorstadt. Hervorzuheben ist ebenfalls der mitgliederstarke Konsum-Verein, vor allem in Stadtbezirken mit hohem Arbeiterfamilienanteil. Auch die Baugenossenschaften wurden nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Bestandteil der Arbeiterkulturbewegung. Zum linkssozialistischen Milieu in Leipzig zählten ebenso zahlreiche Kleingartenvereine. Sie entwickelten sich zu einem Mittelpunkt der Freizeitgestaltung.7 Einige Sparten stellten ihre Vereinshäuser den Arbeiterparteien für Veranstaltungen zur Verfügung. In den Gartenvereinen kamen neben zahlreichen Arbeiterfamilien auch Angestellte und teilweise sogar Beamte zusammen. Diese wählten meist „sozialdemokratisch oder waren in der SPD oder einem sozialdemokratisch orientierten Verein organisiert.“8

b.

Arbeiterviertel

Im Zuge der Industrialisierung und der damit verbundenen territorialen Vergrößerung Leipzigs bildeten sich mehrere Stadtteile heraus, in denen vorwiegend Arbeiterfamilien lebten. Wegen der Nähe zu den zahlreichen Fabriken wurden vor allem der Leipziger Osten und der Leipziger Westen als Arbeiterviertel bezeichnet. Generell ist für die Stadt festzuhalten, dass man keinen dieser Wohnquartiere als reine Arbeiterviertel bezeichnen kann, da sich dort ebenso, vor allem an den zentrumsnahen Hauptstraßen, zahlreiche Mietshäuser befanden, die von bürgerlichen Familien bewohnt bzw. als Büroräume genutzt wur4 5 6 7 8

Siehe VOGEL: Parteibezirk, S.26f. Siehe hierfür auch RUDLOFF/ADAM/SCHLIMPER: Leipzig - Wiege. Vgl. auch F. HEIDENREICH: Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933, Weimar 1995. Siehe auch ADAM: Arbeitermilieu, Kapitel „Kleingarten und Milieu“, S.224-230. ADAM: Leipzig - Hochburg. In: BRAMKE/HEß: Wirtschaft, S.226.

34

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

den. Auch die einzelnen (damaligen) urbanen Stadtteilzentren bezeugen dies architektonisch. Aufgrund der zum Großteil intakt gebliebenen Bebauungsstruktur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man dies noch heute in Leipzig in Augenschein nehmen. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang der in den 20er Jahren von der Stadt vorangetriebene kommunale Wohnungsbau, welcher in den verschiedensten Stadtteilen für die bis dahin sehr beengt und veraltet wohnende Arbeiterschaft moderne Wohnanlagen schuf.9 Dadurch zogen in den 20er Jahren in vorwiegend bürgerliche Viertel auch Arbeiterfamilien, wie z. B. in die Südvorstadt oder nach Gohlis. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass sowohl das Volkshaus als auch die Bundesschule des ATSB sich nicht in einem der vorwiegend von Arbeitern bewohnten Stadtgebiete befanden, sondern in der zentrumsnahen und eher bürgerlich geprägten Südvorstadt. Die Leipziger Arbeiterbewegung zeigte sich selbstbewusst mit Standortwahl und repräsentativer Ausführung ihrer Bauten. Der Leipziger Osten umfasst in seinem Kern die Stadtteile Reudnitz, AngerCrottendorf und Volkmarsdorf. In Reudnitz gab es Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Druckereien und weitere Betriebe des graphischen Gewerbes. Aber auch am östlichen Stadtrand hatten sich mehrere Großbetriebe angesiedelt. Der Leipziger Westen besteht im Kern aus den Stadtteilen Lindenau und Plagwitz. Besonders Plagwitz muss als Industriebezirk bezeichnet werden, da sich hier, stellenweise über ganze Straßenzüge verteilt, größere Fabriken befanden. Südwestlich an Plagwitz grenzten Kleinzschocher und Großzschocher. Ersteres hat bereits vorstädtischen Charakter, aber auch mehrere größere metallverarbeitende Betriebe. Am westlichen Rand von Kleinzschocher befinden sich die „Meyerschen Häuser“, eine Mietshaussiedlung, welche um die Jahrhundertwende von einer Stiftung errichtet wurde. Diese reine Arbeitersiedlung hatte einen hohen Anteil an in Arbeitervereinen oder -parteien organisierten Bewohnern, was auf das homogene Wohnraumangebot zurückzuführen ist. Sichtbar wurde dies bei den Wahlen, da die Bewohner fast ausschließlich SPD oder später auch KPD wählten.10 Das Lebensumfeld der Arbeiterschaft konzentrierte sich nicht nur auf den Osten und Westen Leipzigs. Auch in den nördlichen und südlichen Stadtteilen wohnten zahlreiche Arbeiterfamilien, welche sich dort in ihren Sportvereinen und Ortsgruppen verschiedener linkssozialistischer Organisationen zusammenfanden. Das Proletariat war in Leipzig nicht zwangsläufig in die Außenbezirke gedrängt. Nord- und Ostvorstadt in unmittelbarer Zentrumsnähe wurde von ihnen ebenso zahlreich bewohnt wie Viertel am Stadtrand. In Leipzig gab es andererseits relativ wenige Stadtteile, welche man als ausschließlich als bürgerliche Wohngegenden bezeichnen kann. Hervorzuheben ist 9 10

Siehe P. LEONHARDT: Moderne in Leipzig, Leipzig 2007, S.45-73. Vgl. ADAM: Arbeitermilieu, S.227.

1. Leipzig vor 1933. Eine Einführung

35

das Musikviertel hinter dem damaligen Reichsgericht, das Waldstraßenviertel, Teile von Gohlis sowie einige Villensiedlungen in Schleußig und Leutzsch.

c.

Wahlergebnisse 1932/1933

Die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren Ende der 20er Jahre frühzeitig in Sachsen und somit auch in Leipzig spürbar. Die Arbeitslosenzahl in der Stadt stieg, 1932 bereits auf etwa 150.000. Auch die politischen Auseinandersetzungen auf der Straße häuften sich zu Beginn der 30er Jahre.11 Die NSDAP erlangte in Leipzig aufgrund der starken Arbeiterbewegung im Vergleich zu anderen Städten erst sehr spät eine politische Relevanz und rekrutierte ihre Wähler weniger aus dem Arbeitermilieu als vielmehr aus dem Bürgertum.12 Die Aufteilung der Leipziger Bevölkerung in politische Lager zu dieser Zeit wird auch anhand der Wahlergebnisse sichtbar. Mitte November 1932 stimmten zur Leipziger Stadtverordnetenversammlung etwa 132.000 Wähler für die SPD, ca. 101.000 für die NSDAP, ca. 96.000 für die KPD, knapp 56.000 für die Vereinigte Bürgerliste und 7.900 für die DDP.13 Die nominelle Mehrheit der (verfeindeten) linkssozialistischen Arbeiterparteien ist sichtbar, ebenso die hohen Stimmanteile für die Nationalsozialisten. Andere Parteien hatten in der Stadt zu diesem Zeitpunkt kaum eine größere Bedeutung. Dies unterstreicht noch einmal die Polarisierung innerhalb der Bevölkerung Leipzigs. Beachtenswert ist auch die Stimmenverteilung in Leipzig bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933, wenige Wochen nach der „Machtergreifung“. Mit 37% der Stimmen wurde zwar die NSDAP stärkste Partei. Für die beiden Arbeiterparteien SPD mit 157.000 (31%) und KPD mit 92.000 (18,8%) Wählerstimmen ergab sich zumindest rechnerisch eine Mehrheit.14 Einen größeren Einbruch in die linkssozialistische Wählerschaft Leipzigs konnten die Nationalsozialisten im März 1933 somit nicht erreichen. Auch bei folgenden Abstimmungen und den Reichstagswahlen 1936 war Leipzig die Stadt mit dem für die Nationalsozialisten schlechtesten Wahlergebnis.15

11 12 13 14 15

KOMMISSION (Hg.): Revolution, S.285-290. Vgl. FRANZ/MATTHIESEN: Milieus in der modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Anpassung, S.56. RIEDEL: Chronik, S.106; Ein ähnliches Wahlergebnis ist auch für Hamburg belegbar. Vgl. HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.24. Vgl. RIEDEL: Chronik, S.106. BRAMKE: Kommunistischer Widerstand und linkssozialistisches Milieu in Leipzig. In: BUCHHOLZ (Hg.): Nationalsozialismus und Region, Bielefeld 1996, S.207.

36

2.

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

Linkssozialistische Jugendgruppen

Jugendliche in der Weimarer Republik hatten vielfältige Möglichkeiten, sich kulturellen, religiösen oder politischen Organisationen anzuschließen. Etwa 1.000 verschiedene Gruppen sind für diese Zeit deutschlandweit bekannt.16 Mitte der 20er Jahre soll jeder zweite männliche und jede vierte weibliche Jugendliche in einem Jugendverband organisiert gewesen sein, vorwiegend in konfessionellen Gruppen und Sportvereinen.17 Die linkssozialistischen Arbeiterjugendorganisationen, allen voran die SAJ und der KJVD, hatten zeit ihres Bestehens nur einen Bruchteil der Jugend in ihren Reihen organisieren können. Für die Hitlerjugend vor 1933 gilt dies ebenso. Dies muss bei den weiteren Betrachtungen berücksichtigt werden. Besonders der Alleinvertretungsanspruch der KJVD-Führung für die Arbeiterjugend zu Beginn der 30er Jahre wird gemessen an der Mitgliederzahl des Verbandes geradezu ad absurdum geführt. Im gesamten Reich sollen (nach massiven Mitgliederwerbeaktionen) im Frühjahr 1932 gut 58.000 Personen Mitglied im KJVD gewesen sein, die Jahre zuvor etwa halb so viele.18 Auch die Kinderorganisation der KPD, der JungSpartakus-Bund, welcher 1931 in Rote Jungpioniere umbenannt wurde, besaß 1931 reichsweit nicht mehr als 7.000 Mitglieder.19 Neben SAJ und KJVD, auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll, waren in Leipzig etwa 200 Jugendliche im Sozialistischen Jugendverband (SJV) der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) organisiert, welche größtenteils zuvor Mitglieder der SAJ gewesen waren.20 Auch die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) verfügte in Leipzig über eine eigene Jugendorganisation.21 Lehrlinge und Jungarbeiter waren oftmals bei der Gewerkschaftsjugend organisiert, vor allem in den Bereichen Metall, Bau und Holz. Konkrete Zahlen sind nicht überliefert. Lediglich für 1931 ist für die ADGB-Jugend in Leipzig bekannt, dass diese 23.000 Mitglieder gehabt haben soll.22 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die vielen Arbeitersportvereine in Leipzig, in denen 16 17 18 19 20

21 22

R. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit, Frankfurt/M. 1974. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.55f. B. KÖSTER: Die Junge Garde des Proletariats, Diss, Bielefeld 2005, S.135. Vgl. MALLMANN: Kommunisten, S.188. Vgl. VOIGT: Reichsbanner, S.440; Die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion der Mitgliederzahlen verdeutlichen diese beiden Angaben: Der frühere KJVD-Funktionär Hasso Grabner gibt die Mitgliederstärke des Leipziger SJV mit insgesamt 70 an (Vgl. Protokoll der Aussprache mit H. Grabner vom 13.02.1967, Privatarchiv Jahnke, S.3). Bruno Frank, früherer KJVD-Instrukteur, nennt hingegen 10mal soviel wie Grabner (Vgl. Protokoll der Aussprache mit B. Frank vom 15.02.1968, Privatarchiv Jahnke, S.2). Frank bezifferte die Mitgliederstärke der Jugendgruppe der KPO in Leipzig mit etwa 100 (Vgl. Protokoll B. Frank, S.2). Vgl. VOIGT: Reichsbanner, S.153.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen

37

Mitte der 20er Jahre etwa 18.000 Jugendliche organisiert waren.23 Viele gehörten außerdem zur „Schreberjugend“ der Kleingartensparten, wenn deren Eltern dort eine Parzelle besaßen.24

a.

Die Sozialistische Arbeiterjugend

Im Oktober 1918 gründete sich am Vorabend der Novemberrevolution aus verschiedenen Arbeiterjugendgruppen die „Freie Sozialistische Jugend“ (FSJ), noch ohne direkte Anbindung an eine Arbeiterpartei.25 1919/20 spaltete sich diese in die Kommunistische Jugend und die USPD-nahe Sozialistische Proletarierjugend (SPJ). Aus Letzterer ging 1922 die SAJ hervor.26 Die SAJ als Jugendorganisation der SPD bestand Ende der 20er Jahre aus den Unterbezirken Groß-Leipzig und Leipzig-Land mit insgesamt 27 Ortsgruppen.27 Die Angaben zur Mitgliederstärke zu Beginn der 30er Jahre fallen unterschiedlich aus. Während der damalige KJVD-Funktionär Bruno Frank diese für die Leipziger SAJ aus seinen Erinnerungen mit etwa 4- bis 5.000 Mitgliedern angibt, beziffert Jesko Vogel nach seinen Recherchen sie mit etwa 2.200 Mitgliedern.28 Etwa ein Drittel davon sollen Frauen gewesen sein.29 Das in der Leipziger Arbeiterschaft stark verwurzelte sozialdemokratische Milieu organisierte bereits frühzeitig seine Kinder bei den „Kinderfreunden“, später bei den pfadfinderähnlichen „Roten Falken“ (12- bis 16-Jährige) und schließlich bei der SAJ. Die Kindergruppen wurden von erfahrenen SAJMitgliedern geleitet. In den eigentlichen SAJ-Gruppen beschäftigte man sich in erster Linie mit politischer Bildung und geselligem Beisammensein. Darüber hinaus gab es in Leipzig ein „dichtes Netz sozialdemokratischer Vorfeldorganisationen“, wie z. B. Konsum- und Sportvereine sowie das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.30 Anders als beim KJVD, der sich als eine revolutionäre Jugendorganisation verstand und zusammen mit der KPD die Revolution anstrebte, verstand sich die SAJ als eine „sozialistische Erziehungsgemeinschaft“ und bekannte sich – wie ihre Mutterpartei – zur Weimarer Republik und zur Demokratie. Zu Beginn

23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. HEIDENREICH: Arbeiterkulturbewegung, S.388; Zum Arbeitersport in Leipzig siehe auch ADAM: Leipzig die Hochburg. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.243f. Protokoll B. Frank, S.2. Zur Vorgeschichte der organisierten Leipziger Arbeiterjugend während des I. Weltkrieges siehe VOGEL: Parteibezirk, S.71ff. Vgl. SCHLEY: Arbeiterjugend, S.12. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.28. Protokoll B. Frank, S.2; Vgl. dazu VOGEL: Parteibezirk, S.710. Siehe VOIGT: Reichsbanner, S.137. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.28.

38

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

der 30er Jahre, mit ausbleibenden Wahlerfolgen der SPD und der zunehmenden allgemeinen politischen Radikalisierung, wuchsen innerhalb der SAJ die Widersprüche. Besonders in Leipzig müssen viele zum linken Flügel der SAJ gezählt werden, wie auch der gesamte Leipziger SPD-Unterbezirk links von der Gesamtpartei stand.31 Nachdem der 1931 in Leipzig stattgefundene Parteitag der SPD den Grundsatz ausgab, dass die Partei „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ sein solle, brachte das nicht wenige Mitglieder der SAJ in offenen Konflikt zur Mutterpartei, wollte man doch nach Karl Marx’ Kommunistischem Manifest „Totengräber des Kapitalismus“ sein.32 Als Reaktion auf diesen Parteitag gründete sich zum einen die SAP, in die bzw. in deren Jugendorganisation SJV allein aus Leipzig mehr als 200 frühere SAJ-Mitglieder eintraten.33 Andere Mitglieder wechselten zum KJVD in Leipzig. Insgesamt schwächten diese Austritte nicht nachhaltig die Mitgliederstärke der Leipziger SAJ. In Dresden dagegen folgten größere politische Auseinandersetzungen. Fast der komplette Dresdner SAJVorstand wechselte zum SJV, der Ortsverband musste praktisch neu gegründet werden. Von den ursprünglich ca. 1.300 SAJ-Mitgliedern in der Landeshauptstadt fand zunächst nur etwa ein Drittel wieder in die Jugendorganisation der SPD. Bis Anfang 1933 stiegen die Zahlen lediglich auf etwa 700.34 Obwohl die SAJ nach ihrem offiziellen Selbstverständnis keinen revolutionären politischen Anspruch hatte, entgingen ihr nicht die zunehmende Radikalisierung innerhalb der Gesellschaft zu Beginn der 30er Jahre und die steigenden Wählerstimmen für die NSDAP. Dies führte zu kontroversen Diskussionen, auch innerhalb der SPD, über die von den Nationalsozialisten ausgehende Gefahr und wie ihr zu begegnen sei. Besonders die Leipziger SPD verstärkte infolge der zunehmenden SA-Überfälle ab 1930 ihre außerparlamentarischen Aktivitäten, beispielsweise durch das Aufstellen des „SPD-Schutzes“, der „Jungordnergruppen“ und der „Kampfstaffeln“ (KS).35 Die Aufgabengebiete der Kampfstaffeln, auf die später noch eingegangen wird, umfassten die Sicherung von Arbeitersportstätten, Parteiverkehrslokalen, Konsumverkaufsstellen und auch den Schutz von Wohnungen besonders gefährdeter SPD-Funktionäre. Die

31

32 33 34 35

Siehe E. ZIEGS: Die „besondere“ Programmatik der Leipziger SPD. BING/MOMMSEN/RUDOLPH (Hg.): Demokratie und Emanzipation zwischen

In: GRESaale und

Elbe, Essen 1993, S.295-304. StAL SED-Erinnerungen V/5/313, Bericht von A. Nothnagel vom 11.3.1948, Bl.46. VOGEL: Parteibezirk, S.710. Siehe M. SCHMEITZNER: „Mit uns zieht die neue Zeit“. In: DRESDNER GESCHICHTSVEREIN (Hg.): In Wanderkluft und Uniform, Dresden 2007, S.56ff. Siehe auch D. ZIEGS: Die Leipziger SPD im Kampf um die Republik. In: GREBING/MOMMSEN/RUDOLPH (Hg.): Demokratie, S.318-329; Zur Situation der sächsischen SPD zu Beginn der 30er Jahre bezüglich der zunehmenden Militanz siehe VOGEL: Parteibezirk, S.688-700; VOIGT: Reichsbanner, S.453ff.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen

39

enge Verbindung zwischen SAJ und KS wurde in Leipzig auch dadurch sichtbar, dass beide Verbände dieselben blauen Blusen trugen. Neben tätlichen Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten kam es in Leipzig außerdem immer wieder zu Zusammenstößen mit KPD-Anhängern. Trauriger Höhepunkt war der August 1931, als ein KJVD-Mitglied den SAJOrtsvereinsvorsitzenden Max Warkus im Stadtteil Lindenau erstach. Bei der Rangelei wurden außerdem zwei weitere SAJ-Mitglieder verletzt.36 Dieses Ereignis verdeutlicht das schwierige Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und KPD zu dieser Zeit. Im Mai 1932 hatte die NSDAP-Fraktion im Reichstag einen Verbotsantrag gegen die SAJ gestellt.37 Nicht zuletzt wegen dieses Vorstoßes der Nationalsozialisten gab es bei der Berliner SAJ Überlegungen, sich auf eine Zeit in der Illegalität vorzubereiten, welche im Frühjahr 1933 nochmals verstärkt wurden. Die Berliner Leitung stellte bereits vor dem nahenden Verbot die Gruppennachmittage und andere Aktivitäten ein und hatte stattdessen ihre zuverlässigen Mitglieder in Fünfergruppen organisiert. Auch wurden Verbandsgelder auf ein geheimes Konto transferiert, um es vor einer Sperrung oder Beschlagnahme zu sichern. Diese Aktivitäten gingen jedoch der Berliner SPD-Führung sowie dem Hauptvorstand der SAJ eindeutig zu weit – widersprachen diese Maßnahmen doch zu sehr dem Legalitätskurs der SPD-Spitze. Ähnlich der KPD hielten es SPD- und SAJ-Führung für undenkbar, dass sich die Nationalsozialisten – würden sie an die Macht kommen – über längere Zeit an der Regierung halten könnten. Anders als die KPD glaubte die SPD an eine Fortführung bzw. Rückkehr der Demokratie. Vorbereitungen auf eine mögliche Illegalität sind für die Leipziger SAJ nicht belegbar. Als Reaktion auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler fand am Sonntag, dem 12. Februar 1933 in Leipzig auf dem Meßplatz am Frankfurter Tor die letzte bekannte große Demonstration der Leipziger Sozialdemokraten statt. Etwa 20.000 Menschen nahmen daran teil, unter ihnen SAJ-Gruppen, Züge der Kampfstaffeln und auch kommunistische Gruppen.38

b.

Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands

Der KJVD ging wie die SAJ aus der „Freien Sozialistischen Jugend“ (FSJ) hervor, welche im Oktober 1918 aus verschiedenen Arbeiterjugendgruppen (u. a. auch aus der Spartakusgruppe) gegründet wurde. Nach dem Anschluss an die Kommunistische Jugendinternationale (KJI) erfolgte eine zunehmende kom-

36 37 38

VOGEL: Parteibezirk, S.695ff.; Sowie VOIGT: Reichsbanner, S.394. Vgl. EBERTS: Arbeiterjugend, S.153. NLZ vom 13.2.1933, zitiert aus: LEHMSTEDT (Hg.): Leipzig wird braun, S.39.

40

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

munistische Ausrichtung. Die USPD-nahen Mitglieder spalteten sich ab und gründeten die „Sozialistische Proletarierjugend“. Es folgte im September 1920 die Umbenennung in „Kommunistische Jugend Deutschlands“ (KJD).39 In seinen Anfangsjahren nahm der KJVD – analog der frühen SAJ – mit Wanderungen, Volkstänzen und Naturbegeisterung beträchtliche Anleihen bei der bürgerlichen Jugendbewegung, obgleich man im Gegensatz zu den Jugendbünden sich nicht als autonom, sondern als „junge Garde“ des Proletariats begriff. Dennoch teilte man mit den Jugendbünden die Ansicht, „dass nur die junge Generation in der Lage sei, die gesellschaftliche Erneuerung voranzutreiben.“40 Zunächst geprägt durch eine gewisse Eigenständigkeit, ordnete sich 1921 der Verband der politischen Leitung der KPD unter. Ab diesem Zeitpunkt vollzog die KJVD-Führung alle politischen Kurskorrekturen der KPD widerspruchslos mit. In der Zeit der Wirtschafts- und Staatskrise kam es zu Beginn der 30er Jahre zu einem Wechsel vom Wandern zum Marschieren mit zunehmender Uniformierung.41 Das politische Wirken des KJVD war zu dieser Zeit geprägt durch den Kurswechsel, den die KPD 1928/29 vollzogen hatte. Die Komintern hatte „die bisherige ideelle Orientierung am Vorbild Sowjetunion“ der KPD unter Führung Ernst Thälmanns und des KJVD „zur bedingungslosen taktischen Unterordnung unter deren außenpolitische Prioritäten transformiert.“42 Ganz nach dem Selbstverständnis als eine revolutionäre Partei- bzw. Jugendorganisation arbeitete man der anstehenden Revolution in Deutschland entgegen – als die einzige Alternative zu den bestehenden Verhältnissen. Grundvoraussetzung war dafür eine große Mitgliederanzahl zur Legitimation des Führungsanspruches. Der KJVD war zu diesem Zeitpunkt eine zentralistisch und hierarchisch geführte Jugendorganisation. Besonders nach dem Kurswechsel der Mutterpartei 1928/29 galt es, diesen bis in die kleinsten Unterorganisationen durchzusetzen. Der sächsische KJVD hatte damit einige Anpassungsprobleme, wie man einem offenen Brief des ZK des KJVD an alle Mitglieder des KJVD Sachsen entnehmen kann, der noch vor dem Leipziger Reichsjugendtag des KJVD Ostern 1930 verschickt wurde: „Darum besteht unsere Hauptaufgabe darin, bei dem Übergang zur Massenarbeit gegen diese ‚linke’ sektiererische Abgeschlossenheit das Hauptfeuer zu konzentrieren, die Rolle des KJV als Führer aller Kämpfe der Arbeiterjugend klar herauszuarbeiten. Diese Wendung kann nur dann durchgeführt werden, indem ein jeder Genosse, eine jede Genossin bei der Lösung dieser Aufgabe aktiv mitarbeitet, indem alle kleinbürgerlichen, sozialdemokratischen Anschauungen, jeder Cliquengeist ausgerottet wird. Ohne Rücksicht auf

39 40 41 42

JAHNKE: Geschichte der deutschen Arbeiterjugendbewegung, Dortmund 1973, S.276. Vgl. (grundlegend zum KJVD in der Weimarer Republik) KÖSTER: Junge Garde, S.37. Vgl. MALLMANN: Kommunisten, S.189. PEUKERT: KPD im Widerstand, S.36/37.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen

41

Ansehen der Person, ohne Rücksichtnahme auf persönliche Freundschaften, muss die sachliche Arbeit eines jeden verantwortlichen Genossen in der Leitung kritisiert und kontrolliert werden.“43

Diese Kritik am sächsischen Landesverband verdeutlicht das Grundsatzproblem, wie in der Praxis ein von „oben“ diktierter Kurswechsel in einzelnen Basisgruppen „unten“ für Unverständnis sorgte. Sichtbar wird, dass Teile der Basis ein von der Führung abweichendes Gruppenleben praktizierten, was sich stärker an den realen Begebenheiten und Bedürfnissen vor Ort orientierte. Tatsächlich hatte sich der KJVD in den 20er Jahren als Avantgarde gegenüber der Masse anderer Jugendlicher verstanden, was sich beispielsweise in einer teilweise asketischen Lebensweise niederschlug, ähnlich der SAJ.44 Der nun von der Reichsführung geforderte „Übergang zur Massenarbeit“ stieß darum an der Basis auf Probleme, kollidierte er doch mit dem gewachsenen Gruppenverständnis. Der KJVD-Sachsen, der zu den mitgliederstärksten in Deutschland gehörte, war zu Beginn der 30er Jahre in drei Unterbezirksleitungen (UBL) aufgeteilt: Ostsachsen, Westsachsen und Erzgebirge/Voigtland. Das Stadtgebiet Leipzig wurde damals ebenfalls mit eigener UBL geführt. Diese Sonderstellung ist auf die damalige Größe Leipzigs und die industrielle Bedeutung zurückzuführen. Leipzig selbst war organisatorisch in acht Stadtbezirke aufgeteilt. Die Bezirksleitung (BL) des sächsischen KJVD war 1931 zusammen mit der BL der KPD von der sächsischen Landeshauptstadt Dresden nach Leipzig umgezogen. Ein Grund war, dass Leipzig wesentlich mehr Mitglieder aufzuweisen hatte als Dresden.45 Zu den Mitgliederzahlen in Leipzig existieren analog der SAJ widersprüchliche Angaben. Während Bruno Frank die Mitgliederstärke des KJVD zu der Zeit mit 2.000 bis 2.500 angibt, spricht Hasso Grabner nur von etwa 1.000 Mitgliedern um 1931/32, von denen 900 Beiträge zahlten.46 Barbara Köster gibt nach umfangreichen Recherchen für September 1931 die Gesamtstärke des KJVD in Sachsen mit knapp 7.000 an.47 Dies könnte eine Mitgliederstärke in Leipzig von etwa 2.000 durchaus realistisch erscheinen lassen, was andererseits bedeuten würde, dass der KJVD in Leipzig zu Beginn der 30er Jahre annähernd genauso viele Mitglieder gehabt hätte wie die Leipziger SAJ. Dies scheint aufgrund der gewachsenen sozialdemokratischen Strukturen in Leipzig jedoch unwahrscheinlich. Dem gegenüber steht außerdem die Aussage des früheren Leipziger

43 44 45 46 47

StAL PP-St 121 Bd.2, Bl.13. VOIGT: Reichsbanner, S.170. Vgl. Protokoll B. Frank; Frank war von 1931 bis 1933 politischer Instrukteur des KJVD für Leipzig. Vgl. Protokoll H. Grabner; Grabner war ab 1932 in der KJVD-Bezirksleitung. KÖSTER: Junge Garde, Tab.3.

42

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

KJVD-Funktionärs Kurt Gittel, dass man bis zum März 1933 in Leipzig etwa 650 bis 700 Mitglieder gehabt hätte.48 Angesichts fehlender weiterer Quellen ist diese Frage leider nicht erschöpfend zu klären, die von Grabner angegebenen etwa 1.000 Mitglieder erscheinen dabei am wahrscheinlichsten. Basis des KJVD in Leipzig waren die einzelnen Stadtteilgruppen bzw. so genannte Straßenzellen. Ab 1930 wurde nach Anweisung der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) versucht, verstärkt Betriebszellen aufzubauen, da man die Betriebe als Ausgangspunkt einer späteren proletarischen Revolution ansah.49 Für Leipzig sind jedoch in der Folgezeit nur vier Betriebsgruppen bekannt. Die größte Betriebszelle des KJVD befand sich in der Leipziger Baumwollspinnerei mit 41 Mitgliedern. Der damalige Instrukteur der Zelle Hasso Grabner benannte später die Aktivitäten der Gruppe: Sammelbecken für junge Kommunisten zu sein, gemeinsame Wochenendfahrten und Herausgabe von drei bis vier Betriebszeitungen.50 Die geschilderte Zellenarbeit vermittelt mehr den Eindruck eines politisch-sozialen Zusammenhalts für Jugendliche als der Vorbereitung einer Revolution. Der von der KJI geforderte organisatorische Umbau des KJVD von Ortsgruppen zu Betriebszellen fand somit nie statt und blieb für Leipzig bereits in den Ansätzen stecken.51 Grund war einerseits die hohe Arbeitslosenquote von Jungkommunisten und andererseits der mäßige Erfolg bei Mitgliederwerbungen unter Jungarbeitern. Bis zur Zerschlagung des KJVD Mitte der 30er Jahre blieben die einzelnen in der Praxis bewährten Stadtteilgruppen aufgrund der gewachsenen sozialen Kontakte die Basis des KJVD. Aller sechs bis acht Wochen fand in Leipzig die „Aktivtagung des Jugendverbandes“ statt. Auf diesen Treffen wurden die einzelnen Leipziger Basisgruppen über KPD- und KJI-Beschlüsse informiert. Hier soll es immer wieder hitzige Diskussionen über die Arbeit in einzelnen Gruppen gegeben haben, welche vermutlich nicht die Beschlüsse im Sinne der BL umsetzten.52 Zwischen den realen Möglichkeiten und Vorstellungen von Basisarbeit der einzelnen Gruppen einerseits und den geforderten Arbeiten durch die Reichsleitung andererseits gab es offenbar immer wieder starke Differenzen. Einer der organisatorischen und propagandistischen Höhepunkte war das Reichsjugendtreffen des KJVD in Leipzig zu Ostern 1930, zu dem etwa 30.000 Jugendliche aus ganz Deutschland nach Leipzig anreisten.53 Auf der Abschluss-

48 49 50

51 52 53

Vgl. Erinnerungsbericht von Martin Helas (um 1948) in BArch RY 1/I 2/3/122, BL.111. Auch die KPD wies ihre Basis an die Betriebsgruppen zu stärken - mit ähnlichem Misserfolg. Siehe VOIGT: Reichsbanner, S.518ff. Vgl. Protokoll H. Grabner; Neben der Zelle in der Baumwollspinnerei gab es noch folgende: Fa. Flügel & Polter (Gummifabrik), Fa. Sparmer (Buchdruckerei), Fa. Wetzel & Naumann (Kunstdruckanstalt). Auch für andere Städte belegbar. Siehe: KÖSTER: Junge Garde, S.201. StAL SED-Erinnerungen V/5/401/1, Bericht von G. Zschocher (60er Jahre); Bl.66. NEULAND/WERNER-CORDT: Die Junge Garde, S.153.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen

43

kundgebung am 20. April sprach Ernst Thälmann vor 80- bis 100.000 Demonstranten auf dem überfüllten Augustusplatz. Bei einer Rangelei schossen zwei Polizisten in die Menge und töteten einen Kundgebungsteilnehmer. Die beiden Beamten wurden daraufhin von der aufgebrachten Menge gelyncht.54 In der Folgezeit blieben darum kommunistische Massenaufmärsche in Leipzig verboten. Vergleicht man die Teilnehmerzahlen mit der damals bekannten Anzahl der Mitglieder des KJVD, wird klar, dass dieser Reichsjugendtag nicht allein das Werk von Jugendlichen sein konnte. Andere Jugendgruppen mieden wegen ihres elitär-revolutionären Anspruches den KJVD weitgehend, sodass letztlich nur die Mutterpartei in der Lage war, so viele Menschen zur Abschlusskundgebung zu mobilisieren. Anfang der 30er Jahre konnte der KJVD aufgrund seines radikalen Images einen Mitgliederzuwachs verzeichnen.55 Tatsächlich verstand sich der KJVD als revolutionäre Jugendorganisation und wollte seine Mitglieder zur Revolution nach sowjetischem Vorbild führen. Doch der Weg dorthin hatte weniger mit Revolutionsromantik als vielmehr mit Agitation und Propaganda für die kommunistische Bewegung zu tun. Den Mitgliedern wurde eine große Menge Disziplin abverlangt, sich für die Öffentlichkeitsarbeit zu engagieren. Die Leitung des Landesverbandes Sachsen gab beispielsweise Ende April 1930 folgende Wochenendgestaltung für die einzelnen Basisgruppen heraus: „Sonnabend Nachmittag - Organisierung einer Versammlung vor einem Betrieb oder in einem Arbeiterviertel Sonnabend Abend

- Kleben und Malen

Sonntag Früh

- Hausagitation

Sonntag Nachmittag

- Werbearbeit auf einem Sportplatz

Sonntag Abend

- Vor oder im Kino Organisierung von Sprechchören und Werbung von Jungarbeitern

[…] Anschließend soll eine kurze Versammlung stattfinden, wo über die Durchführung und Ergebnisse gesprochen wird.“56

In welchem Maße diese Aufgaben in der Praxis tatsächlich umgesetzt worden sind, ist nicht bekannt. Das damalige Leipziger KJVD-Mitglied Gerhart Zschocher erinnerte sich später mit leichter Verklärung an solcherart Propagandaeinsätze.57 Insgesamt wird diese Art von Wochenendbeschäftigung nur bedingt zur Attraktivität des Verbandslebens beigetragen haben. Das alterstypische gesellige

54 55 56 57

Siehe auch VOIGT: Reichsbanner, S.388. Vgl. MALLMANN: Kommunisten, S.182ff.; Siehe auch KÖSTER: Junge Garde, S.131f. StAL PP-St 121 Bl.18; KJVD-Sachsen Agitproprundschreiben Nr.4; Dresden 30.4.1930. Vgl. G. ZSCHOCHER: Zeichen aus dem Zuchthaus, Berlin 2000, S.84f.

44

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

Freizeitbedürfnis von Jugendlichen wurde seitens der Verbandsleitung kaum berücksichtigt. Die Basis war auch wegen der dünnen Personaldecke kaum in der Lage, die teilweise ausufernden Arbeitsanweisungen des ZKs umzusetzen.58 Nicht selten wurden darum die Gruppentreffen in den einzelnen Stadtteilen weniger für theoretische Referate genutzt, sondern man besprach in geselliger Runde die nächste gemeinsame Wanderung oder sang Kampf- und Wanderlieder.59 In diesem Zusammenhang kann man festhalten, dass der KJVD sich an der Basis in den frühen 30er Jahren keinesfalls ausschließlich als Laufbursche der KPD betätigte.60 Obgleich es zeitweise, besonders bei Wahlkämpfen und Aufmärschen, partielle Unterstützung für die Mutterpartei gegeben hatte, so verfolgte der KJVD vor Ort durchaus realpolitische Ziele bei der Gruppenfreizeitgestaltung, auch gegen von „oben“ kommende Anweisungen. Rief der KJVD in dieser Zeit bereits lautstark zum Kampf gegen den Faschismus auf (wie die Sozialdemokraten im Übrigen auch), so waren für die Jungkommunisten unter diesem Begriff nicht nur die Nationalsozialisten gemeint, sondern das gesamte kapitalistische bzw. imperialistische System. Die Nationalsozialisten wurden lediglich als der radikale Arm des deutschen Imperialismus angesehen. Das demokratische System der Weimarer Republik war für den KJVD nicht reformierbar und konnte nur durch eine Revolution überwunden werden. Die KPD bezeichnete die Reichskanzler der späten Weimarer Republik ebenfalls als Faschisten und sprach deshalb vom Brüning-, Papenund Schleicher-Faschismus.61 Vor allem wurden die eigentlichen „Klassenbrüder“ (und Konkurrenten um Wählerstimmen), die SPD-Mitglieder, als Helfer des Kapitals angesehen und dementsprechend als „Sozialfaschisten“ beschimpft. Das restriktive Vorgehen der Leipziger Polizei unter Führung des Sozialdemokraten Fleißner gegen Aufmärsche der Kommunisten verstärkte die Vorbehalte gegen die SPD vor Ort. Die inflationäre Verwendung des Begriffes „Faschismus“ führte so zu dessen Verwässerung und in der Analyse letztlich zur Fehleinschätzung der politischen Situation. Wie überall in Deutschland befand sich auch in Leipzig der KJVD in Erwartung des Zusammenbruchs des Kapitalismus und interpretierte die sich bereits 1932 zuspitzenden innenpolitischen Krisen als sichtbares Zeichen dafür. Die von KPD und KJVD angestrebte Revolution nach sowjetischem Vorbild wäre folgerichtig der nächste Schritt zur Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ unter Führung der KPD. Nach dem Verbot des Rotfrontkämpferbundes und der Roten Jungfront 1929 rechnete man auch mit einem Verbot der KPD bzw. des KJVD. Schließlich nannte man sich selbst die „Jugend des Hochverrates“.

58 59 60 61

Vgl. KÖSTER: Junge Garde, S.58. Vgl. ebd., S.208. Im Gegensatz dazu Mallmanns Einschätzung. In: DERS.: Kommunisten, S.189. Vgl. STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen den NS, Bonn 1994, S.108.

3. Jugendbünde in Leipzig

45

Aus diesem Grunde gab es 1932 erste Vorbereitungen, den KJVD für eine (kurze) Zeit in der Illegalität weiterführen zu können. Dies beinhaltete sichere Quartiere für Funktionäre sowie Verstecke für Vervielfältigungsapparate und weiteren Materialien für die illegale Herstellung von Druckschriften. In dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 sahen KPD und KJVD darum zunächst nur eine weitere Etappe der sich zuspitzenden Krise des Kapitalismus. Der von der KPD noch am gleichen Abend herausgegebene Aufruf zum Generalstreik blieb jedoch weitestgehend ohne Wirkung. Erkannte zwar die KPD, dass nun eine offene „faschistische Diktatur“ drohte, so stießen ihre kurzfristigen Versuche, mit der von ihr seit Jahren als „Sozialfaschisten“ diskreditierten SPD ein Zweckbündnis zu schließen, verständlicherweise auf große Skepsis seitens der Sozialdemokraten. In den Abendstunden des 30. Januars und an den Folgetagen gab es in verschiedenen Leipziger Stadtteilen Demonstrationen gegen Hitlers Ernennung zum Reichskanzler. Auch Anfang Februar dominierten noch nicht die Nationalsozialisten die Leipziger Straßen mit ihren Aufmärschen. Ein Verbot von KPD und KJVD schien dennoch nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die Leipziger Zentrale von Partei und Jugendorganisation befand sich in „Czermaks Garten“ nahe dem Hauptbahnhof und wurde vorsorglich seit dem 31. Januar nicht mehr benutzt. Am 8. Februar durchsuchte die Polizei somit erfolglos das Gebäude. Auch wenn ein Verbot noch nicht offiziell existierte, arbeiteten die KPD und ihre Unterorganisationen von nun an in der Illegalität. Am 21. Februar gab es eine letzte große antifaschistische Kundgebung der KPD auf dem Meßplatz nahe dem heutigen Zentralstadion unter dem Motto „Angriffspakt gegen den Faschismus“. Unter den mehreren tausend Teilnehmern waren auch Mitglieder des KJVD und der SAJ. Zwei Tage später fand im „Felsenkeller“ die letzte legale KPD-Veranstaltung mit 700 Teilnehmern statt.

3.

Jugendbünde in Leipzig

Viele Jugendliche – egal ob aus proletarischem oder bürgerlichem Elternhaus – entwickelten (nicht nur) in den 20er Jahren großes Interesse für Abenteuerbücher und Reiseberichte und sammelten Zigarettenbilder mit Fotos aus fernen Ländern. Die Großstädte der damaligen Zeit waren durch die vielen größeren und kleineren Fabriken in den einzelnen Stadtvierteln oftmals laut und schmutzig, die Wohnverhältnisse vieler Jugendlicher, besonders in den Arbeiterfamilien, äußerst beengt. Bücher wie die von Karl May nahmen den Leser in Gedanken auf Reisen in ferne exotische Länder mit, die damals für einen Jungen – im Gegensatz zum heutigen für fast jedermann bezahlbaren Massen- und Rucksacktourismus – unerschwinglich waren. Dieses daraus erwachende Fernweh konnte durch Fahrten und Wanderungen mit Gleichgesinnten in die nähere

46

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

Umgebung und manchmal auch an fernere Orte Europas zu einem gewissen Grade befriedigt werden. Eine kleine verschworene Gemeinschaft draußen in der freien Natur bot das ideale Kontrastprogramm zu den überfüllten Großstädten der Moderne. „Der Fehler der meisten Bünde bestand darin, dass sie das Missvergnügen in der modernen Gesellschaft durch den Rückfall in die unwiederbringliche Vergangenheit heilen wollten, anstatt nach neuen Lebensformen in der modernen Zivilisation zu suchen.“62 Anders als die politischen Jugendorganisationen, welche möglichst viele Mitglieder unter ihrem jeweiligen Banner sammeln wollten, legten die Jugendbünde vor allem Wert auf eine „Auslese“ ihrer Mitglieder. Symptomatisch für die bündischen Gruppen in den 20er Jahren waren außerdem zahllose Fusionen, Auflösungen und Neugründungen. Ein detaillierter Überblick über die Gruppenlandschaft in Leipzig ist daher im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Da die Bündische Jugend jedoch nicht nur begriffsmäßig von Bedeutung ist, sollen die für die weiteren Erläuterungen wichtigsten Leipziger Gruppen kurz dargestellt werden.63 Über den zahlenmäßigen Umfang der Jugendbünde bzw. Pfadfindergruppen in Leipzig gibt es nahezu keine überlieferten Quellen. Reichsweit hatte die Bündische Jugend 1930 etwa 50.000 Mitglieder. Unter Hinzurechnung katholisch orientierter Gruppen wie der „Sturmschar“, des „Quickborn“ und des „Neudeutschland-Bundes“ kommt man auf eine Gesamtzahl von rund 100.000 Mitgliedern, was damals etwa 1,5 Prozent der zehn- bis 18-jährigen Deutschen waren.64 Nimmt man erstere Zahl als Vergleichswert für Leipzig (hier gab es nur eine kleine katholische Minderheit), so kann man davon ausgehen, dass es in der Stadt etwa 2- bis 3.000 Mitglieder von nichtkonfessionellen Jugendbünden gegeben haben könnte, unter denen stets eine gewisse Fluktuation bestand. Deren Mitglieder waren in Leipzig vorwiegend Oberschüler und Studenten, aber auch Arbeiterjugendliche. 65 In der Messestadt gab es Ortsgruppen der bekannten reichsweit aktiven Jugendbünde. Es waren sowohl auf Reichsebene als auch innerhalb Sachsens zahlreiche Leipziger in Führungspositionen, was die Bedeutung der Stadt und deren Mitglieder hervorhebt. Allein die vielen Gruppennamen, die darüber

62 63

64 65

LAQUEUR: Jugendbewegung, S.183. Grundlegend zu den Jugendbünden siehe LAQUEUR: Jugendbewegung; KNEIP: Wandervogel; RAABE: Bündische Jugend; M. JOVY: Jugendbewegung und Nationalsozialismus, Münster 1984; M. V. HELLFELD: Bündische Jugend und Hitlerjugend, Köln 1987; ARBEITSKREIS FÜR DOKUMENTATION DES SACHSENKREISES (Hg.): Jugend zwischen den Kriegen. Heidenheim 1967, (v.a. zur Deutschen Freischar in Sachsen). Vgl. V. HELLFELD: Bündische Jugend, S.13. So z.B. Rolf Pabst, dessen Vater erst KPD-Mitglied war, später SPD. Pabst war zunächst bei den Kinderfreunden, wechselte später zeitweise zur Deutschen Freischar. Vgl. DERS.: Aufzeichnungen, S.19; S.43.

3. Jugendbünde in Leipzig

47

hinaus im Zusammenhang mit Leipzig in den Akten auftauchen, lassen auf ein vielfältiges (und geradezu unübersichtliches) bündisches Leben in der Stadt schließen.66 Während es bei SAJ und KJVD bewusst gemischtgeschlechtliche Gruppen gab (wobei in der Praxis die männlichen Mitglieder dominierten), waren die Jugendbünde im Allgemeinen reine Jungenbünde. Obgleich es teilweise von größeren Bünden auch separate Mädchengruppen gab, spielten diese nur eine marginale Rolle und müssen daher – nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften Quellenlage für Leipzig – in dieser Arbeit leider unberücksichtigt bleiben.67

a.

Die Deutsche Freischar

Die „Deutsche Freischar“ (DF) entwickelte sich reichsweit ab Mitte der 20er Jahre zu einem „Mittelpunkt“ bündischen Lebens.68 Ihre Mitgliederstärke betrug bis zu 12.000 Jugendliche und zählte somit zu den bedeutendsten Jugendbünden in Deutschland. Ziel des Bundes war es, die Mitglieder zu weltoffenen Menschen zu erziehen. Darum fanden sich bei der DF auch unterschiedlichste politische Auffassungen wieder.69 In Sachsen war die DF unter dem Namen „Sächsische Jungmannschaft“ (bzw. „Jungenschaft“ für die Jüngeren) aktiv. Mit Leipzig als einem der Zentren hatte die sächsische DF mutmaßlich mehrere hundert Mitglieder, v.a. unter den Studenten.70 Anfang der 30er Jahre wurden drei von zehn Ämtern der Sächsischen Jungmannschaft von Leipzigern bekleidet, darunter war auch der Kanzler Lothar Rauch. Der Bundesstudentenwart der Freischar kam ebenfalls aus Leipzig. Seit Mitte der 20er Jahre wurden „Jungmannschaftsabende“ durchgeführt, wo man sich vor allem mit politischen Fragen beschäftigte. Es soll stellenweise eine starke Hinwendung zum Sozialismus gegeben haben, was nicht zuletzt an einem der führenden Leipziger Köpfe, dem Sozialdemokraten Dr. Fritz Borinski lag, der 1928 ein städtisches Volksschulheim für Jungarbeiter leitete.71 Dort fanden regelmäßige Abendkurse statt, wo jeweils 15 junge Arbeiter geschult wurden, unter Mitarbeit einiger älterer „Freischärler“.72

66 67 68 69 70 71 72

Siehe StAL Vereinsakten beim Polizeipräsidium Leipzig (Bestand PP-V). Zu dieser Thematik siehe R. SCHADE: Ein weibliches Utopia, Witzenhausen 1996. Vgl. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit, S.19. Vgl. V. HELLFELD: Bündische Jugend, S.37. Siehe hierzu auch: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend. Siehe F. BORINSKI: Der Leuchtenburgkreis. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.144. Zur Bildungsarbeit von Fritz Borinski siehe auch: KNOLL/LEHNERT/OTTO (Hg.): Gestalt und Ziel, Leipzig 2007, besonders S.54-81.

48

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

Borinski war ebenfalls aktiv im „Leuchtenburgkreis“, welcher Leipzig als Mittelpunkt hatte. Dieser entstand aus dem Jugendverband der Deutschen Demokratischen Partei und hatte sich 1923 unabhängig gemacht. „Der Kreis kam im Stile der Jugendbewegung zusammen und bemühte sich zielbewusst um eine politische Bildung.“73 Borinski selber definierte den Kreis später folgendermaßen: „Der Leuchtenburgkreis war ein selbstständiger Kreis politischer Jugend. Er hat nie geschlossen einem Bunde angehört. Er stand der Deutschen Freischar dadurch nahe, dass die meisten Jüngeren zugleich Freischärler waren und vorwiegend aus der Sächsischen Jungenschaft kamen. Die Älteren (Alter: zwischen 25 und 35) versuchten als Mitglieder demokratischer Parteien aktiv an der Erneuerung der deutschen Demokratie mitzuwirken.“74

Ältere Mitglieder des Leuchtenburgkreises versuchten außerdem „junge Kräfte des Sozialismus innerhalb und außerhalb der SPD zu sammeln […] und an den aktivistischen Bestrebungen der Jugend des Reichsbanners, der Eisernen Front“, mitzuwirken.75 Auf der anderen Seite suchte man auch Diskussionen mit sozialrevolutionären rechten Gruppen. Hierfür fand im Oktober 1932 auf der Leuchtenburg in der Nähe von Jena eine Tagung zu dem Thema „Mit oder gegen Marx zur deutschen Nation?“ statt, woran u. a. Adolf Reichwein76, Wilhelm Rössele vom „Tatkreis“77 und Otto Strasser78 teilnahmen.79 Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten löste sich der Leuchtenburg-Kreis im März 1933 auf, um einem drohenden Verbot zuvorzukommen. Eigentliche Hauptarbeit der Sächsischen Jungenschaft war der „Landdienst“ und die kulturelle Arbeit im Südosten Europas, vor allem bei den deutschen Minderheiten. Diese Arbeit koordinierte das gruppeneigene „Auslandsamt“ in Leipzig.80 Eine Fahrt nach Spanien zu Ostern 1930 wurde sogar von der Universität Leipzig und dem Sächsischen Kultusministerium mitfinanziert.81 Ein weiterer Schwerpunkt in Leipzig war die Arbeit an der Universität. Selbstbe73 74 75 76

77 78

79 80 81

KNEIP: Wandervogel, S. 173ff. BORINSKI: Der Leuchtenburgkreis. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.143. Ebda. S.144 Adolf Reichwein (1898-1944) war Sozialdemokrat und 1930-33 Professor an der Pädagogischen Akademie in Halle/S. Nach Kriegsbeginn gehörte er zum Kreisauer Kreis und wurde 1944 vom Volksgerichthof zum Tode verurteilt. Der „Tatkreis“ bestand aus radikalkonservativen Publizisten und Schriftstellern. Otto Strasser gehörte bis 1930 der NSDAP an, als Führer ihres revolutionär-„linken“ Flügels. Anschließend gründete er die „Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten“ auch bekannt als „Schwarze Front“. Er ging nach 1933 ins Exil. BORINSKI: Der Leuchtenburgkreis. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.145. KNEIP: Wandervogel, S. 211. Ebda. S.159; Siehe auch L. LIEBS: Bündische Jugend und politische Parteien. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.149ff.

3. Jugendbünde in Leipzig

49

wusst meldete man 1929: „In den letzten Jahren wurden die leitenden Ämter der Studentenschaft Leipzig vor allem von Leuten unseres Gaues bekleidet.“82

b.

dj 1.11 und Deutsche Jungentrucht

Die am 1. November 1929 vom Führer des schwäbischen DF-Gaues Eberhard „Tusk“ Köbel gegründete Deutsche Jungenschaft „dj 1.11“ war zeit ihres Bestehens zahlenmäßig in Leipzig wie reichsweit eine Splittergruppe. Dennoch beeinflussten der neue eigene Stil und der Mythos um die Gruppe – besonders um ihren charismatischen Anführer „Tusk“ – zahllose bündische Jugendliche bis in die späten 30er Jahre wie keine andere.83 Man spricht im Zusammenhang mit der dj 1.11 und ähnlichen Gruppen auch von den „jungenschaftlichen Bünden“ im Gegensatz zu den „traditionellen Bünden“. Anders als die traditionellen Bünde zeigte sich die dj 1.11 der „technischen Welt“ gegenüber aufgeschlossen und die Gruppen beschäftigten sich intensiv mit Literatur, Philosophie und moderner Kunst.84 Durch die von Köbel entworfene dunkelblaue „Jungenschaftsbluse“, das Gemeinschaftszelt in Form einer Kothe, Fahrt- und Lagergestaltung sowie die moderne graphische Gestaltung ihrer Publikationen fand die dj 1.11 auch in den anderen Jugendbünden Interessenten und Nachahmer. In leicht abgewandelter Form wurde die Jungenschaftsbluse (ohne Riegel) später sogar vom Deutschen Jungvolk (DJ) der Nationalsozialisten übernommen. In Leipzig gab es Anfang der 30er Jahre zwei Gruppen der dj 1.11 mit jeweils zehn Mitgliedern, angeführt von dem Medizinstudenten Karl Daniel (Jg. 1909) aus Stötteritz, welcher gleichzeitig der Gauführer für Norddeutschland war. Daniel war seit 1923 Mitglied des Bundes Deutscher Ringpfadfinder, ab 1927 bei der Deutschen Freischar und seit 1930 dj 1.11-Mitglied. Schriftführer war der Zeichner Horst Keller (Jg. 1912) aus Marienbrunn.85 Im Frühjahr 1932 kam es wegen Köbels Sympathien für den Kommunismus zu Auseinandersetzungen innerhalb der dj 1.11. Obwohl Köbel die Bundesführung abgab, spaltete sich der Bund. Vor allem die älteren Leipziger Mitglieder verließen daraufhin die dj 1.11 und schlossen sich der abgespalteten „Deutschen Jungentrucht“ an, welche der frühere dj 1.11-Gauführer von Westdeutschland Dr. Karl Müller aus Saarbrücken gegründet hatte.86 Hier waren in der Folgezeit mehrere Leipziger auf Reichsebene aktiv, so z. B. Karl Daniel und der Schrift82 83 84 85 86

„Bericht über die bisherigen Heimarbeiten“, März 1929. In: KNEIP: Wandervogel, S.208. Siehe auch S. KLEIN/B. STELMASZYK: Eberhard Köbel ‚tusk’. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.102-137. Vgl. V. HELLFELD: Bündische Jugend, S. 41f. Vgl. StAL PP-V 4860, Bl.29f. Vgl. StAL PP-S 4040, Bl.6f.

50

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

steller Werner „Assa“ Benndorf. Letzterer war außerdem Schriftführer der Zeitschrift der Jungentrucht „Der Große Wagen“, welche seit Herbst 1932 erschien. Mehr noch als bei der dj 1.11-Zeitschrift „Eisbrecher“ wurden hier gestalterische Elemente der Moderne aufgegriffen.

c.

Die Zeitschrift „Speerwacht“

Neben dem Günther-Wolff-Verlag aus Plauen und dem Voggenreiter-Verlag aus Potsdam konnte die bekannte Verlegerstadt Leipzig sich nicht als Zentrum bündischer Schriften etablieren. Die einzige größere bekannte Publikation aus Leipzig ist die Zeitschrift „Speerwacht“. Seit Januar 1932 erschien dieses Blatt im Leipziger J. J. Weber-Verlag, herausgegeben vom Deutschen Pfadfinderbund unter der Schriftleitung von Dr. Reinhard Oehler, welches gleichzeitig der 22. Jahrgang der Zeitschrift „Der Pfadfinder“ war. Im Gegensatz zu anderen Zeitschriften verschiedener Jugendbünde in dieser Zeit war das Format größer als A5 und fiel durch ein modernes Grafik- und Schriftdesign auf, welches sich an die Publikationen der dj 1.11 anlehnte. Neben Fahrtberichten findet man immer wieder Erzählungen von (spielerischen) Überfällen auf andere Zeltlager von Gruppen, wo z. B. Fahnen gestohlen wurden. Die Zeitschrift erfreute sich schnell wachsender Beliebtheit, sodass in Heft 6/1932 berichtet werden konnte, die Führer des Bundes der Reichspfadfinder und des Neudeutschland-Pfadfinderbundes hätten die „Speerwacht“ zur Jugendzeitschrift ihrer Bünde gemacht. Selbstbewusst meldet man: „10.000 Pfadfinder stehen geschlossen hinter der ‚Speerwacht’. Sie ist heute schon die größte Zeitschrift der bündischen Jugend Deutschlands.“87 Obgleich das Heft dem Deutschen Pfadfinderbund angegliedert war, wurde es inhaltlich auch von anderen Bünden in Form von Artikeln und Fahrtberichten mitgestaltet. Selbst Mitglieder der Deutschen Freischar schrieben für die „Speerwacht“. Ab Anfang 1933 wurde die „Speerwacht“ außerdem die Jugendzeitschrift der „Reichsschaft Deutscher Pfadfinder“ sowie des „Bundes Evangelischer Pfadfinder“ und der „Evangelischen Wehrschar“. Die April-Ausgabe enthielt erstmalig ein aktuell-politisches Statement, welches treffend die Einstellung vieler Bünde zum NS in dieser Zeit wiedergibt: „Bisher haben wir in einem Staat gelebt, der unser bündisches Wollen nicht verstehen konnte, weil für ihn nur die Masse und die Mehrheit Gewicht hatte, nicht aber die Leben zeugende Spannung zwischen Führer und Gefolgschaft. Darum blieben wir nicht nur dem parteipolitischen, sondern auch im Wesentlichen dem staatlichen Leben fern. Heute ist der Staat gewandelt: Wir müssen weit mehr heraus aus unserer Einsamkeit als bisher,

87

Speerwacht Nr.6/1932, S.1.

3. Jugendbünde in Leipzig

51

um dem Volke im Staate zu dienen. […] HJ und Pfadfinder haben getrennte Aufgaben, deren Lösung jedoch in beiden Fällen Deutschland dient. […] Gegenseitige Achtung und Anerkennung der verschiedenen Wege ist unsere Pflicht; wenn wir Deutschland in Wahrheit dienen wollen, werden wir beide Kreise selbstständig erhalten. […] Eine Vereinheitlichung, wie sie das faschistische Italien versucht, bedeutet in unserem Volke Verarmung.“88

Prinzipiell war man also bereit, am „nationalen Aufbruch“ mitzuarbeiten, jedoch unter völliger Wahrung der bündischen Autonomie. Zum Munsterlager des im Frühjahr 1933 von verschiedenen Jugendbünden gegründeten Großdeutschen Bundes verteilte die Speerwacht 5.000 kostenlose Exemplare an die Teilnehmer.89 In der dort verteilten Ausgabe heißt es: „Dieses Heft der Speerwacht ist ein erstes gemeinsames Werk des Großdeutschen Bundes. Es haben an seiner Gestaltung mitgearbeitet: Kameraden vom Deutschen Pfadfinderbund, von der Freischar junger Nation, von der Deutschen Freischar, von der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder und von der Jungentrucht. Wir bringen diese Speerwacht dem Bund zu seinem ersten Reichstreffen. Reinhard Oehler, Leipzig.“90 In der letzten erschienenen Ausgabe vom Juli 1933, kurz vor Auflösung des Großdeutschen Bundes, wurde der Inhalt unangekündigt radikal geändert. Die gewohnten Inhalte fehlten komplett. Stattdessen findet man Aufsätze zu „Rassenkunde“, außerdem Artikel „Die geistige Front des Nationalsozialismus“ und „Deutsche Volkskunde im Rahmen der nationalsozialistischen Bildungsarbeit“. Die Verfasser, teilweise Studiendirektoren, waren zuvor nicht in der „Speerwacht“ publizistisch in Erscheinung getreten. Das bisherige moderne Layout wich der alten Frakturschrift. Augenscheinlich wollte man somit dem wachsenden Druck des NS-Staates auf den Großdeutschen Bund entgehen und sich ausschließlich nationalsozialistischen Themen widmen. Es blieb dennoch die letzte Ausgabe.

d.

Weitere nichtkonfessionelle Bünde in Leipzig

1932 hatte die „Landesmark Sachsen“ des „Deutschen Pfadfinderbundes“ (DPB) zwischen 1.500 und 2.000 Mitglieder unter Leitung des Leipzigers Reinhard Oehler, welcher gleichzeitig auch Schriftleiter der „Speerwacht“ war. Sachsen war nach eigenen Angaben die mitgliederstärkste „Landesmark“ im Bund.

88 89 90

Speerwacht, Nr.4/1933 Ausg. B, S.12. Vgl. Einleger zur Speerwacht Nr.4/1933 Ausg. B. Vgl. Speerwacht Nr.6/1933.

52

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

1931 soll der „Gau Leipzig“ 150 Mitglieder gehabt haben.91 Diese verteilten sich auf verschiedene „Stämme“, so z. B. den „Rabenstamm“ und den „Stamm Deutsch-Orden“. Deren Mitglieder kamen v. a. aus höheren Schulen. An der Universität Leipzig waren 1932 mehr als 50 DPB-Mitglieder eingeschrieben, welche regelmäßige „Studentenabende“ durchführten.92 Zum Jahreswechsel 1932/33 vereinigten sich auf Reichsebene mehrere Pfadfindergruppen, u. a. der „Bund der Reichspfadfinder“ zur „Reichsschaft Deutscher Pfadfinder“. Bundesführer wurde Dr. Rudolf Jürgens, Privatdozent an der Universität Leipzig, Gauführer war Dr. Wilhelm Schwenke, ebenfalls aus Leipzig. Auffallend ist, dass mehrere junge Erwachsene innerhalb der Leipziger Jugendbünde an exponierten Stellen arbeiteten und teilweise akademische Titel innehatten. So war z. B. 1923 der Geschäftsstellenmitarbeiter des „Bundes Deutscher Ringpfadfinder“ Bruno Brettschneider (Jg. 1895) beim Jugendamt der Stadt Leipzig angestellt. Leiter des Bundes und „geistiges Haupt“ war der Leipziger Dr. Hugo Fritzsche (Jg. 1891), Leutnant der Reserve.93 Im ganzen Reich gab es Mitte der 20er Jahre etwa 50 Ortsgruppen der Ringpfadfinder, in Sachsen selbst mehrere. Deren Mitglieder setzten sich aus Schülern und Lehrlingen zusammen.94 Bereits 1926 wurde der Bund aufgelöst. Daraus hervor ging die „Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder“, deren oberster „Ringführer“ Dipl.-Ing. Dr. Johannes Riedel (Jg. 1889) aus Leipzig wurde.95 Ihr Heim befand sich in der Brüderstraße, unweit des Stadtzentrums. Im Frühjahr 1933 trat die Gruppe dem Großdeutschen Bund bei. Nach dessen Verbot im Juni 1933 veranstaltete die Ringgemeinschaft eine letzte Großfahrt nach Südtirol.96 Die „Freischar junger Nation“ war ebenfalls in Leipzig aktiv.97 Ende 1932 kamen für Sachsen sowohl der Führer als auch der Kanzler aus Leipzig, was die Bedeutung der Leipziger Mitglieder unterstreicht.98 Trotz der tendenziell die Republik bejahenden Ausrichtung der Deutschen Freischar muss man insgesamt für den großen Teil der Bündischen Jugend vor 1933 konstatieren, „dass völkisch-nationalistische oder nationalsozialistische 91 92 93 94 95 96 97

98

A. PESCHEL: Die bündische Jugend. In: DRESDNER GESCHICHTSVEREIN (Hg.): Wanderkluft, S.41. Speerwacht Nr.6/1932 Ausg. A, S.2. StAL PP-V 4860 Bl.1. Ebda. Bl.8, Ermittlungen Polizeipräsidium Dresden, Zentralstelle für Nachrichtenwesen, April 1923. StAL PP-V 4860, Bl.26. Vgl. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit, S. 213. Vgl. Die Heerfahrt - Jungenblatt, Heft 4, herausgegeben von der Freischar junger Nation, Berlin 1933, S.121; Die meisten Jungen des Bundes sind in Berlin, Hamburg, Danzig, Dresden, Leipzig (insgesamt 19 Städte aufgelistet). Es konnte dem Text nicht entnommen werden, ob mit „Bund“ die Freischar oder der Großdeutsche Bund gemeint ist. Der Bund - Führerblätter der Freischar junger Nation, Heft 8/1932.

4. Konfessionelle Jugendbünde

53

Vorstellungen hier einen günstigen Boden vorfanden, auch wenn viele Bündische aufgrund einer anderen Mentalität […] der NSDAP als Organisation skeptisch gegenüberstanden.“99 Anders als bei der organisierten Arbeiterjugend (und wahrscheinlich auch den Gruppen der „Jungen Gemeinde“, welche jeweiligen Kirchgemeinden in den einzelnen Stadtgebieten angeschlossen waren) kann man für bündische Gruppen in Leipzig festhalten, dass die Mitglieder der einzelnen Jugendbünde über die ganze Stadt verstreut wohnten. Die Bünde setzten sich in der Weimarer Zeit demnach nicht vorrangig aus gefestigten sozialen Zusammenhängen der einzelnen Wohngebiete zusammen, sondern bildeten sich aufgrund persönlichen Interesses und Sympathie für die Gruppe bzw. Mitglieder und Anführer. Nach 1933 wurden wegen der Weiterführung von verbotenen Jugendbünden vor allem Jugendliche aus dem Leipziger Süden und Norden bei der Polizei aktenkundig. Es muss also davon ausgegangen werden, dass diese Stadtteile bereits vor 1933 Zentren konfessioneller wie nichtkonfessioneller Jugendbünde waren. Die bündischen Gruppen werden heute in der Fachliteratur im Allgemeinen dem Bürgertum zugeordnet. Für Leipzig kann man anhand überlieferter Gestapo-Verhörprotokolle feststellen, dass neben Gymnasiasten auch zahlreiche Lehrlinge und Jungarbeiter Mitglied waren. Das bedeutet, dass vor 1933 Jugendliche aus proletarischem Elternhaus Zugang zu Jugendbünden fanden. In welchem Umfang das geschah, kann aufgrund der ungenügenden Quellenlage nicht festgestellt werden. Die Jugendbünde wurden im Übrigen seit den 20er Jahren von der politischen Abteilung der Schutzpolizei in Leipzig beobachtet.

4.

Konfessionelle Jugendbünde

Das Interesse vieler Jugendlicher an Jugendbünden und Pfadfindergruppen blieb auch den einzelnen Glaubensrichtungen in Deutschland nicht verborgen. Um die Attraktivität ihrer Jugendarbeit zu erhöhen, entstanden in den 20er Jahren verstärkt bündisch geprägte bzw. von der Pfadfinderidee beeinflusste konfessionelle Jugendgruppen. Äußerlich waren konfessionelle und nichtkonfessionelle Jugendbünde zu der Zeit kaum mehr zu unterscheiden.100 Die Ausrufung der Weimarer Republik beendete für die evangelische Kirche die enge Bindung an den Staat sowie ihre dominierende Stellung in ihm. „Die meisten Protestanten erlebten diese kirchenpolitische Zäsur als Katastrophe, weil mit der politischen Ordnung des Kaiserreiches auch das landesherrliche 99 100

KLÖNNE: Jugend, S.101; Siehe auch LAQUEUR: Jugendbewegung, S.174. Einen Überblick über die verschiedenen evangelischen Jugendgruppen bietet PRIEPKE: evangelische Jugend, S.11-28.

54

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

Kirchenregiment endgültig untergegangen war. Politisch waren sie nun heimatlos.“101 Für einen Großteil der evangelischen Kirche in Deutschland muss darum festgehalten werden, dass sie der Weimarer Republik kritisch bis ablehnend gegenüberstand.102 Es bestand vor allem der Wunsch, wieder in einem „Alldeutschen Reich“, einem autoritär-monarchischen Staat, in dem Thron und Altar vereinigt wäre, eine Art „Nationalkirche“ zu werden. Völkisch-nationalistische sowie militaristische Auffassungen waren in der evangelischen Kirche weit verbreitet, waren doch viele begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen und empfanden nun nach der Niederlage den Versailler Vertrag und den Verlust der Monarchie als Schande. Hinzu kamen die Auseinandersetzungen mit der an Bedeutung gewinnenden „marxistisch-liberalistischen Weltanschauung“.103 Daraus entwickelte sich schließlich Ende der 20er Jahre mit wachsender politischer Bedeutung die Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, welche dem Nationalsozialismus nahe stand und „dem evangelischen Glauben eine deutschvölkische Richtung zu geben versuchte“.104 Anfang der 30er Jahre wechselten einige protestantische Gruppen in Deutschland schließlich zur NS-Bewegung. Solcherart Auffassungen waren darum auch in den evangelischen Jugendgruppen zu finden, ohne dass man dies für die gesamte protestantische Jugend pauschalisieren kann. Ihre Haltung zum Nationalsozialismus ähnelte in vielerlei Hinsicht der nichtkonfessionellen Jugendbünde. Der Dachverband einer Anzahl evangelischer Verbände war das „Evangelische Jungmännerwerk“, welches etwa eine Million Jugendliche umfasste. Deren Reichwart Erich Stange war spätestens 1933 NSDAP-Mitglied.105

a.

Die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands

Bereits 1921 kam es zum organisatorischen Zusammenschluss der Pfadfindergruppen innerhalb des Evangelischen Jungmännerwerkes in Deutschland zur Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands (CP). Diese verfügte 1933 reichsweit über ca. 10.000 Mitglieder106 – und war in Leipzig mit etwa 850 Mitgliedern

101 102

103 104 105 106

C. KÖSTERS: Christliche Kirchen und nationalsozialistische Diktatur. In: SÜß/SÜß (Hg.): Das „Dritte Reich“, S.122. Vgl. LAQUEUR: Jugendbewegung, S.180; Grundlegend zur evangelischen Kirche in der Weimarer Republik und nach 1933 siehe: MEIER: Kirchenkampf, Bd.1; sowie K. NOWAK: Evangelische Kirche und Weimarer Republik, Weimar 1981; Siehe auch C. SCHUBERTWELLER: Hitlerjugend, Weinberg 1993, S.112ff. Vgl. PRIEPKE: evangelische Jugend, S.110. SCHUBERT-WELLER: Hitlerjugend, S.113. Vgl. ebda. S.119f. U. SMIDT (Hg.): Dokumente Evangelischer Jugendbünde, Stuttgart 1975, S.200; Priepke führt sogar 21.000 Mitglieder an, Vgl.: DERS.: Die evangelische Jugend, S.237.

4. Konfessionelle Jugendbünde

55

aktiv.107 In der Stadt gab es insgesamt zwölf Gruppen – „Stämme“ genannt –, die an Kirchgemeinden in den einzelnen Wohngebieten angeschlossen waren und sich verschiedene Namen gaben. Die Pfadfinder- und Jungschargruppen der Lindenauer Nathanaelkirchgemeinde nannten sich beispielsweise „Stamm Walter Flex“ und ließen sich 1932 sogar als Verein eintragen. Die Namensgebung nach dem jungen, völkisch-nationalistischen Weltkriegsteilnehmer Walter Flex108, dessen Buch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ in den 20er Jahren zu einem Bestseller wurde, zeigt, dass nicht nur die politischen Jugendverbände in dieser Zeit sich zunehmend (geistig) militarisierten, sondern dies auch bei der Christlichen Pfadfinderschaft eine Rolle spielte und eine völkischnationalistische Positionierung erkennen lässt. Dass solcherart Namensgebung kein Einzelfall war, zeigt die CP-Gruppe der Connewitzer Paul-GerhardtKirche, welche „Die Wehrwölfe“ hieß.109 In den einzelnen Jugendgruppen fanden sich christliche Jungen aus dem näheren Wohnumfeld zusammen, die seit längerem an die jeweilige Kirchgemeinde gebunden waren. Dementsprechend verschieden war ihre soziale Herkunft – Proletariat wie Bürgertum. Die Leipziger Christliche Pfadfinderschaft beteiligte sich außerdem am Aufbau des Freiwilligen Arbeitsdienstes für arbeitslose Jugendliche. Der Stamm „Walter Flex“ erwarb hierfür im Sommer 1932 ein Grundstück außerhalb Leipzigs, welches durch Spenden finanziert wurde. Im September begann dort der Arbeitsdienst von insgesamt 20 Jugendlichen, darunter 12 „Kameraden“ von der CP, Mitglieder des CVJM sowie vom zuständigen Arbeitsamt und der Inneren Mission zugewiesene Jugendliche.110 CP-Gauführer für Nordsachsen war seit 1930 der Leipziger Verwaltungssekretär Fritz Fölck aus der Südvorstadt. Fölck gehörte seit 1927 zur CP, trat 1929 in die NSDAP ein, verließ die Partei jedoch ein Jahr später zugunsten seines kirchlichen Amtes, da die Führer der CP nicht parteipolitisch gebunden sein durften. Anfang Mai 1933 wurde er wieder Mitglied der NSDAP „unter seiner alten Mitgliedsnummer“.111 Der Gau Nordsachsen der CP hatte 1930 etwa 300 Mitglieder, im Dezember 1933 sogar 1.000. Die Kluft bestand zu diesem Zeitpunkt aus grauem Hemd, violettem Halstuch, auf dem Koppelschloss eine Lilie mit Kreuz, teilweise auch aus Jungenschaftsjacken. Anfang Mai 1933 fand bei Meißen in Sachsen ein Reichslager der CP statt. Mutmaßlich wegen der veränderten politischen Situation wurde am 1. Juli 1933 107 108

109 110 111

StAL PP-V 2240, Bl.71. Walter Flex (1897-1917) war Kriegsfreiwilliger im I.WK. Sein Buch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ entstand 1915/16, nachdem sein Freund, ein Theologiestudent, als Kriegsfreiwilliger starb. Flex selbst fiel 1917. Es ist anzunehmen, dass die Namensgebung in Anlehnung an den völkischen Wehrverband „Wehrwolf“ erfolgte, welcher 1929 reichsweit 30.000 Mitglieder hatte. „Auf neuem Pfad“ Heft 1/1933, S.41f. StaL PP-V 2240, unpag.

56

I. Jugendgruppen in Leipzig am Ende der Weimarer Republik

auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der Leipziger Stamm „Walter Flex“ aufgelöst.112 Möglicherweise trat die Gruppe schon zu diesem Zeitpunkt der HJ bei. Der CP existierte sowohl reichsweit als auch in Leipzig vorerst legal weiter.

b.

Die Quickborn-Jungenschaft

Das evangelisch dominierte Leipzig verfügte dennoch über mehrere katholische Gemeinden. Die „Quickborn-Jungenschaft“ war mit mindestens zwei Gruppen in Leipzig aktiv. Reichsweit hatte der Quickborn 1931 etwa 6.000 Mitglieder. Einige Gruppen in Deutschland hatten sich 1930 vorübergehend Köbels „Rotgrauer Aktion“ angeschlossen.113 Ob dazu auch Leipzig gehörte, konnte nicht ermittelt werden. Es ist bekannt, dass mehrere Leipziger Mitglieder der Quickborn-Jungenschaft Schriften aus dem Günther-Wolff-Verlag lasen. Mindestens ein Mitglied suchte Ende 1932 Kontakt zu der aus der dj 1.11 hervorgegangenen „Jungentrucht“ in Leipzig. Aus der Quickborn-Jungenschaft und der katholischen KreuzscharJungenschaft gründete sich Pfingsten 1933 die Deutschmeister-Jungenschaft, deren Leipziger Führer gleichzeitig der sächsische Gauführer war.114

c.

Jüdische Jugendgruppen

Mitte der 20er Jahre hatte Leipzig die sechstgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland.115 Diese ist jedoch nicht als homogen anzusehen, sondern es gab – wie in anderen Städten auch – eine heterogene Struktur, welche sich in Leipzig in 13 Synagogen und vier weiteren Bethäusern widerspiegelte. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und der Relevanz für diese Arbeit soll auf ein näheres Eingehen auf die jüdische Bevölkerung Leipzigs verzichtet werden.116 Für die spätere Darstellung des Jüdischen Pfadfinderbundes nach 1933 ist vorauszuschicken, dass es seit März 1931 ein jüdisches Jugendheim in der Elsterstraße nahe der Innenstadt gab, welches die israelitische Religionsgemeinde zu diesem Zweck angemietet hatte. Sonnabends nutzten bis zu 1.000 Jugendliche aus unterschiedlichen jüdischen Jugendgruppen die Räumlichkeiten, so z. B. der „Jüdische Pfadfinderbund Deutschland“ (JPD) und der zionistisch ausgerichtete

112 113 114 115 116

Vgl. StAL PP-V 1904, Bl.4ff. Vgl. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit, S.203. Vgl. StAL PP-S 4040, Bl.15, Gestapo-Verhör von H. Kupsch am 15.1.1935. RAT DES BEZIRKES LEIPZIG (Hg.): Juden in Leipzig, Leipzig 1989, S.207. Weiterführend: K. PLOWINSKI: Die jüdische Bevölkerung Leipzigs, Diss., Leipzig 1991

4. Konfessionelle Jugendbünde

57

„Hechaluz“.117 Bereits 1931 kam es vor dem Gebäude zu Übergriffen von NSJugendgruppen auf einzelne Jugendliche.118

117

118

Siehe E. K. SALINGER: Nächstes Jahr im Kibbuz, Paderborn 1998, besonders S.13-42. Außerdem: J. HETKAMP: Die jüdische Jugendbewegung in Deutschland 1913 bis 1933, Essen 1991. Vgl. StAL PP-V 4481, unpag.

58

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

1.

Die Hitlerjugend

Bei dem vorliegenden Thema der Arbeit ist es unumgänglich, sich mit der HJ zu beschäftigen und einen Überblick über diese zu geben. Auf Grund der ungenügenden Quellenlage ist dieses Kapitel als Versuch zu verstehen, einen Einblick in die Lokalgeschichte der HJ zu geben.119 Die Darstellung soll hierfür in zwei Blöcke aufgeteilt werden. Das Jahr 1939 stellt eine Zäsur dar, da zum einen ab März die HJ-Mitgliedschaft zum Pflichtdienst aller 10- bis 18-Jährigen wurde. Des Weiteren brachte der deutsche Überfall auf Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September entscheidende Einschnitte im Leben aller Jugendlichen in Deutschland. Die Hitlerjugend war zeit ihres Bestehens – wie bereits dem Namen nach erkennbar – auf den Führer der NS-Bewegung Adolf Hitler fixiert und seit 1926 die Jugendorganisation der NSDAP. Sie war organisatorisch streng hierarchisch aufgebaut und hatte von Anfang an einen „totalitären Machtanspruch gegenüber anderen Jugendverbänden“.120 Alle anderen Jugendgruppen wurden – trotz einiger punktueller Gemeinsamkeiten besonders bei den nationalistischen Verbänden – von der HJ als „Gegner“ eingestuft. Angesichts der Funktion der Hitlerjugend zu dieser Zeit lässt sich sprechen von „einer Jugendabteilung der SA […], d. h. das Schwergewicht ihrer Tätigkeit lag bei der Unterstützung politischer Agitation, bei Straßenmärschen und Demonstrationen. […] von eigentlicher Jugendarbeit oder von Jugendbewegung konnte zu dieser Zeit bei der HJ kaum die Rede sein. Eine Ausnahme bildeten einige – bündisch geprägte – Jungvolkgruppen in der HJ.“121 Zu den Mitgliederzahlen der HJ in Deutschland vor 1933: Klönne benennt aus HJ-Publikationen die Stärke der HJ für 1932 mit 20.000 Beitragzahlenden, etwa noch mal so viele entrichteten keine Beiträge. Fast 70 Prozent der damaligen Mitglieder sollen Jungarbeiter und Lehrlinge gewesen sein.122 Insgesamt soll 1932 die HJ inklusive Jungvolk und dem Bund Deutscher Mädchen 107.956

119 120

121 122

Die erste bekannte Arbeit hierzu, wenn auch nur überblickshaft: K. KRUMSIEG: Die Entwicklung und Tätigkeit der Hitlerjugend in Leipzig, Leipzig 1995. V. HELLFELD: Bündische Jugend und Hitlerjugend, S.50; Grundlegend zur HJ siehe M. BUDDRUS: Totale Erziehung für den totalen Krieg, 2 Bde., München 2003; BRANDENBURG: Geschichte der HJ; KLOSE: Generation; KLÖNNE: Jugend. KLÖNNE: Jugendprotest und Jugendopposition. In: BROSZAT (Hg.): Bayern, S.531. Vgl. KLÖNNE: Jugend, S.19.

1. Die Hitlerjugend

59

Mitglieder gehabt haben.123 Die Zahlenangaben in der wissenschaftlichen Forschung über die HJ-Stärke beruhen alle auf einer zeitgenössischen HJ-eigenen Statistik, welche aufgrund fehlender Quellen nicht überprüft werden konnte. Es kann aber als These formuliert werden, dass diese Angaben (wie auch bei anderen politischen Jugendorganisationen in der Weimarer Zeit) besonders für den Zeitraum 1932 bis 1936 zu Propagandazwecken womöglich nach oben korrigiert wurden, um eine höhere quantitative Bedeutung der eigenen Organisation vorzutäuschen. Bereits seit Mitte der 20er Jahre gab es in Leipzig eine kleine Ortsgruppe der Hitlerjugend. 1931 soll die HJ im Gau Nordwestsachsen, zu dem Leipzig gehörte, lediglich 371 Mitglieder gehabt haben.124 Etwa zur selben Zeit gab es in Groß-Berlin knapp 800 Mitglieder und 56 Jungen im Deutschen Jungvolk. 125 Dies zeigt, dass die HJ auch in der Endphase der Weimarer Republik zahlenmäßig eine Splittergruppe war. Erst im Laufe des Jahres 1932 erhielt die HJ reichsweit einen Mitgliederzuwachs, bedingt durch die sich zuspitzende politische Situation im Land. Es sind aus dieser Zeit außerdem bereits zahlreiche Schlägereien mit Anhängern linkssozialistischer Jugendgruppen bekannt. Des Weiteren erregte die Leipziger HJ 1932 Aufsehen, als sie einige Gemälde im Museum der Bildenden Künste durch eingeritzte Hakenkreuze beschädigte sowie mit antisemitischen Parolen beschmierte.126 Alles in allem ist die Leipziger HJ trotz ihres militanten SA-ähnlichen Auftretens nicht in dem Umfang bei der Polizei aktenkundig geworden wie z. B. der aktionistische KJVD. Es kann davon ausgegangen werden, dass die HJ in Leipzig unmittelbar vor der Machtübernahme zuletzt eine Stärke von etwa 1.000 Mitgliedern gehabt haben wird. Standortführer der HJ in Leipzig war seit 1931 Alfred Frank (Jg. 1911). Er war 1930 in den NS-Schülerbund und die HJ eingetreten, seit Anfang 1931 Mitglied der NSDAP und studierte von 1931 bis 1933 in Leipzig Germanistik, Geschichte und Zeitungskunde. Im Januar 1933 wurde er zum HJ-Führer des Oberbannes Nordwestsachsen in Leipzig befördert.127 Spätestens seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 proklamierte die HJ offensiv den Führungsanspruch über die gesamte

123 124

125 126 127

KLÖNNE: Jugend, S.19. Dieselbe HJ-Statistik ausführlicher bei JAHNKE: Jugend, S.38. Vgl. KRUMMSIEG: Die Hitlerjugend in Leipzig. In: Stadt Leipzig (Hg.): Leipziger Kalender 1998, S.303; Zur Entwicklung der NSDAP in Sachsen in den 20er Jahren siehe A. WAGNER: „Machtergreifung“, Köln 2004, S.31-51; Die Leipziger HJ soll zu dieser Zeit in der Thomas-Oberschule verhältnismäßig viele Mitglieder gehabt haben. Vgl. Interview mit Hans-Jürgen Bersch in: SCHULMUSEUM LEIPZIG (Hg.): Kinder in Uniform, Leipzig 2008, S.77; Weitere Quellen konnten dazu nicht gefunden werden. Vgl. BRANDENBURG: Geschichte, S.118. Vgl. KRUMMSIEG: Hitlerjugend. In: Leipziger Kalender, S.303; Zur HJ in der Endphase der Weimarer Republik siehe besonders BRANDENBURG: Geschichte, S.114-124. Kurzbiographie siehe BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.2, S.1142.

60

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

deutsche Jugend. Neben massiver Mitgliederwerbung mussten möglichst alle konkurrierenden Jugendgruppen ausgeschaltet werden. Dazu zählten die linkssozialistischen, die konfessionellen und bündischen Jugendverbände, Sport- und Gewerkschaftsjugend. Im Frühjahr 1933 war durch den Terror der SA bereits die Arbeiterbewegung gelähmt, zerschlagen, verboten und in die Illegalität gedrängt worden. Darüber hinaus besetzte die HJ in einem „Handstreich“ am 5. April in Berlin die Geschäftsstelle des „Reichsausschusses deutscher Jugendverbände“, einer Dachorganisation, in der zuletzt die fünf bis sechs Millionen Mitglieder der unterschiedlichsten Jugendverbände zusammengefasst waren. Der letzte Vorsitzende trat seinen Posten notgedrungen an den Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach ab.128 Nur wenige Tage später wurden alle noch legalen linkssozialistischen und jüdischen Jugendverbände ausgeschlossen. In den folgenden Wochen traten einige rechte Jugendgruppen in die HJ über, wie z. B. die Bismarck- und Hindenburg-Jugend sowie der Scharnhorst-Bund. Der Großteil der einzelnen Jugendbünde hatte sich am 30. März zunächst zum „Großdeutschen Bund“ mit einer Gesamtstärke von 70.000 Mitgliedern zusammengeschlossen und hoffte so, seine bündische Eigenständigkeit unter den Nationalsozialisten behalten zu können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass mehrere Führer bündischer Gruppen, beispielsweise der Deutschen Freischar und der Freischar junger Nation, zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglieder der NSDAP waren. Der Zweck des Großdeutschen Bundes war einerseits die Bereitschaft zur Eingliederung in die NS-Bewegung und darüber hinaus der Erhalt des „bündischen Lebensraumes“.129 Strukturell war der „Großdeutsche Bund“ zu diesem Zeitpunkt sogar besser aufgestellt als die HJ. Man verfügte über jahrelang gewachsene Gruppen und in der Jugendarbeit erfahrene Führer. Diese durchaus ernstzunehmende Konkurrenz musste die HJ schnellstmöglich ausschalten.130 Am 17. Juni wurde Baldur von Schirach von Hitler zum „Jugendführer des Deutschen Reiches“ ernannt und alle noch bestehenden Jugendverbände bzw. Jugendorganisationen von Erwachsenenverbänden wurden ihm unterstellt. Am 22. Juni erklärte er in seiner ersten Verordnung rückwirkend zum 17. Juni den Großdeutschen Bund und die darin zusammengeschlossenen einzelnen Bünde für aufgelöst. Das Vermögen sei zu beschlagnahmen. Eine Eingliederung des Großdeutschen Bundes als Ganzes in die NS-Bewegung fand nicht statt. In Anbetracht der Mitgliederstärke des Bundes hätte eine wie auch immer geartete Eingliederung die HJ-Führung zu massiven Zugeständnissen gezwungen, was

128 129 130

Bis 1932 war die HJ der obersten SA-Führung unterstellt gewesen. HELLFELD: Bündischer Mythos und bündische Opposition. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.89. Vgl. auch BRANDENBURG: Geschichte, S.138f.

1. Die Hitlerjugend

61

von Seiten der Nationalsozialisten keinesfalls gewollt war. Von der Auflösung betroffen waren somit u. a. auch die in Leipzig vertretene Freischar junger Nation, Deutsche Freischar und Ringgemeinschaft deutscher Pfadfinder. Der Reichsausschuss der deutschen Jugendverbände wurde ebenfalls für aufgelöst erklärt. Viele Bündische gingen in der Folgezeit – oft gruppenweise – zum Jungvolk. Sie glaubten, dass man sich mit Wort und Tat bei der „nationalen Erhebung“ und beim Aufbau der neuen Staatsjugend einbringen sollte und somit Bewährtes aus den Jugendbünden bei der HJ Einzug halten könnte. Ludwig Liebs, der letzte sächsische Gauführer der Deutschen Freischar, berichtete später, dass in Sachsen bereits „im Herbst 1933 die überwiegende Mehrzahl aller entscheidenden Führungsstellen im Jungvolk […] von Bündischen besetzt war. Die Jungvolkgruppen hatten damals bündischen Charakter. Eine Eroberung des Jungvolkes und damit später der Hitlerjugend von innen her schien zu gelingen.“131 Man erkannte nicht, dass die HJ von Anfang an kein Interesse hatte, mit den Bündischen zu einer neuen Staatsjugend zu verschmelzen, sondern dass es einzig darum ging, die gesamte Jugend ausschließlich im Sinne der NSDAP zu organisieren und zu erziehen.132 Bereits im März 1933 hatte der Reichsjugendführer der NSDAP Baldur von Schirach in einem Rundschreiben an die Amtsleiter der NSDAP die Jugendbünde durchweg als „Feinde des Nationalsozialismus“133 bezeichnet und jegliche Anbiederungsversuche seitens der Bünde abgelehnt. Nur der „Bund der Artamanen“ wurde von ihm ausdrücklich davon ausgenommen. Die Ablehnung der Jugendbünde schloss nicht aus, dass die HJ bereits vor 1933 immer wieder Versatzstücke aus der bündischen Jugendbewegung stillschweigend übernommen hatte und selbstverständlich wurden sowohl jedes ehemalige bündische Mitglied als auch ganze Gruppen gerne in die HJ aufgenommen, wenn man sich vorbehaltlos zum Nationalsozialismus bekannte und dem früheren bündischen Leben „abschwörte“.134 Nicht selten war die HJ in der ersten Zeit nach 1933, vor allem auf den unteren und mittleren Ebenen, geradezu auf Führer aus den Jugendbünden angewiesen, denn diese verfügten über langjährige Erfahrungen auf dem Gebiet jugendgemäßer Freizeitgestaltung. Beispielgebend für die „Integration“ ist ein Liedtext, der 1934 bei der HJ in Leipzig gesungen wurde: „Einst waren wir Kommunisten, Stahlhelm und SPD Jetzt sind wir Nationalsozialisten der NSDAP.“135

131 132 133 134 135

LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.169. Siehe auch JOVY: Jugendbewegung, S.150f. Schreiben des RJF vom 8.3.1933, zitiert aus JAHNKE: Jugend, S.41/42. Dies bestätigt auch BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.463. StAL PP-S 1386, Bl.40, Verhör eines ehem. Jungstahlhelm-Mitgliedes.

62

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Die konfessionellen Jugendverbände waren somit die letzte Hürde, die die HJ auf dem Weg zur alleinigen Jugendorganisation in Deutschland nehmen musste. Bezüglich der evangelischen gelang dies noch im Dezember 1933. In einem Abkommen zwischen Schirach und dem evangelischen Reichsbischof Ludwig Müller wurde die zukünftige konfessionelle Jugendarbeit auf den rein seelsorgerischen Bereich beschränkt. Außerdem mussten alle Mitglieder des evangelischen Jugendwerkes unter 18 Jahren gleichzeitig HJ-Mitglied sein.136 Durch die genannten Maßnahmen hatten sich die reichsweiten Mitgliederzahlen von HJ und DJ bereits Ende 1933 vervielfacht (DJ knapp 1,5 Mio., HJ über 800.000).137 Dies stellte die Staatsjugend vor schwerwiegende organisatorische Probleme, vor allem bei qualifiziertem Führungspersonal und Räumlichkeiten. Dieser beiden Hauptprobleme wurde die HJ im Übrigen zeit ihres Bestehens nie vollständig Herr. Im Zusammenhang mit der „Röhm-Affäre“ 1934 versuchte auch die sächsische HJ, sich mehrerer ehemaliger Bündischer in ihren Reihen zu entledigen. In der Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli wurde in Plauen der dortige HJ-Bannführer Karl Lämmermann, welcher vor 1933 aktiv bei der Deutschen Freischar war, von SS-Angehörigen brutal ermordet.138 Weitere frühere Bündische sollen auf einer Todesliste gestanden haben, welche aus verschiedenen Umständen nicht ausgeführt wurde.139 Außerdem verhaftete man wegen angeblicher Homosexualität den Obergebietsführer der HJ in Sachsen Schnaedter140 und setzte den Dresdner Gebietsführer Ludwig141 ab. Der in der HJ als Bildungsreferent tätige letzte sächsische Gauführer der Deutschen Freischar Ludwig Liebs wurde wegen seiner bündischen Vergangenheit ebenfalls entlassen.142 Daran schloss sich eine „große Reorganisation“ der sächsischen HJ-Führung an.143 Inwieweit diese Maßnahmen konkret auch Leipzig betrafen, konnte nicht ermittelt werden. Für die ersten Jahre ist besonders für das Jungvolk bekannt, dass hier nicht wenige übergetretene Gruppen aus früheren Jugendbünden zumindest teilweise ihr vor 1933 gepflegtes Gruppenleben weiterführten.144 Klönne spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „halb-bündischen Periode“ beim Jungvolk 136 137 138 139 140

141 142 143 144

Vgl. KLÖNNE: Jugend, S.23. Vgl. JAHNKE: Jugend, S.38. Ausführlich in F. SCHMIDT: Mord droht den Männern auf der anderen Seite, Edermünde 2005, S.39ff. Siehe ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.170f.; Sowie BRANDENBURG: Geschichte, S.196. Kurzbiographie von Franz Schnaedter (Jg. 1906) bei BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.2, S.1208; Zu den Auseinandersetzungen zwischen Schnaedter und dem Plauener HJOberbannführer Melchior siehe SCHMIDT: Mord, S.35ff. Kurzbiographie Martin Ludwig (Jg. 1907) bei BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.2, S.1182. Siehe ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.170f. DEUTSCHLANDBERICHTE DER SOPADE 1934, Bd.1, Frankfurt/M. 1980, S.564f. Zur „Röhm-Affäre“ in Sachsen auch WAGNER: „Machtergreifung“, S.301-316. In Sachsen v.a. durch frühere DF-Mitglieder. Siehe: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.169.

1. Die Hitlerjugend

63

bis etwa 1935/36.145 Dieser Umstand war nicht der Toleranz der HJ geschuldet, sondern vielmehr der Tatsache, dass die HJ in der Anfangszeit nach 1933 nicht alle ihre zahllosen neuen Gruppen kontrollieren und in ihrem Sinne führen und erziehen konnte. Nachdem die HJ ab 1935 durch Führerschulungen wieder verstärkt auf eigene Kräfte bei der Gruppenführung zurückgreifen konnte, setzte eine Kampagne ein, die den verbliebenen bündischen Geist aus der HJ endgültig verdrängte. Die „Bündische Jugend“ wurde so zu einem Hauptfeind der HJ erklärt, obgleich die Jugendbünde bereits seit Ende 1933 de facto nicht mehr existierten. Auf diese Problematik wird später noch näher eingegangen. Mit dem „Gesetz über die Hitler-Jugend“ vom 1. Dezember 1936 wurden die verschiedenen Funktionen im NS-Staat, die die HJ seit Jahren anstrebte und praktizierte, gesetzlich fixiert. So war ihr nun rechtlich garantiert, dass sie außerhalb von Elternhaus und Schule alleiniger „Erziehungsträger“ ist.146 Nach wie vor war die Mitgliedschaft in der HJ, zumindest auf dem Papier, immer noch freiwillig. Besonders an den Volksschulen und Gymnasien wurde es für Schüler jedoch zunehmend schwerer, sich dem HJ-Dienst zu entziehen.147 Ab 1936 nahm man die neuen Mitglieder schuljahrgangsweise in die Staatsjugend auf und es erfolgte eine Neustrukturierung streng nach Altersgruppen und Wohnbezirken. Das stellenweise noch bis zu diesem Zeitpunkt bei einigen Jungvolk-Gruppen herrschende bündisch geprägte Gruppenleben verschwand somit vollständig.

a.

Die Hitlerjugend in Leipzig 1933 bis 1938

Die vor 1933 den bearbeiteten Akten nach nicht in größerem Umfang in Erscheinung getretene HJ in Leipzig hatte ab dem Frühjahr 1933 enorme organisatorische Aufgaben zu bewältigen. Durch die Eingliederung anderer Jugendverbände, vor allem der evangelischen Jugend Anfang 1934, wuchs die Mitgliederzahl rasch. Diese Mitglieder mussten nicht nur organisatorisch erfasst und von geeigneten Führern angeleitet, sondern auch in Heimen untergebracht werden. Neben den der HJ jetzt uneingeschränkt zur Verfügung stehenden städtischen Jugendheimen und Sportplätzen war darüber hinaus die Anmietung weiterer Räumlichkeiten nötig. Im Herbst 1935 verteilten sich die verschiedenen Gruppen der HJ, des Jungvolkes und des BDM auf insgesamt 220 „Heime“ in der ganzen Stadt. Diese Unterkünfte waren in der Regel nicht mehr als ein angemieteter Kellerraum, ein Dachboden oder eine Gartenlaube. Das Büro des

145 146 147

KLÖNNE: Jugend, S.69; KENKMANN: Wilde Jugend, S.71; Zu den Anfangserfolgen beim Jungvolk siehe BRANDENBURG: Geschichte, S.162. Vgl. KLÖNNE: Jugend, S.30/31. Siehe auch BRANDENBURG: Geschichte, S.178.

64

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Leipziger HJ-Gebietsführers Frank und die Hauptgeschäftsstelle befanden sich in der Töpferstraße, einem Jugendheim des Jugendamtes. Im Folgenden soll zunächst kurz auf das Verhältnis zwischen Leipziger Jugendamt und HJ in den ersten Jahren der NS-Diktatur eingegangen werden. Die HJ hatte sich reichsweit nicht nur die Aufgabe gestellt, alleinige Jugendorganisation zu sein, sondern der Reichsjugendführer proklamierte auch die staatliche und kommunale Jugendpflege als Aufgabe der HJ. Im Sommer 1933 wurde darum der Gebietsführer Frank als „Jugendführer“ der Kreishauptmannschaft Leipzig (Leipzig und Leipziger Land) eingesetzt. Im September schickte er, unter Bezugnahme auf den Reichsjugendführer Baldur von Schirach, eine Anordnung an die Leipziger Stadtverwaltung, ihm alle jugendpflegerischen Aufgaben „wie die Verteilung der öffentlichen Jugendpflegemittel, die Verteilung der Spiel- und Sportplätze und die Verwaltung des Jugendgeländes Stötteritz“148 zu übergeben. Die Jugendpflegearbeit wurde daraufhin an Frank abgetreten, über die Mittelvergabe konnte sich das Jugendamt jedoch noch „Koordinationsaufgaben“ sichern. Vertreter des städtischen Jugendamtes saßen hierfür mit im „Führerrat“ der Jugendführung der Kreishauptmannschaft Leipzig. Die HJ stimmte dem zu, „hatte sie doch bereits im Vorfeld der Entscheidung die ansonsten großzügige Unterstützung der Verwaltung gegenüber ihren Ansprüchen erlebt.“149 So wurde in der Folgezeit auch nahezu jede finanzielle Hilfe, um die die HJ das Jugendamt bat, gewährt. Das Leipziger Jugendamt als städtische Institution musste nicht nur Aufgabengebiete an die HJ abtreten, sondern in der Folgezeit auch an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und die Deutsche Arbeitsfront (DAF). Mit Letzterer konkurrierte nach 1933 sowohl die HJ als auch das Jugendamt um die Betreuung arbeitsloser Jugendlicher in Leipzig. Letztlich konnten sich HJ, NSV und Jugendamt auf eine Kompetenzenteilung bei der Jugendpflege einigen.150 Die Führung der Leipziger HJ suchte aber auch wegen anderer Angelegenheiten den Kontakt zur Leipziger Stadtverwaltung. 1933 und 1934 trat man beispielsweise an das Rathaus heran mit der Bitte um Gratiskarten für die Generalproben des Gewandhauses, um das Zur-Verfügung-Stellen von Notenständern oder kostenlosen Kohlen für die Beheizung der HJ-Heime. Zu Aufmärschen und Feierlichkeiten der HJ wurde stets der Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler eingeladen und gebeten, eine Ansprache zu halten. Je nach zeitlicher Möglichkeit kam Goerdeler diesen Einladungen nach.151 An öffentlichkeitswirksamen Aktionen führte die HJ beispielsweise im Juni 1934 reichsweit „einen großen Feldzug gegen Miesmacher und Kritikaster mit

148 149 150 151

J. PAULUS: Kommunale Wohlfahrtspolitik in Leipzig 1930 bis 1945, Köln 1998, S.201. Ebda. S.202. Siehe ebda., besonders S.197-211. Siehe Stadtarchiv Leipzig Kap.3 Nr.70, Bh4, Bd.1.

1. Die Hitlerjugend

65

dem Ziele durch, diese staatsfeindlichen Elemente nicht nur zum Schweigen zu bringen, sondern völlig zu vernichten.“152 Am Montag, dem 18. Juni fand hierzu abends in Leipzig eine Kundgebung auf dem Augustusplatz statt. 1935 gaben sich die Stadt Leipzig und die HJ gemeinsam „die Ehre“ zum Jugendsportfest einzuladen.153 Neben Aufmärschen und Sportwettkämpfen führte die Leipziger HJ jährlich Sommerlager mit teilweise mehreren Tausend Jugendlichen durch. Darüber hinaus gab es auch die bekannten „Sonderformationen“. Für Leipzig bekannt sind Nachrichten-HJ, Reiter-HJ, Motor-HJ, Flieger-HJ, Musik, Fanfaren und Streifendienst. Als Besonderheit für die Stadt wurde der bekannte Thomaner-Chor als Sonderformation geführt.154 Diese Sondereinheiten waren besonders in den ersten Jahren nach 1933 wichtig, um Jugendliche mit speziellen Interessen für die HJ zu gewinnen. Hierbei zielten vor allem die vier erstgenannten Einheiten eindeutig auf die Vorbereitung des Wehrdienstes und somit auf den Krieg. Gleichzeitig boten die Formationen den dort aktiven Mitgliedern eine elitäre Absonderung vom übrigen „Fußvolk“ der HJ. Immer wieder kam es nach 1933 seitens der HJ im Stile der SA zu Handgreiflichkeiten, wenn Jugendliche auf der Straße beim Vorbeimarsch einer NSFormation die Fahnen nicht grüßen wollten. Beispielgebend sei folgende Begebenheit aus Leipzig um 1934 aufgeführt: „Einmal schickte mich mein Chef zu einem Kaffeegeschäft in der Grimmaischen Straße. […] Hinter mir marschiert eine HJ-Kolonne. Voran eine HJ-Fahne. Ich habe mich beeilt, weil ich die Fahne nicht grüßen will. Statt aber schnell bis zum Augustusplatz zu gehen, […] bleibe ich bei dem Geschäft stehen. Hineingehen kann ich nicht, denn ein paar Angestellte stehen in der Ladentür und blockieren den Zugang. Sie haben den Arm erhoben. Ich stelle mich dumm, […] stehe mit dem Rücken zur Straße und tue so, als ob ich die Fahne und die HJ-Kolonne nicht sähe. Eifrig rede ich auf die Türsteher ein. Plötzlich werde ich herumgerissen. Der Führer der HJ-Kolonne brüllt mich an: Du hast es wohl nicht nötig, die Fahne zu grüßen? Und ehe ich scheinheilig erklären kann, ich hätte sie doch nicht gesehen, erhalte ich eine Ohrfeige. Meine Brille fliegt auf die Straße und zersplittert.“155

Diese Begebenheit war in Leipzig kein Einzelfall. In Dresden sollen solche HJKolonnen sogar stellenweise von der Polizei begleitet worden sein, weil die Hitlerjungen zuvor Passanten, die die Fahne nicht grüßten, „schwer misshandelt“ hätten.156 152 153 154

155 156

Stadtarchiv Leipzig Kap.3 Nr.70, Bh4, Bd.1, Bl.56. Ebda. Bl.144. Siehe KRUMSIEG: Entwicklung der HJ, S.44; Im Januar 1935 beantragte Thomaskantor Prof. Straube, dass die wöchentlichen Auftritte des Chors dem HJ- bzw. dem DJ-Dienst gleichgestellt werden. Siehe: Stadtarchiv Leipzig SchulA Kap.III Nr.307, Bl.199. PABST: Aufzeichnungen, S.35f. DEUTSCHLAND-BERICHTE SOPADE, Bd.2 (1935), S.218.

66

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Im Juli 1934 wurde der HJ-Streifendienst eingeführt. Die 16- bis 18-Jährigen hatten zum einen die Aufgabe, die Mitglieder der Staatsjugend in der Öffentlichkeit zu überwachen.157 Zum anderen kontrollierten sie auch die übrige Jugend und suchten beispielsweise nach verbotenen Abzeichen und Kleidungsstücken von Jugendgruppen aus der Weimarer Zeit. Auch wurden, teilweise in Zivilkleidung, bei Jugendlichen beliebte Straßen und Plätze observiert. Offiziell hatte der HJ-Streifendienst nur begrenzte Vollmachten. So musste er für Namensfeststellungen oder gar Festnahmen im Normalfall stets Polizeibeamte hinzuziehen. Immer wieder kam es aber vor, dass Mitglieder des Streifendienstes eigenmächtig Festnahmen durchführten. In Leipzig wurde beispielsweise ein Mitglied des Jungvolkes im September 1935 in der Innenstadt von einem Streifendienstler in Zivil zu einer Polizeiwache mitgenommen, da er neben Kleidungsstücken des DJ eine Bluse der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder und ein Koppel des inzwischen verbotenen „Späherbundes“ trug. Die Gestapo ermittelte sogleich gegen den 20-jährigen Kaufmannslehrling aus dem Leipziger Osten, konnte ihm aber nur das Tragen dieser Kleidungsstücke nachweisen. Vom Amtsgericht Leipzig wurde er dafür im Januar 1936 wegen „Aufrechterhaltung der verbotenen Vereinigung der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder“ zu einer Geldstrafe von 150 Reichsmark verurteilt.158 Besonders unter den Nicht-HJMitgliedern wurde der Streifendienst als schikanierend empfunden und war entsprechend unbeliebt. Seit Mitte der 30er Jahre postierte sich der HJ-Streifendienst außerdem regelmäßig an den Wochenenden und Feiertagen an den Ausfallstraßen, um wandernde Jugendliche jenseits der Staatsjugend namentlich feststellen zu können. Hierfür hatte die Reichsjugendführung bereits für Pfingsten 1935 deutschlandweit einen „einheitlichen Einsatz“ des Streifendienstes angeordnet. Neben den Hauptverkehrsstraßen wurden auch Ausflugsorte und Jugendherbergen überwacht. Neben den eigenen sollten auch „nichtnationalsozialistische Jugendgruppen“ kontrolliert werden. Die Anordnung wies darauf hin, dass rechtlich gesehen der Streifendienst nichts gegen diese Gruppen unternehmen dürfe. Dennoch sollte es möglich sein, „bei höflichem, bestimmtem Auftreten“ an die gewünschten Informationen zu kommen.159 Wie eifrig der Streifendienst seine Arbeit verrichtete, beschreibt folgende Begebenheit aus dem Jahr 1938: Zu Pfingsten fuhren drei Lehrlinge mit ihren Fahrrädern zu einem Ausflug außerhalb Leipzigs: „In Schkeuditz-Ost war ein HJ-Streifenlager. Die Streifendienstleute forderten uns auf, anzuhalten. Häckel kam dem nicht nach, sondern fuhr weiter. Grabenstätter und ich folgten dem Beispiel. […] Plötzlich kam ein Streifendienstjunge hinter mir hergefahren 157 158 159

Hierzu auch BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.369ff. StAL PP-S 4463. HJ-Streifendienstbefehl Nr.1, aus JAHNKE: Jugend, S.85f.

1. Die Hitlerjugend

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und forderte mich auf abzusteigen. Da ich nicht in der HJ bin, habe ich geglaubt, dieser Aufforderung nicht nachkommen zu müssen, denn ich bin der Meinung gewesen, dass der Streifendienst nur zu Kontrollen der HJ da ist. Ich wurde aber von dem Hitlerjungen mit dem Fahrrad nach rechts abgedrängt und stürzte dadurch auf die Gleisanlagen der Straßenbahn.“160

In der darauf folgenden Auseinandersetzung wurde der Hitlerjunge geohrfeigt und die Jugendlichen mussten auf die Schkeuditzer Polizeiwache. Der tätliche Angriff auf den Streifendienstler blieb letztlich folgenlos.

b.

Die Mitgliederentwicklung in Leipzig 1935 bis 1938

Die eingesehenen Akten geben keine Auskunft darüber, wie sich in Leipzig die Mitgliederentwicklung der HJ von 1933 bis 1935 vollzog. Von den 850 Mitgliedern der Leipziger Christlichen Pfadfinderschaft sollen nach Inkrafttreten des Eingliederungsvertrages im Frühjahr 1934 80 Prozent in die HJ bzw. ins Jungvolk gewechselt sein.161 Weitere Zahlen anderer Gruppen liegen leider nicht vor. Bis Ende 1934 mussten außerdem reichsweit Jugendliche, die in einem Sportverein organisiert waren, in die HJ eintreten, wenn sie dort weiter aktiv sein wollten.162 Anhand von mehreren Beispielen ist nachweisbar, dass die offiziellen Alterstrennungen zwischen Jungvolk (10- bis 14-Jährige) und HJ (14- bis 18-Jährige) in den ersten Jahren in der Praxis kaum eingehalten wurden. Es gab bis 1936 die Möglichkeit, sich die HJ- oder DJ-Gruppe frei zu wählen.163 Besonders beim Jungvolk sind viele Jugendliche namentlich bekannt, die aus früheren Bünden kamen. Oftmals wurde auch der altersbedingt geforderte Wechsel von DJ zur HJ nicht vollzogen. In einem Bericht der Sopade vom Juni 1935 heißt es für Leipzig, dass in den „proletarischen Vierteln“ die HJ „nicht recht vorankommt und jedenfalls einen viel geringeren Prozentsatz von Jugendlichen und Schülern erfasst als in den bürgerlichen Vierteln.“164 Die Probleme bei der Mitgliedergewinnung waren Anfang 1935 in ganz Deutschland sichtbar, als die Mitgliederzahlen – nach dem explosionsartigen Wachstum von 1933 und 1934 – zu stagnieren begannen und Ende 1935 stellenweise sogar leicht zurückgingen.165 Dem Anspruch, die gesamte deutsche Jugend zu erfassen, folgten darum immer wieder groß angelegte

160 161 162 163 164 165

HStAD SG Freiberg 2Js/SG 819/38, Bl.3, Gestapo-Verhör von Karl Haubenreißer vom 1.8.1938. StAL PP-V 3340 unpag. Gestapo-Verhör von Fritz Fölck am 18.6.1937. Vgl. KLOSE: Generation, S.112f. Ebda. S.70. DEUTSCHLAND-BERICHTE SOPADE Bd.2, S.687. Vgl. BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.255; KENKMANN: Wilde Jugend, S.72.

68

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Werbeaktionen. Ende April 1935 warb man beispielsweise in ganz Sachsen massiv unter den Schülern für die HJ. Es wurde angewiesen, dass an den Schulen eine Unterrichtsstunde für Werbung verwendet wird. An den folgenden Tagen fanden in den einzelnen „Bannen“ der HJ Aufmärsche statt. Im Herbst 1935 umfasste die Staatsjugend im Stadtgebiet und der Amtshauptmannschaft Leipzig 6.800 Jungen in der HJ, organisiert im Bann 107, 11.000 Jungen des DJ, organisiert im Jungbann 1/107 und 2/107 sowie 10.500 Mädchen des BDM, organisiert im Untergau 107.166 Für die Stadt Leipzig selbst gibt es eine Aufstellung der Mitgliederentwicklung der HJ in Leipzig vom 1. Mai 1935.167 Schulgattungen

Schülerzahl

Prozent

28.844 20.201 8.036 2.586 458 1.294 2.858

HJ samt Gliederungen 8.199 5.162 4.774 1.224 309 371 1.382

Volksschulen Berufsschulen höhere Schulen Höhere Berufsschulen Private höhere Schulen Private Volksschulen Private gewerbliche Schulen Gesamt

64.277

21.421

33,32

28,42 25,55 59,40 47,33 67,46 28,67 48

Auffällig ist der hohe Anteil an Nicht-HJ-Mitgliedern in Berufsschulen. So waren beispielsweise von 783 Berufsschülern der VI. Knabenberufsschule in Leipzig-Kleinzschocher nur 189 in der HJ (24%).168 Ähnlich verhielt es sich an der V. Knabenberufsschule im Leipziger Osten. An der Mädchenberufsschule in Leipzig-Connewitz waren von 1.116 Mädchen gerade mal 160 im BDM (14,3%).169 Der Reichsdurchschnitt lag Ende 1935 bei 48,2 Prozent aller 10- bis 18Jährigen, die bereits in der Staatsjugend Mitglied waren.170 Daraus lässt sich ersehen, dass Leipzig 15 Prozent unter dem Durchschnitt lag. In dieser Zeit gab es außerdem immer wieder Austritte aus der Staatsjugend. „Auf Wunsch meiner Mutter bin ich ausgeschieden, weil in unserem Jungzug lauter Streitigkeiten waren.“171 Auch kann davon ausgegangen werden, dass es eine unbekannte

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.315, Bl.14. Stadtarchiv Leipzig SchuA 3/305, Bl.30. 168 Ebda. Bl.47. 169 Ebda. Bl.53. 170 J AHNKE: Jugend unter der NS-Diktatur, S.38. 171 HStADD 2Js/SG 503/38, Bl.3, Verhör eines ehem. DJ-Mitgliedes 1936. 166 167

1. Die Hitlerjugend

69

Anzahl von „Karteileichen“ gegeben hat, also Jugendlichen, die offiziell noch Mitglied waren, seit einiger Zeit aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht mehr zum „Dienst“ gingen. 1936 erklärte die HJ reichsweit zum „Jahr des deutschen Jungvolks“. Ziel war, alle sich im Jungvolkalter befindenden Schüler komplett im DJ zu erfassen. Hierzu führte man wieder massive Werbeaktionen an Schulen durch. Von nun an wurden jeweils am 20. April die Schüler jahrgangsweise in das Jungvolk aufgenommen.172 Die Mitgliederentwicklung der HJ in Leipzig Stand 1. Mai 1936:173 Schulgattungen

Schülerzahl

Prozent

28.021 24.861 7.445 2.152 471 1.149 2.897

HJ samt Gliederungen 22.301 8.573 6.977 1.822 444 911 1.836

Volksschulen Berufsschulen höhere Schulen Höhere Berufsschulen Private höhere Schulen Private Volksschulen Private gewerbliche Schulen Gesamt

66.996

42.864

63,9

79,5 34,4 93,7 48,6 94,2 79,2 63,3

Innerhalb eines Jahres hatte die HJ ihren Mitgliederstand in Leipzig verdoppelt und lag sogar leicht über dem Reichsdurchschnitt von 62,8 Prozent Ende 1936.174 Es ist augenscheinlich, dass diese zahlreichen Eintritte nicht vorrangig aus nationalsozialistischer Überzeugung der Schüler (oder deren Eltern) erfolgten, denn dazu hätten sie bereits die Jahre zuvor Gelegenheit gehabt. Wahrscheinlicher ist, dass die Schüler an Volksschulen und Gymnasien im Verlauf des letzten Jahres massiv dazu beworben und vor allem gedrängt wurden.175 Besonders an den Gymnasien ist die hohe Mitgliederzahl zum damaligen Zeitpunkt auffällig. Zum einen umwarb die HJ die Gymnasiasten als „ältere und sozial arriviertere Schüler“, weil sie als Führer für Jüngere in Frage kamen.176 Zum anderen war der Druck seitens der Schule und des Elternhauses auch größer, wenn es darum ging, einen Platz auf dem Gymnasium und anschließend einen Studienplatz zu bekommen.177 Es bleibt festzuhalten, dass die (offiziell

172 173 174 175 176 177

KLÖNNE: Jugend, S.27. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.2, Bl.16. JAHNKE: Jugend, S.38. Siehe auch SCHOTT/STEINACKER: Wilde Gesellen, S.33. Vgl. KATER: Hitlerjugend, S.26. Siehe auch KENKMANN: Wilde Jugend, S.67.

70

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

immer noch freiwillige) Mitgliedschaft in der Staatsjugend ab 1936 vornehmlich durch die Werbung der HJ, der Schule und auch durch gruppeninterne Zwänge innerhalb der einzelnen Schulklassen zustande kam. Der zunehmende Zwangscharakter der HJ schließt nicht aus, dass zu diesem Zeitpunkt ein Großteil der Kinder und Jugendlichen dieses Freizeitangebot jenseits von Elternhaus und Schule gerne annahm und mit Interesse oder gar Begeisterung Mitglied wurde. Lediglich die Werbung an den Berufsschulen für die HJ zeigte weiterhin nur geringe Wirkung. Das Leipziger Schul- und Bildungsamt, welches die HJ-Statistiken erstellte, führte für die Erhebung 1936 auch Gründe der Nichtmitgliedschaft auf: „Der Häufigkeit nach: schlechte wirtschaftliche Lage der Eltern, gesundheitliche Gründe und körperliche Behinderung, Angehörigkeit zu Turn-, Sport- oder Schwimmvereinen, Erlaubnisverweigerung seitens der Eltern, aus politischen Gründen oder ohne Angabe von Gründen, aus Abneigung gegen den Staatsjugendtag und religiöse Bedenken. Kinder des 5. und 6. Schuljahres geben an, dass sie erst später eintreten wollen […], einzelne Kinder waren bereits im DJ und in der JM, sind aber wieder ausgeschieden, Missbehagen über das Wandern unter anderer als elterlicher oder schulischer Aufsicht, […] manche Kinder müssen ‚zu Hause helfen’.“178

Es kann davon ausgegangen werden, dass verschiedene Schüler, die aus politischen Gründen (eigene oder seitens der Eltern) nicht ins DJ wollten, oftmals andere Gründe vorgeschoben haben werden. Interessant ist ein Blick auf die Mitgliederentwicklung der HJ in Leipzig zweieinhalb Jahre später vom Oktober 1938.179 Schulgattungen

Schülerzahl

Volksschulen Plichtberufsschulen Höhere Schulen Höhere Berufsschulen Private höhere Schulen Private Volksschulen Private gewerbliche Schulen Gesamt

178 179

Prozent

26.648 21.146 6.915 1.675 124 507 2.530

HJ samt Gliederungen 20.342 11.823 6.698 1.576 120 467 2.136

59.545

42.162

72,5

76,4 55,2 96,9 94,1 96,8 92,2 84,5

Stadtarchiv Leipzig SchuA 1/405, Bd.2, Brief vom 9.6.1936 an den kommissarischen Leiter des Ministeriums für Volksbildung Dresden, Bl.18. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.2, Bl.60.

1. Die Hitlerjugend

71

In dieser Zeit lag reichsweit der Durchschnitt bei 77,2 Prozent, wobei Leipzig etwa fünf Prozent darunter lag.180 Zwar konnte die HJ ihre Mitgliederzahlen in Leipzig innerhalb von zwei Jahren noch einmal um zehn Prozent auf gut 70 Prozent steigern, dennoch sind im Oktober 1938 noch über 16.000 Schüler und Jugendliche im HJ- bzw. DJ-fähigen Alter nicht Mitglied. Besonders auffällig ist dies nach wie vor an den Pflichtberufsschulen. Überliefert sind für 1938 von den Volksschulen die angegebenen Gründe für den Nichteintritt oder Austritt aus der HJ. Von den im Oktober gut 6.000 Schülern an Leipziger Volksschulen, die nicht Mitglied der HJ waren, gaben beispielsweise 1.270 an, dafür kein Geld zu haben, bei 482 hatten die Eltern die Mitgliedschaft abgelehnt, 142 hatten „keine Lust zum Eintritt“, 365 sind wieder entlassen worden, wegen Dienstversäumnissen oder Beitragsrückständen.181 Auch hier muss wieder davon ausgegangen werden, dass politische Vorbehalte gegenüber der HJ größtenteils verschwiegen wurden. Wie viele die HJ aus politischen Gründen tatsächlich ablehnten, lässt sich anhand der Akten nicht rekonstruieren. Über die Probleme, die vielen neuen Mitglieder durch geeignete Führer anzuleiten, konnte anhand der eingesehenen Akten für Leipzig konkret nichts ermittelt werden. Es ist aber augenscheinlich, dass der zweite Mitgliederansturm ab 1936 die HJ wiederholt vor große organisatorische Schwierigkeiten stellte. Von den reichsweit etwa fünf Millionen HJ-Mitgliedern im Jahr 1936 waren knapp 500.000 Führerinnen und Führer. Von ihnen hatten jedoch nur etwa 16 Prozent hierfür eine Schulung erhalten.182 Auf dem Weg zur Erfassung aller Jugendlichen in der HJ fand am Sonntag, dem 25. September 1938 in allen sächsischen Städten und Gemeinden, veranstaltet von der HJ-Gebietsführung Sachsen, der erste „Gesamtappell aller männlichen Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren“ statt, „gleichgültig, ob sie der HJ angehören oder nicht“.183

c.

Das Problem der Heimbeschaffung

Zeit ihres Bestehens hatte die HJ massive Probleme, ihre Gruppen in geeigneten Räumlichkeiten unterzubringen.184 Grund waren die bis 1939 sprunghaft wachsenden Mitgliederzahlen, gefolgt von den sich jährlich verschärfenden Kriegsbedingungen. Erster Ansprechpartner für die Raumbeschaffung sowie

180 181 182 183 184

JAHNKE: Jugend, S.38. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.2, Bl.61. Vgl. KATER: Hitlerjugend, S.51. JAHNKE: Jugend, S.154. Zur Problematik Heimbeschaffung auch BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.2, S.992-1006.

72

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

den finanziellen Unterhalt der HJ-Heime war die Kommune, konkret das Jugendamt der Stadt Leipzig. Darüber hinaus wurden von der HJ-Führung auf dem freien Immobilienmarkt Räumlichkeiten für ihre „Stämme“ angemietet. Im Mai 1937 legte man an der Hindenburgstraße (heute Am Sportforum) unweit des Elsterflutbettes den Grundstein für das damals größte HJ-Heim Deutschlands. In den Leipziger Tageszeitungen wurde verkündet, dass das Heim in nur fünf Monaten fertig sein solle.185 Doch aufgrund steigender Kosten und Bauverzögerungen konnte erst nach knapp drei Jahren das „HermannGöring-Heim“ in Betrieb genommen werden. Anspruch und Wirklichkeit klafften bei der HJ weit auseinander. Augenscheinlich fehlte es der Leipziger HJ-Führung auch an einem mittelfristigen Konzept bezüglich der Heimsituation, obwohl die HJ bekanntermaßen spätestens seit 1933 anstrebte, alle Jugendlichen in Deutschland in ihren Reihen organisatorisch zu erfassen. So schrieb beispielsweise die HJ-Bannführung im Oktober 1936 an Stadtrat Teutsch (Leiter des Jugendamtes und Mitglied der NSDAP), im Leipziger Süden hätte man seit April durch eigene Anmietung eines Hauses in der Prinz-Eugen-Straße die Heimfrage „glänzend gelöst. […] Die Belegung der Heime nachmittags und abends durch Jungen und Mädel ist tageweise getrennt […]. Es werden dort wöchentlich 1.200 - 1.300 Jugendliche reibungslos untergebracht.“186 Nur ein knappes Jahr später plante die HJ ein Großheim auf dem Gelände des ehemaligen Ausfluglokals „Eiskeller“ zu errichten, welches sich keine 50 Meter vom Heim in der Prinz-Eugen-Straße befindet. Grund war nach HJ-Angaben die plötzliche „Raumnot“ im Leipziger Süden, infolge steigender Mitgliederzahlen. Daraufhin kaufte die Stadt Leipzig das Gelände des „Eiskeller“ und überließ es der HJ. Die Kosten für den Umbau übernahm ebenfalls die Stadt. Dieser zog sich bis mindestens 1941 hin. Nach Fertigstellung informierte die HJ überraschend das Jugendamt über folgenden Umstand: „Im neu errichteten Heim Koburger Str. 3 reichen die Räume gerade für den BDM und die Hitler-Jugend einschließlich Jungvolk muss vorläufig in der Prinz-Eugen-Str.4 verbleiben.“187 Die Kosten für das dortige Heim trug ebenfalls das Jugendamt weiter. An dieser Stelle muss besonders darauf hingewiesen werden, dass die Auseinandersetzungen zwischen HJ und Jugendamt keinesfalls aufgrund eventueller politischer Vorbehalte seitens der Stadtverwaltung gegenüber der NSJugendorganisation geführt wurden. Vielmehr handelte es sich um die Konkurrenz zweier NS-Institutionen, welche jeweils die eigenen Interessen durchsetzen wollten. Auffällig ist, besonders was die Heimbeschaffungsfrage angeht, dass

185 186 187

Vgl. Leipziger Neueste Nachrichten 28./29.3.1937. In: Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.326, Bl.6c. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.315, Bl.55. Ebda. Bl.52.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

73

das Leipziger Jugendamt letztlich der HJ meist zu Willen war.188 So beglich das Jugendamt regelmäßig diverse Nebenkosten- und Mietschulden, sowohl für Heime in städtischem Besitz als auch für von der HJ selbst angemietete.189 Für die Finanzierung ihrer Heime fehlte es der HJ ebenfalls an einem Konzept.

2.

Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

Die Leipziger KJVD-Führung hatte zum Jahreswechsel 1932/33 die Anstrengungen verstärkt, die Organisation auf eine Zeit in der Illegalität vorzubereiten. Dazu wurden in den einzelnen Stadtteilen konspirative Fünfer-Gruppen gebildet sowie Abzugsapparate und Schreibmaschinen versteckt. Außerdem unterstützte der KJVD die Mutterpartei im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 5. März. Realistisch schätzte man nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ein, dass die KPD aus eigener Kraft keine wie auch immer geartete Auseinandersetzung oder gar Revolution zum gegenwärtigen Zeitpunkt auslösen konnte. Mit dem Reichstagsbrand in Berlin in der Nacht vom 27. zum 28. Februar, der sofort den Kommunisten angelastet wurde, und der darauf folgenden „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ waren reichsweit die Weichen gestellt, die Macht der Nationalsozialisten zu festigen. Wesentliche Grundrechte der Verfassung wurden außer Kraft gesetzt. Wenn für Sachsen das Verbot des KJVD auch erst am 28. April ausgesprochen wurde, so war der Jugendverband bereits unmittelbar nach dem Reichstagsbrand von der Verfolgung betroffen. Bereits am 1. März wurden in Sachsen alle Versammlungen der KPD, des KJVD und weiterer Vorfeldorganisationen sowie deren Druckschriften verboten. Bei zeitgleich vorgenommenen Hausdurchsuchungen verhaftete man zahlreiche kommunistische Funktionäre. In Leipzig konnten sich einige Aktivisten noch vor der drohenden Festnahme in Ausweichquartiere flüchten. Ein Grund war, dass die Hausdurchsuchungen in Leipzig – im Gegensatz zu Dresden – etwas zeitversetzt erst in der Nacht vom 1. zum 2. März stattfanden und darum die Leipziger gewarnt werden konnten.190 Zu diesem Zeitpunkt beendete die Leipziger Unterbezirksleitung des KJVD ihre regelmäßigen Zusammenkünfte.191 Auch in anderen Städten war der KJVD nach dem Reichstagsbrand in die Illegalität gegangen.192

188 189 190 191 192

Siehe auch A. LANGE: Die Geschichte des Eiskellers bis 1945. In: 15 Jahre Conne Island Reader, Leipzig 2006, S.4-7. Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323, Bd.2, Bl.25ff. Vgl. SCHREIBER: Politische Polizei, S.77. Vgl. Erinnerungsbericht Martin Helas, BArch RY 1/I2/3/122, Bl.111. So z.B. in Hamburg; Vgl. HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.33.

74

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Die folgenden Wochen waren in Leipzig geprägt von koordinierten Aktionen seitens der Polizei gegen das linkssozialistische Milieu und zahlreichen wilden SA-Überfällen. Obgleich das Verbot des KJVD für Sachsen offiziell erst Ende April in Kraft trat, durchsuchten Polizeikräfte bereits am 24. März die städtischen Jugendheime in Leipzig und beschlagnahmten das Eigentum des KJVD und der Roten Jungpioniere. Eine groß angelegte Razzia fand in den frühen Morgenstunden des 26. März in der Arbeitersiedlung „Meyersche Häuser“ im Südwesten Leipzigs statt, wo zahlreiche organisierte Kommunisten und Sozialdemokraten wohnten. Etwa 800 SA-Männer sperrten als Hilfspolizisten das gesamte Wohnquartier ab.193 Die Bundesschule des Arbeiter-Turn- und Sportbundes in der Südvorstadt durchsuchte man ebenso wie das Volkshaus, wobei es zu massiven Verwüstungen kam. Zahlreiche Funktionäre aus der Arbeiterbewegung wurden inhaftiert. Die bereits 1932 begonnenen Vorbereitungen zur illegalen Weiterführung des KJVD hatten vorrangig das Ziel, die zentralistische, hierarchische Struktur des Verbandes in der Illegalität unverändert weiterzuführen. Das beinhaltete sowohl die oberen und mittleren Leitungsgremien als auch Beitragskassierungen, Literaturverteilung, Massenwerbung und Basisgruppenarbeit. Niemand rechnete Anfang 1933 mit einer mehrjährigen Phase der Illegalität und dem sich nun Bahn brechenden offenen Terror der Nationalsozialisten. Man glaubte fest, dass die „revolutionäre Situation“ nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten sei, hatte doch die Weimarer Republik mit der Kanzlerernennung Hitlers ihren endgültigen politischen Bankrott erklärt. Der Übergang in die Illegalität vollzog sich für die KPD in Leipzig zunächst ohne größere Probleme.194 Die meisten Funktionäre waren untergetaucht. So kamen auch nach den ersten Verhaftungswellen ab März 1933 bei den Leitungen des KJVD (wie auch der KPD) keine Zweifel an der aktuellen Strategie der Illegalität auf. Der Widerspruch lag für die Folgezeit darin, dass man Massenwirksamkeit nach außen zeigen wollte, andererseits konspirativ arbeiten musste.195 KJVD und KPD wollten durch Flugblätter, Streuzettel und Wandparolen ihren Widerstand gegen das NS-Regime in der Öffentlichkeit zeigen. Solcherart Aktionismus machte sie jedoch für die Verfolgerorgane greifbarer.196 Dieser bis 1935 verfolgte Ansatz bei der illegalen Arbeit sollte schließlich den KJVD (wie auch die KPD) in Deutschland völlig aufreiben. Dass der Hauptinhalt der illegalen Arbeit in erster Linie im Organisieren der eigenen Strukturen bestand, ist 193 194 195

196

Vgl. SCHREIBER: Politische Polizei, S.78. Ebda., S.41. Vgl. H. WEBER: Die Ambivalenz der kommunistischen Widerstandsstrategie bis zur „Brüsseler“ Konferenz. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Widerstand gegen den NS, S.78; Siehe auch MALLMANN: Kommunistischer Widerstand. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand, S.119. Vgl. STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen nationalsozialistische Diktatur, S.31.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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hingegen zu verkürzt dargestellt.197 Obgleich viel Zeit und Kraft in den organisatorischen Aufbau investiert wurde, hatten die Flugblätter, Streuzettel und illegalen Zeitungen die Funktion, auch Menschen außerhalb der kommunistischen Bewegung zu informieren, aufzuklären und im Idealfall für die KPD bzw. den KJVD als Mitglieder zu gewinnen. Im Gegensatz zu den übrigen verbotenen bzw. aufgelösten politischen Parteien aus der Weimarer Zeit waren KPD und KJVD in der Illegalität stets darum bemüht der Öffentlichkeit zu zeigen, dass es sie als politische Alternative zum NS-Regime noch gibt.198 Das Aufspüren der untergetauchten Funktionäre in Leipzig war nur eine Frage der Zeit. Auch mussten viele illegale Quartiere und Unterkunftsstellen für technische Geräte nach einigen Wochen wieder aufgegeben werden, da deren Eigentümer Angst vor Repressionen hatten. Die folgenden Verhaftungen brachten, trotz der 1932 begonnenen Vorbereitungen auf die Illegalität, die Arbeit des KJVD in Leipzig im Frühjahr nahezu zum Stillstand. KJVDFunktionär Hasso Grabner sprach später in diesem Zusammenhang von einem „fast völligen Zerbrechen des illegalen Apparates im März 1933“.199 Nach den ersten Verhaftungen soll es Martin Mangold als Instrukteur gelungen sein, den Jugendverband im Frühsommer neu zu formieren.200 Für die Kommunisten kam hinzu, dass im Frühjahr und Sommer, nicht zuletzt durch Denunziationen aus dem Wohnumfeld, die Polizei die meisten illegalen Druckereien der KPD aushob, was die illegale Arbeit zusätzlich erschwerte.201 Auch fanden im gesamten Jahr 1933 immer wieder Hausdurchsuchungen bei KPD-Mitgliedern statt.

a.

Die Zeitung „Der Junge Sturmrufer“

Trotz der massiven Verfolgung versuchten die Reste des KJVD die Arbeit fortzuführen. Ende Mai 1933 erschien die erste illegale Zeitung „Der Junge Sturmrufer“ mit dem Leitsatz „Wir sind die Jugend des Hochverrates und nicht zu verbieten“.202 Auf den insgesamt acht Seiten des im Abzugsverfahren hergestellten Heftes im A5-Format ging es um die außenpolitischen Misserfolge der neuen Hitler-Regierung, einen Aufruf „Streikt Hitler nieder!“ von der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO), den „Kampf gegen Lohnabbau“ und 197 198 199 200 201 202

PEUKERT: Volksfront und Volksbewegungskonzept im kommunistischen Widerstand. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Widerstand gegen den NS, S.879. Vgl. auch A. HERBST: Kommunistischer Widerstand. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur, S.36. Protokoll H. Grabner, Bl.6. Vgl. Erinnerungsbericht Martin Helas, BArch RY 1/I2/3/122, B.112. Vgl. SCHREIBER: Politische Polizei, S.111. Alle Zitate aus „Der Junge Sturmrufer“, Ende Mai 1933, Zeitung dokumentiert in: HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.141-148.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

einen Erklärungsversuch, warum die Kommunisten im Frühjahr nicht alleine „losgeschlagen“ haben. In einem weiteren Artikel, welcher sich an die „Genossen der SAJ und des Jungbanners“ richtete, wurde ungeachtet der brutalen Verfolgung, die auch die Sozialdemokraten in dieser Zeit erleiden mussten, der SPD eine „verräterische, reformistische Linie“ seit Beginn des ersten Weltkrieges vorgeworfen; sie hätte sich damit „offen in den Dienst der faschistischen Hitlerdiktatur gestellt“. Man forderte die jungen Sozialdemokraten auf, mit der SPD zu brechen. „Jetzt erkennt ihr, wie Recht wir Jungkommunisten hatten, als wir eure Partei als die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie, als Agent der Bourgeoisie im Lager der Arbeiterklasse bezeichneten! […] Her zum verbotenen Kommunistischen Jugendverband!“ Die Texte des „Jungen Sturmrufers“ zeigen, dass es dem KJVD im Mai 1933 vorrangig darum ging, weiterhin die Sozialdemokratie zu diskreditieren. Man verstand sich und die KPD als „Avantgarde des Proletariats“. Obgleich man dafür warb: „Gebt für den Kampffonds der Antifaschistischen Front“, fand kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus – es sei denn im Zusammenhang mit seiner ideologischen Einordnung als verlängerter Arm des Kapitals. „Wir wissen, Hitler ist das letzte Bollwerk, der letzte Trumpf des deutschen Kapitalismus. Wir wissen, wir sind die Erben Hitlers. Ob [er] aber damit Erfolg hat, wie lange Hitler noch die deutsche Arbeiterklasse unterdrücken kann, das hängt in erster Linie von DIR ab, deutscher Jungprolet!“203 Es ist nicht bekannt, ob von der Zeitung noch weitere Ausgaben erschienen. Auch zu Art und Umfang der Verbreitung ist nichts überliefert. Etwa zeitgleich wurde außerdem durch Mitglieder des illegalen KJVD das Faltblatt „Der Rote Niederstift“ hergestellt, in einer Auflage von weniger als 100 Stück. Bei einer anschließenden Verteilaktion an die Arbeiter eines Betriebes wurden zwei der Aktivisten festgenommen.204

b.

Die Situation im Sommer 1933

Im Frühsommer kam es zu ersten organisatorischen Umstellungen in der Leitung des Verbandes, um der neuen Situation besser gerecht zu werden. An dem hierarchischen Aufbau wurde nichts geändert. Durch immer wieder neue Verhaftungen waren die Verbindungen nach „oben“ öfters unterbrochen, was die Arbeit der einzelnen Basisgruppen lähmte. KJVD-Mitglied Walter Krogull bezeichnete in einem Verhör diesen Zeitraum als „politische Ruhe“, in dem weder 203 204

HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.141-148. StAL PP-S 646-121, Bl.107.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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Beitragskassierungen erfolgten noch Literatur vertrieben wurde. Unter den Gruppenmitgliedern sei in der Zeit lediglich die politische Lage diskutiert worden.205 Die einzelnen Stadtteilgruppen waren immer wieder von ihren jeweiligen übergeordneten Leitungen abgeschnitten, die Verbandsstruktur zerfiel. Wie die gesamte Arbeiterbewegung standen die Kommunisten unter dem „Schock der kampflosen Niederlage“.206 Die miteinander befreundeten KJVD-Mitglieder aus den einzelnen Stadtvierteln diskutierten auch mit Freunden aus der Nachbarschaft, die z. B. in der „Proletarischen Freidenkerjugend“ oder in der SAJ gewesen waren, über die neue politische Situation. Mit der einsetzenden wärmeren Jahreszeit fuhr man zunächst, wie die Jahre zuvor, an den Wochenenden zu Wanderungen in die Leipziger Umgebung, traf andere befreundete Gruppen und tauschte sich aus.207 Diese Gesprächsgruppen können als die Basis des bis Anfang 1934 reorganisierten Zellensystems des Leipziger KJVD angesehen werden. In ihnen sammelten sich nicht nur ehemalige KJVD-Mitglieder, sondern auch andere kommunistisch orientierte Jugendliche, die gegen die NS-Herrschaft aktiv werden wollten. Für die „Zelle Zentrum“ beispielsweise, welche sich im Sommer 1933 konstituierte, sind insgesamt 17 Jugendliche namentlich bekannt. Dies lief dem geforderten konspirativen „Fünfergruppenprinzip“ zwar völlig entgegen, angesichts der sozialen Kontakte ergab sich jedoch diese größere Gruppe. Erika Gottschalk aus jüdisch-bürgerlichem Hause war zuvor im KPD-nahen „Sozialistischen Schülerbund“ (SSB) aktiv gewesen.208 Drei Jugendliche kamen von der Proletarischen Freidenkerjugend, zwei aus der SAJ bzw. SPD. Andere waren zuvor im RGO, im Deutschen Pfadfinderbund und verschiedenen Arbeitersportvereinen. Nur für fünf Mitglieder ist eine KJVD-Mitgliedschaft aus der Weimarer Zeit bekannt. Darum kann hier kaum von einer Fortführung des alten KJVD gesprochen werden, sondern von einer faktischen Neugründung.209 In den anderen Leipziger Stadtteilen verhielt es sich ähnlich. Dies zeigt, dass der KJVD in Leipzig zu dieser Zeit, trotz der anhaltenden Hetze gegen die SPD und gegen andere linke Parteien, ein antifaschistisches 205

206 207 208 209

Dies könnte auch eine Schutzbehauptung sein. Es sind aber für diesen Zeitraum kaum KJVD-Aktivitäten in Leipzig aus anderen Quellen bekannt. Vgl. StAL PP-S 646-121, Bl.39; Gestapo-Verhörprotokoll von Walter Krogull am 22.08.1934. WEBER: Ambivalenz. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Der Widerstand, S.76. Erinnerungsbericht Martin Helas, BArch RY 1/I2/3/122, Bl.111. Zum SSB in Deutschland siehe K. ANDERSEN: Der Sozialistische Schülerbund. In: IWK, Heft 2-3, Berlin 2006, S.237-255. Dies deckt sich auch mit der etwas pathetischen Aussage des illegalen Leiters Karl „Martin“ Schirdewan, der im Sommer 1933 über die KJVD-Basis in Leipzig sagte: „Es sind ganz neue Leute. Von den Alten ist nicht ein Mann übrig geblieben. Ich bin der Letzte.“ In: SCHLOTTERBECK: Je dunkler die Nacht, Berlin 1948, S.18; Zitat auch in der Neuauflage, Halle/S. 1969, S.19.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Image unter Jugendlichen gehabt hat. Dies ist möglicherweise auch auf den jahrelangen Aktionismus des Verbandes in Form von Aufmärschen, Wandparolen und Flugblättern zurückzuführen. Der KJVD war zu dieser Zeit der einzige linkssozialistische Jugendverband, der durch illegale Flugblätter u. ä. zeigte, dass er noch aktiv war. Somit gab es für linkssozialistisch orientierte Jugendliche im Sommer 1933 die Möglichkeit, im Rahmen des KJVD wieder aktiv zu werden und die Lähmung zu überwinden, welche ab dem März 1933 viele Organisationen, allen voran die SAJ, ergriffen hatte. Die sächsische Leitung des KJVD war in dieser Zeit intensiv bemüht, ihre illegalen Strukturen nach den ersten Verhaftungen wieder aufzubauen und die Kontakte in andere Städte wieder herzustellen. Letzter Vorsitzender in der Legalität war Fritz Reuter, der auch die Anfangszeit in der Illegalität leitete. Ab April 1933 wurde er von Karl Schirdewan, Deckname „Martin“, abgelöst.210 Bereits vier Monate später erfolgte im Juli die Auswechslung „Martins“ durch Friedrich Schlotterbeck (Jg. 1909) alias „Herbert“. Schlotterbeck war vom ZK des KJVD aus Süddeutschland nach Leipzig beordert worden. Es erfolgte, wie in anderen Städten auch, eine Verkleinerung der Bezirksleitung hin zum so genannten Dreierkopf.211 Neben „Herbert“ als politischem Leiter gehörten ihm Walter Kresse als Verantwortlicher für Agitation und Propaganda sowie Kurt Lenge als Organisationsleiter an.212 Bereits unter „Martin“ hatte der strukturelle Umbau der Organisation begonnen. Bekannte Aktivisten wurden durch unbekannte ersetzt, um im Falle von weiteren Verhaftungen die Strukturen zu schützen.213 Wie unerschüttert das Vertrauen in die Reichsleitung des KJVD und der KPD bei Schlotterbeck (wie auch sicherlich bei den anderen Funktionären) ausgeprägt war, bezeugt folgende Erinnerung von ihm: „Wie zufällig begegneten wir dem Mann der Partei. [...] Nachdem diese Prüfung […] überstanden war, übergab mir Martin das Kostbarste und Allerheiligste: die Verbindung nach Oben!“214 Erst im Spätsommer 1933 konnte wieder von einer regelmäßigen Versorgung mit illegalen Materialien gesprochen werden. Diese wurden jetzt in der Tschechoslowakei hergestellt und durch Kuriere nach Leipzig geschmuggelt.215 Dadurch kamen vor allem die KPD-Zeitung „Die Rote Fahne“, das KJVD-

210 211

212 213 214 215

Schirdewan wechselte später zum illegalen KJVD nach Hamburg. Unter „Dreierkopf“ ist zu verstehen, dass eine Leitung aus einem Politischen Leiter, einem Organisationsleiter und einem Leiter für Agitation und Propaganda bestand. Die Umstellung erfolgte reichsweit, so z.B. auch in Hamburg. Siehe HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.34. Vgl. HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.14. Vgl. SCHLOTTERBECK: Je dunkler, Berlin 1948, S.19. SCHLOTTERBECK: Je dunkler, Halle/S. 1969, S.21; Mit „Partei“ ist die KPD gemeint. Protokoll B. Frank, Bl.7.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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Organ „Die Junge Garde“ und das „Braunbuch“216 nach Leipzig. Über die zweite Jahreshälfte verstreut wurden außerdem immer wieder KJVD-Mitglieder verhaftet, weil sie verbotene kommunistische Druckschriften in der Berufsschule, im Betrieb oder anderswo verteilt hatten, so zum Beispiel Anfang November das Flugblatt „Stimmt für Thälmann“, welches unterzeichnet war mit „Hinein in den Kommunistischen Jugendverband“.217 In diesem Zusammenhang verhaftete die Polizei kurze Zeit später eine im Entstehen begriffene Betriebszelle des KJVD bei „Schumann und Co.“ Gegen acht Mitglieder ergingen im Juni 1934 beim Sondergericht Freiberg mehrmonatige Haftstrafen.218 Es ist davon auszugehen, dass es mehrere solcher offenbar unkoordinierter Aktionen gab, die zu einem ähnlichen Ergebnis führten. In diese Zeit fallen auch intensive Kontakte zwischen Leipziger SAJMitgliedern und dem KJVD. Teilweise ging man zusammen an den Wochenenden wandern. Nach späteren Erinnerungen von Friedrich Schlotterbeck äußerten Leipziger Mitglieder der SAJ den Wunsch, in den illegalen KJVD einzutreten und die Reste der Leipziger SAJ mit dem KJVD zu vereinen. Teilweise sollen Mitglieder beider Gruppen schon zu diesem Zeitpunkt zusammengearbeitet haben.219 Hierbei hatte es sich um den „Vorstoß-Kreis“ um den SAJFunktionär Karl Brandes aus dem Leipziger Süden gehandelt.220 Unterstützung erhielt man u. a. durch das KPD-Mitglied Herbert Bochow, der sich mehrmals mit Karl Brandes getroffen und auch Richtlinien für die gemeinsame Arbeit entworfen hatte.221 Es konnten keine Belege dafür gefunden werden, dass Bochow dies in Abstimmung mit Schlotterbeck tat. Es gab jedoch von den übergeordneten Leitungen beider Jugendorganisationen starke Vorbehalte gegen den möglichen Leipziger Alleingang. Schlotterbeck musste in diesem Zusammenhang sogar nach Berlin, um Bericht zu erstatten. Die illegale KJVD-Reichsleitung warf ihm vor, mit seinem Alleingang auf lokaler Ebene den KJVD vor Ort faktisch zu liquidieren. Die Vereinigung wurde untersagt. Lediglich „die Besten“ aus der SAJ sollte er nach sorgfältiger Prüfung aufnehmen.222 Seit Jahren und auch in der Folgezeit wurden immer wieder 216 217

218 219 220 221

222

Braunbuch. Über Reichstagsbrand und Hitlerterror, Basel 1933. Das Flugblatt bezieht sich auf die Abstimmung zum Austritt aus dem Völkerbund. Der KPD-Vorsitzende Thälmann stand nicht zur Wahl, da er seit März 1933 in Haft saß. Das Flugblatt rief dazu auf, auf den Stimmzettel „Thälmann - KPD“ zu schreiben; Siehe StAL PP-S 3053. Vgl. ebda. Vgl. SCHLOTTERBECK: Je dunkler, Halle/S. 1969, S.22 u. 25. Erinnerungsbericht Martin Helas, BArch RY 1/I2/3/122, B.112. Vgl. INSTITUT FÜR ZEITGESCHICHTE MÜNCHEN (Hg.): Widerstand als Hochverrat, München 1995 (Microficheedition) FicheNr.0292, Anklageschrift gegen H. Bochow vom 22.12.1941, Bl.21. Vgl. SCHLOTTERBECK: Je dunkler, 1969, S.25ff. In der 1948 in Berlin veröffentlichten Ausgabe sind die Verbindungen zur SAJ und den Auseinandersetzungen mit der Reichs-

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

in Veröffentlichungen die Mitglieder der SAJ aufgefordert, sich dem KJVD anzuschließen. Als sich 1933 in Leipzig die Gelegenheit bot, befürchtete man in der Reichsleitung offensichtlich, dass der KJVD dadurch zu viele Zugeständnisse an die jungen Sozialdemokraten machen müsste. Der hierarchische Apparat machte lokale Alleingänge unmöglich, die Verbandsdisziplin war wichtiger. Karl Brandes von der SAJ sowie einige aus seinem Umfeld fanden in der Folgezeit dennoch zu den Kommunisten. Er kam 1934 sogar in die Bezirksleitung der KPD, andere wie Horst Jonas arbeiteten für den illegalen KJVD. Der sowohl für das NS-Regime wie auch für die illegale KPD politisch außerordentlich wichtige Reichstagsbrand-Prozess fand am Leipziger Reichsgericht vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933 statt. Der KJVDFunktionär Hasso Grabner erinnerte sich später, dass die Jungkommunisten keine organisierte Arbeit während des Reichstagsbrandprozesses leisteten. Auch Flugblätter konnte er in diesem Zusammenhang nicht bestätigen, lediglich die Verteilung des „Braunbuches“ und der „Roten Fahne“. Grund hierfür wird die immer noch nicht wieder funktionierende Organisation gewesen sein. Gerhart Zschocher berichtete von einigen Handzetteln, welche er und andere hergestellt und verteilt hatten.223 Viele Arbeiterjugendliche hörten sich die Übertragungen des Prozesses auf dem Vorplatz des Reichsgerichtes an.224 Andere kommunistische Gruppen wurden auf eigene Faust aktiv. Paul Keil (Jg. 1913) beispielsweise war bis zum Verbot des KJVD in der Gruppe Alt-Leipzig, die danach bald auseinanderfiel. Daneben hatte er Kontakte zur Agitpropgruppe „Rote Stürmer“, die sich kollektiv in einem Gesangsverein angemeldet hatte und so regelmäßig weitertreffen konnte. Während des Prozesses schrieb die Gruppe Handzettel und Klebestreifen mit Losungen. Später kam Paul Keil zur „Zelle Zentrum“ des KJVD.225

c.

Die Neugliederung des Leipziger KJVD Anfang 1934

Unter der Leitung von Friedrich Schlotterbeck alias „Herbert“ kam es nicht nur zu näheren Kontakten mit Leipziger SAJ-Mitgliedern, sondern auch zu organi-

223 224 225

leitung nicht erwähnt. Schlotterbeck hatte für die Neuauflage 1969 das Buch überarbeitet und erweitert. Vgl. ZSCHOCHER: Zeichen, S.103. Protokoll H. Grabner, Bl.8. StAL SED-Erinnerungen V/5/334, Bericht von Paul Keil vom 27.4.1948; Die Angaben Jahnkes, dass Mitglieder des KJVD gemeinsam mit SAJ- und SJVD-Mitgliedern in Leipzig während des Reistagsbrandprozesses „tausende Flugblätter und Hunderte Exemplare des Braunbuches“ verteilt haben sollen, konnten nicht bestätigt werden. Vgl. JAHNKE: Jungkommunisten, S.57; Eine Quelle benennt Jahnke nicht. Auch widersprechen die Erinnerungen Grabners dieser Behauptung.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

81

satorischen Veränderungen. Prinzipiell änderte man nichts an dem zentralistischen Aufbau. Analog zum parallel laufenden Umbau der KPD-Strukturen wurde der ehemalige KJVD-Bezirk Sachsen zum Oberbezirk, der sich in vier kleinere Bezirke untergliederte. Leipzig/Westsachsen wurde einer davon.226 Nach der Verhaftung von Friedrich Schlotterbeck am 1. Dezember 1933227 gab es eine Reihe weiterer Politischer Leiter im Bezirk Leipzig, über deren Klarnamen bis heute stellenweise Unklarheit herrscht. Bis zum Frühjahr 1934 waren „Fritz“ und „Willy“ aktiv, danach ab April „Rudi“, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Robert Lehmann gehandelt hat,228 und ab Juli „Hilde“. Anfang 1935 kam Hans Lauter aus Chemnitz nach Leipzig als letzter Politischer Leiter des KJVD. Es ist möglich, dass einige bzw. alle diese Personen auch identisch mit den „Oberberatern“ des KJVD für Leipzig bzw. Sachsen gewesen sind.229 Bereits seit 1933 gab es vom ZK des KJVD für Sachsen eine Oberinstrukteurin. Helene (Lena) Fischer mit Decknamen „Trude“ kam aus Berlin und leitete die einzelnen sächsischen Bezirksleitungen bis zu ihrer Verhaftung im April 1935 an.230 Mit der Ende 1933/Anfang 1934 durchgeführten organisatorischen Umbildung der Leipziger Bezirksleitung wurden auch die einzelnen Zellen in den Stadtteilen neu strukturiert. Generell ist festzuhalten, dass nach momentanem Kenntnisstand wenig über die einzelnen Gruppen zu Beginn des Jahres 1933 bekannt ist. Diejenigen, welche sich nach der „Machtergreifung“ weiter trafen, kannten sich größtenteils schon aus der Weimarer Zeit. Es lässt sich anhand der Aktenlage jedoch keine Aussage treffen, wie weit personelle Kontinuitäten in den einzelnen Basisgruppen zurückgehen. Aufgrund der notwendig gewordenen Illegalität und wegen einsetzender Verhaftungen riss der Kontakt einzelner Zellen zur Leitung immer wieder ab. Die Gruppen und einfachen Mitglieder waren auf sich allein gestellt. Ein nicht geringer Teil kehrte dem KJVD im Laufe des Jahres 1933 den Rücken.231 Die Entscheidung, illegal weiter aktiv zu sein, trafen nur die wenigsten. Nach späteren Aussagen des sächsischen Oberberaters Gerhard Hesse, welcher bis zum Juni 1934 für den KJVD aktiv war, gab es in Sachsen in der ersten Jahreshälfte 1934 vier Bezirksleitungen. Hiervon hatte der Leipziger Bezirk etwa 250 Mitglieder, gefolgt vom Chemnitzer Bezirk mit ca. 150. Die Bezirke Dres-

226 227 228 229 230

231

Vgl. HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.15/16. Er wurde später wegen seiner illegalen Tätigkeit zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Protokoll H. Grabner, Bl.8. Vgl. HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.17. Zur illegalen Arbeit Lena Fischers und dem späteren Umgang der SED mit ihr siehe: A. Herbst: Der Fall Lena Fischer. In: LEO/REIF-SPIREK (Hg.): Vielstimmiges Schweigen, Berlin 2001, S.223-237. Siehe Erinnerungsbericht Kurt Hellbing (um 1948), In: BArch RY 1/I2/3/122, Bl.122.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

den und Plauen zählten jeweils etwa 25 Mitglieder.232 Es ist auffällig, dass es vor allem in den beiden Industriestädten Leipzig und Chemnitz noch relativ viele Mitglieder gab, während die sächsische Landeshauptstadt nur wenige Organisierte vorweisen konnte. Hans Lauter berichtete später, dass es in Dresden auch in den Vorjahren nur eine kleine Gruppe gegeben hatte.233 Durch die Gestapo wurden im Sommer 1934 nach eigenen Angaben 210 KJVD-Mitglieder und Funktionäre in Leipzig verhaftet.234 Dies zeigt, dass man nahezu des gesamten illegalen Leipziger KJVD habhaft wurde. Der KJVD in Leipzig verfügte nach seiner Umstrukturierung wieder über ein weit verzweigtes Zellensystem. Fast ein halbes Jahr hatte es gedauert, die Organisation wieder aufzubauen. In Hamburg soll hingegen der KJVD Anfang 1933 geschlossen in die Illegalität gegangen sein und bis zum Frühjahr 1934 eine relativ stabile Mitgliederanzahl gehabt haben. Einen Umbau der Leitung zum „Dreierkopf“ fand auch dort statt.235 Weitere Vergleiche der Leipziger Situation mit anderen Städten sind wegen fehlender Lokalstudien bislang nicht möglich. Ab Anfang 1934 existierten vier Unterbezirke für Leipzig (Nord, SüdZentrum, West, Ost) mit jeweils einer eigenen Leitung. Diese verfügten über eine unterschiedliche Anzahl von Straßen- und Betriebszellen. Ihre Instruktionen bekamen die UB-Leitungen von der Bezirksleitung. In dieser Phase der Illegalität wurden leitende Funktionen größtenteils von langjährigen KJVDMitgliedern bekleidet. Jede Zelle verfügte über einen Leiter, einen Kassierer, einen „Litmann“236 und einen Kurier. Bei Zellen von nur drei Personen hatte jeder eine Funktion bzw. gab es Doppelbelegungen der Ämter. Aus Konspirativitätsgründen war vorgegeben, dass eine Zelle nicht mehr als fünf Personen umfassen durfte („Fünfergruppenprinzip“). Würde eine Zelle von der Gestapo ausgehoben, sollte so der personelle Schaden begrenzt sein. Dennoch sind mehrere Zellen bekannt, die bis zu zehn und mehr Mitglieder hatten. Einer der Gründe war, dass sich stellenweise die einzelnen Zellen auch als sozialer Zusammenschluss verstanden und deshalb sowohl ihre Freizeit als auch ihre illegale politische Arbeit gemeinsam gestalten wollten. Die Gestapo rekonstruierte den organisatorischen Aufbau des KJVD in Leipzig nach den massiven Verhaftungen im Sommer 1934 anhand eines Über-

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233 234 235 236

Siehe: Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0060, Anklageschrift gegen Helene Fischer; Es ist nicht überliefert, unter welchen Bedingungen diese Aussage zustande kam. Möglicherweise hatte G. Hesse beim Verhör die Zahlen nach unten korrigiert, um Nichtverhaftete zu schützen. In Bezug auf Leipzig scheint die Aussage realistisch. Interview des Verfassers mit Hans Lauter am 01.04.2008 in Leipzig. Vgl. StAL PP-St 121, Gestapo-Abschlussbericht, Bl. 172; Allein vor dem OLG Dresden gab es über 120 Verurteilungen; Siehe StAL PP-S 646-122. HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.33f. Verantwortlich für Literatur.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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sichtsplanes.237 Im Mai 1934 bestand demnach die Bezirksleitung aus dem bereits erwähnten Dreierkopf. Politischer Sekretär war „Rudi“, Organisationssekretär war Kurt Brünner (Jg. 1910), zuständig für die Kassierungen war Paul Großmann (Jg. 1911). Die Bezirksleitung verfügte außerdem über einen „Technischen Apparat“ zur Herstellung von illegalen Druckschriften, auf den später noch näher eingegangen wird. Für den Unterbezirk Nord unter der Leitung von Karl Helbig (Jg. 1911) ermittelte die Gestapo insgesamt zehn Zellen, wobei zwei davon sich noch in der Planungs- bzw. Aufbauphase befunden haben sollen. Möglicherweise hat die Gestapo diese Zellen „hinzugedichtet“, um ihre Arbeit in ein besseres Licht zu stellen.238 Eine der Zellen befand sich außerdem im Ortsteil Lindenthal, Leipziger Land. Kontakte soll der UB Nord auch zu einer „wilden Kolonne“ mehrerer kommunistisch eingestellter Jugendlicher gehabt haben, welche im Juli 1934 schließlich in den KJVD UB Nord integriert wurde. Instrukteur und Hauptkurier des UB war Walter Thieme (Jg. 1911).239 Der Leiter einer Straßenzelle des Unterbezirkes Nord soll gleichzeitig eine Betriebszelle bei der Firma Engert geleitet haben.240 Der UB Ost bestand aus drei Zellen. Außerdem gehörte die Betriebszelle in der HASAG unter Leitung von Erich Blanke (Jg. 1914) zum UB und umfasste neun Personen. Leiter des Unterbezirkes war Helmut Holtzhauer (Jg. 1912). Dieser hatte mit Funktionären und Zellenleitern des UBs mehrere Fahrten in die Umgebung von Leipzig unternommen, auf denen „Funktionärssitzungen“ abgehalten wurden. Neben Holtzhauer als politischem Leiter und Kassierer gehörte zur Leitung noch Gerhart Zschocher (Jg. 1914) als Instrukteur. Ferner zählte später die Gestapo Paul Weber (Jg. 1914) in der Funktion als „Litmann“, Techniker und Kurier hinzu. 241 Der Unterbezirk Süd-Zentrum umfasste nach Gestapo-Ermittlungen neun Zellen, wovon sich zwei in Lößnig, je eine in Connewitz und Dölitz und fünf im Zentrum befunden hatten. Der UB wurde geleitet von Kurt Brünner (Jg. 1910), der gleichzeitig Sekretariatsmitglied der Bezirksleitung des KJVD in Leipzig war. Die Funktion des Instrukteurs hatte Harry Holzmüller (Jg. 1911) inne, der gleichzeitig Leiter des technischen Apparates und Kurier im UB war.

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239 240 241

StAL PP-St 121, Bd.2. Es existiert in den Akten des VVN-Leipzig eine Fotokopie des Übersichtsplanes, welche handschriftliche Anmerkungen enthält. Vgl. BArch DY 55/V 241/7/39, Bl.12; Es konnte nicht geklärt werden, ob der VVN nach 1945 versuchte, die einzelnen Gruppen zu rekonstruieren und Personen ausfindig zu machen, oder ob man einzelne dort aufgeführte Zellen in Frage stellte (handschriftliche Fragezeichen hinter drei aufgeführten Zellen). StAL PP-St 121, Gestapo-Bericht über die Aushebung des illeg. KJVD, Bez. Leipzig vom 25.9.1934, Bl.166f. StAL PP-St 121, Bd.2. StAL PP-St 121, Gestapo-Bericht vom 25.9.1934, Bl.168.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Bei den Zellen im Leipziger Zentrum widersprechen sich ebenfalls GestapoAngaben und Erinnerungen ehemaliger Mitglieder. Solvejg Höppner ermittelte lediglich eine „Zelle Zentrum“ mit insgesamt 17 Mitgliedern. Die Gestapo teilte diese Gruppe aber in ihren Ermittlungen auf, offenbar weil sie aufgrund des ihnen bekannten Fünfergruppenprinzips es nicht für wahrscheinlich hielt, dass eine einzelne Zelle so viele Mitglieder hatte. Die Leitung des Unterbezirks Westen bestand aus Paul Großmann und einem Lauterbach. Instrukteure waren Kurt Brünner, Alfred Gerst (Jg. 1915) und Gerhart Zschocher, Hauptkurier war Friedrich Lange (Jg. 1913). Neben den fünf Straßenzellen gab es eine Betriebszelle in der Baumwollspinnerei.

d.

Politische Arbeit des illegalen KJVD

Trotz der Tatsache, dass der KJVD nun aus der Illegalität heraus agierte, sein Mitgliederstamm stark verkleinert war und mehrere Funktionäre und Mitglieder im Gefängnis saßen, änderte sich an der politischen Strategie trotz mehrmonatiger „Pause“ von Frühjahr bis Ende 1933 de facto nichts. Angestrebtes Ziel war die Revolution nach sowjetischem Vorbild, wofür man die Massen mobilisieren wollte. Treffend (und realitätsfern) zusammengefasst wurde dies in der illegal in Leipzig hergestellten, lokalen Ausgabe der „Jungen Garde“ Anfang Juli 1934: „Nur auf diesem Wege, über den täglichen organisierten Widerstand gegen die faschistische Diktatur, über Teilkämpfe führt der Weg zum Generalstreik, zum bewaffneten Aufstand, zum sozialistischen Rätedeutschland!“242 Diese Situation herbeizuführen, war das erklärte Ziel des KJVD (wie auch der KPD) und wegweisend für seine illegale politische Arbeit. Dazu musste die gesamte Arbeiterjugend im KJVD organisiert werden. Die neu aufgebauten Zellen sollten, wo nur irgend möglich, um weitere ergänzt werden. Hierfür sah man jede kleine Unmutsbekundung in den Betrieben als Anknüpfungspunkt. Die Suche nach geeigneten Jungarbeitern, die bereit wären, eine illegale Betriebszelle zu gründen, blieb weitgehend erfolglos. Den später von der Gestapo ermittelten 27 Straßenzellen standen lediglich drei Betriebszellen gegenüber. Wie in den Jahren zuvor waren es in erster Linie die Zellen in den einzelnen Stadtteilen, welche die Basis des KJVD bildeten. Das „Territorialprinzip“ aufgrund langjähriger sozialer Kontakte im Wohngebiet erwies sich in der Praxis als strukturell günstiger als die Zusammenstellung sich kaum kennender Jungarbeiter in einem Betrieb zu einer konspirativen Zelle. Die immer wiederkehrende Forderung von oben nach der Gründung von Betriebszellen musste aus diesem Grunde erfolglos bleiben. Für die Werbung neuer Mitglieder sprach man in der Praxis schon allein aus Gründen der Konspiration vorwiegend Jugendliche an, die man aus 242

StAL PP-St 121, Bl.195.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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der legalen Zeit noch kannte und von denen man wusste, dass sie früher Mitglied im KJVD waren oder zumindest mit ihm sympathisiert hatten. Grundlage für die Arbeit in den Zellen waren die Zellensitzungen. Hier kamen in regelmäßigen Abständen, ein bis zweimal im Monat bzw. wöchentlich, die Mitglieder an einem Treffpunkt zusammen. Aus Gründen der Geheimhaltung waren das meist Parkanlagen oder andere öffentliche Plätze. Gelegentlich traf man sich auch bei einzelnen Mitgliedern zu Hause. Auf den Zellensitzungen gab der Leiter die Instruktionen weiter, die er vom Instrukteur des Unterbezirkes zuvor auf einem anderen Treff erhalten hatte. Das konnten z. B. „Agitationslosungen“ sein, welche die Zellenmitglieder bei Diskussionen mit anderen Jugendlichen im Betrieb verwenden sollten. Auch sprach man über die aktuellpolitische Lage. Die Mitglieder wurden zudem angehalten, regelmäßige Beiträge an den Zellenkassierer zu entrichten und vor allem die durch den Kurier erhaltenen illegalen Zeitschriften zu bezahlen. Auch sollten bekannte potentiell am KJVD interessierte Jugendliche mit illegalen Schriften versorgt werden. Auf Anweisung der Bezirksleitung stellten Zellenmitglieder in größerer Stückzahl Streuzettel her, auf denen mittels Kartoffeldruck das Hammer-undSichel-Symbol aufgebracht war. Diese verbreitete man nachts an verschiedenen Stellen in der Stadt auf Fußwegen oder in Betrieben. Auch erhielten die einzelnen Gruppen Flugblätter, die sie verteilen sollten. Am 30. April 1934 warfen beispielsweise Mitglieder der Zelle Zentrum auf der Kleinmesse von einem Karussell Flugblätter mit der Aufschrift „Der 1. Mai bleibt rot!“ ab.243 In dieser Art gab es noch eine Anzahl weiterer Aktionen in der Öffentlichkeit. Sie sollten zeigen, dass der KJVD-Leipzig trotz Verbot und Verhaftungen weiterhin existiert und für politische Ziele im Sinne des Proletariats kämpft. Die an Sachsen grenzende ČSR wurde ab dem Sommer 1933 für die inzwischen verbotenen linkssozialistischen Organisationen zum Rückzugsgebiet für von Verhaftung bedrohten Funktionäre, zum Ort der Herstellung von Druckschriften und zum Treffpunkt. Ende Februar 1934 fand beispielsweise eine später als „Sachsenkonferenz“ des illegalen KJVD bezeichnete Tagung im tschechischen Maffersdorf statt.244 An der fünftägigen Schulung im dortigen Arbeiterheim nahmen neben drei KJVD-Mitgliedern aus Leipzig noch je zwei Funktionäre aus Dresden und Chemnitz teil. Je ein Funktionär aus Berlin und der ČSR hielt Referate. Inhaltlich ging es um die bisher geleistete Arbeit in den einzelnen Bezirken und besonders um die Bildung von kommunistischen Zellen in Betrieben, außerdem die aktuellen Beschlüsse des „Ekkiplenums“ der Kommunistischen Internationale. Zur Leipziger Delegation gehörten der Bezirksleiter „Fritz“, der Instrukteur des UB Osten Gerhart Zschocher sowie Renate

243 244

Vgl. HÖPPNER: Zelle Zentrum, S.95. Siehe auch ZSCHOCHER: Zeichen, S.108.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Scharsig aus der KJVD-Zelle Lindenau, die kurz zuvor in den Technischen Apparat der Leipziger Bezirksleitung berufen worden war. Mitte Juli nahm außerdem der Mitarbeiter des Technischen Apparates Willy Ehrlich an einer Schulung bei Prag teil. Am 14. Juli 1934 fuhr er in die tschechische Hauptstadt, wo er sich im dortigen kommunistischen Parteibüro mit dem Kennwort „Mantana-Zahncreme“ meldete. Er wurde in einem Landhaus nahe Prag untergebracht, in dem am 19. Juli der Kursus begann. Daran nahmen etwa ein Dutzend KJVD-Mitglieder teil. Es sollen täglich acht Stunden lang Vorträge gehalten worden sein. Die Referate behandelten u. a. Fragen über die SU und die illegale Organisation des KJVD. Nach 14 Tagen kehrte Willy Ehrlich nach Leipzig zurück.245

e.

Die illegale Zeitung „Junge Garde“

Vor 1933 gab es, außer vereinzelten Betriebszeitungen, keine eigene Leipziger Zeitung des KJVD. Im Allgemeinen wurde dessen deutschlandweit erscheinende Zeitung die „Junge Garde“ an die Mitglieder verkauft. Nach dem Verbot aller kommunistischen Periodika gab es zwar ab Sommer 1933 die Möglichkeit, in der Tschechoslowakei hergestellte Publikationen der Auslandsleitung illegal nach Deutschland und somit nach Leipzig zu holen, darunter auch die weiter erscheinende „Junge Garde“. Dies war besonders für die Kuriere im Grenzgebiet sehr gefahrvoll und immer wieder wurden die Versorgungswege durch Verhaftungen unterbrochen. Darum entschloss man sich, in Leipzig eine eigene Ausgabe der „Jungen Garde“ im A4-Format zu produzieren. Für die Herstellung war der „Technische Apparat“ des UB Leipzig verantwortlich, der Anfang 1934 von der UB-Leitung gebildet wurde. Zu diesem gehörten Renate Scharsig, der Bildhauer und Architekt Franz Ehrlich, der ein Atelier besaß, sowie dessen Bruder Willy. Eine Redaktion im klassischen Sinne gab es nicht. Die Herstellung verlief, nach späteren Ermittlungen der Gestapo, folgendermaßen: Renate Scharsig bekam von „Rudi“ die Manuskripte und tippte auf einer Schreibmaschine die Druckvorlagen in Wachsmatrizen. Die Abzüge wurden dann von ihr entweder heimlich auf einem Vervielfältigungsapparat ihrer Arbeitsstelle hergestellt oder im Atelier von Franz Ehrlich zusammen mit seinem Bruder Willy. Dazu hatte Renate Scharsig einen nicht genutzten Vervielfältigungsapparat der KPD organisiert. Die nötigen Arbeitsmaterialien und eine Heftmaschine finanzierte man aus Mitteln des Leipziger KJVD. Es wurden insgesamt fünf Ausgaben im Abzugsverfahren hergestellt. Die erste Nummer der Leipziger „Jungen Garde“ erschien Anfang Juni 1934 mit einem Umfang von acht Seiten und einer Auflage von 300 Exemplaren. Der 245

StAL PP-St 121, Bl.183ff.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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Hauptartikel behandelte das Ende der Weimarer Republik, u. a. mit der Einschätzung „14 Jahre bürgerliche Demokratie unter Führung der Sozialdemokratie führte zum blutigen Faschismus.“246 Nach wie vor argumentierte der KJVD polemisch gegen die Sozialdemokraten, welche man immer noch als einen Hauptfeind betrachtete, obgleich die SPD seit über einem Jahr politisch in Deutschland angesichts ihres Verbotes nicht mehr in Erscheinung treten konnte. Immerhin resümierte man: „Wollen wir Jungwerktätigen menschlich leben, dann müssen wir gegen den Faschismus kämpfen!“ In weiteren Beiträgen wurde das Thema des Freiwilligen Arbeitsdienstes behandelt und die „Arbeiterjungen aus der HJ“ forderte man auf, den Dienst zu verweigern und gegen militärischen Drill zu kämpfen.247 Vierzehn Tage nach der ersten Ausgabe erschien Mitte Juni eine vierseitige „Antikriegssondernummer“ mit 400 Exemplaren. Der Sondertitel wurde per Hand auf der Titelseite bei jedem einzelnen Exemplar mit Rotstift unterstrichen. Die dritte Nummer der Leipziger „Jungen Garde“ von Anfang Juli 1934 hatte eine Auflage von 400 Stück bei acht Seiten Umfang. Ausgabe 4 war ebenfalls eine „Sondernummer“ von Anfang Juli 1934 und erschien in einer Auflage von 400 Stück mit vier Seiten Umfang. Trotz bereits einsetzenden Verhaftungen konnte im August 1934 die fünfte (und letzte) Nummer hergestellt und verteilt werden, mit einer Auflage von 400 Heften.248 Nach Fertigstellung der einzelnen Nummern wurden diese in vier Pakete aufgeteilt und verpackt. „Rudi“ nahm das Paket für den UB Westen an sich, während die anderen drei Pakete von Willy Ehrlich für die Unterbezirke Nord, Süd und Ost zu einer konspirativen Verteilerstelle gebracht wurden. Hierbei handelte es sich um ein Zigarettengeschäft in der Dresdner Straße 56. Der Bezirksleitungskurier Grabner holte sich dort die Pakete ab und verteilte sie an die drei anderen Unterbezirke.249 Die Ausgaben 3 und 4 wurden nach der Herstellung in vier Pakete wie oben geschildert verteilt. In den Paketen waren außerdem Abzüge des „Pressedienstes“ und eines Informationsschreibens „betr. Erfahrungen des Pflichtarbeiterkampfes“, die Willy Ehrlich zuvor abgezogen hatte. Renate Scharsig schrieb auch diese nach Manuskripten von „Rudi“.250 Vom Technischen Apparat wurden noch weitere Flugblätter erstellt. Bekannt sind „Jugendgenosse Erich Nowotnick von Hitlers Geheimer Staatspolizei

246 247 248

249 250

„Die Junge Garde. Kampforgan des KJV-Leipzig“, Ausgabe Juni 1934, S.1. In: StAL PPS 1174, unpag. Die Junge Garde. Ausgabe Juni 1934, S.6. In: StAL PP-S 1174, unpag. Vgl. Urteilsschrift gegen Rudolf Deubel u.a., StAL, PP-St 121, Bl.181ff; Eine Abschrift der Nummer 2 findet sich bei Schmidt/Heilemann: Der Anteil der Jugend. Näheres zum Inhalt der Ausgaben 3 bis 5 ist nicht überliefert. Vgl. StAL, PP-St 121, Bl.182. Vgl. ebda. Bl.183.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

ermordet“ in einer Auflage von etwa 150 Stück251 sowie „Achtung! Pflichtarbeiter Burgaue aufgepasst!“ mit einer Auflage von 80 Stück, beide vom Mai 1934.252 Nach Erinnerung von Gerhart Zschocher waren zur Erledigung der technischen Aufgaben insgesamt etwa ein Dutzend Jugendliche in Leipzig involviert. Ernüchtert resümiert er: „Und wenn man Pech hatte, erreichten wir mit unseren Bemühungen um die antifaschistischen Informationen nicht einmal hundert Menschen.“253 Dies verdeutlicht den begrenzten Aktionsradius des illegalen KJVD zu dieser Zeit, trotz allen organisatorischen Aufwandes.

f.

Die Zerschlagung des KJVD im Sommer 1934

Geradezu auf dem Höhepunkt der illegalen Tätigkeit gelang der Gestapo durch eine Denunziation Ende Juni ein Einbruch in die Strukturen. Die Zelle Zentrum traf sich regelmäßig in einem Schrebergarten, der der Familie Gottschalk gehörte. Eine der Töchter, Erika Gottschalk, war nicht nur Leiterin dieser Zelle, sondern auch gleichzeitig Politische Leiterin (Instrukteurin) des Unterbezirkes Süd, zu dem die Zelle Zentrum gehörte. Die langjährige Gartennachbarin bekam den Grund der Zusammenkunft mit und informierte auf einer Schutzpolizeiwache die Beamten. Am Abend des 28. Juni wurden die Teilnehmer des Treffens verhaftet. Durch die folgenden Verhöre konnte die Gestapo binnen kurzer Zeit den gesamten UB Süd verhaften. Nach dem (theoretischen) konspirativen Aufbau des KJVD hätten die Mitglieder der anderen Unterbezirke von dieser Verhaftungswelle verschont bleiben müssen, denn keiner der Mitglieder kannte andere aus den übrigen Unterbezirken. Das Problem war, dass ein Zellenmitglied aus dem UB Süd gleichzeitig Mitglied einer Betriebszelle war, die organisatorisch zum UB Nord gehörte. Mit der Verhaftung des Leiters dieser Betriebszelle wurde dadurch auch der gesamte UB Nord „aufgerollt“. Die Unterbezirke West und Ost blieben hingegen vorerst von Verhaftungen verschont.254 Doch bereits wenige Tage später, am 6. Juli, wurde im Betrieb der HASAG Ilse W. angezeigt, die Streuzettel mit der Aufschrift „Wir sind die Jugend des Hochverrats“ verteilt haben soll. Nach ihrer Verhaftung und erpressten Aussagen konnte der UB Ost zerschlagen 251

252 253 254

Erich Nowotnik war KJVD-Mitglied, der nach einer Flugblattaktion von der Gestapo verhaftet wurde und Anfang Mai 1934, nach Angaben des illegalen KJVD, infolge der Misshandlungen in Polizeigewahrsam starb. Siehe „Die Junge Garde“, Juni 1934, S.6. In: StAL PP-S 1174, unpag.; Möglicherweise nahm Nowotnik sich in der Haft das Leben. Siehe: KOMMISSION (Hg.): Revolution, S.403. StAL PP-St 121, Bl.183. ZSCHOCHER: Zeichen, S.104. Vgl. SCHREIBER: Politische Polizei, S.155.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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werden. Durch die Verhaftung des Kuriers Zschocher, der alle Unterbezirke mit Literatur und Flugblättern belieferte, gelang schließlich der Einbruch in den UB West. Grund der schnellen Ermittlungserfolge der Gestapo-Beamten waren zweifellos ihre rabiaten Verhörmethoden gegenüber den Verhafteten, denen auf Dauer keiner standhalten konnte. Der Unterbezirk Leipzig war damit faktisch zerschlagen, wenn es auch in der Folgezeit noch mehrere Reorganisationsversuche gab, die jedoch quantitativ und qualitativ nicht an die Strukturen des Frühjahrs 1934 heranreichten. Umso tragischer ist die Tatsache, dass die Zerschlagung des gesamten UB Leipzig aufgrund nur zweier zufälliger Denunziationen aus der Bevölkerung gelang. Die eigene Ermittlungstätigkeit der Gestapo in Leipzig hatte im Vorfeld zum illegalen KJVD keine Ergebnisse erzielt.255 Die Feststellung Breyvogels, dass der KJVD in Deutschland zu dieser Zeit „mit V-Leuten und Spitzeln durchsetzt“ war, was frühzeitig zu den Massenverhaftungen führte, kann für Leipzig nicht bestätigt werden.256

g.

Der illegale KJVD ab August 1934

Obgleich es der Gestapo nicht gelungen war, den Leipziger Politsekretär der Bezirksleitung „Rudi“ zu ermitteln, wurde Ende August durch die sächsische Oberberaterin Helene Fischer ein neuer Leiter für Leipzig eingesetzt. Alois „Stephan“ Pfaller (Jg. 1910) aus Süddeutschland weilte seit 1932 in Moskau und wurde im Sommer 1934 für die illegale Arbeit nach Deutschland zurückgeschickt. Seine Aufgabe in Leipzig war nicht nur die Funktion des Organisations, sondern auch des Politischen Leiters. Bei einem Treffen mit „Trude“ Fischer in Leipzig erklärte diese ihm, dass man beschlossen habe, die Reste des noch nicht verhafteten KJVD aus Sicherheitsgründen „fallen zu lassen“ und nun mit Hilfe der KPD-Bezirksleitung den KJVD in den einzelnen Stadtteilen reorganisieren wolle. „Stephan“ sollte von jeweils einem „alten Genossen“ in den Stadtteilen Kontakt zur Jugend vermittelt bekommen, welche dann wie gewohnt in Zellen zusammenzufassen sei und neue Mitglieder werben sollte. Nachdem der Kontakt zur KPD zunächst fehlschlug, vermittelte Helene Fischer „Stephan“ einen „Jugendgenossen“ aus dem Leipziger Osten, der beauftragt wurde, eine Zelle zu bilden. In der Folgezeit soll dieser ein gutes Dutzend Jugendlicher für den illegalen KJVD gewonnen haben.

255 256

Siehe SCHREIBER: Politische Polizei, S.156. Zur Arbeit der Gestapo siehe auch: DAMS, CARSTEN/ STOLLE, MICHAEL: Die Gestapo, München 2008, S.106ff. Vgl. BREYVOGEL: Jugendliche Widerstandsformen. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand, S.429.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Pfaller erstellte in dieser Zeit das Manuskript für das Flugblatt „Bringt das Sklavengesetz zu Fall“, welches er von einer „Genossin“ aus dem Leipziger Osten auf eine Matrize tippen und danach von einem „Rudi“ aus dem Süden der Stadt 80-mal vervielfältigen ließ.257 „Rudi“ wurde von Pfaller daraufhin zum Technischen Leiter ernannt. Nachdem Pfaller ein weiteres Manuskript „An die Jungarbeiter“ seinem Verbindungsmann aus dem Osten übergeben hatte, soll er es später mit der Bemerkung zurückbekommen haben, dass man so was auch selbst machen könne. Karl „Dackel“ Stenzel aus dem Leipziger Osten hatte hierfür selbst ein Flugblatt „Jungarbeiter und Jungarbeiterinnen“ verfasst. Pfaller missfiel offenbar die mangelnde Disziplin von Stenzel. Er verlangte von Helene Fischer einen neuen Verbindungsmann und hatte seit Ende September keinen Kontakt mehr in den Osten. Kurze Zeit später bekam Pfaller Kontakt zur Bezirksleitung der KPD. Diese vermittelte ihm eine Verbindung zu Jungkommunisten im Westen der Stadt. Sein Verbindungsmann dort wurde Hermann Axen (Jg. 1916). Bei einem Treffen forderte Pfaller unbeirrt „mehr Arbeit auf der Massenbasis zu leisten“.258 Für die Zeit bis zum Herbst 1934 ist kaum etwas darüber bekannt, dass die KPD ihre Jugendorganisation in einem nennenswerten Umfang bei der illegalen Arbeit unterstützt oder es eine Kooperation in irgendeiner Form gegeben hätte. Möglicherweise war die illegale KPD nach zahlreichen Verhaftungen selbst mit ihrer eigenen Reorganisation beschäftigt bzw. wollte aus Konspirationsgründen keinen regelmäßigen Kontakt zum KJVD. Aufgrund der personellen Engpässe beider Organisationen entschied man sich seitens der KPD im Herbst 1934 offenbar doch für eine engere Zusammenarbeit. Pfaller bekam nicht nur Kontakt zur Oberberaterin der KPD Maria „Herta“ Krollmann und deren Nachfolger Johannes „Karl“ Eggert, sondern auch zum Bezirksleiter Friedrich „Georg“ Dettmann. Mit Letzterem fuhr Pfaller Anfang Oktober nach Wurzen, um sich dort mit einem „Jugendgenossen“ zu treffen. Dieser berichtete, dass man in Wurzen den KJVD aufgelöst und die verbliebenen Mitglieder in die KPD übernommen habe. Pfaller forderte, dies wieder rückgängig zu machen. Ende Oktober 1934 kam es, wahrscheinlich erstmalig seit anderthalb Jahren, zu einem größeren Treffen zwischen führenden Funktionären der Leipziger KPD und des KJVD in einer Privatwohnung im Stadtteil Lindenau. Anwesend waren nach späteren Ermittlungen der Gestapo Helene Fischer und Pfaller, auf Seiten der KPD Dettmann, der neue Oberberater Eggert sowie ein gewisser „Gustav“ von der RGO. Bei diesem Treffen forderte Pfaller eine wesentlich stärkere Unterstützung durch die KPD. Ein bis zwei Wochen später gab es ein

257 258

Bei diesem „Rudi“ könnte es sich um Gerhard Riefler gehandelt haben. Siehe: Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0588, Anklageschrift gegen Hans Lauter. Anklageschrift gegen A. Pfaller. In: Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0548, unpag.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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weiteres Treffen, an dem – außer Helene Fischer – dieselben Personen teilnahmen.259 Über Ergebnisse und Inhalte des Treffens ist nichts bekannt. Am 1. November wurde Pfaller in Leipzig verhaftet und dem KJVD fehlte abermals der Leiter. Grund für die Verhaftung war eine Denunziation. Das frühere KJVD-Mitglied Herbert G. (Jg. 1911), welches 1934 in die SA eintrat, bekam wieder Kontakt zu einem früheren „Genossen“ Heinz Mißlitz, welcher illegal mit Pfaller zusammenarbeitete. Mißlitz, der von der SA-Mitgliedschaft seines früheren Bekannten nichts wusste, vermittelte diesem ein Treffen mit Pfaller, wobei Pfaller, Mißlitz und andere verhaftet wurden.260 Pfaller verurteilte man Anfang Mai 1936 vor dem Volksgerichtshof wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 12 Jahren Zuchthaus. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Die anderen bekannt gewordenen KJVD-Mitglieder aus dieser Zeit, sieben an der Zahl, erhielten vom OLG Dresden Zuchthausstrafen zwischen drei und sechs Jahren. Insgesamt sollen im Zuge der Ermittlungen 18 illegale KJVD-Mitglieder verhaftet worden sein.261 Von Hermann Axen ist bekannt, dass er nach seiner Haftentlassung zunächst 1938 nach Frankreich ins Exil ging, wo er 1940 interniert und 1942 an die Gestapo ausgeliefert wurde, die ihn wegen seiner jüdischen Vorfahren ins KZ Auschwitz deportierte. Gegen Kriegsende kam er ins KZ Buchenwald. Mißlitz wurde nach Verbüßung seiner Haftstrafe ebenfalls in das KZ Buchenwald überstellt. Mitte Dezember 1934 fand die als „Berliner Konferenz“ bekannt gewordene Reichskonferenz des KJVD in Moskau statt. An der Tagung nahmen etwa 40 Vertreter teil, viele von ihnen kamen aus der illegalen Arbeit in Deutschland, so u. a. aus Hamburg, Frankfurt/Main und Berlin. Aus Sachsen waren Hans Lauter und Maria Rott anwesend, beide aus Chemnitz.262 Aufgrund der kurz zuvor erfolgten Verhaftungen konnte kein Delegierter aus Leipzig entsandt werden. Teilnehmerin der Konferenz war außerdem die sächsische Oberinstrukteurin Helene Fischer, die ins ZK des KJVD gewählt wurde. Die angespannte Situation in den einzelnen Städten und Regionen war den Delegierten bekannt. Dennoch kam es zu keiner Kurskorrektur bei der illegalen Arbeit. Der Leiter der KPD-Delegation Herbert Schubert vertrat auf der Konferenz nach wie vor die These, dass eine revolutionäre Situation in Deutschland unmittelbar bevorstehe. Der wenige Monate später von der KPD propagierte Kurswechsel zur „Volksfrontpolitik“ spielte bei dem Treffen noch keine Rolle. Des Weiteren wurde die Forderung erhoben, dass die Jungkommunisten systematisch in der HJ und anderen NS-Organisationen aktiv werden sollten, um dort von innen heraus 259 260

261 262

Vgl. Anklageschrift Pfaller. In: Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0548, unpag. Aufgrund der Denunziation wurde Herbert G. 1947 wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Siehe StAL LG Leipzig Nr.7865, Urteilsschrift Bl.35ff. Vgl. StAL LG Leipzig Nr.7865, Bl.36. Interview mit Hans Lauter.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Zersetzungsarbeit zu leisten (Methode des „Trojanischen Pferdes“).263 Obgleich die Konferenz zu einem Zeitpunkt stattfand, als große Teile des KJVD in Deutschland von der Gestapo faktisch zerschlagen und hunderte Funktionäre und Mitglieder inhaftiert waren, kam es zu keinen Entscheidungen, die Reste des Verbandes effektiver zu schützen. Realitätsfern ist auch die Einschätzung Jahnkes knapp 40 Jahre später: „Die Ergebnisse der Konferenz machten die Fortschritte im Jugendverband sichtbar.“264 Ende Dezember 1934 reiste Helene Fischer zunächst nach Prag und erfuhr dort von der Verhaftung Pfallers in Leipzig. Etwa zeitgleich war auch in Chemnitz der illegale KJVD zum Großteil verhaftet worden. Darum entschloss man sich Anfang Januar, den von der Moskauer Reichskonferenz zurückgekehrten Chemnitzer KJVD-Funktionär Hans Lauter als neuen Politischen Leiter nach Leipzig zu schicken. Wenige Tage später traf sich Hans Lauter mit Helene Fischer im Leipziger Palmengarten und wurde dort mit Horst Jonas bekannt gemacht. Jonas aus dem SAJ-Umfeld hatte bis zu diesem Zeitpunkt bei der illegalen Sozialistischen Schülergemeinschaft mitgewirkt und soll durch Kurt Brandes, ebenfalls früheres SSG-Mitglied, mit den „Gedanken der Einheitsfront bekannt gemacht worden“ sein.265 Kurz darauf ernannte „Trude“ Horst Jonas zum Org.-Leiter von Leipzig. Hans Lauter war zunächst bestrebt, die alte Organisationsstruktur mit neuen Mitgliedern wieder aufzubauen. Jonas verschaffte ihm hierfür Kontakte zu mehreren Jugendlichen, welche teilweise früher der SSG angehört hatten. Die Struktur des illegalen KJVD-Leipzig sah in dieser Zeit folgendermaßen aus: Für den Leipziger Osten war Gerhard „Rudi“ Riefler der Leiter, für den Westen Rolf Heber. Die Stadtteile Zentrum und Süd leitete Max Zaspel. Im Gegensatz zu den Gruppen ein Jahr zuvor fehlten diesem Apparat schlicht die Mitglieder. Anfang 1935 waren nur noch sehr wenige Jugendliche im illegalen KJVD organisiert und hiervon hatte Horst Jonas die meisten aus früheren SAJZusammenhängen rekrutiert. Hans Lauter berichtete später, dass geplant war, zu Pfingsten 1935 zusammen mit früheren SAJ-Mitgliedern in der Dübener Heide ein Jugendtreffen zu veranstalten. Möglicherweise beabsichtigte Horst Jonas dort die Mitglieder der illegalen SSG-Gruppe, bei der er zuletzt Vorsitzender gewesen war, in den illegalen KJVD einzugliedern.266 Durch die Verhaftungen kam dieses Treffen nicht zustande.267 Insgesamt sind für den illegalen KJVD in Leipzig zu dieser Zeit nur sehr wenige Namen bekannt geworden.268

263 264 265 266 267 268

JAHNKE: Jungkommunisten, S.104ff. Ebda. S.115. Widerstand als Hochverrat Fiche Nr.0588, Anklageschrift gegen H. Lauter. Siehe BArch NJ 1196 unpag.; Siehe auch Kapitel zur SSG. Interview mit H. Lauter. Vgl. Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0588, Anklageschrift gegen H. Lauter.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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Hans Lauter gab verschiedene Flugblätter an die anderen Mitglieder weiter, so z. B. „An alle Jungarbeiter und Arbeiterinnen im graphischen Gewerbe“ und „Resolutionen der Reichskonferenz des KJVD“. Außerdem versuchte man intensiv ehemalige SAJ-Mitglieder anzuwerben, so auch mit dem Flugblatt „An alle Leitungen und Mitglieder der Leipziger SAJ“, vermutlich beflügelt durch die Kontakte, welche Horst Jonas vermittelt hatte. Besonders dieses Flugblatt verdient nähere Betrachtung. Es müsste dem KJVD Anfang 1935 bekannt gewesen sein, dass es zu diesem Zeitpunkt keine funktionierende illegale SAJ-Struktur in Leipzig gab, höchstens mehr oder weniger informelle Kontakte einzelner Freundes- und Bekanntenkreise. Dennoch wandte man sich, mittels besagten Flugblatts, welches sich inhaltlich auf die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland bezog, im Frühjahr 1935 an frühere Leipziger SAJMitglieder. Hatte der KJVD die Jahre zuvor sich noch als Avantgarde des Proletariats verstanden und die Sozialdemokratie diffamiert, so schlug man nun geradezu versöhnliche Töne an. Jetzt ging es nicht mehr darum, die jungen Sozialdemokraten aufzufordern, sich dem KJVD unterzuordnen, sondern verstand den Kampf gegen die Wiederaufrüstung als „gemeinsame Arbeit“. In anderen Ländern, wie Österreich, Spanien und Frankreich, hatte man gesehen, dass die einzige richtige Lehre, die man jetzt zu ziehen hätte, „einig zu sein im Kampf“ wäre. „Ohne unseren gemeinsamen Kampf ist der Sturz der faschistischen Hitler-Diktatur unmöglich“, heißt es weiter. Unterzeichnet war das zweiseitige Flugblatt: „mit freundschaftlichem Gruß und Händedruck, KJVD Bez. Leipzig“.269 Der ein Jahr zuvor noch in den Publikationen des KJVD dominierende Führungsanspruch war einem stärkeren Anti-Nazi- und Einheitsfrontgedanken gewichen. Diese Entwicklung zeichnete sich auch in der Mutterpartei ab, stellenweise bereits ab der zweiten Jahreshälfte 1934. Die KPD korrigierte angesichts der aktuellen Situation mit zahlreichen Verhaftungen und des Ausbleibens einer „revolutionären Situation“ schrittweise ihre bisherige Strategie in Richtung Volksfrontpolitik, ein Prozess, der auf der Brüsseler Konferenz der KPD im Oktober 1935 schließlich zur offiziellen Parteilinie wurde.270 Der Leipziger KJVD war auf Mitglieder der SAJ angewiesen, wollte man weiter politisch aktiv sein. Darum war es notwendig geworden, die Gemeinsamkeiten der politischen Zielsetzung herauszustellen. Die Auflage der Flugblätter in dieser Zeit betrug nur noch zwischen 25 und 40 Stück und zeugt von der Unmöglichkeit zu diesem Zeitpunkt, „Massenagitation“ zu betreiben. Über die näheren Inhalte der Flugblätter konnte aufgrund fehlender Quellen nichts in Erfahrung gebracht werden.

269 270

Flugblatt des KJVD-Leipzig „An alle Leitungen und Mitglieder der Leipziger SAJ” (ohne Datumsangabe, vermutlich Ende März 1935), BArch RY 1 I/4/1/74, Bl.236f. Siehe PEUKERT: KPD im Widerstand, S.229.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Ein besonderes Erfolgserlebnis bei der Rekrutierung neuer Mitglieder verschaffte ebenfalls Horst Jonas dem illegalen KJVD. Dieser kannte den Oberschüler der Leipziger Thomas-Schule Hans Clauß, welcher vor 1933 Mitglied der SSG und seit 1934 in der Hitlerjugend bei der Stabswache tätig war. Horst Jonas hatte mit Hans Clauß nach 1933 weiter Kontakt gehabt und von ihm erfahren, dass er trotz seiner HJ-Mitgliedschaft kein Nationalsozialist geworden sei, sondern immer noch zur „marxistischen Idee“ stehen würde. Hans Clauß konnte überredet werden, in den illegalen KJVD einzutreten.271 Somit ergab sich erstmalig die Möglichkeit, die Methode des „Trojanischen Pferdes“ in Leipzig in der Praxis durchzuführen. Bei einem Treffen mit Lauter wurde vereinbart, dass Clauß bei der HJ weiter engagiert mitarbeiten solle, um keinen Verdacht zu erwecken. Somit könnte Clauß bald in eine führende Stellung kommen, damit er die Möglichkeit hätte, einen größeren Kreis von Hitlerjungen zu beeinflussen. In der Folgezeit blieb er mit Jonas in Verbindung. Es ist nicht bekannt, ob Hans Clauß wirklich diese Strategie in der Praxis umsetzen konnte oder wollte. Anfang April 1935 fand in einem Leipziger Café ein Treffen zwischen Hans Lauter, Oberberaterin „Trude“ und der Chemnitzer Funktionärin Maria Rott statt. Hans Lauter und Maria Rott berichteten „Trude“, dass es durch die Angst vor Verhaftungen sehr schwierig sei, neue Mitglieder zu finden. Wenige Tage später am 12. April fuhr Helene Fischer nach Dresden, um sich dort mit einem Vertreter der illegalen KPD-Bezirksleitung Sachsen zu treffen. Hier lief sie in eine Falle der Gestapo und wurde verhaftet.272 Kurze Zeit später kam Hans Lauter mit dem neuen Oberberater für Sachsen „Peter“ zusammen. Trotz einiger Wochen, in denen Helene Fischer bei den Verhören den Namen und das Quartier von Hans Lauter verschweigen konnte, schaffte es Hans Lauter nicht, sich rechtzeitig aus Leipzig abzusetzen. Dies hing auch damit zusammen, dass mit seiner Flucht der verbliebene Apparat zusammengebrochen wäre, was noch einmal verdeutlicht, wie dünn die Personaldecke des KJVD im Frühjahr 1935 war.273 Am 28. Mai wurde er schließlich in Leipzig festgenommen, weitere Verhaftungen folgten. Anfang Dezember 1935 verurteilte man Hans Lauter zusammen mit zwölf illegalen Mitgliedern des KJVDChemnitz wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zehn Jahren Zuchthaus. Die beiden früheren SSG-Mitglieder Horst Jonas und Kurt Brandes wurden am 6. April 1936 vom Oberlandesgericht Dresden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu vier Jahren und drei Monaten bzw. zwei Jahren fünf Monaten

271 272

273

Vgl. Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0588, Anklageschrift gegen H. Lauter. Im August 1936 wurde Helene Fischer zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch ein Jahr später in die Sowjetunion ausgewiesen. Zu den näheren Umständen siehe: HERBST: Der Fall Lena Fischer. In: LEO/REIF-SPIREK (Hg.): Vielstimmiges Schweigen, S.223-237. Interview mit H. Lauter.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

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Zuchthaus verurteilt.274 Horst Jonas kam aufgrund seiner jüdischen Abstammung nach seiner Haftstrafe ins KZ Auschwitz.275 Die von der Gestapo 1934 bis 1935 ermittelten Mitglieder und Funktionäre des illegalen Leipziger KJVD wurden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zumeist vor dem Oberlandesgericht Dresden im Zeitraum 1935 bis 1936 in insgesamt elf Prozessen angeklagt und verurteilt. Neben einigen Freisprüchen mangels Beweisen und Gefängnisstrafen wurden zum Teil mehrjährige Zuchthausstrafen verhängt.276

h.

Neue Versuche illegaler Arbeit 1936

Nach der Verhaftung von Helene Fischer und Hans Lauter im Frühjahr 1935 gab es keine aktiven Funktionäre mehr in Leipzig. Die Organisationsstrukturen von KPD und KJVD waren zerschlagen. Die illegale sächsische Landesleitung der KPD, welche seit einiger Zeit von der Tschechoslowakei aus agierte, versuchte in der Folgezeit dennoch immer wieder, neue Kontakte nach Leipzig aufzubauen. Herbert Hösel (Jg. 1914) ehemaliges KPD-Mitglied aus Markkleeberg-West, einem kleinen Ort an der Südgrenze Leipzigs, war bereits 1934 wegen illegaler kommunistischer Arbeit vom Sondergericht Freiberg zu acht Monaten Haft verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung traf er das frühere KJVDMitglied Herbert Wilhelm (Jg. 1915). Wilhelm war nach 1933 Politischer Leiter einer KJVD-Zelle gewesen und wollte wieder illegal arbeiten.277 Hösel, bis 1931 Mitglied der SAJ, beschloss daraufhin im Sommer 1935 den ihm von früher bekanntem Karl Brandes in seinem Exil in der ČSR zu treffen.278 Als Anlaufadresse diente ihm der im tschechischen Platten lebende Bäcker Franz Czerny.279

274 275 276 277 278

279

Vgl. StAL PP-S 1313, Bl.31 und PP-S 208/119 Bl.1. H. Jonas überlebte das Vernichtungslager. Siehe W. KRISCH: Geboren am 14. Juli 1919. In: HOCHMUTH/HOFFMANN (Hg.): Buchenwald, Berlin 2007, S.132. Vgl. HÖPPNER: Juden im Leipziger Widerstand. In: E. CARLEBACH STIFTUNG (Hg.): Judaica Lipsiensia, Leipzig 1994, S.159. StAL PP-S 1983, Bl.35, Gestapo-Verhörprotokoll. Bei Schmidt/Heilemann, die in den 60ern dieselbe Akte wie der Verfasser durchgearbeitet hatten, heißt es hingegen „einen ehemaligen Kameraden aus der SAJ“. Der in der Quelle genannte Karl Brandes wird bewusst weggelassen. Das ist umso verwunderlicher, da Brandes Ende 1934 zur illegalen KPD-Leitung in Leipzig gehörte. Nachdem Brandes im Dezember 1934 seiner Verhaftung durch Flucht nach Prag knapp entkommen konnte, verliert sich seine Spur 1935 in der SU. Möglicherweise wurde er dort als ehemaliger Sozialdemokrat Opfer stalinistischer „Säuberungsaktionen“ und war darum in den 60ern in der DDR eine Persona Non Grata. Vgl. SCHMIDT/HEILEMANN: Der Anteil; Siehe auch Kapitel zur SAJ. Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0073, Anklageschrift gegen Walter Lein u.a.

96

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Dieser konnte jedoch keinen Kontakt vermitteln, da sich Brandes zu diesem Zeitpunkt bereits in der Sowjetunion aufhielt. Er machte ihn aber mit „Erich“ bekannt, einem Funktionär von der sächsischen Landesleitung der KPD in der ČSR. „Erich“ war sehr an einem neuen Kontakt nach Leipzig interessiert und traf sich in den Folgemonaten mehrmals mit Hösel in der ČSR, um ihn für die illegale Arbeit zu gewinnen. Hierbei informierte „Erich“ u. a. über die Beschlüsse der Reichskonferenz des KJVD in Moskau. Hösel sollte in Leipzig nach Mitarbeitern für die illegale Arbeit suchen. Im Gegensatz zu früher sollte es keine Zellen mehr geben, sondern jeder würde alleine arbeiten und nur mit „Erich“ in Kontakt stehen. Seit Dezember 1935 traf sich Hösel in seiner elterlichen Wohnung außerdem wieder mit ehemaligen „Genossen“ aus Markkleeberg. Mit Herbert Wilhelm reiste er in der Folgezeit mehrmals in die ČSR. Bei einem Treffen mit „Erich“ im Dezember 1935 im „Naturfreundeheim“ in Neuhammer/ČSR gab Herbert Hösel ihm Namen von Personen, alle aus dem südlichen Leipziger Umland, die er für die illegale Arbeit für geeignet hielt.280 Sieben von ihnen waren bereits vor 1933 im KJVD und einer in der SAJ Mitglied gewesen. Außerdem stand die Verlobte Hösels, Elfriede Döhler (Jg.1916) aus Großdeuben bei Leipzig, mit „Erich“ in Kontakt. Sie sollte ebenfalls ehemalige Mitglieder des KJVD für die illegale Arbeit gewinnen und die Namen an „Erich“ weiterleiten. „Erich“ hatte Döhler, Wilhelm und Hösel erklärt, dass „die LL [Landesleitung] der illegalen KPD aus konspirativen Gesichtspunkten von der bisherigen Arbeitsweise (Organisierung auf breiter Grundlage) abgekommen sei, weil diese Arbeitsweise zu viele Opfer fordere.“281 Die illegale Arbeit hätte als Hauptfeld die Einschleusung von Kommunisten in NS-Gliederungen, um dort das Vertrauen der Führung und der Mitglieder zu erwerben. „Ist dieses Vertrauen einmal erreicht, dann hat die eigentliche Zersetzungstätigkeit einzusetzen, d. h., die eingeschalteten Elemente haben dann unter dem Deckmantel der ‚berechtigten’ Kritik die getroffenen Maßnahmen der Führung anzugreifen und dadurch Unwillen und Unzufriedenheit in die Gliederungen hineinzutragen.“282 Darüber hinaus hatte die KPD-Leitung großes Interesse an Informationen aus Rüstungsbetrieben. Einer der potentiellen Mitarbeiter war Walter Lein aus dem Leipziger Osten, welcher im Mai 1934 wegen illegaler kommunistischer Arbeit zu einem Jahr und zwei Monaten Haft verurteilt worden war. Hösel kannte ihn aus seiner Zeit im Gefängnis. Nach eigenen Angaben war Hösel letztmalig am 7. Juni 1936 in Platten mit „Erich“ zusammengekommen. Er schilderte ihm „die Unmöglichkeit, im verlangten Maße Genossen in NS-Gliederungen zu schicken, weil die

280 281 282

Vgl. StAL PP-S 1983, Bl.38; Protokoll des Gestapo-Verhöres. Ebda. Bl.161; Protokoll des Gestapo-Verhöres. Ebda.

2. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – der KJVD

97

Jugend, die seinerzeit in den marxistischen Jugendverbänden verankert war, heute für die Jugend-NS-Gliederungen zu alt sei und die neue Generation kein guter Boden für die verlangte Zersetzungstätigkeit sei.“283 Mehrere Male hatten Hösel und seine Verlobte aus der ČSR illegale kommunistische Druckschriften wie „Die rote Fahne“ und „Die Junge Garde“ mitgebracht. Einige Exemplare wurden später bei einer Wohnungsdurchsuchung beschlagnahmt. Beim Auffinden der Schriften half offenbar Hösels Stiefbruder, der Mitglied in der HJ war.284 Kenntnis erhielt die Gestapo von diesen illegalen Aktivitäten wiederum nicht durch eigene Ermittlungen, sondern durch eine Denunziation. Eine 44jährige Straßenbahnschaffnerin aus dem Leipziger Zentrum erstattete am 25. Mai 1936 bei der Gestapo Anzeige gegen Walter Lein, den Bräutigam ihrer Tochter. Dieser hatte wenige Wochen zuvor den beiden Frauen von einer Reise in die ČSR erzählt, bei der er „Bericht erstattet“ hätte.285 Außerdem äußerte er, „dass die Arbeitslosigkeit und alle anderen Verhältnisse genau noch wie früher wären“.286 Der Anzeigeerstatterin war bekannt, dass Lein und andere seiner Familienangehörigen bereits wegen politischer Betätigung vorbestraft waren. Neben Walter Lein, Herbert Hösel und der flüchtigen Elfriede Döhler konnte die Gestapo außerdem noch zwei weitere Personen ermitteln, wovon einer, Herbert Raue, zumindest einmal mit „Erich“ in der ČSR zusammengetroffen war. Der andere stellte lediglich seine Postadresse zur Verfügung und übergab einmal einen Brief. Elfriede Döhler und Herbert Wilhelm blieben von einer Verhaftung zunächst verschont, da sie sich noch rechtzeitig in die ČSR absetzen konnten. Ob die Gestapo Elfriede Döhlers später noch habhaft wurde, ist nicht bekannt. Herbert Wilhelm soll im Juni 1939 bei einem illegalen Grenzübertritt zurück nach Deutschland verhaftet worden sein.287 Der Vorgang landete nicht wie sonst üblich beim Oberlandesgericht Dresden, sondern beim Oberreichsanwalt in Berlin und dort wurde Anklage wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ erhoben. Am 5. Januar 1937 verurteilte der Volksgerichtshof Herbert Hösel zu sechs Jahren Zuchthaus, Walter Lein zu drei Jahren Zuchthaus. Herbert Raue wurde wegen Beihilfe zur „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, der Vierte freigesprochen.288 Gemessen an der geleisteten illegalen Arbeit von Hösel und Lein fielen

283 284 285

286 287 288

StAL PP-S 1983 Bl.44; In der Anklageschrift wird Ostern 1936 als letzter Kontakt zwischen Hösel und „Erich“ angegeben, Vgl. Widerstand als Hochverrat, FicheNr.0073. Vgl. Widerstand als Hochverrat, FicheNr.0073. Anders als im Verhörprotokoll der Gestapo wird Lein in der Anklageschrift zitiert, dass er nicht in der ČSR gewesen sei, sondern durch eine Fahrradpanne daran gehindert wurde. Vgl. Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0073. StAL PP-S 1983, Bl.13 Gestapo-Verhörprotokoll. SCHMIDT/HEILEMANN: Der Anteil der Jugend, S.73. Widerstand als Hochverrat, Fiche Nr.0074, Urteilsschrift.

98

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

die Urteile relativ hart aus. Die Höhe der Strafe lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass die beiden Hauptangeklagten „Wiederholungstäter“ waren. Es ist möglich, dass in diesem Zeitraum noch weitere unbekannte Personen aus Leipzig zumindest zeitweise Kontakt in die ČSR und zu „Erich“ hatten. Analog dem hier geschilderten Fall wird es aber auch bei den zu vermutenden Personen nicht zu einer nennenswerten illegalen Arbeit gekommen sein. Für Leipzig kann man trotz der zaghaften Reorganisierungsversuche in der ersten Jahreshälfte 1936 festhalten, dass bereits im Mai 1935 mit der Verhaftung von Hans Lauter und den anderen illegalen KJVD-Funktionären der Jugendverband als Organisation zerschlagen war.

3. a.

Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ SPD, SAJ und Widerstand

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichkanzler konzentrierte sich die SPD zunächst auf die am 5. März anstehenden Reichstagswahlen. In Aufrufen der Parteiführung wurde gleichzeitig davor gewarnt, den Boden der Verfassung jetzt zu verlassen.289 Durch Festhalten am Legalitätskurs wollte die SPD-Führung keinen Grund zu Aktionen gegen sich bieten. Die Situation der Sozialdemokraten verschlechterte sich jedoch nach dem Reichstagsbrand und den MärzWahlen in Deutschland spürbar. Veranstaltungen wurden untersagt, ebenso das Erscheinen der SPD-Presse. Bereits am 13. März 1933 verbot man in Sachsen die SAJ und die Roten Falken in Sachsen, sechs Wochen vor dem offiziellen Verbot des sächsischen KJVD Ende April.290 SPD-Vorstandsmitglied und letzter Vorsitzende der SAJ, Erich Ollenhauer aus Berlin, ging ins tschechische Exil, um von dort aus für die SPD zu arbeiten. Andere bekannte Funktionäre blieben hingegen in Deutschland, um „ihren Glauben an ein baldiges Zusammenbrechen des Regimes zu bekräftigen.“291 Die SPD befand sich in einem Zustand der „Halblegalität“, weswegen Ende April in Prag ein zweiter Parteivorstand eingerichtet wurde. Sachsens Innenminister verbot für seinen Zuständigkeitsbereich am 23. Juni die SPD. Durch das

289 290

291

Vgl. RUDLOFF: Leipzig-Wiege, S.152f. Zur Verbotsstrategie bei sozialdemokratischen Vorfeldorganisationen vgl. auch H. MEHRINGER: Sozialdemokratischer und sozialistischer Widerstand. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Diktatur, S.57. EBERS: Arbeiterjugend, S.155.

3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ

99

Parteiengesetz vom 14. Juli kam schließlich das endgültige Aus für die SPD wie für die SAJ in ganz Deutschland.292 Wie in anderen deutschen Städten zerfiel im Frühjahr 1933 auch die Leipziger SPD in mehrere Flügel. Grund war, dass es weder einen Plan gab, die Partei in der Illegalität geschlossen zusammenzuhalten, noch dass man dem Wunsch vieler Mitglieder an der Basis nachkam, auf die aktuell-politische Situation zu reagieren. Deutlich wurde das in Leipzig an den „Kampfstaffeln“, die im März 1933 in Leipzig in Alarmquartieren lagen. In Leipzig bildeten sich aus SPDKreisen in der Folgezeit verschiedene illegale Gruppen, welche unterschiedlichen linkssozialistischen Strömungen angehörten. Die drei bekanntesten verfügten über mehrere Stadtteilgruppen, die mit illegaler Literatur versorgt wurden. Für den Herbst 1933 sind für Leipzig bekannt: - die „Gruppe Zorn“, welche in starker Opposition zur SPD-Auslandsleitung stand; - ein Ableger der Bewegung „Neu Beginnen“, die die SPD für überholt hielt und eine Einigung aller Marxisten anstrebte (diese Gruppe existierte in Leipzig nur wenige Wochen); - eine dem Parteivorstand treue Gruppe „Günther Fichte“ mit Verbindungen ins tschechische Exil zur Sopade.293 Zwar hatte die SAJ wie der KJVD ebenfalls einen von oben nach unten durchstrukturierten Aufbau, jedoch besaßen die einzelnen Basisgruppen mehr Autonomie bei der Gestaltung ihres Gruppenlebens. Die gesamte SAJ stand nun vor der Frage, wie es nach der „Machtergreifung“ und dem einsetzenden Terror der SA überhaupt noch möglich sein könnte, das Verbandsleben weiterzuführen. Wo die einzelnen Basisgruppen gewachsene soziale Zusammenhänge darstellten, fuhr man – analog den KJVD-Gruppen – im Frühjahr und Sommer 1933 an den Wochenenden in die nähere Umgebung Leipzigs und diskutierte die aktuelle politische Lage. Ein Großteil der Mitglieder wandte sich in der Folgezeit von illegalen politischen Aktivitäten ab und kam teilweise nur noch in Gesinnungsgemeinschaften wie Sport- und Musikvereinen zusammen. Diejenigen, die weiter politisch aktiv sein wollten, spalteten sich in mehrere Lager. Zum einen gab es Personen, die die SAJ durch die (vermeintlich kurze) Zeit der Illegalität bringen wollten. Andere sahen hingegen im illegalen KJVD die richtige politische Kraft und schlossen sich dessen Zellen an. Wieder andere Gruppen und Einzelpersonen orientierten sich an den verschiedenen illegalen Nachfolgegruppen, die aus der inzwischen verbotenen SPD hervorgegangen waren.

292 293

Vgl. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.36. Ebda. S.38-48; Vgl. StAL PP-St 59, Bl.39, Verhör von Kurt Günther (ehem. LVZRedakteur) vom 8.8.1934.

100

b.

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Die Kampfstaffeln

Obgleich die Kampfstaffeln (KS) vorwiegend aus SAJ-Mitgliedern gebildet worden waren, hatten die KS keine jugendspezifischen Gruppenmerkmale. Gleichwohl bedienten sie militante Neigungen dieser Altersgruppe und demonstrierten eine „Kampfbereitschaft gegen den Faschismus“, welche man bei der SPD sonst vermisste.294 Auf Initiative des zur Parteilinken zählenden Vorsitzenden des SPDUnterbezirkes Groß-Leipzig Hermann Liebmann wurde bereits 1930 die Gründung der Leipziger Kampfstaffeln beschlossen.295 Zum Organisationsleiter ernannte man den Lehrer Hans Weise. Bis zu 2.000 Mann sollen den KS angehört haben. Ein Großteil der männlichen SAJ-Mitglieder in Leipzig war bereits 1930 den Kampfstaffeln und auch dem SPD-Schutz beigetreten.296 Ohne Wissen des Leipziger SPD-Unterbezirksvorstandes ging man außerdem dazu über, Waffenlager anzulegen. Die Kampfstaffeln wurden immer wieder in tätliche Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten verwickelt. Am 18. Januar 1933 beispielsweise überfiel in Stötteritz eine SA-Gruppe etwa 30 Mitglieder einer Kampfstaffelgruppe, wobei zwei 17jährige KS-Mitglieder durch Schusswaffen verletzt wurden.297 Wie massiv die Gewalt der Nationalsozialisten in dieser Zeit gegen Mitglieder linkssozialistischer Organisationen war, zeigen die Ereignisse des 23. Februar 1933, wo SA-Leute in Schleußig mehrere Reichsbanner-Mitglieder auf der Straße überfielen und den 30jährigen Walter Heinze durch mehrere Messerstiche tödlich verletzten. Nur wenige Stunden später wurde vor dem Volkshaus eine Abteilung Reichsbanner-Mitglieder von SA-Leuten beschossen.298 Nach den Märzwahlen 1933 sollen, nach einem späteren Bericht von Hans Weise, die KS in Alarmquartieren auf ihren Einsatzbefehl gewartet haben, um in Leipzig Straßen und öffentliche Gebäude zu besetzen. Doch in der entscheidenden Vorstandssitzung am 9. März waren die Befürworter eines Aufstandes in der Minderheit. Die Mehrheit der SPD hielt ungebrochen an ihrem Legalitätskurs fest, die Kampfstaffeln wurden nach Hause geschickt.299 Wenn die Aussichten auf einen erfolgreichen Verlauf auch äußerst gering schienen, so ist es doch bemerkenswert, dass Teile der Leipziger Sozialdemokratie Willens und in der Lage waren, den Kampf gegen die sich ausbreitende 294 295

296 297 298 299

Siehe auch VOIGT: Reichsbanner, S.441. Zur näheren Erläuterung der Leipziger KS siehe: D. ZIEGS: Die Leipziger SPD im Kampf um die Republik. In: GREBING (Hg.): Demokratie, S.324-327; VOIGT: Reichsbanner, S.452ff. Vgl. VOGEL: Parteibezirk, S.693. Vgl. NLZ 19.1.1933, S.1 zitiert nach: LEHMSTEDT (Hg.): Leipzig wird braun, S.14f. Vgl. ebda. S.47. Siehe auch RUDLOFF: Leipzig-Wiege, S.153f.; außerdem VOGEL: Parteibezirk, S.845f.

3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ

101

NS-Diktatur notfalls mit der Waffe zu führen. Eine vergleichbare Vorbereitung seitens der KPD ist für Leipzig - wie auch für andere deutsche Städte - nicht bekannt. Nach Auflösung der Kampfstaffeln soll eine Anzahl Mitglieder noch in den „Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten“ eingetreten sein. Nachdem die jungen Mitglieder im Herbst 1933 in die SA überstellt werden sollten, traten alle KSMitglieder wieder aus.300 Einzelne Gruppen sollen noch bis 1938 in Kontakt geblieben sein. Hierzu hatte sich Hans Weise im Oktober 1933 ein Zigarettengeschäft gekauft, welches als illegaler Anlaufpunkt diente.301 Die Gestapo erfuhr zwar spätestens ab 1934 im Zuge der Ermittlungen gegen Leipziger SPDFunktionäre einiges über die KS, es ist aber nicht bekannt, dass es aufgrund der Aktivitäten vom März 1933 größere Ermittlungen oder gar Verurteilungen gab.302

c.

Der illegale SAJ-Vorstand in Leipzig

Nachdem bereits Mitte März 1933 die SAJ in Sachsen und einigen anderen Ländern des Reiches (Bayern, Württemberg) verboten worden war, existierte in der Hauptstadt Berlin trotz zahlreicher Beschränkungen de facto die SAJ bis zum reichsweiten Verbot im Sommer. Auch die Mitglieder des Leipziger Vorstands hielten zunächst weiter untereinander Kontakt. Zu diesem Kreis zählte später die Gestapo den langjährigen SAJ-Funktionär und früheren SPDStadtverordneten Rudolf Kluge (Jg. 1909), den letzten legalen Leipziger SAJVorsitzenden Kurt Dietze (Jg. 1909) sowie Kurt Ruprecht (Jg. 1908).303 Dietze und Ruprecht waren wie Kluge sowohl SAJ- als auch SPD-Mitglieder. Willy Gleitze (Jg. 1904), bis zum März 1933 als Jugendsekretär der SAJ hauptamtlich tätig, gehörte ebenfalls zum letzten legalen Leipziger Vorstand. Der Berliner Hauptvorstand hatte sich, nach dem Verbot der SAJ in einigen Ländern, im März zunächst gegen den Weg in die Illegalität entschieden. Im Zuge des endgültigen Verbotes aller sozialdemokratischen Verbände gab es im Frühsommer 1933 Bemühungen von den in Deutschland verbliebenen Mitgliedern des früheren SAJ-Hauptvorstandes aus Berlin (Fritz List, Gustav Weber und Käte Fröhbrodt) für eine illegale Weiterführung der SAJ. Im Juni unter300 301 302

303

Vgl. RUDLOFF: Leipzig-Wiege, S.159. Vgl. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.30-34; Siehe auch Erinnerungsbericht von Hans Weise, StAL SED-Erinnerungen V/5/329. Vgl. StAL PP-St 59 Bl.70; Verhör von Ernst Utrott am 16.8.1934 „Die technische Leitung der Kampfstaffeln (K.S.) der SPD hatten Popp, Phillip und Weiß [Weise? d.Verf.]. Ich weiß auch, dass ein Teil der Leute der K.S. mit Waffen ausgebildet worden sind, es wurden von unserer Abteilung einmal einige dazu ausgesucht.“ Vgl. StAL LG 5493, Bl.19.

102

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

nahm hierfür Gustav Weber eine „Inspektionsreise“ durch Sachsen (Dresden, Chemnitz, Leipzig), um sich ein Bild von noch vorhandenen SAJ-Strukturen zu machen. Im Juni nahm Weber brieflich Kontakt mit Willy Gleitze auf und traf sich in Leipzig mehrmals mit ihm, ebenso mit Kluge, Ruprecht und Dietze. Weber berichtete von seiner Unterhaltung mit Ollenhauer und dass der illegale Berliner Vorstand mit dem Exil-Vorstand in Prag nicht zufrieden sei. Des Weiteren erzählte er von den Kontakten in andere Städte. Die Leipziger berichteten, dass es noch „inneren Zusammenhalt“ gäbe und dass man sich auch in kleineren Gruppen weiter treffen würde.304 In der Folgezeit trafen sich Gleitze, Dietze, Ruprecht und Kluge mehrmals und besprachen das weitere Vorgehen in Leipzig. Dabei kam es offenbar zu Differenzen zwischen Dietze und den anderen, die sich gegen eine illegale Arbeit aussprachen.305 Nach Ermittlungen der Gestapo nahmen alle außer Dietze im September 1933 von der illegalen Arbeit Abstand. Gleitze zog Ende Oktober 1933 mit Frau und Kind nach Berlin. Daraufhin nahm Dietze Kontakt zu den früheren Leipziger SAJUnterfunktionären Kurt Seydel (Jg. 1913), Karl Brandes (Jg. 1913) und Wilhelm Jonas (Jg. 1906) auf. Mit ihnen besprach er Pläne eines organisatorischen Neuaufbaus der SAJ und die dazu notwendige Aufteilung des Leipziger Stadtgebietes in vier Bezirke. Jonas sollte im Osten und Brandes im Süden Leipzigs Kontakte zu früheren SAJ-Mitgliedern herstellen. Brandes übernahm außerdem kurzzeitig den Vertrieb der illegalen SAJ-Broschüre „Kameraden auf Fahrt“. Die Treffen fanden in Freibädern und im „Palmengarten“ statt.306 Bei einer Zusammenkunft mit dem Berliner Gustav Weber im Oktober 1933 berichtete Dietze von der aktuellen Situation in Leipzig. Mehrere junge Sozialdemokraten hätten in der Zwischenzeit Anschluss zu den Kommunisten gesucht und gefunden. Gemeint sind wahrscheinlich die Vereinigungsbestrebungen einiger SAJ-Mitglieder mit dem illegalen KJVD, konkret auch Karl Brandes und Horst Jonas. Nach späteren Erinnerungen von Friedrich Schlotterbeck, dem illegalen Bezirksleiter des KJVD in Leipzig zu dieser Zeit, soll Erich Ollenhauer die Leipziger Mitglieder beschworen haben, nichts zu überstürzen. „Die Sache sei zu wichtig, um von Stadt zu Stadt gelöst zu werden. Dies müsse im Reichsmaßstab geschehen.“307 Geschehen ist diesbezüglich seitens der SAJ-Führung nichts. Auch die KJVD-Reichsleitung unterband die lokale Vereinigung, wie bereits ausgeführt. Die Reorganisierung der Reste der Leipziger SAJ durch den illegalen Hauptvorstand in Berlin ist nach momentanem Kenntnisstand nicht über die oben

304 305 306 307

Vgl. StAL PP-S 527, Bl.14. Ebda. Vgl. StAL LG 5493, Bl.20f. SCHLOTTERBECK: Je dunkler, Halle/S. 1969, S.25f.

3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ

103

beschriebene Planungsphase hinausgekommen. Gründe sind zum einen, dass ein nicht geringer Teil der jungen Sozialdemokraten an illegaler Arbeit kaum interessiert war bzw. sie für zu riskant hielt. Zum anderen hatten sich mehrere aktive SAJ-Mitglieder inzwischen dem illegalen KJVD, der KPD oder anderen illegalen Gruppen in Leipzig angeschlossen. Wieder andere SAJ-Gruppen brachen völlig mit politischen Dingen und schlossen sich legalen Sport- und Kulturvereinen an. Möglicherweise fehlte es auch an der nötigen Motivation der verbliebenen Funktionäre für die illegale Arbeit in Leipzig, denn der Anstoß zur Fortführung kam offenbar nicht aus den eigenen Reihen, sondern vom Berliner Vorstand.308 Von Mitte Dezember 1933 bis Mitte Januar 1934 verhaftete die Gestapa in Berlin insgesamt 91 Personen, die für die SPD bzw. SAJ illegal tätig gewesen waren, unter ihnen auch Gustav Weber. In den Verhören erfuhren die Beamten von den Kontakten und Strukturen in andere Städte, welche der Leipziger Gestapo Mitte Februar schriftlich mitgeteilt wurden.309 Nach weiteren Ermittlungen vor Ort verhaftete die Gestapo in Leipzig am 24. Mai Jonas, Ruprecht, Kluge, Brandes und Ilse Teubner (Jg. 1909). Auch die Wohnungen der betreffenden Personen wurden durchsucht.310 Kurt Dietze verhaftete man einige Wochen später. Vor Gericht kamen die Angeklagten im Vergleich zu den Jungkommunisten relativ glimpflich davon. Das Landgericht Leipzig führte am 9. Juni 1934 den Prozess gegen Kluge, Ruprecht, Karl Brandes, Wilhelm Jonas und Seydel. Kluge wurde zu neun Monaten, Dietze zu elf Monaten Gefängnis wegen „Neubildung von Parteien“ verurteilt. Die Aktivitäten von Karl Brandes bei einer weiteren illegalen Vereinigung, der „Vorstoß“-Gruppe, sind zu diesem Zeitpunkt den Ermittlern noch nicht bekannt gewesen. Die Verfahren der anderen Angeklagten wurden eingestellt wegen des Straffreiheitsgesetzes vom 7. August 1934, der so genannten Hindenburgamnestie.311 Warum zwischen Amnestie und Prozess zwei Monate lagen, konnte nicht geklärt werden.

d.

Die „Vorstoß“-Gruppe

Im Sommer 1933 fanden sich mehrere Mitglieder der SAJ aus dem Leipziger Süden zusammen und gründeten die illegale „Vorstoß“-Gruppe. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Initiative zur Gründung in erster Linie bei Karl Brandes und anderen SAJ-Angehörigen aus dem Leipziger Süden lag, denn zum

308 309 310 311

Vgl. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.48. Vgl. StAL PP-S 527, Bl.12. Vgl. ebda. Bl.20. SCHMID: Der organisierte Widerstand. In: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.49.

104

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Zeitpunkt der Gründung steckten die Reorganisierungsversuche der Leipziger SAJ noch in der Gesprächsphase. Die „Vorstoß“-Gruppe grenzte sich jedoch nicht bewusst von der SAJ ab. Brandes stieß wie oben beschrieben im September zu den Planungen einer reorganisierten illegalen SAJ. Bis Anfang 1934 brachte die Gruppe mehrere Ausgaben der Zeitung „Der Vorstoß“ heraus. Die erste Ausgabe wurde im Abzugsverfahren hergestellt. Da der Transport der Zeitung zu auffällig schien, ging man dazu über, die folgenden Ausgaben als verkleinerte Fotokopien im Format 12x15cm herzustellen, deren Texte man nur mit der Lupe lesen konnte. An der Herstellung waren Karl Brandes, Kurt Riehl (Jg. 1909) und Werner Rudolph beteiligt. Letzterer stellte nachts in seiner elterlichen Wohnung im Lößniger Rundling mit seinem Belichtungsapparat die Abzüge her. Nach Angaben von Kurt Riehl betrug die Auflagenhöhe etwa 100 Stück. Die illegale SAJ-Gruppe im Stadtteil Connewitz, welche unter Leitung von Karl Brandes stand, erhielt pro Ausgabe etwa 10 bis 15 Stück. Die übrigen Zeitungen wurden auf Parkbänke gelegt oder man ließ sie vom Fahrrad fallen. Auch andere Stadtteile wurden mit der Zeitung beliefert.312 Darüber hinaus gab es Kontakte zu einer illegalen SAJ-Gruppe in Borna, südlich von Leipzig. Im Herbst 1933 bekam die Gruppe Kontakt mit einer illegalen KPDGruppe aus Leipzig-Paunsdorf. Karl Brandes und sein Bruder Kurt sollen außerdem Verbindung zum illegalen KJVD gehabt haben. Auch Kontakte zum KPD-Mitglied Herbert Bochow sind für diese Zeit bekannt.313 Die VorstoßGruppe schloss sich kurz darauf mit der KPD-Gruppe zusammen, auch aus dem Grunde, weil die Kommunisten über bessere Vervielfältigungsmöglichkeiten für den „Vorstoß“ verfügten und inhaltlich zunehmend mitarbeiteten.314 Es ist davon auszugehen, dass die SAJ-Gruppe um Karl Brandes auch aufgrund der zögerlichen und zerstrittenen illegalen Arbeit der Sozialdemokraten sich seit einiger Zeit stärker an den Kommunisten orientierte. Man stellte gemeinsam Flugblätter her und verklebte in der Silvesternacht mehrere selbst gefertigte Plakate im Stadtteil Connewitz. Zunächst duldete die illegale KPD-Leitung in Leipzig die Mitarbeit einiger ihrer Mitglieder an der Zeitung. „Leider setzten sich im Laufe der Zeit gewisse Tendenzen durch, die Existenz der Zeitung, losgelöst vom ‚offiziellen Parteiapparat’, nicht mehr zu befürworten und sie an die Partei zu binden. Diese Absichten stießen bei den Genossen auf (heute gesehen besonders) berechtigten 312 313 314

Protokoll des Gespräches mit Kurt Riehl vom 14.2.1968, Privatarchiv Jahnke, S.3. Vgl. Widerstand als Hochverrat, Nr.0292; Anklageschrift gegen H. Bochow 1941, Bl.21. Erinnerungsbericht von Kurt Hutschenreuter, Juli 1948; Hutschenreuter war bei der illegalen Leipziger KPD verantwortlich für Agitation und Propaganda; BArch RY 1/I2/3/122, Bl.240f.; In der illegalen Druckerei der KPD in Paunsdorf druckte man die Nummern 6 und 7 der Zeitung „Der Vorstoß“. Vgl. StAL SED-Erinnerungen V/5/096, Bericht von Hans Bayer vom 14.9.1957.

3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ

105

Widerstand.“315 Bei einem Treffen zwischen dem damaligen Organisationsleiter der illegalen Leipziger KPD Walter Philippi und einem Mitglied der „Vorstoß“Gruppe konnte sich schließlich die KPD-Führung durchsetzen. Die Herausgabe der Zeitung wurde ab dem Frühsommer 1934 eingestellt und die Gruppe bezog anschließend ihr illegales Material von der KPD. Die Integration der jungen Sozialdemokraten war vollzogen. Karl Brandes stieg in dieser Zeit sogar bis in die Führung der Leipziger KPD auf. Mitte Oktober 1934 wurde außerdem aus diesem Kreis das frühere SAJ-Mitglied Kurt Riehl von der illegalen KPD als Delegierter zu den Feiern anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau geschickt.316 Nachdem im Sommer 1934 der Gestapo ein tiefer Einbruch in die illegalen KJVD-Strukturen gelang, wurde auch die Arbeit der KPD ab September immer wieder von Verhaftungswellen geschwächt. Am 17. Dezember 1934 sollte Karl Brandes auf seiner Arbeitsstelle erneut durch die Gestapo verhaftet werden. In buchstäblich letzter Minute gelang ihm von dort die Flucht. Brandes, der zu diesem Zeitpunkt Mitglied des illegalen „Dreierkopfs“ der Leipziger KPD gewesen sein soll, wandte sich unmittelbar danach an den illegalen Bezirksleiter der KPD Dettmann. In einer Aussprache zeigte sich Brandes ihm gegenüber weiterhin an einer „Laufbahn eines kommunistischen Funktionärs“ interessiert. Dettmann verhalf Brandes daraufhin zur Flucht, indem er ihm einen Geldbetrag aushändigte und eine Anlaufadresse in Prag gab.317 Es folgten in Leipzig Verhaftungen bei der illegalen KPD-Gruppe, unter ihnen auch Werner Rudolph. Ende Januar 1935 wurden Kurt Riehl und weitere Mitglieder aus dem Leipziger Süden verhaftet und Ende Mai vom Sondergericht Freiberg verurteilt. Riehl entließ man - nach einer anschließenden „Schutzhaft“ - im März 1937. Mit der Verhaftung der Mitglieder zum Jahreswechsel 1934/35 wurde die Gruppe dauerhaft zerschlagen.318 Bemerkenswert ist, dass die KPD im Herbst 1934 den 21jährigen ehemaligen SAJ-Funktionär Karl Brandes in die Bezirksleitung delegiert hatte. Dies lässt erahnen, was es aufgrund zahlreicher Verhaftungen bereits 1934 für personelle Engpässe bei der illegalen KPD in Leipzig gegeben haben muss. Nachdem Karl Brandes im Dezember 1934 nach Prag geflüchtet war, hielt er sich dort weiter an die KPD. Wie lange er dort blieb, ist nicht bekannt. Im Herbst 1935

315 316 317

318

Erinnerungsbericht von K. Hutschenreuter, Juli 1948; BArch RY 1/I2/3/122, Bl.241. StAL SED-Erinnerungen V/5/211, Bericht von Kurt Riehl (Jg. 1909) unpag. StAL PP-S 79, Bl.111; Vgl. auch: KOMMISSION (Hg.): In der Revolution, S. 410, Dort ist von Kurt statt von Karl Brandes die Rede. Der gerade mal 20jährige Bruder Kurt Brandes sollte seit Oktober 1934 zum Dreierkopf der neuen KPD-Bezirksleitung gehört haben, was unwahrscheinlich ist. Kurt war erst 1935 beim Versuch des Neuaufbaus des KJVD aktiv und ist in diesem Zusammenhang verhaftet worden. StAL SED-Erinnerungen V/5/211, Bericht von Kurt Riehl (Jg. 1909) unpag.

106

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

war er sogar kurzzeitig an der Leninschule in Moskau.319 Er soll in der SU verstorben sein.320 Unter welchen Umständen konnte bislang nicht ermittelt werden. Möglicherweise wurde er dort als früherer Sozialdemokrat Opfer der stalinistischen „Säuberungen“.

e.

Die Sozialistische Schülergemeinschaft Leipzig

Eng an die SAJ angebunden war die Sozialistische Schülergemeinschaft (SSG) in Leipzig. Alle im Folgenden ermittelten Mitglieder waren darüber hinaus in der „legalen Zeit“ parallel in der SAJ. Mehrere SSG-Mitglieder jüdischer Herkunft verließen nach der „Machtergreifung“ die Schule, um ein Handwerk oder landwirtschaftliche Berufe zu erlernen. Sie wollten Deutschland unter den geänderten Verhältnissen verlassen und bereiteten sich auf eine baldige Auswanderung nach Palästina vor. Zu ihnen gehörte auch der Sohn des Kantors der liberalen Synagoge in Leipzig Felix Jaffé.321 Die Gruppe traf sich zunächst bis zum offiziellen Verbot für Sachsen vom 28. April 1933 im Volkshaus weiter. Bei einem letzten Treffen am 2. Mai löste der Vorsitzende Horst Jonas die Gruppe auf.322 Nach späteren Ermittlungen der Gestapo kamen bald darauf im Juni Horst Jonas und Felix Jaffé „dahin überein, in einem kleinen Kreise im Sinne der marxistischen SSG zusammenzuhalten.“323 Im Herbst 1933 soll es wieder zu einer ersten größeren Zusammenkunft in der Wohnung von Jonas gekommen sein. Er hielt ein Referat über die Machtergreifung der Nationalsozialisten und erläuterte, wie SPD und KPD zu einer positiven Zusammenarbeit kommen könnten.324 Offensichtlich sympathisierte er zu diesem Zeitpunkt bereits stark mit den Kommunisten und hatte auch zu einigen Kontakt. Er wurde daher später beschuldigt, die anderen in der SSG für eine „Einheitsfrontbestrebung zwischen der SPD und der KPD zu gewinnen und sie dem illegalen KJVD zuzuführen“.325 Die Gruppe traf sich in der Folgezeit entweder in den Wohnungen von Jonas und Jaffé oder kam bei Wanderfahrten zusammen. Die Gestapo beschrieb die Treffen später folgendermaßen: „Außer diesen ausgesprochen politischen Zusammenkünften pflegten die Angeklagten auch untereinander geselliges Beisammensein mit allerhand Spielen und besuchten auch gemeinschaftlich Theater und Bäder.“326 Bis 319 320 321 322 323 324 325 326

SCHMID: Der organisierte Widerstand, in: DERS. (Hg.): Zwei Städte, S.50/51. Vgl. Protokoll K. Riehl. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.14. Vgl. ebda. S.16. HStAD SG Freiberg Kls/SG 5/36, Bl.49. Ebda. Bl.52. Ebda. Bl.50. Ebda. Bl.49.

3. Linkssozialistische Jugendgruppen in Leipzig – die SAJ

107

Pfingsten 1935 gab es solche Zusammenkünfte. Bei den Treffen sprach man über die jeweiligen politischen Verhältnisse an Hand von Tageszeitungen und der, nach Gestapo-Angaben, „marxistisch eingestellten, inzwischen verbotenen Zeitschrift ‚Blick in die Zeit’.“327 Erwähnenswert ist, dass die drei weiblichen und fünf männlichen Gruppenmitglieder aus verschiedenen Leipziger Stadtteilen kamen und zum Großteil seit mehreren Jahren in der SSG und in der SAJ aktiv gewesen waren. Zur Gruppe gehörten außerdem die Geschwister von Karl Brandes Elisabeth (Jg. 1916) und Kurt (Jg. 1914). Anhand der Geburtsjahrgänge (1910 bis 1916) kann festgestellt werden, dass es sich nicht um eine „Schülergemeinschaft“ im eigentlichen Sinne gehandelt hat. Alle bekannten Mitglieder waren entweder Facharbeiter oder noch in Ausbildung. Innerhalb der Gruppe gab es außerdem zwei Pärchen, was den sozialen Zusammenhalt verständlicher macht. Wegen ihrer geschlossenen Struktur konnte sich die SSG länger als andere illegale Gruppen vor der Gestapo verbergen und bestand insgesamt zwei Jahre in der Illegalität. Zum Verhängnis wurden ihr Anfang 1935 die parallelen Aktivitäten dreier Mitglieder beim illegalen KJVD, u.a. Horst Jonas. Nachdem diese seit dem 6. Juli 1935, im Zusammenhang erfolgten Aufdeckung des illegalen KJVD, in U-Haft saßen, wurden offenbar aufgrund von Verhöraussagen die übrigen SSG-Mitglieder am 7. August festgenommen. Der Prozess gegen fünf von ihnen fand am 13. März 1936 vor dem Sondergericht Freiberg statt. Ursprünglich wurde gegen alle Mitglieder wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ ermittelt. Letztlich kam es nur zu einer Anklage „Wegen Zuwiderhandlung gegen das weitere Verbot marxistischer Verbände.“ Verurteilt wurden Ruth Biller, Gertrud Thielke und Elisabeth Brandes zu je vier Monaten, Jaffé und Wermann zu je sieben Monaten Gefängnis. Gegen Jonas, Kurt Brandes und Fritz Füßler, schwebte zeitgleich ein Verfahren bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden wegen ihrer Arbeit im illegalen KJVD. Sie wurden in einem gesonderten Verfahren verurteilt. Bemerkenswert ist die antisemitische Urteilsbegründung gegen die illegale SSG: „Bei der Strafzumessung mussten in Betracht gezogen werden die Jugend der Angeklagten und der unheilvolle Einfluss der beiden jüdischen Teilnehmer Horst Jonas und des Angeklagten Jaffès - sowie ihre bisherige Unbescholten-

327

BArch NJ 1196 Bl.4; Die legale Wochenzeitschrift „Blick in die Zeit. Pressestimmen des In- und Auslandes zu Politik, Wirtschaft und Kultur“ erschien seit Juni 1933 in Berlin bis zum Verbot 1935. Antriebskraft war der sozialdemokratische Druckereibesitzer Kurt Hermann Mendel aus Berlin. Als Herausgeber, Verleger und verantwortlicher Redakteur fungierte der „unverdächtige“ Dr. Alfred Ristow, ehem. preußischer Polizeioffizier. Den Vertrieb übernahmen teilweise frühere Funktionäre der Kinderfreunde-Bewegung. Es wurde v.a. ausländische Presse ausgewertet, die sich mit der Sozialdemokratie (auch im Exil) beschäftigte. Vgl. P. LÖSCHE/M. SCHOLING: In den Nischen des Systems. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Der Widerstand gegen den NS, S.207-224.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

heit. Die Angeklagten dürften insbesondere der Gewissenlosigkeit und Schlauheit des Jonas verfallen sein.“328 Nach Verbüßung der Haftstrafen ist keine weitere Gruppenaktivität bekannt.

f.

Weitere illegale Aktivitäten von SAJ-Mitgliedern

Mitglieder der SAJ wurden auch in anderen illegalen Zusammenhängen aktiv. Zu nennen wäre hier die bereits oben erwähnte „Gruppe Zorn“ um den früheren Leipziger SAJ-Vorsitzenden Werner Zorn. Die 1933 gebildete Gruppe soll bis zu 100 Mitglieder umfasst und eigene Schriften hergestellt haben. Anfang Juli 1934 wurde sie, beginnend mit der Verhaftung Zorns, aufgerollt.329 Da es sich in diesem Zusammenhang nicht um die Fortführung einer spezifischen Jugendgruppe handelte, soll sie an dieser Stelle aus Platzgründen keine nähere Erwähnung finden. Hervorzuheben ist noch ein weiterer Versuch, die Strukturen der Leipziger SAJ illegal fortzuführen. Im Sommer 1933 kam Rudolf Rothe, zuletzt Vorsitzender der SPD-Ortsgruppe Leutzsch mit Heinz Weidelt (Jg. 1913) zusammen. Weidelt war der letzte Bezirksvorsitzende der SAJ Leipzig-West und seit Januar 1933 SPD-Mitglied. Rothe fragte, ob Weidelt noch Kontakt zu SAJ-Gruppen hätte, was dieser in einigen Fällen bestätigen konnte. Weidelt wurde von Rothe aufgefordert, die aktiven Leute zusammenzuziehen, um sie für die illegale Arbeit zu gewinnen. Es ist nicht bekannt, ob Rothe diese Anweisung in Abstimmung mit dem illegalen Leipziger SAJ-Vorstand unternahm, die Vermutung liegt jedoch nahe. In der Folgezeit nahm Weidelt Kontakt mit insgesamt sechs ehemaligen SAJ-Mitgliedern aus dem Leipziger Westen auf, welche er teilweise mit illegalem Material, dem „Vorwärts“ und der „Sozialistischen Aktion“ versorgte.330 Nach späteren Gestapo-Ermittlungen gab es fünf Gruppen: 1. Gruppe Leutzsch: Erich Linke 2. Gruppe Lindenau I: Helmut Kutscher 3. Gruppe Lindenau II: Richard Diepelt 4. Klein-Zschocher: Kurt Richter 5. Groß-Zschocher: Name unbekannt. Weidelt hatte außerdem Kontakte zur illegalen SAP im Leipziger Westen, von denen er ebenfalls zeitweise Schriften bezog. Aufgrund von Gestapo328 329

330

BArch NJ 1196 Bl.26, Urteilsschrift. Die Gruppe Zorn stand dem „Arbeitskreis Revolutionäre Sozialisten“ nahe. Zu den führenden Personen gehörten außerdem der frühere Gewerkschaftsfunktionär und Landtagsabgeordneter Christian Ferkel sowie der frühere Vorsitzende des Leipziger Reichsbanners Gustav Adolf Müller; Siehe RUDLOFF: Leipzig-Wiege, S.160f. Außerdem: KOMMISSION (Hg.): In der Revolution, S.396. Vgl. StAL PP-St 59, Bl.198f.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

109

Ermittlungen gegen die illegale SPD wurden Heinz Weidelt und seine Kontaktpersonen Ende März 1935 verhaftet. Das Landgericht Leipzig verurteilte ihn am 11. Juni 1935 zu einem Jahr Gefängnis mit anschließender Bewährung bis Oktober 1938, Richard Diepelt zu acht Monaten Gefängnis. Das Verfahren gegen vier weitere Mitangeklagte wurde aufgrund des Straffreiheitsgesetzes vom 7. August 1934 eingestellt.331 Bereits am 6. Mai hatte die Staatsanwaltschaft Leipzig das Verfahren gegen drei weitere ehemalige SAJ-Mitglieder mangels Beweisen eingestellt. In der Folgezeit beschränkten sich Zusammenkünfte ehemaliger junger Sozialdemokraten vorrangig auf geselliges Beisammensein. Mehrere frühere SAJMitglieder aus Leipzig trafen sich beispielsweise 1935 an den Wochenenden im Gasthof „Zur Linde“ in Durchwehna in der Dübener Heide, nördlich von Leipzig. Der Gasthof war ein „Geheimtipp“, da dort das Fremdenbuch äußerst nachlässig geführt wurde und so unverheiratete Pärchen ein gemeinsames Zimmer mieten konnten, was zu dieser Zeit den Strafbestand der „Kuppelei“ erfüllte. Den sieben ehemaligen SAJ-Mitgliedern, die im August 1935 in diesem Zusammenhang aktenkundig geworden sind, konnte jedoch keine „staatsfeindliche Betätigung oder Fortsetzung eines marxistischen Verbandes“ nachgewiesen werden.332 Auch in Sport- und anderen legalen Kulturvereinen blieben ehemalige SAJAngehörige untereinander in Kontakt. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese Leute sich dort auch über politische Dinge unterhalten haben. Inwieweit es aber zu weiteren illegalen Betätigungen in Form von Austausch verbotener Schriften o.ä. gekommen ist, konnte aufgrund fehlender Quellen nicht ermittelt werden.

4.

Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

„Die ‚Bündischen’ der damaligen Zeit sind ein seltsamer Haufen von widerspruchsvollen Einzelpersonen und Gruppen.“333 Anders als die linkssozialistischen Jugendorganisationen, die nach politischen Programmen agierten, ging es den meisten bündischen Gruppen auch nach der „Machtergreifung“ Hitlers in erster Linie um die Wahrung ihres Status Quo. Mit dem Zusammenschluss zum „Großdeutschen Bund“ hatten mehrere Jugendbünde Ende März 1933 zunächst versucht, ihre Eigenständigkeit innerhalb des neuen NS-Staates zu wahren. Dennoch war der Bund zum „Dienst am nationalsozialistischen Reich angetreten“ und wählte als Bundesfahne die 331 332 333

Vgl. StAL PP-St 59, Bl.244. StAL PP-S 86, Bl.41. PABST: Aufzeichnungen, S.54; Gemeint ist die illegale Zeit in Leipzig.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

„schwarze Fahne mit dem roten Hakenkreuz“.334 Der „Landschaftsführer für Sachsen“ des Großdeutschen Bundes wurde der Leipziger Dr. Reinhard Oehler vom Deutschen Pfadfinderbund. Mit der von der Reichsjugendführung ausgesprochenen „Auflösung“ des Großdeutschen Bundes Mitte Juni 1933 wurde den Jugendbünden demonstriert, dass es für sie im NS-Staat keine eigenständige Zukunft geben würde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Auflösung des Großdeutschen Bundes allein von der Reichsjugendführung ausgesprochen wurde, ohne weitere gesetzliche Grundlage. Dass der Großdeutsche Bund dies hinnahm, lässt einerseits die prinzipielle Bereitschaft zur Mitarbeit im neuen NS-System vermuten oder andererseits die zu diesem Zeitpunkt verbreitete Ohnmacht gegenüber der wachsenden Willkür und Allmacht des NSRegimes. Verschiedene Bünde hörten somit ab dem Sommer 1933 auf zu existieren. Polizeiliche Verbote der Bündischen Jugend insgesamt wurden erst Jahre später ausgesprochen, das erste generelle 1936. Aber auch hier gab es formale Fehler, so dass das Verbot mehrmals erneuert werden musste, zuletzt 1939. Noch nicht verbotene bündische Gruppen trafen sich nach dem Sommer 1933 zunächst weiter, beispielsweise die Reichsschaft Deutscher Pfadfinder. Erst im Frühsommer 1934 erfolgte durch die Gestapo deren endgültiges Verbot.335 Erschwerend bei der Rekonstruktion der Ereignisse nach 1933 kommt hinzu, dass die Sympathien bzw. Mitgliedschaften für eine bestimmte (illegale) bündische Gruppe bereits innerhalb weniger Wochen wechseln konnten. Wie bereits im Kapitel zur Hitlerjugend ausgeführt, sind eine Anzahl Mitglieder und Gruppen der unterschiedlichsten Jugendbünde ab dem Sommer 1933 in das Jungvolk eingetreten. Die Motive schwankten von Begeisterung für die neue „Staatsjugend“ und der „nationalen Erhebung“ bis hin zu der praktischen Möglichkeit, sein bündisches Gruppenleben relativ ungestört fortführen zu können. Da das Jungvolk vor 1933 eine nur kleine Gruppierung war, glaubten viele, diese Jugendorganisation mit aufzubauen und nach eigenen (bündischen) Vorstellungen prägen zu können. Man kann davon ausgehen, dass die informellen Kontakte zwischen den Bündischen, die nicht im Laufe des Jahres 1933 zur Staatsjugend wechselten, sich ab dem Herbst 1933 verstärkten. Die verbliebenen Bündischen sahen sich außerdem von Seiten der Reichsjugendführung und der örtlichen HJ verbalen Angriffen ausgesetzt, was zwangsläufig zu einer Solidarisierung untereinander geführt haben wird. Andere verließen das Land, so z.B. Dr. Fritz Borinski, früherer Leiter des Leuchtenburg-Kreises und Sozialdemokrat, der im April 1934 nach England emigrierte.336

334 335 336

Großdeutscher Bund - Nachrichtenblatt, Nr.3/1933, S.1. HELLFELD: Bündischer Mythos. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.94. Vgl. BRANDENBURG: Geschichte der HJ, S.215.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

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Bereits vor 1933 war in Leipzig das „Haus der Jugend - Verkaufshaus für Jugendkleidung“ in der Johannisgasse, Ecke Nürnberger Straße Nahe der Innenstadt eine wichtige Adresse für bündische Jugendliche. Hier bekam man noch im Herbst 1934 Kontakte vermittelt zu bündischen Gleichgesinnten in andere Städte, wenn man auf Fahrt ging und ein Quartier suchte.337 Ein weiterer bekannter Anlaufpunkt in Leipzig war Mitte der 30er Jahre die wöchentliche Motette des Thomanerchores in der Thomaskirche, Freitagabend und Samstagnachmittag.338 Unter den Thomanern befanden sich mehrere Bündische, so z.B. Hermann Mau (Jg. 1913), der früher bei der Deutschen Freischar war. Nach der Motette unterhielten sich die Bündischen auf der großen Freitreppe vor der Kirche, meist zehn bis 20 Jugendliche. Viele von ihnen trugen die bündischen Jungenschaftsjacken mit den Riegeln. Das Treffen wurde regelmäßig von der Gestapo beobachtet, welche jedoch nicht einschritt.339 Auch die HJ versuchte hier - ohne Erfolg - durch Spitzel mehr über die illegalen bündischen Gruppen zu erfahren.340 Bei solcherart Treffen kamen in der Regel vor allem jüngere Bündische zusammen. Es ist nicht bekannt, dass ältere Führer früherer Jugendbünde sich zu solchen Anlässen in der Öffentlichkeit zeigten.

a.

Die Deutsche Freischar in Leipzig

Der Nachrichtendienst der Deutschen Freischar vermeldete am 21. Februar 1933 in Bezug auf die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler: „Niemals war die Aussicht größer, das Erfahrungsgut der bündischen Jugend ins Volk zu tragen, als gerade jetzt. […] Das Ziel lautet: Gewinnung aller erreichbaren Kommandohöhen der Jugendführung in Werkjahrs- und Notwerkausschüssen, Arbeitsdienstverbänden, Bauernhilfsaktionen, Führung von mindestens einem vorbildlichen Arbeitslager in jedem Gaubereich, Ausbildung vieler Kameraden in den staatlichen Führerlehrgängen für Arbeitsdienst und Geländesport.“341

Es ist unübersehbar, dass man sich von der „nationalen Erhebung“ angesprochen fühlte und sogleich seinen Führungsanspruch auf verschiedenen Gebieten durchsetzen wollte.342 Mit letzterem musste man zwangsläufig mit dem Führungsanspruch der HJ kollidieren. 337 338 339 340 341 342

StAL PP-S 1400, Bl.11; Gestapo-Verhör von Helmut Kupsch vom 18.05.1935. „Beobachtungen durch Vertrauenspersonen (HJ-Streifendienst)“ siehe StAL PP-V 4860, Bl.49, Gestapo-Bericht vom 12.6.1936. Interview des Verfassers mit Johannes Pawlisch am 09.08.2002 in Berlin; Siehe auch PABST: Aufzeichnungen, S.53. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.135f. Zitiert nach KNEIP: Wandervogel, S. 216. Siehe auch LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.160ff..

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Die Deutsche Freischar war darum frühzeitig ins Visier der NS-Stoßtrupps geraten. Wenige Wochen nach der „Machtergreifung“ wurde ihr Leipziger Heim in der Querstraße über Nacht verwüstet und zerstört. Dennoch arbeiteten die Gruppen zunächst normal weiter. Ende April fand eine Feier der Leipziger Ortsgruppen statt, welche sich zum Großdeutschen Bund zusammengeschlossenen hatten. Die Ansprache hielt ein Oberstleutnant der Reichswehr. Dieser „soll unsere der Reichswehr verwandte Stellung im Staate charakterisieren: Ebenso wie die Reichswehr sind wir, ohne einer Partei anzugehören, dem Staate verantwortlich und dienen ihm.“343 Zum 1. Mai nahmen die Mitglieder der Leipziger DF am Fackelzug im „bündischen Abschnitt des Gesamtzuges“ teil. Von begeisterter Teilnahme kann schon nicht mehr gesprochen werden, da der DF solcherart „offiziellen Unternehmungen sehr wenig liegen“.344 Offensichtlich fühlte man sich politisch vereinnahmt. Dennoch wollte man in diesen Zeiten die Gelegenheit nutzen und öffentliche Präsenz zeigen. Als Mitglied im Großdeutschen Bund fuhren die Leipziger mit anderen sächsischen Gruppen Pfingsten 1933 mit gemieteten Lastkraftwagen zum Treffen nach Munsterlager in der Lüneburger Heide. Das Treffen sollte ursprünglich mit Unterstützung der Reichswehr auf dem Standortübungsplatz in Dresden-Hellerau stattfinden, was durch NSDAP-Gauleiter Martin Mutschmann verboten wurde.345 Pfingstmontag lösten Polizei und NS-Stoßtrupps auch das Treffen in Munsterlager mit 15.000 Teilnehmern auf. Die Leipziger Gruppen gingen daraufhin auf Fahrt in die nähere Umgebung. Bei der Rückankunft auf dem Leipziger Hauptbahnhof wurden die meist zehn- bis 15jährigen Teilnehmer von HJ-Rollkommandos ihrer Koppel, Abzeichen und Fahrtenmesser beraubt.346 Es ist nicht bekannt, ob wegen des Sachverhaltes die Polizei eingeschaltet wurde. Der letzte offene Rundbrief des Sachsengaues der Deutschen Freischar nach der Zwangsauflösung verdeutlicht die damaligen Ansichten. Darin heißt es u.a.: „Wir entlassen Euch aus der Gefolgschaft, […]. Nun seid Ihr frei. […] Vergesst Euere Vergangenheit nicht, bekennt Euch zu ihr. Sagt, dass Ihr Großdeutsche wart, Freischärler. Diese Namen haben einen guten Klang. […] Bei einer Eingliederung in die Hitlerjugend oder das Jungvolk dürft Ihr nichts überstürzen. Ihr müsst stets zurückhaltend bleiben und bestimmt fordern, dass Euere Erfahrung und Leistungen berücksichtigt werden.

343 344

345 346

Anschreiben der DF-Leipzig vom 14.4.1933. In: Kneip: Wandervogel, S.221. Vgl. Abschrift aus Rundbrief des Sachsengaues vom 27.4.1933 verfasst von Rechtsanwalt Hans Böhmer, Leipzig. In: Archiv der deutschen Jugendbewegung Witzenhausen, A84/18 unpag. Vgl. PESCHEL: Die bündische Jugend. In: DRESDNER GESCHICHTSVEREIN (Hg.): Wanderkluft, S.36. KNEIP: Wandervogel, S.225, Siehe auch Erinnerungsbericht von Wolfgang Heybey (o.J.). In Archiv der dt. Jugendbewegung Witzenhausen, A84/18, unpag.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

113

Wir lassen uns den Augenblick des Handelns nicht vorschreiben, sondern entscheiden nach eigener Verantwortung. […] An einigen Orten haben wir folgende Regelung getroffen: Die Gruppen gehen in das Jungvolk. Dort liegen die gesündesten Entwicklungsmöglichkeiten für Gruppen.“347

Hieran wird deutlich, dass man auch nach Auflösung der früheren Strukturen nach Möglichkeit weiter im bündischen Sinne agieren wollte. Man glaubte nach wie vor, als Bündische die „nationale Erhebung“ mitgestalten zu können. Darüber hinaus sollen die Leipziger versucht haben, ihre Gruppen unter verschiedenen Deckmänteln fortzuführen. „Von den Jungen, die als Zwölf- und 14jährige schon fest in den Gruppen standen, bildeten wir außerhalb des Jungvolks Ornithologenklubs, Fotografenklubs und ähnliches. Die älteren Jugendführer führten teilweise ein Doppelleben in ihren Gruppen und unter dem Deckmantel der Jungvolkorganisation.“348 Zu den genannten Klubs ist nichts Näheres bekannt. Ebenso ist unbekannt, ob man darüber hinaus - analog der Arbeiterjugendorganisationen - eine illegale Leitung installierte, welche diese Arbeit koordinierte. Wahrscheinlicher ist, dass die einzelnen Gruppen autonom arbeiteten und lediglich vereinzelte, informelle Kontakte untereinander pflegten.349 Mehrere Freischar-Führer versuchten in der Folgezeit von innen auf das NS-System im bündischen Sinne Einfluss zu nehmen. So sollen beispielsweise in der neuen Reichsführung der Deutschen Studentenschaft 1933/34 etwa 80 Prozent der Hauptämter von früheren Bündischen besetzt worden sein, ebenso der studentische Landdienst. Das Auslandsamt der Deutschen Studentenschaft wurde ab Herbst 1933 von dem früheren Dresdner Funktionär der Sächsischen Jungenschaft Hermann Küglers geführt. Von dort aus wurden mehrere Auslandsfahrten organisiert, so z.B. im Sommer 1934 nach Polen, an der zum Großteil frühere Bündische teilnahmen. Auch gab es Kontakte zur Reichjugendführung zum Ausbau möglicher Auslandskontakte für die HJ. Ende September 1935 wurde Kügler aufgrund seiner bündischen Vergangenheit zeitweise verhaftet und seines Amtes enthoben.350 Ludwig Liebs, der letzte sächsische Gauführer der Deutschen Freischar, hatte nach 1933 einen Posten bei der Hitlerjugend inne. Zuvor war er Leiter der Akademischen Auslandsstelle der Universität Leipzig gewesen. Wie bereits im Kapitel zur Hitlerjugend ausgeführt, wurden 1934 im Zuge der „Röhm-Affäre“

347 348 349 350

LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.175ff. KLOSE: Generation, S. 36f. (Erinnerungen des Leipziger Werner Schubert). So sind auch keine Ermittlungen seitens der Gestapo bekannt, welche auf eine illegale Leitung schließen lassen. Erinnerungen von Hermann Kügler. In: KNEIP: Wandervogel, S.228f.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

mehrere ehemalige Bündische aus dem NS-Dienst „entfernt“. So entließ man auch Liebs im Juli 1934.351 Die Versuche der Bündischen, an exponierten Stellen Einfluss auf die weiteren Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland zu nehmen, waren gescheitert, wie spätestens die Ereignisse um die „Röhm-Affäre“ gezeigt hatten.352 Eine Reihe von früheren Mitgliedern der sächsischen Freischar, unter ihnen auch Ludwig Liebs, sollen noch bis 1936 Großfahrten durch Europa unternommen bzw. Austauschlager besucht haben, vermutlich nicht mehr unter dem Banner der HJ.353 Von einer Leipziger DF-Gruppe ist näheres überliefert, wie sie nach der offiziellen Auflösung ihr früheres Gruppenleben fortzuführen versuchte. Diese achtköpfige Gruppe nannte sich seit 1932 „Die Störche“. Nach 1933 traten sie geschlossen dem Jungvolk bei, blieben aber weiter unter sich.354 Sieben von ihnen waren 1937 noch Schüler der Geburtsjahrgänge 1918 bis 1922, zumeist Gymnasiasten. Vier der Mitglieder wohnten im Leipziger Süden, zwei im Westen, einer im Osten. Die Gruppe traf sich regelmäßig mittwochs zu einem Heimabend in der Grassistraße 16 im gutbürgerlichen Musikviertel nahe der Innenstadt bei ihrem Führer, dem Medizinstudenten Joachim Singer. Erwähnenswert ist, dass Singers Vater seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SA war. Joachim Singer war nach 1933 beim Jungvolk aktiv, parallel zu seiner illegalen Freischar-Gruppe. Das Heim der Gruppe war ein ausgebauter Dachboden im Haus der Singers. Nach späteren polizeilichen Ermittlungen war der Raum ausgeschmückt, wie es früher in bündischen Heimen üblich war. An einer Wand hing ein großer Wimpel der Deutschen Freischar, welcher auf der einen Seite die Freischarlilie und auf der anderen Seite einen Storch als Gruppensymbol hatte. Zur Ausgestaltung des Raumes bemerkte die Gestapo: „Erwähnenswert ist, dass in dem Heim kein einziges Wahrzeichen des 3. Reiches angebracht war.“355 Bei den Heimabenden wurden Lieder aus dem Buch des Deutschen Pfadfinderbundes gesungen. Die Gruppe fuhr u.a. im Winter 1935/36 und 1936/37 ins „Winterlager“ nach Oberwiesenthal zum Skisport. Joachim Singer bekam zu seinem Geburtstag im November 1934 zwei Gedichte von Gruppenmitgliedern geschenkt. Eins war verfasst von Johannes Holtz und hieß „Jungvolkzeit der Störche“. Holtz war im Übrigen beim Jungvolk Fähnleinführer. Hier der überlieferte erste Vers: 351 352 353 354 355

Vgl. LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend. S.171f. Vgl. BRANDENBURG: Geschichte der Hitlerjugend, S.199f. Vgl. LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.172. Siehe BUHÉ, THOMAS: Mein Kaleidoskop, Leipzig 2004, S.26ff. HStAD SG Freiberg 3Js/SG 446/37.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

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„Der alte Staat der wankt und bricht Und Adolf ist das neue Licht. Er brauchte 14 Jahr zur Krippe Und saß dem alten System im Genicke.“356

In der zweiten Strophe bezieht sich Holtz auf die Zwangsauflösung der Deutschen Freischar. Dort heißt es „Unser Lager ist verboten vom Richarsch dem Vollidioten!“357 Hier soll nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Baldur von Schirach gemeint sein.358 Wie es zu den Ermittlungen gegen die Gruppe kam, ist nicht bekannt, womöglich im Zusammenhang mit dem Winterlager der Gruppe 1936/37. Anfang 1937 hatte es im „Heim“ eine Hausdurchsuchung gegeben, bei dem die Gedichte und auch Fotos der Gruppe beschlagnahmt wurden. Im April 1937 lag der Vorgang bei der Leipziger Staatsanwaltschaft und im Sommer 1937 beim Sondergericht Freiberg. Das Ermittlungsverfahren gegen die Acht wegen verbotener Betätigung für die Bündische Jugend wurde Anfang August eingestellt. Da die Beschuldigten die Deutsche Freischar nachweislich nur bis Januar 1937 fortgeführt, deren offizielles Verbot aber erst am 31. März 1937 veröffentlicht wurde, konnten sie nicht zur Verantwortung gezogen werden. Die Auflösung der DF vom Juni 1933 hatte für eine Verurteilung keine Relevanz. Ebenfalls eingestellt wurden die Ermittlungen gegen Holtz wegen Beleidigung des Führers und Reichsjugendführers, da er zu besagtem Zeitpunkt erst 16 Jahre alt und keine höhere Strafe als einen Monat Gefängnis zu erwarten war.359 Die Wohnlagen der sieben Schüler und ihr Status als Gymnasiasten zeigen, dass diese aus (klein-)bürgerlichem Milieu kamen. Beachtlich ist die lange Zeit, in der die Gruppe unentdeckt blieb. „Die Störche“ gab es dreieinhalb Jahre quasi illegal, wenn auch ein offizielles Verbot noch nicht existierte. Joachim Singer wohnte zum Zeitpunkt der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen 1937 nicht mehr in Leipzig, sondern in München. Die Gruppe hatte trotz des Wegzuges ihres Führers bis Kriegsbeginn 1939 noch Kontakt untereinander. Mindestens zwei Gruppenmitglieder, inklusive ihrem Führer, hatten Funktionen beim Jungvolk. Ihnen war bekannt, dass die Bündische Jugend und deren Ideologien von der Staatsjugend geächtet und verfolgt wurden. Trotzdem war es der Gruppe möglich, über mehrere Jahre hinweg ein Doppelleben zwischen 356 357 358

359

HStAD SG 3Js/SG 446/37. Ebda. Weitere Zeilen des Gedichtes sind nicht überliefert. Es ist tatsächlich von Schirach gemeint. Dieser Spruch wurde nach der Auflösung des letzten Bundeslagers des Großdeutschen Bundes 1933 immer wieder im Sprechchor gerufen, weil ein Kleinflugzeug über das Lager kreiste. Unter den Teilnehmern machte das Gerücht die Runde, von Schirach selbst würde in dem Flugzeug sitzen. Siehe: Archiv der dt. Jugendbewegung, Witzenhausen, Akte Werner Schubert. HStAD SG 3Js/SG 447/37.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Jungvolk und illegaler Gruppe zu führen. Dies setzte ein hohes Maß an Disziplin voraus, um in einer NS-Formation nicht als Mitglied einer illegalen bündischen Gruppe erkannt zu werden. Außerdem zeigt es, wie erfolgreich sich frühere Bündische in Jungvolkgruppen bis Mitte der 30er Jahre abschotten konnten. Neben den illegal fortgeführten „Störchen“ gab es mindestens einen weiteren Kreis ehemaliger Mitglieder der Deutschen Freischar unter dem Decknamen „die Runde“. Zum Neujahr 1936 soll dieser einen vervielfältigten Rundbrief herausgebracht haben, der dazu aufrief, auch in diesen schwierigen Zeiten bewusst die Verbindung untereinander aufrechtzuerhalten.360 Näheres zu diesem Kreis konnte aufgrund fehlender Quellen nicht ermittelt werden.

b.

Die Reichsschaft Deutscher Pfadfinder

Die Reichsschaft Deutscher Pfadfinder entstand Silvester 1932/33 als Zusammenschluss mehrerer Pfadfindergruppen aus ganz Deutschland. Zunächst auch dem Großdeutschen Bund beigetreten, verließ sie ihn kurze Zeit später im Mai 1933 bereits wieder. Die Staatsjugend duldete nach der Auflösung des Großdeutschen Bundes zunächst die Reichsschaft weiter, von der man sich internationale Kontakte für die HJ erhoffte. Im Juni 1934 erfolgte dennoch die Zwangsauflösung. Verschiedene Führer der Reichsschaft versuchten in der Folgezeit das Verbot wieder aufheben zu lassen. Heino Kössling, der letzte sächsische Gauführer aus Leipzig, stand hierzu mit dem ehemaligen Reichsvogt der Reichsschaft Jensen aus Berlin in „dauernden Briefverkehr“. Auch zahlte Kössling die Miete für zwei Heime in Leipzig weiter. In einem am Matthäikirchhof in der Innenstadt ließ er im Februar 1935 sogar noch bauliche Veränderungen vornehmen. Jensen soll bezüglich einer Verbotsaufhebung in Berlin Kontakte zum Auswärtigen Amt, dem Reichserziehungsministerium und dem Reichswehrministerium gehabt haben.361 Unter bündischen Jugendlichen machten darum bereits 1934 Gerüchte die Runde, dass die Reichsschaft geschlossen als Pfadfinderbund in der HJ ihre Selbstständigkeit behalten und Mitglied des Weltpfadfinderbundes werden könnte. An solche Aussichten klammerten sich auch Bündische in Leipzig und überlegten, Mitglied bei der Reichsschaft zu werden.362 Dass die Reichsschaft sich zu einer legalen Alternative zur HJ entwickeln könnte, geht auch aus folgender Begebenheit hervor: Ein gewisser Rennert war bis zur Eingliederung in die HJ Mitte Februar 1934 bei den Christlichen Pfadfindern Stammesführer im Leipziger Stadtteil Eutritzsch gewesen.

360 361 362

KNEIP: Wandervogel, S.226. StAL PP-S 1400, Bl.79. PABST: Aufzeichnungen, S.57/58.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

117

Bereits einen Monat später trat Rennert mit einem Teil seiner Gruppe aus der Hitlerjugend wieder aus und in die damals noch legale Reichsschaft Deutscher Pfadfinder über.363 Nach dem Verbot im Juni 1934 traf sich eine Gruppe von ehemaligen Reichsschafts-Mitgliedern in den Räumen am Matthäikirchhof weiter. Die Gestapo bemerkte hierzu: „Bezeichnend ist dabei, dass sich der große Teil der Jungen weder dem Jungvolk noch der HJ angeschlossen haben.“364 Auch bei Kössling zu Hause gab es Treffen. Bei den Zusammenkünften war ebenfalls Rennert anwesend und ein gewisser Schuster. Letzterer war bei der Polizei bereits im Zusammenhang mit der Bündischen Jugend mehrmals aktenkundig geworden. Kössling informierte bei den Treffen über den Stand der Verhandlungen zur Aufhebung des Verbotes. Im März 1935 fuhren Schuster und ein weiteres Mitglied nach Berlin, um sich mit Jensen und anderen ehemaligen Reichsschafts-Funktionären zu treffen. Auch Kössling hatte für Juli eine Fahrt nach Berlin zu Jensen geplant.365 Die Ermittlungen der Gestapo gegen alle in diesem Zusammenhang bekannten Personen aus der Reichsschaft waren im August 1935 in vollem Gange. Ob es zu Anklagen oder gar Verurteilungen kam, konnte aufgrund fehlender Quellen nicht ermittelt werden.

c.

Die Zeitschrift „Eisbrecher“ und der Günther Wolff-Verlag

Während sich der Voggenreiter-Verlag aus Potsdam bald nach der Machtergreifung der HJ zuwandte und keine bündischen Publikationen mehr veröffentlichte, blieb Günther Wolff (Jg. 1901) im sächsischen Plauen mit seinem Verlagsprogramm der bündischen Bewegung treu. Aufgrund seiner nach 1933 wachsenden (symbolischen) Bedeutung und auch verschiedenen engen Kontakten nach Leipzig muss auf Günther Wolff sowie auf die Zeitschrift „Der Eisbrecher“ eingegangen werden. Bereits 1920 gründete Günther Wolff seinen Verlag „Das Junge Volk“. Er veröffentlichte Broschüren, z.B. Liedersammlungen, und Zeitschriften der unterschiedlichsten Jugendgruppen bis hin zu konfessionellen Jugendbünden. Selbst HJ- und DJ-Mitglieder aus ganz Deutschland bezogen Publikationen von Günther Wolff, bis dies ihnen 1934 durch die Reichsjugendführung ausdrück363 364 365

StAL PP-S 1400, Bl.80. Ebda. Bl.82. Ebda. Bl.81; Am 24.August 1935 wurde ein Heinz Kößling (Jg.1904) als politischer Häftling ins das Polizeigefängnis durch den für bündische Gruppen zuständige Gestapobeamten Finger eingewiesen. Hierbei könnte es sich um den früheren Gauführer gehandelt haben. Siehe StAL Polizeigefängnis Leipzig, Gefangenentagebuch 1935, PP-S 8505 unpag.

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lich untersagt wurde.366 Spätestens 1932 kam es zur Zusammenarbeit mit Eberhard Köbel und der dj 1.11. Der Verlag verlegte 1933 Köbels „Heldenfiebel“367, welche sich schnell zu einem „Standardwerk“ unter Bündischen entwickelte, ebenso einige Zeit später die „Lieder der Eisbrechermannschaft“. Außerdem erschien ab Herbst 1932 im Verlag die dj 1.11-Zeitschrift „Der Eisbrecher“, nach 1933 die wichtigste bündische Publikation. Inhaltlich überwogen 1932 und Anfang 1933 im „Eisbrecher“ noch Fahrtenberichte, Lieder und Gedichte sowie Geschichten und Abhandlungen über das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Außerdem erschien, von Köbel selbst verfasst, eine mehrteilige Geschichte über die Entwicklung der dj 1.11. In der April-Ausgabe 1933 ging man erstmalig auf die politischen Veränderungen ein. Es wurde ein (fiktiver) Bericht über den Reichstagsbrand aus der Sicht eines Feuerwehrmannes abgedruckt: „Nur sicher ist, dass ein Mann eine so gut angelegte Brandstiftung nicht tätigen kann. Dazu sind mehrere gut orientierte Fachleute notwendig gewesen.“368 Damit widersprach man der von den Nationalsozialisten verbreiteten Meldung, ein einzelner Kommunist hätte die Tat begangen. Zwei Nummern später war auf der Titelseite des „Eisbrechers“ eine Grafik mit Hakenkreuzfahne. Als Herausgeber wurde nun explizit die dj 1.11 aufgeführt, mit Eberhard Köbel als Schriftleiter. Von der Ernennung Baldur von Schirach zum Reichsjugendführer erhoffte sich die dj 1.11, dass die „Jugend aus ihrer liberalen Zersplitterung“ geführt werde. „Die lebendigen Kräfte strömen zum Jungvolk und in die Hitlerjugend. […] Nicht weinen über die Forderung der Gegenwart! Hinein ins große Leben! Antreten zum Eintritt in die Hitlerjugend! Heute noch dj 1.11 – Montur C, morgen HJ-Uniform. Jetzt soll sich die Gruppe bewähren.“369 Ab Oktober 1933 arbeitete außerdem der Leipziger Werner „Assa“ Benndorf, welcher auch Schriftleiter der Jungentrucht-Zeitschrift „Der Große Wagen“ war, beim „Eisbrecher“ mit. Trotz des in den Herbstausgaben des „Eisbrechers“ manifestierten Interesses an der neu entstandenen Staatsjugend wuchs in der Folgezeit der Druck auf die dj 1.11 und vor allem auf Köbel, den die Nationalsozialisten aufgrund seiner zeitweiligen Nähe zur KPD verfolgten. Anfang 1934 versicherte man im „Eisbrecher“, dass sich „Tusk“ von der Schriftleitung „vollkommen zurückgezogen“ und auch jede Verbindung mit dem Verlag aufgegeben habe.370 Kurz zuvor waren noch die „Soldatenchöre der Eisbrechermannschaft“ von „Tusk“ im Verlag als Sondernummer des „Eisbrechers“ erschienen. Es liegt klar auf der Hand, dass Günther Wolff verhindern wollte, dass die Zeitschrift im Zuge der 366 367 368 369 370

Vgl. W. HESS: Der Günther-Wolff-Verlag, Plauen 1993, S.39f. In der „Heldenfibel“ beschäftigte sich Köbel mit dem japanischen Heldentum. Vgl. Der Eisbrecher, Nr.7/1933. Der Eisbrecher, Nr.11/1933, S.297. Der Eisbrecher, Doppel-Nr. 17 und 18/1933, S.144.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

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Ermittlungen gegen Köbel verboten wird. Geradezu als Ironie des Schicksals ist anzusehen, dass in derselben Nummer bekannt gegeben werden musste, dass der „Eisbrecher“ im Januar 1934 in Österreich „wegen nationalsozialistischer Agitation“ verboten wurde. Ab April 1934 versuchte man mit neuer Nummerierung und leicht geändertem Layout einen Neuanfang. Ausdrücklich wies man darauf hin, dass „künftig keine Artikel mehr gebracht [werden], die sich mit Jungenschaftsfragen beschäftigen.“371 Offiziell distanzierte man sich jetzt von der dj 1.11. De facto änderte sich nichts am Inhalt. Weiterhin erschienen Fahrtenberichte und Lieder. Nachdem im Zusammenhang mit der „Röhm-Affäre“ am 30. Juni 1934 Günther Wolff zusammen mit seinem neuen Schriftleiter Jochen Hene, dem früheren dj 1.11-Bundesführer, von einem SS- und HJ-Kommando verhaftet und schwer misshandelt wurde, erschien bis Dezember 1934 kein neuer „Eisbrecher“.372 Ende August 1935 verbot das sächsische Innenministerium die Zeitschrift. Wolff saß sechs Wochen in „Schutzhaft“ und wurde anschließend mit Jochen Hene nach Dresden überführt. Im Oktober 1935 erfolgte die Entlassung. Im Januar 1938 kam der entscheidende Schlag gegen den Verlag. Nach Hausdurchsuchungen saß Wolff abermals in Haft und man verurteilte ihn Mitte September 1938 vor dem Sondergericht Freiberg zu 15 Monaten Gefängnis.373 Vorgeworfen wurde Wolff u.a. die HJ durch seine Publikationen mit bündischem Gedankengut zu zersetzen sowie frühere bündische Gruppen aufrechterhalten zu wollen. Nach seiner Einberufung als Wehrmachtssanitäter fiel Günther Wolff vermutlich 1944.

d.

dj 1.11, Jungentrucht und die „Rote Garnison“

Wie keine andere bündische Gruppe geisterte der Mythos der dj 1.11 nach 1933 durch die Köpfe zahlloser Jugendlicher.374 Dabei gab es keinen einheitlichen Versuch der Fortführung der dj 1.11 in Leipzig. Vielmehr haben nach 1933 sowohl ältere Mitglieder versucht, ihre Strukturen zu erhalten, als auch Jugendliche, die vor 1933 mit der dj 1.11 überhaupt nicht in Berührung gekommen waren, neue Gruppen aufgebaut. Von besonderer Anziehung war der Ruf des Exklusiven, des Elitären, welcher der dj 1.11 und vor allem seinem Führer Eberhard Köbel vorauseilte. Die im Folgenden dargestellten Weiterführungen der

371 372 373 374

Der Eisbrecher, Nr.3/1934, S.102. Siehe: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.170f.; BRANDENBURG: Geschichte der HJ, S.197. Vgl. HESS: Günther-Wolff-Verlag, S.61. Zur illegalen dj 1.11 siehe v.a. F. SCHMIDT: Ein Mann zwischen zwei Welten, Edermünde 1997; Sowie BRANDENBURG: Geschichte der Hitlerjugend, S.202-209.

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dj 1.11 sind darum als teilweise voneinander unabhängig zu verstehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bei polizeilichen Razzien gegen Bündische oftmals Schriftgut aus dem Umkreis der dj 1.11 gefunden wurden. Besonders die „Lieder der Eisbrechermannschaft“ und die Zeitschrift „Der Eisbrecher“ waren unter Jugendlichen nach 1933 sehr beliebt. Ebenfalls ist zu beachten, dass in Leipzig aufgrund der Spaltung der dj 1.11 bereits im Sommer 1932 keine Gruppe der dj 1.11 mehr existierte. Die Leipziger sind damals - nach bisherigen Quellenstudien - nahezu komplett in die „Deutsche Jungentrucht“ übergetreten. Für die dj 1.11, wie auch für die aus ihr hervorgegangene „Jungentrucht“, erfolgte 1933 zunächst kein offizielles Verbot. Köbels (zeitweiliger) Hang zum Kommunismus war der Polizei nicht unbekannt gewesen und somit wurde auch er Opfer des NS-Verfolgungsapparates. Im Januar 1934 von der Gestapo verhaftet, kam er wenige Wochen später - nach einem gescheiterten Selbstmordversuch - wieder auf freien Fuß und emigrierte im Juni 1934 über Schweden nach England. Die in Deutschland verbliebenen Gruppen waren juristisch zwar noch nicht verboten, jedoch durch die neuen Umstände zur Selbstauflösung bzw. in die Illegalität getrieben. Obwohl die dj 1.11 von den Nationalsozialisten begrifflich immer wieder zum Hauptgegner aus den Reihen der Bündischen Jugend stilisiert und als kommunistisch geächtet wurde, erfolgte ein formales Verbot der für Sachsen erstmalig am 23. März 1935.375 Im Gegensatz zum zwangsaufgelösten Großdeutschen Bund bestand die Jungentrucht auch nach dem Sommer 1933 zunächst weiter. Deren Führer Dr. Karl Müller aus Westdeutschland hatte nach den neuen Bestimmungen der RJF den Bund „ordnungsgemäß gemeldet“ und die Genehmigung erhalten, dass die Jungentrucht „in derselben Form weiter bestehen kann.“376 Der Leipziger Führer und Medizinstudent Karl Daniel führte nach eigenen Angaben parallel dazu im Sommer 1933 Verhandlungen mit HJ-Stabschef Carl Narbersberg von der Reichsjugendführung über eine Eingliederung der Jungentrucht in die HJ, welche jedoch erfolglos verliefen.377 Karl Daniel befürwortete daraufhin die Auflösung der Trucht, welche von den übrigen Mitgliedern abgelehnt wurde. Er verließ nach eigenen Angaben den Bund und wurde im November 1933 SAMitglied, wo er die Sanitätskurse des Marinesturms leitete.378 Möglicherweise sind letztere Angaben gegenüber der Gestapo Schutzbehauptungen gewesen und er hatte auch nach dieser Zeit noch Kontakt mit Bündischen in Leipzig. Vorerst erschien die Gruppenzeitschrift „Der Große Wagen“ weiter, seit Sommer 1933 mit einem Hakenkreuz auf der Titelseite, mittlerweile im Gün375 376 377 378

StAL PP-V 4860. Der Große Wagen, Nr.8/1933, S.30. Carl (Karl) Nabersberg hatte am 5. April 1933 mit einem HJ-Kommando das Büro des „Reichsauschusses deutscher Jugendverbände“ besetzt. Vgl. StAL PP-S 4040 Bl.61, Gestapo-Verhör von K. Daniel vom 18.2.1935.

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ther-Wolff-Verlag Plauen. Bis 1934 gab es außerdem einen eigenen „TruchtVerlag“, der seine Postanschrift in Leipzig-Connewitz hatte. Nach insgesamt zehn Ausgaben wurde „Der Große Wagen“ Ende 1934 endgültig eingestellt. Bereits zu Pfingsten 1934 löste sich die Jungentrucht bei einem Lager in Schwarzfeld/ Harz auf. Ob man somit einem Verbot zuvorkommen wollte, ist unbekannt. „Viele Trucht-Leute wollten diese Auflösung nicht mitmachen und hielten weiter illegal zusammen oder wandten sich wieder illegaler dj 1.11 zu.“379 Der Philosophie- und Theologiestudent Horst „Jon“ Vanja (Jg. 1913) war Führer einer illegalen Gruppe der Trucht in Leipzig. Zu ihr gehörten im „inneren Kreis“ mehrere 13 bis 15jährige Jungen, den „äußeren Kreis“ bildeten Ältere. Ein Großteil der Jüngeren soll aus der Deutschen Freischar gekommen sein. Die Gruppe hatte etwa 20 Mitglieder.380 Vanja war bereits vor 1933 Mitglied der dj 1.11 bzw. der daraus hervorgegangenen Jungentrucht gewesen und 1934/35 in Leipzig eine bekannte Persönlichkeit unter den illegalen Bündischen. Im Keller des Mietshauses, wo er am Grimmaschen Steinweg nahe der Innenstadt wohnte, hatte er spätestens Ende 1932 die „Rote Garnison“381 eingerichtet, welche als Treffpunkt diente. Das ehemalige Mitglied Rolf Pabst (Jg. 1917) beschrieb die „Garnison“ später folgendermaßen: „Ein quadratischer Raum, mit rotem Stoff ausgespannt, auf dem mit Goldbronze Symbole gemalt sind: Krone, Schwerter und stilisierte Blumen. Symbole, die Jon von tusk übernommen hat. […] In der Mitte des Raumes ein niedriger Tisch, bespannt mit grauer Seide. Darauf liegt ein Samurai-Schwert. Wir sitzen auf kleinen Bänken um den Tisch herum und singen Lieder, während Jon die Klampfe spielt. In kleinen Schalen wird Tee gereicht aus einem Samowar.“

Die Gruppe erhielt auch nach 1933 Zulauf. Neu hinzukommende Jungs belehrte Vanja eindringlich: „Falls einmal die Gestapo fragen sollte, so unterhalten wir uns nur über religiöse Dinge.“382 Bei den Gesprächen in der Gruppe wurden hingegen alle Themen der Zeit angesprochen: Politik, Religion und Kultur. Auch gab es Diskussionen darüber, wie ein Deutschland ohne Hitler aussehen könnte. Horst Vanja vertrat die Meinung, dass die Weimarer Demokratie ver379 380

381

382

F. SCHMIDT: um tusk und dj 1.11, Edermünde 2006, S.28. „keunze erinnert sich 8/82“, Sonderdruck der AG Burg Waldeck 1982, S.2; „Keunze“ bezeichnet die Gruppe in seinen Erinnerungen nur als „die illegale dj 1.11“. Nach der Auflösung der Trucht wurde nicht mehr auf die früheren Unterschiede zwischen „Trucht“ und „dj 1.11“ geachtet. Der Name „dj 1.11“ hatte eine größere Bekanntheit, was dann im Nachgang zu dieser Selbstbezeichnung führte. 1931 wurde die erste „Rot-graue Garnison“ in Berlin durch „tusk“ eröffnet. Idee war, Mitglieder und Sympathisanten aus unterschiedlichen sozialen Schichten in einer gemeinsamen häuslichen Umgebung leben zu lassen, analog den heute bekannten Wohngemeinschaften. Die Leipziger Garnisonen waren nach bisherigen Informationen nur Treffpunkte, keine Wohngemeinschaften. Vgl. auch V. HELLFELD: Bündische Jugend, S.42. PABST: Aufzeichnungen, S.52.

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sagt hätte. Er wurde von Rolf Pabst als konservativ beschrieben, als Monarchisten, der Stefan George verehrte und dessen Idee des „Neuen Reiches“. Den Nationalsozialismus lehnte Vanja ab. „Er sei plebejisch, ihm fehle jeder Adel.“383 Rolf Pabst beschreibt sich zu der Zeit hingegen als sozialen Demokraten. Die Meinungen über eine mögliche neue Staatsform gingen darum innerhalb der Gruppe auseinander. Einig soll man sich bei den Diskussionen jedoch gewesen sein, dass ein neuer Staat von Humanität und Toleranz geprägt sein müsse.384 Durch den HJ-Streifendienst wurde es nach 1934 zunehmend schwierig, für die verbliebenen bündischen Gruppen auf Fahrt zu gehen. Darum fuhren viele in der Folgezeit illegal über die deutsch-tschechische Grenze nach Böhmen.385 Aber auch innerhalb Deutschlands versuchte man weiter das Fahrtenleben zu pflegen. Ostern 1935 unternahmen beispielsweise drei Ältere, unter ihnen Rolf Pabst, aus der Gruppe eine Wanderung. Um dem HJ-Streifendienst nicht aufzufallen, benutzten sie statt dem obligatorischen Tornister („Affen“) Margarinekartons und zogen über ihre Jungenschaftsjacken Windjacken.386 Die Gestapo beschrieb die Kluft früherer Mitglieder der dj 1.11 in Leipzig zu dieser Zeit folgendermaßen: „Auf Fahrten trägt man graue Turnerhemden, darüber rote oder blaue Pullover mit Rollkragen. Bei größerer Kälte werden sogen. Russenblusen bevorzugt.“387 Nachdem 1935 die Gruppe um Horst Vanja von dem Gerücht erfuhr, dass die Reichsschaft deutscher Pfadfinder wieder legalisiert und innerhalb der HJ „autonom“ werden solle, versuchten sie Kontakt zu den illegalen Leipzigern aus der Reichsschaft aufzunehmen, um sich ihnen anzuschließen. Aus unbekannten Gründen wurde der geplante nächtliche Treff an der Russischen Kirche im Vorfeld der HJ bekannt. Die so informierte Gestapo war mit mehreren Wagen vor Ort und verhaftete am 27. April 1935 die drei Anwesenden, unter ihnen Rolf Pabst.388 Auch die noch eintreffenden Mitglieder der Reichsschaft wurden verhaftet, insgesamt acht Jugendliche. Es folgten Polizeihaft und Verhöre durch die Gestapo, in Person Hauptkommissar Erich Finger, der damals für bündische Gruppen in Leipzig zuständig war. Im Zuge der Ermittlungen wurde auch Horst Vanja am 29. April kurzzeitig inhaftiert.389 Am gleichen Tag kamen alle

383 384

385 386 387 388 389

Ebda. S.51. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.52; Stefan George (1968-1933) war ein Dichter aus katholischem Haus, dessen Werk „Das Neue Reich“ sich für eine hierarchisch gegliederte, aristokratisch geprägte Gesellschaftsform aussprach. Viele Bündische lasen seine Bücher. Erinnerungsbericht von Horst Vanja (Tonband) 1996, aus Privatarchiv Familie Vanja. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.55. StAL PP-V 4860, Bl.48, Gestapo-Bericht vom 22.4.1936. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.59; siehe auch StAL PP-S 1400; Bl.85. Siehe PP-S 8507 Polizeigefängnis Leipzig Gefangenentagebuch 1935, Bd.1.

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wieder auf freien Fuß, weiterführende staatsanwaltliche Ermittlungen und Anklagen erfolgten nicht. Darum traf sich die Gruppe bei Vanja weiter. Zu dieser Zeit waren die Konzerte von Serge Jaroffs Donkosakenchor für die verbliebenen Bündischen in ganz Deutschland ein beliebter Treffpunkt.390 Um nicht aufzufallen, ging man in Leipzig in kleineren Gruppen zum Konzert in die Alberthalle, die Jungenschaftsjacken unter Mänteln versteckt. Gestapo und HJ-Streifendienst waren ebenfalls anwesend, der Besuch von Bündischen bei russischen Künstlern war bekannt.391 Rolf Pabst erinnerte sich später an eines der Konzerte: Nach dem Schlussapplaus und einigen Zugaben riefen die Bündischen im Publikum „Platoff! Platoff!“ Dieses Lied war vor 1933 bei der dj 1.11 eine Hymne und die Gestapo soll Jaroff im Vorfeld des Konzertes nahe gelegt haben, es nicht zu singen. Doch er gab nach. „Wir haben die Mäntel und Windjacken geöffnet, zeigen unsere Jungenschaftsjacken und singen mit. Streifendienst und Gestapo müssen ohnmächtig zuhören. Sobald das Lied verklungen ist, stürzen sie auf uns Mitsinger. Das hatten wir erwartet und durch unser Drängeln nutzen wir geschickt und verstärken noch das Durcheinander des Aufbruchs am Ende des Konzerts.“392

Nur wenige Bündische konnten von Gestapo und Streifendienst zur Personalienfeststellung festgehalten werden. Das Gruppenmitglied „Keunze“ beschrieb die damalige Zeit der Gruppe später so: „Zwischen den gregorianischen Gesängen in dieser Kirche nahe dem Völkerschlachtdenkmal [gemeint ist die Russisch-Orthodoxe Kirche in Leipzig, d.Verf.] - und den Liedern und Chören der Donkosaken unter Serge Jaroff - und den Motettenabenden in der Thomaskirche spielte die Illegalität des bündischen Lebens. Eine musisch gestimmte Freundschaft verband uns in Feindschaft gegen den ordinären Nationalsozialismus und die Massen-HJ.“393

Dazu wurde auf den Gruppentreffen über die Texte von Schriftstellern wie Rainer Maria Rilke oder Stefan George gesprochen und selber Gedichte verfasst. Zunächst hatte die Gruppe versucht, außerhalb der neuen Staatsjugend zu agieren. Doch aufgrund des wachsenden Druckes gab es im Frühsommer 1935 390 391

392 393

Siehe auch SCHOTT/STEINACKER: Wilde Gesellen, S.61f. Sowie JOVY: Jugendbewegung und NS, S.165. Siehe auch StAL PP-V 4860, Gestapo-Berichte Bl.49 (Frühjahr 1936 russische Kapelle im Kaffee „Naschmarkt“) und Bl.57; Januar 1937, Don-Kosaken-Konzert mit anschließender Razzia gegen „ehemalige“ Bündische. Es ist nicht klar, ob es sich hierbei um das von Pabst beschriebene Konzert handelt. PABST: Aufzeichnungen, S.77f. „keunze erinnert sich 8/82“, S.1.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

von Horst Vanja Überlegungen, die Gruppe geschlossen ins Jungvolk zu überführen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Jungvolk-Gruppen noch eine gewisse Autonomie bei der Gestaltung ihres Gruppenlebens. Vanja selbst konnte dieses Vorhaben nicht ausführen, da er der Leipziger HJ-Führung zu bekannt war. Er bat darum Rolf Pabst die Gruppe beim Jungvolk zu leiten und hatte dazu Kontakt zu einem ihm bekannten ehemaligen Bündischen aufgenommen, der jetzt einen Jungvolkstamm anführte. Dieser stellte Pabst auf einer Schreibmaschine kurzerhand ein Dokument aus, der ihn als Jungzugführer in seinem Stamm und Stammespressewart auswies. Pabst organisierte daraufhin im Keller des Nachbarhauses seiner Arbeitsstelle nahe der Innenstadt einen Raum als „Heim“ für seine beiden Gruppen, die zusammen einen Jungzug bildeten. Die Ausgestaltung des Raumes erfolgte analog der „Roten Garnison“ in blau. Bei den Treffen wurden nach Rolf Pabsts Erinnerung ausschließlich bündische Lieder gesungen. Um bei einer eventuellen Kontrolle nicht sofort aufzufliegen, hängte man eine Hakenkreuzfahne in das ansonsten bündisch geprägte „Heim“.394 Horst Vanja hielt außerdem Kontakt zu anderen früheren „Trucht“Mitgliedern im Reich und auch zu einer Gruppe befreundeter Berliner Bündischer, deren Betreuer zu diesem Zeitpunkt Dr. Hans Fritzsche war, Gründer und ehemaliger Führer des Bundes der Ringpfadfinder. 1935 besuchten die Berliner die Gruppe um Vanja in der „Roten Garnison“. Ende März 1936 ging Rolf Pabst für längere Zeit ins Ausland. Die „Blaue Garnison“ wurde zunächst für kurze Zeit von einem Mitglied der Gruppe weitergeführt, ehe sie auseinander fiel. Vanja verließ ebenfalls Leipzig und ging nach Berlin. Die übrigen aus der Gruppe um Horst Vanja blieben weiter zusammen. So besuchten einige z.B. 1936 die Ostermesse in der RussischOrthodoxen Kirche in Leipzig, wo sie aufgrund ihrer bündischen Kleidung von der Gestapo kurzzeitig verhaftet wurden.395 Nachdem Pabst Anfang Dezember 1936 von seiner Reise nach Leipzig zurückkehrte, wurde er von der Gestapo erneut verhaftet, da man von seiner Auslandsreise erfahren hatte und ihn beschuldigte, Verbindungsmann zu emigrierten Bündischen zu sein. Nach einiger Zeit entließ man Rolf Pabst, ohne ihm etwas nachweisen zu können. Er zog anschließend zu seinem Vater nach Berlin. Horst Vanja hatte in Berlin die Jugendgruppe einer evangelischen Gemeinde übernommen.396 Außerdem hielt er zahlreiche Vorträge in Berliner Gemeinden, wo er sich mit dem Buch von Alfred Rosenberg „Mythos des 20. Jahrhunderts“ auseinandersetzte, in welchem die christliche Kirche scharf angegriffen wird.397 394 395 396

397

Vgl. Pabst: Aufzeichnungen, S.85f. „keunze erinnert sich 8/82“, S.1. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.139; Vanja war Mitglied der StudentenArbeitsgemeinschaft des CVJM; Vgl. Aufnahmebestätigung (o.D.) aus Privatarchiv Familie Vanja. Erinnerungsbericht von Horst Vanja (Tonband) 1996, Privatarchiv Familie Vanja.

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In Berlin traf er Rolf Pabst wieder. Vanja verhaftete man erneut im Herbst 1937 wegen seiner bündischen Kontakte. Er war längere Zeit in der Berliner Gestapo-Zentrale in der Albrechtstraße inhaftiert. Da er in Böhmen geboren worden war und einen tschechischen Pass besaß, konnte Vanja, nachdem seine Mutter die tschechische Botschaft um Hilfe gebeten hatte, im Februar 1938 in die ČSR ausreisen. Im Sommer 1938 unternahmen einige Leipziger Bündische aus Vanjas alter Gruppe eine Großfahrt in die ČSR - von ihnen selbst „Emigrantenfahrt“ genannt - und besuchten ihn.398 Nach dem deutschen Einmarsch floh Vanja in die Schweiz. Die Leipziger Gestapo ermittelte weiter gegen ihn „wegen staatsfeindlichen Verhaltens“ und stellte Mitte Februar 1938 sogar einen Haftbefehl gegen ihn aus.399 Vor dem Landgericht Leipzig wurde Horst Vanja am 8. Dezember 1938 - in Abwesenheit - zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Näheres ist hierzu nicht bekannt.400 Von den in Leipzig verbliebenen Mitgliedern der Gruppe trafen sich einige bis Anfang der 40er Jahre weiter. Zu ihnen stieß - für jungenschaftliche Bünde ungewöhnlich - sogar eine junge Frau, Doris Huber, die von der katholischen Jugendbewegung kam. Bei den Fahrten um 1938 in die Dahlener und Dübener Heide trafen sie illegale bündische Gruppen aus Berlin und Dessau. Zu Gruppen der Leipziger Meuten entstanden ebenfalls auf den Fahrten vereinzelt Kontakte. Regelmäßig traf man sich in Leipzig mit dem Popen Manuel der Russischen Kirche zum Singen und Balalaika-Spielen. Das Interesse an russischer Kultur jenseits des Kommunismus war unter ihnen weit verbreitet. Erst die Einberufungen nach Kriegsbeginn rissen den Kreis zunehmend auseinander. 401

e.

dj 1.11/Jungentrucht an der Universität Leipzig

Neben der bereits beschriebenen Gruppe engagierten sich Horst Vanja und andere Jungentrucht-Mitglieder - der Kreis der Älteren - ab 1934 in einer illegalen Gruppe an der Leipziger Universität. Da über diese Gruppe im Wesentlichen nur ein ideologisch im Sinne der SED stark verfärbter Erinnerungsbericht aus den 50er Jahren existiert, kann leider nicht erschöpfend auf diese Gruppe eingegangen werden.402

398 399 400 401 402

Siehe „keunze erinnert sich 8/82“, S.2. Kopie des Haftbefehls der Gestapo Leipzig vom 11.02.1938, Privatarchiv Familie Vanja. Kopie des Schreibens der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 27.06.1945 über die Aufhebung der Strafe an die Mutter von H. Vanja, Privatarchiv Familie Vanja. Vgl. „keunze erinnert sich 8/82“, S.3. G. MEHNERT: Im Widerstand gegen die Faschisierung der Universität. In: KARL-MARXUNIVERSITÄT LEIPZIG (Hg.): Beiträge zur Universitätsgeschichte Bd.2, Leipzig 1959, S.331-339; In dem Buch von Rolf Pabst wird die Gruppe nicht erwähnt.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Seit dem Herbst 1934 traf sich, nach späteren Erinnerungen des Japanologie-Studenten Gerhard Mehnert (Jg. 1914),403 wöchentlich eine Gruppe junger Studenten, zu denen mehrere frühere Mitglieder der dj 1.11 bzw. der Jungentrucht gehörten. Die Zusammenkünfte fanden im Japanischen Institut der Universität bei dessen Leiter Prof. Johannes Ueberschaar statt, der zwar Mitglied der NSDAP war, ihr jedoch zunehmend kritisch gegenüberstand.404 Treffen soll es auch im Hause des Religionshistorikers Prof. Joachim Wach405 gegeben haben.406 Man bemühte sich, den Zusammenkünften einen „legalen“ Anstrich zu geben und trat in die gerade in Gründung befindliche „Werkschar“ der DAF ein, welche eine Art Spiel- und Wandergruppe war. In einer anderen Quelle wird diese DAF-Gruppe „Stoßtrupp“ genannt.407 Von der Konzentration bekannter Bündischer in dieser Gruppe erfuhr die HJ-Bannführung und soll nach Angaben Mehnerts zum dritten Treffen im „Haus Vaterland“, dem früheren Volkshaus, eine HJ-Schlägerkolonne geschickt haben. Daraus entwickelte sich eine größere tätliche Auseinandersetzung. Dieses Treffen fand vermutlich am 1. November 1934 statt.408 Zu den Mitgliedern dieser Gruppe gehörten neben Gerhard Mehnert409 die bekannten Leipziger Bündischen Werner „Assa“ Benndorf, Otto „Mü“ Lorisch (Jg. 1913), Harry Buchardt, Horst Vanja und andere.410 Die Gruppe traf sich auch nach den Vorfällen im November 1934 weiter.

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Mehnert soll vor 1933 der dj 1.11 und ab 1932 einem kommunistischen Schülerbund in Leipzig angehört haben. Vgl. M. GRÜTTNER: Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, S.449. FRITZ SCHMIDT erwähnt außerdem kurzzeitige Mitgliedschaften bei HJ und SA. DERS: Um tusk und dj 1.11, Edermünde 2006, S.55. Vgl. GRÜTTNER: Studenten, S.449. Joachim Wach (1898-1955), Urenkel von Felix Mendelsohn Bartholdy, und seit 1927 an der Universität Leipzig tätig. Im April 1935 entzogen die Nationalsozialisten ihm wegen seiner jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis. Er wanderte daraufhin in die USA aus. 1937 soll er Leipzig besucht haben, wo er sich mit früheren bündischen Studenten traf. Vgl. LIEBS: Bündische Jugend. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.175. Vgl. KOMMISSION (Hg.): In der Revolution, S.428. StAL PP-S 1400, Bl.26, Gestapo-Verhör von H. Kupsch 24.5.1935. Siehe StAL PP-S 1400, Bl.26 Gestapo-Verhör von H. Kupsch 24.5.1935; Mehnert datiert diese Schlägerei auf Sommer 1935. An ihr sollen nach seinen Angaben 100 Jugendliche teilgenommen haben, was nicht durch andere Quellen überprüft werden konnte. Der von Kupsch angegebene Zeitpunkt scheint glaubwürdiger. Der von Bündischen unterwanderte „Stoßtrupp der DAF“ wird von Kupsch in seinem Verhör vom Mai 1935 erwähnt. Da die Gestapo-Beamten nicht weiter nachfragten, muss angenommen werden, dass sie von diesem bereits Kenntnis hatten. Bei Rolf Pabst wird nicht von dieser Schlägerei berichtet. Er war seit dem Jahreswechsel 1934/35 mit Horst Vanja befreundet und in seiner „Garnison“, Siehe: Pabst: Aufzeichnungen, S.51ff. Mehnert berichtet außerdem von Kontakten zum KJVD im Leipziger Süden Anfang 1934. Siehe: MEHNERT: Im Widerstand, S.333. StAL PP-S 1400, Bl.26f., Gestapo-Verhör von H. Kupsch 24.5.1935.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

127

Neben Diskussionen sollen, laut Mehnert, kommunistische Materialien verteilt und eigene Schriften über Universitätsangelegenheiten im Abzugsverfahren hergestellt worden sein. Den von Mehnert erwähnten Kontakt zum KJVDFunktionär Kurt Gittel, der 1934 in einer Druckerei in Leipzig gearbeitet und dort für die Gruppe illegale Flugblätter vervielfältigt haben soll, kann es so nicht gegeben haben. Kurt Gittel war 1933 für den illegalen KJVD in Berlin aktiv gewesen und dort bereits Ende 1933 verhaftet worden. Erst 1936 kam er aus der Haft wieder nach Leipzig.411 Außerdem sollen die Studenten Benndorf, Vanja, Günter Eden, Gerhard Mehnert sowie der Verleger Günther Wolff aus Plauen im Frühjahr 1935 nach Prag gefahren sein, um dort an der Universität einen Diskussionsabend abzuhalten. Ziel war, „die an der Prager Universität studierenden, vor allem katholisch eingestellten deutschen Studenten, vor der faschistischen Wirklichkeit zu warnen und aufzuklären.“412 Im Sommer 1935 wurde gegen die Jugendlichen wegen des Verdachtes der Betätigung für die dj 1.11 ermittelt. Nach Angaben von Mehnert wurde die Gruppe zeitweise verhaftet, traf sich danach aber weiter.413 Das Mitglied Richard Grunov fuhr im September 1935 in die Tschechoslowakei zu seinen Großeltern, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Er soll dort sowohl mit einer Hilfsorganisation der KPD als auch mit dem Büro von Otto Strassers „Schwarzer Front“ in Prag Kontakt gehabt haben. Näheres zu diesen Treffen ist nicht überliefert, auch nicht, warum er ausgerechnet diese beiden politisch entgegengesetzten Gruppen besuchte und wie die anderen Bündischen zu diesen standen.414 Nachweisbar ist, dass Mehnert am 11. Dezember 1936 in Leipzig erneut inhaftiert wurde.415 Die Gestapo erfuhr zuvor beim Verhör eines anderen Bündischen, dass Mehnert 1934 und 1935 illegale kommunistische Schriften verteilt hätte. 1937 verurteilte man ihn deswegen vor dem Oberlandesgericht Dresden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu 20 Monaten Gefängnis.416 Gerhard Mehnert behauptet in seinem Erinnerungsbericht als Kommunist der Leiter der Gruppe gewesen zu sein und außerdem Verbindung zur illegalen 411

412 413

414 415 416

Vgl. BArch NJ 1183 Urteilsschrift gegen K. Gittel unpag. von 1942; Die Darstellung Mehnerts wird ohne Quellenangaben auch hier wiedergegeben: KOMMISSION (Hg.): In der Revolution, S.428. MEHNERT: Im Widerstand, S.336; Möglicherweise hatte die Gruppe in Prag auch Kontakt zu Otto Strasser, Vgl. SCHMIDT: Mord, S.31f. Mehnerts Verhaftung konnte anhand des Namensregister des Polizeigefängnis Leipzig für 1935 nicht nachgewiesen werden, Vgl. StAL PP-S 8541; Otto Lohrisch aus der Gruppe wurde am 7. Juni verhaftet, ebenso sein Bruder Kurt. Auch Karl Daniel wurde wenige Stunden später inhaftiert, was die bündischen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Siehe StAL PP-S 8507. Siehe SCHMIDT: um tusk, S.54; Leider fehlen genaue Quellenangaben zu Richard Grunov. Siehe StAL PP-S 8510, Polizeigefängnis Leipzig Gefangenentagebuch Bd.2/1936. Siehe SCHMIDT: Ein Mann, S.75f.

128

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

KPD und dem KJVD in Leipzig unterhalten zu haben. Er stellt die Gruppe so dar, dass er und Richard Grunov die Gruppe in ihrem Sinne organisiert und geführt hätten. Dies muss entschieden bezweifelt werden. Fast alle namentlich bekannten Mitglieder der Gruppe waren überzeugte Bündische aus dem Umfeld der Jungentrucht, welche sich 1932 von Köbels dj 1.11 trennte, als dieser sich der KPD zuwandte. Auch der Kontakt zu Günther Wolff belegt zweifelsfrei, dass diese Gruppe in erster Linie eine bündische war und Mehnert im Nachgang seine Aktivitäten in der Gruppe in der erwähnten Richtung dargestellt hat. Das schließt nicht aus, dass Mehnert sich damals als Kommunist verstand und Kontakte zu weiteren illegalen Kommunisten gehabt hatte. Besonders nach den großen Verhaftungswellen gegen die illegale KPD und dem KJVD im Sommer/ Herbst 1934 müssen diese Kontakte jedoch hauptsächlich von persönlichprivater Natur gewesen sein, auch wenn er illegale kommunistische Schriften erhielt. Mehnert gibt die Gruppe somit verzerrt wieder, einzig mit dem Ziel, seine geleistete illegale Arbeit in einer bündischen Gruppe nachträglich in Einklang mit dem Mythos der Kontinuität und Führungsrolle der KPD im Widerstand anzupassen. Bezüglich der Motive dieser Gruppe konnte nichts weiter in Erfahrung gebracht werden. Man kann davon ausgehen, dass es zunächst um die Bewahrung ihres bündischen Lebensraums ging und man sich weiterhin mit Gleichgesinnten an der Universität austauschen wollte. Hierbei lehnte die Gruppe den Nationalsozialismus als Staatsform ab, wie die Gespräche in der „Roten Garnison“ bei Horst Vanja bereits bewiesen haben. Sollte die Fahrt nach Prag mit der Diskussion, wie von Mehnert beschrieben, tatsächlich so stattgefunden haben, kann man darüber hinaus davon ausgehen, dass die Gruppe, über ihre Resistenz gegen NS-Einflüsse hinaus, aktiv versuchte, Studenten in ihrem Sinne zu beeinflussen. Eine abschließende Beurteilung ist aufgrund fehlender Quellen leider nicht möglich.

f.

„Die Gemeinschaft“

Gründer der „Gemeinschaft“ war der Oberschüler Werner Schütze (Jg. 1914) aus Leipzig. Schütze war 1927 für anderthalb Jahre Mitglied des Nationalsozialistischen Schülerbundes in Leipzig gewesen, ehe er sich 1930 der dj 1.11 anschloss. Aufgrund Köbels zunehmender kommunistischer Tendenzen wechselte Schütze zur Deutschen Jungentrucht, wo er 1932 für einige Monate zum Kreisführer aufstieg. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem Jungentrucht-Gauführer Karl Daniel schied Schütze aus dem Bund wieder aus, blieb in der Folgezeit zunächst ohne Anschluss und lebte sehr zurückgezogen. In dieser Zeit soll sich Werner Schütze nach eigenen Angaben mit der Bibel

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

129

und anderen Büchern, wie z.B. den Werken von Nietzsche, beschäftigt haben.417 Ende 1934 fand er sich mit einem ehemaligen Mitschüler Willy Wolfram (Jg. 1913) zusammen und gründete die „Gemeinschaft“. Wolfram war Ende der 20er Jahre kurzzeitig beim Kolonialbund Deutscher Pfadfinder gewesen und im März 1934 dem Marinesturm der SA beigetreten, welchen er wenige Monate später wieder verließ.418 Ihr erstes gemeinsames Gespräch vom 1. Dezember über alternative gemeinschaftliche Lebensformen stenographierten und vervielfältigten sie unter dem Titel „Sendung Nr.1“, welche sie unter ihnen bekannten Bündischen verteilten. Für weitere geplante Schriften kauften sie sich einen Abziehapparat und größere Mengen Papier. Basierend auf diesen Lebensentwürfen und der Loslösung von scheinbar einengenden Institutionen wie Elternhaus und Schule, beschloss auch der Oberschüler und früheres Quickborn-Mitglied Helmut „Helm“ Kupsch (Jg.1919) Mitte Dezember 1934 ebenfalls sich der „Gemeinschaft“ anzuschließen. Hierfür planten er und Schütze noch weitere Jugendliche zu gewinnen. Kupsch sollte im Jungvolk eine Gruppe aufbauen und diese später in die „Gemeinschaft“ überführen.419 Unter der „Gemeinschaft“ verstanden sie Folgendes: „Die Gemeinschaft wird gebildet von Menschen, die ein gleiches Wollen in sich tragen. […] Unser Wollen ist, unser rechtes Leben zu finden und dieses zu verwirklichen. Wir wollen uns gemeinsam in organischer Entwicklung die Erkenntnisse über unser rechtes Leben gewinnen. Unsere erste Erkenntnis ist die, dass sich jeder von uns die Lebensarbeit wählt, von der er glaubt, dass er ganz in ihr aufgehen wird und nach seinen Anlagen hier am schöpferischsten tätig sein kann. […] Durch die heutigen Einrichtungen des Staates (Organisationen), von denen vor allem die des Geldes am maßgebensten ist, wird es mir nicht möglich sein, mich auf dem für mich bestimmten Arbeitsgebiet420 zu schulen und später darin frei wirken zu können. Wir aber in der Gemeinschaft haben uns entschlossen, nicht auf die Lebensarbeit zu verzichten, […]. Wir werden deshalb diejenigen Einrichtungen aufbauen, die uns ermöglichen, uns auf unseren gewählten Arbeitsgebieten zu schulen und darin schöpferisch tätig zu sein. […] Wir wissen auch, dass wir mit vielen anderen Einrichtungen, die uns unsichtbare Fesseln anlegen und uns in unserer wertvollen Entwicklung meist nur hemmen, ohne jegliches teilweises Brechen aufhören müssen. Wir wollen lieber an diesem Kampf, der unsere Ideale birgt, zugrunde gehen, als dass wir auch nur zu einem kleinen Teil von dem rechten Leben abweichen.“421

417 418 419 420 421

Vgl. StAL PP-S 4040 Bl. 5ff., Gestapo-Verhör von W. Schütze am 14.01.1935. Vgl. ebda. Bl.20, Gestapo-Verhör von W. Wolfram am 17.01.1935. Vgl. ebda. Bl.15, Gestapo-Verhör von H. Kupsch am 15.01.1935. Kupsch wollte Grafiker oder Buchgestalter werden. StAL PP-S 1400; Der Text wurde am 23.12.1934 von W. Schütze und H. Kupsch besprochen und einen Tag später von Kupsch seinen Eltern vorgetragen, Vgl. Bl.32.

130

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Es ist bemerkenswert, dass Ende 1934 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 21 Jahren sich über derart philosophische Dinge austauschten und selbstständig einen individualisierten Lebensentwurf erarbeiteten, welcher dem der Nationalsozialisten völlig konträr lief. Es kann davon ausgegangen werden, dass keine weiteren Jugendlichen oder ältere Bündische involviert waren, da die späteren Gestapo-Ermittlungen dies sicherlich herausgefunden hätten. Inwieweit diese Art von Lebensplanung und Lebenseinstellung von weiteren Bündischen zu dieser Zeit geteilt wurde, konnte aufgrund fehlender Quellen nicht ermittelt werden. Es scheint sich nach momentanem Kenntnisstand bei der „Gemeinschaft“ lediglich um eine kleine Gruppe gehandelt zu haben, welche trotz einiger verbreiteter „Sendungen“ in Leipzig weitgehend unbekannt blieb. Schütze wohnte zu diesem Zeitpunkt in Wiederitzsch, einem kleinen Ort an der Nordgrenze Leipzigs im Hause einer Frau Dr. Jäger. Dort wurde ein „Heim“ eingerichtet, in dem Kupsch 1934 regelmäßig verkehrte. Schütze und Kupsch kannten sich bereits vor 1933.422 Ende 1932 stand Kupsch außerdem in Kontakt mit Horst Vanja von der „Trucht“. Warum er sich in der Folgezeit nicht seiner Gruppe anschloss, ist unbekannt. Ende 1933 bekam Kupsch von Schütze mehrere Schriften der dj 1.11. Kupsch gehörte im September 1933 außerdem kurzzeitig der HJ an. „Da sich die HJ damals nach den Aussagen meines Kameradschaftsführers als Jung-SA fühlte, ich aber von den katholischen Jugendverbänden noch stark bündisch beeinflusst war, trat ich aus der HJ […] aus.“423 Diese Aussage verdeutlicht das damalige Selbstverständnis der HJ und die Abneigung der Bündischen gegen sie. Gleichzeitig existierte über das Jungvolk eine andere Wahrnehmung, denn Kupsch trat im April 1934 dem Jungvolk bei, wo er Leiter der Propagandaabteilung im Stadtteil Nord-Gohlis wurde. Parallel zu seinen Funktionen im DJ hatte Kupsch im Laufe des Jahres 1934 reichsweit zu verschiedenen ehemaligen Bündischen teils schriftlichen, teils persönlichen Kontakt. So besuchte er im August 1934 den Verleger Günther Wolff in Plauen.424 Für den Briefverkehr mit einem ehemaligen Mitglied der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder aus Hamburg, dem Maschinenbaulehrling Arthur Doerwaldt (Jg. 1914), legte Kupsch sich für postlagernde Sendungen in Leipzig das Pseudonym „AHKKM“ zu. Dies bedeutete nach eigenen Aussagen „Albert Helmut Kupsch Kommunist“.425 Erstaunlicherweise fragte die Gestapo bei ihren Verhören nicht explizit nach, warum der 15jährige Helmut Kupsch sich offenbar als Kommunist verstand. Möglicherweise interpretierten die Beamten bereits die „Sendung Nr.1“ als kommunistisches Machwerk. 422 423 424 425

Kupsch gibt in seinem Verhör an, dass sie sich bei der Quickborn-Jungenschaft kennengelernt hatten, was Schütze wiederum nicht erwähnt. StAL PP-S 4040, Gestapo-Verhör von H. Kupsch am 15.1.1935, Bl.14. Vgl. StAL PP-S 4040, Bl.16. StAL PP-S 1400, Bl.28, Gestapo-Verhörprotokoll.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

131

Die Adresse von Doerwaldt bekam Kupsch von Dr. Rietzel, Inhaber des Bekleidungs- und Ausrüstungsgeschäftes „Haus der Jugend“ in Leipzig. Doerwaldt hatte zu diesem Zeitpunkt in Hamburg eine illegale Gruppe aus ehemaligen Bündischen gebildet. Diese orientierte sich stark an der dj 1.11 bzw. an Eberhard Köbel und soll sich „Rotgraue Garnison III“ genannt haben. Kupsch besuchte Doerwaldt im Herbst 1934 und schickte ihm anschließend u.a. die von Köbel verfasste Zeitschrift „Pläne“ aus dem Jahr 1932 zu.426 Nach seinem Treffen mit den Hamburgern plante Kupsch in Leipzig ebenfalls eine dj 1.11Gruppe aufzubauen. Noch 1938 führte der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof diesen Sachverhalt in einer Anklageschrift als Beweis für bündische Umtriebe der dj 1.11 an und nannte die Gruppe um Kupsch in Leipzig, welche es de facto nie richtig gegeben hatte, „Rotgraue Garnison II“.427 Dies zeigt einerseits, wie dünn die Beweisdecke damals gewesen sein muss, andererseits die fast paranoide Verfolgung jeder noch so kleinen bündischen Betätigung. Kupsch unterhielt außerdem Briefkontakte zu einem ehemaligen Mitglied aus dem „Grauen Korps“ (einem Kreis aus der katholischen „DeutschmeisterJungenschaft“ in Südwestdeutschland) sowie zwei Mitgliedern des „Schwarzen Fähnleins“ in Breslau.428 Den Aufbau der illegalen Leipziger dj 1.11-Gruppe hatte Kupsch offenbar nur langsam vorangebracht. Weihnachten 1934 trat er zunächst der oben genannten „Gemeinschaft“ bei und ging am Neujahrstag alleine auf Fahrt mit dem Reiseziel Schweden. Dort wollte er zu einem emigrierten bündischen Leipziger, dessen Adresse ihm Schütze gegeben hatte. Da man ihn nach Schweden nicht einreisen ließ, kehrte er wieder nach Leipzig zurück. Etwa zeitgleich im Januar 1935 muss die „Gemeinschaft“ der HJ-Führung in Leipzig bekannt geworden sein, denn der Obergebietsführer Frank entließ Kupsch aus dem DJ und ließ ihn am Abend des 11. Januar festnehmen. In dieser Angelegenheit ermittelte anschließend die Gestapo. Werner Schütze wurde wenige Tage später verhaftet und saß sogar deswegen seit Mitte Februar im KZ Sachsenburg in „Schutzhaft“.429 Dies zeigt, welcher Bedeutung man seitens der Gestapo der „Gemeinschaft“ beimaß. Man schätzte Schütze zwar als „Wirrkopf“ ein, unterstellte ihm dennoch: „Ein kommunistischer Faden durchzieht seine Gedankengänge von Anfang bis Ende“, obgleich Schütze keinerlei Sympathien für marxistische Ideen erwähnte.430 Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen Schütze Ende März 1935 ein. Als Motive für die Gründung der „Gemeinschaft“ vermutete man - im Gegensatz zur Gestapo - lediglich „religiöse Beweggründe und wohl auch Ent426 427 428 429 430

Vgl. HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.69f. Siehe BRANDENBURG: Geschichte der Hitlerjugend, S.205. StAL PP-S 1400, Bl.26. Siehe StAL PP-S 4860, unpag.; interne Notiz der Gestapo vom 25.3.1935. Vgl. StAL PP-S 4040 Bl.28, Gestapo-Bericht vom 18.1.1935.

132

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

täuschung über das Verhalten einiger HJ-Führer.431 Politische Ziele oder gar „umstürzlerische“ Absichten konnte die Staatsanwaltschaft nicht feststellen. Daraufhin befürwortete auch die Gestapo Anfang April die Entlassung von Schütze: „Die bis jetzt erlittene Schutzhaft kann als Sühne als ausreichend angesehen werden.“432 Dagegen erhob der Lagerkommandant des KZ Sachsenburg Einspruch, da Schütze sich nicht in seinem Sinne geführt hatte und Mitte April sogar mit fünf Tagen „strengen Arrest“ bestraft wurde.433 Erst am 8. Januar 1936 wurde Schütze aus dem KZ entlassen. Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt. Für Helmut Kupsch endete diese Angelegenheit zunächst „nur“ mir sechs Tagen Verwahrungshaft. Er wurde Mitte Januar 1935 wieder entlassen. Im Mai verhaftete man Kupsch abermals, diesmal aufgrund des bekannt gewordenen Kontaktes zu Artur Doerwaldt und seinen Plänen, in Leipzig eine Gruppe der illegalen dj 1.11 aufzubauen. Hierzu reiste am 24. Mai extra aus Berlin ein Gestapa-Beamter für ein Verhör an. Dieser drängte anschließend darauf, Kupsch „unter allen Umständen“ der Staatsanwaltschaft zuzuführen und Haftbefehl zu erlassen, „weil sich die Ermittlungen [gegen die illegale dj 1.1, d.Verf.] im Reichsmaßstabe auf alle Länder erstrecken.“434 Bei den sich bis in den August ziehenden Ermittlungen der Leipziger Gestapo wurden mehrere Jugendliche befragt, welche Kupsch vor 1933 von der Quickborn-Jungenschaft in Leipzig bzw. nach 1933 beim Jungvolk kannten. Eine Mitgliedschaft in der dj 1.11 konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Das Jugendschöffengericht Leipzig verurteilte Kupsch am 3. April 1936 schließlich nach § 85 StGBs zu drei Monaten Gefängnis. Anhand von Helmut Kupsch wird deutlich, dass, besonders nach 1933, die Verbindungen zu verschiedenen bündischen Einzelpersonen quer durch ganz Deutschland führten. Bündische Aktivitäten und Jungvolk ließen sich im Fall von Helmut Kupsch jedoch nur bedingt miteinander verbinden.

g.

Ein weiterer dj 1.11er

Wie stark die Anziehungskraft der dj 1.11 und die Identifikation mit ihr auch noch Mitte der 30er Jahre war, verdeutlicht folgender Sachverhalt: Der Realschüler Rudolf Dietrich (Jg. 1920) aus der Südvorstadt gab im Oktober 1936 bei einer Befragung durch den HJ-Streifendienst folgendes an:

431 432 433 434

Vgl. StAL PP-S 4040 Bl.36, Brief d. Oberstaatsanwaltes an LG Leipzig 25.3.1935. Vgl. ebda. Bl.65, Schreiben der Gestapo vom 8.4.1935. Vgl. ebda. Bl.69, Schreiben des KZ-Kommandanten vom 10.5.1935. Ebda. Bl.23.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

133

„Der heutige Staat kann nicht erwarten, dass die Bündischen hinter ihm stehen, da er sie schlecht behandelt hat. […] Wir bekämpfen den Staat, weil er in der Jugendführung ganz falsche Wege einschlägt. Wir lehnen eine Massenorganisation wie die HJ ab. Die Parole der Bündischen ist: Auslese und Gefolgschaft; diese ist in der HJ nicht vorhanden. […] Von den Leipziger dj 1.11-Jungen, von denen ich sehr viele kenne, ist jeder bereit, wenn es sein muss, für seine Idee ins Gefängnis zu gehen.“435

Rudolf Dietrich hatte keinerlei Bedenken, dem Streifendienst der HJ derart offen seine Meinung zu sagen und bekannte sich sogar dazu, den Staat „bekämpfen“ zu wollen. Diese Äußerungen hielt er selbst zwei Tage später bei einem Gestapo-Verhör aufrecht. Der 16jährige zeigte damit, wie sehr er zu seiner Überzeugung stand. Darüber hinaus könnte man die gegenüber der HJ und Gestapo getroffenen Aussagen als leichtsinnig einstufen. Offensichtlich fehlte dem Schüler, bei all seiner erkennbaren Ablehnung von HJ und NS-Staat, jegliches Augenmaß, was diese Äußerungen für Konsequenzen für ihn haben könnten. Dies lässt die Vermutung zu, dass Dietrich keinen engeren Kontakt zu älteren Bündischen hatte, die ihn über die Gefährlichkeit von solcherart Aussagen gegenüber NS-Vertretern informiert hätten. Dietrich war zunächst der NS-Bewegung verbunden gewesen. Bereits seit Ende 1932 DJ-Mitglied, war er 1934 Jungenschaftsführer geworden. In der Folgezeit vernachlässigte er aber seine dortigen Pflichten und versuchte seine Gruppe mehr im „bündischen Geist“ aufzuziehen, vermutlich, weil er entsprechende Schriften gelesen oder Gespräche geführt hatte. Er veranstaltete unter Umgehung des Dienstweges mit seiner Gruppe eigenmächtige Fahrten. „Durch sein Reden, Tun und Handeln versuchte er die Jungen für sich zu gewinnen und von der großen Einheit abzutrennen. Dietrich wurde hierauf von uns aus dem DJ ausgestoßen.“436 Er hatte in der Folgezeit mit anderen Jugendlichen Kontakt, wobei man sich über die Bündische Jugend unterhielt. Ein Treffpunkt hierfür war der Billardsaal am Brühl in der Leipziger Innenstadt sowie die Kleinmesse. Mit mindestens drei Bekannten aus seiner Wohngegend soll sich Dietrich regelmäßig getroffen haben. Er und ein weiterer trugen die „bündische Tracht“. Sie lasen zusammen das Buch „Der stille Don“ und versuchten Radio Moskau zu hören. Einer war parallel dazu HJ-Mitglied. Die Ermittlungen der Gestapo konnten Dietrich nicht nachweisen, dass er eine dj 1.11-Gruppe hatte aufziehen wollen. Das Verfahren gegen ihn wurde trotz der gemachten Aussagen - beim Sondergericht Freiberg Ende Juni 1937 eingestellt. Weitere Ermittlungen der Leipziger Staatsanwaltschaft gegen die Gruppe wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ mussten 1938 ebenfalls ergebnislos fallen gelassen werden. Der Freundeskreis um Dietrich wurde im Übrigen

435 436

HStAD SG Freiberg 1 Js/SG 758/37, Bl.38. Ebda. Bl.17, Gestapo-Verhör von DJ-Mitglied Rolf M. (Jg.1919) am 19.05.1936.

134

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

1938 von der Staatsanwaltschaft als „Meute Sidonienstraße“ bezeichnet, auf die später noch eingegangen wird.437 Die dj 1.11 (bzw. der Mythos einer kleinen elitären, verschworenen Gemeinschaft, der sich um diese Gruppe rankte) war bis 1936 für eine ganze Anzahl von Leipziger Jugendlichen prägend und brachte sogar nach 1933 einzelne Mitglieder der Staatsjugend dazu, mit der NS-Ideologie zu brechen. Für die Zeit ab 1937 konnte konkret für Leipzig kaum noch neuerliches Interesse an der dj 1.11 festgestellt werden. Ein Grund wird gewesen sein, dass der GüntherWolff-Verlag keine bündischen Publikationen mehr veröffentlichen durfte. Außerdem hatten ältere Leipziger Mitglieder der dj 1.11 bzw. der Jungentrucht Mitte der 30er Jahre die Stadt entweder verlassen oder sich - nicht zuletzt aufgrund der Verfolgung durch die Gestapo - aus der bündischen „Szene“ zurückgezogen und ihr Glück im beruflichen Weiterkommen gesucht. Einzig von der bereits dargestellten Gruppe um Horst Vanja ist bekannt, dass sich einige Leipziger bis nach Kriegsbeginn weiter trafen, offensichtlich aber versuchten, den NS-Verfolgungsorganen nicht aufzufallen. In Berichten vom Dezember 1936 und April 1937 konnte die Leipziger Gestapo keine „Wahrnehmungen“ mehr über Aktivitäten der dj 1.11 machen, auch nicht der HJ-Streifendienst. „Jedoch tritt z.Zt. besonders in Erscheinung, dass sich viele ehemalige Angehörige der ‚Bündischen Jugend’ mit einer auffälligen einheitlichen Kleidung kennzeichnen.“438 Bereits im Juni 1936 war aufgefallen, dass neben schwarzen Hemden auch zunehmend bundkarierte Skihemden getragen wurden.

h.

„Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“

Im Gegensatz zu den bekannten illegalen bündische Gruppen, deren Mitglieder über ganz Leipzig verstreut wohnten, setzte sich diese Gruppe aus den Brüdern Fritz und Eduard Schütze und vier weiteren Jugendlichen der Geburtsjahrgänge zwischen 1919 und 1921 zusammen, welche alle in der Sidonienstraße oder in deren unmittelbaren Umgebung der Inneren Südvorstadt nahe dem Bayrischen Bahnhof wohnten. Alle waren vor 1933 Mitglied bei Pfadfindergruppen439 und Mitte der 30er Jahre Lehrlinge oder Arbeiter. Drei von ihnen waren zwischen 1933 und 1935 im Jungvolk bzw. in der HJ, traten jedoch aus verschiedenen Gründen wieder aus. 1935 traf sich die Gruppe zunächst nur auf der (Sidonien)

437 438 439

BArch NJ 6755, Bl.6. StAL PP-V 4860 Bl.50;52. Die Angaben zu den einzelnen Mitgliedschaften variieren in den verschiedenen GestapoAkten zwischen Reichsschaft Deutscher Pfadfinder, Deutscher Reichspfadfinderbund und Reichspfadfinderschaft.

4. Die Bündische Jugend in Leipzig ab 1933

135

Straße, später auch bei dem Gruppenmitglied Erich Stawicki zu Hause.440 Sonntags ging man gelegentlich ins Kino und unternahm mehrere Fahrten außerhalb Leipzigs. Die Jugendlichen trugen kurze Lederhosen und Jungenschafts-Blusen. Für das Tragen der Hemden wurden ihnen im Oktober 1935 von einem Jungbannführer auf der Straße Schläge angedroht, da sie keine DJ-Mitglieder waren. Das Mitglied Heinz Richter verkehrte außerdem gelegentlich in der nahe gelegenen „Eisdiele Valentin“, wo er einige Male mit einem Kameradschaftsführer der HJ über die Bündische Jugend diskutierte. Dieser Hitlerjunge war vor 1933 selbst in einer bündischen Gruppe, „machte sie jetzt aber schlecht.“441 Ab Anfang 1936 beschäftigte sich die Gruppe bei ihren Heimabenden verstärkt mit Geländekunde und Morsen und legten eine „Prüfung“ vor dem mutmaßlichen Gruppenanführer Stawicki ab. Es entstand daraus die Idee, eine Urkunde anzufertigen, welche unterschrieben war mit „Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“.442 Die Gestapo bekam aus unbekannten Gründen Kenntnis von der Gruppe und ermittelte 1936 gegen „Stawicki und Genossen“ wegen Weiterführung der Reichsschaft Deutscher Pfadfinder und Bildung der „Boy-ScoutsPfadfinderschaft“. In den Verhören Ende 1936 konnten die Mitglieder, besonders bei letzterem Vorwurf, die Beamten davon überzeugen, dass dies „nicht ernst gemeint war“ und dass es sich bei ihnen nur um einen „Freundschaftsbund“ handelte, der gegen „Tanzsäle und Saufen“ sei.443 Alle Verfahren wurden schließlich eingestellt. Nachdem Stawicki zum Arbeitsdienst musste, zerfiel die Gruppe. Die Brüder Schütze trafen sich in der Folgezeit auf der Kleinmesse mit anderen ähnlich gekleideten Jugendlichen aus verschiedenen Stadtteilen. In diesem Zusammenhang wurden sie und Heinz Richter im April 1937 abermals von der Polizei festgenommen und saßen drei Monate in Untersuchungshaft. Auch diese Ermittlungen endeten ohne eine Verurteilung. Nach der Entlassung besuchte das NSV die Familie Schütze und befragte die Jungen. „In der Unterredung mit dem Helfer zeigte sich der Jugendliche schroff und verstockt, sein Benehmen war äußerst anmaßend. Zur Tat selbst war nichts aus ihm herauszubringen.“444 Die Jugendlichen trafen sich in der Folgezeit weiter mit Gleichgesinnten. Einige Mitglieder wurden 1937/38 bei Ermittlungen gegen die Meute

440

441 442 443 444

Stawicki hatte einen älteren Bruder Arthur, der in den Akten nicht erwähnt wird. Sie wohnten in der Nürnberger Straße unweit der Innenstadt und gehörten früher zu den katholischen Pfadfindern. Beide sollen um 1935/36 außerdem Kontakt zu mehreren Lindenauer Arbeiterjugendlichen gehabt und kurzzeitig eine illegale Pfadfindergruppe gebildet haben. Vgl. Erinnerungsbericht W. Donndorf vom 18.11.1987, Privatarchiv Kircheisen; siehe auch Kapitel Meute „Reeperbahn“. HStAD SG Freiberg 2Js/SG 213/38, Bl.20, Gestapo-Verhörprotokoll. Siehe HStAD SG Freiberg 2Js/SG 503/38; 2Js/SG 202/38; 2Js/SG 213/38. Vgl. ebda. Bl.3. HStAD 2Js/SG 214/38, Bl.39.

136

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Sidonienstraße und die Texas-Meute genannt, auf die später noch eingegangen wird.

i.

Der Polnische Pfadfinderbund

Seit September 1932 existierte in Leipzig eine Gruppe des Polnischen Pfadfinderbundes. Als Dachverband fungierte die „Polnische Pfadfinderschaft in Polen“. Da es sich bei ihren Mitgliedern ausschließlich um polnische Staatsangehörige handelte, blieben sie Mitte der 30er Jahre von einem Verbot verschont und man sah sie in voller Kluft im Leipziger Stadtbild. Auf ihrem olivfarbenen Hemd trugen sie ein Wappen mit der Aufschrift „Lipsku“ (Leipzig), außerdem blauer Schlips, Pfadfinderschnur mit den polnischen Landesfarben und kurze dunkle Hosen.445 Die Gruppe bestand aus etwa zwölf Jugendlichen und traf sich freitagabends in den Räumen des polnischen Konsulates. Auch kleinere Wanderungen und Zeltlager wurden Mitte der 30er Jahre hin und wieder durchgeführt. Im etwa 35 Kilometer entfernten Borna gab es eine weitere Ortsgruppe mit 30 Mitgliedern. „Die Mitglieder beider Ortsgruppen, unter denen sich auch jugendliche Frauenspersonen befinden, bezwecken die Erlernung der polnischen Sprache und des polnischen Gesanges sowie der Nationaltänze.“446 Das 1935 ausgesprochene Uniformverbot für alle Gruppen außerhalb der NS-Gliederungen betraf die Polnischen Pfadfinder nicht. Ein übereifriger HJOberscharführer brachte im Mai 1935 einmal sechs von ihnen auf eine Polizeiwache, nachdem er sie in Kluft in einer Eisdiele entdeckt und als „Kommunisten“ beschimpft hatte. Nachdem die Beamten Rücksprache mit der Gestapo gehalten hatten und erfuhren, dass diese Organisation zu Recht bestehe, wurden sie wieder entlassen. In diesem Zusammenhang beklagten sich die Polnischen Pfadfinder, „dass sie in Leipzig wegen ihrer Kleidung schon oft angehalten und der Wache zugeführt worden seien.“447 Der Bund existierte bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Noch im April 1939 fand ein „Jugend-Kameradschaftsabend“ im Saal einer Leipziger Gaststätte statt. Es ist anzunehmen, dass nach dem Überfall auf Polen die Gruppen verboten bzw. aufgelöst wurden.

445 446 447

StAL, PP-V 4491, Bl.2. Ebda. Bl.23, Gestapobericht vom 1.9.1937. Ebda. Bl.8.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

j.

137

Eine illegale Scharnhorst-Gruppe in Taucha bei Leipzig

Der Scharnhorst-Bund war vor 1933 die Vorstufe des Jungstahlhelms, der Jugendliche bis 16 Jahre erfasste. Der 1915 in Leipzig geborene Schuhmachereiarbeiter Heinz Kleinert wohnte Anfang der 30er Jahre mit seinen Eltern in Taucha, einem kleinen Ort an der nordöstlichen Stadtgrenze von Leipzig. Bereits 1932 war er Mitglied im Scharnhorstbund geworden und gründete ein Jahr später in Taucha eine Ortsgruppe, bis diese im Herbst 1933 in die HJ überführt wurde. Kleinert schied nach einem halben Jahr wegen internen Streitereien wieder aus. Im Sommer 1935 traf er sich regelmäßig mit drei ehemaligen Scharnhorst-Mitgliedern und zwei weiteren Jugendlichen in Taucha, wobei die Idee entstand, eine neue Scharnhorst-Gruppe zu gründen, „da ich es nicht überwinden zu können glaubte, dass in Sachsen der Stahlhelm verboten wurde. Ich wollte durch meine Tat dem Stahlhelm wieder zu den alten Ehren verhelfen, den er vom Kriege her genossen hat.“448 Die Gruppe traf sich daraufhin ab September regelmäßig. Unter den Teilnehmern war auch ein HJ-Mitglied, welches Ende Oktober dem Unterbann ausführlich und „vertraulich“ Bericht erstattete. Die sofort an die Polizei weitergeleiteten Informationen führten wenige Tage später zur Verhaftung von Heinz Kleinert. Während er sich in den Verhören als Anhänger des Scharnhorst-Bundes und des Stahlhelms darstellte, kam die Gestapo im Laufe ihrer Ermittlungen zu anderen Ergebnissen. Kleinert war 1931 als angeblicher „Meldegänger der KPD“ aktenkundig geworden und wurde als „fanatischer Anhänger der KPD“ eingeschätzt. Seinen Eintritt in den Scharnhorst-Bund 1932 wertete man als Spitzeldienste. „Er ist ein Gegner des Nationalsozialismus und der jetzigen Staatsform. Die Überweisung in ein Schutzhaftlager erscheint angebracht.“449 Ende Dezember 1935 wurde Kleinert ins KZ Sachsenburg eingeliefert. Das Landgericht Leipzig konnte der Argumentation der Gestapo jedoch nicht folgen. Es verurteilte ihn am 22. Mai 1936 lediglich wegen „Teilnahme an einer Geheimverbindung“ zu zwei Monaten Haft, welche durch die Inhaftierung als verbüßt galt.

5.

Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

Im Gegensatz zur massiven Verfolgung der linkssozialistischen Jugendorganisationen und der Zwangsauflösung vieler Jugendbünde bestand - zumindest 1933 - für die konfessionellen Jugendgruppen zunächst noch eine gewisse Rechtssicherheit, obgleich es in einzelnen Städten auch in dieser Zeit schon zu Zusammenstößen mit übereifrigen HJ-Gruppen kam. Es zeichnete sich spätestens in 448 449

StAL PP-S 1386, Bl.5, Gestapo-Verhörprotokoll. Ebda. Bl.33; Gestapo Schlussbericht vom November 1935.

138

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

der zweiten Hälfte des Jahres 1933 ab, dass die Reichjugendführung, nach der Ausschaltung der linkssozialistischen und bündischen Jugendverbände, danach strebte, die konfessionellen Jugendverbände in die Staatsjugend einzugliedern. Da die konfessionellen Gruppen rein zahlenmäßig eine weitaus größere Relevanz als die Bündische Jugend hatten, musste die RJF „diplomatischer“ vorgehen. Die katholischen Verbände standen im Allgemeinen diesen Eingliederungsbestrebungen reserviert gegenüber und erhielten durch das am 20. Juli 1933 unterzeichnete Reichskonkordat zwischen Vatikan und NS-Regierung zunächst eine Rechtssicherheit für ihre Autonomie. Weite Teile des evangelischen Jugendspektrums begrüßten hingegen den nationalsozialistischen Staat und dessen Ideologie nicht erst seit seiner „Machtergreifung“. Das Interesse am „nationalen Aufbruch“ war in der evangelischlutherischen Landeskirche in Sachsen ebenfalls weit verbreitet.450 Die Diskussionen über die Eingliederung von evangelischer Jugend in die neue Staatsjugend wurden in der Folgezeit in erster Linie auf Reichsebene geführt. Die daraus entstandenen Konflikte zwischen Reichsjugendführung und den evangelischen Jugendverbänden ergaben sich Ende 1933 „zunächst nicht aus grundsätzlichen politischen, weltanschaulichen oder theologischen Gründen, sondern aus unterschiedlichen Auffassungen über den zukünftigen organisatorisch-institutionellen Charakter evangelischer Jugendarbeit.“451 Vor allem der „Reichsverband des Evangelischen Jugendwerkes“ unter Erich Stange und der „Jugendbund für entschiedenes Christentum“ unter Direktor Schürmann bekannten sich frühzeitig zum Nationalsozialismus. Hingegen hatten die eigentlichen evangelischen Jugendbünde, der „Bund Deutscher Bibelkreise“ unter Reichswart Udo Smidt, die Christliche Pfadfinderschaft und der „Bund Christdeutscher Jugend“ mit der Gründung einer Arbeitsgemeinschaft im Frühjahr 1933 versucht, ein Gegengewicht zum Kurs von Erich Stange zu bilden.452 Ergebnis dieser Zusammenarbeit war die monatliche Zeitschrift „Jungenwacht“, welche von Udo Smidt herausgegeben wurde und bis zu ihrem Verbot im April 1938 erschien. Unter Gegengewicht ist in diesem Fall eine Fokussierung auf kirchliche Themen zu verstehen, weniger ein politisches. Die Konfliktlinie innerhalb der evangelischen Kirche verlief in dieser Zeit „zwischen Christentum und völkischer Religion“.453 Dieses Thema wurde in der

450 451 452 453

Zur kirchenpolitischen Situation in Leipzig siehe: G. WILHELM: Die Diktaturen und die evangelische Kirche, Göttingen 2004. KLÖNNE: Jugend, S.163; Siehe auch MEIER: Kirchenkampf, Bd.1, besonders Kapitel: Die Eingliederung des Evangelischen Jugendwerkes in die Hitler-Jugend, S.146-153. Vgl. BRANDENBURG: Geschichte der HJ, S.139-142; Solcherart Differenzierung beschreibt SCHUBERT-WELLER hingegen nicht. Siehe Ders.: Hitlerjugend, S.131-147. „Auf neuem Pfad“, Heft 6 (Dezember)/1933, S.214; Eine gute Zusammenfassung bietet auch KÖSTERS: Christliche Kirchen und nationalsozialistische Diktatur. In: SÜß/SÜß (Hg.): Das „Dritte Reich“, S.121-142.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

139

zweiten Jahreshälfte verstärkt in der Führerzeitschrift der CP „Auf neuem Pfad“ diskutiert, wo man sich deutlich von der DC-Bewegung distanzierte.454 Hingegen begrüßte man die „nationale Erhebung“ ausdrücklich. Die erhoffte Reichskirche schien nahe, die kirchenfeindlichen „Bolschewisten“ und Sozialisten waren aus der Öffentlichkeit beseitigt. Mitte Dezember 1933 ebnete Reichsbischof Müller für die evangelischen Jugendbünde schließlich den Weg in die NS-Staatsjugend. Künftig sollten alle zehn- bis 18jährigen Mitglied der HJ werden. Ohne HJ-Mitgliedschaft war keine Betätigung mehr im Evangelischen Jungmännerwerk gestattet. Der Entwurf des Eingliederungsvertrags hatte kurz zuvor noch zu einigen Irritationen im neu eingerichteten Führerrat des Evangelischen Jugendwerkes geführt, da dieser den Vertrag stellenweise für undurchführbar hielt. Vor allem das - trotz des Bekenntnisses zum NS-Staat - angestrebte Eigenleben, Eigenrecht und die Gleichberechtigung des Evangelischen Jugendwerkes gegenüber der HJ war so nicht sichergestellt. Ihre Einwände fanden jedoch kein Gehör.455 Im Zusammenhang mit der Eingliederung sprach von Schirach vom „größten Weihnachtsgeschenk für den Führer“.456 Schließlich hatte die HJ mit den etwa eine Million Mitgliedern des evangelischen Jugendwerkes jetzt wirklich eine Massenbasis. Binnen zwei Monaten sollte die Eingliederung vollzogen sein. Doch es gab nach wie vor Kritiker dieser Entscheidung. Der „Bund deutscher Bibelkreise“ (BK) löste sich im Zuge dessen Anfang 1934 auf Reichsebene auf, ausdrücklich ohne von seinen Mitgliedern den Eintritt in die neue Staatsjugend zu fordern.457 Viele BK-Gruppen beendeten ihre Arbeit nur formell und trafen sich als Gemeindejugendgruppen weiter.458 Dies war aber nur in Kirchgemeinden möglich, wo Pfarrer und Gemeindevorstände diese „schwarze“ Weiterarbeit der evangelischen Jugendverbände unterstützen.459 In welchem Maße das in Sachsen bzw. in Leipzig praktiziert wurde, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht ermittelt werden. In der „Deutsche Christen“-Landeskirche Sachsen hing außerdem die weitere Jugendarbeit vor allem von dem jeweiligen persönlichen Verhältnis

454 455 456 457 458 459

„Der Feind steht bereits im Herzen der Kirche.“ Siehe „Auf neuem Pfad“ Heft 6 (Dezember)/1933, S.243. Vgl. MEIER: Kirchenkampf, Bd.1, S.150f.; Siehe auch Priepke: Die evangelische Jugend, S.66-96. Zitiert nach SCHUBERT-WELLER: Hitlerjugend, S.142. Vgl. BREYVOGEL: Jugendliche Widerstandformen. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen den NS, S.437f. Vgl. SCHUBERT-WELLER: Hitlerjugend, S.145. Siehe PRIEPKE: Die evangelische Jugend, S.85.

140

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

zwischen der Führung der einzelnen evangelischen Jugendverbände zu den übergeordneten kirchlichen Stellen ab.460 Inwieweit in Leipzig unter den evangelischen Jugendgruppen die reichsweiten Konflikte zwischen Deutschen Christen und sich ab 1934 formierender „Bekennender Kirche“ eine Rolle spielten, kann ihm Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden.461 Es ist bekannt, dass bereits Ende 1933 bei den evangelischen „Jünglingsvereinen“ und „Jungfrauenvereinen“ zahlreiche Mitglieder zur neuen Staatsjugend wechselten.462 Die zukünftige Beschränkung der evangelischen Jugendarbeit auf „Wortverkündigung“, also auf Glaubensfragen, trieb die Klärung des eigenen Standpunktes zum NS-Staat voran, was vor allem in den Gemeindejugendgruppen geschah.463 Im Folgenden sollen einige jugendbewegte konfessionelle Gruppen beschrieben werden, welche ihre Arbeit nach 1934 fortsetzten.

a.

Die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands

Durch den Eingliederungsvertrag vom Dezember 1933 war für die unter 18jährigen christlichen Pfadfinder das Ende gekommen. Doch lagen die Eingliederungsbestimmungen Anfang Januar 1934 noch nicht vor. Um über die neue Situation zu informieren, fand am 13. Januar im Christlichen Vereinshaus Leipzig in der Roßstraße464 eine der letzten Veranstaltung der Ortsgruppe Leipzig der Christlichen Pfadfinderschaft statt. Trotz der angekündigten Eingliederung in die Staatsjugend wollte die CP an diesem Tag, nach Erinnerungen des damaligen Leipziger Ortsringführers Rudolf Hirsch, noch Stärke demonstrieren und vor dem Treffen einen „Werbemarsch“ durch Leipzig durchführen. Die Gestapo verhaftete Hirsch kurz zuvor und verbot den Aufzug. Nach seiner Freilassung entschied Hirsch mit der übrigen Leipziger CP-Führerschaft, die mehreren Hundert angetretenen Christlichen Pfadfinder nicht geschlossen, sondern in einzelnen Gruppen zum Treffpunkt in der Roßstraße zu schicken.465 460

461

462 463 464 465

PRIEPKE: Die evangelische Jugend, S.87; Zur Situation der kirchlichen Jugendarbeit in Sachsen um 1933 siehe auch M. SCHMEITZNER: Im Schatten der FDJ, Göttingen 2004, S.15. Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsen 1933/34 siehe MEIER: Kirchenkampf, Bd.1, S.478-488; Außerdem: M. HABICHT: Evangelische Kirche und NS in Leipzig. In: SCHMID: Zwei Städte, S.198-203; In Leipzig sollen 20 Pfarrer aktiv im „Pfarrernotbund“ gewesen sein, etwa genauso viele bei den „Deutschen Christen“, weitere 80 Pfarrer sollen zur so genannten Mitte gehört haben, also zwischen den beiden Gruppen. Vgl. WILHELM: Die Diktaturen, S.89. Vgl. SCHUBERT-WELLER: Hitlerjugend, S.146. Die Räume gehörten zur Thomas-Kirchgemeinde. Zitiert nach P. KAHL: Pfadfinder im Zwiespalt, (Diss.) Iserlohn 2005, S.151f.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

141

Auf der Versammlung sprach der CP-Bundesführer Pfarrer Friedrich Duensing466 aus Hannover über die Jahresaufgaben der christlichen Jugend und wies darauf hin, dass „bis auf weiteres die Satzungen des Bundes deutscher Christlicher Pfadfinder noch Geltung hätte.“467 Dies zeigt die innerkirchlichen Konflikte, welche durch die Eingliederung in die HJ aufgekommen waren. Wenn zu diesem Zeitpunkt auch allen Funktionären der CP klar war, dass die Eingliederung in der Form nicht mehr rückgängig zu machen sei, so wollte man offensichtlich nichts überstürzen. Beim Einmarsch der Fahnen grüßten die Anwesenden mit „deutschem Gruß“, zum Ende der Veranstaltung erklangen einige Pfadfinderlieder und das „Vater Unser“.468 Genau diese Verbindung aus HitlerGruß, bündischen Liedern und Gebet steht symptomatisch für die damalige Vorstellung, CP und neuen Staat in Einklang zu bringen. Die Eingliederung aller Mitglieder des evangelischen Jugendwerk Deutschlands zwischen zehn und 18 Jahren erfolgte nach dem Beschluss des Reichsbischofs und der RJF zum 19. Februar 1934. Sie wurde in Leipzig ohne größere Probleme vollzogen. Es ist bekannt, dass bereits im Laufe des Jahres 1933 verschiedene Jugendliche aus CP-Gruppen Mitglied im Jungvolk und in der HJ wurden. Auch Eintritte von Älteren in die SA sind 1933 für Leipzig belegbar.469 Man kann somit festhalten, dass Mitglieder der CP dem NS-Staat nicht automatisch reservierter gegenüber standen.470 Nach Inkrafttreten der Eingliederungsbestimmungen wechselte der Großteil der CP-Mitglieder in Leipzig ins Jungvolk, zum Teil geschlossen als Gruppe, da bislang Jungvolkgruppen in der Menge nicht in allen Stadtteilen existierten. Nach Angaben von Fölck gingen ca. 80 Prozent der etwa 1.000 CP-Mitglieder in Leipzig zur HJ bzw. zum DJ. Er selbst führte die CP-Gruppe der St. Andreas-Gemeinde aus der Südvorstadt im März 1934 geschlossen ins Jungvolk und war bis Dezember 1936 beim Jungbann, Abteilung Presse, tätig.471 Reichsweit sollen 1934 etwa 70 Prozent der früheren Mitglieder des Evangelischen Jugendwerkes in die Staatsjugend eingetreten sein.472 Die Eingliederungsverordnung betraf nur die Jugendlichen unter 18 Jahren. Auch wurde die Christliche Pfadfinderschaft Anfang 1934 weder offiziell verboten noch für aufgelöst erklärt. Die über 18jährigen fanden sich reichsweit in den Folgejahren jenseits bündischer Symboliken und Riten zu einer reinen Glau-

466 467 468 469 470 471 472

Friedrich Duensing war außerdem Leiter der Bekenntnisgemeinschaft Hannover. Vgl. MEIER: Kirchenkampf, Bd.1, S.231. StAL PP-V 2240, unpag. Ebda. Bericht eines anwesenden Polizisten. Ebda. So für Rudolf E. (Jg. 1915) und Gerhard B. (Jg. 1916), beide CP-Mitglieder aus Connewitz. Vgl. BRANDENBURG: Geschichte der HJ, S.139-142. StaL PP-V 2240, Bl.71. Vgl. PRIEPKE: evangelische Jugend, S.93.

142

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

bensarbeit im Rahmen der „Bruderschaft der Älteren“ zusammen. So existierte der „Gau Nordsachsen“ der CP weiter, zu dem Leipzig gehörte, wenn er auch in der Öffentlichkeit nicht mehr in Erscheinung trat. In mehreren nordsächsischen Orten gab es 1935 noch kleinere Gruppen, in Leipzig hatte die CP nach 1934 zunächst noch etwa 100 Mitglieder. Anfang Juli 1935 wurde für Sachsen ein offizielles Uniform- und Sportverbot für konfessionelle Jugendverbände verkündet und am 23. Juli um ein völliges Betätigungsverbot außerhalb des kirchlichen, religiösen und karitativen Gebietes erweitert. Diese Bestimmungen schränkten die Arbeit der verbliebenen christlichen Pfadfinder weiter ein. „Fahrten, Tracht und allgemeines Pfadfinderleben kam in Wegfall und die Arbeit erstreckte sich grundsätzlich nur auf religiöse Betreuung […] der Mitglieder.“473 In der Folgezeit traf man sich zweimal im Monat im Evangelischen Vereinshaus in der Roßstraße zu Bibelstunden und religiösen Vorträgen.474 Außerdem hielt man jährlich noch einige „Freizeiten“ ab, die letzte 1937. Ab 1935 waren noch etwa 50 Personen beim CP in Leipzig organisiert. Trotz der verbreiteten Sympathien für den Nationalsozialismus wollte man nicht auf seine gestandenen Gruppenstrukturen verzichten. Wie der HJ-Streifendienst Mitte der 30er Jahre die Heimabende des evangelischen Jugenddienstes in Leipzig überwachte und die Anwesenden dort schikanierte, zeigt folgendes Beispiel: Rudolf Kötz (Jg. 1911) war 1935 Kanzleiangestellter im Pfarramt der Thomaskirche und Führer des evangelischen Jugenddienstes in der Lindenauer Nathanaelgemeinde. In dieser Gruppe kamen Jugendliche zwischen 13 und 20 Jahren zusammen. Mehrmals wurden die Heimabende im Herbst 1935 von einer HJ-Streife überwacht.475 Die Hitlerjungen setzten sich mit in den Raum und störten stellenweise durch Zwischenrufe die Treffen. Kötz erzählte den Jugendlichen von früheren Fahrten bei den Christlichen Pfadfindern, was die anwesende HJ-Streife sofort kritisierte. Auch soll Kötz Pläne für eine gemeinsame Fahrt geäußert haben und es wurde über das Verhältnis kirchliche Jugend und HJ gesprochen. Als die HJ-Streife bei zwei Anwesenden Jungenschaftsblusen mit den inzwischen verbotenen Riegeln entdeckten, entfernten die Hitlerjungen diese sofort.476 Kötz muss zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der Christlichen Pfadfinderschaft Gau Nordsachsen gewesen sein, da er deren Rundbrief bezog. Weil er gegenüber der HJ-Streife resolut aufgetreten war, landete die Angelegenheit bei der Gestapo. Klötz soll daraufhin verhaftet und mehrere Wochen in einer Arbeitsanstalt zwangseingewiesen worden sein.477 Ende November 473 474 475 476 477

StAL PP-V 2240, B.72, Gestapo-Verhör. Ebda. unpag. Solcherart Überwachung fand auch in anderen deutschen Städten statt. Vgl. PRIEPKE: evangelische Jugend, S.98. HStAD 1Js/SG 322/36. Vgl. KAHL: Pfadfinder, S.166.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

143

wurde er von der Gestapo verhört. Der ermittelnde Beamte kam zu dem Schluss, dass Kötz durchaus „eine gewisse feindliche Einstellung gegen die HJ besitzt“ und führte in seinem Bericht weiter aus: „Zweifellos dürften die bekannten Vorgänge, wie die Entwendung des Kreuzes im Lager des Evang. Jugenddienstes in Sehlis b. Taucha durch einen Angehörigen der HJ, die Störung von Heimabenden des Ev.Jugenddienstes durch HJ, Einschlagen von kirchlichen Aushängekästen durch HJ und anderes mehr dazu beigetragen haben, diese Einstellung hervorzurufen. Bedenklich ist hier, dass Kötz in den Heimabenden diese Einstellung offen auszusprechen und auf die Angehörigen der Jugend zu übertragen scheint. [...] Es darf bei dieser Gelegenheit auch darauf hingewiesen werden, dass das Auftreten der HJStreife bestimmt auch nicht korrekt war und auch bestimmt nicht dazu geeignet scheint, die Angehörigen des Evangelischen Jugenddienstes der HJ zuzuführen.“478

Dieser Bericht veranschaulicht, dass die HJ in dieser Zeit, durch stellenweise militantes Vorgehen, die Reste der evangelischen Jugendarbeit zu behindern und zerschlagen versuchte. Die Arbeit des evangelischen Jugenddienstes wurde auch noch 1935, als sich die HJ bereits konsolidiert hatte, als Konkurrenz angesehen. Hierbei wollte die HJ nicht durch Argumente und Freizeitangebote die evangelischen Jugendlichen zum Eintritt in die HJ bewegen, sondern durch Einschüchterung und Gewalt.479 Bemerkenswert ist in dem vorliegenden Gestapo-Bericht die Kritik am Auftreten der HJ insgesamt gegen kirchliche Einrichtungen in Leipzig und konkret des HJ-Streifendienstes durch den ermittelnden Beamten und dessen Verständnis dafür, dass solcherart Verhalten christliche Jugendliche abschrecken würde. Kritik am HJ-Streifendienst durch die Gestapo war zu dieser Zeit kein Einzelfall und kann auch für andere deutsche Städte nachgewiesen werden.480 So wichtig der Streifendienst für die Gestapo auch als Zuträger von Informationen war, so sehr schienen die übereifrigen HJMitglieder regelmäßig ihre Kompetenzen zu überschreiten und führten somit zu zusätzlicher Arbeit für die Gestapo. Die latente „Werbung“ des Kanzleiangestellten Kötz für das frühere Fahrtenleben der CP zeigt außerdem, dass innerhalb der verbliebenen evangelischen Jugendgruppen mittlerweile die anfängliche Begeisterung für die Staatsjugend abgekühlt war und man sich an frühere bewährte Gruppenstrukturen erinnerte. Überwachungen von Heimabenden des evangelischen Jugenddienstes in Leipzig waren in dieser Zeit nicht unüblich. In einem Bericht vom Dezember 1935 des HJ-Streifendienstes an die Gestapo ist ebenfalls von „Vorfällen“ die

478 479

480

HStAD 1Js/SG 322/36, Bl.5. Solches Vorgehen der HJ gegen konfessionelle Jugendgruppen ist zu dieser Zeit aus allen Teilen Deutschlands bekannt, so z.B. für Bayern; Siehe KLÖNNE: Jugendprotest. In: BROSZAT (Hg.): Bayern, Bd.IV, S.539ff. So z.B. für Köln vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.125.

144

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Rede, diesmal im Zusammenhang mit einem evangelischen Jugendheim im Leipziger Osten.481 In diese Zeit fiel auch folgende Begebenheit: Am 29. Dezember 1935 wollte sich der frühere CP-Stamm aus Leipzig-Connewitz „Die Wehrwölfe“ im Gemeindehaus der Paul-Gerhardt-Kirche erstmalig nach dessen Auflösung wieder treffen. Die Zusammenkunft wurde von Heinrich „Heiner“ Wilisch (Jg. 1910) organisiert, der die Gruppe bis August 1933 geführt hatte. Wilisch wurde 1933 Mitglied der SA und ging wenig später zur HJ. „Mein Austritt erfolgte im Juli 1934, weil ich mit dem Führer der HJ Meinungsverschiedenheiten hatte und ich außerdem der Evangelischen Jugend angehörte.“482 Wilisch bezog den oben erwähnten Rundbrief der CP Gau Nordsachsen und gehörte ihr darum offenbar noch an. Zwölf Einladungen wurden verschickt. Von dem geplanten Treffen erfuhr die HJ, welche die Angelegenheit an die Gestapo weiterleitete. Diese war am besagten Tag vor Ort und verhaftete die anwesenden fünf Personen, bevor das Treffen begonnen hatte. Eingeladen war auch der Gauführer Fritz Fölck, der zur kirchenpolitischen Lage sprechen sollte. In den folgenden Verhören ging es vor allem darum, ob sich über politische Themen ausgetauscht wurde bzw. werden sollte oder nur über theologische Fragen. Während der Ermittlungen erfuhr die Gestapo von dem Rundbrief. Der Grimmaer Theologiestudent und CP-Mitglied Erich Kölbel gab regelmäßig den „Brief evangelischer Mannschaft“ heraus, der an die Älteren (also die über 18jährigen) aus der sächsischen CP verschickt wurde. Ab November 1935 wurde aus dem Rundbrief der „Brief der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands Gau Nordsachsen“, der aller zwei Monate erschien. Als Adressaten ermittelte die Gestapo daraufhin 44 Personen, vorwiegend aus Leipzig und Umgebung, teilweise auch aus Dresden. Ein nicht geringer Teil der Empfänger befand sich 1936 bei der Wehrmacht. Inhaltlich ging es um rein religiöse Themen, z. B. Besprechungen über Bibelstellen aber auch über die Adventsfeier der CP Leipzig 1935. In der 8. Ausgabe März/ April 1936 berichtete Gauführer Fölck, dass seine Musterung „sehr gut ausgefallen“ sei: „Ich bin für tauglich I befunden.“ Unterschieben ist der Artikel mit „Heil Hitler!“ Hier zeigt sich exemplarisch, welchen hohen Stellenwert der Wehrdienst für das „Vaterland“ im Selbstverständnis vieler evangelischer Christen in Deutschland hatte und sich mit NSIdeologien deckte. Andererseits war man mit dem NS-System noch nicht (oder nicht mehr) soweit fusioniert, so dass man weiterhin seine gestandenen Kontakte, in diesem Falle die der CP, pflegte und mittels des Rundbriefes sogar ausbaute. Das Verfahren gegen Wilisch und fünf andere ehemalige „Wehrwölfe“ bezüglich ihres Treffens wurde am 25. Mai 1936 von der Leipziger Staatsanwalt481 482

StAL PP-V 3340, unpag., Schreiben der HJ an Gestapo vom 23.12.1935. Ebda. Gestapo-Verhör von Wilisch am 29.12.1935.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

145

schaft eingestellt, „da die Erörterungen keinerlei Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung der Beschuldigten ergeben haben.“483 In der Folgezeit beschäftigten sich Staatsanwaltschaft und Gestapo mit der Frage, wie die Herausgabe und Verbreitung des Rundbriefes einzuschätzen sei. Zunächst wurde das Weitererscheinen am 24. Juli 1936 vom Leipziger Polizeipräsidenten per Verfügung auf Grund der Verordnung des Sächsischen Staatsministers des Innern vom 18. Januar 1936 untersagt.484 Im September 1936 mussten Gestapo und Staatsanwaltschaft feststellen, dass ein Verbot der Christlichen Pfadfinderschaft bisher nicht erfolgt sei. Auch presserechtlich war der Veröffentlichung kein strafbarer Tatbestand nachzuweisen. Aus diesem Grunde wurde das Verfahren wegen Herausgabe der Rundbriefe Ende Oktober 1936 ebenfalls eingestellt.485 Erst Anfang Juni 1937 erließ die Gestapa Berlin ein Verbot der Christlichen Pfadfinderschaft. Als Begründung wurde aufgeführt, dass die CP „in letzter Zeit […] wieder mehr in Erscheinung getreten ist“. Da aber die frühere Betätigung der CP, das Wandern, nicht mehr gestattet ist, sei ein „Weiterbestehen dieser Vereinigung nicht mehr ersichtlich“.486 Daraufhin wurde am 17. Juni in Leipzig der Gau Nordsachsen verboten und aufgelöst. Bei der einen Tag später durchgeführten Wohnungsdurchsuchung bei Gauführer Flöck beschlagnahmte die Gestapo alle Materialien im Zusammenhang mit der CP.

b.

Der Bibelkreis christlicher Pfadfinder

Immer wieder wird anhand der Gestapo-Akten deutlich, dass die Beamten keinen konkreten Überblick über die vielfältige jugendbewegte Gruppenlandschaft in Leipzig um 1933 hatten. Ende Juni 1934 hielt der Leipziger „Bibelkreis christlicher Pfadfinder“ mit 100 Personen eine „Johannisfeier“ mit großem Lagerfeuer auf dem Gelände eines kirchlichen Heimes bei Brandis nahe Leipzig ab. Der Leipziger Polizei wurde dieser Sachverhalt im Nachhinein mitgeteilt, doch niemand von den Beamten kannte diese Gruppe. Erste Ermittlungen in den Leipziger Vereinsakten brachten kein Ergebnis. Erst Mitte September ermittelte man, dass der Bibelkreis christlicher Pfadfinder offenbar nichts mit der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands zu tun habe. Seit Mai 1934 war

483

484 485 486

StAL PP-V 2240, unpag. In dem Schreiben vom 25.5.1936 ist von Zuwiderhandlung gegen das Verbot der „Reichsschaft Deutscher Pfadfinder“ die Rede. Hierbei kann es sich nur um eine Verwechslung des Gruppennamen seitens der Staatsanwaltschaft handeln. Gemeint ist sicherlich die „Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands“. StAL PP-V 2240, Bl.44. Ebda. Bl.64. Ebda., Schreiben der Gestapa Berlin vom 2. Juni 1937.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Fritz Ritterstädt (Jg. 1906) aus Leipzig-Gohlis Vorsitzender von drei Leipziger Ortsgruppen, welche an drei Kirchen im Stadtgebiet angegliedert waren.487 Anhand der eingesehenen Akten konnte nicht ermittelt werden, wie lange der Bibelkreis christlicher Pfadfinder weiterexistierte. Es ist anzunehmen, dass sich diese Gruppe, aufgrund der neuen Gegebenheiten und des Eingliederungsvertrages, erst im Laufe des Jahres 1934 gegründet hatte und mit der Namenswahl „Bibelkreis“ ihren (erlaubten) Focus auf religiöse Themen in der Jugendarbeit manifestieren wollte. Die Fortführung - zumindest von Teilen - der früheren christlichen Pfadfinder- bzw. Jugendarbeit, ist augenscheinlich und somit auch der Versuch, im Sommer 1934 eine evangelische Jugendarbeit jenseits (oder zumindest parallel zu) der neuen Staatsjugend fortzuführen. Solcherart Zusammenkünfte bzw. „Jugendfreizeiten“ sind 1934/35 auch für andere Gebiete im damaligen Reich bekannt.488

c.

Christliche Pfadfinder im Verein für Kanusport Leipzig

Bei der Christlichen Pfadfinderschaft Gau Nordsachsen handelte es sich ab 1934, den ausgewerteten Akten nach, um eine rein religiös arbeitende Gruppe, die nach außen hin nicht mehr in Erscheinung trat. Es gab offenbar kein Interesse, mehr als das Erlaubte im Rahmen der noch legalen CP zu unternehmen. Auffallend ist bei den namentlich bekannten Personen der relativ hohe Anteil an Mitgliedern in einer NS-Formation und Wehrmachtsangehörigen. Doch nicht alle ehemaligen Leipziger CP-Mitglieder besaßen so eine Nähe zum NSStaat. Andere - stellenweise enttäuscht von der Staatsjugend - suchten sich neue Nischen und kamen, auf der Suche nach noch existierender (illegaler) bündischer Jugendkultur, verstärkt mit den Schriften und Liedern der dj 1.11 in Kontakt. Spätestens ab 1936 entwickelte sich beispielsweise die Jugendabteilung des „Vereins für Kanusport Leipzig e.V.“489 zu einem Sammelbecken von Jugendlichen, die mit der HJ unzufrieden waren. Leiter der etwa 20 Personen starken Jugendabteilung war seit 1935 der bereits oben erwähnte Heinrich Wilisch aus Leipzig-Connewitz, vor 1933 Stammführer der „Wehrwölfe“ der Christlichen Pfadfinderschaft. Weitere zwölf Mitglieder des Vereins hatten vor 1933 der CP angehört. 18 waren Mitglied der Staatsjugend, von denen zwölf um 1935/36 wieder ausgetreten waren. Die Hälfte der Gruppe um Wilisch wohnte im Leip-

487 488 489

StAL PP-V 3275. Siehe PRIEPKE: Die evangelische Jugend, S.103. Die Anlegestelle (und das Bootshaus) befand sich an der Pleiße in der Südvorstadt am „Dammweg“ nahe des früheren Germaniabades und der Rennbahn. (Siehe Adressbuch der Reichsmessestadt Leipzig Bd.2, Leipzig 1941; S.51, IV. Teil).

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

147

ziger Stadtteil Connewitz. Es ist anzunehmen, dass sie sich bereits vor 1933 bei der CP kennen gelernt hatten. Die Übrigen wohnten im Norden und Westen von Leipzig. Von den 20 namentlich bekannten Mitgliedern waren 14 Lehrlinge oder Jungarbeiter, einer Bankangestellter, der Rest Schüler. Die Gruppe unternahm regelmäßig Ausfahrten und veranstaltete beispielsweise im Sommer 1936 ein Zeltlager auf der Wiese des Vereinsgeländes im Leipziger Süden. Außerdem gab es im Bootshaus des Vereins mehrere Treffen. „Während unserer Zusammenkünfte wurden von fast allen Jugendlichen über die frühere Bündische Jugend debattiert. Es wurde über verschiedene Führer der HJ aus Leipzig gesprochen, die ich nicht mit Namen kenne. Unter anderem wurde gesagt, dass diese nicht den richtigen Kameradschaftsgeist besäßen und es nicht verstünden die Jugendlichen an sich zu fesseln, sondern immer Abstand zwischen sich und den Untergebenen hielten.“490 Neben solchen Gesprächen sang man bündische Lieder aus dem „Liederbuch der Eisbrechermannschaft“. Im Bootshaus wurden hierfür im Vereinsschrank zwei Exemplare aufbewahrt. Ein Mitglied brachte außerdem Schallplatten mit russischer Musik und Gesängen mit. Bereits Mitte März 1935 hatte die Gestapo eine Mitteilung aus nicht genannter Quelle erhalten, dass sich wöchentlich an einem Leipziger Fluss, vermutlich in einem Bootshaus nahe der Rennbahn, „ausgeschlossene Hitler-Jugend und Jung-Volk-Angehörige“ treffen würden. Hierbei solle es sich um „die dj 1.11 oder aber um eine ähnliche illegale Organisation“ handeln. Die eingeleiteten Ermittlungen führten zu keinem Ergebnis. Es ist durchaus möglich, dass es sich bei der gesuchten Gruppe um die oben beschriebene handelte. Im April 1937 ermittelte die Gestapo gegen Wilisch und seine Gruppe aus unbekannten Gründen wegen Fortführung der dj 1.11. Nahezu alle Mitglieder wurden verhört. Dass es sich bei der Gruppe viel eher um eine Weiterführung der Christlichen Pfadfinderschaft handeln könnte, wurde bei den Ermittlungen erstaunlicherweise völlig ausgeblendet. Auch die Ermittlungen gegen Wilisch, welche bereits Anfang 1936 dieselbe Gestapo-Abteilung (Abt. IV) durchgeführt hatte, wurden den eingesehenen Akten nach völlig ignoriert. Die Anschuldigungen gegen Wilisch landeten schließlich vor dem Sondergericht Freiberg, welches Anfang Juni 1937 das Verfahren einstellte.491 Die Gruppe ehemaliger christlicher Pfadfinder beim „Verein für Kanusport Leipzig e.V.“ zeigt deutlich, dass die anfängliche Attraktivität der HJ ab 1934 bei diesen Jugendlichen durch eigene Erlebnisse bald einer Ernüchterung gewichen war. Man wandte sich darum von der Staatsjugend wieder ab, suchte sich neue Freiräume und organisierte sich (in diesem Fall) in einem Sportverein. Darüber hinaus pflegte man (wieder) ein bündisch orientiertes Gruppenleben in 490 491

HStAD SG Freiberg 3J/SG 568/37, Gestapo-Verhör eines Vereinsmitglieds, Bl.15. Ebda. Bl.15.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Form von Gesprächen und Liedern. Die Beschäftigung mit russischer Musik wird aus der dj 1.11 herrühren und nicht aus der früheren Arbeiterjugendbewegung, da sich für letzteres keine personellen Verweise bei den Gruppenmitgliedern fanden. Interessant ist, dass sich die Gruppe nach ihrer Abkehr von der HJ nicht wieder der CP in Form von Liedern u.ä. annäherte. Die partielle Orientierung an die dj 1.11 zeigt deutlich deren Attraktivität und Mythos zu dieser Zeit, auch für Jugendliche, die vor 1933 nicht oder nur marginal mit ihr in Berührung gekommen waren.

d.

Jungenwacht - Spielschar Leipzig

Es gab mindestens seit 1933 in Leipzig eine Jungenschaft im Bund Deutscher Bibelkreise bzw. eine „Jungenwacht-Spielschar“, welche noch im Herbst 1936 mit Fahrrädern eine „Spielfahrt“ in mehrere sächsische Dorfkirchen unternahm. Das dort aufgeführte Laienspiel wurde erstmalig von Jüngeren in der Gruppe gestaltet, während die Jahre zuvor eine Reihe von älteren Jugendlichen dafür verantwortlich war. Dies lässt vermuten, dass die Gruppe nach 1934 weiteren Zulauf hatte. Auch in Leipzig selbst trat die „Spielschar“ mehrmals auf. Die Jahre zuvor soll es ebenfalls solche Fahrten gegeben haben. Angebunden war diese Gruppe an die reichsweit vertriebene Zeitschrift „Jungenwacht - Ein Blatt evangelischer Jugend“. Diese erschien erstmalig im Herbst 1933 als Zusammenschluss verschiedener evangelischer Jugendzeitschriften. Herausgeber war Pastor Udo Smidt aus Wesermünde-Lehe, Leiter des „Bundes Deutscher Bibelkreise“. Als Träger fungierten der Bund Deutscher Bibelkreise, der Bund Christdeutscher Jugend sowie die CP. Bis zum Verbot im April 1938 wurden diese gedruckten Hefte im A5-Format reichsweit verschickt. Ihre Auflage erreichte bis zu 15.000 Stück. Das Heft war eines der wichtigsten Mittel des Zusammenhalts evangelischer Jungen in diesen Jahren, welches „in geschickter Form die gegenchristlichen Ideologien des NS“ bekämpfte.492 Vereinzelt setzte man sich auch mit, von Seiten der HJ oder der SA, geübter Kritik an der Zeitschrift „Jungenwacht“ auseinander.493 Bis 1935 wurden Fahrtenberichte von Gruppen abgedruckt. Inhaltlich hatte das Heft in erster Linie religiöse oder heimatkundliche Themen. Ebenfalls viel Platz nahmen Kriegsberichte und Soldatentum ein. Diese Inhalte waren schon vor 1933 für christliche Jugendbünde von Bedeutung und zeigen den Versuch, dies unter den Bedingungen des NS-Regimes fortzuführen. Es wurden außerdem Jugendbücher besprochen, welche sowohl aus dem bündischen GüntherWolff-Verlag, als auch aus dem mittlerweile der HJ zugewandten Voggenreiter492 493

KLÖNNE: Jugend, S.164. So z.B. in Jungenwacht, Nr.1/1937, S.32.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

149

Verlag stammten. NSV und Winterhilfswerk hatte regelmäßig Werbeanzeigen in den Heften.494 Das Heft Nr. 6 von 1937 betreute redaktionell ausschließlich die Leipziger Gruppe der Spielschar und hatte die Stadt Leipzig mit dem Wirken von Johann Sebastian Bach und Martin Luther als Schwerpunkt. Ihre redaktionelle Mitarbeit zeigt, dass die Gruppe in die reichsweiten Zusammenhänge eingebunden war. Innerhalb der verbliebenen Möglichkeiten versuchte man, evangelische Jugendarbeit jenseits der Staatsjugend zu praktizieren. In der besagten Zeitschriftenausgabe fällt auch die Bezeichnung „Jungenwacht-Gemeinde“. Offensichtlich verstand sich die Gruppe nicht nur als eine Spielschar, sondern als Gemeinschaft. In den Texten, welche den aktuellen „Kampf ums Evangelium“ behandelten, wurde erwähnt, dass es heute nur noch „eine kleine Zahl ist […], die sich gerufen weiß […]. Aber wenn in diesen Tagen eine neue Welle des Fragens nach dem rechten Glauben durch unsere Stadt geht und Leben weckt, wo bisher alles tot schien, dann wissen wir uns hineingestellt in diesen Kampf, der geführt wird um u n s e r Leipzig.“495 Man verstand sich als Außenseiter und scheint sich mit den verbalen Angriffen des NS-Regimes auf die Kirchen sowie mit den Konflikten zwischen den „Deutschen Christen“ und der „Bekennenden Kirche“ in Leipzig auseinandergesetzt zu haben. Eine klare Positionierung der Gruppe kann aufgrund der wenigen Quellen allerdings nicht getroffen werden. Anhand der eingesehenen Texte der Jungenwacht-Ausgabe wird ersichtlich, dass sie sich nicht zu den „Deutschen Christen“ zugehörig fühle. Dazu überwiegen die rein religiösen Themen unter weitestgehender Ausblendung des NSStaates und der Hitlerjugend.496 Die Leipziger berichteten außerdem von einem Informations-Rundbrief, welchen sie 1934 erstmalig an einige ihrer Mitglieder beim Reichsarbeitsdienst (RAD) versandten und nach einer längeren Pause im Frühjahr 1936 wieder an insgesamt 30 Personen verschickten.497 Obgleich es sich in erster Linie um religiöse Inhalte handelte, zeigt dies, dass man daran arbeitete, den Kontakt untereinander zu vertiefen. Leider konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, wie lange diese Leipziger Gruppe existierte. Aktenkundig sind sie bei der Gestapo nicht geworden.

494 495 496

497

Vgl. Jungenwacht, Monatszeitschrift, Wesermünde-Lehe Jahrgänge 1934-37. Jungenwacht, Nr.6/1937, S.124. Der Herausgeber der „Jungenwacht“ U. Smidt muss hierbei zur BK gezählt werden, da er im Mai 1935 Mitglied der Reichsjugendkammer der BK wurde. Vgl. PRIEPKE: evangelische Jugend, S.112. Jungenwacht, Nr.6/1937, S.143.

150

e.

II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Katholische Jugendgruppen

Zu Pfingsten 1933 vereinigten sich reichsweit die bündisch orientierte Quickborn-Jungenschaft mit der „Jungenschaft der Normannsteiner“ und „Kreuzfahrer“ zur „Deutschmeister-Jungenschaft“ (DMJ). Die Leipziger Mitglieder aus der Quickborn-Jungenschaft wechselten ebenfalls zur DeutschmeisterJungenschaft. Der letzte Leipziger Gruppenführer der DMJ war Günther Heidelauf (Jg. 1916) aus dem Leipziger Norden. Von den vier namentlich bekannten Mitgliedern weisen drei interessante Übereinstimmungen auf: Sie waren Oberschüler und lasen nach 1933 Schriften aus dem Günther-Wolff-Verlag. Die in der Forschungsliteratur immer wieder betonte Resistenz des katholischen Milieus gegenüber dem Nationalsozialismus498 kann, zumindest für drei von den vier namentlich bekannten Personen, nur bedingt bestätigt werden: Sie traten Ende 1933/ Anfang 1934 ins Jungvolk bzw. später sogar in die HJ ein.499 Das Interesse an der dj 1.11 bzw. an bündischen Schriften blieb in der Folgezeit jedoch erhalten. Bereits im Frühsommer 1933 versuchte die HJ-Führung reichsweit die katholischen Jugend- und Laiengruppen zu zerschlagen. Hierfür hatte es bereits Verbote öffentlicher Veranstaltungen gegeben. Am 1. Juli 1933 wurden in ganz Deutschland die Geschäftsräume verschiedener katholischer Jugendverbände besetzt und Eigentum beschlagnahmt. In Leipzig waren von der Aktion u.a. die Geschäftsstellen des Windhorst-Bundes und des Katholischen Jungmännerverbandes betroffen. Bei den Durchsuchungen wurden Schriftenmaterial und Mitgliederlisten beschlagnahmt, sowie die Heime geschlossen.500 Offensichtlich hoffte die HJ-Führung, analog der gewaltsamen Übernahme des Reichsausschusses deutscher Jugendverbände vom Frühjahr 1933, die katholischen Jugendverbände vor vollendete Tatsachen stellen zu können. Doch von Schirachs Aktionismus ging selbst der NS-Führung zu weit, denn sie torpedierten die Verhandlungen mit dem Vatikan.501 Durch den Abschluss des Reichskonkordats am 20. Juli 1933 zwischen NS-Führung und katholischer Kirche wurden diese Maßnahmen zunächst gestoppt und die Autonomie der katholischen Jugendverbände (vorerst) gesichert. Zu Ostern 1934 gab es eine Fahrt von etwa 50 sächsischen Mitgliedern der Deutschmeister-Jungenschaft. Auf dieser Fahrt wurde beschlossen, die DMJ in die Katholische Sturmschar einzugliedern, welche dem katholischen Jungmännerverband angehörte.502 498 499 500 501 502

Z.B. H. HÜRTEN: Widerstehen aus Katholischem Glauben. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.) Widerstand, Bonn 2004, S.130-147. Vgl. StAL PP-S 1400. Vgl. NLZ 5.7.1933, S.4, zitiert nach: LEHMSTEDT (Hg.): Leipzig wird braun, S.151. Vgl. SCHUBERT-WELLER: Hitlerjugend, S.150. Vgl. StaL PP-S 4040 Bl.15, Gestapo-Verhör von H. Kupsch am 15.1.1935.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

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Aufgrund fehlender weiterer Quellen zu ehemaligen Quickborn-Mitgliedern in Leipzig sowie Jugendlichen, die in anderen katholischen Verbänden aktiv waren, lassen sich keine verallgemeinernden Aussagen treffen. Auffällig ist, dass die Quickborn-Jungenschaft sich augenscheinlich dem katholischen Milieu weniger verbunden fühlte, suchten mehrere Mitglieder nach 1933 entweder Kontakt zu ehemaligen dj 1.11ern in Leipzig oder traten alsbald in die neue Staatsjugend ein. In den relativ kleinen katholischen Gemeinden Sachsens reichte in dieser Zeit bereits der Übertritt von einigen wenigen aktiven Jugendlichen in die HJ, um die Weiterführung einer gesamten Jugendgruppe zu gefährden.503 Es konnte nicht ermittelt werden, ob Jugendgruppen der katholischen Gemeinden in Leipzig länger zusammenblieben und dem NS weniger anfällig waren, analog dem übrigen Reichsgebiet. Eine Anfrage aus Berlin bei der Leipziger Gestapo vom Dezember 1936 brachte zutage, dass in Leipzig weder zur „St. Georg Pfadfinderschaft“ noch zur katholischen „Sturmschar“ Beobachtungen gemacht wurden. Es seien keine Stammesführer für Leipzig bekannt. Ein endgültiges reichsweites Verbot des Katholischen Jungmännerverbandes, dem Bund Neudeutschland und dem Quickborn erfolgte erst 1939.504

f.

Der Jüdische Pfadfinderbund - Makkabi Hazair

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten brachte von Anfang an grundlegende Veränderungen für das Leben aller Juden in Deutschland, wenn dessen Konsequenzen zunächst vielfach noch nicht ersichtlich waren.505 Der unverhohlene Antisemitismus brach sich ab 1933 in immer größeren Ausmaßen Bahn, war er nun seitens der Staatsführung politisch gewollt und verschlechterte in der Folgezeit somit immer weiter die Lebensumstände der jüdischen Mitbürger. Anfang April 1933 schloss die NS-Reichsjugendführung, nach der „Übernahme“ des Reichausschusses deutscher Jugendverbände, sofort die linkssozialistischen und die jüdischen Jugendverbände aus. Während erstere in der Folgezeit durch Verbote in die Illegalität getrieben und durch die Polizei massiv verfolgt wurden, ging man gegen die jüdischen Jugendvereine 1933 noch nicht juristisch vor. Anhand des „Jüdischen Pfadfinderbund Deutschlands - Makkabi Hazair“ (JPD) soll im Folgenden skizziert werden, wie ein jüdischer Jugendverband in Leipzig unter dem NS-Regime versuchte, ihr kulturelles und soziales

503 504 505

Vgl. B. MITZSCHERLICH: Das Bistum Meißen in der NS-Zeit. In: VOLLNHALS (Hg.): Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002, S.146. Siehe auch B. SCHELLENBERGER: Katholischer Jugendwiderstand. In: SCHMÄDEKE/STEINBACH (Hg.): Der Widerstand gegen den NS, S.322. Vgl. PLOWINSKI: Die jüdische Bevölkerung, S.72ff.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Leben fortzuführen und trotz zunehmender Schikanen bemüht war, sich in dem ihren noch zugestandenen Freiraum zu behaupten.506 Die Leipziger Ortsgruppe richtete nach 1933, wie viele andere jüdische Organisationen aufgrund des immer unerträglicheren Antisemitismus in Deutschland, ihr Bestreben verstärkt auf eine Auswanderung der Mitglieder aus, vor allem nach Palästina.507 „Die Bemühungen der verschiedenen jüdischen Verbände und Gemeinden, die Auswanderung aus Deutschland zu ermöglichen, ist […] eine nicht hoch genug einzuschätzende Tat, denn wie die Geschichte zeigen sollte, war die rechtzeitige Emigration aus Deutschland in sicheres Ausland eine der wenigen und die aussichtsreichste Möglichkeit, die Zeit des Faschismus als jüdisch verfolgter Bürger zu überleben.“508 Neben dem JPD gab es in Leipzig noch andere Jugendgruppen, welche zionistisch bzw. religiös ausgerichtet waren, mit den „klassischen“ Jugendbünden jedoch kaum vergleichbar sind. Im Einzelnen waren das 1934 der Hechaluz, der Misrachi und der Brith Habonim mit jeweils etwa 200 Mitgliedern, sowie der Jugendbund „Franz Rosenzweig“.509 Für 1936 wird für Leipzig außerdem noch der „assimilatorisch eingestellte“ Jugendbund „Der Ring“ erwähnt, welcher „die körperliche Schulung, die kameradschaftliche Erziehung und die Pflege geistiger Werte zum wichtigsten Bestandteil seiner Erziehungsaufgabe“510 gemacht hatte. Neun jüdische Jugendorganisationen mit etwa 900 Mitgliedern schlossen sich 1934 in Leipzig zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen.511 Das jüdische Jugendhaus beherbergte 1934 außerdem das Handwerkerheim des Hechaluz, in dem junge Männer und Frauen untergebracht waren, welche sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereiteten.512 Da es zu diesem Zeitpunkt für einen Jugendlichen jüdischer Herkunft bereits äußerst schwierig war, eine Lehrstelle in einem Betrieb oder Arbeit auf einem Bauernhof in Deutschland zu bekommen, gingen einige der „Palästinaanwärter“ in die Tschechoslowakei und nach Dänemark.513 1936 hatte die Reichsvertretung der Juden in Deutschland außerdem 506 507

508

509 510 511 512 513

Zu den einzelnen jüdischen Jugendgruppen nach 1933 in Deutschland siehe SALINGER: Nächstes Jahr, besonders S.43-162. Ab 1935 arbeiteten quasi alle jüdischen sozialen Vereine in Leipzig für die Auswanderung ihrer Mitglieder, aufgrund der staatlichen Beschränkungen für ihre Tätigkeiten Siehe A. BACH: Die jüdischen sozialen Vereine Leipzigs. In: E. CARLEBACH STIFTUNG (Hg.): Geschichte, S.132 HÖPPNER: Juden im Widerstand. In: E. CARLEBACH STIFTUNG (Hg.): Geschichte, S.155; Zur Problematik der Auswanderung von jüdischen Jugendlichen aus Deutschland siehe auch SCHILDE: Jugendopposition, Berlin 2007, S.76ff. StAL PP-V 4548, Bl.17. Ebda. Bl.37, Gestapo-Bericht von 1936. Vgl. F. NICOSIA: Zionismus in Leipzig. In: E. CARLEBACH STIFTUNG (Hg.): Geschichte, S.171; Siehe auch StAL PP-V 4548, Bl.37, Gestapo-Bericht von 1936. Zur Arbeit des Hechaluz ab 1933 siehe SALINGER: Nächstes Jahr, S.71-87. StAL PP-V 4522, unpag., Gestapo-Bericht vom 5.5.1934.

5. Konfessionelle Jugendbünde in Leipzig nach 1933

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südlich von Berlin ein Jagdschloss und Land gepachtet, wo sich vorwiegend Mitglieder des Makkabi Hazair auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten und in der Landwirtschaft arbeiteten.514 Obgleich die jüdischen Jugendgruppen mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten gesellschaftlich isoliert wurden, verbot man ihre Organisationen nicht sofort. Die jüdischen Gruppen waren dennoch in der Praxis umfangreichen Beschränkungen und Schikanen unterworfen, welche mit den Jahren seitens der deutschen Behörden zunehmend verstärkt wurden. Den jüdischen Jugendverbänden wurde Ende November 1934 „auf Grund der Reichspräsidentenverordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 und der Verordnung des Sächsischen Staatsministers des Innern vom 23. November 1934“ das öffentliche Tragen einer einheitlichen Kluft bzw. einzelnen Kleidungsstücken, Abzeichen, das Zeigen von Fahnen, sowie das Abhalten von „gelände- und wehrsportlichen Übungen“ sowie Aufmärsche jeder Art untersagt. Zumindest auf dem Papier fielen unter dieses Verbot nicht sportliche Betätigungen, sowie „zwanglose Spaziergänge, Ausflüge, Wanderungen in kleinerem Rahmen, […] sofern ihnen jeder demonstrative Charakter fehlt.“515 Am 6. Dezember 1934 fand ein Bundesabend der JPD im Leipziger Central Theater in der Gottschedstraße statt, wo - trotz der ergangenen Verordnungen zum Eintritt in den jüdischen Pfadfinderbund geworben wurde. Von den anwesenden 2.200 Personen waren etwa 1.000 Kinder und Jugendliche. Viele hatten ihre Kluft an. Da es ihnen verboten war, diese in der Öffentlichkeit zu tragen, kamen die Jugendlichen „in Zivil“ zur Veranstaltung, zogen erst in den Räumen des Central Theaters ihre Verbandskleidung an und mussten sich danach noch im Gebäude wieder umziehen.516 1935 hatte der JPD-Makkabi Hazair in Leipzig unter Leitung von Max Weiser (Jg. 1912) 350 Mitglieder, aufgeteilt in 21 Mädchen- und Jungengruppen.517 Eines der Schwerpunkte dieser Zeit war für den JPD die Vorbereitung auf ein Leben in einem Kibbuz in Palästina. Pro Woche fanden zwei Heimabende statt. Größere Feiern und Versammlungen wurden Mitte der 30er Jahre in Leipzig in der Turnhalle der israelitischen Schule durchgeführt, stets unter Aufsicht der Polizei.518 Das aufgezwungene Prozedere wirkte - nicht nur mit dem heutigen Wissen der darauf folgenden Ereignisse - geradezu tragisch: Die Mitglieder kamen einzeln dorthin, waren für einige Stunden in der Turnhalle Pfadfinder in Kluft, sangen ihre Lieder und zeigten ihre Fahnen, um anschließend wieder „in

514 515 516 517 518

Siehe FIEDLER: Hachschara, Teetz 2004, S.25f. StAL PP-V 4548, Bl.19. Ebda. Bl.23, Bericht eines anwesenden Polizisten. Ebda. Bl.7; 1934 waren es noch 330 Mitglieder. Die polizeiliche Überwachung jüdischer Veranstaltungen fand im ganzen Reich statt. Siehe SALINGER: Nächstes Jahr, S.63.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Zivil“ nach Hause zu gehen. Im Durchschnitt nahmen an solchen Veranstaltungen jeweils etwa 200 bis 250 Personen teil. Mitte Mai 1937 wurden die Leiter der damals noch existierenden acht jüdischen Jugendbünde zur Gestapo bestellt und ihnen eröffnet, dass die Heimabende der Gruppen bis auf weiteres verboten sind. Über Gründe und Dauer des Verbotes ist nichts weiter bekannt. Es gehörte zu Schikane der NS-Organe, immer wieder Veranstaltungen jüdischer Vereine in Leipzig, welche ab 1934 vier Tage im Voraus angemeldet werden mussten, willkürlich zu verbieten. Die deutschen Behörden versuchten außerdem durch verschiedenste Anordnungen, die Arbeit weiter zu erschweren bzw. die jüdischen Mitglieder zur Ausreise aus Deutschland zu drängen. Im April 1938 wurde durch die Gestapo verlangt, dass Ausländer keine Funktionen mehr innerhalb jüdischer Organisationen ausüben dürften und durch Juden mit deutschem Pass ausgetauscht werden müssten.519 Dies traf den JPD in Leipzig im besonderen Maße, da sich viele Jugendliche mit polnischem Pass in leitenden Positionen befanden. Über die Umsetzung der Anordnung musste bei der Gestapo wenige Wochen später Bericht erstattet und die Namenslisten vorgelegt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Jüdische Pfadfinderbund in Leipzig noch 228 Mitglieder.520 Von den Pogromen in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 war in Leipzig auch das Grundstück Ludendorffstraße 7 betroffen, auf dem sich inzwischen das jüdische Jugendheim sowie das jüdische Handwerkerheim befanden. Sämtliche Fenster waren zertrümmert und das Haus auch im Inneren verwüstet worden. Am 10. November nahm die Gestapo im Gebäude für den SDUnterabschnitt das Schriftmaterial des Jüdischen Pfadfinderbundes und anderer Gruppen mit. Zur gleichen Zeit befanden sich Amtsleiter der Kreisleitung des NSV auf dem Grundstück, welche Kleidungsstücke, Möbel u.a. ungehindert unter den Augen der Polizei „beschlagnahmten“ und abtransportierten.521 Nicht zuletzt aufgrund dieser Ereignisse wurde Ende Januar 1939 der Verein Jüdisches Jugendhaus durch seinen letzten Vorsitzenden aufgelöst. Auch der Jüdische Pfadfinderbund bestand bereits im Januar 1939 nur noch formell, da inzwischen zahlreiche Mitglieder und Funktionäre ausgewandert waren. Alle Willkürmaßnahmen und Beschränkungen ertrugen die jüdischen Pfadfinder - den eingesehenen Akten nach - peinlich darauf bedacht, nicht gegen die schikanösen Gesetze des NS-Regimes zu verstoßen. Gesellschaftlich völlig isoliert, gab es für sie als Jugendliche in den späten 30er Jahren nur die Perspektive zu emigrieren, um dem Antisemitismus in Deutschland zu entkommen. 519

520 521

Für die übrigen jüdischen Vereine in Leipzig ist dies bereits seit Februar 1938 bekannt. Vgl.: BACH: Die jüdischen sozialen Vereine. In: E. CARLEBACH STIFTUNG (Hg.): Geschichte, S.137. StAL PP-V 4549; Zum Vergleich: Deutschlandweit hatte der Maccabi Hazair 1937 etwa 6.000 Mitglieder, von denen sich 1.300 in der Vorbereitung auf Palästina befanden. StAL PP-V 4481, unpag., Gestapo-Schreiben vom 15.11.1938.

6. Zusammenfassung des Zeitraumes 1933 bis 1936

155

Dennoch begegneten sie in dieser Zeit allen Verboten und polizeilichen Auflagen bei den zuständigen Beamten mit höflichen Widersprüchen und versuchten, ihr Verbandsleben bis zuletzt aufrecht zu erhalten. Die jugendlichen Leipziger jüdischer Herkunft, welche es nicht mehr geschafft hatten Deutschland zu verlassen, fanden sich Anfang der 40er Jahre als Jugendclique in den „Judenhäusern“ zusammen, in die die verbliebenen Juden ab Kriegsbeginn zwangsumgesiedelt wurden. Immer sonntags kam man zusammen und hörte heimlich Schallplatten auf einem Grammophon, da der Besitz für Juden zu diesem Zeitpunkt bereits verboten war.522 Ab Januar 1942 begannen in Leipzig die Deportationen in die KZs.

6.

Zusammenfassung des Zeitraumes 1933 bis 1936

Das Jahr 1933 zerstörte in mehreren Etappen grundlegend die bis dahin vielfältige jugendbewegte Gruppenlandschaft in ganz Deutschland. Die ab März 1933 einsetzende massive Verfolgung der linkssozialistischen Parteien und Jugendorganisationen brachten die Arbeit von KJVD und SAJ nahezu zum Erliegen. Im Gegensatz zur SAJ hatte der KJVD in Leipzig bereits 1932 begonnen, eine illegale Struktur aufzubauen und war ab Februar 1933 untergetaucht. Dennoch gelang es dem KJVD im Laufe des Jahres nicht, diese Strukturen effektiv vor der massiven Verfolgung zu schützen. Erst Anfang 1934 nahm man die illegale Arbeit wieder koordinierter auf, wobei man zeitweise - gemessen an den Möglichkeiten in der Illegalität - beachtliche Ergebnisse erzielte. Der Organisationsaufbau war weiterhin hierarchisch gegliedert und unterschied sich nicht von anderen Städten.523 Im Vergleich zur legalen Zeit konnte der KJVD nur noch einen Teil der früheren Mitglieder organisieren. Trotz der sich völlig geänderten politischen Situation in Deutschland gab es kein Umdenken und es wurde konsequent die Politik der Vorjahre weitergeführt. Aufgrund der massiven Verhaftungen des Jahres 1933 kann für Leipzig ab Anfang 1934 nicht von einer (personellen) Fortführung des KJVD gesprochen werden, sondern von einer Reorganisierung.524 Hier unterschied sich Leipzig beispielsweise von Hamburg, wo der KJVD seine Struktur zunächst ohne größere Verluste in die Illegalität überführte.525 Im Sommer 1934 konnte die Gestapo in Leipzig nahezu den gesamten Apparat ausheben und verhaften. Alle weiteren Reorganisierungsversuche, welche

522 523 524 525

Vgl. R. KRALOVITZ: ZehnNullNeunzig in Buchenwald, Köln, 1996, S.13. Vgl. F. BAJOHR: In doppelter Isolation. In: Breyvogel (Hg.): Piraten, S.23. Bei der Mutterpartei war dies reichsweit in der Regel der Fall. Vgl. MALLMANN: Kommunistischer Widerstand. In: STEINBACH/TUCHEL (Hg.): Widerstand gegen den NS, S.119. Vgl. HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S.36f.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

bis zum Frühjahr 1935 immer wieder unternommen wurden, reichten sowohl qualitativ als auch quantitativ nicht annähernd an die erste Jahreshälfte von 1934 heran. Hier befand sich Leipzig im reichsweiten Durchschnitt, wo ebenfalls im Jahre 1935, teilweise erst 1936, der KJVD von der Gestapo zerschlagen worden war.526 Konnte der KJVD in der Illegalität seine Mitglieder geschlossen auf dem vorgegebenen politischen Kurs halten, hatte die Leipziger SAJ damit größere Probleme. Durch das strikte Festhalten am Legalitätskurs der SPD gab es in Leipzig keinen einheitlichen Plan, wie illegale Arbeit gestaltet werden könnte. Die Leipziger SAJ zerfiel im Frühjahr 1933 zwar ähnlich wie der KJVD, schaffte es in der Folgezeit jedoch nicht, eine neue illegale Struktur zu schaffen, um die Arbeit fortzuführen. Ein Grund war, dass auch die Leipziger SPD in mehrere Flügel zerfiel. Eine Anzahl aktionistischer SAJ-Mitglieder suchten im Laufe des Jahres 1933 darum Anschluss an den KJVD, andere arbeiteten in neuen illegalen sozialdemokratischen Zirkeln mit. Die illegalen Gruppen, in denen Angehörige der SAJ aktiv waren, wurden ebenfalls im Laufe des Jahres 1934 und 1935 von der Gestapo aufgerollt. Hier unterschied sich die SAJ in Leipzig deutlich von der in Hamburg, wo nach der im Mai 1933 offiziell verkündeten Selbstauflösung vor allem ältere Mitglieder in verschiedenen Hamburger Stadtteilen kleinere informelle Zirkel bildeten, engen Kontakt zur illegalen SPD hielten und sogar die Beitragskassierungen fortsetzten. Obgleich diese Gruppen in erster Linie der Aufrechterhaltung alter Gesinnungsgemeinschaften dienten, wurden gelegentlich öffentlichkeitswirksame Aktionen durchgeführt, wie z.B. das Verteilen von Streuzetteln, was für Leipzig von Seiten der SAJ nicht belegbar ist. Erst Anfang 1935 wurden in Hamburg die illegalen Strukturen der SAJ wie auch der SPD zerschlagen.527 Vorausschickend kann gesagt werden, dass es für viele Mitglieder und Anhänger des KJVD und der SAJ neben den illegalen Aktivitäten in den Folgejahren weiterhin untereinander soziale Kontakte und Netzwerke gab. Man suchte sich Nischen in Form von Sport- und Musikvereinen, um sich von NSEinflüssen abzuschotten. Aus der Haft Entlassene fanden ebenfalls nicht selten wieder Zugang zu diesen Freundes- und Bekanntenkreisen. Da sich ehemalige KJVD- und SAJ-Mitglieder nun als gesellschaftliche Außenseiter im NS-Staat wieder fanden, verschwanden zunehmend die ideologischen Grenzen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten. In informellen Gesprächen wurden auch die politischen und organisatorischen Fehler der vergangenen Jahre besprochen.

526

527

In Berlin konnte sich der illegale KJVD, bestehend aus alten und neuen Gruppen, bis Ende 1935 halten. Etwa 370 Mitgliedern sollen ihm angehört haben. Siehe: SCHILDE: Jugendopposition, S.17. Vgl. BAJOHR: In doppelter Isolation. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.19ff.

6. Zusammenfassung des Zeitraumes 1933 bis 1936

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Es entstand dadurch Ende der 30er Jahre eine neue Basis für illegale linkssozialistische Zusammenhänge. Aufgrund der vielen Leipziger, welche führende Stellungen auf Reichs- und Landesebene in den verschiedensten bündischen Gruppen innehatten, kann Leipzig in der Weimarer Republik als eines der Zentren der Jugendbünde in Deutschland angesehen werden. Für die Zeit nach 1933 sind darüber hinaus keine Aktivitäten bekannt, welche sich von Gruppen in anderen deutschen Städten in größerem Umfang unterschieden.528 Nichtkonfessionelle wie auch evangelische Jugendbünde begrüßten prinzipiell die „nationale Erhebung“ im Januar 1933. Vielfach glaubte man, an einem „Neuaufbau“ aktiv mitwirken zu können. Grundvoraussetzung war für diese Bünde die Beibehaltung ihrer Eigenständigkeit. Für die bündischen Gruppen bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 1933, für die evangelischen erst Ende 1933, wurde jedoch zunehmend klar, dass es der neuen Reichsjugendführung nur um bedingungslose Unterwerfung unter die NS-Ideologie ging. Für einen Großteil der Mitglieder muss dabei festgehalten werden, dass sie sich dennoch den neuen Gegebenheiten schnell anpassten und der Staatsjugend anschlossen. Man kann zwei Richtungen von bündischer Fortführung nach 1933 unterscheiden: Einerseits bündische Einzelpersonen und Gruppen, die nicht in die Staatsjugend eintraten, ihre Kluft weiterhin offen trugen und versuchten, ihr früheres Gruppenleben in Form von Heimabenden, kulturellen Aktivitäten und Fahrten zu pflegen. Hier sind vor allem Jugendliche aus dem Umfeld der Jungentrucht bzw. der dj 1.11 zu nennen. Andererseits gab es Bündische, die in die Staatsjugend gingen, jedoch mit ihren bündischen Interessen nicht völlig brachen und innerhalb des Jungvolks versuchten, ihr früheres Leben zumindest teilweise fortzuführen. Letztere suchten zu einem gewissen Grade den Kompromiss mit der „neuen Zeit“. Gemeinsam ist Jugendlichen aus beiden Lagern, dass sie bündische Schriften aus dem Günther-Wolff-Verlag lasen und Interesse an der dj 1.11 sowie an ihrem charismatischen Begründer Eberhard Köbel und dessen Publikationen hatten. Besonders für die Zeit von 1934 bis 1936 sind Staatsjugendmitglieder bekannt, welche zu illegalen bündischen Gruppen wechselten, weil sie mit der HJ aus verschiedenen Gründen unzufrieden waren. Die Versuche einiger bündischer Gruppen und Einzelpersonen in Leipzig auch nach 1933 ein bündisches Leben unter den gegebenen Umständen aufrechtzuerhalten, erreichten dabei nicht politische Ausmaße wie in Berlin, wo beispielsweise die „Schwarze Schar“ als Zusammenschluss mehrerer bündischer Gruppen aktiv war und stellenweise mit illegalen linkssozialistischen Jugendgruppen zusammenarbeiteten.529

528 529

Vgl. V. HELLFELD: Bündischer Mythos. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.74-101; Siehe auch HOCHMUTH/MEYER: Streiflichter, S. 69f. Vgl. SCHILDE: Jugendopposition, S.126f.

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II. Phase I: „Machtergreifung“, Verbot und Verfolgung

Nach 1936 wurden die Aktivitäten illegaler bündischer Gruppen und Einzelpersonen in Leipzig zunehmend geringer. Grund war nicht nur die Verfolgung durch die Gestapo, sondern auch, weil innerhalb der illegalen Gruppen die älteren Anführer aus beruflichen Gründen stellenweise die Stadt verließen. Die Bündischen der Weimarer Zeit wurden „erwachsen“. Durch Verfolgung und Verbote blieb zunehmend der Nachwuchs für bündische Gruppen nach dem früheren Verständnis aus. Obgleich HJ und Gestapo Ende 1936 kaum noch Bündische in der „klassischen Kluft“ im Stadtbild entdeckten, bemerkten sie, dass sich weiterhin einheitlich gekleidete Jugendgruppen trafen. Die dargestellten kirchlichen Gruppen zeigen, dass die evangelische Jugend mit dem Eingliederungsvertrag zum Jahreswechsel 1933/34 nicht vollständig in die neue Staatsjugend aufging. Ähnlich vieler bündischer Gruppen und Einzelpersonen bestand weiterhin der Wunsch nach einer gewissen Autonomie. Zunächst begrüßten 1933 viele die „nationale Erhebung“, was zahlreiche Mitgliedschaften in NS-Gliederungen belegen. Andere hingegen wandten sich bald wieder enttäuscht ab. Insgesamt scheint sich nur eine Minderheit evangelischer Jugendlicher Mitte der 30er (wieder) bewusst außerhalb der Staatsjugend bewegt zu haben, wie die Gruppe im „Verein für Kanusport Leipzig e.V.“ beweist. Gerade hier wird deutlich, wie stark die Bündische Jugend Mitte der 30er Jahre noch als Alternative angesehen wurde und wie schnell sich Jugendliche von der HJ abwandten (und abwenden konnten), wenn sie mit den dortigen Gegebenheiten unzufrieden waren. Staatsjugend und evangelische Jugendarbeit ließen sich aufgrund des Totalitätsanspruches der HJ schwer miteinander verbinden. In der Folgezeit gelang es unter der Leitung einzelner engagierte Pfarrer und Gemeindemitarbeiter wenigstens innerhalb der Kirche einige Gemeindejugendgruppen wie die „Jungenwacht-Spielschar“ fortzuführen, jedoch ohne bündische Bezüge auf rein kirchliche Themen beschränkt.530 Generell konnte festgestellt werden, dass die HJ und vor allem das Jungvolk in Leipzig ab der zweiten Hälfte des Jahres 1933 und nochmals ab März 1934 einen starken Mitgliederzuwachs zu verzeichnen hatten, bedingt durch die Zwangsauflösungen bündischer und konfessioneller Gruppen. Es kann davon ausgegangen werden, dass speziell das Jungvolk überhaupt erst in dieser Zeit in Leipzig zahlenmäßig eine Relevanz erlangte. Viele Mitglieder von konfessionellen und nichtkonfessionellen Jugendbünden bauten somit das Jungvolk in Leipzig auf. Durch stellenweise geschlossene Übertritte gelang es, das frühere Gruppenleben teilweise fortzuführen. Die vorgegebenen Altersgrenzen von zehn bis 14 Jahren beim Jungvolk wurden in den ersten Jahren kaum eingehalten. Es sind außerdem für 1935 zahlreiche Austritte aus DJ und HJ belegbar. Offenbar konnte die Staatsjugend die Erwartungen vieler Jugendlicher nicht 530

Siehe hierzu auch SCHMEITZNER: Im Schatten, S.17-23.

6. Zusammenfassung des Zeitraumes 1933 bis 1936

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erfüllen. Erst mit der ab 1936 eingeführten „freiwilligen“ jahrgangsweisen Eingliederung von Schülern in das Jungvolk stiegen die Mitgliederzahlen in den Folgejahren weiter an. Dennoch herrschte zu jedem Zeitpunkt in den 30er Jahren in Leipzig Mangel an geeigneten Führern und Räumlichkeiten. Die Gestapo in Leipzig ermittelte in genanntem Zeitraum umfangreich gegen alle nonkonformen Jugendlichen und ging jedem kleinen Hinweis nach. Bei den anschließend geführten Prozessen fällt auf, dass ausschließlich Mitglieder des KJVD zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Es sind für den Zeitraum 1933 bis 1937 nur im Zusammenhang mit den Jungkommunisten Verurteilungen wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ mit Zuchthausstrafen bekannt. Auch wurden gegen keine andere Gruppe im oben genannten Zeitraum so viele Urteile ausgesprochen. Es ist augenscheinlich, dass das NS-Regime in dieser Zeit die Jungkommunisten als die „gefährlichsten“ jugendlichen Gegner ansah.

III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939

1.

Entstehung und Spezifik der Leipziger Meuten

Die linkssozialistischen Jugendgruppen waren im Frühjahr 1933 verboten worden. Nur ein Teil der organisierten Leipziger Jungkommunisten beteiligte sich an der illegalen Fortführung. Die Beteiligung von SAJ-Mitgliedern an illegalen Aktivitäten war prozentual noch geringer. Dies bedeutete aber nicht, dass alle übrigen früheren Mitglieder und Sympathisanten ihre politische Einstellung geändert hatten. Obgleich das auf einen Teil zutreffen kann, hielten nicht wenige unter den Bedingungen des NS-Regimes in Form von Gesinnungsgemeinschaften und sozialen Zusammenhängen weiter Kontakt – Eltern wie Kinder. Beim KJVD und der SAJ waren es vor allem Jugendliche der Geburtsjahrgänge bis 1915, die sich nach 1933 illegal betätigten. Sie waren seit mehreren Jahren in der linkssozialistischen Arbeiterbewegung verwurzelt und kannten sich untereinander, vor allem aus den Wohngebieten. Die Mitglieder der Roten Falken bzw. der Roten Jungpioniere der Jahrgänge um 1920 waren hingegen 1933 zu jung für konspirative Arbeit. Sie wurden bei der illegalen Reorganisierung nicht hinzugezogen. Auch bei den illegalen Jugendbünden waren vor allem Personen der Jahrgänge um 1915 federführend. Dies hatte ebenfalls damit zu tun, dass sie seit mehreren Jahren in den Jugendbünden verankert waren. Während die Staatsjugend ab 1936 zum Großteil die jeweils Zehnjährigen ins Jungvolk eingliederte und deren Freizeitgestaltung zunehmend dominierte, blieben viele Arbeiterjugendliche aus den Geburtsjahrgängen um 1920 gegen die Werbungen der Hitlerjugend relativ immun.1 Dies hatte mehrere Gründe: Die meisten Jugendlichen dieser Jahrgänge aus proletarischem Elternhaus konnten sich keine weiterführenden Schulen leisten. Noch im Frühjahr 1936 gab es in Sachsen reichsweit die meisten Arbeitslosen, was sich im Laufe des Jahres spürbar änderte. Interessanterweise kann für die Mitglieder der Leipziger Meuten festgehalten werden, dass sie 1936/37 zumeist Lehrlinge, Arbeiter oder Hilfsarbeiter waren. Von den etwa 400 namentlich bekannten Meutenmitgliedern sind nur 15 Jugendliche bekannt, die um 1937 lediglich Tätigkeiten als Hilfsarbeiter bzw. Laufburschen ausübten. Neben klassischen Handwerksberufen wie Bäcker, Klempner und aus dem traditionell starken graphischen Gewerbe in Leip-

1

Siehe Kapitel HJ in Leipzig, Mitgliederzahlen Berufsschulen.

1. Entstehung und Spezifik der Leipziger Meuten

161

zig sind vor allem Lehrlinge und Facharbeiter aus der metallverarbeitenden Industrie aktenkundig. Die materielle Basis der später bekannt gewordenen Arbeiterjugendlichen – wie auch ihrer Familien – war zwar bescheiden, aber keinesfalls prekär. Der Beginn der Lehrausbildung stellte zu dieser Zeit einen „lebensgeschichtlichen Bruch“ dar, „der in der Sozialisation von Arbeiterjugendlichen […] eine Schlüsselrolle spielte“.2 Als Lehrling der Erwachsenenwelt schon viel näher als gleichaltrige Oberschüler, entkam man gleichzeitig besser der bisherigen Kontrolle durch die Staatsjugend an der Schule. Obgleich die Jugendlichen in größeren Betrieben auch von der HJ umworben bzw. zum Eintritt gedrängt wurden, waren die zeitlichen Belastungen am Arbeitsplatz sowie die weit verbreitete Mitgliedschaft in einem Sportverein ein guter Grund, sich bei der Staatsjugend zu entschuldigen. In kleinen Handwerksbetrieben war es Mitte der 30er Jahre den Meistern oftmals egal, ob ihre Lehrlinge bei der HJ waren oder nicht.3 Es ist sogar für Leipzig ein Fall aus dem Jahr 1934 bekannt, wo ein Lehrmeister die Nichtmitgliedschaft im Jungvolk zur Bedingung für eine Lehrstelle machte, wobei sicherlich berufliche Gründe angegeben wurden.4 Auch wenn prozentual gesehen vor 1933 nur eine Minderheit der Geburtsjahrgänge um 1920 einer linkssozialistischen Organisation angehörte, prägte diese Zeit die früheren Mitglieder der Roten Jungpioniere, der Roten Falken oder der Arbeitersportvereine in Leipzig bis weit in die NS-Zeit hinein. Aufgrund dieser mentalen Verwurzelung sowie auch persönlichen und familiären Negativerfahrungen mit Vertretern des NS-Regimes (z. B. Misshandlungen oder Inhaftierungen von Familienangehörigen oder Bekannten) in einem Lebensabschnitt, in dem sich die sozial-moralischen Grundüberzeugungen herausbilden, blieb bei vielen eine reservierte bis ablehnende Haltung zum NS-Staat und demzufolge auch zur HJ.5 Hier unterscheiden sich die Leipziger Meuten von den westdeutschen Edelweißpiraten, welche nur in Ausnahmefällen vor 1933 in kommunistischen Jugendorganisationen gewesen waren und zum sozialdemokratischen Milieu überhaupt keine Berührungspunkte gehabt haben sollen.6 Einzig die Kölner „Navajos“ aus der zweiten Hälfte der 30er Jahre hatten Bezüge zum kommunistischen Milieu, aufgrund ihrer „alltagskulturellen Umgangsweisen“ vor 1933 in ihren Wohngebieten.7 Die Besonderheit Leipzigs als einer Hochburg der Arbeiterbewegung wird hier deutlich, vor allem in den Nachwirkungen nach der Zerschlagung der organisierten Strukturen. 2 3 4 5 6 7

PEUKERT: Edelweißpiraten. In: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte, S.309. Vgl. Interview des Verfassers mit H. Geisenhainer am 6.8.2002 in Leipzig. HStAD 1 Js/SG 1089/37, Bl.2. Siehe auch SCHOTT/STEINACKER: Wilde Gesellen, S.10. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.182. Vgl. ebda. S.106f.

162 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Mitte der 30er Jahre als Lehrlinge suchten sich diese Jugendlichen nun eigene Freizeitmöglichkeiten jenseits der NS-Staatsjugend. Geradezu zwangsläufig traf man sich mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten, welche man seit der Schulzeit kannte, welche in derselben Straße wohnten oder Nicht-HJ-Mitglieder waren, die man auf der Lehrstelle kennen gelernt hatte.8 Nicht selten bekamen diese Freundeskreise Kontakt zu älteren Jugendlichen, welche vor 1933 in einer Jugendgruppe aktiv gewesen waren und auch jetzt noch ihre Einstellung vertraten. Dies imponierte den Jüngeren und zeigte einen Weg, sich jenseits des NSStaates eine eigene Freizeit- und Jugendkultur aufzubauen. Obgleich diese später als Meuten bekannt gewordenen Cliquen erst 1938/39 ihren „Höhepunkt“ erreichten, begann ihre Entstehungsgeschichte bald nach 1933 unabhängig voneinander in verschiedenen Leipziger Stadtteilen. Basis hierfür waren sowohl die sozialen Kontakte des Wohnumfeldes als auch frühere gemeinsame Mitgliedschaften in einer Kinder- bzw. Jugendgruppe vor 1933. Neben früheren Mitgliedern aus linkssozialistischen Jugendverbänden und vereinzelten ehemaligen Mitgliedern bündischer bzw. konfessioneller Jugendgruppen bekamen die Leipziger Meuten auch aus den Reihen der Staatsjugend Zulauf. Von den etwa 400 namentlich bekannten Meutenmitgliedern zwischen 1937 und 1939 waren wenigstens 63 zumindest zeitweise in einer der HJGliederungen Mitglied gewesen. Im Allgemeinen handelte es sich dabei um Jugendliche, welche zum Teil schon seit 1932, zumeist aber seit 1934 freiwillig in die HJ und vor allem ins Jungvolk eingetreten waren. Bei späteren Befragungen durch die Gestapo nach den Gründen des Austritts wurden oftmals Interesselosigkeit, fehlende Zeit aufgrund der Lehre oder Arbeit und Streitereien mit den Vorgesetzten angegeben. Die Staatsjugend war Mitte der 30er Jahre zahlenmäßig zwar stetig im Wachsen begriffen, verlor gleichzeitig aber immer wieder Mitglieder, vor allem Jugendliche, die die Volksschule verlassen hatten und eine Lehre begannen. Es war der HJ um 1936 nicht gelungen, ihren „Dienst“ so zu gestalten, dass er selbst für langjährige Mitglieder attraktiv war. Darüber hinaus schien sich das Niveau sogar verschlechtert zu haben, die partielle Unzufriedenheit wuchs. Mitglieder zogen daraus die Konsequenzen und quittierten ihren Dienst bei der HJ. Hierbei müssen nicht nur politische Vorbehalte gegen den Nationalsozialismus die Hauptgründe gewesen sein, sondern auch rein emotionale Unzufriedenheit, beispielsweise, weil ein neues Mitglied einem langjährigen bei einem Führerposten vorgezogen wurde. Auf der Suche nach einer neuen Freizeitgestaltung stieß man so zwangsläufig um 1937 auf Jugendcliquen im eigenen Stadtviertel, die aufgrund ihrer Autonomie und ihrer offen zur Schau gestellten Ablehnung der Staatsjugend in Form eines eigenen Dresscodes eine große Anziehungskraft hatten. Hinzu kam, 8

Dies wies Peukert auch für die Edelweißpiraten in Westdeutschland nach. Siehe: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte, S.310.

1. Entstehung und Spezifik der Leipziger Meuten

163

dass sich in diesen zwanglosen Cliquen nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen trafen, was die Attraktivität solcher Gruppen für pubertierende Jugendliche naturgegeben verstärkte. Gemeinsame Fahrten aufs Land ermöglichten außerdem ein ungezwungenes Zusammensein außerhalb der Kontrolle durch Erwachsene.9 Diese Gruppen wurden vor allem von der HJ als „Bündische Jugend“ bezeichnet, da die bündischen Gruppen nach 1933 – im Gegensatz zu den linkssozialistischen Organisationen – nicht schlagartig von der Bildfläche verschwanden, sondern einzelne frühere Mitglieder auch 1934 und 1935 noch in ihrer bündischen Kluft im Straßenbild präsent waren. Darüber hinaus war der HJ bekannt, dass es seit 1933 in ihren eigenen Reihen, vor allem im Jungvolk, eine Anzahl früherer Bündischer gab, die weiterhin ihre Anschauungen vertraten und an andere Jugendliche weitergaben. Die „Bündische Jugend“ wurde so für die verschiedensten NS-Institutionen zum Dauermythos der Bedrohung der Staatsjugend. Der Begriff „Meute“ ist eine Bezeichnung der Gestapo für diese Jugendgruppen in Leipzig, die sich selbst zumeist „Bündische Jugend“ nannten. Seit dem Frühsommer 1938 fand der „Meuten“-Begriff Eingang in die Akten der NS-Organe. Er wurde offenbar auch gewählt, weil er seinerzeit negativ besetzt war, im Gegensatz zu heute, wo er einen relativ wertungsfreien Eingang in die Umgangssprache gefunden hat. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel zur Bündischen Jugend ausgeführt, hatten sich sowohl die Gestapo als auch der HJ-Streifendienst in den Jahren 1935 und 1936 vor allem mit Jugendcliquen beschäftigt, die sie als Fortführung früherer bündischer Gruppen ansahen. Im Laufe des Jahres 1937 stellten sie nun in verschiedenen Stadtteilen auf Straßen und Plätzen neue Jugendliche und Gruppen fest, deren Anzahl sich weiter erhöhte. Die relativ zentral gelegene Kleinmesse entwickelte sich dabei zu einem wichtigen Treffpunkt.10 Vor allem einzelne Jugendliche fanden hier Anschluss an Gruppen, da man sich durch gemeinsame Bekannte kennen lernte oder aufgrund der einheitlichen Kleidung ins Gespräch kam. In einem Bericht vom Mai 1938 formuliert die Leipziger Gestapo die Situation folgendermaßen: „Seit langer Zeit musste die Beobachtung gemacht werden, dass unter der Leipziger Jugend in bemerkenswerter Weise Unruhe herrscht. Die Meldungen von Vorkommnissen verschiedenster Art (Zusammenrottungen, Schlägereien mit der HJ und Ähnliches) häuften sich in zunehmendem Maße.“ Darüber hinaus kamen von der Hitlerjugend und aus den Schulen Hinweise, dass das Gerücht von einer bestehenden „gegnerischen Ju9 10

Vgl. PEUKERT: Edelweißpiraten. In: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte, S.311. Die Kleinmesse ist ein großer, damals dreimal jährlich stattfindender, Rummelplatz.

164 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 gendbewegung“ im Umlauf sei. Die Gestapo stellte nach ersten Ermittlungen fest, dass in verschiedenen Stadtteilen sich Jugendliche in einheitlicher Kleidung zusammenfanden. „Die Gleichtracht besteht im Sommer aus Bundschuhen, weißen Kniestrümpfen, äußerst kurzen Lederhosen, buntkarierten Schihemden, Koppel, und im Winter aus Bundschuhen, weißen Kniestrümpfen, besonders langen Knickerbocker- bzw. Louis-TrenkerHosen und grauen Slalom-Jacken. Daneben findet sich noch eine Übersteigerung dieser Tracht der Art, dass ohne weiteres der Eindruck erweckt wird, man habe es mit Russen zu tun. Auch Mädchen kleiden sich in entsprechender Weise, indem sie zu der übrigen Ausrüstung einen dunklen Rock tragen.“11

Die Gestapo führte weiter aus, dass diese Gruppen hauptsächlich in den Stadtgebieten aktiv seien, die aus der „Systemzeit als besonders von marxistischen und kommunistischen Elementen bevorzugt bekannt sind.“12 Gemeint sind Kleinzschocher im Südwesten, Lindenau sowie der Leipziger Osten, in denen zum Großteil Arbeiterfamilien wohnten. Die Gestapo schlussfolgerte daraus, „dass der Widerstandswille der ihr Angehörenden besonders stark ausgeprägt ist, was allein durch das Vorhandensein so vieler ehemaliger Jungmarxisten und Jungkommunisten erklärlich wird.“ Die einzelnen Gruppen unterschied die Gestapo folgendermaßen: „So pflegen die einen im wesentlichen bündisches Gedankengut, die anderen gehen auf erotische und sexuelle Erlebnisse aus und erweisen sich damit als moralisch außerordentlich heruntergewirtschaftet, während wieder andere ausgesprochen marxistische und kommunistische Tendenzen verfolgen.“ Gemeinsam sei allen Gruppen eine „bewusste oppositionelle Einstellung gegenüber der Staatsjugend und dem Staat.“13 Die Gestapo machte in dem Bericht auch Angaben zu den Ausmaßen der Bewegung: „Die Gesamtzahl der Meutenangehörigen in Leipzig betrug nach vorsichtiger Schätzung zuletzt etwa 1.500.“14 Das wichtigste und auffälligste äußerliche Merkmal der Meuten war die oben beschriebene „Gleichtracht“. Diese unterschied die Jugendlichen nicht nur

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14

Leipziger Gestapo-Bericht vom Mai 1938, BArch NJ 9156, Bl.19. Für die Kölner Edelweißpiraten ermittelte Kenkmann, dass die Treffpunkte traditionelle Orte nicht organisierter, sondern informeller Jugendgruppen aus dem Arbeitermilieu waren. Vgl. DERS.: Wilde Jugend, S.85. BArch NJ 9156, Bl.20; Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang, dass die Gestapo nur gegen Jugendgruppen ermittelte, welche „bündische“ bzw. „marxistische“ Tendenzen vorzuweisen hatten. Gruppen, die laut Gestapo vorrangig „erotische und sexuelle Erlebnisse“ zum Ziel hätten, sind nicht aktenkundig geworden. Ob es überhaupt solche „moralisch außerordentlich heruntergewirtschaftete“ Gruppen gegeben hat, konnte anhand der eingesehenen Akten nicht nachgewiesen werden. BArch R 3001/1177, Bl.355.

1. Entstehung und Spezifik der Leipziger Meuten

165

sichtbar von der Staatsjugend, sondern auch von der Erwachsenenwelt und anderen „jugendlichen Teilkulturen“, wie den „Tango-Scheichs“ oder „SwingKids“. Die Kleidung wurde so zu einem kulturellen Bestandteil der Gruppenzugehörigkeit und -identität.15 Sie stellte – wie verschiedene westliche Jugendsubkulturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch – ein offen zur Schau gestelltes Bekenntnis der eigenen Meinung und der Gruppe dar, zu der man sich zugehörig fühlte. Die dafür verwendete Bezeichnung „Bündische Jugend“ entsprang nur in wenigen Fällen personellen Kontinuitäten aus der Zeit vor 1933. Der Begriff „Bündische Jugend“ wurde von den Jugendlichen um das Jahr 1937 de facto neu definiert. Die früheren Ansprüche und Ziele der Jugendbünde der 20er Jahre traten jetzt völlig in den Hintergrund, da viele Arbeiterjugendliche der Jahrgänge um 1920 schon allein aus Altersgründen die Bündische Jugend in ihrer legalen Zeit kaum wahrgenommen hatten. Nach wie vor fand die Gruppenbildung aufgrund einer Sympathieauslese statt. Der elitäre Gedanke der früheren Jugendbünde bei der Auswahl der Mitglieder, die Idee von der Unterordnung unter einen Führer sowie einem reinen Jungenbund verschwanden hingegen in den meisten Fällen. Bei späteren Hausdurchsuchungen bei Meutenmitgliedern wurden außerdem so gut wie keine früheren bündischen Schriften gefunden. Wie später selbst Vertreter der NS-Justiz zugeben mussten, war den Jugendlichen das Wesen der BJ vor 1933 weitgehend unbekannt. Charakteristisch für diese Jugendgruppen waren in erster Linie die gemeinsamen Treffs, Fahrten und eine einheitliche Kleidung als äußeres Zeichen der Zusammengehörigkeit. Der Kern einer Gruppe wohnte in der unmittelbaren Umgebung des jeweiligen Treffpunktes. Dieser befand sich im öffentlichen Raum, also auf einer bestimmten Straße oder Grünanlage.16 Besonders für Meuten, die sich in als Arbeiterviertel bekannten Gegenden trafen, stellten diese ihre milieubedingte „Heimat“ dar. Zu den Gruppen kamen einzelne Jugendliche aus anderen Stadtteilen, die mit den Meuten in Kontakt gekommen waren. Auf Fahrten in die nähere Umgebung Leipzigs traf man teilweise auf Gruppen aus anderen Stadtvierteln. Beliebtes Ausflugsziel waren die Lübschützer Teiche östlich von Leipzig, welche bereits vor 1933 von Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu regelmäßig frequentiert wurden. In den Meuten herrschte eine grundlegend ablehnende Haltung gegenüber der Staatsjugend. Während dem linkssozialistischen Arbeitermilieu bereits vor 1933 eine antifaschistische Grundhaltung immanent war, führte für andere Jugendliche die erlebte Unattraktivität des HJ-Dienstes zur Ablehnung. Der Druck, den HJ und andere NS-Institutionen auf die Jugendlichen deswegen

15 16

Siehe auch KENKMANN: Wilde Jugend, S.96f. Dies ist auch für die Edelweißpiraten bekannt. Vgl. ebda. S.82.

166 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 ausübten, verstärkte in den meisten Fällen die emotionale Zugehörigkeit zur „BJ“. Im Folgenden sollen die einzelnen bekannten Leipziger Meuten dargestellt werden. Aufgrund der Fülle an Personennamen werden vom Verfasser aus Übersichtsgründen nur beispielgebende bzw. herausragende Jugendliche benannt und näher beschrieben. Bei der Darstellung der Meuten ist hinsichtlich der Quellenlage Folgendes zu beachten: Es sind Prozesse gegen vier Meuten als Gruppe überliefert. Von anderen Meuten gibt es hingegen nur lückenhafte Quellen. Der Umfang der folgenden Darstellung sagt darum nur bedingt etwas über die tatsächlichen Aktivitäten der jeweiligen Meute aus. Hier muss man sich vorrangig an den Mitgliederzahlen und den Zeiträumen orientieren, in denen die Meuten existierten. Das Gruppenleben selbst wird sich auch bei den nur dem Namen nach bekannten Gruppen ähnlich abgespielt haben wie bei den bekannten. Es ist heute schwierig bis unmöglich, anhand der überlieferten Quellen alle bekannten Meuten zuverlässig als bündische bzw. linkssozialistische zu unterscheiden, wie es seinerzeit die Gestapo versucht hatte. Wenngleich einzelne Meuten durchaus eine eindeutige linkssozialistische Ausrichtung besaßen, so gab es auch in diesen Gruppen Jugendliche, welche vor 1933 keinen Kontakt zur Arbeiterbewegung hatten. Auch ist es möglich, dass in anderen Meuten verschiedene Jugendliche ihre linkssozialistische Gesinnung vor der Gestapo verbergen konnten. Aus diesem Grund sollen die Entwicklungen in den einzelnen Stadtteilen im Fokus der Darstellung stehen, da oftmals die unmittelbare Wohngegend für die Zusammensetzung der Gruppen sowie ihre politische Ausrichtung von Bedeutung war.

2.

Meuten im Leipziger Osten

Der Leipziger Osten war vor allem geprägt durch das „graphische Viertel“, in dem sich zahlreiche Druckereien und Buchbindereien befanden. Die östlichen Stadtteile verfügten über eine hohe Einwohnerdichte und zahlreiche Arbeiterfamilien. Vor 1933 waren hier viele in Gliederungen der linkssozialistischen Arbeitergruppen organisiert.

a.

Die Meute „Horst-Wessel-Platz“

Anfang 1935 sammelte sich um Otto Wildfeuer (Jg. 1916) und Karl-Heinz Schmude (Jg. 1919) aus dem Leipziger Osten sowie Rudolf Seifert (Jg. 1916) aus Eutritzsch ein Kreis von Jugendlichen. Treffpunkt war der Horst-Wessel-Platz an der Lukaskirche in Volkmarsdorf im Osten Leipzigs zwischen den beiden

2. Meuten im Leipziger Osten

167

Hauptverkehrsstraßen Eisenbahn- und Wurzner Straße. Die namentlich bekannten Mitglieder wohnten in der unmittelbaren Umgebung des Treffs, einer davon direkt in der Eisenbahnstraße. Sie waren Lehrlinge oder Arbeiter und entstammten den Geburtsjahrgängen 1918 bis 1922. Auffällig ist die heterogene Zusammensetzung der Meute bezüglich der früheren Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation. Vor 1933 war Karl-Heinz Schmude bei den „Postpfadfindern“17 und anschließend bis 1934 bei der evangelischen Jugend. Ein anderer gehörte nach Gestapo-Angaben früher der „Roßbachjugend“18 an, ein Dritter war bis 1931 bei den Kinderfreunden und anschließend bis 1933 bei der „Homöopathischen Jugend“.19 Ein weiterer Jugendlicher gehörte vor 1933 den Roten Jungpionieren an und wurde anschließend Mitglied im Athletenklub „Eichenkranz“.20 Keiner der Jugendlichen war nach 1933 Mitglied beim Jungvolk oder der HJ. Das sich entwickelnde Fahrtenleben blieb Außenstehenden nicht verborgen. Im August 1935 informierte ein Lagerist die Polizei, dass das Gruppenmitglied Willy Theil fast jeden Sonntag mit etwa zehn bis fünfzehn Jungen und Mädchen auf Fahrt gehen würde.21 Diese Jugendlichen fanden nach 1933 zusammen, weil sie aufgrund der Nähe der Wohnungen und mutmaßlicher sozialer Kontakte (z. B. gemeinsamer Schulbesuche vor 1933) jenseits der HJ ihre Freizeit zusammen verbringen wollten. Vor 1933 war dies offenbar nicht der Fall gewesen, wie die verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten beweisen. Die Ablehnung gegen die Staatsjugend bildete sich frühzeitig heraus. Rudolf Seifert aus der Gruppe hatte Verbindung zu ehemaligen Pfadfindern, die einen Anschlag auf ein Jungvolk-Heim in Nemnt bei Wurzen östlich von Leipzig planten, welches vor 1933 den Naturfreunden gehört haben soll. Seifert, Wildfeuer und zwei weitere Gruppenmitglieder trafen sich am 27. April 1935 mit drei weiteren Jugendlichen am Bahnhof in Brandis und zerstörten in der darauf folgenden Nacht das Heim in Nemnt. Bei den drei anderen Tatbeteiligten soll es sich um Jugendliche aus der Wurzener Umgebung gehandelt haben.22 17

18

19

20 21 22

Es konnte nichts zu dieser Gruppe in Erfahrung gebracht werden (Vgl. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit). Möglicherweise handelte es sich um eine Pfadfindergruppe, welche von Kindern und Jugendlichen von Postangestellten gebildet wurde. Dies ist kein offizieller Gruppenname. Es handelte sich bei der Mitgliedschaft vermutlich um die in den 20er Jahren von dem früheren Freikorpsführer Gerhard Rossbach gegründete „Schilljugend“ bzw. der sich später abgespalteten „Freischar Schill“. Vgl. KNEIP: Jugend der Weimarer Zeit, S.217f. Auch dieser Gruppenname findet sich nicht bei Kneip oder anderen Nachschlagewerken. Es ist denkbar, dass es eine Jugendgruppe gegeben hat, die sich mit Homöopathie beschäftigt hat. Möglich wäre auch eine selbstironische Namensgebung. HStAD 2Js/SG 202/38. Ebda., Bl.14. Interview des Verfassers mit Johannes Pawlisch am 9.8.2002. Pawlisch gehörte zur Connewitzer Meute.

168 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Die Polizei konnte aus unbekannten Gründen die Tatbeteiligten rasch ermitteln. Am 24. September 1935 verurteilte ein Schöffengericht in Leipzig fünf der sieben Tatbeteiligten zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen. Zwei befanden sich zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht.23 Ob sie später gefasst wurden, ist nicht bekannt. Wildfeuer saß seine Haftstrafe in Leipzig-Dösen ab. In der dortigen Heilanstalt wurde ein Teil des Geländes zeitweise als Jugendgefängnis genutzt.24 Über die genauen Motive können aufgrund fehlender Quellen nur Vermutungen angestellt werden. Es ist möglich, dass von den Beteiligten einige vor 1933 das Naturfreunde-Heim genutzt hatten und verärgert darüber waren, dass es nun der HJ gehörte. Auch könnten die drei ortsansässigen Jugendlichen als mögliche frühere Bündische im Streit mit den neuen Nutzern gelegen und deshalb den Anschlag verübt haben. Nach Verbüßung der Haftstrafen wurden die gemeinsamen Treffs wieder aufgenommen. Anfang Juni 1936 hielt eine HJ-Streife drei Mitglieder auf dem Horst-Wessel-Platz wegen ihrer Kluft an, „welche aus kniefreien Hosen und schwarzen Hemden mit Achselklappen bestand“.25 1936 sind mehrere Fahrten mit vier bis fünf Jugendlichen bekannt, zwei Mitglieder waren im Sommer an der Ostsee auf Großfahrt. Außerdem traf die Gruppe einmal beim Zelten außerhalb der Stadt zwei Jugendliche aus Leipzig-Schönefeld, welche Faltbootfahrten unternahmen und früher Mitglied der katholischen Jungschar in Leipzig gewesen waren. In der Folgezeit gab es nähere Kontakte. Es sind Treffen im Schönefelder Park bekannt, welcher sich etwa einen Kilometer vom HorstWessel-Platz entfernt befindet.26 Dieser Park wurde spätestens seit 1935 als Treffpunkt von Jugendlichen genutzt. Möglicherweise ging aus diesen Zusammenkünften die später in den Akten erwähnte „Schönefelder Meute“ hervor oder wurde so von der Gestapo konstruiert. Es gab außerdem innerhalb Leipzigs weitere Kontakte in andere Stadtteile. Ein Mitglied der Connewitzer Meute freundete sich beispielsweise mit Wildfeuer nach dessen Haftentlassung an.27 Anfang 1937 wurde erneut seitens der Gestapo gegen einige Gruppenmitglieder wegen Fortführung der Bündischen Jugend ermittelt. Wenige Monate später beschäftigte sich das Sondergericht Freiberg mit den Beschuldigten. Anfang Juni 1938 wurden alle Verfahren eingestellt, da die „Erörterungsergebnisse“ nicht für eine Anklage ausreichten. Die Gestapo sollte aber beobachten, ob es wieder zu Treffen im Schönefelder Park oder auf dem Horst-Wessel-Platz kommt und ob sich besonders Jüngere um Karl-Heinz Schmude sammeln würden, den man offenbar als eine Führungsperson ansah.28 23 24 25 26 27 28

HStAD 2Js/SG 202/38. Interview mit J. Pawlisch. HStAD 2Js/SG 202/38. Ebda. Bl.2. Interview mit J. Pawlisch. HStAD 2Js/SG 202/38, Bl.2.

2. Meuten im Leipziger Osten

169

Es ist anzunehmen, dass sich mehrere Mitglieder in der Folgezeit auch auf der nahe gelegenen Eisenbahnstraße trafen. Die Eisenbahnstraße beginnt am östlichen Ende des Hauptbahnhofsgeländes und verläuft durch mehrere Stadtteile in Richtung Osten aus der Stadt heraus. Immer wieder finden sich in den Akten kleinere Hinweise auf eine Meute in der Eisenbahnstraße, die nur vom Hörensagen bekannt war.29 Bei der „Meute Eisenbahnstraße“ hatte es sich wahrscheinlich nicht um eine eigenständige Gruppe gehandelt, sondern vielmehr um jugendliche Mitglieder des Kraftsportvereins „Eichenkranz“, welche in einer angrenzenden Straße trainierten und sich nach dem Training dort noch aufhielten.30 Wie lange es die Meute „Horst-Wessel-Platz“ gegeben hat, konnte nicht ermittelt werden, vermutlich mindestens bis zum Sommer 1938. Bei späteren Ermittlungen der Gestapo im Zusammenhang mit der Meute „Lille“ wurde von einer Auseinandersetzung eines „Lille“-Mitgliedes mit Hitlerjungen in der Oststraße im Frühsommer 1938 berichtet. „Die erwähnte Schlägerei leitete er dadurch ein, dass er die Meute vom Horst-Wessel-Platz herbeiholte.“31 Hierbei könnte es sich auch um Mitglieder der „Lille“ gehandelt haben. In den späteren Prozessen gegen Leipziger Meuten tauchen frühere Namen wie „Horst-WesselPlatz“ oder „Schönefelder Meute“ nicht auf. Ob es zeitgleich mehrere Meuten im Osten gegeben hat, konnte anhand der Akten nicht nachgewiesen werden, ist aber denkbar. Es kann des Weiteren davon ausgegangen werden, dass es zwischen den Gruppen am Horst-Wessel-Platz, auf der Eisenbahnstraße und im Schönefelder Park starke personelle Überschneidungen gegeben hat. Festzuhalten bleibt, dass die Meute von Lehrlingen und Jungarbeitern dominiert war, welche vor 1933 größtenteils nicht einer linkssozialistischen Jugendorganisation angehörten, sondern verschiedenen konfessionellen und nichtkonfessionellen Gruppen. Bündisches Gedankengut, wie etwa von der dj 1.11, schien keine nennenswerte Rolle gespielt zu haben. Im Vordergrund stand die zwanglose Freizeitgestaltung von Jugendlichen mit gleichen Interessen und zumeist gleichem Wohngebiet. Der gemeinsame Gegner, die Staatsjugend, wurde nach Möglichkeiten und persönlicher Betroffenheit entschieden bekämpft, wie der Anschlag auf das Jugendheim in Nemnt beweist.

b.

Die Meute „Lille“

Treffpunkt der Meute „Lille“, auch Meute „Lilienstraße“ genannt, war der Bernhardiplatz an der Lilienstraße im östlichen Stadtteil Reudnitz. Im Sommer

29 30 31

Vgl. Erinnerungsbericht von Rolf F. vom 22.07.1988, Privatarchiv Kircheisen. Vgl. Kircheisen, Erscheinungen, S.118, (Interview mit Rolf Lippert, der auch Mitglied im „Eichenkranz“ war). BArch NJ 15657, Bl.8.

170 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 1937 fand sich um Horst Moog (Jg. 1920), der in der Lilienstraße wohnte, ein Freundeskreis zusammen. Zu den etwa sechs Jugendlichen gehörten auch zwei frühere BDM-Mädchen, wovon eine bereits seit 1932 Mitglied war. Kurt Hoppe (Jg. 1921) gehörte bis 1933 den Roten Falken an. Helmut Heß (Jg. 1920), vor 1933 kurzzeitig bei den Roten Jungpionieren, stieß Ende 1937 zur „Lille“. Heß hatte sich bereit seit 1935 mit anderen Jugendlichen im elterlichen Gartenverein „Willfried“ unweit der Lilienstraße getroffen und gemeinsame Wanderfahrten unternommen. Aus diesem Kreis kam auch der ehemalige Rote Jungpionier Rudolf Giresser (Jg. 1921) zur Meute.32 Dessen Vater war ein ehemaliger KPDFunktionär, der nach 1933 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Anfang 1938 erhielt die „Lille“ weiteren Zulauf. Die Brüder Horst (Jg. 1920) und Rolf Lippert (Jg. 1921) waren im Kraftsportverein „Eichenkranz“ aktiv, wo ehemalige organisierte Arbeiterjugendliche trainierten.33 Im Juni stießen außerdem zwei frühere Mitglieder der Meute „St. Pauli“ zur „Lille“. Einer von ihnen war bereits seit 1932 im Jungvolk gewesen. 1935 trat er wieder aus, weil er verärgert war „über Ungerechtigkeiten bei der Führerauswahl.”34 Die Gestapo bezifferte im Sommer 1938 die Gesamtstärke der Meute mit 25 bis 30 Mitgliedern.35 Dabei wurden die Beamten nicht aller tatsächlichen Mitglieder namentlich habhaft, so dass aufgrund von Aussagen in Erinnerungsberichten für das Jahr 1938 mindestens 35 Jugendliche zur „Lille“ gezählt werden müssen.36 In der Anfangszeit kann Horst Moog als Wortführer der Gruppe bezeichnet werden. Durch den Zulauf, den die Meute um den Jahreswechsel 1937/38 hatte, etablierten sich in der Folgezeit Heß und auch Horst Lippert als Führungspersönlichkeiten. Daraufhin kam es zu Streitereien zwischen Moog und Heß, die sogar zu einer zeitweiligen Spaltung der Meute führten. Heß und ein Teil der Gruppe trafen sich Anfang 1938 vorübergehend nicht mehr am Bernhardiplatz, sondern in der Karl-Vogel-Straße vor der 17. Volksschule, unweit des früheren Treffpunktes in der Gartenanlage. Bei einer gemeinsamen Fahrt zu Ostern 1938 nach Waldheim wurden die Differenzen geklärt und die Jugendlichen trafen sich wieder gemeinsam in der Lilienstraße.37 An der Fahrt nahmen etwa 20

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Bei der in den Gestapo-Akten als „Meute im Gartenverein“ bezeichneten Gruppe handelt es sich um eine informelle Gruppe von größtenteils ehemaligen Roten Jungpionieren aus dem Stadtteil Sellerhausen im Leipziger Osten, die durch die weiter gepflegten sozialen Kontakte der Eltern zusammengeblieben waren. Vgl. StAL Bestand SEDErinnerungen V/5/331, Erinnerungsbericht von Hans W. (Jg. 1924), Januar 1963. Aussagen von Rolf Lippert bei KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.32. BArch NJ 15657, Bl.6. Anklageschrift gegen Heß u.a. In: Widerstand als Hochverrat, FicheNr.0695, S.9. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.47. Vgl. BArch NJ 15657, Bl.4.

2. Meuten im Leipziger Osten

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Mädchen und Jungen teil und man übernachtete in einer Jugendherberge. Heß hatte zuvor die Plätze bestellt und auch Geld für die Unkosten eingesammelt.38 Neben der bekannten Kleidung aus kurzen Lederhosen, bunt karierten Hemden, weißen oder grauen Socken und Bundschuhen trugen einige Mitglieder rote Halstücher. Für die „Lille“ ist außerdem bekannt, dass man direkt besprochen hatte, sich die „Einheitstracht“ zu besorgen. Auf Anregung eines Mitgliedes kauften sich einige zu Weihnachten 1937 die Kluft im „Haus der Jugend” in der Nürnberger Straße, wo es derartige Kleidungsstücke auf Teilzahlung zu kaufen gab.39 Helmut Heß führte außerdem ein Totenkopfabzeichen am Revers der grauen Slalombluse ein, welches er zuvor auf der Kleinmesse erworben hatte und in der Folgezeit auch von anderen Mitgliedern getragen wurde. Das Totenkopf-Emblem war unabhängig davon auch bei den westdeutschen Edelweißpiraten ein oft getragenes Abzeichen und „fester Bestandteil des subkulturellen Äußeren“ von informellen Jugendgruppen.40 Die Meute traf sich regelmäßig am Bernhardiplatz, kleinere Gruppen unternahmen Fahrten an den Wochenenden. Während der kalten Jahreszeiten sollen außerdem die Vorräume des Postamtes in der Lilienstraße ein Treffpunkt der „Lille“ gewesen sein.41 Laut späteren Ermittlungen der Gestapo wurden mit dem Eintritt von Helmut Heß verstärkt politische Gespräche geführt. Er soll „politische Fragen vom kommunistischen Standpunkt aus” erörtert haben. Außerdem sprach er „über die Verhältnisse in Sowjet-Rußland und Rot-Spanien und zog Vergleiche zwischen diesen Ländern und Deutschland. Ferner zweifelte er die Richtigkeit der deutschen Zeitungsmeldungen an.”42 Heß und Lippert führten nach späteren Ermittlungen eine Reihe von Gesprächen über die „Bündische Jugend“ in Leipzig. Dies wurde später von der NS-Justiz folgendermaßen bewertet: „Lippert kam ferner mit Heß überein, nach der Zusammenfassung der Meute ‚Lilienstraße’ zu einer festen Organisation an die Mitglieder der übrigen Leipziger Meuten heranzutreten, um einen Zusammenschluss aller ‚bündischer’ Vereinigungen in Leipzig durchzuführen. Sie sahen die Einsetzung von Verbindungsleuten vor.”43 Heß sollte außerdem geglaubt haben, dass die im Wachsen begriffene, „den nationalsozialistischen Staat ablehnende Jugendbewegung im Laufe der Zeit so stark werden würde, dass sie ein wirksames Gegengewicht gegenüber der Hitler-Jugend darstellte. Wenn er sich auch bewusst war, dass zur damaligen Zeit die Leipziger Meuten noch nicht umstürzlerisch wirken konnten, so nahm er doch an, dass die ‚Bündische Jugend’ nach 38 39 40 41 42 43

Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.11. Vgl. BArch NJ 15657, Bl.4; Die gesamte Kluft soll damals etwa 50 Reichsmark gekostet haben. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.49. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.191. Interview des Verfassers mit Herbert Kl. am 8.5.2001 in Leipzig. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.13. Ebda. S.19.

172 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 der erhofften Vergrößerung zum Sturz der bestehenden Staatsform und ihrer Ablösung durch eine kommunistische Regierung entscheidend würde beitragen können.”44 Es ist nicht überliefert, in welchem Maß Gestapo und Staatsanwaltschaft bei ihren Verhören über diesen Sachverhalt Dinge hinzukonstruiert haben, um das Bedrohungsszenario durch die Meuten zu verstärken. Man kann davon ausgehen, dass sich Heß und Lippert über die Meuten austauschten und sich auch der wachsenden Attraktivität der Gruppen in Leipzig bewusst waren. Offensichtlich aufgrund ihrer linkssozialistischen Sozialisation vor 1933 glaubten sie, dass man durch eine verbindlichere Organisierung der Gruppen diese Jugendbewegung fördern könnte. Wie sie 1938 auf die Idee kamen, dass eine offen auftretende Jugendorganisation jenseits der HJ so stark sein könnte, dass sie dem NS-Repressionsapparat widerstehen könnte, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers. Des Weiteren ermittelte die Staatsanwaltschaft, dass Heß und Horst Lippert Diskussionen über mögliche neue Staatsformen in Deutschland geführt hätten. Einig sollen sich beide über das Endziel eines kommunistischen Staates wie in der Sowjetunion gewesen sein. „Lediglich hinsichtlich der Stellung, die dieser Zukunftsstaat gegenüber Sowjet-Russland einnehmen sollte, stimmte er [Lippert] in seiner Zielsetzung mit Heß nicht völlig überein. Während dieser wünschte, dass der deutsche Sowjetstaat ebenso wie die in den übrigen Ländern zu bildenden Sowjetrepubliken der russischen Sowjet-Regierung [...] unterstellt werden sollte, erstrebte Lippert ein selbständiges Sowjet-Deutschland, das mit den übrigen kommunistischen Staaten lediglich durch einen bolschewistischen Völkerbund verbunden sein sollte.”45 Sollten diese Gespräche tatsächlich in diesem Umfang stattgefunden haben und nicht von den NS-Ermittlern konstruiert worden sein, so zeigt dies, dass Jugendlichen um 1938 offensichtlich verschiedene Informationswege zur Verfügung standen, um sich mit kommunistischem Gedankengut vertraut zu machen. Auffallend ist in diesem Fall, dass die vertretenen Meinungen nicht nur frühere KPD-Doktrinen (in diesem Falle durch den früheren Jungpionier Helmut Heß geäußert), sondern auch andere kommunistische Strömungen widerspiegelten. Wenn diese Informationswege auch nicht den Akten nach bekannt sind, so können doch mehrere Möglichkeiten aufgeführt werden. Dass dieses Wissen ausschließlich aus der legalen Zeit bis 1933 stammt, erscheint aufgrund des damaligen Alters und der Zeitspanne eher unwahrscheinlich. Neben den deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau (für die man ein leistungsstarkes und damit teueres Radiogerät benötigte) ist es auch möglich, dass in den einzelnen Familien noch kommunistische und sozialdemokratische Bücher und Broschüren kursierten, welche von den Jugendlichen gelesen wurden. Ebenso ist es denkbar, dass entsprechende ten44 45

Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.12. Ebda. S.18f.

2. Meuten im Leipziger Osten

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denziöse Berichte aus den NS-Medien anders aufgenommen und verarbeitet wurden, als von den NS-Verfassern beabsichtigt. Realistisch erscheint außerdem, dass innerhalb politisch homogener Familien, vor allem mit kommunistischem Hintergrund, Ende der 30er Jahre über solche Themen zu Hause offen gesprochen und anschließend unter den Jugendlichen darüber diskutiert wurde.46 Daran würde deutlich werden, dass nach der Zerschlagung der illegalen KPD-Strukturen die verbliebene Basis sich eigene Standpunkte zur kommunistischen Bewegung erarbeitete. Die vielfach beschriebene Angst, dass das eigene Kind, welches nun in der NS-Staatsjugend Mitglied war, seine eigenen Eltern denunzieren könnte, traf hier nicht zu, da die Meutenmitglieder bewusst der HJ fernblieben. Somit könnten die Jugendlichen in die privaten Gespräche über Politik innerhalb der Familie einbezogen worden sein, wurden doch keine illegalen Aktionen besprochen, welche strafrelevant gewesen wären und ein höheres Maß an Konspirativität erfordert hätten. Im Frühjahr 1938 fand auf dem Augustusplatz in der Leipziger Innenstadt eine Großveranstaltung der NSDAP statt. Viele „Lille“-Mitglieder waren als „Zaungäste“ anwesend. Um den vorbeimarschierenden Fahnen der HJ nicht den „Deutschen Gruß“ erweisen zu müssen, entfernte sich die Gruppe auf Vorschlag von Heß von der Veranstaltung.47 Diese von der Staatsanwaltschaft besonders hervorgehobene Begebenheit zeigt, dass die Jugendlichen nicht willens waren, sich bei solchen Gelegenheiten wenigstens formal systemkonform zu verhalten und zeugt von großem Selbstbewusstsein. In der ersten Jahreshälfte 1938 wurden mehrere Fahrten in die nähere Umgebung durchgeführt, zumeist mit Fahrrädern. Um dem HJ-Streifendienst nicht aufzufallen, traf man sich erst außerhalb Leipzigs und fuhr bei der Rückkehr ebenfalls nur bis zur Stadtgrenze zusammen.48 Darüber hinaus unternahmen einzelne Mitglieder Tramptouren, beispielsweise nach Berlin. Es gab Kontakte zur Meute „Reeperbahn“, welche man gelegentlich in Lindenau besuchte. Jugendliche anderer Meuten kamen gelegentlich an den Treffpunkt der „Lille“. Während die Meuten im Leipziger Westen relativ wenig mit HJ-Mitgliedern in Berührung kamen, hatten Mitglieder der „Lille“ nach Aktenlage öfter und teilweise heftige Auseinandersetzungen mit der Hitlerjugend um die Präsenz und Vorherrschaft im eigenen Wohnviertel. Beispielgebend ist eine Schlägerei Mitte April 1938 im Vergnügungspark Hopfengarten im ebenfalls im Osten gelegenen Leipziger Stadtteil Stötteritz. Der Vorgang hatte sich nach späteren Ermittlungen der NS-Justiz folgendermaßen ereignet:

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Vgl. hierzu VOIGT: Kommunistischer Widerstand, S.31ff. Vgl. BArch NJ 15657, Bl.11. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.8.

174 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 „An einer Schießbude forderte ein Hitler-Junge in Gegenwart der Meutenmitglieder und weiteren Hitler-Jungen […] Lippert auf, sein Totenkopfabzeichen abzunehmen. Den darauf folgenden Wortwechsel nahm Heß zum Anlass, dem Hitler-Jungen, der in keiner Weise tätlich vorgegangen war, mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. [...] Als ihn nach dem Schlag ein anderer Hitler-Junge wegen der Misshandlung seines Kameraden zur Rede stellen wollte, zog Heß den mit einer scharfen Patrone geladenen Gasrevolver und schoss auf den Hitler-Jungen, ohne ihn jedoch zu treffen. [...] Im Anschluss an den Schuss kam es zu einer Schlägerei zwischen den Meutenangehörigen und den anwesenden Hitler-Jungen. Da jedoch eine größere Anzahl weiterer Hitler-Jungen ihren angegriffenen Kameraden zur Hilfe eilten, flüchteten die Meutenangehörigen alsbald mit ihren Fahrrädern nach ihrer Wohngegend.”49

Nach späteren Erinnerungen des Beteiligten Rolf Lippert ging die Schlägerei von den HJ-Mitgliedern aus, die im Übrigen nicht in Uniform gekleidet waren, nur einer soll ein HJ-Abzeichen getragen haben.50 Diese Art Auseinandersetzungen waren keine Seltenheit. Mehrere Meutenmitglieder stellten sich für solche Fälle aus alten Schläuchen Gummiknüppel her. „Die Meutenangehörigen führten diese Hiebwaffen in der Folgezeit bei sich und erreichten dadurch, dass die Hitler-Jugend nicht mehr wagte, sie wegen ihrer Einheitstracht anzuhalten. Außer dem Gummiknüppel besaß Heß einen Schlagring sowie drei Schusswaffen, von denen er eine stets bei sich führte.”51 Auch Horst Lippert besaß einen Schlagring und einen Trommelrevolver mit Tränengasmunition. Mit diesen Schusswaffen sollen bei einigen Fahrten Schießübungen gemacht worden sein.52 Von Helmut Heß soll in diesem Zusammenhang, laut späterer Anklageschrift, auch folgender Ausspruch stammen: „Wir lassen uns von der Hitlerjugend nicht belästigen. Wir schlagen sie, dass sie liegen bleiben.”53 Die verschiedenen Waffen sowie die Gewaltbereitschaft der Meutenmitglieder verdeutlichen ihren Willen, sich auf der Straße gegen die HJ zu behaupten. Dies könnte man auch als jugendlichen Bandenkrieg jenseits politischer Motivationen interpretieren. Im Gegensatz zu den westdeutschen Edelweißpiraten ist jedoch nicht bekannt, dass auch nur eine Leipziger Meute sich mit anderen Jugendcliquen gewalttätige Auseinandersetzungen bezüglich Kleidung oder Einflussgebieten lieferte.54 Die Gewalt richtete sich stets nur gegen die Staatsjugend und entsprang dem Willen, Freiräume gegen die HJ zu verteidigen.

49 50 51 52 53 54

Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.16. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.56f. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.15. Vgl. ebda. S.20. BArch NJ 15657, Bl.5. Siehe KENKMANN: Wilde Jugend, S.296ff.

2. Meuten im Leipziger Osten

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Spätestens im Frühjahr 1938 wurde die Gestapo auf die Meute „Lille“ aufmerksam. Mitte Mai verhörte die Gestapo mehrere Mitglieder und sprach gegen sie ein „Trachtenverbot“ aus. Einem Jugendlichen wurde sogar im Falle der Nichtbefolgung mit Schutzhaft gedroht.55 Die Betroffenen ließen sich davon nicht einschüchtern, trugen weiter ihre Kluft und kamen auch weiterhin am Bernhardiplatz zusammen. Außerdem unterhielten sie sich über ihre Vernehmungen und besprachen ihr Verhalten im Falle weiterer Verhöre. „Sie traten dann auch in der Folgezeit nur noch in kleinen Trupps, die nicht auffallen sollten, auf und begrüßten sich jetzt auch aus Sicherheitsgründen mit ‚Heil Hitler!’.”56 Ende Juni bis Anfang Juli 1938 wurde dennoch der Großteil der Mitglieder bei Razzien auf dem Bernhardiplatz verhaftet und Mitte Juli in Untersuchungshaft überstellt.57 Die übrigen in Freiheit verbliebenen Mitglieder trafen sich in der Folgezeit nicht mehr in der Lilienstraße, sondern wechselten größtenteils zur Meute „Reeperbahn“.

c.

Weitere Meuten im Leipziger Osten

Die Paunsdorfer Meute entstand aus Schulfreunden, welche alle im Wohngebiet um die damalige Boysenstraße im Stadtteil Alt-Paunsdorf am östlichen Stadtrand wohnten. Treffpunkt der Gruppe war der nahe gelegene Bauernteich in der Nähe des Paunsdorfer Rittergutes. Im Gegensatz zum Jahrgangsdurchschnitt 1920 der meisten anderen Leipziger Meuten entstammten die Mitglieder der Paunsdorfer Meute den Jahrgängen 1924/25. Sieben Jugendliche konnten namentlich ermittelt werden.58 Die ältere Schwester eines Mitgliedes (Jg. 1921) verkehrte 1938 bei der Meute „Lille“. Der Altersunterschied und die familiäre Bindung an ein älteres weibliches Meutenmitglied zeigt, dass es sich um Nachahmer gehandelt hat, da sonst keine Meute bekannt ist, in denen Jugendliche aus dieser Altersgruppe vertreten waren. Der genaue Zeitpunkt der Entstehung ist unbekannt. Interessant ist, dass sich in der Gruppe unter den Arbeiterjugendlichen die Tochter eines Paunsdorfer Fabrikanten befand. Auf Fotos der Gruppe, die der Verfasser eingesehen hat, erkennt man deutlich die damals unter den Meuten übliche Kluft: weiße Kniestrümpfe, kurze Lederhosen, Hemden und teilweise Halstücher. Mehrere Jungen hatten als Kopfbedeckung dunk-

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Vgl. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.22. Ebda. S.12. Vgl. BArch NJ 15657, Bl.2f. Alle Angaben zur Gruppe aus Interview des Verfassers mit Frau S., Tochter des Gruppenmitgliedes Hans-Joachim K. am 10.07.2007 in Leipzig.

176 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 le Schiffchen, die denen des Jungvolks ähnlich sehen. Die Mädchen trugen gemusterte Kleider.59 Die Gruppe unternahm mehrere Fahrten, einmal sogar eine Radtour bis an die Ostsee. Außerdem zeltete man im Sommer 1939 an den Lübschützer Teichen, wo man zwei weibliche Mitglieder der Meute „Reeperbahn“ kennen lernte, welche die Gruppe daraufhin in Paunsdorf besuchte.60 Neben eigenen Liedgesängen, die mit einem Akkordeon begleitet wurden, hörten sie Musik von einem Koffergrammophon. Dem Namen nach kannten die NS-Verfolgerorgane die Gruppe.61 Von Verhaftungen oder Ermittlungen gegen sie ist aber nichts bekannt. Somit existierte die Gruppe bis in die ersten Kriegesjahre hinein. Darauf wird noch später eingegangen werden. Von der Stötteritzer Meute sind drei Jugendliche der Jahrgänge 1920/21 aktenkundig, welche im Südosten Leipzigs in den angrenzenden Straßen des Weißeplatzes wohnten. Aufgrund der Wohnlage kann davon ausgegangen werden, dass sich die Jugendlichen bereits seit der Schulzeit kannten und seitdem ihre Freizeit gemeinsam verbrachten.62 Es ist anzunehmen, dass zu dieser Gruppe noch weitere Jugendliche gehörten. Ein konkreter Treffpunkt konnte bislang nicht ermittelt werden. Es soll nach späteren Angaben eines ReeperbahnMitgliedes am nahe gelegenen Völkerschlachtdenkmal eine Meute gegeben haben.63 Möglicherweise ist diese mit den Stötteritzern identisch. Die Existenz einer Meute in Stötteritz wird auch bei Kircheisen bestätigt.64

3.

Die Meute „Hundestart“ im Leipziger Südwesten

Der Leipziger Südwesten besteht aus den Stadtteilen Groß- und Kleinzschocher. Angrenzend an das Industriegebiet Plagwitz und Lindenau im Westen der Stadt gab es auch hier mehrere metallverarbeitende Betriebe. Ebenfalls zum Leipziger Südwesten gehören die Meyerschen Häuser am äußeren Stadtrand, eine Mehrfamilienhaussiedlung für Arbeiterfamilien, welche vor 1933 zum Großteil in den linkssozialistischen Arbeiterverbänden organisiert waren. Ihre politische Bedeutung misst sich u. a. daran, dass 1933 die komplette Wohnanla-

59 60 61 62 63 64

Der Verfasser konnte die Bilder bei der Tochter eines Gruppenmitgliedes am 10.07.2007 einsehen. Die Fotos sind die einzigen bekannten existierenden einer Leipziger Meute. BArch NJ 12339, Bl.20. Ebda. Vgl. HStAD 1Js/SG 251/38; 1Js/SG 252/38; 1Js/SG 253/38. Interview des Verfassers mit Herbert Kl. am 8.5.2001 in Leipzig. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.119; Kircheisen zitiert aus einem von ihr geführten Interview mit dem „Reeperbahn“-Mitglied Werner Wolf, der in Stötteritz wohnte.

3. Die Meute „Hundestart“ im Leipziger Südwesten

177

ge von Polizei und SA-Hilfstrupps durchsucht wurde. Auch in Kleinzschocher selbst lebten zahlreiche Arbeiterfamilien. Seit 1934 traf sich in Kleinzschocher eine Gruppe von fünf Lehrlingen der Geburtsjahrgänge 1920/21 gelegentlich an einer Grünanlage in der Schwartzestraße, welche im Volksmund „Hundestart“ genannt wurde. Die Jugendlichen kannten sich bereits aus der Zeit vor 1933 von den Kinderfreunden und den Roten Falken.65 Nach späteren Gestapo-Ermittlungen hatte die Gruppe im Frühjahr 1937 bereits eine Stärke von zehn bis zwölf Mitgliedern. Auf einer Fahrt zu Pfingsten nach Rochlitz schlossen sich der Gruppe spontan zwei Leipziger an, welche ebenfalls im Südwesten wohnten. Willi Prüfer (Jg. 1913) soll seit 1928 Mitglied des KJVD gewesen sein.66 Rudi Langhans (Jg. 1920) gehörte vor 1933 den Roten Jungpionieren an. Nach der „Machtergreifung“ wurde er Mitglied bei der Scharnhorstjugend, von wo aus er wenige Monate später ins Jungvolk übernommen wurde. Dort blieb er nur ein Jahr, „da es ihm wegen des dort herrschenden Zwanges nicht mehr gefallen habe”.67 Beide kamen anschließend regelmäßig an den „Hundestart“. Ebenfalls zur Gruppe stieß im Sommer 1937 Heinz Krause (Jg. 1919). Erhard „Pimper” Friede (Jg. 1911) kam in dieser Zeit über Langhans zum „Hundestart“. Friede war Anfang der 30er Jahre Mitglied im KJVD gewesen.68 In der Folgezeit stießen noch weitere Jugendliche zur Meute. Neben den Treffen am Hundestart besuchten mehrere Mitglieder regelmäßig die Kleinmesse. Spätestens 1937 bildete sich eine relativ einheitliche Kleidung der Jugendlichen heraus. Ein ehemaliges Mitglied beschrieb diese später so: „Jeder hatte Lederhosen, dazu dann karierte Hemden und ein Tuch, nicht nur rote, auch andere, sozusagen Bauarbeitertaschentücher, buntkariert als Halstuch.”69 Das Lederkoppel wurde mit Möbelzwecken bzw. Möbelrutschen verziert. Einige trugen außerdem so genannte Slalomjacken und rund gefaltete Hüte.70 Die frühere Mitgliedschaft in einer kommunistischen Kinder- bzw. Jugendorganisation wurde von einigen zu dieser Zeit zunehmend nach außen hin gezeigt. So soll Langhans am „Hundestart“ den Gruß der Roten Jungpioniere aus der Weimarer Zeit eingeführt haben: „Seid bereit – immer bereit!”. Dieser wurde aus „Tarnungsgründen“ ausschließlich in der russischen Sprachvariante verwendet. Heinz Krause, der gelegentlich auch rote Halstücher trug, soll an seiner

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Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.22. Vgl. ebda. S.23; In der Anklageschrift wird die KJVD-Mitgliedschaft nicht erwähnt. Dort heißt es lediglich, dass Prüfer 1932 KJI-Mitglied war. (Vgl. Anklageschrift gegen Prüfer u.a. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.5.) Die vorangegangenen Gestapo-Ermittlungen erwähnen hingegen die KJVD-Mitgliedschaft von Prüfer (BArch NJ 9156 Bd.1, S.2). Anklageschrift gegen Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.7. Ebda. S.6. Das ehem. Meutenmitglied Gerhard P., zitiert nach KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.26. Vgl. BArch, NJ 6755, Bl.49.

178 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Mütze ein rotes Band mit dem Originalwortlaut des sowjetischen Pioniergrußes angebracht haben – allerdings phonetisch höchst fehlerhaft mit lateinischen Buchstaben wiedergegeben: „but cadoff – secetacedoff”.71 Auf der Leipziger Kleinmesse gekaufte Perlmuttherzen wurden ebenfalls mit diesem Spruch verziert und an der Kleidung getragen.72 Langhans soll am „Hundestart“ den Gruß der Roten Jungpioniere aus der Weimarer Zeit eingeführt haben: „Seid bereit immer bereit!”. Dieser wiederum wurde aus „Tarnungsgründen“ ausschließlich ins Russische übersetzt verwendet.73 Ein anderes Meutenmitglied benutzte außerdem zur Begrüßung eine abgewandelte Form des „Rot Front!“-Grußes.74 Diese demonstrative Zurschaustellung kommunistischer Versatzstücke bedarf eines Deutungsversuches. Die als mögliche Erklärung dienenden klassischen Antworten, wie Spaß von Jugendlichen an der Provokation gegen die autoritäre Obrigkeit und jugendlicher Leichtsinn, reichen nicht aus. Kleinzschocher und die nahe gelegenen Meyerschen Häuser gehörten vor 1933 zu den Zentren der linkssozialistischen Arbeiterbewegung. Besonders die Meyerschen Häuser waren seit 1933 immer wieder von Razzien betroffen. Zahlreiche Menschen wurden verfolgt, misshandelt und inhaftiert. Die Mitglieder des „Hundestarts“ hatten dies miterlebt, ebenso die Verbote ihrer Kinder- und Jugendorganisationen. Aber auch vier Jahre später fühlten sich diese Jugendlichen immer noch ihren linkssozialistischen Wurzeln verbunden. Anders als ihre Eltern hatten sie aufgrund ihrer jugendlichen Ungebundenheit weniger Angst vor den Konsequenzen. Auch ging ihre Provokation nicht ins Uferlose, verzichteten sie doch auf den Sowjetstern als das bekannteste und eindeutigste kommunistische Symbol. Obgleich ihr Wissen über den Kommunismus nur bruchstückhaft war, fühlten sie sich ihm so weit zugehörig, dass sie ihre Sympathien mehr oder wenig offen zu Schau stellten. Hierbei ging es den Mitgliedern des „Hundestarts“ nicht darum, analog früheren KPD-Phrasen die proletarische Revolution vorzubereiten und die „Massen“ zu agitieren. Sie hatten lediglich Bruchstücke ihrer kommunistischen Wurzeln in ihre jetzige Jugendkultur „Bündische Jugend“ transformiert. Das soziale Wohnumfeld um den „Hundestart“ herum schien außerdem Mitte der 30er Jahre keinen Anstoß an den Jugendlichen mit roten Halstüchern zu nehmen. Es sind keine Denunziationen von Anwohnern bekannt (mit Ausnahme eines Hitlerjungen, der in Sichtweite des Treffpunktes wohnte). Möglicherweise fühlten sich die Mitglieder des „Hundestarts“ in ihrem unmittelbaren 71

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Die Schreibweise des Russischen in lateinischen Buchstaben variiert in verschiedenen Gestapo-Protokollen. Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f, S.29. Korrekt müsste es in lateinischen Buchstaben heißen: budje gatow - vsje gatow (seid bereit - immer bereit). Vgl. BArch NJ 5794, Bl.26. Vgl. Urteilsschrift gegen Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.31. Vgl. BArch NJ 9156 Bd.1, S.10.

3. Die Meute „Hundestart“ im Leipziger Südwesten

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Wohnumfeld auf einer Art „Insel“, in die der Nationalsozialismus nicht in dem Maße vorgedrungen war, wie es aus heutiger Sicht angenommen wird. Auch die weitgehend ausbleibenden Auseinandersetzungen mit HJ-Mitgliedern in der Umgebung des „Hundestarts“ (im Vergleich zur Meute „Lille“) lässt die Schlussfolgerung zu, dass die HJ in Kleinzschocher keine omnipräsente Rolle spielte. Dies ermöglichte den Mitgliedern des „Hundestarts“ solcherart kommunistische Symboliken offen zur Schau zu stellen, ohne sofort Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Mitgliedschaft bei der Meute „Hundestart“ war differenziert und unterlag einer gewissen Fluktuation. Es gab Jugendliche, die regelmäßig an den Treffpunkt kamen und auch an Gruppenfahrten teilnahmen. Diese bildeten im Laufe der Zeit den „harten Kern“. Hierbei sollen Willi Prüfer und Erhard Friede im Verlauf des Jahres 1937, nicht zuletzt aufgrund ihres höheren Alters, „Wortführer“ geworden sein. Darüber hinaus gab es Jugendliche, welche aus den unterschiedlichsten Gründen nur gelegentlich an den Treffen teilnahmen. Rechnet man alle aus Gestapo-Akten und Zeitzeugeninterviews namentlich bekannte Personen zusammen, die sich zumindest zeitweise zum „Hundestart“ zugehörig fühlten, so kommt man auf etwa 35 Jugendliche. Für den Herbst 1937 sind mindestens 25 Personen bekannt. Es zeigt sich, dass die Meute innerhalb weniger Monate starken Zulauf hatte. Neben dem „Hundestart“ als Treffpunkt gab es noch mindestens einen weiteren Freundeskreis von Jugendlichen der Geburtsjahrgänge um 1920 aus dem Südwesten der Stadt, welcher sich zur Meute „Hundestart“ zugehörig fühlte, aber dort kaum in Erscheinung trat. Es handelte sich um etwa zehn Jungen und Mädchen, die sich größtenteils von den Kinderfreunden bzw. den Roten Falken her kannten. Zu ihnen gehörten neben Wilhelm Endres auch vier Geschwister aus den Meyerschen Häusern, deren Eltern vor 1933 eine KinderfreundeGruppe geleitet hatten.75 Durch ihre Freizeitgestaltung, welche größtenteils unabhängig vom „Hundestart“ erfolgte, wurde diese Gruppe bis auf zwei Personen bei der späteren Verfolgung durch die Gestapo nicht mit der Meute in Zusammenhang gebracht. Die Grünanlage des „Hundestarts“ war ein regelmäßiger Treffpunkt in den wärmeren Monaten des Jahres, an dem die Jugendlichen abends und an den Wochenenden zusammenkamen. Auch eine gegenüberliegende Eisdiele wurde frequentiert. Bei den Unterhaltungen drehte es sich meist um jugendliche Alltagsprobleme und anstehende Fahrten. Aber auch über politische Themen wurde nach späteren Ermittlungen der Gestapo gesprochen, so war z. B. der Bürgerkrieg in Spanien Thema. Offensichtlich hegten mehrere Mitglieder große Sympathien für den republikanischen Freiheitskampf, denn sie sollen geäußert

75

Interview des Verfassers mit Wilhelm Endres am 27.3.2002 in Leipzig.

180 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 haben, „dass sie, wenn sie älter wären, nach Sowjetspanien gingen”.76 Außerdem wurden die Meldungen, welche die NS-Medien verbreiteten, angezweifelt. Die Staatsanwaltschaft schloss später daraus, „dass die Meute kommunistisch eingestellt war.”77 Weiteres zu Art und Inhalt der politischen Gespräche ist nicht überliefert. Im benachbarten Stadtteil Lindenau befand sich auf der Schlageterstraße der Treffpunkt der Meute „Reeperbahn“, welche von den Mitgliedern des „Hundestarts“ gelegentlich besucht wurde. Neben dem gemeinsamen Herumschlendern auf der Straße traf man sich außerdem wöchentlich zum Schwimmen im Lindenauer Westbad oder fuhr an die Lübschützer Teiche. Dies waren Freizeitaktivitäten, welche bereits vor 1933 von Arbeiterjugendgruppen unternommen wurden. Mindestens einmal soll es vorgekommen sein, dass die Meute Hundestart in Zweierreihen nach Lindenau zur Reeperbahn marschierte. Hierfür wurde das Kommando „BJ – angetreten!“78 benutzt, was als Machtdemonstration gegenüber der HJ im eigenen Wohnviertel gewertet werden kann. Für das Jahr 1937 ist eine Vielzahl von Wochenendfahrten in die nähere Umgebung bekannt, an denen durchschnittlich etwa zehn Personen teilnahmen und welche meist mit den Fahrrädern unternommen wurden. Mitglieder der „Reeperbahn“ kamen stellenweise mit auf Fahrt, einmal auch ein ehemaliges Mitglied der Christlichen Pfadfinder.79 Bei den Fahrten wurden verschiedene Lieder gesungen, nach späteren Ermittlungen der Gestapo auch Arbeiterlieder wie „Brüder zur Sonne zur Freiheit”, das „Lied vom kleinen Trompeter” sowie das „Leuna“- und das „Büchsenstein“-Lied.80 Besonders die letzten drei Lieder sind vor 1933 vor allem von Kommunisten gesungen worden, was die frühere kommunistische Anbindung einiger Mitglieder bezeugt. In diesem Punkt unterschieden sich die Leipziger Meuten von den westdeutschen Edelweißpiraten, bei denen Peukert ein „gänzliches Fehlen der sozialistisch-kommunistischen Liedtradition“ feststellte.81 Als eine Gruppe im August 1937 auf der Rückfahrt in Wurzen nach einer Auseinandersetzung mit HJ-Mitgliedern von der Polizei kurzzeitig inhaftiert wurde, tat dies der Stimmung keinen Abbruch. Selbst in den Zellen wurde ein „kommunistisches Kampflied“ gesungen.82 Neben den Fahrten in der Gruppe gab es einige Großfahrten von einzelnen Mitgliedern oder Gruppen bis zu fünf Jugendlichen. Heinz Krause traf bei einer Fahrt quer durch Deutschland Ende 1937 unterwegs einen ebenfalls aus Leipzig kommenden früheren Pfadfinder. 76 77 78 79 80 81 82

Vgl. Urteilsschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.6. Anklageschrift Prüfer. In: Ebda. S.13. BArch NJ 9156, Bd. 4 Bl. 184, Gestapoverhör von H. Pala am 29.3.1938. Vgl. BArch NJ 9156, Bd.6, S.3f. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.14. Vgl. PEUKERT: Edelweißpiraten. In: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte, S.313. Vgl. BArch NJ 9156, Bd.3, S.6.

3. Die Meute „Hundestart“ im Leipziger Südwesten

181

Nach seiner Rückkehr erzählte Krause, dass er in Köln von ähnlichen Gruppen wie den Leipziger Meuten gehört hätte.83 Der Terminus „Edelweißpiraten“ drang in diesem Zusammenhang nicht bis nach Leipzig. Weiterführende Kontakte zwischen Jugendlichen der beiden Städte entwickelten sich ebenfalls nicht. Bekannt sind mehrere verbale und tätliche Auseinandersetzungen mit Angehörigen der Hitlerjugend, jedoch kaum im unmittelbaren Wohnumfeld.84 HJAngehörige wurden im Übrigen von den Mitgliedern des „Hundestarts“ wegen der großen Trommeln bei ihren Aufmärschen „Buschneger“ genannt.85 Um den zunehmenden Schikanen des HJ-Streifendienstes besonders auf den Fahrten zu begegnen, gab es von einigen Mitgliedern des „Hundestarts“ und der „Reeperbahn“ den Plan, HJ-Ausweise zu fälschen. Dies zeigt, dass man nicht ständig die offene Konfrontation mit der Staatsjugend suchte, sondern bei den Wochenendfahrten schlicht in Ruhe gelassen werden wollte. Es kam aber aus unbekannten Gründen nicht zur Ausführung des Vorhabens.86 In den Wintermonaten trafen sich kleinere Gruppen ein- bis zweimal wöchentlich bei einzelnen Mitgliedern zu Hause zu so genannten Heimabenden. Es wurden Arbeiter- und Wanderlieder gesungen, welche einige auf Instrumenten begleiteten. Außerdem versuchten sie teilweise die verbotenen Radioprogramme von Radio Moskau zu empfangen.87 Zum Jahreswechsel 1937/38 fuhr eine Gruppe von zehn Mitgliedern zum Wintersport nach dem Aschberg bei Klingenthal im Erzgebirge. Einige unternahmen von dort aus einen Tagesausflug ins angrenzende tschechische Graßnitz, wo sie eine Ausgabe der „Roten Fahne“ und eine unbekannte sozialdemokratische Zeitung lasen, welche an Hauseinfriedungen angebracht war. Den zurückgebliebenen Mitgliedern berichteten sie später vom Inhalt dieser Zeitungen.88 Bereits 1937 wurden einige „Hundestart“-Mitglieder bei der Gestapo wegen des Verdachtes der Betätigung für die Bündische Jugend verhört, so z. B. Prüfer und Langhans, ohne dass dies größere Konsequenzen für das Gruppenleben nach sich gezogen hätte. Bei einem späteren Verhör gab ein weiteres Meutenmitglied zu Protokoll: „Zum Erntedankfest bin ich zusammen mit [...] verschiedenen anderen auf der Kleinmesse von einem Amtswalter angehalten worden. Ein Kriminalbeamter in Zivil hat uns auf die Polizeiwache am Lindenauer Markt gebracht und unsere Namen festgestellt. Der Polizeibeamte hat uns gesagt, dass wir zur Bündischen Jugend gerechnet würden und dass wir lieber in 83 84 85 86 87 88

Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.22f. Vgl. Kircheisen, Erscheinungen, S.34f. und Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.19. Vgl. Urteilsschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.7. Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Ebda. S.19f. BArch NJ 9156 Bd.5, Bl.19 und Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.15f. Ebda. S.31.

182 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 die HJ gehen sollten.”89 Somit gab es bereits 1937 mehrere schwebende Verfahren beim Sondergericht Freiberg. Weitere Ermittlungen der Leipziger Gestapo führten ab Februar 1938 zu erneuten Verhaftungen. Als Langhans von der Verhaftung Prüfers erfuhr, vereinbarte er mit den anderen „Hundestart“-Mitgliedern bei eventuellen Verhören möglichst wenig von der Meute zu erzählen. Später wertete die Staatsanwaltschaft dies folgendermaßen: „Langhans will sich hierbei an Anweisungen gehalten haben, die ihm bereits im Jahre 1937 von anderen Meutenangehörigen über das Verhalten bei der Polizei erteilt worden seien. Langhans hatte diese Anweisungen auch schon bei mehreren Vernehmungen, die die Geheime Staatspolizei im Jahre 1937 vorgenommen hatte, befolgt, insbesondere ihre marxistische Einstellung zu verschweigen. Nach diesen Vernehmungen hatte er den anderen Meutenangehörigen regelmäßig mitgeteilt, zu was er befragt worden war. Sie machten sich damals innerhalb der Meute darüber lustig, dass die Polizei sie als Bündische Jugend ansah.”90

Bis April 1938 wurden 14 „Hundestart“- sowie einige „Reeperbahn“-Mitglieder in Untersuchungshaft genommen.91 Im Juli hatte die Gestapo ein „Personensachstandsverzeichnis” mit den Namen von 30 Jugendlichen erstellt, welche zum Großteil zum „Hundestart“ gehörten.92 Konnte die Gestapo den „harten Kern“ der Meute ermitteln und verhaften, so blieb beispielsweise der Freundeskreis aus früheren Roten Falken, der gelegentlich am „Hundestart“ verkehrte, zunächst unentdeckt und traf sich an anderer Stelle weiter.93

4.

Die Meute „Reeperbahn“ im Leipziger Westen

Der Leipziger Stadtteil Lindenau war ein dicht besiedelter Arbeiterbezirk, in den 20er Jahren im Volksmund auch das „rote Lindenau“ genannt. Zusammen mit dem benachbarten Stadtteil Plagwitz beherbergte es zahlreiche größere und kleinere metallverarbeitende Betriebe. Auch der weiter nördlich gelegene Stadtteil Leutzsch und das angrenzende Böhlitz-Ehrenberg waren teilweise Industriegebiete. Lindenau verfügte, mehr noch als die übrigen Leipziger Stadtteile, über ein eigenes urbanes Stadtteilzentrum mit dem Lindenauer Markt und drei größeren Kaufhäusern an der Straßenkreuzung Lützner/Ecke Merseburger Straße. Die

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BArch NJ 9156 Bd.5, Bl. 19. Anklageschrift Prüfer In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.32. Vgl. BArch NJ 9156, Bd.1, S.2f. Vgl. ebda. Bd.7, S.2. Vgl. Interview des Verfassers mit Wilhelm Endres am 27.03.2002 in Leipzig.

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Schlageterstraße (heute Georg-Schwarz-Straße) führt vom Lindenauer Zentrum über die Stadtteile Leutzsch bis nach Böhlitz-Ehrenberg in nordwestlicher Richtung aus der Stadt heraus. Gleich zu Beginn der Straße in Lindenau gab es zwei Kinos, mehrere Kneipen, eine Eisdiele und andere Geschäfte. Im Volksmund hieß dieser belebte Teil der Straße „Reeperbahn“, in Anlehnung an das Hamburger Pendant, jedoch ohne Rotlichtviertel. Es kann davon ausgegangen werden, dass der vordere Teil der Schlageterstraße bereits vor 1933 ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche aus dem Arbeitermilieu jenseits der Innenstadt gewesen war und sich deshalb zwangläufig wieder zu einem Treffpunkt entwickelte. Dort kamen nicht nur Jugendliche aus der näheren Umgebung zusammen, sondern auch aus entfernteren Stadtbezirken. Noch stärker als bei den anderen bekannten Leipziger Meuten bestand die Meute „Reeperbahn“ aus mehreren Freundeskreisen, welche sich zum Teil schon seit der Kindheit kannten. Hans Pflocksch (Jg. 1920) beispielsweise wurde bereits im Frühjahr 1933 als Schüler bei der Polizei aktenkundig. Er hatte mit etwa 15 Mitschülern der 44. Volksschule einen „Allgemeinen Klassenverein (A.K.V.)“ gegründet, dessen Vorsitzender er war. Die Gruppe fiel dadurch auf, dass ihre Mitglieder nach Polizeiangaben Abzeichen der „kommunistischen Arbeiterjugend“ trugen. Es ist aufgrund dieser Beschreibung davon auszugehen, dass Pflocksch und seine Freunde Mitglieder oder zumindest Sympathisanten des KJVD bzw. der Roten Jungpioniere waren.94 In der elterlichen Wohnung von Hans Pflocksch sollen regelmäßig Zusammenkünfte der Gruppe stattgefunden haben. Bei einer Durchsuchung fand man mehrere „kommunistische Broschüren“ sowie ein Quittungsbuch für eingezahlte Beiträge. Mehrere Mitglieder der Gruppe erklärten gegenüber der Polizei, dass sie sich „als Anhänger des Kommunismus deshalb zu einem solchen Verein zusammengeschlossen hätten, weil ja in ihrer Klasse ebenfalls viele national gesinnte Schüler seien.“95 Mit geradezu kindlicher Naivität hatte dieser Freundeskreis versucht, nach der „nationalen Erhebung“ in der eigenen Schulklasse ein politisches Gegengewicht zu setzen, allen massiven Verfolgungen von Linkssozialisten durch Polizei und SA in dieser Zeit zum Trotz. Offenbar gab es zu diesem Zeitpunkt unter den Volksschülern dieser Schule eine wachsende Anzahl, die dem Nationalsozialismus nahe stand. Juristisch gesehen hatte diese Angelegenheit für Hans Pflocksch keine Konsequenzen und wurde auch bei dem späteren Prozess gegen ihn im Zusammenhang mit der Meute „Reeperbahn“ nicht erwähnt. Nach Beendigung der Volksschule trat Pflocksch eine Lehre als kaufmännischer An-

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Er selbst gab später an, seit 1931 zu den „Freidenker-Pionieren“ gehört zu haben. Siehe BArch DY 55/V 241/7/39, VVN-Akte Bl.25. StAL PP-St 121, Bl.158, Ausschnitt aus polizeilichem Monatsbericht Mai 1933; GestapoErmittlungen um 1938 gegen Pflocksch kannten diesen Sachverhalt nicht und Pflocksch gab stets an, vor 1933 keiner Jugendorganisation angehört zu haben.

184 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 gestellter an. Für die Folgejahre ist ein Freundeskreis um ihn bekannt, der regelmäßig Ferienfahrten im Sommer unternahm. Beispielgebend ist auch der Weg von Wolfgang Donndorf (Jg. 1919) zur „Reeperbahn“.96 Vor 1933 gehörte er den Kinderfreunden und den Roten Falken an sowie einem Arbeitersportverein. Nach den Verboten traf er sich Sommer 1933 im Lindenauer Gartenverein seiner Eltern mit ehemaligen Mitgliedern linkssozialistischer Kinder- und Jugendverbände. Bei den gemeinsamen Heimabenden wurden Wanderlieder gesungen, frühere Arbeiterkampflieder hingegen nur gesummt. Um 1934 bekamen er und andere aus der Gruppe Kontakt zu einem ehemaligen Reichsbanner-Gruppenführer mit Namen Rudolf Eilenberger.97 Es wurde ein leer stehendes Waschhaus in der Lindenauer Calvisiusstraße als Heim angemietet.98 Eilenberger informierte die Jugendlichen dort über die Theoretiker und führenden Persönlichkeiten der früheren Arbeiterbewegung und führte mit ihnen politische Diskussionen. Nachdem ihnen das Waschhaus gekündigt wurde, traf man sich kurzzeitig auf Vorschlag Eilenbergers beim „Guttemplerorden“, einer freireligiösen Gemeinde.99 Dort lernte Donndorf mehrere spätere „Reeperbahn“-Mitglieder kennen, u. a. die Schieweg-Brüder.100 Der Kontakt zu Eilenberger brach in der Folgezeit ab. Der „Guttemplerorden“ wurde wenig später wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ polizeilich aufgelöst, weil bekannt wurde, dass sich dort frühere Mitglieder der SAJ und der Roten Jungpioniere trafen.101 Der Treffpunkt bei den „Guttemplern“ sowie die Gruppe um Rudolf Eilenberger zeigt deutlich, dass auch jenseits der in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen illegalen Gruppen von SAJ und KJVD, frühere Mitglieder versuchten sich weiter unter Gleichgesinnten zu treffen, wenn sie auch nicht nach außen aktiv wurden. Dabei lösten sich – wie an den Leipziger Meuten zu sehen – die Grenzen zwischen jugendlichen Anhängern der SPD und der KPD völlig auf. Die gemeinsamen aktuellen Interessen überwogen gegenüber den alten Feindschaften der Mutterparteien. Im Sommer 1935 traten Donndorf und die anderen in die Jugendgruppe des Deutschen Roten Kreuzes, Ortsgruppe Böhlitz-Ehrenberg ein. Hier trafen sich weitere Jugendliche, die später zur Meute „Reeperbahn“ gingen. Man unternahm mehrere Fahrten ins Erzgebirge, wo man mindestens einmal Gruppen ehemaliger Bündischer traf und sich austauschte. Als die Treffen beim Roten Kreuz zunehmend unattraktiv wurden, traf sich die Gruppe in der Folgezeit im 96 97 98 99 100 101

Erinnerungsbericht von Wolfgang Donndorf vom 18.11.1987, Privatarchiv Kircheisen. Donndorf vermutet, dass dies nur ein Pseudonym war. Eilenberger soll außerdem SPDund Kampfstaffel-Mitglied gewesen sein. Siehe Erinnerungsbericht W. Donndorf. Vgl. BArch NJ 87 Bd.1, Bl.14. Der Guttemplerorden beschäftigte sich v. a. mit der Bekämpfung des Alkoholismus. Vgl. BArch NJ 87 Bd.1, Bl.15. Vgl. BArch, NJ 6755, Bl.48.

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Lindenauer Palmengarten und am Gelände der Ortskrankenkasse. Hier wiederum lernten sie zwei ehemalige katholische Pfadfinder kennen, die Gebrüder Stawicki, welche im Stadtteil Gohlis ein Gartengrundstück als Treffpunkt angemietet hatten.102 Man traf sich mit ihnen dort einige Zeit, wo es auch zu intensiven politischen Diskussionen gekommen sein soll. Aufgrund „ideologischer“ Differenzen trennte man sich jedoch wieder.103 Spätestens Ende 1937/Anfang 1938 wurde die „Reeperbahn“ der regelmäßige Treffpunkt der Gruppe. Bereits 1935 soll die Schlageterstraße schon Treffpunkt für Jugendliche gewesen sein, die später zur Meute „Reeperbahn“ gehörten. Werner Hesse (Jg. 1922) war seit 1933 HJ-Mitglied. Er stieß nach eigenen Aussagen zu den abendlichen Treffen, da ihm dort ein Mädchen gefallen hatte. Nachdem er 1936 aus der HJ ausgetreten war, nahm er regelmäßig an den Zusammenkünften auf der Schlageterstraße teil.104 Aufgrund der Tatsache, dass die Meute „Reeperbahn“ aus mehreren Freundes- und Bekanntenkreisen bestand, ergibt sich eine wesentlich höhere Anzahl an Mitgliedern. Kircheisen schätzt die Gesamtzahl auf 80 bis 100 Mitglieder, was als durchaus realistisch angesehen werden kann. Bei jeder Meute, gegen die später die Gestapo ermittelte, wurden ein oder mehrere „Wortführer“ ermittelt. Darüber hinaus sind bei kleineren Gruppen nicht immer Anführer bekannt und es muss diese auch nicht zwangsläufig gegeben haben. Dennoch haben auch ehemalige Meutenmitglieder in späteren Interviews und Erinnerungsberichten „Wortführer“ benannt, die mit den Gestapo-Ermittlungen identisch waren. Für die Zeit um 1937 müssen für die „Reeperbahn“ Johannes Groß und Heinz Pala genannt werden, Kircheisen nennt außerdem Rolf Graf und Heinz Gottschalk.105 Später ermittelte die NSJustiz noch folgende Personen: „Führend traten 1938 bis 1939 in der Meute die Brüder Wolfgang und Rudolf Schieweg, Rolf Ackermann und Hans Pflocksch hervor.“106 Die bei den Mitgliedern der „Reeperbahn“ getragene Kluft unterschied sich im Großen und Ganzen nicht von der anderer Gruppen. Darüber hinaus gab es einige Besonderheiten, die hier Erwähnung finden sollen. Weit verbreitet waren rote Halstücher. Für das Meutenmitglied Ruth M. ist bekannt, dass ihr auf der Kleinmesse vom HJ-Streifendienst insgesamt viermal das rote Halstuch abgenommen wurde und sie sich dennoch ein neues kaufte.107 Das Verhalten von 102 103 104 105 106 107

Einer der Stawicki-Brüder war um 1936 bei den „Boy-Scout-Pfadfindern“ aktiv. Siehe Kapitel Bündische Jugend nach 1933. Vgl. Erinnerungsbericht Donndorf. BArch NJ 12339, Bl.18. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.96. BArch NJ 87, Bd.1. Vgl. ebda. Bl.22.

186 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Ruth M. zeigt, wie wichtig Jugendlichen das Tragen ihrer jugendkulturellen (und auch politischen) Symboliken war. Für zwei weitere weibliche Mitglieder ist bekannt, dass sie sich, angeblich um ihre Zugehörigkeit zur Meute zu zeigen, einen „Herrenschnitt“ zulegten.108 Ein weiteres Mädchen trug einen Trägerrock mit den Buchstaben „BJ“. 109 Darüber hinaus sind als besondere Merkmale Totenkopfringe, Trauringe und auch Edelweißabzeichen aktenkundig. Fast die Hälfte der Meutenmitglieder soll eine Stecknadel mit rotem Kopf getragen haben, um ihre linke Gesinnung zu zeigen.110 Ein Kreis um die Schieweg-Brüder trug von Wolfgang Schieweg gefertigte Messingmarken mit den eingestanzten Buchstaben „BJ“. Etwa 20 dieser Plaketten sollen damals hergestellt worden sein.111 Relativ weit verbreitet unter den Jungen waren außerdem Schlagringe.112 Für ein Mitglied ist der Besitz eines Gasrevolvers bekannt. Der Einsatz dieser Waffen ist, im Gegensatz zur Meute „Lille“, nicht aktenkundig. Das Fahrtenleben und die Freizeitgestaltung der „Reeperbahn“ waren vielfältig, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Mitglieder. Darum soll im Folgenden nur ein kleiner Überblick gegeben werden. Wie bereits im Zusammenhang mit der Meute „Hundestart“ erwähnt, gab es 1937 engeren Kontakt zwischen beiden Gruppen. Auf der Schlageterstraße selbst trafen sich die Jugendlichen abends und an den Wochenenden meist vor den Kinos, an einer Eisdiele oder gingen auf der angrenzenden Merseburger Straße und am Lindenauer Markt spazieren. Die Meute war dabei nicht als eine große Gruppe unterwegs, sondern teilte sich in mehrere kleinere. Das ehemalige Mitglied Herbert Kl. erinnerte sich später: „In der Schlageterstraße, da waren so 40 bis 45 Leute, die da rumschwirrten, mal waren es mehr, mal weniger. Wir haben uns auch viel in die Queckstraße zurückgezogen. Da war eine Jugenderziehungsanstalt, ein Heim für Schwererziehbare.“113 Eine der frühesten bekannt gewordenen Fahrten der Meute „Reeperbahn“ fand Anfang August 1937 nach Wermsdorf statt. Etwa 20 Jugendliche nahmen daran teil.114 Ein Mitglied der „Reeperbahn“ fuhr außerdem im Sommer 1937 nach Berlin, wo es am Brandenburger Tor ein Treffen zwischen gleich gesinnten Leipziger und Berliner Jugendlichen gegeben haben soll. Bei einer anschließenden Großrazzia auf dem Alexanderplatz wurde das „Reeperbahn“-Mitglied

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BArch NJ 87, Bd.1, Bl.20 u.21. BArch NJ 12339, Bl.22. Ebda., Schreiben des Oberstaatsanwaltes in Leipzig vom 13.7.1939. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.87. Interview des Verfassers mit Herbert Kl. am 8.5.2001 in Leipzig; Siehe auch BArch NJ 6755, Bl.12. Ein ehemaliges SAJ-Mitglied soll unter den Lindenauer Jugendlichen Schlagringe verteilt haben. Interview mit Herbert Kl. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.80

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festgenommen und saß 14 Tage in U-Haft.115 Im Winter 1937/38 trafen sich die einzelnen Freundeskreise entweder in Lindenauer Kneipen oder bei Mitgliedern zu Hause. Bei solchen Heimabenden in den elterlichen Wohnungen soll mehrmals Radio Moskau gehört worden sein.116 Mitte März 1938 wurde von einer größeren Gruppe Meutenangehöriger der Bayern-Ball des Zither-Clubs „Almenrausch“ besucht.117 Ein beliebter Treffpunkt in den wärmeren Monaten des Jahres 1938 waren die Lübschützer Teiche außerhalb Leipzigs, von Lindenau etwa 25 Kilometer in östlicher Richtung. Dort traf man auch andere Leipziger Meuten. Kleinere Gruppen unternahmen mit den Fahrrädern Fahrten in sächsische Städte, so nach Chemnitz, Dresden und Aue, wo es zu Begegnungen mit ähnlichen Jugendgruppen gekommen sein soll.118 Näheres ist hierzu nicht bekannt. Aktenkundig ist außerdem eine Großfahrt von vier Meutemitgliedern im Herbst 1938 nach Oberbayern.119 Im Winter 1938/39 kam es wieder zu Heimabenden von etwa einem Dutzend Jugendlichen, diesmal bei den Gebrüdern Schieweg, bei Pflocksch und anderen. Bei den Schiewegs wurde der Moskauer Rundfunk und Jazz-Musik auf ausländischen Sendern im elterlichen Radio gehört.120 Verschiedene Lindenauer Lokale sowie die Vorräume der Kinos in der Schlageterstraße waren in der kalten Jahreszeit ebenfalls wieder Treffpunkte.121 Ab dem Frühjahr 1939 wurden die Fahrten wieder aufgenommen, zum Baden an die Lübschützer Teiche oder den Elster-Saale-Kanal. Ende 1938, als die führenden Mitglieder des „Hundestarts“ und der „Lille“ bereits wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ vor dem Volksgerichtshof zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, fand sich um die Schieweg-Brüder ein Kreis von „Reeperbahn“-Mitgliedern zusammen, welcher sich ein- bis zweimal in der Woche abends in der Lindenauer Gastwirtschaft „Schwarzenberg“ an der Merseburger Straße in einem separaten Zimmer traf. In dieser Runde wurde neben dem geselligen Beisammensein auch über Meldungen von Radio Moskau gesprochen und darüber diskutiert.122 Des Weiteren waren die Verhaftungen von Jugendlichen aus anderen Meuten ein Thema. Man tauschte sich in diesem Zusammenhang darüber aus, „in welcher Weise man sich nach einem polizeilichen Verbot betätigen könne, ohne gegen das Verbot

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Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.81. Erinnerungsbericht Donndorf. Vgl. BArch NJ 6755, Bl.12. Interview mit Herbert Kl. Vgl. BArch R 3001/1177, Bl.299. Erinnerungsbericht von Rolf F. vom 22.7.1988, Privatarchiv Kircheisen. Interview mit Herbert Kl. Erinnerungsbericht Donndorf.

188 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 zu verstoßen.“123 Die seit dem Frühjahr 1938 einsetzende stärkere Verfolgung der Meuten in Leipzig hatte die „Reeperbahn“-Mitglieder realistisch zu dem Schluss kommen lassen, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis auch gegen sie ermittelt werden würde. Die Überlegungen, wie man weiter als Gruppe unter dem NS-Regime existieren könnte, zeigt, dass man gewillt war, seine eigene Nische jenseits des NS-Alltages zu erhalten, notfalls unter geänderten Bedingungen. Außerdem wurde einmal Geld für ein inhaftiertes weibliches Mitglied gesammelt.124 Daran wird deutlich, dass man sich nicht nur als ein loser Freundeskreis verstand, sondern als Teil einer (illegalen) Jugendbewegung und hierfür praktische Solidarität übte. In geselliger Runde sang man im „Schwarzenberg“. Ein Mitglied sagte später aus, dass „in Liedern anstelle ‚HJ’ oder ‚SA’ die Abkürzung für die Bündische Jugend ‚B.J.’ gesetzt wurde“.125 Neben den Schieweg-Brüdern gehörten zu dem Kreis Hans Pflocksch, Heinz Pala, Johannes Groß, Werner Wolf und andere. Insgesamt bestand die Gruppe im „Schwarzenberg“ aus etwa 20 bis 25 Jugendlichen.126 Die Treffen fanden bis zur Verhaftung der Beteiligten im Juni 1939 statt. Durch die politischen Gespräche, sowie die Auseinandersetzung mit verschiedenen Institutionen des NS-Staates, wie HJ und Polizei und der begonnenen Zerschlagung anderer Meuten, entstand aus dem „Schwarzenberg“-Kreis der Wille, politisch aktiv zu werden. Spätestens Anfang 1939 stellte man zunächst Streuzettel her. Die Gebrüder Schieweg verwendeten zur Herstellung einen Kinderstempelkasten. Die fertigen Zettel wurden unter den Meutemitgliedern verteilt. „Wir hatten jeder manchmal 10, 15 oder 20 Stück und wir haben sie im Wesentlichen an der Feuerwache geklebt, dort waren ja schöne Wände. Oder beim Karussell [auf der Kleinmesse, d.Verf.], wo die Eintrittspreise standen, dort wurde so ein Ding mit rangemacht, die waren ja nicht sehr groß, so etwa A5. Auf den Zetteln standen Parolen wie ‚HJ - schlagt sie tot!’ oder ‚Schlagt sie zu Brei!’ Ich würde sagen, eher primitive Sachen. Auch ‚Die Bündische Jugend lebt!’, solche Sachen, aber nichts gegen den Staat.“127

Auch in Lindenau selbst wurden die Zettel in einige Briefkästen geworfen, außen an Schaufenster geklebt oder im Kino auf den Sitzen liegengelassen.128 Dies waren Aktionsformen, welche 1933/34 auch die Kommunisten angewandt hatten und nun wieder aufgegriffen wurden. Es wird ihnen aus Gesprächen in 123 124 125 126 127 128

BArch NJ 87 Bd.1, Bl.14/15, Bericht der Staatsanwaltschaft. BArch R 3001/1177, Bl.306. BArch NJ 87 Bd.1, Bl.21; Im Originaltext steht statt „HJ“ nur „J“. Es lässt sich aus dem Zusammenhang erschließen, dass „HJ“ gemeint ist. Erinnerungsbericht Rolf F. Interview mit Herbert Kl. Interview des Verfassers mit Werner Wolf am 11.4.2001 in Leipzig.

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der Familie oder aus Zeitungsberichten bekannt gewesen sein, dass man wenige Jahre zuvor für solcherart Aktionen mit Gefängnis bestraft wurde und damit im Falle einer Entdeckung zu rechnen sei. Jugendlicher Leichtsinn kann somit nicht als alleiniger Antriebsmotor gelten, sondern vor allem politische Motive. Neben dem Ausleben ihrer jugendkulturellen Bedürfnisse in den ihnen zu diesem Zeitpunkt noch zur Verfügung stehenden Rückzugsgebieten (Treffpunkte, Fahrten) wurde der „Schwarzenberg-Kreis“ mit diesen Flugschriften gegen die verhasste Staatsjugend aktiv, und damit – bewusst oder unbewusst – auch gegen den NS-Staat als Ganzes. Als geeignetes Mittel sah man dafür die Stärkung und Ausbreitung der eigenen Jugendkultur an. Wolfgang Schieweg soll dazu den Plan gehabt haben, ein Flugblatt herzustellen mit dem Titel „Was ist BJ?“ Hierfür sprach er einige aus dem „Schwarzenberg“-Kreis an, ob sie ihn dabei unterstützen würden. Zum Beispiel sollte Hans Pflocksch mit seinem Motorrad bei der Verteilung helfen.129 Über den Inhalt des geplanten Flugblatts ist nichts überliefert. Durch die einsetzenden Verhaftungen im Frühsommer 1939 konnte das Vorhaben nicht mehr in die Tat umgesetzt werden. Mit welchem Selbstbewusstsein Meutenmitglieder gegenüber der HJ auftraten, dokumentiert ein Fall aus dem Jahre 1937. Anfang Juni standen mehrere Mitglieder der „Reeperbahn“ an einer Straßenecke unweit der Schlageterstraße. Als zwei Hitlerjungen an ihnen vorbeikamen, wurden diese angerempelt. Einen Tag später wurden zwei der beteiligten Meuteangehörigen von mehreren HJMitgliedern auf der Schlageterstraße angehalten, die ihnen nach einer Rempelei die roten Halstücher abnahmen. Eines der Meutemitglieder soll zu den Hitlerjungen gesagt haben: „Wenn ihr auf die HJ-Fahne geschworen habt, dann seid ihr Lumpen!“130 Am folgenden Tag sprach ein Meutemitglied einen der beteiligten Hitlerjungen auf der Schlageterstraße an und teilte diesem mit, dass er sich hier nicht mehr blicken lassen solle, weil man ihn sonst verprügeln würde. Er ignorierte diese Warnung und wurde am darauf folgenden Tag von Meutemitgliedern auf der Straße überfallen. Die Jugendlichen besetzten den öffentlichen Raum in ihrem Wohnviertel und behaupteten sich gegen die Staatsjugend auf der Straße. Offensichtlich trat ihnen außer der Polizei und der HJ niemand ernsthaft entgegen, was zu diesem Selbstbewusstsein führte. Neben selbst gefertigten Streuzetteln und gelegentlichen Rempeleien auf der Straße gab es weitere Aktivitäten gegen die HJ, welche ab Ende 1938 zunahmen. So sind mehrere militante Aktionen gegen HJ-Heime bekannt. Im Winter 1938/39 verstopfte eine Gruppe „Reeperbahn“-Mitglieder, unter ihnen Werner Wolf aus dem „Schwarzenbergkreis“, die Schornsteine eines HJ-Heims im Stadtteil Stötteritz.131 Ein geplanter Anschlag auf ein HJ-Heim in Schkeuditz bei

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Vgl. BArch R 3001/1177, Bl.300 und 304. HStAD 2Js/SG 202/38, Bl.11. Interview mit W. Wolf.

190 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Leipzig im Frühjahr 1939 scheiterte nur aufgrund einer Fahrradpanne, da somit eine schnelle Flucht nicht mehr gewährleistet war.132 Das neu gebaute „Hermann-Göring-Heim“ in der Nähe des Kleinmessegeländes wurde im Frühjahr 1939 Ziel eines Anschlages. Etwa zehn „Reeperbahn“-Mitglieder fuhren mit ihren Fahrrädern dorthin, zerstörten Schaukästen und Fensterscheiben und beschädigten durch Steinwürfe das Mobiliar im Inneren.133 Die Staatsanwaltschaft vermutete hinter weiteren Aktionen in Lindenau ebenfalls Mitglieder der „Reeperbahn“: „So wurden vor einiger Zeit in einem Straßenzug nachts eine größere Zahl von Hakenkreuzfahnen, die vom Erdboden zu erreichen waren, abgerissen; am 20.4.1939 wurden in einer anderen Straße Schaufenster, in denen anlässlich des Geburtstages des Führers Führerbilder oder Büsten aufgestellt waren, durch Glasschneider angeritzt und beschädigt; in der gleichen Gegend wurden seit 1937 mehrfach Zettel mit dem Aufdruck ‚Nieder mit Hitler’ verteilt.“134

Darüber hinaus kam es immer wieder zu Pöbeleien gegen HJ-Mitglieder. Größere Schlägereien wie im Zusammenhang mit der Meute „Lille“ sind für die Lindenauer jedoch nicht bekannt. Mit ihren vielfältigen Aktivitäten gegen die HJ unterschied sich die Meute „Reeperbahn“ vom „Hundestart“. Trug man dort seine kommunistische Einstellung (oder zumindest das, was man als Jugendlicher darunter verstand) an der Kleidung demonstrativ zur Schau, gingen Teile der „Reeperbahn“ noch weiter und schritten zur Tat. Diese Aktionen verstärkten sich Ende 1938/Anfang 1939 zu einem Zeitpunkt, als die Repressionen zunahmen und die Meute „Hundestart“ bereits zerschlagen war. Schon im Frühjahr 1937 wurden mehrere „Reeperbahn“-Mitglieder bei der Gestapo aktenkundig. Auf der Schlageterstraße und vor allem auf der Kleinmesse führte man immer wieder die Jugendlichen der dortigen Polizeiwache zu und sprach ihnen ein „Trachtenverbot“ aus. Zum damaligen Zeitpunkt gingen die Ermittler noch davon aus, dass es sich um Angehörige der Bündischen Jugend handeln würde. Einige Mitglieder saßen zum Teil mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Im Januar 1938 verhaftete die Polizei elf „Reeperbahn“Mitglieder, die sich in der Gaststätte „Hoffnung West“ getroffen hatten. Erst nach einer Woche wurde der Großteil von ihnen wieder entlassen.135 1937 und 1938 lagen darum mehrere Ermittlungsverfahren wegen Betätigung für die Bündische Jugend beim Sondergericht in Freiberg, welche wegen fehlender stichhaltiger Beweise bzw. einer 1938 verkündeten reichsweiten Amnestie eingestellt wurden. 132 133 134 135

Vgl. BArch R 3001/1177 Bl.307. Erinnerungsbericht Rolf F. Schreiben des Oberstaatsanwaltes in Leipzig vom 13.7.1939, BArch NJ 12339, unpag. Herbert Kl. erinnerte sich, dass für den 20.4.1939 eine Aktion geplant gewesen ein soll. StAL PP-S 8512, Eingangsbücher des Polizeigefängnis 1938, Eintrag vom 22.1.1938.

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Immer wieder kam es außerdem zu Razzien der Gestapo mit Unterstützung der Schutzpolizei auf der Schlageterstraße. Einige der Beamten waren den Jugendlichen inzwischen dem Ansehen nach bekannt. Rolf S. erinnerte sich an eine Razzia im Frühjahr 1939: „Da waren einige ganz besonders eifrig. Einen nannten sie ‚Die blaue Bohne’. Der hatte immer mit der Pistole rumgefuchtelt und gerufen ‚Ich schieß dir ´ne blaue Bohne in den Arsch!’ Er hatte mich dann später auch verhaftet und regelrecht in die Polizeiwache geprügelt.“136 Diese polizeilichen Aktionen hatten zunächst keinen Einfluss auf die weiteren Treffen. Die wohl spektakulärste Razzia, welche gleichzeitig durch die Verhaftungsaktion das Ende der „Reeperbahn“ besiegelte, fand am 8. Juni 1939 statt und war eine Gemeinschaftsaktion von Gestapo, HJ-Streifendienst und Schutzpolizei. An diesem Tag befanden sich wie immer mehrere Gruppen von Meuteangehörigen auf der Schlageterstraße. Plötzlich erschien eine größere Anzahl von HJ-Mitgliedern in Zivil, vermutlich vom Streifendienst, welche Schlägereien mit den Meutemitgliedern anzettelten. Wolfgang Donndorf erinnerte sich später, dass die HJ-Angehörigen riefen: „Ihr bündischen Schweine! Euch werden wir es beweisen!“137 Zeitgleich fuhr die Gestapo vor und verhaftete alle bekannten „Reeperbahn“-Mitglieder, stellenweise auch in ihren umliegenden Wohnungen. Die Verhafteten brachte man zunächst in die Polizeiwache am Lindenauer Markt. Bei der abendlichen Überstellung ins Polizeigefängnis Wächterstraße sollen nach Erinnerungen eines der Verhafteten vor der Lindenauer Polizeiwache Angehörige der Jugendlichen gestanden haben, die immer wieder riefen: „Lasst unsere Söhne frei!’ oder ‚Gebt unsere Kinder heraus!’“138 Sollte dies wirklich so stattgefunden haben, zeugt es von dem Mut und Selbstbewusstsein der Eltern, welche teilweise vor 1933 der linkssozialistischen Arbeiterbewegung angehörten. Die noch in Freiheit verbliebenen letzten „Reeperbahn“-Mitglieder, unter ihnen Wolfgang Schieweg, trafen sich zunächst weiter und überlegten sogar, ob sie für die stattgefundenen Verhaftungen als Vergeltung ein HJ-Heim zerstören sollten. Im Juli und August fuhren außerdem noch einzelne Mitglieder sonntags an die Lübschützer Teiche.139 Bis Ende August wurden auch die Übrigen verhaftet. Bekannt ist, dass es im Umfeld der Schlageterstraße noch weitere Freundeskreise gab, die als Meuten zu bezeichnen sind. Neben mehreren Jugendlichen aus Leutzsch, welche sich oft auch auf der „Reeperbahn“ aufhielten, sind außerdem vier Jungen der Jahrgänge 1919 bis 1922 aus Böhlitz-Ehrenberg na-

136 137 138 139

Interview des Verfassers mit Rolf S. am 14.3.2002 in Leipzig. Erinnerungsbericht Donndorf. Erinnerungsbericht Rolf F. Vgl. BArch NJ 12339, Bl.19f.

192 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 mentlich bekannt, wovon zwei in der verlängerten Lindenauer Schlageterstraße wohnten, welche in Böhlitz-Ehrenberg Adolf-Hitler-Straße hieß.140 Für Lindenau selbst ist der Treffpunkt einer Meute am Busbahnhof in der Lützner Straße bekannt.141

5.

Meuten im Leipziger Zentrum

Unter dem Leipziger Zentrum ist die Innenstadt zu verstehen, an die die Vorstädte direkt grenzen. Auch aus dem Innenstadtring sind Treffpunkte von Meuten überliefert. Die Petersstraße, eine der Hauptgeschäftsstraßen der Innenstadt, war in den späten 30er Jahren neben der Kleinmesse ein Ort, wo Meutenmitglieder aus verschiedenen Gruppen zum „Flanieren“ hingingen und dadurch Kontakt untereinander aufbauten. Teilweise wurde die Petersstraße bereits in dieser Zeit von Jugendlichen „Broadway“ genannt. Wenn auch die Gestapo bei ihren späteren Ermittlungen zunächst von einer eigenständigen Meute ausging, so kann dies für diesen Zeitpunkt nicht bestätigt werden. Am nordwestlichen Rand der Innenstadt befand sich der Matthäikirchhof. Nach Aussagen eines „Hundestart“-Mitgliedes soll es dort eine Meute „Matthäikirchhof“ gegeben haben, welche unter der Leitung eines Bäckerlehrlings stand, der dort in einer Bäckerei arbeitete.142 Weitere Informationen zu dieser Gruppe ließen sich nicht finden.

a.

„St.-Pauli“-Meute und Meute „Gerberstraße“

Treffpunkt der „St.-Pauli“-Meute war die Eberhardstraße in der Leipziger Nordvorstadt, am Rande des Stadtzentrums unweit des Hauptbahnhofes. Wie es zu dem Namen kam, ist nicht überliefert, ebenso wenig, ob die Nordvorstadt zu dieser Zeit an den bekannten Hamburger Stadtteil erinnerte und deshalb als Namensgeber fungierte. Ab dem Sommer 1937 kann die Existenz der Gruppe nachgewiesen werden.143 In dieser Zeit stieß auch der Markthelfer Paul Mockry (Jg. 1919) zur Meute, welcher nur eine Querstraße entfernt in der Gerberstraße wohnte. Er wurde später als Wortführer der Meute „Gerberstraße“ bezeichnet.144 Aufgrund der räumlichen Nähe kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser 140 141 142

143 144

Vgl. HStAD 1Js/SG 1402/37, Bl.38. Interview mit Herbert Kl. Vgl. BArch NJ 12339, Bl.20; Die Matthäikirche befand sich auf dem Grundstück des später errichteten ehemaligen Gebäudes der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit. HStAD SG Freiberg 2Js/SG 260/38, Bl.4. Vgl. BArch NJ 9156 Bd.4, Bl.15, Aussage eines „Hundestart“-Mitgliedes beim Verhör.

5. Meuten im Leipziger Zentrum

193

und der „St.-Pauli“-Meute zumindest zeitweise um ein und dieselbe Gruppe gehandelt hat. Möglicherweise bestanden in der Eberhardstraße und in der Gerberstraße zunächst zwei Gruppen, die im Sommer 1937 miteinander verschmolzen. Als im Frühjahr 1938 die Gestapo gegen sie ermittelte, wurden zunächst elf Namen von Mitgliedern aktenkundig.145 Wenig später gab es bereits 25 Verdächtige „in der Sache Mockry u. a.“146 Neben Mitgliedern, die in der unmittelbaren Umgebung der Eberhardstraße bzw. am nordwestlichen Rand der Innenstadt wohnten, sind auch zwei aktenkundig, die im Leipziger Süden zu Hause waren. Bei einem von ihnen traf sich die Gruppe mehrmals in der Connewitzer Auerbachstraße zu Heimabenden. Dort soll die Meute, begleitet von einem Schifferklavier, Fahrtenlieder gesungen haben. Für den Herbst 1937 sind zwei Fahrten der Gruppe aufs Land bekannt. Das Gruppenmitglied Alfred Grabenstätter (Jg. 1921) unterhielt zudem Kontakte zur „Texas“-Meute an den Großmarkthallen. Im Februar 1938 wurden mehrere Mitglieder der Gruppe von der Gestapo verhaftet, spätere Verurteilungen sind jedoch nicht bekannt. Grabenstätter und ein weiteres Mitglied wechselten in dieser Zeit zur Meute „Lille“ im Leipziger Osten.147

b.

Die Meute „Johannisthal”

Im September 1937 gründete das „Hundestart”-Mitglied Heinz Krause eine eigene Meute im Seeburgviertel, welches sich östlich an die Innenstadt anschließt, und gab ihr den Namen „Bündische Antifaschistische Jugendorganisation” (BAJO). Dies ist der einzige bekannte Meutenname, der eine explizit politische Ausrichtung hat. Aus diesem Grund soll kurz näher auf Heinz Krause (Jg. 1919) eingegangen werden: Er war bis 1932 bei den Kinderfreunden organisiert und trat 1933 in die Nationalsozialistische Jugendbetriebszelle ein, aus der er in die HJ überführt wurde. Nachdem ihn die HJ wegen unbefugten Tragens von Führerabzeichen ausgeschlossen hatte, zog er aus beruflichen Gründen von Leipzig nach Mecklenburg und wurde dort Mitglied der Motor-HJ. Im Frühjahr 1937 kehrte er nach Leipzig zurück und wohnte im Seeburgviertel. Bei der Leipziger HJ meldete er sich nicht wieder an. Im Sommer des gleichen Jahres bekam Krause Kontakt zur Meute „Hundestart“, bei der er in der Folgezeit unter dem Spitzname „Doktor“ verkehrte. Auf seine Mütze brachte er den

145 146 147

HStAD SG Freiberg 2Js/SG 260/38, Bl.4. HStAD SG Freiberg 2Js/SG 701/38; Es konnte nicht restlos geklärt werden, ob alle 25 zur „St.Pauli“-Meute gehörten, bei 17 Personen ist es jedoch sicher. Vgl. auch KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.115ff.

194 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 bereits erläuterten Schriftzug „bud cadoff – secetacedoff“ an.148 Möglicherweise gab Willi Prüfer vom „Hundestart“ Krause die Anregung, in seinem Wohnviertel eine Meute zu bilden. Kircheisen spricht in diesem Zusammenhang von einer „künstlichen Gründung“.149 Treffpunkt der Meute war eine Kleingartenanlage, welche sich dem Seeburgviertel in östlicher Richtung anschließt. Ein Meutemitglied sagte bei einer späteren Vernehmung aus: „Dort haben wir uns nur harmlos unterhalten. Es wurde auch dort erzählt, dass man hier und da wieder mal einen HJ-Jungen erwischt hatte, den man vertrümmt hatte. Es erzählte eben jeder seine Abenteuer.”150 Auch ein gemeinsamer Besuch der Kleinmesse ist für die Meute bekannt. Die Gruppe soll aus sechs Jungen und zwei Mädchen bestanden haben. Heinz Krause besorgte für alle Mitglieder rote Halstücher als Erkennungsmerkmal. Darüber hinaus hatte er beabsichtigt, Mitgliedskarten mit einem „BAJO“Stempel anzufertigen, was aus Kostengründen scheiterte. Die Gruppe soll bereits nach 14 Tagen wieder auseinandergefallen sein, angeblich, weil es wegen der Mädchen zu Streitereien gekommen war.151 Der Name „Bündische Antifaschistische Jugendorganisation“ verdient genauere Betrachtung, obgleich sich die Gruppe in ihrem Erscheinungsbild und Verhalten kaum von anderen Meuten unterschied. An der Namensgebung wird die Adaption und Transformation der beiden Jugendkulturen – bündische und linkssozialistische – in der zweiten Hälfte der 30er Jahre unter den Arbeiterjugendlichen deutlich, ebenso das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Bewegung. Unter der Bezeichnung „antifaschistisch“ manifestierte sich nicht nur eine Ablehnung der konkurrierenden HJ, sondern in der Endkonsequenz auch des gesamten NS-Staates. Gleichwohl beschränkte sich die Gruppe in der Praxis auf das öffentliche Zur-Schau-Stellen von roten Halstüchern als sichtbares Zeichen ihrer Sympathien zur (früheren) linkssozialistischen Arbeiterbewegung sowie auf Schlägereien mit Vertretern der Staatsjugend. Die oben beschriebene personelle Zusammensetzung der Gruppe lässt vermuten, dass es keine intensiven politischen Gespräche gegeben hat, wie dies für Mitglieder der Meute „Lille“ sowie für den „Schwarzenberg-Kreis“ der Meute „Reeperbahn“ überliefert ist. Wenn es letztlich der „BAJO“ auch nur um ein plakatives Zur-Schau-Stellen ging, so zeigt dies, wie scheinbar sicher und ungestört die Gruppe sich zu dieser Zeit in Leipzig bzw. in ihrer Wohngegend gefühlt haben muss. Weder HJStreifendienst noch Schutzpolizei oder Gestapo scheinen als allmächtiger Repressionsapparat wahrgenommen worden zu sein. Dies ist umso verwunderlicher, als die von den Nationalsozialisten ausgelöste Terrorwelle des Jahres 1933

148 149 150 151

Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, 1995, FicheNr.0691f., S.17ff. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.119. Vgl. BArch NJ 9156, Bd.2, S.8. Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand. FicheNr.0691f., S.20.

5. Meuten im Leipziger Zentrum

195

sich tief in das kollektive Gedächtnis der (früheren) Mitglieder der linkssozialistischen Arbeiterbewegung eingebrannt hatte. Um 1937 schien das NS-System unter den Jugendlichen teilweise seinen Schrecken verloren zu haben. Anders ist das Tragen von roten Halstüchern und solcherart Namensgebung nicht zu erklären.

c.

Meute Sidonienstraße und „Texas“-Meute

Die Sidonienstraße in der Inneren Südvorstadt ist eine Querstraße zur damaligen Adolf-Hitler-Straße (heutige Karl-Liebknecht-Straße) unweit des Bayrischen Bahnhofs. Hier traf sich (mindestens) eine Gruppe, weil mehrere Jugendliche aus der Meute in der Straße wohnten. Im Kapitel „Bündische Jugend nach 1933“ wurde bereits die „Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“ beschrieben, welche sich größtenteils aus früheren Pfadfindern aus der Sidonienstraße zusammensetzte. Die Gestapo verstand unter der Meute „Sidonienstraße“ jedoch den im Kapitel zur dj 1.11 beschriebenen Rudolf Dietrich und seine Freunde, welche sich ebenfalls in der Sidonienstraße trafen. Einen Zusammenhang zwischen den beiden Freundeskreisen wurde von Seiten der Gestapo bei ihren Ermittlungen 1936 nie hergestellt. Es ist hingegen aktenkundig, dass sich Mitglieder aus beiden Freundeskreisen, Fritz Schütze und Rudolf Dietrich, mindestens seit Ende 1936 kannten.152 Neben den Treffen auf der Straße kam diese Gruppe, welche zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Personen umfasste, Ende 1936 öfters in Eisdielen der näheren Umgebung zusammen. Auch war die Gruppe in der Innenstadt unterwegs. Trugen sie 1936 als Kluft noch dunkle Jungenschaftsblusen und blanke Koppelschlösser, so soll sich die Meute Anfang 1937 bunt karierte Hemden zugelegt haben.153 Sie verkehrten im Frühjahr 1937 auf der Kleinmesse und hatten Kontakt zu anderen Gruppen und Einzelpersonen. In diesem Zusammenhang wurden sie 1937 mehrmals verhaftet. Mindestens zwei Mitglieder der „Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“ aus der Sidonienstraße waren 1937 außerdem bei der „Texas“-Meute aktiv, welche sich zwei Kilometer entfernt an den Großmarkthallen in der Zwickauer Straße unweit des Technischen Messegeländes im Südosten der Stadt traf. Es kann davon ausgegangen werden, dass die übrigen Mitglieder der Meute „Sidonienstraße“ auch Kontakt zur „Texas“-Meute hatten. Dieser Name ist eine der wenigen Selbstbezeichnungen einer Meute. Der Ursprung des Namens ist ungeklärt. Wenngleich der Treffpunkt nicht mehr zum Leipziger Zentrum gezählt werden kann, soll die Gruppe aufgrund ihrer teilweisen personellen Überschneidung 152 153

Vgl. HStAD 2Js/SG 202/38, Bl.4. Vgl. ebda.

196 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 mit Mitgliedern der Meute „Sidonienstraße“ und der „St.-Pauli“-Meute in diesem Zusammenhang behandelt werden. Im Gegensatz zu allen anderen bekannten Meutentreffpunkten befand sich dort kein Wohngebiet. Möglicherweise handelte es sich bei einigen Mitgliedern um Markthelfer der Großmarkhallen, welche sich nach Arbeitsschluss dort noch aufhielten.154 Zwei der „führenden Personen“ waren Heinz Richter155 und Hans Stawicki, welche zuvor bei der „Boy-Scouts-Pfadfinderschaft“ aktiv waren. Kontakt hatte die Gruppe auch zu Alfred Grabenstätter, einem Mitglied der „St.-Pauli“-Meute. Für Anfang 1938 ist eine Fahrt nach Hochburg bekannt. Die Meute existierte mindestens zwischen 1937 und 1938. Wie viele Mitglieder sie insgesamt hatte, konnte nicht geklärt werden.

6.

Meuten im Leipziger Süden

Neben der Meute Sidonienstraße, welche aufgrund personeller Überschneidungen dem Leipziger Zentrum zugerechnet wurde, sind für den Süden der Stadt zwei Meuten bekannt.

a.

Die Meute „Arndtstraße“

Treffpunkt dieser Meute war die Arndtstraße, eine Querstraße der Adolf-HitlerStraße, in der eher bürgerlich dominierten Südvorstadt. Analog der Meute „Sidonienstraße“ ist dieser Treffpunkt nahe der Kaiser-Wilhelm-Straße (der heutigen August-Bebel-Straße) nicht wie bei der Connewitzer Meute oder bei der Meute „Reeperbahn“ an einem urbanen Stadtteilzentrum entstanden, sondern in erster Linie aus der Nähe zu den Wohnungen der Mitglieder. Schon seit der Schulzeit bestand ein fünfköpfiger Freundeskreis um die Brüder Rolf und Werner Fritzsche (alle Geburtsjahrgänge zwischen 1921 und 1923), der sich gelegentlich in der Arndtstraße traf. Bis auf Werner Fritzsche, der als Arbeitsbursche arbeitete, waren alle anderen Lehrlinge. Fritzsche war vor 1933 kurze Zeit Mitglied im „Bund Entschiedenes Christentum“ gewesen. Ein anderer gehörte dem CVJM an und trat 1933 ins Jungvolk ein. 1936 wurde er in die HJ überwiesen, der er bis zu seiner Verhaftung angehörte. Er ging auch noch, als er schon Mitglied der Meute war, mittwochs zu den Heimabenden der HJ, wofür er manchmal von den übrigen Gruppenmitgliedern ausgelacht wur-

154 155

Vgl. KIRCHEISEN, Erscheinungen, S.110. Richter war Markthelfer. Ob er in den Großmarkthallen arbeitete, ist nicht bekannt.

6. Meuten im Leipziger Süden

197

de.156 Diese Parallelmitgliedschaft in einer Meute und bei der HJ stellt im Übrigen eine absolute Ausnahme für alle Meuten dar. Drei der Jugendlichen waren zuvor HJ-Mitglieder, zum Teil schon seit 1932. Nur von einem Mitglied sind Kontakte zur Arbeiterbewegung bekannt. Er soll nach Gestapo-Angaben vor 1933 bei der „Roten Kinderschar“ gewesen sein.157 Als „Wortführer“ der Meute galt der 1921 geborene Harry Bogacki, der das Drei-Pfeile-Abzeichen der „Eisernen Front“ trug.158 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass für Bogacki vor 1933 kein Kontakt zur Arbeiterbewegung bekannt ist. Er trug dieses Abzeichen um 1938 augenscheinlich, weil er darunter eine antifaschistische Aussage verstand.159 Dies zeigt, dass die inzwischen zerschlagene linkssozialistische Arbeiterbewegung auch noch unter Jugendlichen Interesse und Sympathien weckte, welche in der Weimarer Zeit nicht mit ihr in Kontakt gekommen waren. Im Frühjahr 1938 besuchten einige von ihnen ein Volksfest im Rundling im Stadtteil Lößnig-Dölitz, einer Wohnanlage, welche sich im Süden Leipzigs befindet. Nur einer von ihnen trug damals schon die typische Kluft. Dort lernte die Gruppe einen Jugendlichen aus dem Stadtteil Mockau kennen, der mit ihnen den Plan gefasst haben soll, eine „bündische Meute“ zu gründen. Zur Gruppe kamen dann nach Polizeiangaben noch weitere Jungen und außerdem drei Mädchen. „Als bündische Tracht wurde bestimmt: Kurze schwarze Lederhose, weiße Strümpfe, bunt kariertes Hemd, Trachtenhosenträger, Zweckenkoppel, Jungenschaftsbluse, rotgeblumtes Halstuch. Zur Tracht wurde von einigen das Edelweißabzeichen oder ein Totenkopfring getragen. […] Die Jugendlichen […] grüßen sich mit ‚Servus’.“160 In der Folgezeit traf sich die Meute fast täglich, meist mittwochs und sonnabends. Bei den Gesprächen soll es oft um die Lohnpolitik gegangen sein, wobei nach Angaben der Staatsanwaltschaft „auf die Regierung geschimpft wurde.“161 Laut Anklageschrift soll das Mitglied Herbert Rothe „besonders stark“

156 157

158

159 160 161

StAL, VdN-Akte v. Heinz Illing Nr.12559, unbeglaubigte Abschrift der Anklageschrift vom 25.1.1939, Bl.4. Diese für eine Kindergruppe unbekannte Bezeichnung ist möglicherweise ein Phantasiename aus der Hand des ermittelnden Gestapobeamten. Illing gab bei seinem OdF-Antrag 1947 an, Mitglied bei den Kinderfreunden gewesen zu sein, außerdem waren seine Eltern SPD-Mitglieder. Vgl. StAL, VdN-Akte Nr.12559. Die Eiserne Front wurde 1931 als republikanischer Kampfbund gegründet und war ein Zusammenschluss von SPD, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Allgemeinen freien Angestelltenbundes (Afa-Bund) und Arbeiter Turn- und Sportbundes (ATSB) im Widerstand gegen den aufkommenden NS. Bogacki hätte eine frühere Mitgliedschaft in einer linkssozialistischen Organisation in jedem Fall in seinem OdF-Antrag erwähnt. Siehe StAL, VdN-Akte 13920. StAL, VdN-Akte von Heinz Illing Nr.12559, Anklageschrift vom 25.1.1939, Bl.3f. Ebda. Bl.4.

198 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 gegen die HJ eingestellt gewesen sein: „Die Hitlerjugend bezeichnete er nicht anders als Ha-itler.“162 Die Gruppe unternahm mehrere Fahrten in das Leipziger Umland, zumeist an den Wochenenden. Im Sommer 1938 gingen sie auf eine zehntägige Großfahrt nach Garmisch-Partenkirchen. Des Weiteren traf man sich zu Heimabenden in den elterlichen Wohnungen. In Interviews des Verfassers mit früheren Mitgliedern verschiedener Meuten konnte sich keiner der Befragten konkret an Texte umgedichteter Lieder erinnern, wie es von den westdeutschen Edelweißpiraten bekannt ist. Auch wurde in den Gestapo-Verhören nicht explizit danach gefragt. Die Beamten interessierten sich lediglich, ob Lieder aus der Arbeiterbewegung gesungen wurden. In der Anklageschrift gegen die Meute „Arndtstraße“ sind hingegen ein Gedicht und ein umgestalteter Liedtext dokumentiert. Schubert, der der Mockauer Meute zuzurechnen ist, dichtete demnach die Zeilen: „Und wollt ihr uns bekämpfen, B.J. wird bestehen! Und wollt ihr uns unterdrücken, B.J. wird nicht untergehen.“

Werner, der jüngere der Fritzsche-Brüder, dichtete außerdem das Volkslied „Droben im Oberland“ um. Im Original heißt es dort: „Schießen wir den Rehbock zusammen fällt er oder fällt er nicht fällt er nicht, so bleibt er stehen.“

Er machte daraus: „Hauen wir die HJ zusammen, fällt sie oder fällt sie nicht, fällt sie nicht, so bleibt sie stehen, zur BJ musst du gehen.“163

Dieses Lied wurde von der Meute gesungen, so zum Beispiel bei einem Heimabend. Es war der Gruppe bekannt, dass es in Leipzig auch noch andere Meuten gab. Kontakte zur in der Nachbarschaft agierenden Meute „Sidonienstraße“ sind nicht belegbar, jedoch wahrscheinlich. Nach zahlreichen Verhaftungen im Verlauf des Jahres 1938 planten nach späteren Ermittlungen der Staatsanwalt162 163

StAL VdN-Akte Nr.12559, Bl.7. Ebda. Bl.4.

6. Meuten im Leipziger Süden

199

schaft die beiden Jugendlichen der Mockauer Meute „auf diese Festnahme dadurch zu antworten, dass Plakate mit dem Schubertschen Gedicht öffentlich angeklebt würden“.164 Beide wollten, dass die Meute „Arndtstraße“ für die Mockauer Plakate herstellte, was Bogacki ablehnte. Er wollte hingegen für die eigene Meute solche Zettel anfertigen lassen. Rolf Fritzsche und Heinz Illing stellten daraufhin etwa 100 Zettel her, wozu Fritzsche seinem Vater heimlich 100 gummierte Etiketten entwendete. „Da die Etiketten zu klein waren, um mit den von Fritzsche verwendeten Typendruckkasten den gesamten Text aufzubringen, druckte Fritzsche nur die Worte: Es lebe die B! J! Bündische Jugend Fritzsche stellt etwa 90 solche Zettel her. Illing brachte mit einer Schreibmaschine den Text des Schubertschen Gedichtes vollständig auf etwa 10 Zettel. Am 10. September 1938 wurden bei einem Treff die Zettel von Rolf Fritzsche verteilt. Dieser bezeichnete auch die Klebestellen, während Bogacki anordnete, dass je 2 Mann beim Zettelkleben zusammengehen sollten. Es war damit nicht nur eine Antwort auf die Festnahme von Angehörigen der Meute ‚Lille’ beabsichtigt, sondern auch eine Propaganda für die Bündische Jugend. Schließlich sollte auch durch die Zettel die HJ geärgert und in Unruhe gebracht werden.“165

Die Klebeaktion wurde in verschiedenen Stadtteilen durchgeführt. Bei den späteren Gestapo-Verhören sagten sie aus, nur einige wenige Zettel geklebt und den Rest aus Angst vernichtet zu haben. Es ist davon auszugehen, dass dies Schutzbehauptungen waren.166 An dieser Aktion wird nochmals das Zugehörigkeitsgefühl der Gruppe zu andern „bündischen Jugendlichen“ in der Stadt deutlich. Es sind keinerlei Kontakte zwischen Mitgliedern der „Lille“ und der „Arndtstraße“ bekannt. Dennoch wurde von der Meute „Arndtstraße“ eine Solidaritätsaktion für die inhaftierten „Lille“-Mitglieder durchgeführt. Die zunehmende Verfolgung der Gruppen durch die Gestapo führte nicht zu einem Rückzug der Jugendlichen ins Private, sondern erzeugte das Gegenteil. Vergleichbare Aktionen sowie das Umdichten von Liedern sind außerdem vom „Schwarzenberg-Kreis“ bekannt, welcher jedoch eindeutig einen linkssozialistischen Hintergrund hatte. Dies war bei der Meute „Arndtstraße“ hingegen kaum der Fall. Daran wird sichtbar, dass 164

165 166

StAL, VdN-Akte Nr.12559. In der Abschrift heißt es bezüglich des Zeitpunktes der Entschlussfindung: „Als im September 38 Angehörige der Meute ‚Lille’ festgenommen wurden.“ Hier muss eine Verwechslung vorliegen, besonders wenn sich die Zahl 38 nicht auf das korrekte Jahr sondern die Personenanzahl bezieht. Die meisten Mitglieder der Meute Lille waren bereits Anfang Juli inhaftiert worden. StAL, VdN-Akte Nr.12559, Bl.5. Vgl. ebda. Bl.5ff.

200 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 auch Jugendliche ohne linkssozialistische Wurzeln sich entschieden und offensiv für die „Bündische Jugend“ als ihre Jugendkultur einsetzten. Wie die Gestapo auf die Meute aufmerksam wurde, ist bislang unbekannt. In der Anklageschrift steht nichts von Verhaftungen im Zusammenhang mit der Klebeaktion. Fest steht, dass bereits einen Tag später ein erstes Mitglied verhaftet wurde, zwei weitere Ende September. Um einer drohenden Verhaftung zu entgehen, fuhren drei Mitglieder nach Hamburg, vermutlich mit der Idee, auf einem Schiff anzuheuern und Deutschland zu verlassen.167 Es ist nicht bekannt, ob sie in der Hansestadt Bekannte hatten, die sie besuchen wollten. In Hamburg wurden sie aus unbekannten Gründen verhaftet und kurze Zeit später zurück nach Leipzig überführt. 1949 gab Rolf Fritzsche an, dass sie ihre Arbeitsverhältnisse wegen des zu niedrigen Lohnes beendet hätten und deshalb nach Hamburg gegangen waren.168

b.

Die Connewitzer Meute

Die Connewitzer Meute wurde bei den späteren Gestapo-Ermittlungen nicht als Gruppe verfolgt, sondern nur einzelne Mitglieder. Darum bekam diese Meute von Seiten der NS-Verfolgungsorgane keinen Namen. Auch eine Selbstbezeichnung der Gruppe ist nicht bekannt. Der Stadtteil Connewitz befindet sich im Süden Leipzigs. Auch hier wohnten Arbeiterfamilien, die vor 1933 vor allem bei den Sozialdemokraten organisiert waren. Dennoch war Connewitz kein typisches dicht bebautes Arbeiterquartier, sondern hatte stellenweise schon Vorstadtcharakter. Es wohnten hier außerdem nicht wenige kleinbürgerliche Familien, welche ebenfalls vor 1933 mit den Sozialdemokraten sympathisiert hatten. Viele Connewitzer Arbeiterjugendliche sollen bei den Roten Falken und der SAJ organisiert gewesen sein.169 Urbanes Zentrum des Stadtteils war das Connewitzer Kreuz, wo sich mehrere Hauptverkehrsstraßen gabeln. Die Gruppe traf sich abwechselnd vor zwei Kinos, welche sich unweit des Kreuzes befanden, das „Universaltheater“ in der damaligen Pegauer Straße (heute Wolfgang-Heinze-Straße) und in der Bornaischen Straße das „Centraltheater“. Zwischen diesen beiden Kinos „flanierte” ab Mitte der 30er Jahre immer etwa ein Dutzend Jugendliche. „Das Stückchen vor dem Kino am Kreuz, das war für uns der ‚Broadway’. Wir wurden von dort auch immer mal weggejagt vom Kinobesitzer oder seinem Handlanger. Wir

167

168 169

Solcherart „romantische“ Vorstellungen von einem Leben auf See außerhalb Deutschlands sind auch für zwei Mitglieder der Meute „Reeperbahn“ benannt. Vgl. Interview mit Rolf S. StAL, VdN-Akte von Rolf Fritzsche Nr.15277, OdF-Antrag von 1949, unpag. Interview des Verfassers mit Horst Geisenhainer am 6.8.2002 in Leipzig.

6. Meuten im Leipziger Süden

201

gingen also um die Ecke zu dem anderen Kino in der Bornaischen Straße. Da war aber nicht so viel los. In der Pegauer waren auch mehr Mädchen mit da, also sind wir dann wieder zurückgegangen.”170 Da die Connewitzer Meute von späteren Gestapo-Ermittlungen weitestgehend verschont blieb, sind kaum Namen von Mitgliedern überliefert. Die im Folgenden erwähnten Jugendlichen können darum nicht als Wortführer angesehen, sondern sollen stellvertretend für andere dargestellt werden. In der Connewitzer Meute fanden sich sowohl frühere Mitglieder linkssozialistischer Jugendorganisationen der Geburtsjahrgänge um 1920 zusammen als auch einige etwas ältere Jugendliche, welche vor 1933 verschiedenen Jugendbünden angehörten. Die meisten Mitglieder wohnten in der Nähe des Connewitzer Kreuzes, einige andere in der angrenzenden Südvorstadt. Darüber hinaus gab es in der Gruppe Heranwachsende, welche Jazz- und Swing-Musik hörten. Das Interesse an angloamerikanischer Kultur ist für Jugendliche aus anderen Meuten Ende der 30er Jahre weitgehend unbekannt, kann aber nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Ein eher untypisches, aber nicht weniger interessantes Beispiel ist Horst „Broadwaykastanie” Geisenhainer (Jg. 1922) aus einem Elternhaus mit sozialdemokratisch geprägtem Vater und einer christlich orientierten Mutter. Vor 1933 war er zunächst zur Christlichen Jungschar der Connewitzer PaulGerhard-Gemeinde gegangen, einige Zeit später mit einem Schulfreund zur „Jungenschaft Schill“ der Andreas-Gemeinde in der angrenzenden Südvorstadt. Da es ihm dort schon zu „braun“ zuging, wechselte er zur Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder und hatte anschließend Kontakt zu Mitgliedern der Deutschen Freischar im Leipziger Süden. Die Verbindungen zu den verschiedenen bündischen Gruppen bekam Geisenhainer durch Mitschüler der Oberschule in der Südvorstadt, welche er zeitweise besuchte. Er verließ das Gymnasium vorzeitig ohne Abitur und absolvierte anschließend eine Lehre. Um 1936 stieß er zu den abendlichen Treffen vor dem UT-Kino. „Ich ging damals fast jeden Abend ins Kino auch wegen der Musik. Der Jazz kam in den Filmen. Es gab damals noch amerikanische Filme. Ich hatte die ‚Broadwaymelodien’ 1936 oder 1938 gesehen, da sah man Stepptanz und Swingmusik. So kam man auf die Namen von Benny Goodman und Louis Armstrong. Es gab welche bei uns, die waren ein, zwei Jahre älter, die hatten Schallplatten und die Musik hatte mir also sehr gut gefallen, auch Countrymusik.”171

Johannes Pawlisch (Jg. 1920) ging auf der Volksschule in die Parallelklasse von Horst Geisenhainer. Vor 1933 war Pawlisch bei den Kinderfreunden und später bei den Roten Falken organisiert. Nach 1933 bekam er Kontakt zu früheren 170 171

Interview mit Geisenhainer. Ebda.

202 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Pfadfindern, welche vier bis fünf Jahre älter waren. Mit ihnen unternahm er mehrere Fahrten, traf sich aber auch am Connewitzer Kreuz mit Jugendlichen aus seinem Wohnviertel.172 Die Gesamtstärke der Connewitzer Meute betrug zwischen 10 bis 15 Jugendliche.173 Die Meute trug die gleiche Kluft wie die anderen Gruppen. „Wir sind in weißen Strümpfen gegangen und hatten auch Koppelschlösser. Auf denen war eigentlich der Hoheitsadler drauf, wir sagten der Pleitegeier. Den Adler hatte ich abgemacht und die glatte Fläche poliert und vernickelt, denn blanke Koppelschlösser waren auch ein Erkennungsmerkmal. Ich hatte außerdem ein Flanellhemd, kariert mit schwarz und rot.”174 Obgleich mehrere Mitglieder aus sozialdemokratischem Elternhaus kamen und mindestens einer aus kommunistischem,175 wurde die Connewitzer Meute – im Gegensatz zu den drei bekannten Leipziger Meuten – weniger durch politische oder jugendkulturelle Versatzstücke der linkssozialistischen Arbeiterjugend geprägt. Aufgrund der Kontakte zu älteren Bündischen orientierten sich mehrere Mitglieder vorrangig in diese Richtung. Pawlisch erinnerte sich an Besuche der Motette des Thomanerchores in der Thomaskirche. Auch nahm er an Fahrten in die Leipziger Umgebung teil, wie an die Lübschützer Teichen und die Steinbrüche bei Brandis. Hierbei ging nicht die Connewitzer Meute als Gruppe auf Fahrt, sondern Pawlisch schloss sich den älteren Bündischen an. „Aber mit fortschreitenden Jahren wurden dann die HJ-Streifendienste immer aktiver und dann sind wir nicht mehr zu zweit oder zu dritt oder noch mehr gefahren, sondern einzeln, also Sternfahrten, und hatten uns dann dort erst getroffen. [...] Um 1937/38 waren wir mal in Beucha mit einer schwarzen Fahne mit einer Lilie drauf, also so eine bündische Fahne. Die habe ich auch 1938 am Reformationstag auf der Burg in Saaleck mit dem Willy Kind gehisst.”176 Von den älteren Bündischen bekam Pawlisch den Tipp, sich von seinen Eltern einen Zettel schreiben zu lassen, falls er unterwegs bei Fahrten vom HJ-Streifendienst angehalten werden würde. Darauf stand sinngemäß: „Mein Sohn ist unterwegs zu seinem Cousin nach Delitzsch.”177 Darüber hinaus unternahm er mit einem Connewitzer Bekannten, den er von den Kinderfreunden kannte, Trampfahrten quer durch Deutschland. Pawlisch war außerdem mit Willy Kind mehrere Male bei den jüdischen Pfadfindern in deren Heim in der Elsterstraße gewesen. Andere Mitglieder der Connewitzer Gruppe, unter ihnen Horst Geisenhainer, trafen sich im Sommer im Connewitzer Waldbad, wo man mit einem Kof172 173 174 175 176 177

Interview mit Pawlisch. Nach Geisenhainers Erinnerungen trafen sich immer etwa ein Dutzend Jugendliche vor dem UT-Kino. Interview mit Geisenhainer. Werner Jagodzinski (Jg. 1922); Sein Vater war KPD- und RFB-Mitglied. Vgl. StAL, VdNAkte 26800. Interview mit Pawlisch. Ebda.

6. Meuten im Leipziger Süden

203

fergrammophon Schellackplatten hörte. Wieder andere Gruppenmitglieder pflegten Kontakte zu anderen Meuten in Leipzig und besuchten diese in verschiedenen Stadtteilen. Neben den Treffs vor den beiden Kinos in Connewitz gingen kleinere Gruppen in den umliegenden Straßen und der angrenzenden Südvorstadt spazieren. Ein Grund war, dass man den Streifen der Stadtpolizei und dem HJStreifendienst, den man in der Gruppe als „Pfeifendienst“ bezeichnete, aus dem Weg gehen wollte.178 Die ablehnende Haltung gegenüber der HJ mündete auch in kleinere Aktionen. „Wir hatten ein paar Mal einen Schaukasten eingekloppt an der Andreaskirche, Adolf-Hitler-Straße/Ecke Scharnhorststraße. Später hatten wir den bloß ausgeräumt und was anderes reingehängt, irgendwas Gezeichnetes bzw. eine Bemerkung, eine Glosse.”179 Diese und weitere Aktionen wurden bei der Polizei aktenkundig, ohne dass man die Täter ermitteln konnte. Im Januar 1938 meldete beispielsweise die Schutzpolizei in der Nähe des Connewitzer Kreuzes, dass „an Schaukästen der HJ und an anderen öffentlichen Orten Abzeichen der ‚Bündischen Jugend’ in Form von Siegelmarken mit der aufgedruckten Pfadfinderlilie angeklebt wurden“.180 Mitte des Jahres 1938 entdeckte man außerdem am Ortseingangsschild Leipzig in der Koburger Straße in Connewitz den aufgeklebten Zusatz „Reichsmeckerstadt“ in Anspielung auf „Reichsmessestadt“.181 Leipzig war zu dieser Zeit für seine relativ schlechten Wahlergebnisse für die Nationalsozialisten bekannt. Unter den Jugendlichen wurden auch tagespolitische Ereignisse besprochen und aktuelle Witze darüber ausgetauscht. Ein überlieferter Witz bezog sich direkt auf den eigenen Stadtteil. Die von der Innenstadt zum Connewitzer Kreuz führende Hauptverkehrsstraße hieß damals Adolf-Hitler-Straße. Unter den Jugendlichen erzählte man sich folgenden Witz: „Die Adolf-Hitler-Straße wird wieder umbenannt. – Warum? – Hitler will nicht am Kreuz enden.”182 Weitere Witze bezogen sich auf den Ausspruch Hermann Görings „Kanonen statt Butter“ sowie den „Röhm-Putsch“. Dies lässt vermuten, dass solcherart politische Witze nicht nur unter Erwachsenen heimlich weitererzählt, sondern auch von Jugendlichen „aufgeschnappt“ wurden. Die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen schienen Mitte/Ende der 30er Jahre für die Meutenmitglieder kein Hinderungsgrund zu sein, diese Witze zu verbreiten. Die Gestapo hatte bereits seit 1936/37 Kenntnis von der Meute. Der Treffpunkt vor dem UT-Kino in der damaligen Pegauer Straße (heutige WolfgangHeinze-Straße) soll zu dieser Zeit sogar zeitweise von Gestapo-Beamten von

178 179 180 181 182

Interview Geisenhainer. Interview mit Pawlisch. StAL PP-V 4965, Bl.132. Ebda. Bl.110f. Interview mit Pawlisch.

204 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 einer gegenüberliegenden Wohnung aus beobachtet worden sein.183 Dennoch wurden von den Connewitzern nur einzelne Mitglieder verfolgt und nicht die gesamte Gruppe. Im Februar 1939 verhaftete man einige Meuteangehörige, einen mitten aus dem Unterricht in der Berufsschule heraus.184 Eine Verhaftungswelle wie bei den anderen bekannten Gruppen schloss sich nicht an. Vermutlich wurden die Inhaftierten im Zusammenhang mit anderen Leipziger Meuten aktenkundig.

7.

Meuten im Leipziger Norden

Während für alle Leipziger Stadtviertel, in denen Arbeiterfamilien wohnten, Meuten nachgewiesen werden konnten, gibt es für die dicht besiedelten Stadtteile Eutritzsch und Gohlis bislang kaum konkrete Hinweise für Gruppen. Gleichwohl sind mehrere Jugendliche im Zusammenhang mit anderen Meuten aktenkundig geworden, welche ihren Wohnsitz im Leipziger Norden hatten. Besonders für Eutritzsch, welches vor 1933 über eine organisierte Arbeiterschaft verfügte, muss die Existenz mindestens einer Gruppe angenommen werden. Darüber hinaus wohnten auch im als vorwiegend bürgerlich zu bezeichnenden angrenzenden Stadtteil Gohlis zahlreiche Arbeiterfamilien. In den Untersuchungen für den Zeitraum vor 1933 konnte festgestellt werden, dass auffallend viele Mitglieder und Führer konfessioneller und nichtkonfessioneller Jugendbünde im Norden Leipzigs wohnten. Möglicherweise haben sich Jugendliche jenseits der HJ nach 1933 mehr im Umfeld der christlichen Jungscharen der jeweiligen Kirchgemeinden bewegt. Weiterführende Untersuchungen konnten aufgrund der diesbezüglich ungenügenden Quellenlage nicht getätigt werden. Dennoch waren als „Bündische Jugend“ bezeichnete Jugendgruppen in diesen Stadtteilen aktiv. Im Januar 1938 berichtete die Schutzpolizei Abschnitt Nord, dass die „Bündische Jugend“ Briefe mit gegen die HJ gerichteten Inhalte verbreiten würde.185 Das 24. Revier der Schutzpolizei, zwischen Eutritzsch und Gohlis-Nord gelegen, meldete wenige Wochen später, dass aus einer Gastwirtschaft in ihrem Zuständigkeitsbereich 54 Jungen und 15 Mädchen verhaftet worden sind, „weil der Verdacht einer Zusammenkunft der ‚bündischen Jugend’ bestand.“186 Die große Anzahl von Jugendlichen in diesem Zusammenhang lässt vermuten, dass sich hier mehrere Gruppen getroffen haben, da die Meuten in den meisten Fällen kaum über eine Gesamtzahl von 15 bis 20 Personen hi-

183 184 185 186

Telefoninterview des Verfassers mit J. Pawlisch am 3.5.2003. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.120. StAL PP-V 4965, Bl.114. Ebda. Bl.148.

8. Meuten im Leipziger Umland

205

nauskamen. Gleichwohl dürfte es sich bei diesem Treffen nicht um namentlich bekannte Meuten gehandelt haben, da von diesen keinerlei Kontakte in den Leipziger Norden aktenkundig sind. Der einzige nähere Hinweis für eine Gruppe in Gohlis stammt aus einem Erinnerungsbericht. Der Kreuzungsbereich Hallische Straße (heutige GeorgSchumann-Straße)/Ecke Lindenthaler Straße soll ein Treffpunkt von Jugendlichen aus der näheren Wohngegend gewesen sein und wurde von der Gruppe „Broadway“ genannt. Diese Bezeichnung einer belebten Hauptverkehrsstraße war in den 30er und vor allem in den 40er Jahren unter Jugendlichen in Leipzig üblich. Ein Mitglied dieser Meute soll später auch bei der „Reeperbahn“ verkehrt sein.187 Für den nördlichen Stadtteil Möckern kann die Existenz einer weiteren Gruppe bestätigt werden. Mehrere dort wohnende Jugendliche, welche nicht HJ-Mitglieder waren, unter ihnen ein früheres Mitglied der Roten Jungpioniere, hatten ab Mitte der 30er Jahre Kontakt zu einem Rudolf Bauer (Jg. 1911). Dieser war vor 1933 Funktionär beim KJVD in Wiederitzsch gewesen, einem Ort an der nördlichen Stadtgrenze. Bis 1935 saß Bauer wegen illegaler Betätigung für die KPD in Haft.188 Nach seiner Haftentlassung hatte er Jugendliche in einem Mandolinenverein gesammelt und unternahm mit ihnen und den oben erwähnten Jugendlichen Wanderfahrten.189 In Mockau, einem Stadtteil am nordöstlichen Rand von Leipzig, gab es ebenfalls eine Meute. Treffpunkt der Gruppe war ein Platz in der Nähe des GrafZeppelin-Hofs. Es sind drei Jungen namentlich bekannt, zur Gruppe sollen auch Mädchen gehört haben. Zwei der Mockauer hatten Kontakte zur Meute „Arndtstraße“ in der Südvorstadt und auch Jugendliche der Meute „Lille“ besuchten Anfang 1938 die Gruppe in Mockau.190 Eine Meute „Lindenthal“ taucht dem Namen nach in den Gestapo-Akten auf, ohne dass Personen namentlich bekannt sind. Es ist davon auszugehen, dass es sich um eine Gruppe Jugendlicher handelte, welche im nordwestlich an Leipzig angrenzenden Ort Lindenthal wohnten und sich dort trafen. Näheres ist über diese Gruppe nicht aktenkundig.

8.

Meuten im Leipziger Umland

Die Bildung von informellen Jugendgruppen aus dem Arbeitermilieu war keine rein großstädtische Erscheinung. Auch für das Leipziger Umland können solche

187 188 189 190

Erinnerungsbericht Rolf F. StAL SED-Erinnerungen V/5/ 446. StAL Rat des Bezirkes Leipzig VdN Nr.17385. HStAD 2Js/SG 701/38.

206 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Jugendgruppen in dieser Zeit nachgewiesen werden. Eine davon war die „Pegauer Meute“. Pegau ist ein kleiner Ort etwa 25 Kilometer südlich von Leipzig. Parallel zu den Gruppen in Leipzig bildete sich ab Mitte der 30er Jahre ein Freundeskreis, welcher eine ähnliche Kluft trug wie die Leipziger Meuten. Namentlich sind elf Jungen und zwei Mädchen der Geburtsjahrgänge 1921 bis 1923 bekannt. Hinzu kamen noch weitere Jugendliche, sodass die Gruppe eine Stärke von bis zu 20 Personen gehabt haben wird.191 Der später von der Gestapo als einer der „Wortführer“ bezeichnete Kurt Lorenz (Jg. 1911) war der einzige Ältere und arbeitete in Leipzig. Ende der zwanziger Jahre gehörte er der SAJ an und später den Naturfreunden. 1932 hatte er sich in Pegau an Unruhen vor dem Rathaus beteiligt und war deshalb „wegen schweren Aufruhrs mit schwerem Landfriedensbruch“ zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden.192 Von Fritz Fischer, dem zweiten „Wortführer“ der Meute, ist ebenfalls bekannt, dass er vor 1933 einer „marxistischen Organisation“ angehört hatte.193 Es sind darüber hinaus von weiteren Jugendlichen Mitgliedschaften bei den Kinderfreunden und dem „kommunistischen Sportverein Rot Sport“ aktenkundig. Fritz Fischer war von 1934 bis 1935 Jungenschaftsführer beim Jungvolk. Möglicherweise trat er dort ein, weil in diesem ländlichen Raum zuvor das Jungvolk nicht oder kaum existierte und er sich erhoffte (analog verschiedenen bündischen Bestrebungen in den Großstädten), dort weiter mit Gleichgesinnten ein Gruppenleben pflegen zu können bzw. die Entwicklungen im Jungvolk in diese Richtung zu lenken. Dafür spricht, dass er sich von der Staatsjugend abwandte, als er vom Jungvolk in die HJ übertreten sollte. Die zeitweilige Mitgliedschaft in der HJ ist für ein weiteres Gruppenmitglied aktenkundig, außerdem war eines der Mädchen vor 1933 bei der evangelischen Jugend und anschließend beim BDM. Die Kleidung der Gruppe unterschied sich nur unwesentlich von der der Leipziger Meuten. So war für die Pegauer Gruppe ein Käppi charakteristisch, welches alle Gruppenmitglieder trugen. Seit 1938 gab es regelmäßige Treffen, meist in den Pegauer und Groitzscher Eisdielen, sowie Fahrten ins Umland, u. a. an die Lübschützer Teiche, wo man auf Mitglieder der Leipziger Meuten traf. Außerdem wurden Schützenfeste in Pegau, Groitzsch und dem nahe gelegenen Zwenkau besucht. Auf einem Pegauer Schützenfest lernten sie drei Leipziger Meutenmitglieder kennen, mindestens einer von ihnen war Mitglied der Meute „Lille“. Die Leipziger trugen Halstücher, welche sich einige Pegauer daraufhin ebenfalls zulegten. Zwei der Leipziger verkehrten in der Folgezeit bei den Pegauern und unternahmen mit ihnen auch gemeinsame Fahrten. Die Leipziger Kleinmesse wurde von Gruppenmit-

191 192 193

Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.109. BArch NJ 14278, Bl.30. Ebda. Bl.29.

8. Meuten im Leipziger Umland

207

gliedern ebenfalls besucht. Die Kontakte zu Gruppen von und nach Leipzig waren vielfältig und ähnelten den Verbindungen, die die Leipziger Meuten untereinander pflegten. Ein Mitglied der Pegauer soll außerdem Zettel geklebt haben mit der Aufschrift „Die Bündische Jugend lebt noch! Rot Front!“.194 Hieran wird nochmals die Mitte der 30er Jahre erfolgte Verschmelzung von bündischen und linkssozialistischen Versatzstücken zur „Bündischen Jugend“ sichtbar. Um weniger aufzufallen versuchte sich die Gruppe im Frühjahr 1939 zweimal bei der KdF-Ortsgruppe in Groitzsch als Wandergruppe anzumelden, was jedoch aus formalen Gründen scheiterte. Aufgrund von nicht näher bekannten Hinweisen beobachtete 1939 die Leipziger Gestapo die Gruppe und verhaftete Ende Oktober 1939 Kurt Lorenz sowie in den folgenden Wochen weitere Mitglieder. Von den Festgenommenen kamen mehrere in Untersuchungshaft und schließlich vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft sah in der Pegauer Meute eine Gruppe, die sich bewusst an den Leipziger Meuten bzw. an der „Bündischen Jugend“ orientierte.195 Auch für Oschatz, einer Kleinstadt etwa 65 Kilometer östlich von Leipzig, ist die Existenz einer Jugendgruppe analog zu den Leipziger Meuten bekannt. Fast alle Mitglieder sollen vor 1933 den Roten Falken bzw. den Kinderfreunden angehört haben. Die Gruppe hatte regelmäßige Treffs und führte Wanderfahrten durch. Außerdem wurde von den Mitgliedern „die so genannte Gleichtracht der oppositionellen Jugend getragen. […] Es handelt sich […] um die gleiche Erscheinungsform, wie sie in wesentlich größerem Umfange in Leipzig zutage getreten ist.“196 Von der Gruppe sind zehn Jungen und fünf Mädchen namentlich bekannt. Gegen mehrere Mitglieder lief im Juni 1939 ein Verfahren vor dem Sondergericht Freiberg wegen „Neubildung von Parteien“, mindestens einer saß zu dieser Zeit in Leipzig in Untersuchungshaft ein. Es ist nicht bekannt, ob es zu einer Anklage gekommen ist. Diese beiden Gruppen sollen beispielhaft zeigen, dass die Meutenbildung zu dieser Zeit auch in kleineren Orten möglich war und somit nicht zwangsläufig eine großstädtische Erscheinung darstellte. Hervorzuheben ist, dass bei den beiden angeführten Beispielen jeweils frühere Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen entscheidend an der Gründung der Meuten beteiligt waren. Es ist davon auszugehen, dass es in weiteren Kleinstädten in der Nähe Leipzigs ebenfalls solche Arbeiterjugendgruppen gegeben hat. Darüber hinaus wurde von früheren Meutenmitgliedern berichtet, dass sie bei Fahrten in andere sächsische Städte wie Chemnitz, Aue oder Dresden ähnliche Gruppen getroffen

194 195 196

BArch R 22/1177, Bl.380. BArch NJ 14278, Bl.30. HStAD 2Js/SG 359-370/39.

208 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 hatten.197 Zu längerfristigen Verbindungen kam es zwischen den verschiedenen Städten nicht.

9. a.

Die Verfolgung der Leipziger Meuten Die Arbeit der Gestapo

Die Verfolgung der vermeintlichen oder tatsächlichen illegalen Bündischen Jugend nach 1933 fiel in die Zuständigkeit der Gestapo, Abteilung IV der politischen Abteilung des Leipziger Polizeipräsidiums.198 Für die erste Zeit der Verfolgung illegaler Bündischer um 1935 ist namentlich Hauptkommissar Erich Finger bekannt.199 Für 1937 kann man aus den Eingangsbüchern des Leipziger Polizeigefängnisses ersehen, dass sich ein Beamter namens Klötzer und auch einer der berüchtigten Wilke-Brüder mit diesen Gruppierungen beschäftigte.200 Zwischen 1935 und 1937 hatte sich die Gestapo mit den illegalen Fortführungen von Jugendbünden aus der Weimarer Zeit in Leipzig befasst (siehe Kapitel Bündische Jugend nach 1933). Für den zeitweiligen Inbegriff illegaler bündischer Gruppen, die dj 1.11, konnte Ende 1936 die Gestapo keine „Wahrnehmungen“ mehr in Leipzig machen, auch nicht der HJ-Streifendienst. Anfang 1937 stellte die Gestapo jedoch fest, dass sich weiterhin mutmaßliche Angehörige der Bündischen Jugend „mit einer auffälligen einheitlichen Kleidung kennzeichnen“.201 Besonders auf der Leipziger Kleinmesse waren diese Jugendlichen gruppenweise präsent. Die Gestapo verhaftete dort kurzzeitig mehrere Jugendliche zur Personenfeststellung, hatte aber verstärkt Probleme, ihnen Vergehen nachzuweisen, da diese sich – im Gegensatz zu den Anhängern der dj 1.11 – nicht als Mitglieder einer bündischen Gruppierung verstanden, dennoch aber „Gleichtracht“ trugen. Ab Anfang 1938 stellte die Leipziger Gestapo zwei Beamte ab, die Kriminaloberassistenten Walther und Pilz, die sich ausschließlich mit den vermeintlich bündischen Jugendlichen beschäftigten.202 Hier zeigt sich deutlich, dass man den Meuten erhöhte Aufmerksamkeit schenkte, was nur mit der zuneh197 198 199 200

201 202

Interview mit Herbert Kl. und W. Endres. Zum Aufbau und Organisation siehe SCHMID: Gestapo Leipzig, S.10f. Zur Gestapo im deutschen Reich siehe DAMS/STOLLE: Gestapo. Vgl. PABST: Aufzeichnungen, S.64. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.110/111; Die Gestapo-Beamten Herbert und Omar Wilke waren für ihre brutale Verfolgung der KPD und deren Nebengliederungen nach 1933 bekannt. Siehe SCHREIBER: Politische Polizei, S.159ff. StAL PP-V 4860, Bl.52. StAL PP-S 8512 und PP-S 8513, Gefängnistagebücher des Leipziger Polizeigefängnis 1938 und 1939.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

209

menden Verbreitung dieser Jugendbewegung in Leipzig erklärt werden kann. Obgleich Pilz von Zeitzeugen als straffer NS-Uniformträger und später strenger Verhörer beschrieben wurde, machte die Gestapo zunächst keinen sonderlich einschüchternden Eindruck auf die Jugendlichen. „Standen wir irgendwo am Abend auf der ‚Reeperbahn’, wussten wir, dass der gerade vorbeikommende Mann von der Gestapo ist und Pilz heißt und dass der danebengehende Walther heißt und ebenfalls zur Gestapo gehört. Nein – ernst genommen haben wir das sicher alle miteinander nicht, dazu waren wir viel zu jung, fassten das mehr oder weniger als Kraftprobe auf.“203

Dies deckt sich mit den Ausführungen des damaligen Dresdner Generalstaatsanwalts in einer Unterredung über die Verfolgung der Leipziger Meuten im August 1939 in Berlin. Er berichtete, dass für die Bekämpfung der Bündischen Jugend nur zwei ältere Kriminalbeamte zur Verfügung stehen würden, welche den Jugendlichen bekannt seien und darum Zugriffe meinst „ins Leere“ stießen. Der bei der Unterredung anwesende Vertreter des Oberreichsanwaltes aus Berlin meinte sogar, der Grund, warum die Meuten noch nicht zerschlagen sind, liege darin, dass die Polizei in Leipzig die „Sache habe etwas treiben lassen“.204 Zwei Gestapo-Beamte konnten aus nahe liegenden Gründen nicht eine Jugendbewegung in Leipzig zerschlagen, von der sie selbst sagten, dass diese etwa 1.500 Jugendliche umfasse. Sie waren auf Zuarbeiten angewiesen. Die Leipziger Schutzpolizei leitete hierfür ihre Erkenntnisse an die Gestapo weiter und leistete besonders bei Razzien an Meuten-Treffpunkten personelle Unterstützung. Vor allem hat es durch den HJ-Streifendienst eine umfangreiche Zuarbeit gegeben.205 Ehemalige Meutenmitglieder berichteten später, dass sie auf Fahrten manchmal vom HJ-Streifendienst fotografiert wurden. Bei späteren GestapoVerhören legte man ihnen diese Bilder als Beweise vor.206 Neben der Schutzpolizei und dem HJ-Streifendienst ist noch weitere Zuarbeit dokumentiert. Im Februar 1939 erhielt ein Mitarbeiter des Lehrbetriebs der Leipziger Verkehrsbetriebe einen Anruf aus der Berufsschule. Ihm wurde berichtet, dass einer der Lehrlinge seit November 1938 nicht mehr der HJ angehörte und der Verdacht bestünde, dass dieser Kontakte zur Bündischen Jugend pflegen würde. „Diese Angaben genügten mir, K. sofort zu vernehmen. Er leugnete jede Zugehörigkeit [...], gab mir aber, nachdem ich entsprechenden Druck auf ihn ausgeübt hatte, nach langem Zögern die Adressen von 6 Personen bekannt [...]. Ich hatte ihm zuvor zugesichert, daß er als Angeber dieser 203 204 205

206

Erinnerungsbericht Rolf F.. GRUCHMANN: Jugendopposition. In: BENZ (Hg.): Miscellanea. S.111. „Die Polizei wird in dieser Angelegenheit durch Hinweise der HJ gut unterstützt“, heißt es in einem Tätigkeitsbericht der Leipziger Schutzpolizei für Dezember 1937, StAL PP-V 4965, Bl.115. Interview mit W. Endres.

210 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Adressen nicht genannt würde.“207 Der eifrige Mitarbeiter brachte den Lehrling anschließend zur Gestapo. Von einem Lehrmeister eines anderen Betriebes ist bekannt, dass dieser einen Lehrling anwies, nicht weiter bei der Bündischen Jugend zu verkehren. Der betreffende Jugendliche war kurz zuvor von der Gestapo auf der Kleinmesse verhaftet worden. Offenbar hatten sich die Beamten anschließend mit dem Lehrmeister in Verbindung gesetzt.208 Denunziationen von Privatpersonen gegen Jugendliche aus dem Wohnumfeld der Meuten sind hingegen kaum überliefert. Im Tätigkeitsbericht der Schutzpolizei Leipzig-West findet man folgenden Fall: „Am 18.8.38 führte der Kaufmann Herbert Modes [...] den Boten Horst Götze [...] dem 18. Revier zu, weil er angeblich Kleidungsstücke verbotener Jugendorganisationen trug.“209 Gerade Denunziationen aus dem näheren Wohnumfeld, sowohl aus politischen als auch aus privaten Motiven waren zwischen 1933 und 1935 immer wieder Ursache für Verhaftungen von illegalen Mitgliedern verbotener linkssozialistischer Organisationen gewesen.210 An den ab Mitte der 30er Jahre vermehrt auftretenden Jugendgruppen nahm hingegen kaum jemand aus der (erwachsenen) Bevölkerung Anstoß. Dies mag zum einen daran gelegen haben, dass die für Sachkundige sichtbaren Unterschiede der Meuten-Kluft zur HJ- oder Jungvolkuniform möglicherweise für unbeteiligte Erwachsene nicht immer erkennbar waren. Zum anderen haben sich diese Jugendgruppen offenbar nicht so „rüpelhaft“ in der Öffentlichkeit benommen, dass Mitbürger für den Staat Handlungsbedarf sahen und entsprechende Hinweise an die Polizei gaben. Es ist aber möglich, dass HJ-Mitglieder aus dem unmittelbaren Wohnumfeld Beobachtungen an ihre Führer bzw. an den Streifendienst gemeldet haben. Direkte Denunziationen durch einzelne HJ-Mitglieder an die Gestapo sind nicht überliefert. Neben der „Gleichtracht“, den gemeinsamen Treffen und Fahrten gab es für die Gestapo um 1937 zunächst keine weiteren belastenden Anhaltspunkte, da die Meuten – von einigen später in Umlauf gebrachten kleineren Streuzetteln abgesehen – über keinerlei Schriftlichkeiten, Mitgliederlisten oder Beitragskassierungen verfügten. Die Beamten waren darum in erster Linie auf die Aussagen der beschuldigten Jugendlichen angewiesen, um belastendes Material zusammenzutragen. In einem Schreiben der Oberstaatsanwaltschaft Leipzig an den Generalstaatsanwalt in Dresden sowie den Justizminister in Berlin wurde für 1937 von mehr als 60 Ermittlungsverfahren „wegen Betätigung für die Bündische Ju207 208 209 210

Bericht eines Mitarbeiters „Betr.: Dreher-Lehrling Herbert K.“ vom 24.4.1939; Kopie im Besitz des Verfassers. Telefoninterview des Verfassers mit Rolf S. am 10.6.2002. StAL PP-V 4965, Bl.189. Zur Thematik Denunziation vgl. SCHREIBER: Politische Polizei, S.108ff.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

211

gend“ berichtet, wobei 34 der betroffenen Jugendlichen zumindest zeitweise Mitglieder der Staatsjugend waren.211 Zu den erfassten Personen gehörten, neben früheren Mitgliedern von Jugendbünden, vor allem Meuten-Mitglieder des „Hundestarts“, der „Reeperbahn“, der „Sidonienstraße“ und des „HorstWessel-Platzes“. 1938 wurden die Ermittlungen fortgesetzt. Die Gestapo verhörte eine Anzahl Meutenangehörige, welche teilweise mehrere Monate in Untersuchungshaft verbringen mussten. Die Meutenmitglieder ausfindig zu machen war einfach, denn sie trugen ihre Kluft sichtbar in der Öffentlichkeit. Besonders auf der Kleinmesse verhaftete die Gestapo mit Unterstützung des HJ-Streifendienstes immer wieder Jugendliche in der „Einheitstracht“. Bei den ersten Verhaftungen sprach die Gestapo nur ein allgemeines „Trachtenverbot“ und ein Aufenthaltsverbot für die Meutentreffpunkte aus. Dies wurde kaum befolgt und die erhoffte einschüchternde Wirkung blieb aus. Die bereits 1937 vernommenen Jugendlichen berichteten in ihrer Gruppe von den Verhören, obwohl die Gestapo ihnen das verboten hatte. Es wurde gegenseitig vereinbart, bei eventuellen weiteren Befragungen möglichst alles abzustreiten.212 Dennoch konnten die Jugendlichen den verhörerprobten Gestapo-Beamten auf Dauer kaum standhalten, was im Frühjahr 1938 zu grundlegend neuen Erkenntnissen führte: Die Mitglieder des „Hundestarts“, der „Lille“ und der „Reeperbahn“ wurden maßgeblich von früheren Angehörigen linkssozialistischer Kinder- und Jugendorganisationen beeinflusst, was man vor allem an Äußerlichkeiten und den geführten Gesprächen nachweisen konnte. Die Überfälle auf HJ-Mitglieder und HJ-Heime waren zwar ebenfalls Thema der Verhöre, spielten bei den späteren Prozessen aber nur eine untergeordnete Rolle. Hier konnte ein Großteil der betroffenen Meutenmitglieder weiterhin glaubhaft alles abstreiten. Die meisten gaben nur das zu, was man ihnen wirklich nachweisen konnte. Aus Erinnerungsberichten und Zeitzeugeninterviews geht hervor, dass die Gestapo-Beamten – anders als in den Verhören gegen Kommunisten nach 1933 – kaum gewalttätig wurden. Dennoch sind auch solche Fälle bekannt: „Nach Aufnahme der Personalien musste ich mich an die Wand stellen. Genau vor meinem Gesicht befanden sich 4 oder 5 Heizungsrohre, welche dicht nebeneinander senkrecht die Zelle durchliefen. [...] Dann die Frage an mich: ‘Woher kennst du den Rolf Schuberth? [...] ‚Aus der Schule’, war meine Antwort. Ich hatte das ‚e’ von Schule noch nicht ganz ausgesprochen, da erhielt ich zwei Schläge auf den Hinterkopf und schlug mit dem Gesicht hart in die Heizungsröhren, ich stand ja höchsten 10 cm davor. Ich merkte, wie Blut floss, hatte Platzwunden an der Stirn und an der rechten Hand.“213

211 212 213

HStAD 2Js/SG 202/38. Vgl. Anklageschrift gegen W. Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f. Erinnerungsbericht Rolf F.

212 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Vor allem der psychische Druck, dem die oftmals erst 15- bis 19-Jährigen bei den Verhören ausgesetzt waren, wird erheblich gewesen sein. „Eine besondere Methode bestand darin, bei schönem Wetter mit uns durch den Johanna-Albert-Park, jetzt Clara-Zetkin-Park, zum Verhör nach der Gestapo-Zentrale in der damaligen Hindenburgstraße, heute Friedrich-Ebert-Straße, zu gehen, wobei die Drohung nicht vergessen wurde: ‚Bei Fluchtversuch werdet ihr sofort erschossen!’“214

Anhand der eingesehenen Verhörprotokolle von 1938 kann man nachvollziehen, was für die Gestapo von Interesse war. So wurde nach der „Einheitstracht“ in allen Einzelheiten gefragt sowie nach der Teilnahme an Fahrten, nach den abgesungenen Liedern, dem Abhören verbotener Radiosender, Gesprächen im „kommunistischen Sinne“. Bekannt ist außerdem, dass man bei Verhören bereits fertige Protokolle zur Unterschrift vorlegte.215 Auch wurden Aussagen verzerrt wiedergegeben. „Bei der Vernehmung fragte er: ‚Kannst du dir vorstellen, dass es in Moskau welche gibt, die sagen, es müsse sich in Deutschland was verändern?’ Ich antwortete: ‚Also vorstellen kann ich mir das, aber wissen tue ich es nicht.’ So stand dann im Protokoll, es hätte von Moskau aus Anleitungen gegeben.“216 Bei der Zerschlagung des kommunistischen Widerstandes in Leipzig kamen stellenweise entscheidende Hinweise von Denunzianten bzw. V-Leuten.217 Es ist hingegen nicht bekannt, dass trotz der relativ hohen Anzahl ehemaliger Staatsjugendmitglieder bei den Meuten V-Leute aktiv waren oder angeworben wurden. Aufgrund der Verhöraussagen wird der Einsatz von V-Leuten für die Gestapo nicht zwingend nötig gewesen sein. Dass der HJ-Streifendienst versucht haben wird, Informanten in Meuten einzuschleusen, ist nicht überliefert, jedoch durchaus denkbar. Es ist nur ein Fall bekannt, bei dem die Gestapo versuchte, in der U-Haft durch einen Spitzel an belastende Aussagen zu kommen. Ein ehemaliges „Reeperbahn“-Mitglied erinnerte sich, dass er nach sechs Monaten Einzelhaft in eine Zwei-Mann-Zelle verlegt wurde. Seinem dortigen Mithäftling, der wegen eines Fahrraddiebstahls einsaß, vertraute er einmal an, dass er zu den Jungen gehöre, die unten im Gefängnishof rumlaufen würden. Dieser Mithäftling wurde beim späteren Prozess gegen das „Reeperbahn“-Mitglied als Zeuge aufge-

214 215 216 217

Erinnerungsbericht Donndorf; Ähnliche Aussagen auch in den Interviews mit W. Wolf und W. Endres. Vgl. KIRCHEISEN: Erscheinungen, S.103; Ähnliche Aussagen auch in den Interviews mit W. Endres, Rolf S. sowie Erinnerungsbericht Donndorf. Interview mit W. Wolf am 24.5.2002. Vgl. VOIGT: Kommunistischer Widerstand, S.125-134; Siehe auch SCHREIBER: Politische Polizei, S.100-150.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

213

führt.218 Die Hinzunahme solcherart Zeugenaussagen zeigt, wie dünn die Beweisdecke seitens der Staatsanwaltschaft gegen die Meuten war. Zusammengefasst bestand das Wissen, das die Gestapo über die Meuten zusammentragen konnte, einerseits aus den eigenen Beobachtungen (Kluft, Treffen) und andererseits aus den Aussagen der Mitglieder bei Verhören. Dadurch, dass nicht wenige Verhaftete Vorwürfe hartnäckig abstritten bzw. verharmlosten, blieben etliche Meutenmitglieder von Verhaftungen verschont bzw. reichten die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklage aus.

b.

Die Arbeit des Sondergerichts Freiberg

Das vermehrte, sichtbare Auftreten der Leipziger Meuten in der Öffentlichkeit ab 1937 kann auch anhand der Akten des Sondergerichtes Freiberg nachvollzogen werden, wo erst ab 1937 Verfahren gegen solcherart Jugendliche aus Leipzig dort aktenkundig wurden. Das Sondergericht für den sächsischen Oberlandesbezirk, welches Ende März 1933 durch den damaligen amtierenden sächsischen Justizminister Otto Thierack ins Leben gerufen wurde, existierte bis 1940 in Freiberg beim dortigen Landesgericht. Das Hauptziel aller damaligen Sondergerichte war, die Justiz zu „schneller öffentlichkeitswirksamer Reaktion zu befähigen“, auf Kosten der Angeklagten- und Verteidigungsrechte. Rechtsmittel waren nicht zulässig, Urteile erhielten sofort Rechtskraft.219 Für die Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Bündischen Jugend bzw. der Leipziger Meuten war vorrangig die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“ ausschlaggebend, weil aufgrund dieser Verordnung in der Folgezeit die meisten Jugendorganisationen verboten worden waren. Die Leipziger Gestapo übergab ihre Ermittlungen gegen die „Bündische Jugend“ zunächst ausschließlich an das Sondergericht.220 Für 1937 sind 50 Leipziger Jugendliche namentlich überliefert, gegen die Verfahren angestrengt wurden. Ein Jahr später waren es bereits dreimal so viele.221 Die von der Gestapo an das Sondergericht gelieferten Beweise reichten im Allgemeinen kaum für eine Anklage. Interessant ist die Begründung für eine Verfahrenseinstellung im Mai 1938 gegen ein Mitglied der Meute „St. Pauli“, weil „die Tat aus politischen Gründen begangen wurde, die Art der Ausführung oder die Beweggründe eine gemeine Gesinnung des Täters nicht erkennen lassen und keine höhere Strafe

218 219 220 221

Erinnerungsbericht Donndorf. Vgl. M. ZEIDLER: Das Sondergericht Freiberg, Dresden 1998, S.12f. Anhand der Findbücher konnten für 1936 keinerlei Ermittlungen im Zusammenhang mit der Bündischen Jugend festgestellt werden. Siehe HStAD Findbücher SG Freiberg 1937, 1938.

214 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 als 6 Monate Gefängnis zu erwarten ist.“222 Das Gericht deutete die Mitgliedschaft in einer Meute als politische Tat, obgleich für die Meute „St. Pauli“ kein Einfluss früherer Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen oder ehemaliger Bündischer bekannt ist. Mit dem „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 30. 4. 1938“ wurde außerdem Anfang Juni ein Großteil aller noch offenen Verfahren eingestellt. Die meisten Ermittlungsverfahren gegen 40 namentlich bekannte Jugendliche, welche 1939 beim Sondergericht Freiberg bearbeitet wurden, gab man an das Landgericht Leipzig ab. Gegen einige der Jugendlichen wurde bereits zum zweiten Mal ermittelt. Von den etwa 290 namentlich überlieferten Ermittlungsverfahren am Sondergericht Freiberg gegen Leipziger Jugendliche im Zusammenhang mit der „Bündischen Jugend“ bzw. den Meuten im Zeitraum 1937 bis 1939 ist nur eine einzige Verurteilung aktenkundig. Am 1. November 1939 verurteilte man einen Jugendlichen aus Leipzig „wegen Zuwiderhandlung gegen das Verbot der Bündischen Jugend, Unzucht mit Männern in zwei Fällen und Diebstahl“223 zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Es ist im Übrigen das einzige bekannte Urteil, bei dem Homosexualität im Zusammenhang mit der „Bündischen Jugend“ in Leipzig eine Rolle gespielt hat.224 Gleichwohl gab es hierzu 1937 einige Ermittlungen seitens der Gestapo unter vermeintlich Bündischen, welche aber ergebnislos verliefen.

c.

Prozesse gegen die Leipziger Meuten

Obgleich die 1937 vor dem Sondergericht Freiberg angestrengten Verfahren gegen Meuten-Mitglieder nicht von Erfolg gekrönt waren, ermittelte die Gestapo in der ersten Jahreshälfte 1938 intensiv weiter. Im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Meute „Hundestart“ stießen die Beamten Anfang März 1938 auf mehrere ehemalige Mitglieder linkssozialistischer Kinder- und Jugendorganisationen, denen sie das Singen von Arbeiterliedern, das Hören von Radio Moskau und das Tragen von roten Halstüchern als Betätigungen im kommunistischen Sinne und somit als „Vorbereitung zum Hochverrat“ nachweisen wollten. Die Vorarbeiten gegen den „Hundestart“ liefen zügig: Ende Februar/Anfang März 1938 wurden die meisten namentlich bekannten Mitglieder

222 223 224

HStAD 2Js/SG 260/38, BL.16. StAL PP-S 2317/30. Die Leipziger Polizei begann 1935 mit der systematischen Verfolgung Homosexueller. Von 1937 bis 1944 ermittelte man mehr als 2.700 Beschuldigte, davon 460 Jugendliche, unter ihnen 93 HJ-Mitglieder. Vgl. G. MÜLLER: Leipziger Polizei, Leipzig 2005, S.311.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

215

verhaftet, mehrmals durch die Gestapo verhört und saßen seitdem in Untersuchungshaft. Bereits im April hatte die Gestapo ein „Personensachstandsverzeichnis der Gruppe Leipzig-Kleinzschocher, genannt ‚Meute vom Hundestart’“225 mit 14 Namen erstellt, Anfang Juli waren es schon 30 Personen. Mitte Juli schaltete sich außerdem die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof ein. Diese sei anhand der Meute „Hundestart“ zum ersten Mal mit dieser „Erscheinung einer staatsfeindlichen Jugend befasst“, weshalb für sie „ein ganz besonderes Interesse vorhanden sei“.226 Ende August lagen in Berlin die Anklageschriften gegen Willy Prüfer, Heinz Krause, Erhard Friede, Rudi Langhans und Gerhard Liebmann vor. Bei der Meute „Hundestart“ handelte es sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft um eine „als bündische Wandergruppe getarnte Gemeinschaft kommunistisch eingestellter junger Leute, die den Zweck verfolgte, ihre Mitglieder für den von der KPD erstrebten gewaltsamen Umsturz gesinnungsgemäß vorzubereiten“.227 Im Juli ermittelte die Gestapo zusätzlich gegen 19 Mitglieder der „Lille“. Davon wurden Helmut Heß, Horst Lippert und Kurt Hoppe Mitte September ebenfalls wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt. Am 25. und 26. Oktober 1938 fand der Prozess gegen die fünf Mitglieder des „Hundestarts“ vor dem 1. Senat des Volksgerichtshofes in Leipzig statt. Es ist augenscheinlich, dass man sich von den zu erwartenden Urteilen eine abschreckende Wirkung auf die übrigen Leipziger Meuten erhoffte. Als Richter fungierte der damalige Präsident des Volksgerichtshofes Dr. Thierack. Ihm zur Seite saßen Landgerichtsdirektor Dr. Wildberger, SA-Gruppenführer Heß, der Kreisleiter der NSDAP Worch sowie Stadtrat Kaiser. Beschuldigt wurden die Angeklagten, dass sie „durch die politischen Gespräche, das Singen kommunistischer Kampflieder, die Anwendung des Jungpionier-Grußes und das Einstellen des Komintern-Senders eine marxistische Gesinnungsgemeinschaft zu dem Zwecke gepflegt hätten, für den Fall einer Änderung der politischen Verhältnisse im marxistischen Sinne geschult zu sein.”228 Als Beweismittel führte die Staatsanwaltschaft „sichergestellte Trachtenstücke” sowie die bei Krause beschlagnahmte „marxistische Literatur” an. Die etwa ein Dutzend Zeugen bestanden aus Meutenmitgliedern und dem Gestapobeamten Walther.229 Am 28. Oktober wurde Willy Prüfer zu acht Jahren, Krause zu sechs und Friede zu fünf Jahren Zuchthaus, Langhans zu einer Gefängnisstraße von vier

225 226 227 228 229

BArch NJ 9156, unpag. HStAD 1Js/SG 1402/37, Bl.50, Schreiben der Gestapo Leipzig vom 5.7.1938 an den Oberstaatsanwalt beim Landgericht. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.34. Vgl. ebda. Vgl. ebda. S.37.

216 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 Jahren verurteilt. Bei Liebmann reichten die Beweise nicht aus – er wurde freigesprochen. Als Begründung für die hohen Strafen erklärte das Gericht: „Ganz allgemein sind für das Strafausmaß die objektive Gefährlichkeit der durch die verurteilten Angeklagten geförderten staatsfeindlichen Bestrebungen der KPD. [...] Wenn auch die Gefahr aus dem Treiben der Angeklagten in einem festen Staatsgefüge nicht groß war, so ist sie doch keineswegs bedeutungslos. [...] Alle solche Versuche müssen daher im Keime erstickt und von vornherein mit äußerster Schärfe ausgerottet und durch harte Strafen für immer verhindert werden.”230

In der Urteilsbegründung wurde die Meute bis 1937 als „harmloser Zusammenschluss zu gemeinsamen Fahrten” eingeschätzt. Durch das ehemalige KJVDMitglied Willy Prüfer, der „von früher her noch stark kommunistisch” eingestellt war, wurden später aber „regelmäßig staatsfeindliche Gespräche geführt […], insbesondere politische Tagesfragen, die Kämpfe in Spanien sowie die Verhältnisse in der Sowjetunion vom kommunistischen Standpunkt aus erörtert”.231 Als Beweis für kommunistische Betätigungen wertete das Gericht auch die Aussage Krauses gegenüber einem Jugendlichen, dass die kommunistische Jugend in anderer Form noch weiter bestehen würde, und zwar „innerhalb der Meuten, in denen die ehemaligen KJVD-Mitglieder noch untereinander Kontakt hätten”.232 Das Gericht analysierte Willy Prüfer als „verstockten und fanatisch gegen den Nationalsozialismus eingestellten Kommunisten”233, ohne dies näher zu begründen. Für den verurteilten 27-jährigen Erhard Friede schienen die ausgesprochenen fünf Jahre Zuchthaushaft offenbar eine zu große psychische Last. Er soll sich nach der Urteilsverkündung in seiner Zelle erhängt haben.234 Am selben Tag und vom selben Senat wurden auch die Urteile gegen die Angeklagten der Meute „Lille“ gesprochen, nachdem ein Tag zuvor die Verhandlung stattgefunden hatte. Helmut Heß verurteilte man zu fünf Jahren und Horst Lippert zu drei Jahren Zuchthaus, Kurt Hoppe erhielt eine Gefängnisstrafe von einem Jahr. Der Angeklagte Heß hätte „mit Unterstützung der Mitangeschuldigten die Tätigkeit der Meute bewusst in den Dienst der umstürzlerischen Bestrebungen des Kommunismus gestellt und die Meutenmitglieder zu diesem Zweck auf den Zusammenkünften und Fahrten zu einer straffen Organisation zusammengefasst und in kommunistischem Sinne geschult.”235

230 231 232 233 234 235

Urteilsschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.40f. Vgl. ebda. S.6. Vgl. Anklageschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.22. Vgl. Urteilsschrift Prüfer. In: Widerstand, FicheNr.0691f., S.16. Erinnerungsbericht Heinz Krause (o.J., um 1948/49) In: BArch DY 55/V 241/7/39, Bl.18. Vgl. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.2.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

217

Im Gegensatz zum Prozess gegen die Mitglieder des „Hundestarts“ wurde bei der Verhandlung gegen die „Lille“-Mitglieder stärker eine vorhandene Zielsetzung der Meute hervorgehoben. Im Übrigen sind die Anklageschriften beider Prozesse stellenweise im Wortlaut identisch. Den Umfang der Strafen erklärte das Gericht ähnlich wie beim „Hundestart“: „Die deutsche Staatsjugend, die alleinige Trägerin der nationalsozialistischen Staatsidee für die Zukunft, muss von allen derartigen Zersetzungsbestrebungen und Einflüssen geschützt und bewahrt werden. Alle solche Versuche müssen daher im Keim erstickt und von vornherein mit äußerster Strenge ausgerottet und durch harte Strafen für alle Zukunft verhindert werden. Hinter dieser im Interesse der Ruhe und Erhaltung der deutschen Volksgemeinschaft und des gesicherten Bestandes des nationalsozialistischen Deutschlands notwendigen abschreckenden Wirkung der Strafe muss die Persönlichkeit des einzelnen Täters zurücktreten.”236

Die erhoffte abschreckende Wirkung der Prozesse vor dem Volksgerichtshof unter Leipziger Jugendlichen trat im Herbst 1938 nicht ein. Ab Ende Januar 1939 fanden darum vor dem Landgericht Leipzig bzw. dem Jugendgericht weitere Prozesse gegen Mitglieder der Meuten „Hundestart“, „Reeperbahn“, „Lille“ und „Arndtstraße“ wegen „Neubildung von Parteien“ statt. Bis August 1940 gab es mindestens 15 Prozesse mit je einem bis zu sieben Angeklagten, darunter auch die Pegauer Meute. Es wurden Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr ausgesprochen. Besonders gegen aktive Mitglieder der „Reeperbahn“ ermittelte man wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“, nachdem diese bis zum Sommer 1939 inhaftiert worden waren. Der Leipziger Oberstaatsanwalt strengte zunächst einen weiteren Prozess vor dem Volksgerichtshof an, was sein Dresdner Kollege ablehnte: „Obgleich durch das Bestehen der Meute die Bestrebungen des Kommunismus gefördert wurden, halte ich die […] fünf Beschuldigten der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens nicht für hinreichend verdächtig. Dagegen spricht in gewisser Weise schon ihr jugendliches Alter.“237 Die Oberstaatsanwälte in Leipzig und Dresden standen bezüglich der Prozessvorbereitungen seit Ende 1938 in Kontakt mit dem Reichsjustizminister in Berlin. Anfang August 1939 waren die Leipziger Meuten außerdem Gegenstand einer Unterredung in Dresden zwischen der Gauleitung der NSDAP, dem Leiter der zuständigen Gestapo-Stelle und der Dresdner Generalanwaltschaft. Am 16. August fand darauf aufbauend eine Besprechung im Reichsjustizministerium in Berlin statt, an dem der Generalstaatsanwalt und der Oberstaatsanwalt beim Leipziger Landgericht, der Hochverratsreferent des Ministeriums mit seinen beiden Sachbearbeitern beim Volksgerichtshof und Oberlandesgericht Dresden, 236 237

Urteilsschrift Heß. In: Widerstand, 1995, FicheNr.0695, S.20. BArch NJ 12339 Bl.1, Schreiben vom 26.7.1939.

218 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 ein Referent für bündische Jugendsachen sowie ein Vertreter der Berliner Sonderstaatsanwaltschaft zur Bekämpfung der bündischen Jugend teilnahmen.238 Die hochkarätige Zusammensetzung der Runde zeigt, wie ernst man die Problematik seitens des NS-Staates ansah. Besprochen wurde das juristische Vorgehen gegen die Leipziger Meuten, wobei zum Zeitpunkt der Besprechung bereits weitere Prozesse stattgefunden hatten. In mindestens drei Prozessen vor dem Oberlandesgericht Dresden, welche zwischen November 1939 und Januar 1940 stattfanden, wurden insgesamt 17 Mitglieder der „Reeperbahn“, vor allem des „Schwarzenberg-Kreises“, zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. In diesem Zeitraum gab es zwei weitere Prozesse in Dresden, wo Mitglieder der „Lille“ und der „St.-Pauli“-Meute ebenfalls wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt wurden.239 Insgesamt sind mehr als 90 Mitglieder der Leipziger Meuten (davon zehn Mädchen) aktenkundig, welche zwischen 1938 und 1940 in einem der Prozesse angeklagt gewesen sind. Eine größere unbekannte Anzahl von Meutenmitgliedern, welche bis zum Sommer 1939 inhaftiert waren, kam durch eine im September 1939 verhängte Amnestie ohne Prozess auf freien Fuß. Bei den 1939 geführten Prozessen wegen „Neubildung von Parteien“ hatten die Gerichte bei einigen Angeklagten Probleme bei der Beweisführung, da mehrfach der „innere Tatbestand“ nicht nachweisbar war.240 Ebenso problematisch war stellenweise eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Verbot der Bündischen Jugend vom 31. März 1937.241 Der Dresdner Strafsenat kam bei einem Prozess Ende 1939 darum zu der Ansicht, dass die Meute „Reeperbahn“ zwar äußerlich die Bündische Jugend nachahmte, aber keine Fortsetzung darstellen würde: „Allein ihre ablehnende Haltung gegenüber der HJ machte sie noch nicht zu einem Vertreter bündischen Wesens. Sie unterschied sich von der BJ recht erheblich dadurch, dass in ihr kommunistisches Gedankengut gepflegt und ihr politisches Ziel von der BJ grundsätzlich abwich.“242 Aus diesem Grund mussten mangels Beweisen zwei Mitglieder der „Reeperbahn“ freigesprochen werden. Die Leipziger Oberstaatsanwaltschaft zeigte sich darüber besorgt, dass nun eine obergerichtliche Entscheidung vorliegen würde, „nach der die bloße Zugehörigkeit zu einer der in Leipzig bestehenden Meuten [...] nicht als strafbar

238 239 240 241

242

Vgl. GRUCHMANN: Jugendopposition. In: BENZ (Hg.): Miscellanea, S.110/111. Warum gegen die „St. Pauli“-Meute wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ ermittelt wurde, ist nicht überliefert. Zur grundsätzlichen Problematik der juristischen Bewertung der Leipziger Meuten siehe GRUCHMANN. Die Bündische Jugend wurde reichsweit 1936 verboten, für Sachsen lag das Verbot 1937 nochmals gesondert vor. Das reichsweite Verbot wurde 1939 erneuert, da 1936 das Verbot nur der Gestapo bekannt war, aber nicht der Öffentlichkeit. Vgl. V. HELLFELD: Bündische Jugend, S.203. BArch R 3001/955, Fiche Nr.8, S.352.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

219

erachtet wird“.243 Im Hinblick auf weitere mögliche ähnliche Erscheinungen wie die Leipziger Meuten regten einige Juristen daraufhin ein neues Gesetz an, welches alle Jugendvereinigungen jenseits der HJ verbieten sollte. Dies hätte auch Turnvereine u. ä. getroffen. Die NS-Juristen fanden jedoch keine „Begriffsbestimmung der zu verbietenden Vereinigung unter Vermeidung des Ausdrucks ‚bündisch’“.244 Das geplante Gesetz kam deshalb nicht zu Stande. Mit der Definition der „Bündischen Jugend“ hatten Ende der 30er Jahre auch Richter im Westen Deutschlands Probleme. So wurde in einem Urteil gegen Dortmunder Jugendliche argumentiert, dass eine verbotene bündische Gruppe auch dann vorliegen würde, wenn nur ein „lockerer Zusammenschluss, eine ungebundene, lose Vereinigung“ bestünde.245 Auf diese Definition konnten sich die Leipziger bzw. Dresdner Juristen, wie oben beschrieben, nicht festlegen. Die Diskussionen unter Juristen zeigen, dass letztlich eine präzise Definition informeller Jugendgruppen unter strafrelevanten Gesichtspunkten nicht gelang. Daran änderten auch die Versuche der Reichsjugendführung nichts, zu Beginn der 40er Jahre in ihren Berichten über die „Cliquen- und Bandenbildungen unter Jugendlichen“ die verschiedenen Gruppen zu klassifizieren.246

d.

Leipziger Jugendamt und Jugendschulungslager Mittweida

Ab Ende 1938 beschäftigte sich neben der Staatsanwaltschaft auch das Leipziger Jugendamt im Rahmen der Jugendgerichtshilfe mit den Leipziger Meuten. Zunächst musste geklärt werden, wer außerhalb von Polizei und Gerichten auf kommunaler Ebene für die Bekämpfung der Meuten zuständig sei. Mitte Januar 1939 gab es ein Koordinierungstreffen für „Erziehung, Unterbringung und Betreuung der in Leipzig aufgetretenen Jugendlichen, die nicht der HJ angehören, die sich aber zum Teil bündisch, zum Teil sexuell und kriminell betätigen”.247 Diese dreiteilige Unterscheidung der Jugendlichen spielte in der späteren praktischen Umsetzung in Bezug auf die Leipziger Meuten keine Rolle. Anwesend waren das NSDAP-Mitglied Stadtrat Teutsch für das Jugendamt, NSDAP-Kreisleiter Wettengel, von der Gestapo Assessor Schindhelm sowie Dr. Erler vom SD-Oberabschnitt. Als Vertreter der HJ nahmen an dem Treffen 243 244 245 246

247

BArch R 3001/955, Fiche Nr.8, S.344. Ebda. S.359. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.153ff. Vgl. Bericht der RJF, Personalamt-Überwachung, Berlin, September 1942. In: BArch R22/1177, Bl.325-414; Dort gebrauchte man nicht mehr den Sammelbegriff „Bündische Jugend“, sondern unterschied in „kriminelle Jugendgruppen“, „Zusammenschlüsse mit politisch-weltanschaulich gegnerischer Grundhaltung“ sowie „Vergnügungs- und SwingGruppen“. Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr.335, Bl.18.

220 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 teil: der Gebietsführer Möckel, ein namentlich nicht genannter Berliner Gebietsführer, zwei Oberbann- und drei weitere HJ-Führer. Bei dem Treffen kam es anfangs zwischen den verschiedenen NS-Institutionen zu KompetenzProblemen. Stadtrat Teutsch vertrat den Standpunkt, dass allein dem Jugendamt „auf Grund des Reichsjugendwohlfahrtgesetzes die gesetzlichen Voraussetzungen für Maßnahmen zur Ergreifung und Führung aller Jugendlichen”248 zustehen würden. NSDAP-Kreisleiter Wettengel wollte diese Aufgaben stattdessen von einem Sonderbeauftragten der NSDAP, konkret von einem SS-Führer, koordinieren und durchführen lassen. Teutsch konnte sich schließlich durchsetzen. Von den zahlreich anwesenden HJ-Führern ist in dem Protokoll kein Standpunkt vermerkt. Da die Mitgliedschaft in der HJ zu diesem Zeitpunkt für Jugendliche noch nicht Pflicht war, wäre es für die HJ rechtlich auch nicht möglich gewesen, Erziehungsmaßnahmen gegen Nicht-HJ-Mitglieder durchzuführen. Gleichwohl zeigt die zahlenmäßig hohe Beteiligung von HJ-Funktionären an dem Treffen, dass diese sehr an einer Verfolgung der Meuten interessiert waren. Wenige Tage später informierte Stadtrat Teutsch auf einer Beratung den Oberbürgermeister mit seinen Beigeordneten über die Entwicklung der „Bündischen Jugend“ sowie die geplanten Maßnahmen. Das Problem hatte somit auch die höchsten Vertreter der Stadt erreicht. Als Nächstes galt es für das Jugendamt die Frage zu klären, wo und wie man solcherart Jugendliche außerhalb von Gefängnissen unterbringen könnte. Am 11. Februar 1939 traf sich Jugendamtsdirektor Dr. Gerlach mit zwei Mitarbeitern der Leipziger Gestapo und informierte sich, ob man über diese Jugendlichen „Schutzhaft“ verhängen könnte. Die Gestapo verneinte diese Anfrage, weil aus rechtlichen Gründen in den KZs nur Erwachsene untergebracht werden durften. Möglicherweise könnte man in Berlin eine Sondergenehmigung erhalten, wenn die Stadt die Kosten der Unterbringung in ein KZ übernehmen würde. Die Beamten informierten außerdem darüber, dass in anderen Städten „politisch unzuverlässige“ Jugendliche in spezielle Jugendschulungslager eingewiesen würden. Darüber hinaus hatte die Gestapo mit dem Leipziger Jugendrichter Prof. Hofmann bereits vereinbart, dass in Zukunft bei unter 18-jährigen „politisch Unzuverlässigen” Erziehungsmaßnahmen angeordnet werden.249 Bei mehreren folgenden Urteilen des Jugendschöffengerichtes wurde als „Erziehungsmaßregel nach § 7 des Jugendgerichtsgesetzes Schutzaufsicht […] angeordnet […]. Die Dauer der Einweisung kann noch nicht festgelegt werden. Sie wird sich nach der Führung des Einzelnen richten.”250 Die Gestapo meldete in der Folgezeit eine Reihe von Jugendlichen an das Jugendamt, die sie für eine Unterbringung in ein Jugendschulungslager vor-

248 249 250

Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr.335, Bl.18. Vgl. Ebda, Bl.19. Ebda. Bl.25.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

221

schlug. Möglicherweise reichten bei einigen der betroffenen Jugendlichen die Ermittlungsergebnisse nicht für eine Anklage aus oder die ausgesprochenen Urteile waren nach Ansicht der Beamten unzureichend. Laut Gestapo handelte es sich bei den übermittelten Namen um Jugendliche, „…die bisher im allgemeinen nicht wieder straffällig geworden sind. Damit ist aber nicht gesagt, dass die gedachten Erziehungsmaßnahmen überflüssig werden. Die Betreffenden haben durch ihr [...] ermitteltes Treiben offenbart, dass sie in politischer Hinsicht verwahrlost sind. Dadurch dass sie in der Zwischenzeit noch nicht wieder in Erscheinung getreten sind, ist aber noch nicht erwiesen, dass die politische Verwahrlosung nicht mehr andauert [...]. Ich halte daher erneute Beweise, dass sich die von mir zur Meldung gebrachten Jugendlichen weiterhin an der Meutenbildung beteiligen, für die Einleitung von Erziehungsmaßnahmen nicht für erforderlich, sondern halte ihr bisher ermitteltes Treiben für eine ausreichende Feststellung ihrer politischen Verwahrlosung.”251

Hieran wird sichtbar, wie NS-Institutionen die in der klassischen bürgerlichen Rechtssprechung verankerte Unschuldsvermutung aushebelten, zugunsten willkürlicher Disziplinarmaßnahmen ohne Gerichtsbeschluss. Das Jugendamt der Stadt Leipzig entschloss sich nach den Hinweisen der Gestapo für „politisch verwahrloste Jugendliche“ ein „Jugendschulungslager“ einzurichten. Die Standortwahl fiel auf das stadteigene Jugend- und Erziehungsheim in Mittweida, welches sich etwa 80 Kilometer südwestlich von Leipzig auf dem Gelände eines ehemaligen Rittergutes befand.252 Für das Lager wurde eines der Gebäude für bis zu 50 Jugendliche hergerichtet. „Die Jugendlichen werden dort eine Zeitlang mit volkswirtschaftlich nützlichen Arbeiten beschäftigt und dann politisch geschult”,253 heißt es in einem Schreiben des Jugendamtes. Kurz nach Inbetriebnahme Anfang Mai 1939 waren bereits 25 Meutenmitglieder aus Leipzig eingewiesen worden, darunter fast die komplette Meute „Arndtstraße“ nach ihrem Prozess im März 1939 und den verbüßten Haftstrafen. Insgesamt sind 33 Mitglieder von verschiedenen Meuten namentlich bekannt, die das Jugendamt 1939 in dieses Lager einwies.254 Nach Angaben von Harry Stude, einem ehemaligen „Reeperbahn“-Mitglied, der im April 1939 dort untergebracht wurde, schor man – wie den Erwachsenen in den KZs – allen Ankommenden zunächst die Haare ab.

251 252 253 254

Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr.335, Bl.23. Bereits im Sommer 1938 teilte Stadtrat Teutsch dem Jugendamt mit, dass das Erziehungsheim Mittweida ein “nationalsozialistisches Erziehungsheim” werden solle. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.314, Bl.108. Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.335, Bl.24f; Im Jahresbericht 1939 des Jugendamtes ist nur von 30 Jugendlichen die Rede (vgl. Stadtarchiv Leipzig, JuA Nr.69). Es kann davon ausgegangen werden, dass 1939 mehr als die namentlich bekannten 33 Jugendlichen dort eingesessen haben.

222 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 „Eingekleidet wurden wir mit ausgedienten Wehrmachtsuniformteilen und Holzpantinen. Unser Gebäude, das speziell für uns mit vergitterten Fenstern und Außentüren versehen worden war, war Teil eines großen Geländekomplexes mit vielen Einzelgebäuden und landwirtschaftlichen Anlagen. Es war [...] als Erziehungsheim zur Unterbringung von sog. Fürsorgezöglingen errichtet. Diese waren jedoch scharf von uns getrennt und es wurde uns ausdrücklich streng verboten mit diesen in Kontakt zu treten. Unsere Aufgabe war tägliche Schwerarbeit (Steinbrucharbeiten, Straßenschotter-Herstellung per Hand, Straßenbau und Tiefbauarbeiten) unter ständiger Bewachung von 2 zivilen SA-Leuten. 3Mal wöchentlich war abends ‚Schulung’ im Nazigeist durch einen höheren SA-Führer, der dazu extra von Chemnitz anreiste.“255

Nachdem die im April und Mai eingewiesenen Jugendlichen sich Ende Juni immer noch im „Jugendschulungslager“ befanden, wandten sich mehrere Eltern schriftlich an Jugendamtsdirektor Dr. Gerlach und baten um die Entlassung ihrer Söhne.256 Im Frühjahr sei von sechs bis acht Wochen Aufenthalt die Rede gewesen und nun sei doch bedeutend mehr Zeit vergangen. Die Eltern von Heinz Illing von der Meute „Arndtstraße“ beklagten außerdem, dass sie ihren Sohn während der Zeit nur einmal besuchen konnten und ein an ihn geschicktes Lebensmittelpaket zurückgesandt wurde. Obgleich sich der Mittweidaer Heimdirektor Wendling für eine Verlängerung der Aufenthalte aussprach, ordnete Teutsch Mitte Juli die Entlassung der Jugendlichen innerhalb der nächsten drei Wochen an. Ob die Briefe der Eltern ausschlaggebend waren, konnte nicht ermittelt werden. Die entlassenen Jugendlichen standen in der Folgezeit unter „Schutzaufsicht“ des NSV. Darüber hinaus plante das Jugendamt, sie an eine NS-Formation zu binden. „Soweit die Burschen unter 18 Jahre alt sind, sollen sie in die Hitlerjugend eingegliedert werden. Die über 18 Jahre alten werden voraussichtlich besonderen Formationen der HJ bzw. der S.A. zugeteilt.”257 Diese Maßnahmen kamen letztlich nicht zur Anwendung, da mehrere Lagerinsassen einige Monate später wegen ihrer Meutentätigkeiten noch zu Haftstrafen verurteilt bzw. zur Wehrmacht eingezogen wurden. Für 1940 sind weitere Meutenmitglieder bekannt, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafen für einige Wochen in das Jugendschulungslager Mittweida eingewiesen wurden. Es konnten keine Belege dafür gefunden werden, dass in den Folgejahren das Heim weiter zu diesem Zweck genutzt wurde. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Mitglieder vor allem von größeren Meuten waren Mädchen. Im Gegensatz zu vermeintlich „kommunistischen“ Motiven der Jungen konzentrierten sich die NS-Verfolger bei den weiblichen Meutenmitgliedern vor allem auf den Tatvorwurf der „Kuppelei“. Die NS-Justiz vertrat folgende Ansicht: „Die Mädels wurden bei der Meute aufgenommen, 255 256 257

Erinnerungsbericht Harry Stude vom 12.6.1988, Privatarchiv Kircheisen. In den Jugendamtsakten finden sich sieben Briefe von Eltern. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.335, Bl.41.

9. Die Verfolgung der Leipziger Meuten

223

um mit ihnen auf Fahrten zu gehen und weitere abenteuerlich veranlagte Jungen auf die Meute aufmerksam zu machen.”258 Den NS-Verfolgern erschien es augenscheinlich undenkbar, dass Mädchen aus politischen oder sozialen Gründen den Anschluss an eine Meute suchten und fanden. Es kann nicht abgestritten werden, dass die Mädchen in den Meuten oftmals eine passivere Rolle einnahmen (oder sie ihnen von männlichen Gruppenmitgliedern zugewiesen wurde). Sie als Lockmittel für andere Jungs zu degradieren, geht jedoch an der Realität vorbei. Die Beziehungen zwischen Mädchen und Jungen liefen laut Zeitzeugenaussagen in den Meuten nicht anders ab als in vergleichbaren Jugendcliquen unserer Tage. Es sind außerdem für die Meute „Reeperbahn“ mehrere Liebesbeziehungen bekannt, die in späterer Heirat gipfelten. Einem Großteil der von der Gestapo ermittelten weiblichen Mitglieder konnte weder politisch noch „sittlich“ etwas Stichhaltiges nachgewiesen werden und so kamen viele Verfahren nicht bis zur Anklage. In die „Fürsorgeerziehung“ des Jugendamtes wurden hingegen auch weibliche Meutenmitglieder genommen. Das Jugendschulungslager Mittweida war ausschließlich mit Jungen belegt. Für drei namentlich bekannte weibliche „Reeperbahn“-Mitglieder konnte Anfang 1940 eine mehrwöchige Unterbringung in das städtische Mädchenheim Leipzig-Thonberg in der Dauthestraße, unweit des Technischen Messegeländes, bestätigt werden. Die anfallenden Kosten der Zwangseinweisung von zwei Reichsmark pro Tag sollten die Eltern tragen.259 Das Leipziger Jugendgericht begründete die Einweisung von Gertraud Seifert folgendermaßen: „Dadurch dass durch das Elternhaus der Seifert nicht die Gewähr gegeben erscheint, dass sie künftig durch strenge Beaufsichtigung ihres Tuns und eine entsprechende erzieherische Beeinflussung von einer Fortsetzung ihres früheren Treibens abgehalten wird, besteht […] nach der Entlassung aus der Haft die erhebliche Gefahr, dass die S. rückfällig wird und dadurch völliger sittlicher Verwahrlosung anheim fällt. Nur durch geeignete Unterbringung im Wege der Fürsorgeerziehung kann sie aus ihren früheren Bindungen gelöst und ihrer politischen Gefährdung und weiteren sittlichen Verwahrlosung vorgebeugt werden.“260

Neben der Einweisung in das Mädchenheim Leipzig-Thonberg im Rahmen der „Fürsorgeerziehung“ des Jugendamtes ist darüber hinaus ein Fall bekannt, wo ein weibliches „Reeperbahn“-Mitglied 1940 nach der Untersuchungshaft zu

258 259 260

BArch NJ 15657, Bl.4. Schreiben des Jugendamtes vom 17.2.1940 an den Vater von Gertraud Seifert; Kopie im Besitz des Verfassers. Beschluss des Jugendgerichtes vom 5.2.1940 zugestellt an die Eltern von Gertraud Seifert (Kopie im Besitz des Verfassers) Ein Grund, warum das Jugendamt die Eltern für ungeeignet hielt das Mädchen zu erziehen, ist, dass ihr Vater 1933 als Mitarbeiter der Bundesschule des Arbeiter-Turn- und Sportbundes einige Zeit in Haft gesessen hatte.

224 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 einem Bauern zur Landarbeit dienstverpflichtet wurde.261 Es kann davon ausgegangen werden, dass es noch weitere solcher Fälle gegeben hat.

10. Einschätzung der Leipziger Meuten In der Geschichtswissenschaft wurden bislang ausschließlich die Meuten „Hundestart“, „Lille“ und „Reeperbahn“ behandelt. Durch die Quellen-Recherchen für die vorliegende Arbeit kann der Blick auf die Leipziger Meuten erweitert und differenziert werden. Besonders die den Leipziger Meuten anhaftende „kommunistische“ Ausrichtung soll nochmals genauer untersucht werden.

a.

Kommunistische Einstellung und politische Bewertung

Die NS-Ermittler hatten sich bei den mutmaßlichen Rädelsführern der Meuten „Hundestart“, „Lille“ und „Reeperbahn“ ausführlich zu deren kommunistischen Ausrichtungen geäußert. „Kleinere Kreise innerhalb dieser führenden Meuten pflegen kommunistisches Gedankengut, suchen in besonderen Sitzungen den Moskauer Sender abzuhören, bereiten sich selbst auf einen staatlichen Umsturz vor und suchen weniger unterrichtete und neue Meutenangehörige im kommunistischen Sinne zu beeinflussen.“262 Neben dem erkennbaren Willen der NS-Organe, diese Jugendlichen als Kommunisten zu überführen, sollte man zunächst den tatsächlichen Grad der Politisierung der Betroffenen näher betrachten. Wie bereits ausgeführt, befand sich in den Meuten „Hundestart“, „Lille“ und „Reeperbahn“ eine Anzahl Jugendlicher, welche vor 1933 Mitglied der Kinderfreunde und Roten Falken bzw. der Roten Jungpioniere gewesen, dort jedoch nur teilweise mit politischer Theorie in Verbindung gekommen waren. Nur von zwei älteren „Hundestart“-Mitgliedern ist eine Mitgliedschaft im KJVD vor 1933 bekannt. Das Wissen, das alle diese Jugendlichen vom Kommunismus, seinem Wesen und seinen Zielen hatten, konnten sie Mitte der 30er Jahre nur bruchstückhaft aus Erinnerungen aus der Zeit vor 1933, mündlichen Informationen aus Freundes- und Familienkreisen sowie deutschsprachigen Sendungen von Radio Moskau erhalten haben. Bei späteren Hausdurchsuchungen wurde folgerichtig auch kaum entsprechende theoretische Literatur vorgefunden. Kontakte von Resten des illegalen kommunistischen Widerstandes zu den Leipziger Meuten bzw. zu Einzelpersonen sind nicht nachweisbar. Von konspi261 262

BArch NJ 87 Bd.1, Bl.32. BArch R 3001/955, Fiche Nr.8, Bl.347.

10. Einschätzung der Leipziger Meuten

225

rativ arbeitenden kommunistischen Jugendgruppen, wie sie bis Mitte der 30er Jahre existierten, waren die Leipziger Meuten weit entfernt, obgleich man den „Schwarzenberg-Kreis“ als erstes Anzeichen in diese Richtung interpretieren könnte. Die Meutenmitglieder, welche z. B. durch das Tragen von roten Halstüchern ihre Sympathie zum Kommunismus bzw. zum Sozialismus manifestierten, taten das in erster Linie aus emotionaler Zugehörigkeit. Es ist abwegig zu vermuten, dass Jugendliche aus kommunistischen Familien zu Hause „im Parteiauftrag“ instruiert worden sind. Das offene Auftreten der Meuten widersprach jeder konspirativen Regel. Ende der 30er Jahre gab es in Leipzig auch keine funktionierende illegale Struktur früherer Jungkommunisten mehr, welche unter Umständen hätten versuchen können, die Meuten in ihrem Sinne zu beeinflussen. In dieser Zeit waren die in Freiheit verbliebenen Kommunisten peinlichst darauf bedacht, nach außen hin nicht in Erscheinung zu treten, um keinen Grund für (erneute) Verhaftungen zu liefern. Die in der Öffentlichkeit spontan und aktionistisch handelnden Meuten wären trotz ideologischen Überschneidungen allein aus Sicherheitsgründen mit illegalen Strukturen von erwachsenen Kommunisten oder Sozialdemokraten nicht vereinbar gewesen. Die leider ohne Quellenangabe von Kurt Schilde erwähnten Kontakte der Leipziger Meuten „zur kommunistischen Widerstandsbewegung“ kann es darum nicht gegeben haben.263 In der linkssozialistischen Ausrichtung der drei bekanntesten Leipziger Meuten liegt die Besonderheit im Vergleich zu den westdeutschen Edelweißpiraten. Zu diesem Ergebnis kam bereits Detlev Peukert.264 Montierten die Edelweißpiraten ihren eigenen Stil vor allem aus bündischen Elementen sowie Kleidung und Habitus wilder Arbeiterjugendcliquen der 20er Jahre, so setzten sich bei den Meuten in Leipzig linkssozialistische Traditionen in Teilen fort. Hierbei bezog man sich auf die Zeit vor 1933, wo in Leipzig die Arbeiterbewegung vergleichsweise stark und in der Öffentlichkeit präsent war. Auch mögen ältere Familienangehörige mit dem Hoffen auf ein Ende des Nationalsozialismus sowie das aufmerksame Verfolgen der Ereignisse des spanischen Bürgerkrieges diese Einstellung verstärkt haben. Das von Peukert resümierte „kommunistische Alltagsbewusstsein“ sollte deshalb relativiert werden, weil in den Meuten zahlenmäßig mehr frühere Mitglieder von SPD-Organisationen aktiv waren und man darum zusammenfassend von einem linkssozialistischen Alltagsbewusstsein sprechen muss. Der Verfasser geht mit Peukert konform, wenn er sagt, dass in den Leipziger Meuten (zumindest „Hundestart“, „Lille“ und „Reeperb263

264

Siehe K. SCHILDE: Leipziger Meuten. In: BENZ (Hg.): Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt/M. 1994, S.254; Im gleichen Buch äußert sich auch J. Zarusky dahingehend, dass die Leipziger Meuten Kontakt „zu Kreisen der politischen Opposition“ hatten - ebenfalls ohne Belege anzuführen (S.109). Vgl. PEUKERT: Edelweißpiraten. In: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte, S.318.

226 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 ahn“) eine „andere, politischere Klassenidentität als bei den Edelweißpiraten“ vorherrschte. Mit einer möglichen Fortführung des kommunistischen Widerstandes der Jahre 1933 bis 1935 hatten die Meuten dennoch nichts zu tun, sondern sie stellten eine „lokale Variation eines breiter angelegten Grundmusters von Arbeiterjugendprotest dar.“265 Dies schließt nicht aus, dass sich viele Meutenmitglieder des „Hundestarts“, der „Lille“ und der „Reeperbahn“ als Kommunisten ansahen bzw. mit dem Kommunismus – so wie sie ihn verstanden – sympathisierten und ihn als Alternative zum Nationalsozialismus betrachteten. Diese Mitglieder müssen sich nicht zwangsläufig als KPD-Anhänger verstanden haben, denn es wurden auch von der KPD-Linie abweichende kommunistische Ideen nachgewiesen.266 Insgesamt ist heute nicht mehr zuverlässig zu rekonstruieren, wie viele Mitglieder der Meuten vor 1933 in einer linkssozialistischen Jugendorganisation gewesen sind. Anhand der knapp 400 namentlich bekannten Personen konnte nur für weniger als zehn Prozent solch eine Mitgliedschaft anhand der Quellen nachgewiesen werden. Diese Zahl beruht zum Großteil auf Eigenangaben bei Verhören. Eine unbekannte Anzahl von Jugendlichen wird mögliche frühere Mitgliedschaften gegenüber der Gestapo verschwiegen haben. Festzuhalten ist, dass bei den drei bekannten Leipziger Meuten zahlenmäßig weitaus mehr frühere linkssozialistische Mitglieder waren als in den anderen Meuten. Wie sowohl die Ermittlungen der Gestapo als auch spätere Zeitzeugenbefragungen bestätigten, avancierten bei den drei großen Meuten Jugendliche aus früheren linkssozialistischen Gruppen zu „Wortführern“. Die dort geführten Gespräche „im kommunistischen Sinne“, beispielsweise über den Bürgerkrieg in Spanien, können ebenso in anderen Meuten geführt worden sein, nur wurde dort nicht in diese Richtung ermittelt. Die Tatsache, dass in den drei bekannten Meuten vorrangig Mitglieder bzw. Sympathisanten aus früheren linkssozialistischen Gruppen aktiv waren, heißt nicht, dass diese Meuten zwangsläufig aktiver gegen die HJ vorgingen. Bei der Meute „Horst-Wessel-Platz“ im Leipziger Osten beispielsweise wurden militante Aktionen gegen HJ-Heime nachgewiesen, sogar schon mehrere Jahre zuvor. Die Connewitzer Meute beschädigte immer wieder im Leipziger Süden HJSchaukästen und klebte Siegelmarken der Bündischen Jugend. Für die Meute „Arndtstraße“ sind darüber hinaus Klebeaktionen von selbst gefertigten Flugzetteln, nicht nur im eigenen Wohnviertel bekannt. Die frühere Zugehörigkeit zu einer Jugendgruppe vor 1933 war Ende der 30er Jahre nicht zwangsläufig der Grund für Aktionen gegen die Staatsjugend, sondern vielmehr die aktuell gewachsene Abneigung. Die Anti-Haltung der Meutenmitglieder gegen das NSSystem speiste sich vor allem also auch aus zeitnahen Erlebnissen und Erfah265 266

Siehe PEUKERT: Edelweißpiraten. In: HUCK (Hg.): Sozialgeschichte. Vgl. Anklageschrift Heß. In: Widerstand, FicheNr.0695, S.18f.

10. Einschätzung der Leipziger Meuten

227

rungen. In der Bereitschaft zum Handeln gab es kaum Unterschiede zwischen früheren Staatsjugend-Mitgliedern, ehemaligen Bündischen, zuvor unorganisierten Jugendlichen und Mitgliedern linkssozialistischer Gruppen. Von Letztgenannte ist allerdings bekannt, dass sie sich konkrete Gedanken über eine Zeit nach dem Nationalsozialismus in Deutschland machten. Wie nachhaltig diese Zukunftsvorstellungen waren, lässt sich beim „Hundestart“, bei „Lille“, „Reeperbahn“ sowie Mitgliedern der Connewitzer Meute konkret nachzeichnen, weil eine ganze Reihe ihrer Mitglieder unmittelbar nach 1945 in linkssozialistische Parteien eintrat. Darauf wird später noch eingegangen. Nach dem Verständnis der 20er Jahre und unserer Zeit kann man die betreffenden Jugendlichen nicht wirklich als Kommunisten bezeichnen, wohl aber konstatieren, dass nicht wenige von ihnen – zumindest diffus – mit dem Kommunismus offen sympathisierten. Nach der Definition von Kommunismus durch Gestapo und Staatsanwaltschaft waren hingegen Gespräche über „RotSpanien“, das heimliche Hören von Radio Moskau und das Tragen von roten Halstüchern in Verbindung mit früheren Mitgliedschaften in linkssozialistischen Gruppen Indiz genug, um die Meuten als Fortführungen bzw. Neugründungen von kommunistischen bzw. marxistischen Gruppen anzusehen. Daran wird deutlich, wie die NS-Justiz den Kommunismus-Begriff gebrauchte, um alles, was man in diese Richtung interpretieren könnte, strafrechtlich zu verfolgen. Man kann die Leipziger Meuten darum in ihrer Gesamtheit nicht pauschal als linkssozialistisch bezeichnen, da ein zu kleiner Teil in dieser Richtung vor 1933 organisiert war. Jedoch prägten die Gruppen und Einzelpersonen, welche linkssozialistisch orientiert waren, das Bild der Meuten nachhaltig. Diese Orientierung hat milieubedingte Ursachen aus der Zeit vor 1933 und zeigt, dass die Arbeiterbewegung, obwohl faktisch seit der „Machtergreifung“ zerschlagen, weiter nachwirkte. Gemeinsam war allen Leipziger Meuten die konsequente Ablehnung der Staatsjugend und damit der NS-Jugendpolitik. Zwischen linkssozialistischen und eher bündisch geprägten Meuten bestanden zwar aufgrund der räumlichen Distanz der Treffpunkte weniger Verbindungen, dennoch fühlten sich alle der „Bündischen Jugend“ zugehörig. Das schließt ein, dass die Meuten mit stärkerer linkssozialistischer Prägung von den übrigen ebenso zur gemeinsamen „Bündischen Jugend“ gezählt wurden, dass es in allen Meuten also eine hohe Akzeptanz für die offen zur Schau gestellten linkssozialistische Einstellungen gab.

b.

Die Ausmaße der Meutenbewegung

Wie bereits dargestellt, konnten für viele Stadtteile Leipzigs Jugendcliquen festgestellt werden, die als Meuten zu verstehen sind. Auffallend ist dabei, dass in den Vierteln, die in der Weimarer Zeit als „linke Hochburgen“ sowohl der SPD

228 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 als auch der KPD bekannt waren, sich die Meuten als links bzw. sogar als kommunistisch verstanden – zumindest ein Großteil der Mitglieder. Für die Meuten in Innenstadtnähe (die „künstlich“ gegründete „BAJO“ aus dem Seeburgviertel ausgenommen) sind hingegen kaum frühere Verbindungen ins linkssozialistische Milieu bekannt, weswegen diese Meuten nicht in dieser Richtung auffielen. Anhand der Connewitzer Meute konnte aufgezeigt werden, dass sich sowohl bündische als auch linkssozialistische Jugendliche in einer Gruppe zusammenfanden. Zu alledem fällt auf, dass ein nicht kleiner Teil der Meutenmitglieder zuvor im Jungvolk bzw. in der HJ war, in einem eigenen Erkenntnisprozess die Unattraktivität der Staatsjugend erkannte, die Konsequenzen daraus zog und sich einer autonomen Freizeitgestaltung zuwandte. Von den knapp 400 namentlich bekannten Meutenmitgliedern waren zwischen 1932 und 1938 zumindest zeitweise 31 in der HJ, 23 im Jungvolk und zehn im BDM, d. h., nur eine kleine Minderheit der namentlich bekannten Meutenmitglieder kam aus der Staatsjugend. Die auf Eigenangaben bei Verhören beruhende Zahl kann als realistisch eingeschätzt werden, da die verhörten Jugendlichen sich von der Erwähnung einer früheren Mitgliedschaft in der Staatsjugend sicherlich gewisse Vorteile erhofften. Inwieweit diese Zahlen für die übrigen, namentlich unbekannten Mitglieder repräsentativ ist, kann nicht gesagt werden. Es ist in diesem Zusammenhang kaum bekannt, dass ein neu hinzukommendes Meutenmitglied, wenn es früher der HJ angehört hatte, von den anderen nicht voll anerkannt wurde. Die Arbeiterjugendlichen waren untereinander gleichgestellt, unabhängig von ihrer früheren Gruppenzugehörigkeit. Zur Verbreitung der Meuten in Leipzig gibt es noch anzuführen, dass in Stadtteilen, die vorwiegend als bürgerlich galten, wie das Waldstraßenviertel, das Musikviertel und Teile von Gohlis, keine Meuten bekannt sind. Das deckt sich mit der ermittelten sozialen Herkunft der Meutenmitglieder, welche bis auf sehr wenige Ausnahmen allesamt aus dem Proletariat kamen. Die Meutenbewegung war somit eine Arbeiterjugendbewegung. Im Übrigen ist kein Meutenmitglied bekannt, welches Ende der 30er Jahre arbeitslos war. Dies zeigt, dass es sich bei den Meuten nicht um Erscheinungen „großstädtischer Verwahrlosung“ gehandelt hat. Es ist notwendig, sich noch einmal mit den Mitgliederzahlen zu beschäftigen, da sich hier zwei Aussagen gegenüberstehen. Zum einen bezifferte 1938/39 die Leipziger Gestapo die Ausmaße der Meuten auf etwa 1.500 Jugendliche.267 Dagegen stehen die Forschungsergebnisse von Sabine Kircheisen aus den späten 80er Jahren, die die Mitgliederzahl mit höchstens 500 angibt.268

267 268

BArch R 3001/1177, Bl.355. S. KIRCHEISEN: Jugendliche Opposition gegen den Hitlerfaschismus - Die Leipziger Meuten. In: UNIVERSITÄT ROSTOCK (Hg.): Jugendgeschichte, Rostock 1990, S.24.

10. Einschätzung der Leipziger Meuten

229

Diese Zahl wurde später auch von Kurt Schilde übernommen, ohne weitere Quellenstudien.269 Man könnte vermuten, dass die Gestapo seinerzeit übertrieben hatte, um sich von übergeordneten Stellen zusätzliche Mittel und Personal zu erbitten. Da diese Zahl nur in internen Schreiben bzw. bei den Prozessen genannt wurde, erscheint diese Vermutung jedoch unzutreffend, da zu diesem Zeitpunkt die Bekämpfung der Meuten bereits weit fortgeschritten war. Außerdem ist es schwer vorstellbar, dass NS-Organe die Zahl ihrer Gegner im eigenen Land absichtlich übertreiben, dies wurde während der ganzen Zeit des NS in der Öffentlichkeit nie getan – im Gegenteil. Zum Vergleich sollte man sich nochmals die Zahl der Nicht-HJ-Mitglieder aus dieser Zeit vor Augen führen: 1939 gab es in Leipzig etwa 8.000 Jugendliche, die nicht in der HJ waren, in den Jahren zuvor waren es noch mehr.270 Wenn die Gründe für den Nichteintritt auch vor allem familiärer und beruflicher Art gewesen sein mochten, so erscheint die Zahl von 1.500 Jugendlichen, die zwischen 1937 und 1939 zumindest zeitweise einer Meute angehörten, durchaus realistisch. Hinzu kommt, dass Sabine Kircheisen 1987/88 bei ihren Recherchen die Bestände des Sondergerichts Freiberg nicht eingesehen hat. Der Autor konnte mehr als 200 zusätzliche Namen allein aus diesen Aktenbeständen ermitteln, die Kircheisen damals unbekannt waren. Zusammenfassend kann darum die von der Gestapo angegebene Anzahl von 1.500 Mitgliedern als zutreffend bezeichnet werden.

c.

Leipziger Meuten – eine Ausnahmeerscheinung in Sachsen und Mitteldeutschland?

Wie bereits ausgeführt, haben sich ähnliche Jugendgruppen auch in Kleinstädten in der Umgebung Leipzigs zusammengefunden. Während für Chemnitz als drittgrößter Stadt Sachsens bislang keine wissenschaftlichen Untersuchungen über solcherart Gruppen vorliegen und auch in den durchgesehenen Quellen – bis auf einige allgemeine Zeitzeugenaussagen – nichts gefunden wurde, so sind für die Landeshauptstadt Dresden mehrere ähnliche Gruppen bekannt, welche dort die Bezeichnung „Mob“ trugen. Besonders für die Arbeiterviertel wurden um 1940 verschiedene Cliquen in einer Stärke von 20 bis 40 Jugendlichen beobachtet. Diese trugen analog den verschiedenen Leipziger Meuten Namen wie „Hechtmob“, „Alaunmob“ und „Fleischermob“ und trafen sich abends auf Straßen, in Parkanlagen und Eisdielen. An den Wochenenden gingen diese Gruppen auf Fahrten in das nahe gelegene Elbstandsteingebirge und ins Erzgebirge. Die Kleidung war ähnlich der der Leipziger Meuten, nur dass keine links269 270

Siehe SCHILDE: Leipziger Meuten. In: BENZ (Hg.): Lexikon, S.254. Vgl. Stadtarchiv Leipzig SchuA 1/405 Bd.2, Bl.46.

230 III. Phase II: Wilde Arbeiterjugendcliquen – die Leipziger Meuten 1937 bis 1939 sozialistischen Symboliken überliefert sind. Anders als die Leipziger Meuten, welche seitens der Gestapo in bündisch, sittlich verwahrlost oder kommunistisch eingeteilt wurden, fiel die Einschätzung der Dresdner Mobs durch die dortigen NS-Behörden anders aus: „Neben sittlichen Verwahrlosungserscheinungen und haltungsmäßigen Verfehlungen ist zugleich eine starke Kriminalität, die sich besonders aus Diebstählen, Sittlichkeitsdelikten und vor allem auch Verfehlungen am Arbeitsplatz zusammensetzt, festzustellen.“271 Eine linkssozialistische Prägung ist bei den Mobs nicht bekannt. Dies könnte seine Ursache darin haben, dass die Arbeiterbewegung vor 1933 in Dresden nicht in dem Umfang aktiv war wie in Leipzig. Die vergleichsweise geringen Mitgliederzahlen bei KJVD und SAJ in Dresden belegen dies.272 Es soll auch in Dresden zu Übergriffen auf HJ-Mitglieder gekommen sein. Nicht überliefert sind Angaben über die Gesamtzahl der Mob-Angehörigen. Es muss davon ausgegangen werden, dass sie nicht so hoch wie in Leipzig gewesen ist. Diese These wird gestützt durch die Bestände des Sondergerichtes Freiberg. Wurde zwischen 1937 und 1940 gegen knapp 300 Leipziger Jugendliche wegen Mitgliedschaft in einer Meute ermittelt, so finden sich keine konkreten Hinweise auf Ermittlungen gegen die Dresdner Mobs. Dies könnte damit zu tun haben, dass die Mobs möglicherweise erst um 1940 in Erscheinung traten und daher nicht mehr vom Sondergericht in Freiberg bearbeitet wurden. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre sind insgesamt nicht mehr als 20 Jugendliche aus Dresden wegen „bündischer“ Delikte wie bei den Leipziger Meuten beim Sondergericht Freiberg aktenkundig geworden.273 Neben den Mobs hatten sich außerdem Dresdner Jugendliche dem HJ-Dienst dadurch entzogen, dass sie in einen der zahlreichen Bergsteigervereine eingetreten waren. Auch für weitere Städte im mitteldeutschen Raum gibt es Hinweise, dass sich dort informelle Jugendgruppen gebildet hatten, welche einen ähnlichen Dresscode wie die Meuten aufwiesen. Im etwa 35 Kilometer von Leipzig entfernten Halle an der Saale sind Anfang der 40er Jahre so genannte „Proletengefolgschaften“ in den dortigen Arbeitervierteln beobachtet worden. Bereits 1938 gab es in Erfurt informelle Gruppen, welche sich „Trenker-Bande“, „TexasClub“ oder „Meute“ nannten bzw. so genannt wurden.274 Wenngleich für diese Gruppen noch keine relevanten wissenschaftlichen Arbeiten existieren, so kann anhand der eingesehenen Quellen gesagt werden, dass diese Jugendgruppen nicht die Ausmaße der Leipziger Meuten erreichten und eine linkssozialistische Einstellung nicht in dem Umfang vorhanden war, 271 272 273 274

BArch R22/1177, Bericht der RJF September 1942 über „Cliquen- und Bandenbildung unter Jugendlichen“, Bl.376. Vgl. Kapitel Jugend in Leipzig am Ende der Weimarer Republik. Vgl. HStAD Findbücher Bestände des SG Freiberg. Siehe BArch R22/1177, Bericht RJF September 1942 über „Cliquen- und Bandenbildung unter Jugendlichen“; Bl.380ff.

10. Einschätzung der Leipziger Meuten

231

wie bei den drei bekannten Leipziger Meuten. Leider liegt für die damalige Reichshauptstadt Berlin noch keine umfassende Arbeit über informelle Jugendgruppen vor, so dass ein Vergleich nicht möglich ist.275 Es kann dennoch aufgrund der vorliegenden Mitgliederzahlen festgehalten werden, dass es sich bei den Leipziger Meuten Ende der 30er Jahre um die größte informelle Jugendbewegung in Deutschland gehandelt hat.276

275 276

Vgl. SCHILDE: Jugendorganisation und Jugendopposition in Berlin-Kreuzberg, Berlin 1983. Die westdeutschen Edelweißpiraten erreichten erst zu Beginn der 40er Jahre eine zahlenmäßig größere Ausbreitung. Vgl. hierzu: BENZ (Hg.): Lexikon; Ebenso: KENKMANN: Wilde Jugend, S.171ff.

IV.

1.

Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Die Ausgangssituation nach 1935

Das Verbot der linkssozialistischen Arbeiterorganisationen (Parteien, Jugendverbände, Sportvereine, Gewerkschaften) mit der darauf folgenden beispiellosen Verfolgung durch den gesamten NS-Unterdrückungsapparat hatte die organisierte Arbeiterbewegung in Leipzig, auch mit ihren illegalen Fortführungsversuchen, bis 1935 faktisch zerschlagen. Die Aktivisten, die nach der „Machtergreifung“ illegale Arbeit leisteten, befanden sich zum Großteil 1935 in Haft oder warteten im Gefängnis auf ihren Prozess. Jegliche Versuche des KJVD, Teilen der SAJ und anderer linker Jugendorganisationen, ihre früheren Strukturen aus der Weimarer Zeit unter illegalen Bedingungen fortzuführen, waren gescheitert. Doch nicht alle ehemaligen Mitglieder und Sympathisanten arbeiteten nach 1933 sofort in der Illegalität. Sie hatten sich zu großen Teilen ins Private zurückgezogen, teils aus Vorsicht, teils aus Resignation. Die Resistenz gegen das NS-Regime blieb hingegen oftmals erhalten. Anhand der Leipziger Meuten konnte aufgezeigt werden, dass sich besonders die Jugendlichen der Geburtsjahrgänge um 1920, die sich vor 1933 im Umfeld einer linkssozialistischen Kinder- oder Jugendorganisation bewegten, in Cliquen trafen und in der zweiten Hälfte der 30er Jahre ein Jugendleben jenseits der HJ und des NS-Systems versuchten zu pflegen. Aber auch viele frühere Mitglieder linkssozialistischer Jugendorganisationen der Geburtsjahrgänge um 1915 versuchten unter den Bedingungen des Nationalsozialismus ihre sozialen Kontakte und Gesinnungsgemeinschaften aufrecht zu erhalten bzw. zu erneuern und ihr früheres Gruppenleben zumindest im geselligen Rahmen fortzuführen. Hinzu kamen Ende der 30er Jahre mehrere aus den Zuchthäusern entlassene ehemalige KJVD-Mitglieder, die wieder Kontakt zu früheren Gesinnungsfreunden herstellten. Zu ihnen gesellten sich mit der Zeit auch Jüngere, die über Verwandtschafts- und Bekanntschaftsverhältnisse zu diesen Gruppen stießen. Anders als die Leipziger Meuten, welche offensiv im Stadtbild präsent waren, versuchten sie bei ihren Zusammenkünften nicht aufzufallen. Hierzu bot sich beispielsweise – in Anlehnung an den weit verbreiteten Arbeitersport vor 1933 – die Mitgliedschaft in einem der verbliebenen legalen Sportvereine an. Wenn auch die proletarischen Sportvereine 1933 allesamt verboten wurden, organisierten sich zahlreiche jüngere und ältere Arbeitersportler in der Folgezeit in anderen Vereinen – neben bürgerlichen besonders in den von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) geführten Betriebssportvereinen. An den Wochenenden

1. Die Ausgangssituation nach 1935

233

fuhren größere und kleinere Gruppen von ehemals organisierten Arbeiterjugendlichen meist unabhängig voneinander aus Leipzig in die Dübener oder Dahlener Heide bzw. an die Lübschützer oder Gallener Teiche. „Getarnt als harmlose Naturfreunde und Wanderer, versuchen junge Linke, die hier draußen in Grüppchen aufeinander treffen, an schönen Plätzen zu lagern oder sich auf Wanderungen zu begeben, so gut es geht, Kontakt zu halten, sich gegenseitig beizustehen. Informationen werden ausgetauscht. Die verhaftet waren, erzählen von ihren Knasterfahrungen. Darauf bedacht, nicht aufzufallen und als Gegner erkannt zu werden, ziehen sie mit Rucksäcken und Klampfen über Heidewege durch den Wald und singen Wanderlieder. Andere wiederum sitzen mit Zeichenblocks auf einer Wiese und setzen ihren vor Jahren begonnenen Unterricht bei einem linken Maler fort.“1 Man kann festhalten, dass es ab 1935 keine aktiven, illegalen Leitungen oder Strukturen gab, weder von der KPD noch von der SPD oder einer anderen illegalen linkssozialistischen Partei, weder in Leipzig noch in einer anderen sächsischen Stadt. Es fanden sich stattdessen verschiedene Gesprächskreise zusammen, welche (im Gegensatz zur Weimarer Zeit) nicht selten eine heterogene Alterstruktur aufwiesen. Jetzt kamen vorrangig Menschen aufgrund gleicher politischer Ansichten zusammen und weniger wegen jugendspezifischer Interessen. Die immer noch vorhandenen sozialen Netzwerke – Freunde, Bekannte, Familien – ermöglichten eine zwanglose Gruppenbildung ohne übergeordnete Anleitung. Im Folgenden sollen darum einige Gruppen bzw. Gesprächskreise beschrieben werden, in denen frühere KJVD- und SAJ-Mitglieder nach ihrer Haftentlassung wieder aktiv wurden. Diese Gruppen verfolgten nur teilweise noch jugendspezifische Interessen, ihre Beschreibung ist aber notwendig, um den Entwicklungsprozess dieser (ehemaligen) Jugendlichen nachzuvollziehen. Festzuhalten bleibt außerdem, dass es sich bei diesen Kreisen ausschließlich um Menschen handelte, die bereits vor 1933 linkssozialistisch eingestellt waren. Dies gilt auch für die aus bürgerlichem Haus, wie z. B. einige Kunstmaler. Die Mitgliedschaft in einer der früheren Arbeiterparteien spielte ab der zweiten Hälfte der 30er Jahre oftmals nur noch eine untergeordnete Rolle. Das Zusammengehörigkeitsgefühl speiste sich jetzt aus den alten Idealen: marxistisch, sowjetfreundlich, auf Revolution hoffend.2

1 2

STERN: In den Netzen, S.143. Vgl. VOIGT: Kommunistischer Widerstand, S.29; Vgl. dort Kapitel: Struktur des kommunistischen Widerstandes in Leipzig bis 1943, S.27-31.

234

2.

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Der Kreis um Kurt Gittel

Der Leipziger Kurt Gittel (Jg. 1914) war 1933 als illegaler Kurierleiter für die Reichsleitung des KJVD in Berlin aktiv, wurde im Herbst 1933 verhaftet und war deswegen Mitte Oktober 1934 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung 1936 traf sich Kurt Gittel zunächst noch in Berlin mit einem illegalen kommunistischen Funktionär namens „Alex“. Anschließend kehrte er nach Leipzig zurück und erfuhr dort, dass alle kommunistischen Organisationen in der Stadt zerschlagen waren. Dies berichtete er im Spätsommer 1937 „Alex“ bei einem erneuten Treffen in Berlin. „Alex“ riet Gittel zunächst von der Wiederaufnahme illegaler Arbeit ab, da dies zu gefährlich sei.3 Helmut Holtzhauer (Jg. 1912) war nach 1933 im illegalen KJVD als Agitpropleiter einer Zelle im Leipziger Osten aktiv gewesen und deswegen im Mai 1935 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung traf er Kurt Gittel, den er aus dem KJVD kannte. Es folgten weitere Treffen, wo man sich über die politische Lage und persönliche Dinge austauschte, teilweise zusammen mit Kurt Schmidt (Jg. 1912) und Erich Berger (Jg. 1913). Die beiden waren ebenfalls frühere KJVD-Mitglieder und nach 1933 in Leipzig illegal aktiv gewesen, Schmidt als Zellenleiter.4 Zu dieser Gruppe stieß das junge Ehepaar Ilse (Jg. 1910) und Wilhelm Hunger, das vor 1933 zu einer FichteWandergruppe gehörte. Aus dem Wunsch, wieder politisch aktiv zu werden, stellte man hektographierte Rundbriefe her. Besonders der 1939 zwischen Deutschland und der Sowjetunion abgeschlossene Nichtangriffspakt hatte unter den deutschen Kommunisten für große Verwirrung gesorgt. Der Rundbrief, welcher zu diesem Thema ausgearbeitet wurde, umfasste zehn Seiten.5 Im Herbst 1940 wurde unter dem Eindruck der Kriegssituation ein zweiter Rundbrief verfasst mit dem Titel: „Einige Gedanken über den gegenwärtigen Krieg und die notwendige Haltung des revolutionären Proletariats“ mit einem Umfang von etwa acht Seiten.6 Ein Exemplar der Abschrift brachte Kurt Gittel nach Berlin zu „Alex“, welcher einige Zeit später im Januar 1941 nach Leipzig in die Wohnung von Gittel kam, um mit ihm, Holtzhauer, Berger und Schmidt über die Abhandlung zu diskutieren. Zweck der Ausarbeitung Gittels war, nach späterer Ansicht der Staatsanwaltschaft, die „theoretische Begründung für die Notwendigkeit der Wiederaufnahme der illegalen Arbeit der KPD“.7 Im Juni 3 4

5 6 7

BArch NJ 1183, Urteilsschrift gegen K. Gittel unpag. Zu diesem Kreis soll nach eigenen Angaben auch Herbert Günther gehört haben. Siehe Erinnerungsbericht H. Günther vom 12.12.1948 in BArch RY 1/I 2/3/122. Sein Name taucht jedoch weder in den NS-Akten noch in anderen Erinnerungsberichten auf. Vgl. Erinnerungsbericht H. Günther, BArch 1/I 2/3/122, Bl.65. BArch NJ 1183 Urteilsschrift gegen K. Gittel unpag. Außer der Überschrift ist kein weiterer Originaltext überliefert, jedoch eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Widerstand als Hochverrat, FicheNr.0167, Anklageschrift gegen K. Gittel u.a., Bl.31.

2. Der Kreis um Kurt Gittel

235

1941 arbeitete die Gruppe am dritten Rundbrief. „Diese Flugschriften wollten in erster Linie die Genossen von früher wachrütteln, aber sprachen auch die Arbeiter im Allgemeinen an und forderten sie zum Widerstand in verschiedenen Formen auf.“8 Zur selben Zeit verhaftete die Berliner Gestapo „Alex“ und erfuhr von der Verbindung zu Kurt Gittel. Bei einer anschließenden Hausdurchsuchung bei Gittel in Leipzig fand die Gestapo einen der Rundbriefe und verhaftete am 25. Juni 1941 ihn sowie Holtzhauer und Schmidt, einige Wochen später das Ehepaar Hunger, welches die Schreibmaschinenabschriften getätigt hatte. Auch Erich Berger wurde verhaftet. Bereits Ende September lag die Anklageschrift beim Volksgerichtshof. Am 27. Januar 1942 wurde Kurt Gittel wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Zur Anklage kam nur einer der Rundbriefe, da die Staatsanwaltschaft von den anderen Texten keine Kenntnis hatte. Helmut Holtzhauer und Kurt Schmidt erhielten wegen Unterlassung einer Anzeige jeweils zwei Jahre Gefängnis. Das Ehepaar Hunger verurteilte man wegen Beihilfe zu je einem Jahr Gefängnis, Erich Berger wurde freigesprochen.9 Der bereits von seiner ersten Haftzeit gesundheitlich angeschlagene Kurt Gittel starb 1943 unter den Bedingungen seiner Zuchthaushaft in Waldheim. Schmidt und Holtzhauer wurden nach ihrer Haftverbüßung wieder entlassen. Letzterer war nach 1944 im illegalen Leipziger NKFD aktiv.10 Warum beide, wie in der damaligen Zeit üblich, nicht in „Schutzhaft“ kamen, ist nicht bekannt. Das Ehepaar Hunger hingegen wurde nach der Haftverbüßung in Konzentrationslager eingewiesen.11 In dem Prozess wurde Kurt Gittel nahezu als Alleintäter dargestellt. Es ist aber davon auszugehen, dass die anderen Mitglieder der Gruppe sich an den Diskussionen und Ausarbeitungen aktiver beteiligt hatten, als es die Staatsanwaltschaft später nachweisen konnte. Dies ist umso wahrscheinlicher, als Helmut Holtzhauer 1934 eine aktive Funktion im illegalen KJVD bekleidet hatte, ebenso Kurt Schmidt. Offensichtlich hat Kurt Gittel bei seinen Verhören die Hauptlast der Vorwürfe auf sich genommen, um die anderen zu entlasten. Die illegale Tätigkeit von Kurt Gittel mit der Ausarbeitung des erwähnten Papiers zeigt nochmals deutlich, dass es zu diesem Zeitpunkt – im Gegensatz zur späte-

8 9 10

11

Vgl. Erinnerungsbericht Ilse und Wilhelm Hunger (o.J., um 1949), BArch DY 55/V 241/7/39, B.233. BArch NJ 1183 Urteilsschrift gegen K. Gittel unpag. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass Holtzhauer vor 1933 bei der SAP Mitglied war, wie Tubbesing behauptet. (vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, 1996, S.31). Auch bei Rudloff finden sich Hinweise auf Holtzhauers SAP-Mitgliedschaft (siehe RUDLOFF: Leipzig-Wiege, S.179) Fakt ist, dass Holtzhauer als Funktionär des illegalen KJVD Mitte Mai 1935 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Siehe StAL PP-S 646-122, Bl.100ff. Vgl. Erinnerungsbericht Hunger, BArch DY 55/V 241/7/39, Bl.233.

236

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

ren DDR-Geschichtsschreibung – keine funktionierende KPD-Struktur in Leipzig gegeben hat, sondern lediglich verschiedene Gesprächskreise einzelner Kommunisten.

3.

Der Kunststudentenkreis um Karl Krauße

Der Maler Karl Krauße war Mitarbeiter des „Illustrierten Volksecho“, einer KPD-Zeitschrift in Leipzig, bis zu dessen Verbot am 1. März 1933. Anschließend wurde von der Redaktion noch kurzzeitig die Zeitschrift unter dem Namen „Sachsenpost“ weitergeführt, bevor die Polizei auch diese verbot. 1936 bezog Karl Krauße ein Atelier in der Südvorstadt, welches er sich mit Studenten der Kunstakademie teilte. „Diese Studenten waren parteipolitisch neutral, aber entschiedene Gegner des Faschismus, mit denen man ganz offen über die politische Lage diskutieren konnte. Alle standen in heftiger Opposition zum NSSudentenbund, und zwei von ihnen verließen demonstrativ die Akademie, als man sie zwingen wollte, in den NS-Studentenbund einzutreten.“12 In diesem Kreis fanden in der Folgezeit Gespräche über Politik und Kunst statt. Zu der Gruppe stießen außerdem noch vier ehemalige SAJ-Mitglieder. Insgesamt sind zwölf Personen namentlich bekannt.13 Nach späteren Angaben von Karl Krauße stellte die Gruppe von Zeit zu Zeit gummierte Papierstreifen mit antifaschistischen Parolen her, wie „Kämpft gegen Hitler“, „Butter statt Kanonen“ oder „Hitler bedeutet Krieg“, welche an Kinoeingängen, Telefonzellen und öffentlichen Gebäuden angebracht wurden. Die Gruppe traf sich 14-tägig bis 1938. Danach zerfiel der Kreis, weil das Atelier aufgrund von Mietschulden gekündigt wurde. Karl Krauße stieß in der Folgezeit mit zum „Völkel-Kreis“, in dem sich sowohl kommunistische Künstler als auch frühere Jungkommunisten zusammenfanden.14

12 13 14

Bericht von K. Krauße (o.J.), StAL SED-Erinnerungen V/5/133. Ebda. Die Bezeichnungen für diesen informellen Gesprächskreis variieren in den Erinnerungsberichten. Mit „Völkel-Kreis“ übernimmt der Verfasser die Bezeichnung von Heinz Zöger. Siehe STERN: In den Netzen, S.144; Im Erinnerungsbericht von Karl Krauße wird für denselben Kreis die Bezeichnung „Gruppe Zimmermann“ verwendet, nach dem Nachnamen eines der Mitglieder, bei dem man sich ebenfalls zu Hause traf. Vgl. StAL SED-Erinnerungen V/5/133.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

4. a.

237

Die Leipziger KdF-Jugendgruppe Die Entstehung der KdF-Jugendgruppe

Neben den bereits beschriebenen informellen Gesprächskreisen trafen sich in der zweiten Hälfte der 30er Jahre verstärkt frühere Mitglieder von linkssozialistischen Jugendverbänden in Sportvereinen und machten andere Freunde und Bekannte darauf aufmerksam, dass man dort relativ ungestört unter seinesgleichen ist. Ein Beispiel ist der „Postsportverein“ in Leipzig. Trainer war 1938 das frühere SAJ- und ATSB-Mitglied Willi Becker. Becker war bereits 1933 mit mehreren SAJ-Angehörigen, früheren Kinderfreunde-Helfern und Mitgliedern der Roten Falken in den Postsportverein eingetreten. Im Plagwitzer „Klampfenchor“ fanden sich ebenfalls frühere SAJ-Mitglieder zusammen. Beide Vereine bestanden bis 1945 und verstanden sich nach Angaben des früheren Postsportvereinsmitgliedes Anni Strauß in erster Linie als Orte der Freizeitgestaltung.15 In Leipzig gab es außerdem ein Sportgeschäft Weber, dessen Inhaber im Arbeitersport aktiv gewesen war und sich nach 1933 selbstständig gemacht hatte. Von dort aus wurden Reisen und „Hüttenabende“ veranstaltet, an denen vorwiegend Jugendliche teilnahmen. An den geselligen Abenden, welche oftmals im Felsenkeller stattfanden, traten auch Klampfenchöre auf, hauptsächlich der aus Plagwitz.16 Neben der Mitgliedschaft in einem Betriebssport- oder Musikverein gab es die Möglichkeit, sich bei der „Kraft-durch-Freude“-Freizeitbewegung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sportlich zu betätigen. Da nahezu alle Lehrlinge und Arbeiter nach der Auflösung der freien Gewerkschaften in der DAF organisiert waren, konnte man die Kurse problemlos besuchen. Martin Helas, in den 20er Jahren bei der SAJ und nach dem Wechsel zur kommunistischen Jugend 1933 Funktionär des Leipziger KJVD, war nach mehrmaligen Verhaftungen und Verurteilungen wegen illegaler Arbeit seit März 1935 wieder auf freiem Fuß und musste wie viele andere feststellen, dass der KJVD zerschlagen war. 1936 fand er zu einem Gymnastiksportkreis von etwa einem Dutzend Menschen, geleitet von Hanna Mohr, die ihm aus der Freikörperkultur bekannt war. Außerdem ging die Gruppe zu einem Schwimmkurs ins Stadtbad. „Ich habe sofort versucht, alle Bekannten, die ich treffen konnte, auf diesen Kreis aufmerksam zu machen. Bald hatten wir einen kleinen Kreis zusammen, der neben der Sportstunde auch bestrebt war, das Wochenende gemeinsam zu verleben. Wir fuhren in

15 16

Vgl. Protokoll der Aussprache mit Anni Dörner, geb. Strauß (o.J., um 1965); Privatarchiv Jahnke. Ebda.

238

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

die Dübener Heide, in das Muldengebiet, aber auch an den Gallener Teich und hatten überall Gelegenheiten, mit anderen losen Gruppen aus den ehemaligen Jugendorganisationen der Arbeiterjugend Fühlung zu nehmen […] anfangs nur, um den geselligen Bestrebungen nachzugehen. Aber schon das Wissen, sich im Kreise Gleichgesinnter zu befinden, ermöglichte uns über die bestehenden politischen Verhältnisse einen Meinungsaustausch zu pflegen.“17

Der Gymnastikkurs von Hanna Mohr musste später in den KdF-Sport eingegliedert werden. Als Hanna Mohr von Leipzig wegging, trafen sich nach Angaben von Martin Helas in diesem Kreis bereits etwa 50 junge Menschen aus den verschiedensten Strömungen der früheren Arbeiterjugend. Auch unter Leitung eines KdF-Sportlehrers ging diese Entwicklung weiter. Die Gruppe trainierte in der Turnhalle Glockenstraße im Seeburgviertel unweit der Innenstadt, wo 1937 beispielsweise Heinz Haferkorn (vor 1933 bei den Roten Falken) hinzukam und seinen früheren Gruppenleiter Martin Helas und andere ehemalige Rote Falken wiedertraf.18 Neben den wöchentlichen Treffen beim Sport wurden gemeinsame Wanderungen in die nähere Umgebung Leipzigs unternommen. Kurt Scheffler (Jg. 1922, vor 1933 bei den Kinderfreunden) hatte einen älteren Bruder Herbert, der 1935 wegen Fortführung der verbotenen SAP zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Bereits nach dessen Verhaftung nahm ein Freund von Herbert Scheffler, das frühere SAJ-Mitglied Willy Lautenschläger (Jg. 1913), Verbindung zur Familie Scheffler auf und nahm Kurt 1937 zur KdF-Gymnastik-Gruppe und zum Schwimmen ins Stadtbad mit.19 Ab 1938 stießen zu dieser Gruppe mehrere aus den Zuchthäusern Entlassene, wie die beiden früheren SAP-Mitglieder Herbert Scheffler und Alfred Nothnagel. Besonders Alfred Nothnagel brachte in der Folgezeit die politische Ausrichtung der bis dahin eher geselligen Jugendgruppe in entscheidende Bahnen. Im Südwesten der Stadt trafen sich ebenfalls linksorientierte Jugendliche, vor allem aus den Mayerschen Häusern, beim KdF-Sport in einer dortigen Turnhalle. Daran nahmen auch Jugendliche aus der Meute „Hundestart“ teil, unter ihnen Wilhelm Endres. Nach seinen Angaben muss dies bereits nach Kriegsbeginn 1939/40 gewesen sein.20 Inwieweit sich diese Sportgruppe mit der oben genannten überschneidet, konnte bislang nicht festgestellt werden. Übereinstimmend wird in den Erinnerungsberichten von einer Zeit der Sammlung in mehreren Wander- und Sportgruppen zwischen 1936 und

17 18 19 20

Erinnerungsbericht Martin Helas vom 12.2.1948, StAL SED-Erinnerungen V/5/080. Heinz Haferkorn bei der Aussprache ehem. Mitglieder der KdF-Gruppe am 14.3.1965 in Leipzig; Protokoll der Aussprache S.16; Privatarchiv Jahnke. Erinnerungsbericht Kurt Scheffler, 1964 S.2; Kopie im Besitz des Verfassers. Interview mit W. Endres.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

239

1938/39 gesprochen.21 Aus diesen Gruppen und sozialen Kontakten entwickelte sich ab 1938 die später als „KdF-Gruppe“ bekannte Vereinigung, die neben einem Kern von etwa 25 Mitgliedern noch eine Peripherie von bis zu 100 Jugendlichen hatte.

b.

KdF-Gruppe und Leipziger Meuten

Anders als die Leipziger Meuten traf sich die Gruppe nicht auf bestimmten öffentlichen Plätzen, sondern kam in erster Linie beim Sport zusammen, teilweise auch im kleineren Kreis bei jemandem zu Hause. Dennoch waren sie aufgrund ihrer Kleidung als jugendliche Gruppe erkennbar, welche nur minimal von der der Leipziger Meuten abwich. Man trug die damals übliche Wanderkleidung: karierte Hemden und kurze Lederhosen. Von den Leipziger Meuten unterschieden sie sich äußerlich nur durch die fehlenden weißen Strümpfe, Halstücher und Abzeichen. Das führte besonders 1938 mehrmals zu Komplikationen. Einmal befand sich die Gruppe auf der Kleinmesse, einem beliebten Treffpunkt von Meutenmitgliedern. Nach einer Achterbahnfahrt wurde die gesamte Gruppe von der Polizei verhaftet und zur dortigen Messwache gebracht, weil man sie für eine der Leipziger Meuten hielt. Der anwesende Leiter der KdF-Sportgruppe konnte auf der Polizeiwache das Missverständnis aufklären, sodass die Gruppe umgehend freigelassen wurde.22 Heinz Haferkorn erinnerte sich an eine ähnliche Situation: Nach den Sportstunden besuchte man zusammen oft noch eine Eisdiele oder ein Restaurant. Eines Abends saß die Gruppe – etwa 30 Personen – im „AutomatenRestaurant“ am Königsplatz (dem heutigen Leuschnerplatz). Beim Verlassen des Lokals wurde Heinz Haferkorn vom Geschäftsführer angesprochen: „Na, deine Gruppe, die wollen wir nicht wieder hier sehen“, woran sich ein Wortgefecht anschloss. Ein vorbeikommender Polizist wurde vom Geschäftsführer angehalten mit der Behauptung: „Hier, die haben randaliert!“ Der Polizist nahm daraufhin drei aus der Gruppe mit auf die gegenüberliegende Polizeiwache und brachte sie von dort zur Gestapo, offenbar mit dem Verdacht, Meutenmitglieder dingfest gemacht zu haben. Nach mehreren Verhören wurden sie wieder entlassen.23 Obwohl die drei Verhafteten aussagten, dass sie lediglich KdF-Sportler seien, wollte die Polizei offenbar die Sportgruppe überprüfen, denn zur nächsten 21

22 23

Siehe auch Protokoll der Aussprache mit Jochen Nebrig am 31.5.1966, Privatarchiv Jahnke; Nebrig nennt die Meyerschen Häuser als einen wichtigen Konzentrationspunkt dieser Sammlung von „antifaschistischen Jugendlichen“. Dort wurden Wintersportfahrten und später auch Wanderungen verabredet. Interview des Verfassers mit K. Scheffler am 14.04.2002 in Leipzig. Heinz Haferkorn bei der Aussprache am 14.3.1965 in Leipzig; Protokoll S.27f.

240

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Sportstunde tauchte ein Neuer auf, den keiner kannte. Er fiel auch dadurch auf, dass er im Trenchcoat und mit Aktentasche kam. Jemand soll außerdem in der Umkleidekabine den Polizeistempel in seinen Turnschuhen bemerkt haben. Daraufhin äußerte man beim Übungsleiter den Wunsch, statt des sonst üblichen Völkerballs einen „harten Rollball“ zu spielen. „Wer den Ball hat, kann von allen angegriffen werden. Der ‚Neue’ hatte meist den Ball und wurde entsprechend bearbeitet. Er hat sicher seiner Dienststelle anhand der blauen Flecke berichtet, dass bei uns harter Sport betrieben wurde. Es kam keiner wieder.“24 Auch im Sommer 1938 bei einer Fahrt in die Hohburger Berge kam es zu einer kritischen Situation. Abends tauchte eine HJ-Streife mit Motorrad in dem Steinbruch auf, wo die Gruppe zeltete. „Als sie mit ihrer Kontrolle beginnen wollten, kamen alle aus den Zelten und im Nu standen die zwei Braunhemden im Schein der Taschenlampen von 20 bis 25 Mann umringt. Zur gleichen Zeit entfernten sich die aus der Haft entlassenen Genossen in entgegengesetzter Richtung. Dabei waren unter anderem ‚Zwecke’ [Werner Rudolf, d.Verf.] und Martin Helas. Den Hitlerjungen merkte man Angst und Beklommenheit an. Sie schienen froh zu sein, dass wir uns als KdF-Sportler auswiesen und sie sich schnellstens entfernen konnten.“25

Möglicherweise hielten die HJ-Mitglieder die Gruppe für eine der Leipziger Meuten, welche in dieser Zeit für ihre Gewalttätigkeiten gegenüber dem HJStreifendienst bekannt waren. Die Situation zeigte aber auch, mit welchem Selbstbewusstsein die Gruppe den Uniformierten gegenübertrat. Die politisch linkssozialistisch ausgerichteten Gruppen der Leipziger Meuten und die KdF-Gruppe kamen trotz verschiedener Gemeinsamkeiten nicht zusammen, auch wenn man sich bei Wanderungen und beim Baden möglicherweise begegnete. Gruppenmitglieder wie Alfred Nothnagel, Martin Helas oder Herbert Scheffler, die mehrere Jahre im Zuchthaus gesessen hatten, wussten, dass geselliges Zusammensein unter Gleichgesinnten oder gar erneute illegale Arbeit längerfristig nur möglich sind, wenn man in der Öffentlichkeit nicht auffällt. Die spontan und aktionistisch handelnden Meuten waren für die KdFGruppe schlicht ein Sicherheitsrisiko. Die meisten Angehörigen der KdFGruppe waren außerdem knapp zehn Jahre älter als die Meutenmitglieder. Übereinstimmend äußerten ehemalige Gruppenmitglieder, dass man sich von der „Bündischen Jugend“ fern gehalten hat.26 Im Nachhinein muss man diese Entscheidung als richtig ansehen. Gerade die Zerschlagung der Leipziger Meuten im Jahr 1939 hätte womöglich die KdF-Gruppe mit hineingezogen.

24 25 26

Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.4. Ebda. Interview mit K. Scheffler vom 11.04.2002; Sowie Erinnerungsbericht Martin Helas, StAL SED-Erinnerungen V/5/080.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

241

Auch in der Kriegszeit gab es keine Möglichkeit der Zusammenarbeit. Einzelne Mitglieder der Meuten, die für eine Mitgliedschaft in der KdF-Gruppe aus politischer Sicht in Frage gekommen wären, waren mindestens bis 1941 in Haft und wurden danach zur Wehrmacht eingezogen. Einzig für die Gruppe um Willhelm Endres von der Meute „Hundestart“ gibt es Hinweise, dass man am KdF-Sport teilgenommen hat und sich ebenfalls im ehemaligen FichteBootshaus traf. Endres und sein Freund Helmut Thomas nahmen dort bis 1941 an Faltbootwanderungen teil. Möglicherweise waren sie, ohne es zu wissen, mit der hier beschriebenen KdF-Gruppe auf Fahrt. Wegen deren Einberufungen waren aber längerfristige nähere Kontakte nicht möglich. Von den aus der Haft entlassenen Meutenmitgliedern ist einzig Rolf Lindner von der Meute „Lille“ bekannt, der um 1943/44 zur KdF-Gruppe losen Kontakt bekam.

c.

Das Wirken Alfred Nothnagels in der KdF-Gruppe

Die Besonderheit der Leipziger KdF-Gruppe ist untrennbar mit dem Wirken des Modelltischlers Alfred Nothnagel (Jg. 1914) verbunden. Neben seiner dortigen aktiven Leitungstätigkeit war er das Bindeglied zwischen der KdFJugendgruppe und dem kommunistischen Widerstand, später zum NKFD in Leipzig, wo er ebenfalls aktiv mitarbeitete. Auf sein Wirken beim NKFD soll in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht ausführlich eingegangen werden, sondern nur in dem Zusammenhang, der die Jugendgruppe direkt betrifft.27 Alfred Nothnagel trat 1931 in Leipzig von der SAJ zur neu gegründeten SAP über. Nach 1933 arbeitete er in deren illegaler Struktur weiter, wo er zuletzt das Amt des Hauptkassierers für den Bezirk Leipzig bekleidete. Ende März 1935 wurde er verhaftet. Anfang Mai 1936 verurteilte man ihn in einem Prozess mit 35 weiteren illegalen Leipziger SAP-Mitgliedern vor dem Oberlandesgericht Dresden wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu drei Jahren und drei Monaten Zuchthaus.28 Seine Strafe saß er in Zwickau ab. Dort kam es, seinen eigenen späteren Angaben nach, unter den politischen Häftlingen zu zahlreichen Diskussionen, an denen sich auch die Leipziger KJVD-Mitglieder Gustav Heppe und Hermann Axen beteiligten. Der „Bruderkampf“ zwischen SPD und KPD wurde von ihnen als ausschlaggebend für die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten bezeichnet. Außerdem beschäftigte man sich mit der Volksfrontpolitik in Spanien.29

27 28 29

Zur weiterführenden Lektüre über das NKFD siehe: TUBBESING: Nationalkomitee. Siehe StAL PP-S 5651, Bl.184ff. A. Nothnagel bei der Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.8; Es ist nicht bekannt, ob die 1935 Verhafteten von den Beschlüssen des 7. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale wirklich solch umfassende Kenntnis hatten, wie Nothnagel es referierte.

242

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Als Nothnagel im Juli 1938 entlassen wurde, wohnte er wieder im Leipziger Norden und war entschlossen, erneut illegal aktiv zu werden. Während seines Zuchthausaufenthaltes hatte er sich von inhaftierten Kommunisten von deren politischen Ansichten überzeugen lassen und beabsichtigte nicht, die SAP wieder aufzubauen. Vielmehr suchte er nun Kontakte zu Resten der illegalen KPD. Zunächst traf er sich unter größter Vorsicht mit früheren Freunden aus der SAP im Garten seiner Mutter, am Elster-Saale-Kanal zum Baden oder zu Radtouren. Im Herbst 1938 kam er in Kontakt mit der KdF-Gymnastik-Gruppe. Die ihm von früher bekannte und dort aktive Dora (Dorle) Lenge machte Nothnagel im Frühjahr 1939 mit ihrem soeben aus dem KZ Buchenwald entlassenen Bruder bekannt, der wiederum Nothnagel mit dem früheren KPDMitglied Karl Jungbluth (Jg. 1903) zusammenbrachte. Beide sprachen über Möglichkeiten für eine illegale Jugendarbeit. Jungbluth verschaffte Nothnagel daraufhin einen Kontakt mit William Zipperer (Jg. 1884). Zipperer war 1919 der erste Vorsitzende der Leipziger KPD, in den 20er Jahren Redakteur der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ gewesen und zählte in dieser Zeit zum ultralinken Flügel. Nothnagel bekam außerdem Verbindung zu dem früheren KPDStadtratsmitglied und Funktionär des Rotfrontkämpferbundes Arthur Hoffmann (Jg. 1900). Dieser hatte 1933 für die illegale KPD gearbeitet und war deswegen 1934 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung saß Arthur Hoffmann bis Dezember 1937 im KZ Buchenwald in „Schutzhaft“ und wurde anschließend nach Hause entlassen. Nach eigenen Angaben arbeitete Nothnagel ab Sommer 1939 mit Jungbluth, Zipperer und Hoffmann illegal zusammen.30 Nothnagel, der sich während der Diskussionen im Zwickauer Zuchthaus näher mit Jugendfragen beschäftigt haben soll, erhielt daraufhin den Auftrag, die illegale Jugendarbeit zu leiten. Unklar ist, ob und wann Alfred Nothnagel mit dem langjährigen KPDFunktionär und früherem Mitglied des Reichstages Georg Schumann zusammenkam. In seinen Erinnerungsberichten sind die Angaben dazu unterschiedlich. Schmidt und Heilemann schreiben, dass Jungbluth Nothnagel 1940 mit Schumann bekannt gemacht hatte.31 Dafür gab es jedoch schon aus Gründen der Konspirativität zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung. Nothnagel war über Jungbluth, Zipperer und Hoffmann bereits ausreichend an den kommunistischen Widerstand gebunden. Wahrscheinlicher ist, dass Nothnagel erst in der Phase der Gründung des NKFD Leipzigs im Herbst 1943 mit Schumann zusammenkam. In seinem Erinnerungsbericht von 1948 erwähnte er Treffen mit Schumann erst im Zusammenhang mit Diskussionen um die gemeinsame Plattform des Leipziger NKFD Anfang 1944.32 Es ist zu vermuten, dass Nothnagel

30 31 32

A. Nothnagel bei der Aussprache am 14.3.1965, Protokoll S.10f. SCHMIDT/HEILEMANN: Der Anteil der Jugend, S.97. Erinnerungsbericht A. Nothnagel 11.3.1948, StAL SED-Erinnerungen V/5/313, Bl.5.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

243

sich in seinen Erinnerungsberichten der Konstruktion der DDRHistoriographie von der Leitung der Leipziger Kommunisten durch Georg Schumann und andere anschloss und darum nachträglich die Kontaktaufnahme auf das Jahr 1940 vorverlegt hat.33 Arthur Hoffmann wollte offenbar die KdF-Gruppe „überprüfen“ lassen bzw. einen bewährten Jungkommunisten in deren Reihen wissen. Nach Angaben von Gustav Heppe fand im Herbst 1939 eine Besprechung von Arthur Hoffmann, Georg Schwarz, Karl Jungbluth und William Zipperer in einem Landhaus in Wednig bei Trebsen statt. Gustav Heppe wurde am Ende der Besprechung hinzugezogen und erfuhr von Arthur Hoffmann, dass es im Leipziger Norden eine Jugendgruppe unter Leitung eines Genossen Nothnagel geben solle. Heppe sagte daraufhin, dass er im Zwickauer Zuchthaus mit ihm zusammen inhaftiert gewesen war und seine Adresse kenne. Daraufhin beauftragte man Heppe, den Kontakt wieder aufzunehmen und „festzustellen, um welche Jugendlichen es sich in diesem Kreis handelt“.34 Heppe schloss sich daraufhin der KdF-Gruppe an. Warum Heppe trotz besserer Kontakte zum kommunistischen Widerstand in Leipzig in der KdF-Gruppe völlig im Hintergrund blieb, ist bislang ungeklärt. Nur in seinem Erinnerungsbericht stellt er sich selbst als Verbindungsmann dar.35 In allen anderen Berichten ist von seiner illegalen Arbeit kaum die Rede. Innerhalb der KdF-Gruppe waren Nothnagels Kontakte zu den illegal arbeitenden Kommunisten nur den allerwenigsten bekannt; um wen es sich konkret handelte, wusste offenbar nur Gustav Heppe. Nothnagels Arbeit zielte zunächst auf den Kreis Jugendlicher, die sich in besagter KdF-Sportgruppe trafen. „Zunächst war es wichtig, dass wir für die Jugendlichen eine bestimmte Erziehungsarbeit, eine ideologische und agitatorische Arbeit leisteten. […] Es kam darauf an, dass wir zunächst mal so etwas wie eine marxistische Bibliothek zusammenbekamen.“36 Die dazu notwendigen Klassiker der marxistischen Literatur für solch eine konspirative Schulungsarbeit wurden aus Privatbeständen beschafft. Außerdem besaß Alfred Nothnagel bereits vor seiner Verhaftung eine größere Anzahl relevanter Bücher, die der Beschlagnahme glücklicherweise entgingen. Nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 8. November 1939 in München durch Georg Elsner erfolgte einen Tag später eine erneute Verhaftung Nothnagels. In allen größeren Städten Deutschlands gab es so genannte Geiselverhaftungen, offenbar, weil man Unruhen befürchtete. Das junge Ehepaar Nothnagel bezog nach Alfreds Haftentlassung eine Wohnung in einer Gärtnerei 33 34 35 36

Zum Problem der „Leitung“ des Leipziger Widerstandes vgl. VOIGT: Kommunistischer Widerstand, S.34-37; siehe auch TUBBESING: Nationalkomitee, S.46-49. Zitiert aus Erinnerungsbericht Gustav Heppe. In: HEILEMANN: Die Teilnahme, S.29f. Vgl. G. HEPPE: Zur antifaschistischen Jugendarbeit der KPD in Leipzig. In: ZENTRALRAT DER FDJ (Hg.): Für ein besseres Deutschland, Berlin 1966, S.77. A. Nothnagel bei der Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.11.

244

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

in der Bucksdorfstraße im Leipziger Norden. Die abgelegene Lage und der gleichzeitige Kundenverkehr zur Gärtnerei machte die Wohnung in der Folgezeit zu einem idealen unauffälligen Treffpunkt.

d.

KdF-Wandergruppe, illegale Lesezirkel und soziales Netzwerk

Neben den Gymnastikkursen ging die Gruppe an den Wochenenden auf Fahrt. In der kälteren Jahreszeit traf man sich außerdem in Kleinzschocher im Bootshaus des ehemaligen Arbeitersportvereins „Fichte“, welches nun „Bootshaus Lindner“ hieß und von Susanne Lindner, einem früheren Fichte-Mitglied betrieben wurde. Hier verkehrten hauptsächlich ehemalige Arbeitersportler und auch einige frühere Mitglieder der Meute „Hundestart“, unter ihnen Wilhelm Endres. Ein Sportfreund berichtete dort, dass es bei KdF auch Wandergruppen gäbe. Man benötigte jedoch einen Wanderleiter, der einen entsprechenden Ausweis besaß. Das Wandern unter dem Banner von KdF würde – neben verbilligten Eisenbahntickets – den Vorteil haben, dass die zunehmenden Kontrollen von Jugendgruppen durch den HJ-Streifendienst und die Polizei kein Problem mehr wären. Die Gruppe war zu diesem Zeitpunkt auf Fahrten kaum von einer der Leipziger Meuten zu unterscheiden. Man trug eine ähnliche Kluft, führte oft Instrumente mit sich und außerdem gingen Jungen und Mädchen gemeinsam auf Fahrt. Daraufhin meldeten sich die Mitglieder der Gymnastikgruppe als KdFWandergruppe an. Der dafür zuständige KdF-Funktionär Hans Hodina hatte sein Büro im „Haus Vaterland“, dem ehemaligen Volkshaus, in der Leipziger Südvorstadt. Er war über den Zuwachs hoch erfreut, da es zu der Zeit in Leipzig kaum Wandergruppen bei „Kraft durch Freude“ gab. Von ihm erhielt die Gruppe zunächst einen Wanderleiter zugewiesen, der nach Einschätzung von Kurt Scheffler vor 1933 bei den Pfadfindern gewesen sein könnte oder zumindest einen christlichen Hintergrund hatte.37 Problematisch war, dass man als offizielle KdF-Wandergruppe seine Fahrten bekannt geben musste. So kamen in der ersten Zeit auch Gruppenfremde hinzu. Diese wurden vorsichtig ausgefragt, um einen Eindruck über ihre politische Gesinnung zu erhalten.38 Schließlich vereinbarte die Gruppe, sich an anderen Punkten zu treffen als offiziell angegeben, um keine Fremden unkontrolliert auf Wanderungen mit dabeizuhaben.39 Die Wanderfahrten hatten nun eine legale Grundlage. Bei einem Treffen von Alfred Nothnagel mit William Zipperer kamen beide zu der Überzeugung,

37 38 39

Vgl. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.7. Protokoll der Aussprache mit Walter Kern vom 20.2.1966; Privatarchiv Jahnke. Protokoll der Aussprache mit H. Haferkorn, Privatarchiv Jahnke.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

245

dass eine völlige Eigenständigkeit der Jugendgruppe im Rahmen von KdF noch sicherer wäre. Dazu müsste jemand aus der Gruppe einen Wanderschein ablegen, um als Fahrtenleiter die Gruppe selbstständig zu führen. Nothnagel selbst kam aufgrund seiner Vorstrafen nicht in Frage. Die Wahl fiel auf die damals 22jährige Martel Decker, die zunächst keine Funktion in einer NS-Organisation übernehmen wollte. Von den Absprachen zwischen Nothnagel und Zipperer wusste sie nichts. Dennoch ließ sie sich von der Notwendigkeit überzeugen und wurde ab dem Sommer 1940 die offizielle Fahrtenleiterin. Die KdF-Gruppe bot zunächst einen Raum, wo man unter Menschen war, die dem NS-System ablehnend gegenüberstanden. In der Wohnung der Nothnagels und bei anderen sicheren Gelegenheiten kam es außerdem in einem ausgewählten Kreis von Jugendlichen zu umfangreichen politischen Diskussionen, die über tagespolitische Ereignisse hinausgingen. Alfred Nothnagel schreibt hierzu in einer seiner späteren Aufzeichnungen, dass die Jugendarbeit auf Grundlage der Brüsseler Beschlüsse der KPD durchgeführt wurde, über die er von William Zipperer informiert worden sei.40 Dies führte offenbar zu ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, in welcher auch frühere SAJ-Mitglieder waren. „Einmal mussten wir uns mit reformistischen, nationalistischen und antisemitischen Auffassungen früherer SAJler […] auseinandersetzen, und zum anderen mussten die alten sektiererischen Auffassungen der KPD, besonders in Gewerkschaftsfragen, überwunden werden.“41 Hierbei ist die Rolle der Revolutionären Gewerkschaftsopposition vor 1933 gemeint. An diesen Gesprächen war auch Gustav Heppe beteiligt. Er berichtete später, dass Martin Helas bei Diskussionen aktiv war und teilweise auch Schulungsarbeit leistete.42 Über Heppe entwickelten sich später Verbindungen zum früheren KPD-Mitglied Alfred Schellenberger, der 1936 von Wiesbaden nach Leipzig gezogen war, sowie zu Kurt Roßberg, einem früheren ZK-Mitglied des KJVD. Nothnagel berichtete weiter, dass er mit Heppe, Roßberg und Schellenberger in seiner Wohnung über die Brüsseler Beschlüsse auf Grundlage von Lenins „Radikalismus“ diskutiert habe.43

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41

42 43

Gerade hier zeigt sich das Problem mit Erinnerungsberichten aus den 60er Jahren und deren oftmaligen ideologischen Korrekturen. Es darf bezweifelt werden, dass die Brüsseler Beschlüsse Grundlage für die Arbeit der KdF-Gruppe waren. Möglicherweise war dies der Wunsch von Zipperer und Nothnagel. Ob und wie dies in der Praxis umgesetzt wurde, darauf wird noch näher eingegangen. Maschinenschriftliche Konzeption von A. Nothnagel: Der Aufbau einer illegalen Jugendgruppe als KdF-Gruppe, für das Treffen ehem. Mitglieder der KdF-Gruppe am 14.3.1965 in Leipzig erstellt; S.9, Privatarchiv Jahnke; Was mit den „antisemitischen Auffassungen früherer SAJler“ gemeint ist, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. G. Heppe bei Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.77; Privatarchiv Jahnke. Vgl. G. Heppe bei Aussprache am 14.3.1965.

246

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Für die konspirativen Lesezirkel wurden unter den Gruppenmitgliedern diejenigen ausgesucht, welche am zuverlässigsten erschienen. Die Gruppe war zu dieser Zeit von der Möglichkeit, andere Informationen zu bekommen als die NS-Medien sie verbreiteten, nahezu abgeschnitten. Es erschienen in Leipzig keine illegalen Zeitschriften und Flugblätter mehr, sämtliche Kontakte zu Exilgruppen im Ausland waren abgebrochen. Einzig diejenigen, die eines der leistungsstärkeren (und teuereren) Radiogeräte besaßen, konnten sich bei den deutschsprachigen Meldungen ausländischer Radiosender über aktuelle Ereignisse informieren. Als Basis für die Schulungsarbeit dienten die Werke „Kommunistisches Manifest“ von Marx und Engels, „Staat und Revolution“ und „Der ‚Radikalismus’, die Kinderkrankheit des Kommunismus“ von Lenin. Alfred Nothnagel erläuterte die weitere Strategie im Rückblick so: „Wir konnten unsere Jugendlichen nicht mit dieser marxistischen Literatur so überfallen oder ihnen das vor die Nase setzen; dazu war es notwendig, dass diese Broschüren vorgelesen wurden, im Kollektiv gelesen, von erfahrenen Genossen besprochen und erläutert wurden.“ Dazu bediente man sich der (teilweise verbotenen) Belletristik, denn man glaubte, „dass es gut ist, wenn man das ‚Kommunistische Manifest’ liest, vorher von Jack London ‚Die eiserne Ferse’ zu lesen, oder wenn man ‚Staat und Revolution’ liest, vorher von Traven ‚Regierung’ zu lesen.“44 Auch das Buch von John Reed „10 Tage, die die Welt erschütterten“ wurde ebenfalls als vorbereitende Lektüre für die marxistischen Klassiker genutzt.45 Darüber hinaus besorgte man sich auf der Leipziger Messe an den Ständen Prospekte über die Sowjetunion (bis zum Kriegsbeginn im Juni 1941). Diese Lesezirkel hatten in den folgenden Jahren Bestand, mindestens bis Sommer 1944. Es war so möglich, neben aktuellpolitischen Diskussionen über die Situation in Deutschland und in der Welt, die Mitglieder kontinuierlich theoretisch zu schulen. Nach Angaben von Heinz Haferkorn begannen diese Lesezirkel im Winter 1939.46 Darüber hinaus erwarb Alfred Nothnagel Ende 1939 trotz schwieriger finanzieller Bedingungen einen Radioapparat, mit dem man regelmäßig die verbotenen ausländischen Sender hören konnte. Dies wurde ebenfalls im kleineren Kreise getan. Hervorzuheben ist die Rede von Thomas Mann, welche im Juni 1942 von Radio BBC ausgestrahlt wurde. Thomas Mann sprach über das Attentat auf den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich in Prag und prangerte die darauf folgende Liquidierung des

44 45

46

A. Nothnagel bei Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.12. John Reed war Journalist und 1919 Begründer und Vorsitzender der ersten kommunistischen Partei der USA. Das Buch behandelt seine Erlebnisse der Oktoberrevolution 1917 in der SU. Protokoll der Aussprache mit H. Haferkorn; Schmidt/Heilemann datieren den Beginn der systematischen Schulung auf Herbst 1941; Siehe DIES. S.93.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

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tschechischen Dorfes Lidice an. Die Rede wurde mitgeschrieben und anschließend in allen Schulungsgruppen besprochen. Nach Angaben von Alfred Nothnagel existierten drei Schulungsgruppen mit jeweils etwa sechs Personen. Ab dem Winter 1942/43 stießen zu einem der Lesezirkel mit Karl Hauke, Werner Plesse und den Schellenberger-Schwestern Kinder von illegal aktiven Kommunisten.47 Im Laufe des Jahres 1941 sollen im Leipziger Westen durch Herbert Günther und vier weitere Personen ebenfalls regelmäßig marxistische Schulungen durchgeführt worden sein. Ob diese Gruppe analog den oben genannten Lesezirkeln arbeitete, ist nicht bekannt. Dora Lenge erinnerte sich außerdem an einen Schulungszirkel im Leipziger Zentrum bei Martin Helas.48 Für den „inneren Kreis“ der KdF-Gruppe ergab sich, nach späteren Angaben von Alfred Nothnagel, folgender „Wochenplan“: Montags fand der Schulungsabend statt, dienstags und donnerstags waren die Gymnastikkurse beim KdF-Sport, am Freitag ging man in den Wintermonaten ins Westbad schwimmen und am Sonntag unternahm man Fahrten in die nähere Umgebung.49 Um das Jahr 1941 verschickte das Gruppenmitglied Anni Strauß einmal eigenmächtig fünf Flugblätter. Diese wurden in maschinenbeschriebene Umschläge gesteckt und von ihr in dem Ort aufgegeben, wo die Gruppe zu dieser Zeit oft zum Wandern war. Ein vorbestrafter Empfänger des Flugblattes brachte diese Post zur Polizei, da er eine Provokation der Gestapo vermutete. Auch wenn diese Panne für sie und die Gruppe folgenlos blieb, schätzte sie diese Aktion im Nachhinein als sehr leichtsinnig ein.50 Trotz der illegalen Schulungsarbeit wurde in der Gruppe augenscheinlich zu wenig auf Methoden der konspirativen Arbeit eingegangen. Alfred Nothnagel stellte in seinen späteren Aufzeichnungen diese Lese- und Schulungszirkel oft als „Erziehungsarbeit“ an den Jüngeren dar. Bei der 1965 stattgefundenen Aussprache der früheren KdF-Gruppenmitglieder in Leipzig gab es hierzu eine interessante Wortmeldung durch Walter Kern aus kommunistischem Elternhaus: „Man muss auch berücksichtigen – was die jüngeren Genossen betrifft [zu denen W. Kern gehörte, d.Verf.] – dass der Einfluss durch die Eltern während der Nazizeit nicht abgerissen ist. Und wenn Alfred [Nothnagel] sagt, dass eben Ziel der KdF-Gruppe war,

47 48 49 50

Vgl. A. Nothnagel: Der Aufbau einer illegalen Jugendgruppe, S.27; Werner Plesse war der Sohn des Kommunisten Karl Plesse, der später im NKFD-Leipzig mitarbeitete. Siehe Erinnerungsbericht Dorle Lenge vom 2.4.1964, StAL Bestand SED-Erinnerungen V/5/147. A. Nothnagel: Der Aufbau; Es ist nicht bekannt, ob dieser Wochenplan so tatsächlich über die Jahre hinweg Gültigkeit hatte. Vgl. Protokoll der Aussprache mit Anni Dörner, geb. Strauß; Privatarchiv Jahnke; Über den Inhalt der Flugblätter ist nichts überliefert.

248

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

gerade die jüngeren Genossen zu erziehen, so muss man doch berücksichtigen, dass sie also auch schon mit bestimmten Voraussetzungen zur KdF-Gruppe kamen.“51

Daraus wird ersichtlich, dass es in den betreffenden kommunistischen Familien Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre politische Gespräche zwischen Kindern und Eltern gegeben hatte und dadurch diese Jugendlichen eine linke Grundeinstellung von zu Hause her mitbrachten. Alles andere wäre für das Weiterbestehen dieser illegalen Gruppe auch zu gefährlich gewesen. Um das Wesen der Gruppe zu verstehen, muss an dieser Stelle versucht werden, die Struktur des sozialen Netzwerkes wenigstens anhand einiger Beispiele zu skizzieren. Die KdF-Gymnastik-Kurse waren nicht der Treff der letzten Überlebenden der organisierten älteren Arbeiterjugend, sondern eine Gruppe aus verschiedenen Geburtsjahrgängen zwischen 1914 und 1923. Dass die KdF-Gruppe sich Anfang der 40er Jahre weiter vergrößerte, war vor allem dem Umstand geschuldet, dass man bei Wanderungen auf weitere Überlebende des Schiffbruchs von 1933 traf und mit ihnen Kontakte aufbaute. Jugendliche, die zuverlässig erschienen, wurden enger an die KdF-Gruppe gebunden, mit den anderen traf man sich zum Wandern und versuchte dort, politische Tagesfragen zu besprechen. Fast immer spielten Bekanntschaften aus der Zeit vor 1933 die entscheidende Rolle, um mit der Gruppe in Kontakt zu kommen. Kurt Lenge und seine jüngere Schwester Dora (Jg. 1921) beispielsweise kamen aus einer kommunistischen Familie. Kurt war 1933 beim illegalen KJVD aktiv, wurde noch im selben Jahr festgenommen und zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach der Verhaftung des Bruders hatte die Familie weiter Kontakt zu seinen Genossen Helmut Schwarz und Herbert Scheibe. Um 1937/38 traf sich Dorle Lenge mit Helmut Schwarz zu Paddelbootfahrten. Im Bootshaus Lindner traf man sich mit Gleichgesinnten, unter ihnen Martin Helas. Helas kannte Dorle Lenge schon aus der Zeit um 1933, als ihr Bruder illegal arbeitete und sie ihm einmal illegales Material nach Hause brachte. Man besuchte gemeinsam Konzerte und Vorlesungen an der Universität und fuhr an den Wochenenden mit den Booten ins Grüne zum Zelten. Hier wurde auch musiziert und politisch diskutiert. Dorle Lenge schrieb später: „Noch heute denke ich mit Freude an diese Zeit zurück. Das war wirklich ein frohes Jugendleben.“52 Im Herbst 1938 lernte sie durch Martin Helas Alfred Nothnagel kennen. Ihr damaliger Mann Herbert Uhlmann53 traf bei Nothnagel wiederum frühere Genossen aus der SAJ wieder. Nachdem Dorles Bruder aus dem KZ Buchenwald nach Leipzig zurückkehrte und sie ihn mit Alfred Nothnagel bekanntmachte, lernte sie über ihren Bruder einen Kreis um Gretel und Gerhard Ell-

51 52 53

Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.25. Erinnerungsbericht D. Lenge vom 2.4.1964; StAL, SED-Erinnerungen V/5/147. Er wurde 1942 an die Ostfront eingezogen und fiel wenig später.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

249

rodt kennen, die sich im Sommer an den Lübschützer Teichen trafen.54 Alfred Nothnagel, Herbert Scheffler, Willy Lautenschläger und einige andere kannten sich bereits seit den späten 20er Jahren, als sie bei der SAJ, später bei der SAP in Leipzig-Eutritzsch aktiv waren. Ein weiteres Beispiel ist Anni Strauß (Jg. 1923, vor 1933 bei den Kinderfreunden). Nachdem sie 1938 bereits beim Postsportverein untergekommen war, der zum Großteil aus ehemaligen SAJ-Mitgliedern bestand, traf sie 1940 mit anderen Mädchen bei einer Wanderfahrt an der Mulde auf die Gruppe um Alfred Nothnagel. Einige kannten sich entfernt vom Klampfenchor. Man tastete sich in Gesprächen vorsichtig ab, der Anschluss von Anni Strauß mit ihrer Schwester Margot an die KdF-Wandergruppe erfolgte anschließend nach ihren Aussagen „gefühlsmäßig“. In der Folgezeit nahm sie an den Unternehmungen der Gruppe teil. Neben Wanderungen waren das in der kalten Jahreszeit vor allem Museumsbesuche, Spaziergänge, Lichtbildervorträge und gemeinsame Buchlesungen.55 Pfingsten 1941 traf die Gruppe bei einer Wanderung auf ehemalige KJVDMitglieder aus dem Leipziger Osten.56 Zu dieser Gruppe gehörten u. a. Walter Kern und dessen ältere Schwester Liesbeth, seine ebenfalls ältere Schwester Ilse und ihr Ehemann Paul Weber. Die Kontaktaufnahme war unproblematisch, da Weber einige aus der KdF-Gruppe kannte, so z. B. Martin Helas. Walter Kern erinnerte sich, dass er mit seinen Schwestern und anderen bereits seit 1937 an den Wochenenden auf Fahrt war, wo man oftmals Gruppen ehemals organisierter Leipziger Arbeiterjugendlicher traf. Die Geschwister Kern und Weber hatten sich nach 1939 außerdem mehrmals mit dem früheren KJVD-Funktionär Helmut Holtzhauer getroffen,57 der zu diesem Zeitpunkt Kontakt mit dem bereits erwähnten Kurt Gittel hatte. Jochen Nebrig berichtete, dass sich viele Jugendliche, manchmal bis zu 25 Personen, bei Arno Schätzler in dessen Wohnung in der Brandvorwerkstraße in der Leipziger Südvorstadt trafen. Dort kam er mit dessen Tochter Felicitas (Jg. 1923) näher zusammen und beide heirateten später. Felicitas Schätzler hatte etwa zwölf Mitglieder der KdF-Gruppe im Frühjahr 1939 auf einer Wanderung getroffen und schloss sich in der Folgezeit der Gruppe an.58 In der Gruppe herrschte – auch wegen der gemeinsamen Vergangenheit in der Arbeiterbewegung, der Ablehnung des NS-Regimes und der relativ ähnlichen politischen Einstellung – vor allem ein großer sozialer und emotionaler Zusammenhalt, ein Umstand, der bei der Bewertung der Gruppe nicht unter54 55 56 57 58

Vgl. Erinnerungsbericht D. Lenge, StAL SED-Erinnerungen V/5/147. Protokoll der Aussprache mit Anni Dörner, geb. Strauß. Vgl. A. Nothnagel: Der Aufbau, S.14. Protokoll der Aussprache mit Walter Kern vom 20.2.1966. Protokoll der Aussprache mit Jochen und Felicitas Nebrig vom 31.5.1966; Privatarchiv Jahnke.

250

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

schätzt werden darf. Neben den vielen freundschaftlichen Verbindungen sind dafür die zahlreichen Liebesbeziehungen Beweis bzw. spätere Vermählungen einzelner Gruppenmitglieder untereinander, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann.

e.

Die KdF-Gruppe und die Brüsseler Beschlüsse der KPD

Besonders Alfred Nothnagel betonte in seinen Erinnerungsberichten immer wieder, dass die politische Arbeit in der KdF-Gruppe aufgrund der Brüsseler Beschlüsse der KPD von 1935 durchgeführt wurde: „Unsere politische Arbeit war die Jugendarbeit der illegalen Kommunistischen Partei unter dem Aushängeschild KdF.“59 Ohne die tatsächlich geleistete illegale Arbeit diskreditieren zu wollen, muss festgehalten werden, dass diese Aussage nachträglich konstruiert wurde, um sich der SED-Geschichtsschreibung mit dem Mythos der kontinuierlichen illegalen Arbeit der KPD anzupassen. Der relevante Punkt der Brüsseler Beschlüsse von 1935 war die Methode des „Trojanischen Pferdes“. In allen NS-Massenorganisationen sollten Kommunisten „Möglichkeiten der Organisierung einer Opposition unter den mit der großkapitalistischen Politik der Hitlerregierung unzufriedenen Elementen, für eine systematische Aufklärungsarbeit unter den politisch indifferenten oder den Faschisten noch folgenden Mitgliedern dieser Organisationen“ nutzen. Gemeint waren Hitlerjugend, DAF, KdF, Luftschutz, NS-Wohlfahrt und andere. „Dazu gehört, dass alle erreichbaren Funktionärposten von den Antifaschisten besetzt und im Interesse der Massen ausgenutzt werden. Bei einer guten Arbeit ist es sogar möglich, Mehrheiten in den Leitungen der unteren Organisationen zu besetzen und diese für den Kampf der Massen auszunutzen. Die Antifaschisten müssen sich das Vertrauen der Mitgliedermassen dieser Organisationen erwerben und verstehen, durch eine den Organisationsbedingungen angepasste Sprache und Arbeitsmethode den größten Erfolg in der Mobilisierung dieser Massen gegen den Faschismus zu erzielen.“60

Hierbei ergibt sich für die KdF-Gruppe folgendes logisches Problem: Um diese Beschlüsse umsetzen zu können, muss man von ihnen Kenntnis gehabt haben und sich außerdem von ihnen angesprochen fühlen. Die „Brüsseler Konferenz“ der KPD fand zwar bereits 1935 statt, aber auch als Alfred Nothnagel 1938 aus der Haft entlassen wurde, kannte er diese Beschlüsse – wie er selbst zugab – nicht. Frühestens 1939/40 erfuhr er von ihnen durch Karl Jungbluth. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die KdF-Gruppe längst konstituiert. Von den Grün-

59 60

A. Nothnagel bei der Aussprache am 14.3.1965; Protokoll S.5. Aus der Resolution der Brüssler Konferenz S.9f, In: G. FUCHS (Hg.): Brüsseler Konferenz der KPD 1935, Berlin 2000.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

251

dungsmitgliedern hatte um 1937 niemand Kenntnis von den Brüsseler Beschlüssen, zumal die Mitglieder mit kommunistischem Hintergrund in der Minderheit waren, denn die Mehrheit kam aus der SAJ oder der SAP. Die Brüsseler Beschlüsse hatten darum für viele nichts Verbindliches, selbst wenn sie davon erfahren hätten. Sinn und Zweck der KdF-Gruppe war zu keinem Zeitpunkt, innerhalb dieser NS-Massenorganisation Agitations- und Zersetzungsarbeit zu leisten. In keinem der Erinnerungsberichte ist davon die Rede, dass man versuchte „politisch indifferente“ DAF- oder HJ-Mitglieder zu agitieren. Man nutzte lediglich die NS-Strukturen, um sich innerhalb von KdF zu „verstecken“. Die Suche nach Gleichgesinnten erfolgte darum auch nicht innerhalb von KdF oder anderen NS-Massenorganisationen, sondern innerhalb gewohnter sozialer Kontakte im linkssozialistischen Milieu und unter neuen Bekannten auf der Arbeit oder in der Freizeit mit ähnlicher politischer Sozialisation. Politisch unzuverlässig scheinende Jugendliche wurden geradezu gemieden und nicht, wie in den Brüsseler Beschlüssen gefordert, vorsichtig agitiert. Völlig realistisch resümierte darum Karl Hauke 1965: „Ich denke, die Aufgabe der Gruppe konnte nicht darin bestehen, tief in die Kreise der Nazis einzudringen. Das war faktisch unmöglich in Anbetracht der Begeisterung, die bis zum Schluss unter der Jugend bestand. Es war besser, die antifaschistische Jugend zu sammeln.“61 Die Aussage von Alfred Nothnagel, dass die KdF-Gruppe „die konsequente Anwendung der Methode des Trojanischen Pferdes“62 umgesetzt hätte, muss darum aus den oben genannten Gründen verneint werden. Erst im Nachgang der Ereignisse brachte Nothnagel die Aktivitäten der Gruppe in Zusammenhang mit den Brüsseler Beschlüssen, obgleich er den entscheidenden Unterschied – verstecken statt zersetzen – übergangen hat. Das schließt nicht aus, dass Nothnagel, Zipperer, Hoffmann und Jungbluth um 1939/40 die Jugendarbeit im Sinne der Brüsseler Beschlüsse zu führen versuchten und die Gruppe in den Folgejahren erfolgreich an den kommunistischen Widerstand in Leipzig binden konnten. Fakt ist, dass die KdF-Gruppe nicht wegen der Brüsseler Beschlüsse entstand und existierte, sondern aufgrund realer Gegebenheiten vor Ort. Während der gesamten Zeit kam darum die Gruppe personell nicht über ihr tradiertes linkssozialistisches Milieu hinaus. In Publikationen über den kommunistischen Widerstand in Deutschland wird immer wieder ausgeführt, dass vielen Kommunisten vor Ort die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation zuwider war und man entgegen den Brüsseler Beschlüssen lieber im vertrauten eigenen sozialen Milieu blieb.63 Dies ist auch

61 62 63

K. Hauke bei der Aussprache am 14.3.1965, S.91. A. Nothnagel bei der Aussprache am 14.3.1965; S.44; Zur Problematik der Interpretation der Methode des Trojanischen Pferdes siehe PEUKERT: KPD im Widerstand, S.318ff. „Dort, wo die Kunde vom ‚Trojanischen Pferd’ bis vor Ort drang, scheinen sich die meisten KPD-Mitglieder distanziert verhalten haben. Ihnen lag verständlicherweise mehr

252

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

für Leipzig ersichtlich. Da hier nicht einmal die gestandenen Kommunisten in eine NS-Organisation gingen, um nach der Methode des Trojanischen Pferdes zu arbeiten, ist dies erst recht für die jugendlichen Mitglieder der KdF-Gruppe nachzuvollziehen.

f.

Hüttenabende und neue Kontakte

Mit den geselligen Zusammenkünften im Rahmen von KdF sowie den streng konspirativen Lesezirkeln war um 1940 ein Gruppenleben installiert, welches für die weitere „Überwinterung“ im NS-Deutschland gerüstet war. Der Kern der Gruppe umfasste zu diesem Zeitpunkt eine Stärke von etwa 25 Personen.64 Schmidt und Heilemann sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Kreis von Funktionären“ von rund 20 Personen, welche über alles informiert waren und eine „systematische Schulungsarbeit“ durchführten.65 Insgesamt sind dem Verfasser 68 Mitglieder namentlich bekannt, die zwischen 1938 und 1945 zumindest für einige Zeit zur Gruppe gehörten bzw. sich an Fahrten beteiligten.66 Schmidt/Heilemann geben die Gesamtzahl der KdF-Gruppenmitglieder um Alfred Nothnagel inklusive der „Mitläufer“ mit 120 Jugendlichen an.67 Dies steht nicht im Widerspruch zu den oben genannten 68 Personen, die von ehemaligen Gruppenmitgliedern Mitte der 60er Jahre aufgelistet wurden. Realistisch wird diese Zahl, wenn man die sozialen Kontakte zu anderen gleich gesinnten Jugendlichen an der Peripherie der Gruppe hinzuzählt, also zu Freunden aus dem Sportverein, von der Arbeitsstelle, dem Wohngebiet, die gelegentlich mit auf Fahrten kamen. Bereits im Sommer 1939 befanden sich beispielsweise ca. 50 Personen auf einer Wanderfahrt an der Muldenaue bei Zschepplin, auch „Prärie“ genannt.68 Man darf die Gruppe, auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur, angesichts der unterschiedlichen Herkunft aus der Weimarer Zeit nicht als politisch homogen verstehen. Die politische Arbeit nach innen war vor allem nötig, um sich einen gemeinsamen Standpunkt zu den aktuellen politischen Ereignissen

64 65 66

67 68

an der weiteren Achtung ihrer Genossen als an ungewissen Erfolgen durch Anpassung an den Nationalsozialismus.“ PEUKERT: KPD im Widerstand, S.321. Vgl. Gruppenfoto Pfingsten 1941, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inventarnr.12351. SCHMIDT/HEILEMANN: Der Anteil, S.86. Aus Übersichtgründen wurde auf die vollständige Aufzählung der Namen verzichtet. Im Text wird bei Bedarf auf weitere Mitglieder namentlich eingegangen. Eine Namensliste befindet sich in den Unterlagen der Aussprache vom 14.3.1965; Das Protokoll ist auch im StAL, Bestand SED-Erinnerungen. SCHMIDT/HEILEMANN: Der Anteil, S.89; Diese Zahl nennt Alfred Nothnagel. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.5.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

253

und zur marxistischen Theorie zu erarbeiten. Besonders der „Hitler-Stalin-Pakt“ vom August 1939 sorgte unter nicht wenigen Jugendlichen für Verwirrung. In den 20er und 30er Jahren war die Sowjetunion immer als potentielles Angriffsziel des deutschen Imperialismus angesehen worden. Dass im August 1939 das „Mutterland aller Kommunisten“ einen Nichtangriffsvertrag mit dem NSRegime abschloss, welches die KPD brutal verfolgt hatte, blieb für viele illegale Kommunisten in Deutschland ein nicht aufzulösender Widerspruch.69 Kurt Scheffler resümierte außerdem über die ersten Kriegsjahre: „Die Blitzsiege der Nazis erschwerten unsere Arbeit, denn sie versetzten einen Teil der Gruppe in Zweifel.“70 Auch die Vorstellungen über die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion waren verschieden. Einige Fonturlauber erzählten, dass man die Lage in der SU zu rosig sehen würde.71 Abgesichert durch ihre offizielle Fahrtenleiterin Martel Decker existierte auch in den ersten Kriegsjahren ein reges Wanderleben der Gruppe. Da viele der männlichen Mitglieder aufgrund ihrer Vorstrafen zunächst vom Wehrdienst ausgeschlossen waren, blieb der Kern der Gruppe bis 1942 zusammen. Im Juni 1941 erfuhren sie während eines Ausflugs zur Hachern- Mühle in der Dübener Heide vom Überfall auf die Sowjetunion. Die von der Gruppe befürchtete erneute Verhaftungswelle gegen politisch Vorbestrafte fand diesmal nicht statt. Auch die Diskussionen über den Kriegsverlauf gegen die SU ließen die unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Gruppe zu Tage treten. Während Nothnagel nach Gesprächen mit Zipperer, Hoffmann und Jungbluth bereits Ende 1941 zu der Einschätzung kam, dass der Krieg für Deutschland endgültig verloren sei, teilten einige Gruppenmitglieder diese Meinung nicht.72 Eine geradezu spektakuläre Veranstaltung, die im Nachhinein unter konspirativen Gesichtspunkten als leichtsinnig eingestuft werden muss, war am 5. Dezember 1941 der Hüttenabend im „Haus Vaterland“.73 Die KdFWandergruppe hielt seit einiger Zeit teilweise ihre offiziellen Gruppenabende im ehemaligen Volkshaus ab. Schließlich reifte das Vorhaben, dort einen der damals populären, geselligen Hüttenabende zu veranstalten. Es wurden Farbdias gezeigt, Gedichte rezitiert und Volks- und Wanderlieder gesungen. Die Veranstaltung war öffentlich und man hatte nach späteren Angaben von Alfred Nothnagel auch ihnen bekannte „bündische und bürgerliche Jugendliche“ eingeladen.74 Insgesamt kann man davon ausgehen, dass es sich bei den etwa 100 bis 120 Teilnehmern vorwiegend um Gruppenmitglieder sowie frühere Ange-

69 70 71 72 73 74

Vgl. auch PEUKERT: KPD im Widerstand, S.326ff. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.7. Protokoll der Aussprache mit Anni Dörner, geb. Strauß. A. Nothnagel: Der Aufbau, S.17; Mit Leningrad ist das heutige St. Petersburg gemeint. In einigen Erinnerungsberichten ist auch vom „Heinrich-Heine-Abend“ die Rede. Leider sind hiervon keine Namen überliefert.

254

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

hörige und Sympathisanten der Arbeiterjugendbewegung gehandelt hat.75 Allerdings war auch der für die Wandergruppe zuständige KdF-Funktionär Hodina anwesend. Kurt Scheffler erinnerte sich an eine brisante Gedichtrezitation: „Die Gestalt Hitlers wurde vielen der Anwesenden klar, als Herbert Günther das Gedicht von Heinrich Heine ‚König Langohr I.’ vortrug und mit starkem Beifall bedacht wurde. Selbst Hodina hatte etwas gemerkt. Martel Decker und ich hatten daraufhin bei ihm eine Aussprache. Er war über das Vortragen dieses Gedichtes recht ungehalten und uns war es nicht wohl dabei. Als wir ihm jedoch sagten, dass dieses Gedicht vom Lieblingsdichter des Führers Nietzsche sei, beruhigte er sich und wir zogen schnell ab. In der Folgezeit mussten wir uns ihm gegenüber vorsichtiger verhalten.“76

Der KdF-Funktionär selbst konnte wegen einer TBC-Erkrankung nicht mit auf Fahrt gehen, sodass eine „Überwachung“ der Gruppe durch Hodina nicht möglich war. Die Sache blieb folgenlos. Mindestens einen weiteren Hüttenabend mit ähnlichem Programm soll es im Frühjahr 1942 in der Gaststätte „Thüringer Hof“ in der Innenstadt gegeben haben.77 An der Vorbereitung war Walter Kern beteiligt. „Es wurde eine Parabel in verteilten Rollen gesprochen, deren Handlung in den Bereich der Tierwelt verlegt worden war. Ungeziefer sollte sinngemäß die Ausbeuter darstellen, die sich über die bestmögliche Aussaugung ihrer Opfer unterhielten. Farbdias untermalten die Handlung.“78 Hubert Schätzler (Jg. 1927) erinnerte sich an einen weiteren Hüttenabend im „Haus Vaterland“ Anfang 1943 nach der Schlacht um Stalingrad. Kurt Scheffler zeigte Dias vom Zoo und gab zu den Bildern jeweils satirische Bemerkungen und kurze Berichte ab. „Diese Satire, die sehr gefährlich war, da bei weitem nicht nur Antifaschisten im Saal waren, hatte als Hintergrund die ‚Unterhaltung der Affen im Zoo’. Den Tieren wurden Worte in den Mund gelegt, die eigentlich schon zur Verhaftung des Genossen Scheffler und anderer hätten führen können. Ein Nazi, der mit im Saal saß, deckte ungewollt die Versammlung.“79 Es ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, ob diese Hüt75 76

77 78 79

A. Nothnagel beziffert die Teilnehmerzahl sogar auf 200; Vgl. A. Nothnagel: Ausschnitte aus den persönlichen Aufzeichnungen, o.J. S.16; Kopie im Besitz des Verfassers. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.8f; A. Nothnagel schreibt in seinen Erinnerungen, dass das Gedicht als eines von Ludwig Uhland angekündigt wurde; Vgl. A. Nothnagel: Ausschnitte, S.16. Vgl. auch A. DÖRNER: Erinnerungen an die antifaschistische Jugendarbeit. In: Zentralrat der FDJ (Hg.): Vom antifaschistischen Widerstand zur Gründung, Berlin 1988, S.18. HEILEMANN: Die Teilnahme junger Menschen, S.44/45. Vgl. Protokoll der Aussprache mit Hubert Schätzler (Mitte der 60er Jahre), Privatarchiv Jahnke; Über diesen Hüttenabend ist in anderen Erinnerungsberichten nichts zu lesen. Möglicherweise verwechselte Schätzler diesen Abend, mit einem der beiden oben beschriebenen. Andererseits ist es auch möglich, dass aufgrund seiner Brisanz den anderen nur dieser „Heinrich-Heine-Abend“ in Erinnerung geblieben ist, den Schätzler Ende 1941 aufgrund seines Alters damals unter Umständen nicht besucht hatte.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

255

tenabende wirklich in so einem halb-offiziellen Rahmen stattfanden und die erwähnten politisch-satirischen Anspielungen wirklich in dieser erkennbaren Schärfe dargeboten wurden. Der erste beschriebene Hüttenabend wird hingegen in mehreren Erinnerungsberichten in dieser Form erwähnt. Nachdem der zweideutige Vortrag des Heinrich-Heine-Gedichtes dem KdF-Funktionär aufgefallen war, muss angenommen werden, dass sich die Gruppe bei folgenden Hüttenabenden – auch ohne Anwesenheit von KdF-Funktionären – mit zweideutigen Äußerungen zurückhielt. Verbindungen zu gleich gesinnten politischen Gruppen außerhalb noch vorhandener sozialer Kontakte existierten seit Mitte der 30er Jahre nicht mehr. Auch die Wege zum Erhalt von illegaler Literatur und Zeitschriften waren seit dieser Zeit unterbrochen. Der Kontakt zu ehemaligen Leipziger KPDMitgliedern wie Zipperer und Hoffmann lief ausschließlich über Nothnagel und die anderen Mitglieder der KdF-Gruppe waren darin nicht involviert. Vor allem die Verbindungen in andere Städte waren seit Mitte der 30er Jahre völlig abgerissen. Die während der Kriegsjahre neu entstandenen Kontakte zu Gruppen aus anderen Orten hatten weniger jugendtypische Interessen zum Inhalt, sondern folgten vielmehr dem Wunsch Alfred Nothnagels, die illegale Arbeit des Leipziger NKFD voranzubringen. Dennoch sollen sie hier Erwähnung finden, da sie für das Wesen der KdF-Gruppe nicht unerheblich sind. Zu einer längeren Wanderfahrt waren im August 1941 Kurt Scheffler, Lotte Haßkerl, Heinz Haferkorn und Martin Helas im Hohen-Tauern-Gebirge in Österreich unterwegs. Während einer mehrtägigen Bergtour lernten sie eine etwa gleichaltrige Gruppe Berliner kennen, die sich nach vorsichtigem Abtasten als Antifaschisten zu erkennen gaben. Wieder in Leipzig berichteten sie Alfred Nothnagel davon. Dieser, in der Hoffnung auf Kommunisten gestoßen zu sein, bat sie, die Gruppe in Berlin zu besuchen, gemeinsame Urlaubsfotos anzuschauen und weiter auf Tuchfühlung zu gehen. Zurückgekehrt aus Berlin informierte Kurt Scheffler Alfred Nothnagel, dass es sich tatsächlich um „Genossen“ handelte, die in Verbindung treten wollten. Einer der Berliner, Gerhard Kohl, nahm im September und Oktober an zwei Fahrten der Leipziger KdFGruppe nach Ateritz nahe Wittenberg teil. Alfred Nothnagel unterhielt sich mit ihm unter vier Augen und man tastete sich vorsichtig gegenseitig in politischen Gesprächen ab. Die Angst vor Spitzeln war enorm. Schließlich erwähnte Kohl bei dem Treffen, dass er Mitglied im KJVD gewesen war. Kohl und Nothnagel vereinbarten, dass jeder mit seiner „illegalen Leitung“ Rücksprache halten sollte. In Leipzig war besonders Zipperer über die Verbindung nach Berlin erfreut, bat um weitere Kontakte und schärfte Nothnagel nochmals strengstes Stillschweigen ein – auch innerhalb der KdF-Gruppe. Beim nächsten Treffen im Oktober wurde der Austausch von illegalen Materialien und Nachrichten vereinbart. Anfang Dezember folgte ein weiteres Treffen im „Lughaus“ bei Cos-

256

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

wig. An diesem nahm von Berliner Seite Franz Eistel teil, der langjähriger Instrukteur des KJVD gewesen war. Durch diesen Kontakt entstand der Wunsch nach einem Treffen mit leitenden Mitgliedern der jeweiligen Gruppen zum gegenseitigen Gedankenaustausch. Die Berliner gehörten nach späteren Angaben von Nothnagel zum Umfeld der Schulze-Boysen-Gruppe und hatten ein 18-seitiges Aktionsprogramm ausgearbeitet, über das man diskutieren wollte.80 Das Treffen fand vom 25. bis 28. Dezember 1941 in der Wohnung der Nothnagels statt. Auf Seiten der Berliner nahmen teil: Gerhard und Gerda Sredzki, Franz Eistel, Karl Ziegler und Gerhard Kohl. Außer Ziegler sollen alle langjährige Mitglieder des KJVD bzw. der KPD gewesen sein. Auf Seiten der Leipziger waren Alfred Nothnagel, Kurt Lenge und Alfred Schellenberger anwesend. Einige ausgewählte Mitglieder der KdF-Gruppe leisteten logistische Unterstützung, waren ansonsten am Treffen selbst nicht beteiligt. Kurt Scheffler holte die Berliner vom Leipziger Hauptbahnhof ab und brachte sie zu den Nothnagels. Außerdem übernachteten einige bei Hilde Lautenschläger.81 Die Aussprache mit den Berlinern ergab nach Angaben von Nothnagel folgende gemeinsame Auffassungen: „1. dass Hitler den Krieg endgültig verloren hatte, 2. über den Charakter des Krieges, 3. über die Richtigkeit der Volksfrontpolitik, über die Aktionseinheit der Arbeiterklasse. Über einen Punkt konnten wir uns nicht einigen, das war die Frage der Beendigung des Krieges, der ausgehend von der Rede Stalins für Sommer bzw. Herbst 1942 eingeschätzt wurde. Danach war auch die Berliner Taktik festgelegt, Flugblätter zu verteilen und zu offenen Protesten überzugehen.“82

Die Berliner berichteten außerdem, dass sie ebenfalls versucht hatten, in Berlin bei KdF unterzutauchen, jedoch ohne Erfolg.83 Nothnagel besprach die Ergebnisse dieses Treffens mit Jungblut. Man stimmte mit den Berlinern in allen wichtigen Punkten überein, bis auf die Frage nach dem Kriegsende. Die Leipziger sahen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Aussichten auf eine „revolutionäre Situation“, weswegen man Flugblatt-

80

81 82 83

Eine Zuordnung zur Schulze-Boysen-Gruppe für die namentlich bekannten Berliner konnte vom Verfasser nicht bestätigt werden. Vgl.: COPPI (Hg.): Die Rote Kapelle, Berlin 1994, Namenverzeichnis; Es ist jedoch denkbar, dass sie sich in deren Umfeld bewegten. A. Nothnagel: Ausschnitte, S.19f. A. Nothnagel: Der Aufbau, S.19. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.7; Für Frankfurt/M. ist auch die Existenz einer KdFGruppe bekannt, in der sich „Oppositionelle Jugendliche, aber auch schon etwas ältere Leute“ sammelten. Welche politische Ausrichtung diese hatten, ist nicht bekannt. Neben Wanderungen veranstaltete die Gruppe (unter Leitung eines NSDAP-Mitgliedes!) regelmäßige Treffen in einer Frankfurter Kneipe, welche bald unter Jugendlichen bekannt wurden. Es folgten hierauf Razzien durch die Gestapo. Vgl.: NEULAND/WERNERCORDT (Hg.): Die Junge Garde, S.306f.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

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herstellung und -verteilung ablehnte. Erst zu Ostern 1942 traf sich Nothnagel wieder mit zweien der Berliner in Coswig und legte ihren Standpunkt dar. Ein privater Aspekt der Verbindung zwischen den Leipzigern und Berlinern soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben: Lotte Haßkerl heiratete Anfang 1942 den Berliner Gerhard Kohl und zog im Frühjahr nach Berlin. Umso tragischer ist der Umstand, dass die Berliner 1942 von der Gestapo verhaftet wurden. Als Nothnagel davon im Sommer 1942 von Lotte erfuhr, befürchtete er auch seine Verhaftung und fuhr mit Frau und Kind für 14 Tage in die Dübener Heide. Die Gestapo in Berlin wusste jedoch nichts von den Kontakten nach Leipzig und Nothnagel konnte seine Arbeit fortsetzen.84 Neben der Verbindung nach Berlin gab es Kontakte der KdF-Gruppe zu einem Willi Kranz und dessen Tochter Ilse aus Weißenfels, nachdem man sich zufällig beim gemeinsamen „Pflaumenklauen“ auf einer Allee im Saaletal kennen gelernt hatte. Unter den später bekannt gemachten Weißenfelsern befanden sich auch zwei ehemalige Buchenwald-Häftlinge: Paul Schwager und Kurt Beutan. Martel Decker, Alfred Nothnagel und Kurt Scheffler besuchten mindestens einmal in Weißenfels Kurt Beutan. Ilse Kranz nahm in der Folgezeit an Wanderfahrten der Leipziger KdF-Gruppe teil. Sie wollte in Weißenfels ebenfalls eine Jugendgruppe aufbauen. Aus diesem Grund gab es bei einer Fahrt nach Laußig an der Mulde eine längere Beratung über Jugendarbeit.85 Über die genaue politische Ausrichtung der Weißenfelser ist nichts Konkretes bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass es sich um Kommunisten gehandelt hat. Bei einer Wanderung nach Nickelsdorf bei Jena machte die Gruppe 1942 Halt in einem Gasthof. Dort waren serbische Kriegsgefangene untergebracht, die lediglich unter der Aufsicht des Gastwirtes standen. Die Gruppe bekam Kontakt zu den Kriegsgefangenen, die auf den umliegenden Feldern Zwangsarbeit leisten mussten. Der Gastwirt schien seine Bewacherpflichten nicht sehr ernst zu nehmen, denn die Gruppe versorgte die Gefangenen nun regelmäßig und ungestört mit Informationen, beispielsweise über den Frontverlauf, und es entwickelten sich politische Diskussionen. In der Folgezeit verlegte die Gruppe ihr regelmäßiges Wanderziel von Breitenbach nach Nickelsdorf. Man unterstützte die Zwangsarbeiter außerdem, indem ein Gruppenmitglied für die Holzpantinen tragenden Gefangenen aus Textilabfällen Socken herstellte. Doch nicht alle Kontaktaufnahmen zu möglicherweise gleich gesinnten Gruppen mündeten in einer Zusammenarbeit. Vergeblich versuchte Nothnagel 1941 die ehemaligen SAJ-Mitglieder aus dem Postsportverein zur illegalen Arbeit zu überreden. „Das ging soweit, dass uns ein gewisser Becker (SPD) verbot,

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Vgl. A. Nothnagel: Der Aufbau, S.19; Auch der Zeitpunkt der Verhaftung der Berliner lässt ihre Zugehörigkeit zur Schulze-Boysen-Gruppe unwahrscheinlich erscheinen, fanden dort die meisten Verhaftungen Mitte September 1942 statt. Vgl. Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.8f.

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IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

weiterhin an ihren Sportveranstaltungen teilzunehmen.“ Nothnagel traf sich daraufhin mit einem ihm von früher bekannten Mitglied der SAJ aus Leutzsch. „Illegale Arbeit lehnte er grundsätzlich nicht ab, hielt sie aber für zu gefährlich und konnte sich im Postsportverein nicht durchsetzen.“86

g.

Waffenbeschaffung, Leipziger NKFD und Unterstützerarbeit

Immer wieder gab es Überlegungen innerhalb der Gruppe, sich Waffen zu besorgen, vor allem angeregt durch Arthur Hoffmann, der auch die Schrift „Der bewaffnete Aufstand“ zur Verfügung stellte. Grundgedanke war: Sollte es zu einem bewaffneten Sturz Hitlers kommen, müssen alle zuverlässigen Gruppenmitglieder wenigstens einige Grundkenntnisse von Waffen haben. Willy Lautenschläger, der bereits 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden war, brachte aus dem Frankreich-Feldzug zwei Pistolen und Munition mit. Die Gruppe machte damit bei einer Wanderfahrt an der Mulde Schießübungen, was aber zu auffällig war. Daraufhin meldete sich die KdF-Gruppe ganz offiziell auf dem Sportgelände „Südkampfbahn“ im Leipziger Süden zu Schießübungen an und ließ sich von SA-Leuten im Pistolenschießen ausbilden. Außerdem wurden alle „zuverlässigen Genossen“ in Nothnagels und Hilde Lautenschlägers Wohnung mit den beiden Pistolen vertraut gemacht.87 Nachdem Alfred Nothnagel trotz seiner Vorstrafe 1942 zur Wehrmacht eingezogen und 1943 nach Antwerpen (Belgien) verlegt wurde, beschaffte er mehrere Armeepistolen, Trommelrevolver sowie Gewehrmunition und versteckte sie in seiner Gartenlaube in Leipzig.88 Es gab darüber hinaus den Versuch, eine Pistole ins KZ Buchenwald zu schmuggeln. Dorle Lenge hielt seit 1939 Briefkontakt zu dem Kommunisten Herbert Scheibe, der in Buchenwald inhaftiert war. Scheibe hatte als „Kapo“ öfters auf dem Weimarer Bahnhof zu tun, wo sich Dorle Lenge, die inzwischen einen zweijährigen Sohn hatte, im Mai 1944 mit ihm heimlich traf und Informationen austauschte. Bei einem weiteren illegalen Treff am selben Ort im Oktober teilte er ihr mit, dass man dringend Waffen benötige. Dorle Lenge besprach sich in Leipzig mit Else Nothnagel. Über den ab Mitte November 1944 illegal lebenden Karl Hauke erfuhr sie von einer vergrabenen Pistole und Munition im Garten der Haukes, welche sie eines Nachts holte. Die Übergabe auf dem Weimarer Bahnhof scheiterte, da Herbert Scheibe nicht kam. Später erfuhr sie, dass er wenige Minuten vor dem vereinbarten Termin von einem SS-Mann im

86 87 88

Nothnagel: Der Aufbau, S.14. Ebda. S.9. Vgl. Erinnerungsbericht Else Nothnagel v. 13.01.1979, Kopie im Besitz des Verfassers.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

259

Bahnhofsgebäude erkannt und verhaftet wurde, da er sich zu diesem Zeitpunkt dort unberechtigterweise aufhielt.89 Zum Einsatz kam letztlich keine der Waffen, da alle Pläne der Leipziger Widerstandsgruppen für einen bewaffneten Aufstand in der Endphase des Krieges, besonders die des Internationalen Antifaschistischen Komitees (IAK), bereits im Ansatz stecken blieben.90 Nach Alfred Nothnagel erhielten im Herbst 1942 auch die übrigen Vorbestraften ihren Einberufungsbefehl zur Wehrmacht, meist ins Ausbildungslager des Strafbataillons 999 im Schwarzwald. Somit lag die Leitung der KdF-Gruppe nun in den Händen von Else Nothnagel, Martel Decker, Hildegard Lautenschläger und Kurt Scheffler, der aufgrund einer Kinderlähmungserkrankung ausgemustert worden war. Else Nothnagel hielt den Kontakt mit William Zipperer,91 Kurt Scheffler wurde mit Karl Jungbluth bekannt gemacht. Wie bereits ausgeführt kamen 1942 einige Neue zu Gruppe, teilweise Kinder von Kommunisten. Der „harte Kern“ hatte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre marxistische Lesezirkel und Diskussionen hinter sich. Die Gruppenmitglieder waren älter geworden, einige hatten geheiratet und waren bereits Eltern. Wanderfahrten wurden weiterhin bis ins Jahr 1944 durchgeführt, wenngleich mit weniger Personen. Besonders mit den Neuen traf man sich oft in Wohnungen und versuchte eine Art Freundeskreis heranzubilden. Hatte die Gruppe bis 1941 stetig Zuwachs bekommen, war man jetzt kriegsbedingt an Grenzen gestoßen. Zahlreiche Einberufungen sowie weniger Freizeit wegen Arbeitsverpflichtungen hatten es schwer bis unmöglich gemacht, auf weitere Gleichgesinnte zu treffen. Die von den Brüsseler Beschlüssen der KPD geforderte Sammlung fand somit nur „im Familienkreis“ statt. Die Gruppe war durch die Einberufungen nach 1942 zwar kleiner geworden, die Kontakte zu den Wehrmachtsangehörigen rissen aber nicht ab. Waren diese auf Urlaub in Leipzig, kamen sie an den Wochenenden mit auf Fahrt. Karl Hauke erinnerte sich an eine Begebenheit, die sich im Sommer 1943 oder 1944 abgespielt hatte: „In der Gruppe war das FKK-Baden üblich und man lag dann auch so dort in der Sonne. Die HJ war natürlich hinter solchen Gruppen her. Die kamen dort vorbei und machten einen unwahrscheinlichen Rabatz und da stand einer – wahrscheinlich war es der Willy Lautenschläger, der schon bei der Wehrmacht war – nackt und zog sich bloß die Uniformjacke über und schrie die HJler an: Ihr Lausejungs und wir Kämpfer usw. und ihr stört uns hier. Da zogen die HJler beschämt wieder ab.“92

89 90 91 92

Vgl. Erinnerungsbericht Dorle Lenge. In: StAL Bestand SED-Erinnerungen V/5/147. Siehe auch KOMMISSION (Hg.): In der Revolution geboren, S.486. A. Nothnagel: Der Aufbau, S.22. Interview des Verfassers mit K. Hauke vom 5.4.2002.

260

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

In dieser Zeit ergaben sich neue Aufgaben für die verbliebenen Gruppenmitglieder in Leipzig, denn die Zahl der Zwangsarbeiter nahm in den Betrieben spürbar zu. Obwohl Kontakte verboten waren, ließ sich das in der Praxis kaum umsetzen. Besonders in kleineren und mittleren Betrieben saß man im selben Pausenraum, oft am selben Tisch. Auch mussten die Arbeiter an den Maschinen eingewiesen werden. Neben den Zwangsverpflichteten gab es auch Arbeiter, z. B. aus Frankreich, die mehr oder weniger freiwillig zum Arbeiten nach Deutschland gekommen waren („Fremdarbeiter“). Hier versuchten die KdFGruppenmitglieder herauszufinden, wer von diesen neuen Mitarbeitern eine antifaschistische Einstellung hatte. Mit solchen nahm man Kontakt auf, tauschte Neuigkeiten aus und informierte sie über den Frontverlauf, den man bei den verbotenen ausländischen Radiosendern in Erfahrung bringen konnte. Dabei gab es natürlich Sprachprobleme, was die Kommunikation erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Walter Kern erinnerte sich an seinen ersten Versuch: Er bekam 1942 im dritten Lehrjahr einen Franzosen zum Anlernen. Bei einer passenden Gelegenheit schrieb er auf einen Zettel den Namen „de Gaulle“ und malte daneben Hammer und Sichel. Dies zeigte er dem Franzosen, wobei er bei „de Gaulle“ auf ihn zeigte und bei Hammer und Sichel auf sich selbst. Der Franzose schüttelte erschrocken den Kopf.93 Auf die in den Erinnerungsberichten geschilderten einzelnen (privaten) Verbindungen zu Zwangsarbeitern in den Betrieben kann aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden. Des Weiteren versuchten die Gruppenmitglieder den Produktionsprozess, soweit es in ihren Möglichkeiten lag, zu stören. Hierbei bürgerte sich das „arbeite langsam“ und das „Krankfeiern“ ein, vor allem, nachdem ab Dezember 1943 die Bombenangriffe auf Leipzig stark zunahmen. Auch schrieben mehrere Mitglieder in ihren Erinnerungsberichten von Sabotage an Teilen, die für die Rüstung bestimmt waren. Besonders diese Aktionen werden unter dem Einfluss des Leipziger NKFD die illegale Arbeit der KdF-Gruppe beeinflusst haben. Hierzu wurde bereits im Herbst 1943 in einem Flugblatt aufgerufen, von welchem die Gruppe Kenntnis hatte.94 Im Sommer 1944 kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Mitgliedern des illegalen Internationalen Antifaschistischen Komitees (IAK) und des NKFD in Leipzig.95 Die KdF-Gruppe war in den Vorjahren zunehmend an deren illegaler Arbeit beteiligt worden, hatte aber nur über Einzelpersonen und besonders über Alfred Nothnagel direkte Verbindungen. Hilde Lautenschläger und Anni

93 94 95

Protokoll Walter Kern. Vgl. Kopie des Flugblatts des NKFD-Leipzig vom Dezember 1943. In: VOIGT: Kommunistischer Widerstand, S.187. Zur grundsätzlichen Erläuterung dieser Gruppen siehe VOIGT: Kommunistischer Widerstand; und Tübbesing: Nationalkomitee.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

261

Strauß hatten außerdem das NKFD-Flugblatt gegen den Bombenkrieg mit verteilt.96 Am 19. Juni erfolgte die Verhaftung von Karl Hauke und seiner Mutter, einen Tag später auch seines Vaters. Die Eltern von Karl Hauke waren seit einiger Zeit aktiv im IAK, einer Gruppe, die sich vor allem aus sowjetischen Kriegsgefangenen in Leipzig zusammensetzte und die Kontakte zu einer größeren Anzahl von Zwangsarbeiterlagern hatte. Ihr Ziel war ein bewaffneter Aufstand bei näher rückender Front. Auch Karl Hauke war seit einiger Zeit in deren illegale Arbeit eingebunden. Alfred Schellenberger, der die KdF-Gruppe in den letzten Jahren immer wieder mit Informationen versorgt hatte und dessen Tochter zur Gruppe gehörte, wurde am 22. Juni im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen das IAK inhaftiert. Obgleich Schellenberger seine Bekanntschaft mit dem jungen Karl Hauke nicht leugnen konnte und er angab, ihn auf einer Wanderung der DAF kennen gelernt zu haben, folgten keine Ermittlungen in diese Richtung.97 Nachdem wenige Wochen später am 19. Juli in Leipzig die Verhaftungen gegen das NKFD begannen, wurde Alfred Nothnagel am 4. August bei der Wehrmacht in Antwerpen wegen Mitgliedschaft im Leipziger NKFD verhaftet und einige Tage später nach Leipzig in die Wehrmachtshaftanstalt überführt. In der Folgezeit kam es darauf an, dass die verhafteten Mitglieder und Mitwisser unter den „verschärften Verhören“ die KdF-Gruppe nicht verrieten, denn auch die im Zusammenhang mit dem NKFD verhafteten Zipperer, Hoffmann und Jungbluth wussten von deren Existenz. Trotz der vielfach von der Gestapo angewandten brutalen Verhörmethoden blieb die Gruppe unentdeckt. Dies muss auch darauf zurückgeführt werden, dass die Gestapo über deren Existenz im Vorfeld keinerlei Informationen hatte und deshalb bei den Verhören diesbezüglich offenbar keine Fragen stellte. Von sich aus hatte keiner der Verhafteten etwas über diese Gruppe ausgesagt. Besonders um den jungen Karl Hauke machte man sich innerhalb der KdFGruppe zunächst große Sorgen. Umso überraschter war Else Nothnagel, als sie einige Monate nach seiner Verhaftung am 1. November 1944 in einer Straßenbahn, die im Übrigen voller Polizisten war, plötzlich auf Karl Hauke traf. Dieser war soeben der Gestapo bei einem Arztbesuch entwischt. Else Nothnagel glaubte ihm zunächst nicht, sah aber die zerschlagenen Hände Karl Haukes. Für die verbliebenen Mitglieder der KdF-Jugendgruppe ergab sich somit nach den Verhaftungen ein neues Betätigungsfeld: Sie versteckten und versorgten Untergetauchte und hielten auch Kontakt zu den Familien der Verhafteten. Karl Hauke erlebte so unentdeckt das Kriegsende. Else Nothnagel erinnerte sich: 96 97

Vgl. Nothnagel: Der Aufbau, S.25. StAL SED-Erinnerungen V/5/226, Bericht v. Alfred Schellenberger v. 18.12.1947, Bl.43.

262

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

„Seit der Verhaftung unserer führenden Genossen am 19.7.44 ergaben sich für unsere Jugendgruppe neue Aufgaben. Für die Frauen der verhafteten Genossen Schellenberger, Roßberg und Karl Hauke musste gesammelt werden. […] Diese Solidaritätsbewegung musste zentral organisiert werden. Aus diesem Grunde kamen wir wöchentlich zusammen: Else Nothnagel, Hilde Lautenschläger, Anni Strauß, Kurt Scheffler und Rudi Rühle. Mit diesen Genossen wurde die Verbindung zu den Angehörigen der verhafteten Genossen aufrechterhalten.“98

Dorle Lenge versteckte mehrmals Untergetauchte in ihrer Wohnung. Ebenfalls wurde Martin Thiele von der Gruppe versteckt, der für das NKFD Flugblätter vervielfältigt hatte und deshalb von der Gestapo gesucht wurde. Als im November und Dezember 1944 vor dem Leipziger Volksgerichtshof, der im Amtsgericht in der Elisenstraße tagte, mehrere Prozesse gegen die Mitglieder des NKFD und des IAK stattfanden, nahmen einige Mitglieder der KdF-Gruppe zusammen mit den Angehörigen der Angeklagten als Zuschauer teil. Ein ehrenwertes Zeichen von Solidarität, jedoch unter konspirativen Gesichtspunkten geradezu leichtsinnig, was glücklicherweise folgenlos blieb. Hier erfuhr Else Nothnagel, dass ihr Mann in Abwesenheit bereits zum Tode verurteilt worden war. Er befand sich immer noch als Wehrmachtsangehöriger in Haft, wodurch Gestapo und Staatsanwaltschaft keinen Zugriff auf ihn hatten. Dieser Umstand sollte ihm letztlich das Leben retten.99 Rudolf Wunderlich (Jg. 1911, vor 1933 Mitglied der KPO), der Freund von Gruppenmitglied Martel Thomas (Jg. 1904), saß seit längerem im KZ Sachsenhausen ein. Martel Thomas war vor 1933 zunächst Mitglied der KPD gewesen und hatte sich anschließend für die KPO illegal engagiert. Im Mai 1934 wurde sie deswegen verhaftet und zu zwei Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt.100 Ab 1942 konnte sie Rudolf Wunderlich mehrmals heimlich in einem Außenlager in Berlin-Lichterfelde besuchen und übergab ihm eine Ausgabe der Zeitung „Widerstand“ des NKFD-Leipzig für den KPD-Funktionär Ernst Schneller, der ebenfalls in Sachsenhausen einsaß. Mitte Juni 1944 floh Wunderlich aus dem KZ-Außenlager und kam dank Martels Hilfe zunächst bei der ExLeipzigerin Lotte Haßkerl (verheiratete Kohl) in Berlin-Prenzlauer Berg unter. Anfang Dezember 1944 wechselte Rudolf Wunderlich nach Leipzig und wurde dort weiter in illegalen Quartieren bis zum Kriegsende versteckt.101 Nachdem am 11. und 12. Januar 1945 in Dresden mehrere Todesurteile gegen führende Mitglieder des Leipziger NKFD vollstreckt worden waren, konnten Alfred Schellenberger und ein weiterer verurteilter Kommunist während der 98 99 100 101

Vgl. Erinnerungsbericht Else Nothnagel, S.13. Vgl. ebda. S.13. Siehe StAL SED-Erinnerungen V/5/330. Vgl. A. Nothnagel: Ausschnitte, S.31-44; Siehe auch LEO/REIF-SPIREK (Hg.): Helden, S.164-167.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

263

Bombenangriffe auf Dresden am 13./14. Februar aus dem Gefängnis am Münchner Platz fliehen. Schellenberger kehrte nach Leipzig zurück und wurde unter Mithilfe der KdF-Gruppe versteckt und mit Lebensmitteln versorgt. Alfred Nothnagel saß Anfang 1945 immer noch bei der Wehrmacht in Untersuchungshaft. Ihm half der Umstand, dass seine Wehrmachtseinheit inzwischen von Belgien nach Dänemark verlegt worden und es für die Gestapo formaljuristisch nicht möglich war, ihn ausgeliefert zu bekommen. Else Nothnagel, die ihren Mann alle drei Wochen im Gefängnis besuchen konnte, nahm in den letzten Kriegswochen auch auf andere Art mit ihm Kontakt auf: „Ich bin dann täglich 13 Uhr mit dem Fahrrad zum Wehrmachtsgefängnis gefahren. Alfred sein Gitterfenster ging zur Straßenseite. Dadurch konnten wir uns pünktlich um 13 Uhr verständigen, wie weit die Amerikaner noch von Leipzig entfernt waren. Die Verständigung musste schnell gehen, 50 km Entfernung waren 5 Finger, 30 km 3 Finger.“102

Gleichzeitig wurde überlegt, Alfred Nothnagel und den ebenfalls inhaftierten Kommunisten Gustav Hiek aus dem Wehrmachtsgefängnis mit Waffengewalt zu befreien. Vier der sieben von Alfred Nothnagel besorgten Pistolen waren dafür bereits aus dem Versteck herausgeholt worden. Gustav Hiek sollte anlässlich eines Zahnarztbesuches mit Hilfe von Frau Scheffler103 und Else Nothnagel fliehen. Kurzfristig nahm er von dem Vorhaben Abstand, da er Repressionen gegen seine Ehefrau befürchtete. Zur gewaltsamen Befreiungsaktion in den letzten Kriegstagen kam es ebenfalls nicht mehr, da die politischen Häftlinge des Wehrmachtsgefängnisses, unter ihnen Alfred Nothnagel, in der Nacht zum 12. April Richtung Prag überführt wurden. Auf tschechischem Gebiet konnten sie in der Nacht vom 6. zum 7. Mai ihren Bewachern entkommen. Am 26. Mai erreichte Alfred Nothnagel wieder Leipzig.104 Die Belastungen am Arbeitsplatz, Fliegeralarme und Bombenangriffe sowie die näher rückende Front hatten in den letzten Kriegsmonaten das frühere Fahrten- und Gruppenleben erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Hinzu kam die schwierige konspirative Unterstützung der Illegalen. Trotz mehrerer Verhaftungswellen war das NKFD in Leipzig dennoch nicht restlos zerschlagen worden und wurde in den letzten Kriegstagen wieder aktiv. Ziel war, die Stadt kampflos den US-Truppen zu übergeben. Im April 1945, wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, wurden darum tausende Flugblätter in Leipzig verteilt. Diese Aktivitäten waren mit hohem Risiko verbunden, wurden doch wenige Tage vor der Befreiung der Stadt noch mehr als 50 inhaftierte Antifaschisten durch die Gestapo ermordet.105 Unmittelbar vor 102 103 104 105

Erinnerungsbericht E. Nothnagel, S.15. Es konnte nicht ermittelt werden, vom wem der beiden Scheffler-Brüder sie die Ehefrau war und welchen Namen sie vorher trug. Vgl. Erinnerungsbericht E. Nothnagel, S.16. Siehe hierzu auch C. KLEßMANN: Die doppelte Staatsgründung, Bonn 1991, S.122.

264

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

dem Einmarsch der amerikanischen Truppen diskutierten neben älteren Antifaschisten aus dem NKFD auch Mitglieder der KdF-Gruppe mit den in Stellung gegangenen „Volkssturm“-Einheiten in der Stadt, um sie zur kampflosen Aufgabe zu bewegen. Dies hatte in den meisten Fällen Erfolg. Auch wurde die Bevölkerung vielfach erfolgreich aufgefordert, weiße Fahnen aus den Fenstern zu hängen.106

h.

Einschätzung der KdF-Gruppe

Zunächst hatte die spätere KdF-Gruppe um 1936/37 den Zweck, einen teilweise neu entstandenen Freundes- und Bekanntenkreis zusammenzuhalten und dessen linkssozialistische Ausrichtung vor den Einflüssen des NS-Systems abzuschotten. Obgleich sich die KdF-Gruppe zum Großteil aus Jugendlichen früherer linkssozialistischer Jugendorganisationen zusammensetzte, kann sie nicht als eine organisatorische Fortführung angesehen werden. Sie war eine strukturelle Neugründung, trotz personeller Kontinuitäten. Bemerkenswert ist die heterogene politische Zusammensetzung aus ehemaligen KJVD-, SAJ- und jüngeren SAP-Mitgliedern, wobei die Jungkommunisten in der Minderheit waren. Ein Großteil der Gruppenmitglieder hatte interessanterweise seine politischen Anfänge bei der SAJ in den späten 20er Jahren gehabt. Die KdF-Gruppe war, besonders Ende der 30er Jahre, nicht der einzige soziale Zusammenhalt aus dem früheren linkssozialistischen Milieu in Leipzig, welcher sich ein autonomes Freizeitleben bzw. einen informellen politischen Gesprächskreis schuf. Die Art und Weise, wie sie sich unter dem Dach von „Kraft durch Freude“ als eigene Gruppe etablierte und später illegale Arbeit leistete, ist nach bisherigem Wissensstand für das damalige deutsche Reich beispiellos. Anhand der Berichte, wie einzelne und kleinere Freundeskreise mit der Zeit zur KdF-Gruppe stießen, wird noch einmal deutlich, dass spätestens nach 1935 zwar jegliche organisatorische Strukturen linker politischer Jugendgruppen zerschlagen waren, die sozialen Kontakte sich hingegen als resistenter und langlebiger erwiesen. Die gemeinsame politische Vergangenheit im linkssozialistischen Milieu und die daraus folgende Isolierung und Verfolgung unter dem NSRegime ließ einzelne Freundeskreise zur KdF-Gruppe fusionieren.107

106 107

Vgl. STEINECKE: Drei Tage, S.42. Ähnliche informelle Kreise beschreibt auch Peukert für Westdeutschland zwischen 1936 und 1945, jedoch ausschließlich aus früheren KPD-Mitgliedern. Eine Vermischung mit Sozialdemokraten scheint es dort, im Gegensatz zur Leipziger KdF-Gruppe, nicht gegeben zu haben. Siehe PEUKERT: KPD im Widerstand, S.267f.

4. Die Leipziger KdF-Jugendgruppe

265

Bis Anfang der 40er Jahre trug die Gruppe trotz des teilweise fortgeschrittenen Alters einiger Mitglieder jugendkulturelle Züge in der Freizeitgestaltung und verwendete darüber hinaus Teile der damals unter oppositionellen Jugendlichen üblichen Kleidung in Form von karierten Hemden und kurzen Lederhosen. Hierbei versuchten sie eine Art Kompromiss gegenüber sich selbst. Einerseits wollten sie sich durch ihr „Wanderer“-Outfit optisch von den uniformierten NS-Organisationen abheben, andererseits vermieden sie eindeutige linke Accessoires, wie z. B. rote Halstücher. Mit ihrer Kleidung suchten sie darum nicht – im Gegensatz zu den Leipziger Meuten – eine offene Auseinandersetzung mit der HJ um Wahrnehmbarkeit und Präsenz im öffentlichen Raum, sondern ihr Dresscode war lediglich für Gleichgesinnte zu entschlüsseln, für Außenstehende hingegen kaum. Umso überraschender scheinen in diesem Zusammenhang die mehrmals stattgefundenen „Hüttenabende“, welche unter konspirativen Gesichtspunkten äußerst gewagt waren. Dennoch erfüllten sie eine wichtige Funktion innerhalb der Gruppe. Wie bereits ausgeführt, bestand die Gruppe nicht nur aus langjährig aktiven Linkssozialisten der Geburtsjahrgänge um 1915, sondern es gab auch mehrere erst nach 1920 Geborene. Die Hüttenabende waren ein gutes Mittel, besonders in der kalten Jahreszeit, wenn Wanderfahrten witterungsbedingt nicht möglich waren, das Zusammengehörigkeitsgefühl zu bestärken und auszubauen. Das mutige Verlesen von politisch zweideutigen Texten verstärkte zudem die Attraktivität der Gruppe. Wenn man im Nachgang die Aufgaben der KdF-Gruppe versteht als: Zusammenfassung zuverlässiger Gleichgesinnter, Verbergen der Gruppenstruktur vor dem NS-Verfolgungsapparat, Schulung der Vertrauenswürdigsten im marxistischen Sinne, Solidaritätsarbeit für verfolgte Genossen und Familien und nach dem Ende des NS sofortige Arbeit für das NKFD bzw. für die KPD, so muss die illegale Arbeit der KdF-Gruppe als Erfolg gewertet werden.108 Eine umfassende Bewertung ist jedoch nicht möglich. Zum einen lässt sich aus den einzig verfügbaren Quellen, oftmals tendenziösen Erinnerungsberichten, kein objektives Bild rekonstruieren. Zum anderen ist dort zu wenig über die selbst gesteckten Ziele und Diskussionen der Gruppe zu finden. Wie bereits ausgeführt, kamen die Mitglieder aus verschiedenen linken Strömungen. Eine Tatsache ist, dass nach Kriegsende nahezu alle in die KPD und später in die SED eintraten.109 Analog Peukerts These von der zweiten 108

109

Die Einschätzung steht nicht im Widerspruch zu Tübbesing, der resümierte, dass das NKFD in Leipzig sein selbstgestecktes Ziel, der Befreiung vom Faschismus aus eigener Kraft, nicht erreicht hatte. Dies wollte sicherlich auch die KdF-Gruppe, sie hatte aber solche Ziele nie verbindlich formuliert. Vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, S.74. Von Nothnagel und einigen andern ist bekannt, dass sie 1945 aus taktischen Gründen im Auftrag der KPD zunächst in die SPD eintraten, um den Vereinigungsprozess zur SED voranzutreiben. Nothnagel war später SED-Mitglied.

266

IV. Mitglieder linkssozialistischer Jugendgruppen ab 1936

Gründungsphase der KPD in den späten 30er Jahren haben sich auch die Mitglieder der KdF-Gruppe, unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit vor 1933, spätestens zum Kriegsende als Kommunisten gefühlt. Besonders die ab Sommer 1944 notwendig gewordenen und unter hohem persönlichem Einsatz durchgeführten Solidaritätsaktionen für die Mitglieder des NKFD und des IAK und deren Angehörige zeigen, dass man sich mit den kommunistischen Gruppen identifiziert hatte und bereit war, dafür große Risiken auf sich zu nehmen.

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

1.

Leipzig während des Krieges

Die ab 1939 eingeführte HJ-Dienstpflicht und die 1940 hinzugekommene „Verordnung zum Schutze der Jugend“ brachte eine Reihe von gravierenden Beschränkungen für die Selbstbestimmung Jugendlicher unter 18 Jahren, welche es zuvor nicht in dem Umfang gegeben hatte. Um die Lebensumstände von Jugendlichen in Leipzig während der Kriegszeit einschätzen zu können, ist es zunächst notwendig, die spezifischen Bedingungen vor Ort kurz zusammenzufassen. Mit Kriegsausbruch am 1. September 1939 nach dem deutschen Angriff auf Polen bestimmten zunächst die raschen Erfolge der Wehrmacht die öffentliche Wahrnehmung. Leipzig als ein wichtiger Standort der metallverarbeitenden Industrie war für die Rüstung von großer Bedeutung, v. a. beim Flugzeugbau (z. B. die Erla Maschinen Werke GmbH) sowie bei der Munitions- und später Panzerfaustherstellung in der Hugo-Schneider-AG (HASAG).1 Wegen der steigenden Rüstungsproduktion wurden Arbeiter aller Altersgruppen und somit auch Jugendliche in wichtige Betriebe „dienstverpflichtet“. Stellenweise wurde den Belegschaften eine höhere Produktivität abverlangt, die Arbeitszeit verlängert, in mehreren Schichten gearbeitet.2 In Leipziger Industriebetrieben arbeiteten außerdem seit Ende 1939 zunehmend Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus Osteuropa.3 Überall in und um Leipzig entstanden hierfür zu Beginn der 40er Jahre Barackenlager sowie Unterkünfte in Betrieben, ehemaligen Gaststätten usw. Für Leipzig gibt es eine Auflistung von knapp 350 solcher Lager.4 Auch in Westeuropa angeworbene oder verpflichtete „Fremdarbeiter“ ersetzten zu Beginn der 40er Jahre in größerem Maße die männlichen deutschen Arbeitskräfte, die zur Wehrmacht eingezogen wurden. Der Kontakt der einheimischen Bevölkerung mit ausländischen Fremd- und Zwangsarbeitern war reglementiert bzw. verboten, Nichtbeachtung wurde mit teilweise harten Strafen geahndet. Dennoch war besonders nach 1943 die im1 2 3 4

Siehe hierfür U. HEß: Sachsens Industrie in der Zeit des NS. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.53-88, besonders S.83. Siehe auch KENKMANN: Wilde Jugend, S.146. Zur Thematik „Fremdvölkische Arbeitskräfte“ unter dem NS siehe auch PEUKERT: Volksgenossen, S.151-171. Vgl. SÄCHSISCHES STAATSMINISTERIUM DES INNERN (Hg.): Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, Dresden 2002, S.79; Speziell für die HASAG siehe: UFZ (Hg.): Leipzig Permoserstraße, Leipzig 2001, S.46-51.

268

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

mer weiter steigende Anzahl an Fremdarbeitern im Leipziger Straßenbild nicht zu übersehen.5 Bei deren Behandlung gab es gravierende Unterschiede, die auf der rassistischen NS-Ideologie basierten. Beispielsweise konnten sich Arbeiter aus westeuropäischen Ländern wesentlich freier in der Stadt bewegen als Osteuropäer. Auch in den Strafbemessungen für Jugendliche wurde dies sichtbar. Beispielsweise hatte im Februar 1944 nach einem angloamerikanischen Bombenangriff der polnische Gärtnereiarbeiter Czeslaw Rakoczy (Jg. 1926) aus einem ausgebombten Textilwarengeschäft zwei Paar Strümpfe entwendet. Wegen dieses Diebstahls wurde er wenige Monate später am 4. April vom Sondergericht Leipzig als „Plünderer“ zum Tode verurteilt.6 Das gleiche Gericht verurteilte drei Monate später den französischen Schneider René R. (Jg. 1925), der mit einem anderen unter Ausnutzung der Verdunklung „Tabakwaren in erheblicher Menge“ gestohlen hatte, als „Volksschädling“ zu sechs Monaten Zuchthaus unter Anrechnung seiner Untersuchungshaft.7 Der enorme Unterschied bei vergleichbaren Vergehen ist klar erkennbar und zeigt, wie wenig den Nationalsozialisten das Leben eines Menschen wert war, wenn er nicht in ihr rassistisches Bild passte. Für April 1943 sind etwa 46.000 ausländische Arbeitskräfte für Leipzig aufgeführt, wobei die Kriegsgefangenen und die als Arbeiter eingesetzten KZHäftlinge wahrscheinlich nicht berücksichtigt wurden.8 Unter den Fremd- und Zwangsarbeitern befanden sich nicht wenige Jugendliche. Aus zeit- und quellentechnischen Gründen musste in dieser Arbeit auf eine Darstellung ihres Alltagsund Freizeitlebens in Leipzig verzichtet werden. Festzuhalten ist, dass es zwischen Leipziger und ausländischen Jugendlichen kaum Kontakte gab, und wenn, dann nicht gruppenweise und nicht unter jugendkulturellen Gesichtpunkten. Aktenkundig bei der Polizei wurden hingegen zunehmend verbotene Liebesbeziehungen zwischen jungen deutschen Frauen und ausländischen Arbeitern.9 So verurteilte beispielsweise im November 1944 das Landgericht Leipzig eine 19-jährige Leipzigerin wegen „verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen“ zu acht Monaten Gefängnis.10 Während westdeutsche Industriestandorte wie das Ruhrgebiet bald nach 1939 in den Focus alliierter Bombenangriffe rückten, blieben Leipzig und das

5

6 7 8 9 10

Durch den für Deutschland ungünstigen Kriegsverlauf im Osten, wurden die Bedingungen für Ostarbeiter in Deutschland (zumindest formal) etwas verbessert um die Arbeitsleistungen zu erhöhen. So konnten sie jetzt wenigstens ihre Lager „unter Begleitung“ zeitweise verlassen. Vgl. StaL PP-S 3400/130, unpag. Vgl. StaL PP-S 3400/136, Bl.2. Vgl. SÄCHS. STAATSMINISTERIUM (Hg.): Zwangsarbeit, S.30. Vgl. StAL PP-S 8528, Gefängnistagebücher Polizeigefängnis 1943. Vgl. StAL PP-S 7952 Bl.1; Ein ähnliches Urteil gegen eine 24jährige Leipzigerin siehe PPS 3400/134.

2. Die Veränderung der Jugendkultur

269

mitteldeutsche Industriegebiet wegen ihrer geographischen Lage davon zunächst verschont. Aus diesem Grund waren die direkten Auswirkungen des Krieges für die Bevölkerung bis Dezember 1943 in Leipzig noch nicht sichtund spürbar. Gleichwohl prägten seit Kriegsbeginn Verdunklung und Fliegeralarme das öffentliche Leben in der Stadt. Deshalb soll die Betrachtung in zwei Abschnitte eingeteilt werden: vor und nach Beginn der massiven Bombenangriffe auf Leipzig. Diese setzten ab dem 4. Dezember 1943 ein und führten zu teilweise massiven Zerstörungen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stadt nahezu unbeschädigt geblieben. Vorherige vereinzelte Luftangriffe hatten keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Anders beispielsweise die Situation der westdeutschen Großstadt Köln, welche frühzeitig durch Bombenangriffe in eine Ausnahmesituation gebracht wurde. Ein nicht geringer Teil der dortigen Bevölkerung wurde darum evakuiert, z. B. durch die „Kinderlandverschickung“. Darüber hinaus machte sich unter den verbliebenen Einwohnern zunehmend eine fatalistische Stimmung breit, da niemand wusste, ob er als Nächster durch die Luftangriffe ums Leben kommt. Dies verstärkte sich ab Ende 1944 durch die näher rückende Front der West-Alliierten.11 Es soll darum auch untersucht werden, ob die Bombenangriffe auf Leipzig ab Ende 1943 eine entscheidende Zäsur für Jugendliche darstellten oder ob die allgemeine Situation bereits zuvor die im Folgenden beschriebenen Umstände hervorrief.

2.

Die Veränderung der Jugendkultur

Wie anhand der Leipziger Meuten aufgezeigt werden konnte, gab es für Leipziger Arbeiterjugendliche in den 30er Jahren, die sich bewusst außerhalb der HJ bewegten und sich der „Bündischen Jugend“ zugehörig fühlten, einen einheitlichen Dresscode: kariertes Hemd, kurze Lederhosen, weiße Kniestrümpfe, gelegentlich rote Halstücher. Das Tragen dieser „Kluft“ und die zunehmenden Aktivitäten dieser Jugendlichen hatten in Leipzig besonders 1938 und 1939 zu zahlreichen Verhaftungen geführt, sodass die Leipziger Meuten in dieser Form aus der Öffentlichkeit verschwanden. Im Folgenden soll kurz darauf eingegangen werden, was mit den Meutenmitgliedern in der Folgezeit geschah. Nach Kriegsausbruch gab es im Herbst 1939 eine reichsweite Amnestie, unter die eine größere Anzahl von Meutenmitgliedern fiel, welche zu diesem Zeitpunkt in Leipzig in Untersuchungshaft einsaßen. Einige sollen laut Polizei nach ihrer Entlassung sogar ein Fest veranstaltet haben, um dieses Ereignis zu fei-

11

Sehr anschaulich beschrieben wird die Situation für Jugendliche in Köln durch J. JÜLICH: Kohldampf, Knast und Kamelle, Köln 2004; Außerdem A. GOEB: Er war sechzehn als man ihn hängte, (Roman), Reinbeck 2001; Für das benachbarte Dortmund siehe K. PIEHL: Latscher, Pimpfe und Gestapo, (Roman), Frankfurt/M. 1984.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

ern.12 Die nicht bzw. nicht mehr inhaftierten Meutenmitglieder trafen sich dennoch nicht mehr an ihren alten Treffpunkten, sondern zogen sich vorwiegend ins Private zurück. Vielfach mussten sie sich regelmäßig bei der Polizei melden und wollten verständlicherweise nicht unangenehm auffallen. Des Weiteren wurden polizeilich Aktenkundige aus den Meuten, die nicht vorbestraft waren, bald zur Wehrmacht eingezogen und so ihrem sozialen Gefüge entrissen. Eine Gruppe Jugendlicher aus dem Umfeld des „Hundestarts“ kaufte sich nach der Entlassung aus der U-Haft Faltboote und unternahm in der Folgezeit Wasserwanderungen. Sie trafen sich regelmäßig im Bootshaus Lindner, welches vor 1933 dem Arbeitersportverein „Fichte“ gehörte. Dort kamen auch Mitglieder aus der bereits dargestellten KdF-Gruppe zusammen. Die Treffen und Fahrten wurden fortgesetzt, bis um 1942 die Einberufung zur Wehrmacht erfolgte.13 Von einigen Jugendlichen aus dem Umfeld der Meute „Lille“, welche vor 1933 bei den Roten Jungpionieren waren, ist bekannt, dass sie nach 1940 Kontakt zu älteren ehemaligen Kommunisten hatten und mit ihnen manchmal ihre Freizeit verbrachten.14 Viele von den 1940/41 aus der Haft entlassenen Meutenmitgliedern wurden zunächst als „wehrunwürdig“15 eingestuft und mussten außerdem bei der Leipziger Gestapo eine Erklärung unterschreiben, „keine Verbindungen zu dem Personenkreis wieder aufzunehmen, mit dem man vor der Verhaftung verkehrt hatte und die mit der Haftsache im Zusammenhang standen. Auch Kleidungsstücke wie Lederhosen u. ä. nicht mehr zu tragen, sowie über alles, was mit der Haftzeit in Zusammenhang steht, mit niemandem zu sprechen.“16 Nachdem sich 1942/43 an der Ostfront der Kriegsverlauf für Deutschland immer weiter verschlechterte, wurden auch alle bislang „Wehrunwürdigen“ der Leipziger Meuten eingezogen, zum Teil in das berüchtigte Strafbatallion 999. Einige der „Rädelsführer“ überstellte man hingegen nach Haftverbüßung an die Gestapo zurück, welche sie in KZs einwies, so z. B. Willy Prüfer, Heinz Krause und Wolfgang Schieweg.17 Mindestens zwei Meuten hatten die Verhaftungswellen 1939 relativ unbeschadet überstanden: die Connewitzer und die Paunsdorfer. Mitglieder beider Gruppen wandten sich zu Beginn der 40er Jahre unabhängig voneinander in ihrer Freizeit verstärkt den Tanzsälen zu.18

12 13 14 15 16 17 18

Vgl. GRUCHMANN: Jugendopposition, S.122. Interview mit W. Endres. Vgl. StAL SED-Erinnerungen V/5/331. Wer mehr als zu einem Jahr Gefängnis oder Zuchthaus verurteilt worden war, wurde vom Wehrdienst ausgeschlossen. Erinnerungsbericht von Rolf F. Siehe StAL VdN-Akten Nr.13098, Nr. 13945. Interview mit H. Geisenhainer.

2. Die Veränderung der Jugendkultur

271

Das frühere „Reeperbahn“-Mitglied Rolf Franz fand nach seiner Haftentlassung zu einem neuen Freundeskreis, welcher sich für Jazz- und Swingmusik interessierte und dessen Dresscode eine neue Epoche unter Leipziger Jugendlichen dokumentiert: „Wir waren junge Männer, die in maßgeschneiderten Anzügen mit Schlips und Kragen ausgingen, Anzüge, die unser Meister Nickisch mit Frau uns arbeitete. Sein Ladengeschäft befand sich […] kurz vor dem Felsenkeller. Hier verkehrten wir fast wie in Familie. Dort stand auch ein Plattenspieler und hier gab es auch Schallplatten zu hören, welche bei der faschistischen Reichsmusikkammer auf der verbotenen Liste standen. […] Fast jeder hatte zu Hause ein eigenes Koffergrammophon und die verbotenen Platten irgendwo her.“19

Der Freundeskreis bestand aus etwa einem Dutzend junger Männern und Frauen, die – im Gegensatz zu den Leipziger Meuten – vorwiegend bürgerlichen Berufen nachgingen. Sie besuchten in der Innenstadt verschiedene Cafés und Restaurants, wie z. B. das „Centraltheater“. Ein weiterer Treffpunkt war eine Gaststätte am Dorotheenplatz nahe der Innenstadt, die dem Vater eines Geschwisterpaares gehörte, welches in dem Freundeskreis verkehrte. Für diese älteren Jugendlichen wie auch für die nun in Erscheinung tretenden Arbeiterjugendlichen der Geburtsjahrgänge ab 1925 ist für Leipzig festzuhalten, dass die oben beschriebene Wanderkluft aus den 30er Jahren nicht mehr getragen wurde. Die Vorliebe für angloamerikanischen Lebensstil breitete sich mit Beginn der 40er Jahre zunehmend auch unter Arbeiterjugendlichen in Leipzig aus. Sie trugen jetzt Hemden, Jacketts und etwas längere Haaren als sie bei der HJ üblich waren – das (unauffälligere) Äußere für Jugendliche, welche die Staatsjugend ablehnten.20 Hier zeigt sich eine Besonderheit im Vergleich zu den westdeutschen Edelweißpiraten, für die Kenkmann feststellte, dass unter ihnen keine generelle „Amerikanisierung“ stattfand und sie zum Großteil der traditionellen Volkskultur verhaftet blieben.21 Darüber hinaus erhielt sich der Begriff „Bündische Jugend“ als Sammelbezeichnung für Jugendliche jenseits der HJ in Leipzig. Als Erkennungsmerkmale wurden teilweise an den Jacketts Totenkopfabzeichen und die Buchstaben „BJ“ getragen. Die von den Leipziger Meuten bekannten Überfälle auf Angehörige der Staatsjugend hörten trotz der zahlreichen Verhaftungen vom Sommer 1939 nicht auf. So ist Anfang März 1940 aus dem Leipziger Westen ein Fall bekannt, wo ein Jungvolk-Angehöriger auf dem Nachhauseweg von sieben bis neun „jungen Burschen“ überfallen wurde. Die Täter raubten ihm Uniformabzeichen

19 20 21

Erinnerungsbericht von Rolf F. Der Felsenkeller befindet sich im Stadtteil Plagwitz. Gruppenfoto einer Leipziger Jugendgruppe aus dem Jahr 1943 aus Privatbesitz von W. Teumer. Kopie im Besitz des Verfassers. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.287.

272

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

und Fahrtenmesser. Die zuständige Polizei stufte die Tat als „politisch“ ein.22 Dies zeigt, dass die Staatsjugend auch nach der Zerschlagung der meisten Meuten sich bei den gegen sie eingestellten Jugendlichen keinesfalls mehr Respekt verschaffen konnte.

3.

Die Hitlerjugend als Pflicht

Zumindest auf dem Papier hatte die HJ Anfang 1939 reichsweit einen Großteil aller 10- bis 18-Jährigen in ihren Reihen organisiert und somit die seit 1933 angestrebte Totalerfassung der deutschen Jugend nahezu erreicht. Doch die immer noch bestehende (juristische) Freiwilligkeit der HJ-Mitgliedschaft war für die kommenden Aufgaben, insbesondere hinsichtlich eines möglichen bevorstehenden Krieges, nicht mehr ausreichend. Für die Zukunft galt es, dem HJDienst für alle Jugendlichen in Deutschland einen verpflichtenden Rahmen zu geben und dem NS-Staat die Möglichkeit, nach Belieben über sie zu verfügen. Ende März 1939 wurden die beiden „Durchführungsverordnungen zum Gesetz über die Hitlerjugend“ und die darin enthaltene „Jugenddienstpflicht“ veröffentlicht. Alle 10- bis 18-Jährigen waren von nun an zum „Ehrendienst am Deutschen Volk“ verpflichtet. In der zweiten Durchführungsverordnung wurde verfügt, dass die HJ eine „öffentlich-rechtliche Erziehungsgewalt“ auszuüben hat.23 In einer dritten Durchführungsverordnung, welche Mitte November 1939 erlassen wurde, erlaubte man es außerdem der HJ, für die Durchsetzung der Dienstpflicht die Organe des Staates hinzuzuziehen.24 Somit war es möglich, Jugendliche zum HJ-Dienst zu zwingen. Dieser „Dienst“ bestand seit den 30er Jahren zum einen aus den Heimabenden, welche in der Regel mittwochabends abgehalten wurden. Hier trafen sich die einzelnen HJ- oder Jungvolk-Gruppen, um von ihren Führern weltanschaulich geschult zu werden. Fehlten geeignete Räume, mussten diese Veranstaltungen ausfallen. Zum anderen wurde an den Wochenenden der „Außendienst“ durchgeführt, meistens Exerzierübungen und „körperliche Ertüchtigungen“, bis zum Kriegsbeginn auch Wanderungen. Ab Oktober 1940 führten HJ und BDM ihren normalen Dienst ausschließlich an den Wochenenden durch. Hinzu kamen mit den Kriegsjahren verstärkt zusätzliche Hilfsdienste an anderen Tagen. Bereits in den Jahren zuvor hatten Geländespiele und Wehrertüchtigung einen StAL PP-V 5004, Tätigkeitsbericht für Monat März 1940 der Schutzpolizei Abschnittskommando West. 23 Vgl. KLÖNNE: Jugend, S.35-37; Zum Themenkomplex Hitlerjugend im Krieg siehe auch: KENKMANN: Wilde Jugend, S.164-170; V. HELLFELD/KLÖNNE: Die betrogene Generation, Köln 1985, S.189-267; KLOSE: Gleichschritt, S.237-269; BRANDENBURG: HJ, S.227233. 24 Vgl. KLÖNNE: Jugend, S.39. 22

3. Die Hitlerjugend als Pflicht

273

immer größeren Raum bei der HJ und ihren Sonderformationen (wie Fliegeroder Motor-HJ) eingenommen. Könnte man einerseits daraus schließen, dass die HJ durch ihren von Anfang an dominierenden vormilitärischen Charakter und ihrer hierarchischen Organisationsstruktur auf einen kommenden Krieg umfassend vorbereitet war, so sah die Realität vielfach anders aus. Wie bereits ausgeführt, hatte die HJ nach 1933 aufgrund ihres explosionsartigen Wachstums sowohl mit infrastrukturellen als auch mit Führungsproblemen zu kämpfen. Diese Probleme waren bis zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 keinesfalls gelöst. Es gab nach wie vor zu wenige Räumlichkeiten, um die vielen Gruppen unterzubringen. Hinzu kam, dass nichtkriegswichtige Bauvorhaben gestoppt wurden, worunter zeitweise auch HJ-Heime fielen.25 Der Kriegsbeginn stellte die Reichsjugendführung außerdem vor ein weiteres Problem: Viele HJ-Führer wurden zur Wehrmacht eingezogen oder meldeten sich freiwillig, was die ohnehin angespannte Situation auf diesem Gebiet weiter verschärfte.26 So war bereits im Oktober 1939 von den deutschlandweit 1.100 Bann- und Jungbannführern fast die Hälfte bei der Wehrmacht.27 Von einem geregelten Dienstbetrieb konnte nun erst recht nicht mehr die Rede sein. Diese Beobachtung machte bereits Ende 1939 auch der Sicherheitsdienst der SS für verschiedene Teile Deutschlands. Hinzu kamen weitere Umstände wie z. B. die zeitintensive Berufsarbeit, welche die älteren Jugendlichen vom HJ-Dienst abhielt.28 Die Staatsjugend war sichtbar mit der Kriegssituation überfordert. Bezug nehmend auf die Jugenddienstpflicht schrieb das Leipziger Jugendamt Mitte Oktober 1940 an das Hauptverwaltungsamt der Stadt, also in einer Zeit, wo sich die militärischen Erfolge der Wehrmacht geradezu überschlugen: „Solange die Hitlerjugend durch die Einwirkung des Krieges nicht imstande ist, einen geordneten Dienstbetrieb durchzuführen, wird die Gemeindepolizei von ihr nicht in Anspruch genommen werden. Erst wenn der Führermangel und die Raumnot behoben sind, kann damit gerechnet werden, dass Jugendliche, die sich vom HJ-Dienst drücken wollen, durch die Stadtpolizei zum Dienst gebracht werden müssen.“29

Da sich die Situation in den Folgejahren weiter verschärfte statt entspannte, fand somit nie ein geordneter Dienstbetrieb im Sinne der HJ statt. Die Jugendlichen, welche nicht zum HJ-Dienst gingen, hatten sicherlich psychischen Druck 25

26 27 28 29

Siehe auch BRANDENBURG: HJ, S.231; Ein Beispiel aus Leipzig: Der bereits begonnene Umbau des ehem. Ausflugslokals „Eiskeller“ zum HJ-Heim wurde auf Beschluss des OBM im Oktober 1939 eingestellt, wieder aufgenommen und im Mai 1940 vom Arbeitsamt Leipzig abermals gestoppt. Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr. 325 Bd.1, Bl.188ff. Siehe auch KATER: Hitlerjugend, S.53. Vgl. BRANDENBURG: HJ, S.229; Siehe auch BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.8ff. Siehe BOBERACH (Hg.): Meldungen, Bd.3, S.477. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.2, Bl.202.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

seitens der zuständigen HJ-Vorgesetzten in Form von schriftlichen Befehlen30 und Abmahnungen zu erwarten. Eine zwangsweise Zuführung zum HJ-Dienst oder weitergehende Bestrafungen scheint es aufgrund der oben geschilderten Situation kaum gegeben zu haben und wenn, dann offenbar ohne sonderlich einschüchternde Wirkung.31 Die Hauptprobleme bei der Dienstdurchführung lagen in jedem Fall bei der HJ selbst. In einem Bericht der Reichsjugendführung über die Tätigkeit der HJ während des Krieges von Mitte Mai 1942 heißt es außerdem, dass „zur Zeit fast keine Jugendführer mehr zur Verfügung“ stehen würden und man darum gezwungen sei, „ältere Führer aus anderen Gliederungen“ sowie die Lehrerschaft heranzuziehen. Auch wurden immer jüngere, unerfahrene HJ-Mitglieder mit Führungsaufgaben betraut. Hinzu kam, dass bis zu diesem Zeitpunkt reichsweit 7.500 Jugendführer den „Heldentod“ an der Front erlitten hatten.32 In den Folgemonaten konnte die HJ weder den Schwund an Führern aufhalten noch ältere Führer rekrutieren. Wie die Situation in Leipzig war, soll folgendes Beispiel zeigen: Im März 1943 berichtete der Rektor der 7. Volksschule in Leipzig-Connewitz, dass seine Schüler keine HJ-Führer hätten und wenn, dann wären es nur Gleichaltrige. Der Direktor empfahl daher in einem Schreiben an das Schulamt: „Es wird allerhöchste Zeit, dass die Jugend jetzt im totalen Kriege in der Heimat von erwachsenen und erfahrenen Menschen geführt wird. Vielleicht wäre zu empfehlen, dass SA-Kameraden oder Berufskameraden, soweit sie sich an den Nachmittagen und Abenden freimachen könnten, die Führung der Jugend jetzt in der Heimat übernehmen könnten. […] Ich wäre sofort bereit dazu, vielleicht fänden sich auch andere.“33

Den Akten nach blieb seine Initiative im Schulamt ungehört. Möglicherweise sah man sich dafür nicht zuständig, da dies Angelegenheit der HJ war. Auch die „Berufskameraden“ hatten offenbar keine Kapazitäten, die Staatsjugend zu führen. Dies zeigt, wie die Hitlerjugend als Institution zu dieser Zeit an Bedeutung und Autorität einbüßte. Eine lückenlose Erfassung und Führung aller 10bis 18-Jährigen war für die Staatsjugend bereits 1942/43 – so es sie überhaupt jemals gegeben hatte – nicht mehr durchführbar. In diesem Zusammenhang

30 31

32 33

Erinnerungsbericht von Werner Tautz (Jg. 1922) vom 21.07.2008 in Besitz des Verfassers. Lediglich für 1941 ist eine Statistik der „weiblichen Kriminalpolizei“ in Leipzig überliefert, welche 276 „Überweisungen“ von Jugendlichen an die Hitlerjugend für den Zeitraum Oktober bis Dezember 1941 auflistet. Siehe StAL PP-V 4994 unpag. Bericht des Stabsführers der RJF über die Tätigkeit der HJ während des Krieges, zitiert nach JAHNKE: Jugend, S.426. Stadtarchiv Leipzig SchulA Nr. 625, Bl.294; Der „totale Krieg“ war 14 Tage zuvor von Propagandaminister Goebbels medienwirksam verkündet worden.

3. Die Hitlerjugend als Pflicht

275

muss von einem Scheitern der HJ gesprochen werden.34 Obgleich die Gesamtsituation an Rhein und Ruhr zu diesem Zeitpunkt wegen der massiven alliierten Bombenangriffe schon chaotischere Züge hatte als in Mitteldeutschland, so belegen die Ausführungen des Schuldirektors doch, dass es in Bezug auf die HJ in Leipzig ähnlich bergab ging.35 Ein Blick auf die Heimsituation zeigt, wie neben dem permanenten Führermangel der HJ-Dienst nach Kriegsbeginn in der Realität aussah. Der Leipziger HJ standen 1942 fünf große Heime zur Verfügung, welche dem Jugendamt gehörten und von ihm unterhalten wurden: im Westen das neu errichtete Hermann-Göring-Heim und die ehemalige katholische Volksschule, in Gohlis die ehemalige Büttnersche Schule, in Connewitz das Gelände des früheren „Eiskellers“ und in Reudnitz das Objekt in der Mühlstraße 14. Hinzu kamen sechs kleinere Unterkünfte sowie Schulräume und Turnhallen.36 Aber auch mit den von der HJ darüber hinaus zusätzlich angemieteten Räumlichkeiten reichten diese Heime nicht für einen geregelten Betrieb aus. Da für die Heimbeschaffung die einzelnen Kommunen zuständig waren, wandte sich die HJ-Führung in Leipzig im Februar 1942 abermals in einem Schreiben an den Leipziger Oberbürgermeister und „Parteigenossen“ Freyberg: „Der allergrößte Kummer, den wir hier haben, ist die Heimnot. Im Nordosten, im Osten und insbesondere auch im Westen Leipzigs gibt es unzählige Einheiten, die nur Außendienst durchführen können, d. h., dass sie in der jetzigen Jahreszeit fast keinen Dienst durchführen können. Durch die Beschlagnahme von Schulen für Zwecke der Wehrmacht, der Unterbringung von Volksdeutschen und ausländischen Arbeitern hat es auch dem Stadtschulamt teilweise unmöglich gemacht, die geeigneten Räume zur Durchführung des Dienstes bereitzustellen.“

Natürlich sei man der Stadt für das neu errichtete Hermann-Göring-Heim sehr dankbar, „aber es geht nicht an, dass man bei jeder Gelegenheit, wenn man mit Forderungen für zu schaffende Unterkünfte an die Stadt herantritt, immer wieder auf das Hermann-Göring-Heim verwiesen wird. Auf der anderen Seite wird von Seiten der Stadt das Hermann-Göring-Heim immer wieder der Wehrmacht zur Beschlagnahme empfohlen.“37 Die Leipziger HJ-Führung hatte sichtbare Legitimitätsprobleme gegenüber der Stadtverwaltung.38 Erschwerend kam für 34 35

36 37 38

Siehe auch KENKMANN: Wilde Jugend, S.228. Die chaotischen Zustände beim Führer-Mangel bestätigt für Leipzig auch das frühere HJ-Mitglied Wolfgang Renner (Jg.1927). Siehe: SCHULMUSEUM LEIPZIG (Hg.): Kinder in Uniform, S.19. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323, Bd.3, Bl.39. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.336, Bl.62. Die Stadtverwaltung benötigte ihr Geld an anderer Stelle – zu dieser Zeit ein reichsweiter Trend. Vgl. BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.2, S.1004f.

276

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

die Argumentation der HJ hinzu, dass das Jugendamt sich vom Heimwart des Hermann-Göring-Heimes einen Bericht über die tatsächliche Auslastung der Räumlichkeiten erstellen ließ. Nach HJ-Angaben wurde das Heim zu diesem Zeitpunkt von 2.500 bis 3.000 Jugendlichen genutzt. Der Heimwart berichtete hingegen: „Im Anfang, nach Betriebsbeginn im Januar 1940, war der Besuch des Heimes sehr stark, hat aber im Verlaufe der Zeit sehr nachgelassen, was wohl eine Kriegserscheinung ist. Beim Jungvolk ist das weniger der Fall, umso mehr aber bei der HJ. Der Grund ist darin zu suchen, dass die jungen Menschen heute sehr in den Produktionsprozess eingespannt sind. Nicht zuletzt aber ist er auch eine Frage des Führermangels. Bei den Mädels liegen die Dinge so, dass die älteren Mädel (14 bis 18 Jahre) in ganz geringem Umfang Dienst leisten, während die Jungmädel wie beim Jungvolk noch verhältnismäßig stark vertreten sind. Das BDM-Werk ‚Glaube und Schönheit’ tritt im Heim kaum noch in Erscheinung.“39

Diese Tatsachen schafften folgerichtig keine gute Ausgangsbasis für die Staatsjugend, in Kriegszeiten von der Kommune weitere Heime einzufordern. Das beschriebene auffallend geringe Interesse von 14- bis 18-jährigen Jugendlichen zeigt, dass es mit Beendigung der Volksschulzeit und dem Eintritt in die Lehre auch noch nach 1940 möglich war, dem HJ-Dienst fernzubleiben. Der Zwangscharakter der Staatsjugend ließ sich offenbar nur im Jungvolk in Verbindung mit der Schule durchsetzen. Waren die über 14-Jährigen einmal in einem Lehroder Arbeitsverhältnis, fehlte der permanente Druck seitens der HJ-Führer und der Staatsjugenddienst wurde – von der HJ ungewollt – zu einer freiwilligen Angelegenheit. Darüber hinaus vergrößerten sich die zeitlichen Belastungen am Arbeitsplatz infolge der benötigten Rüstungsgüter, weswegen Heimabende mit weltanschaulichen Vorträgen ihren Sinn bei den Jugendlichen einbüßten. Der Konflikt zwischen Stadtverwaltung und HJ verschärfte sich mit den Jahren weiter. Ab 1943 kam es seitens der Stadt zu verstärkten Beschlagnahmungen von HJ-Heimen für andere kriegswichtige Dinge, nicht zuletzt eine Folge der ab Dezember einsetzenden massiven Bombenangriffe auf Leipzig. Der HJ-Oberbannführer Großrau schrieb darum Mitte Februar 1944 an das aus dem Leipziger Jugendamt hervorgegangene „Amt für Jugendertüchtigung“: „Ich bitte darum, möglichst allen städtischen Stellen in geeigneter Form zur Kenntnis zu bringen, dass die Hitlerjugendheime kriegswichtig sind und nicht für irgendwelche Bürozwecke verschiedenster Stellen der Stadt zur Verfügung stehen können. Nach dem Terrorangriff haben sich beispielsweise das Kriegsschädenamt, das Fürsorgeamt und neuerdings auch das Ernährungsamt bei uns um Zimmer beworben.“40

39 40

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.336, Bl.66. Ebda. Bl.78.

3. Die Hitlerjugend als Pflicht

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Der HJ war die Erhaltung ihrer eigenen Infrastruktur wichtiger als die Unterstützung der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ im Krieg. Ebenfalls wird deutlich, dass die HJ sich von den städtischen Stellen nicht genügend ernst genommen fühlte. Die Abhängigkeit der HJ von anderen Institutionen zeigt, wie beschnitten die Kompetenzen und Möglichkeiten der „Staatsjugend“ letztlich in der Praxis waren und wie wenig die Leipziger NSDAP die HJ unterstützen konnte oder wollte – schließlich waren der Oberbürgermeister, der Chef des Jugendamts und viele weitere Mitarbeiter der Stadtverwaltung Parteimitglieder. Die Arbeit der HJ wurde sogar noch weiter eingeschränkt: Ende Januar 1945 kündigte die Stadt Leipzig an, alle HJ-Heime wegen der Kriegsauswirkungen und fehlender Kohlen zur Beheizung zu schließen. Darüber hinaus sei es der HJ nach Einschätzung der Stadtverwaltung weiterhin nicht möglich, in Leipzig etwa 60.000 Jugendliche „führungsmäßig“ zu betreuen. Beispielsweise taten im HJ-Heim auf dem Gelände des ehemaligen „Eiskellers“, welches ursprünglich für etwa 4.500 Jugendliche aus dem Leipziger Süden ausgelegt war, Anfang 1945 gerade noch 100 Jungen Dienst.41 Alle diese Fakten können dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der ganzen Zeit eine größere Anzahl Leipziger Jugendlicher am (improvisierten) HJ-Dienst beteiligte. Dies taten sie nicht nur, weil sie die bei Nichteinhaltung der Jugenddienstpflicht angedrohten Strafen fürchteten. Viele Jugendliche besonders der Jahrgänge ab 1925 waren durch die nationalsozialistische Beeinflussung in Schule, Öffentlichkeit und vor allem beim Jungvolk in den späten 30er Jahren zu mehr oder weniger überzeugten (partiellen) Befürwortern des NS-Staates erzogen worden, was sich zu Beginn der 40er Jahre infolge der einsetzenden militärischen Erfolge fortsetzte und verstärkte. Diese Generation kannte kaum etwas anderes als den NS-Staat. Die seit 1933 stetig anwachsende Staatsjugend wurde nach Kräften nationalsozialistisch geschult und für den Krieg erzogen, was trotz der Unzulänglichkeiten im HJ-Dienst nun Früchte trug.42 Mit zunehmendem Kriegsverlauf bekam der HJ-Dienst durch diverse Hilfsarbeiten für den „Endsieg“ eine symbolische „kriegswichtige“ Aufwertung – trotz aller Legitimitätsprobleme gegenüber kommunalen Institutionen. Für die speziell ausgerichteten Sonderformationen wie Motor-HJ, Flieger-HJ, MarineHJ, Rundfunkspielschar usw. muss zudem angenommen werden, dass die Jugendlichen (meist Oberschüler) daran weiterhin gerne teilnahmen, weil sie sich als kleiner „elitärer“ Kreis im Vergleich zur allgemeinen Pflicht-HJ verstanden.43 Die durch die Kriegseinwirkungen zunehmend erschwerte Arbeit des HJ41 42 43

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.3, Bl.128ff. Interview des Verfassers mit vier ehem. HJ-Mitgliedern (Jg. 1928/29) am 20.03 2002. Siehe Interview mit W. Renner (Jg.1927). In: SCHULMUSEUM LEIPZIG (Hg.): Kinder in Uniform, S.19; Sowie Interview mit Hans-Jürgen Bersch (Jg.1925) von der Rundfunkspielschar. Ebda. S.75.

278

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Dienstes bot den Unwilligen eine leichtere Möglichkeit der HJ fernzubleiben. Bei den Mitläufern und Überzeugten änderte dies jedoch bis zum Kriegsende nichts an der (partiellen) Loyalität zum NS-System oder gar ihrer Begeisterung. Dass der eigentliche HJ-Dienst (Schulungen und Geländeübungen) in den Kriegsjahren immer weiter an Bedeutung verlor, war vor allem dem Umstand geschuldet, dass die HJ nach 1939 in immer größerem Umfang an der „Heimatfront“ gebraucht wurde: zum Sammeln von Schrott, Altpapier, Lumpen und auch zum Ernteeinsatz. Mit den zunehmenden Luftangriffen der Alliierten waren HJ-Angehörige außerdem beim Luftschutz (Flakhelfer), Wach- und Kurierdienst sowie bei der Brandbekämpfung tätig und ersetzten auf vielen Gebieten männliche Erwachsene, die an die Front mussten.44 Die HJ wurde somit zu einem Reservoir von Hilfskräften, das ab 1943, besonders bei den 15- bis 18Jährigen, beständig schrumpfte: durch Einberufungen zum Reichsarbeitsdienst, Luftwaffenhilfs- und Wehrdienst. Befohlene Dienste bzw. „weltanschauliche Schulungen“ bei der HJ erschienen somit als „Kinderkram“. Der kriegsbedingte vorzeitige Einstieg in die Erwachsenenwelt als Flakhelfer brachte vielen Jugendlichen eine erstrebte Aufwertung ihrer Person und gleichzeitig eine altersmäßige Emanzipation von der Hitlerjugend. Der Dienst als Luftwaffenhelfer bediente zunächst die in den vergangenen Jahren anerzogene Begeisterung für den Krieg und in der Endphase die Erwartung an einen Einsatz an der Front zur Auslebung kindlicher Abenteuerphantasien.45 Dies setzte jedoch keine uneingeschränkte Begeisterung für den Nationalsozialismus voraus, sondern war auch dem Umstand geschuldet, dass diese Jugendlichen sich angesichts der Kriegssituation ganz pragmatisch als (Fast-)Soldaten verstanden, die ihre Heimat verteidigten.46

4.

„Jugendschutz“ im Krieg

Mit der „Jugenddienstpflicht“ hatte der NS-Staat 1939 ein Instrumentarium geschaffen, alle 10- bis 18-Jährigen erfassen zu können. Durch den Reichsführer der SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler wurde darüber hinaus im März 1940 ein weiteres Instrumentarium zur Kontrolle der Jugend eingeführt, welches den letzten Freiraum aller Jugendlichen grundlegend beschnitt: die Polizeiverordnung zum Schutz der Jugend. Paragraph 1 der neuen Jugendschutzverordnung besagte, dass sich Jugendliche unter 18 Jahren während der Dunkelheit nicht auf öffentlichen Straßen und

44 45 46

Siehe auch KENKMANN: Wilde Jugend, S.165. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern; Vgl. auch KATER: Hitlerjugend, S.147ff, sowie KLOSE: Gleichschritt, S.252ff. Vgl. KATER: Hitlerjugend, S.172f.

4. „Jugendschutz“ im Krieg

279

Plätzen „herumtreiben“ dürfen. Der Aufenthalt in Gaststätten war in § 2 allen Jugendlichen unter 18 Jahren ohne Begleitung eines Erziehungsberechtigten nach 21 Uhr verboten, Jugendliche unter 16 Jahren durften ohne einen Erziehungsberechtigten zu keiner Zeit Gaststätten aufsuchen. Der Besuch von Kinos und Varietés für unter 18-Jährige nach 21 Uhr war in § 3 analog § 2 geregelt. Es gab des Weiteren starke Beschränkungen des Konsums von Tabak und Alkohol in der Öffentlichkeit. In Paragraph 6 wurde festgelegt, dass Jugendliche unter 18 Jahren an „öffentlichen Tanzlustbarkeiten“ ebenfalls nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten bzw. einer von ihm beauftragten volljährigen Person teilnehmen dürfen. Ausgenommen von dieser Regelung waren Angehörige der Wehrmacht und des Reicharbeitsdienstes. Als Strafen konnten bei Jugendlichen bis zu drei Wochen Haft oder eine Geldstrafe von bis zu 50 Reichsmark ausgesprochen werden. Erwachsene, die gegen diese Verordnung verstießen, erhielten höhere Strafen.47 Diese Regelungen betrafen vor allem junge Lehrlinge, welche die Volksschule nach der 8. Klasse beendet hatten und sich nun nach Feierabend aufgrund ihres Alters kaum noch in der Öffentlichkeit frei bewegen konnten. Mit diesen Instrumentarien glaubte das NS-Regime die Jugend im Krieg unter Kontrolle halten zu können. Da sie sowohl auf HJ- wie auch Nicht-HJMitglieder angewendet wurde, ist sie für die weitere Betrachtung der Ereignisse von herausragender Bedeutung. Im Folgenden soll darum aufgezeigt werden, wie die „Verordnung zum Schutz der Jugend“ in der Praxis in Leipzig von den Jugendlichen eingehalten bzw. von Amts wegen durchgesetzt wurde. Verantwortlich für die Umsetzung war die Polizei bzw. als Zuträger der HJStreifendienst. Theoretisch mussten alle Jugendlichen ab 21 Uhr in der Öffentlichkeit kontrolliert werden, egal ob auf der Straße, in Gaststätten, auf Tanzsälen oder in Kinos. Praktisch bedeutete dies, dass Polizisten, die Verstöße gegen die Jugendschutzverordnung feststellten, die Personalien der Betroffenen aufnahmen und zunächst „Verwarnungen“ aussprachen. Der HJ-Streifendienst hatte keine Polizeibefugnisse und musste bei Unklarheiten bzw. Namensfeststellungen Polizeibeamte hinzuziehen. Das konnte dazu führen, dass beispielsweise ein Abschlussball von 40 Gymnasiasten im März 1942 im „Haus Vaterland“ einen Polizeieinsatz auslöste.48 Man kann sich vorstellen, dass auch überzeugte HJ-Mitglieder den Sinn dieser Verordnung stellenweise angezweifelt haben werden.

47 48

Reichsgesetzblatt, Teil I, 1940, S.126f. Zitiert aus: JANKE: Jugend, S.390-392. Siehe Stadtarchiv Leipzig JuA Nr. 120, Bl.37ff; Die männlichen Schüler erhielten einen Rektorenverweis und drei Stunden Karzer. Drei beteiligte Musiker aus dem HerderGymnasium kamen mit Rektorenverweisen davon. Die weiblichen Schüler konnten von ihrer Schulleitung nicht mehr belangt werden, da sie bereits aus der Schule ausgeschieden waren.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Kriegssituation und personelle Engpässe führten dazu, dass die Polizei solche Bagatelldelikte eher nachlässig behandelte. Der erhoffte Einschüchterungseffekt bei den Jugendlichen blieb weitgehend aus. Im April 1941 resümierte darum der Leipziger NSV-Jugendschutz: „Im Allgemeinen wird in Leipzig von der NSV und der HJ festgestellt, dass die Polizei der Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend nicht die erforderliche Bedeutung beimisst. Dies liegt insbesondere daran, dass nur ungefähr 13 Kriminalbeamte zur Verfügung stehen im Gegensatz zu anderen Großstädten wie Dresden, die die Schutzpolizei einschalten und somit bei weitem mehr Kräfte zur Verfügung haben. Wenn die NSVJugendhilfe und HJ nicht immer wieder den Antrieb geben würden, wäre das Eingreifen der Polizei ohne jede Wirkung. […] Es ist keine Seltenheit, wenn Tanzsäle mit 75% Jugendlichen angetroffen werden.“49

Um den beliebten Besuchen von Tanzveranstaltungen entgegenzuwirken, schlug die NSV darum „Tanzsaalkontrollen“ in Zusammenarbeit von Kriminalpolizei, NSV-Helfern und HJ-Streifendienst vor: „Die Saalstreifen sind so durchzuführen, dass in erster Linie erzieherisch auf die Jugendlichen eingewirkt wird. Es ist dabei zu beachten, dass in den Jugendlichen nicht ein Rechtsbrecher zu suchen ist, sondern dass die Vorbeugungsmaßnahmen im Vordergrund stehen.“50 Hier widersprachen sich Vorstellungen der NSV-Jugendhilfe und der HJ. Die NSV hatte in ihrem Aufgabengebiet den „vorbeugenden Jugendschutz“ und wollte ihre Kontrolle als hilfreiche Ermahnung verstehen. Die HJ – wie auch das Leipziger Jugendamt – sprach sich hingegen für härtere Strafen bei Übertretungen der Jugendschutzverordnung aus, wie im Folgenden näher erläutert wird. Für das Jahr 1941 stellte die Leipziger Polizei insgesamt 732 Zuwiderhandlungen Jugendlicher gegen die „Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend“ fest, darunter 550 Fälle einer gebührenpflichtigen Verwarnung, 64 Verwarnungen ohne Gebühren, 35 Geldstrafen und in neun Fällen „Jugendarrest als Wochenendkarzer“.51 Ab 1942 änderte man aus organisatorischen Gründen das bürokratische Prozedere. Von nun an leitete sowohl die Polizei als auch der HJStreifendienst die Namen der festgestellten Jugendlichen zur Bearbeitung an das Leipziger Jugendamt weiter. Das Jugendamt informierte anschließend die HJ, wenn härtere Strafen als eine Verwarnung ausgesprochen wurden, damit die HJ die Namen in ihrer eigenen „Überwachungskartei“ erfassen konnte. Die HJ übermittelte von Juli bis Dezember 1942 knapp 800 Anzeigen, was etwa eine Verdopplung der Verstöße im Gegensatz zum Vorjahr aufzeigt.52 Der

49 50 51 52

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.17. Ebda. Bl.18f. Vgl. ebda. Bl.29. Vgl. ebda. Bl.61.

4. „Jugendschutz“ im Krieg

281

HJ-Streifendienst hatte zu diesem Zeitpunkt eine Stärke von 40 Mann, welche ständig das gesamte Leipziger Stadtgebiet abliefen. „Der Jugendliche soll immer in Unruhe leben und nicht glauben, die Streife wird sich einige Zeit nicht sehen lassen, wenn sie in einer Gegend tätig war“.53 Mit der Arbeit des Jugendamtes, das aus seiner Sicht oftmals zu geringe Strafen verhing, war der Leipziger HJStreifendienstführer Böhme jedoch unzufrieden. Außerdem bemängelte er, dass die Arbeit der HJ bei der Durchsetzung der Jugendschutzverordnung stark beschnitten sei und sie keine ausführenden Befugnisse hatte. In einem Schreiben vom Oktober 1942 an das Jugendamt äußerte sich Streifendienstführer Böhme folgendermaßen: „Während die früher von uns ausgesprochenen Verwarnungen eine bestimmte Schärfe besessen, da diese von älteren HJ-Führern gemacht wurden und außerdem grundsätzlich die Eltern schriftlich davon in Kenntnis gesetzt worden sind, ist gesprächsweise festgestellt worden, dass die Eltern von ihnen nicht immer mit herangezogen werden und verschiedene Jugendliche sich auch sehr wenig aus den ausgesprochenen Verwarnungen gemacht haben. Einer äußerte z. B., dass ihm dadurch ein halber freier Tag verschafft worden wäre. Ich bin überzeugt davon, dass diesen dauernden Übertretungen sehr schnell abgeholfen werden kann, wenn einige Jugendliche scharf bestraft werden, denn das würde sich in diesen Kreisen sehr schnell rumsprechen.“54

Hier wird nochmals deutlich, wie verschiedene NS-Institutionen in gegenseitiger Konkurrenz standen. Die HJ war mit der Einführung der Jugenddienstpflicht die gesetzlich verankerte dritte Erziehungssäule nach Elternhaus und Schule im NS-Staat. Juristisch durchsetzen durfte dies hingegen nur die Polizei. NSV-Jugendhilfe und das Jugendamt wollten darüber hinaus ebenfalls ihren Anteil an der Jugendarbeit haben. Obgleich es immer wieder zwischen den verschiedenen Institutionen Koordinationsgespräche und Zusammenarbeiten gab – schließlich handelte es sich hier überwiegend um NSDAP-Mitglieder – gingen in der Praxis die einzelnen Organe vorrangig ihren jeweiligen spezifischen Interessen nach. Anfang 1943 unternahm man einen neuen Anlauf für die verstärkte Durchsetzung der Jugendschutzverordnung. Nach Ansicht der HJ hatte beispielsweise das abendliche Herumtreiben von Jugendlichen auf dem Hauptbahnhof sehr bedenkliche Züge angenommen. Dieser Ort scheint bereits in den Vorjahren ein beliebter Treffpunkt gewesen zu sein. In den Jahresberichten von 1940 bis 1943 der Kriminalpolizei Leipzig, Dienststelle Hauptbahnhof, wurde jeweils vermerkt, dass von den dort in Gewahrsam genommenen Personen „eine große Anzahl jugendliche Personen von Leipzig und auswärts“ waren.55 Außerdem

53 54 55

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.63. Ebda. Bl.50, Grammatikfehler im Original. StAL PP-V 4994, Bl.16, Bl.30, Bl.42.

282

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

wurden vom HJ-Streifendienst nach eigenen Angaben Ende 1942 in den „Bordellstraßen“ sowie in den Großgaststätten der Innenstadt immer wieder eine größere Anzahl Jugendlicher festgestellt. HJ-Streifenführer Böhme erklärte, dass es sich dabei um Jugendliche handeln würde, „die den Sinn des Krieges noch nicht verstanden haben. 80% aller Jugendlicher ständen im Kriegseinsatz. Ordentliche Jugendliche hätten kaum Freizeit. Bei den Herumtreibern handelt es sich meistens um diejenigen, die sich bisher vom Dienst drückten. Es wäre deshalb nur wenig Rücksicht am Platze.“56 Es konnte dem Schreiben nicht entnommen werden, ob der Streifenführer mit den verbleibenden 20 Prozent Jugendliche außerhalb der HJ meinte, die den Dienst bewusst schwänzten. Dafür spricht, dass selbst der Reichsjugendführer Artur Axmann für die Kriegszeit damit rechnete, dass allein 20 Prozent aller HJ-Mitglieder zu den kriminellen bzw. zu den politisch oppositionellen Jugendlichen zu zählen seien.57 Am 8. Februar 1943 traf sich der „Arbeitskreis Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend“ im Kaufmännischen Vereinshaus in Leipzig. Initiiert wurde das Treffen von der „Kreisarbeitsgemeinschaft für Jugendbetreuung“. Anwesend waren neben Jugendamtsdirektor Gerlach der Stellenleiter Geyer von der NSV-Jugendhilfe sowie Vertreter des Polizeipräsidenten, der Leiter des HJStreifendienstes und Vertreter der Wehrmacht.58 In dem Protokoll der Sitzung heißt es: „Die Beteiligten brachten einmütig zum Ausdruck, dass das bisherige Verfahren von der Feststellung eines Jugendlichen durch Polizei oder Streifendienst bis zur Vollstreckung des Jugendarrestes im Durchschnitt etwa 4 Monate in Anspruch nehme und dadurch wirkungslos sei.“ Jugendamtsleiter Gerlach schlug darum eine neue, verschärfte Verfahrensweise vor. Jugendliche, die gegen die Jugendschutzverordnung verstießen, sollten von nun an von der Polizei oder dem HJ-Streifendienst dem nächstgelegenen Polizeirevier zugeführt und dort bis zur Abholung durch die Eltern oder bis zum Beginn der Arbeitszeit bzw. der Schule über Nacht festgehalten werden. Gerlach war sich sicher: „Durch diese Maßnahme, die nicht eine Freiheitsberaubung, sondern praktischen Jugendschutz darstellt, wird der Zweck der Jugendschutzverordnungen schneller erreicht werden als durch das bisherige Verfahren.“59 Es wurde beschlossen, für dieses Verfahren die Genehmigung des Leipziger Polizeipräsidenten zu erwirken und die praktische Durchführung durch die örtlichen Zeitungen publik zu machen, um dadurch mehr Abschreckung zu erzielen.

56 57 58

59

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.61; Grammatikfehler im Original. Siehe BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.401. Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.54ff.; Kommunale Arbeitsgemeinschaften für „Jugendschutz“ während des Krieges sind auch für andere Großstädte bekannt, z. B. für Hamburg und für Frankfurt/M.; Siehe J. KURZ: Swinging Democracy, Münster 1995, S.128ff. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.57.

4. „Jugendschutz“ im Krieg

283

Der starke repressive Charakter der Maßnahmen zeigt deutlich, wie wenig bislang in Leipzig die Jugendschutzverordnung von den Jugendlichen eingehalten wurde bzw. wie wenig sie erfolgreich durchgesetzt werden konnte. Nachdem sich Jugendamtsleiter Gerlach bereits 1938 im Zuge der Verfolgung der Leipziger Meuten durch die Einrichtung des Jugendschulungslagers Mittweida als „Hardliner“ gegenüber nonkonformen Jugendlichen gezeigt hatte, wartete er in diesem Falle abermals mit drastischen Maßnahmen auf. Am 16. Februar erließ der Polizeipräsident die Verfügung für die von Jugendamtsleiter Gerlach vorgeschlagene „vorbeugende Schutzhaft“. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass den inhaftierten Jugendlichen keine Schlafgelegenheiten bereitgestellt werden müssen.60 Außerdem habe eine Meldung an das Jugendamt zu erfolgen. Die Anordnung zeigt deutlich, dass trotz gegenteiliger Behauptungen diese Maßnahme eindeutig repressiven Charakter trug. Am darauf folgenden Tag erging vom Kommandeur der Schutzpolizei Leipzig ein Sonderbefehl. Zur Durchsetzung der Jugendschutzverordnung sollten künftig „kombinierte Streifen“ aus einem „Schupo“ und drei bis vier HJStreifendienst-Angehörigen gebildet werden. Es wurde außerdem eine Liste erstellt, wie viele Jugendliche in den Polizeirevieren der einzelnen Stadtviertel über Nacht festgehalten werden könnten. Ohne die Reviere des Leipziger Ostens, die in der Aufstellung aus unbekannten Gründen nicht vermerkt wurden, konnten insgesamt 387 Jungen und 278 Mädchen gleichzeitig in „vorbeugende Schutzhaft“ genommen werden. Wie groß man den Bedarf einschätzte, geht auch daraus hervor, dass bei Überfüllung der Reviere weitere Festgenommene im Speisesaal der Polizeikaserne Möckern untergebracht werden könnten.61 Im Zuge dieser Entwicklung wurden bei einer Razzia auf dem Hauptbahnhof Mitte März 1943 zahlreiche Jugendliche festgenommen, von denen man einigen zur Abschreckung die Haare schor. Über diese Aktion berichteten die Leipziger Tageszeitungen ausführlich. In den folgenden Wochen gab es in den einzelnen Stadtteilen eine Vielzahl solcher Verhaftungen von Jugendlichen aus Gaststätten, Parkanlagen und Kinos. In der Innenstadt, besonders aus der Gaststätte „Naumannbräu“ und auf der Nikolaistraße wurde ebenfalls eine größere Anzahl von Jugendlichen aufgegriffen. Nachdem Ende März der Landrat des Kreises Kamenz in Sachsen beim Leipziger Jugendamt anfragte, wie effektiv die in Leipzig angewendete neue Praxis bei der Durchsetzung der Jugendschutzverordnung sei, erhielt er wenig später folgende, ernüchternde Antwort: „Ob das Unternehmen einen dauernden Erfolg zeigt, ist zweifelhaft.“62 Da die im März durchgeführten Maßnahmen offenbar noch nicht den erhofften Erfolg brachten, erließ der Komman-

60 61 62

Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.66. Ebda. Bl.68. Ebda. Bl.113.

284

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

deur der Leipziger Schutzpolizei am 9. April 1943 erneut einen Sonderbefehl zur verschärften Kontrolle von Lokalen. In der Woche vom 9. bis 16. April sollten täglich zusätzliche Streifen durchgeführt werden.63 Mitte Mai 1943 traf sich der „Arbeitskreis Polizeiverordnung zum Schutze der Jugend“, um die Ergebnisse der beschlossenen Maßnahmen auszuwerten. In den vergangenen drei Monaten nach der Neuregelung waren 118 Jungen und 51 Mädchen aufgegriffen worden. Die Festnahmen gingen weniger auf Großrazzien zurück, sondern vor allem auf flächendeckende Streifengänge im ganzen Stadtgebiet. Nur knapp die Hälfte der aufgegriffenen Jugendlichen gehörte der HJ bzw. dem BDM an. 78 Jungen und 35 Mädchen wurden über die Nacht in Schutzhaft genommen. Allein im „Naumannbräu“ in der Innenstadt wurden 25 Jugendliche angetroffen.64 Wie die Durchsetzung der Jugendschutzverordnung in der Folgezeit gehandhabt wurde, besonders nach dem schweren Bombenangriff auf Leipzig am 13. Dezember 1943, ist den eingesehenen Akten nicht zu entnehmen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Kontrollen unregelmäßiger wurden. Neben Verwarnungen, Wochenendkarzern und „vorbeugender Schutzhaft“ kam es vor dem Sondergericht Leipzig auch zu zahlreichen Verurteilungen von Jugendlichen wegen verschiedenster Delikte. Im Vergleich zu den Prozessen gegen die Leipziger Meuten um 1939 sind kaum politische Motive überliefert. Gleichwohl ist es möglich, dass eine Anzahl von Vergehen aus politischer Motivation, beispielsweise aus einer Antihaltung gegenüber der HJ heraus begangen wurde. In einem Lagebericht des Dresdner Generalstaatsanwalts an den Reichsjustizminister Dr. Thierack vom 9. Februar 1943 über die Situation in Sachsen wurde bei „Jugendsachen“ ein „ständiges Ansteigen der Verurteilungen zu Gefängnis und Dauerarrest“ bemerkt. „Insbesondere wurden in der Berichtszeit im Leipziger Bezirke zahlreiche Gefängnisstrafen und Dauerarreste verhängt.“65 Um einen schnellen Vollzug zu gewährleisten, wurden daraufhin in Sachsen weitere „Jugendarrestanstalten“ geschaffen. Alle diese getroffenen und durchgeführten Maßnahmen zeigen deutlich, dass in den Kriegsjahren eine ganze Anzahl von Jugendlichen sich nicht in dem vom NS-System geforderten Rahmen bewegte und eigene Freiräume zu erhalten versuchte. Wie einzelne Jugendgruppen in Leipzig dabei agierten, soll in den folgenden Kapiteln dargestellt werden. Die Reichsjugendführung, Abteilung Personalamt-Überwachung, erstellte in den 40er Jahren ausführliche Berichte über „Cliquen- und Bandenbildung unter Jugendlichen“. Die darin enthaltenen Informationen beziehen sich für Leipzig

63 64 65

Vgl. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.116. Vgl. ebda. Bl.140. BArch R3001/3362, Fiche Nr.1, Bl.60f.

5. Der „Broadway“

285

ausschließlich auf die Meuten der 30er Jahre, die zu diesem Zeitpunkt bereits so nicht mehr existierten.66 In wissenschaftlichen Veröffentlichungen besonders der 80er Jahre über die nonkonformen bzw. oppositionellen Jugendgruppen wurde immer wieder auf die Unterscheidung in „kriminelle Gruppen“, „Gegnergruppen“ und „Gefährdetengruppen“ aus diesen Berichten zurückgegriffen. Da diese RJF-Berichte in der Praxis der NS-Verfolger in Leipzig keine Rolle spielten, wurde auf die Darstellung der Schemata verzichtet.67

5.

Der „Broadway“

Zu Beginn der 40er Jahre gab es das Interesse an Swingmusik und angloamerikanischem Lebensstil auch zunehmend unter Arbeiterjugendlichen in Leipzig. Bei einigen Mitgliedern der Leipziger Meuten konnten hierfür bereits Belege angeführt werden. Die auf die Meuten folgenden um 1925 geborenen Jugendlichen hatten wegen ihres Alters nahezu keine Wurzeln in der organisierten Arbeiterbewegung vor 1933. Der Zwangsdienst in der HJ, die zunehmende Militarisierung sowie die „Verordnung zum Schutze der Jugend“ sorgten mit ihren zahlreichen Beschränkungen und Verboten bei Jugendlichen für verstärkten Unmut. Der vitale – in der deutschen Öffentlichkeit geächtete – Jazz und Swing wurde zu einem kulturellen Gegenentwurf für Jugendliche in der antimodernen und militarisierten Lebenswelt der Nationalsozialisten. Waren in den 30er Jahren in Leipzig in erster Linie Hauptverkehrsstraßen und öffentliche Grünanlagen in den Wohngebieten beliebte Treffpunkte von Arbeiterjugendlichen gewesen, verlagerten sich nach Kriegsbeginn die Treffen zum Großteil in Gaststätten der einzelnen Wohnviertel und zunehmend in bestimmte Lokale in der Innenstadt. Obgleich auch der HJ-Streifendienst gelegentlich die Gaststätten kontrollierte, waren Treffs dort nicht so auffällig wie auf der Straße. Hieran wird der „Generationsbruch“ zu den Leipziger Meuten sichtbar. Für die westdeutschen Edelweißpiraten ist indes bekannt, dass diese weiter die Treffpunkte der Jugendgruppen aus den 30er Jahren in Parks, Kinovorräumen und an Straßenecken frequentierten.68 Der frühere Dresscode der Leipziger Meuten verschwand ebenfalls in dieser Zeit. Die informellen Jugendgruppen in Leipzig unterschieden sich von den westdeutschen, welche auch in den 40ern weiterhin ihre Wanderkluft trugen, manchmal allerdings ergänzt durch Seidenschals, was sie einigen Luftwaffenhelfern abgeschaut hatten.69 Leipziger Arbeiterjugendliche in den frühen 40er Jah-

66 67 68 69

Siehe BArch R 22/1177 Bl.355f. Siehe PEUKERT: Die Edelweißpiraten, S.161ff. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.282f. Vgl. ebda. S.277.

286

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

ren hingegen trugen vornehmlich Anzüge bzw. Hemden und Jacketts. Dies hatte den Vorteil, bei abendlichen Gaststättenbesuchen unter den übrigen erwachsenen Gästen nicht so schnell aufzufallen und möglichen Kontrollen zu entgehen.70 Obwohl seit März 1939 eine allgemeine HJ-Dienstpflicht für alle 10- bis 18Jährigen bestand, gab es wegen der Engpässe bei der reibungslosen Durchführung des HJ-Dienstes sowie beruflichen Verpflichtungen auch nach 1939 für Jugendliche Möglichkeiten, sich relativ folgenlos dem HJ-Dienst zu entziehen. Immer wieder wurden außerdem Jugendliche aus der HJ entlassen, wenn sie nicht zum Dienst erschienen waren oder sich anderer Vergehen schuldig gemacht hatten. Der (scheinbare) Freiraum in den Straßen und Gaststätten in der Leipziger Innenstadt wurde von den dort verkehrenden Jugendlichen noch immer als „Broadway“ verstanden. Schon in den 30er Jahren nannten Jugendliche die abends stark illuminierte Petersstraße, eine der Haupteinkaufsstraßen, in Anlehnung an das Original in New York den „Broadway“. Diese Bezeichnung fand auch in anderen Stadtteilen für Hauptstraßen Verwendung. Im Folgenden sollen einige Cliquen, die sich in der Innenstadt trafen, näher untersucht werden.

a.

Die „Broadway-Gangster“

Zum Treffpunkt einer Gruppe Jugendlicher aus verschiedenen Stadtteilen entwickelte sich spätestens seit Sommer 1942 neben dem Lokal „Römisches Haus“, vor allem die Gaststätte „Canitz“. Diese befand sich im „Münzblock“ an der Ecke Petersteinweg/Münzgasse am südlichen Ende der Innenstadt – genau gegenüber dem Leipziger Polizeipräsidium. Sie war vor allem deshalb beliebt, weil dort eine in den Akten nicht namentlich benannte jugendliche Jazzkapelle auftrat. So wurde das „Canitz“, nach späterer Auffassung der Staatsanwaltschaft, „allmählich zum Treffpunkt einer Reihe von jungen Personen, die die Hitlerjugend ablehnten [...]. Zusammen mit ihrer Begeisterung für englische Musik gebrauchten sie auch für sich die englische Bezeichnung ‚BroadwayGangster’, womit sie schon selbst andeuteten, dass sie dem Rowdytum zuneigten.“71 Diese Selbstbezeichnung zeigt eine jugendkulturelle, angloamerikanische Ausrichtung und eine bewusste Abgrenzung gegenüber der Staatsjugend. Obgleich der Name „Gangster“ – anders als heute in der jugendlichen Hip-HopKultur – damals eindeutig negativ belegt war, könnte man zwar kleinkriminelle Tendenzen vermuten (für die es keine Belege gibt), jedoch kein Rowdytum.

70 71

Vgl. B. POLSTER (Hg.): Swing heil, Berlin 1989, S.130. StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.6

5. Der „Broadway“

287

Die „Broadway-Gangster“ bestanden nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aus zwei Cliquen, welche aufgrund der Wohnorte als die „Engelsdorfer“ und die „Connewitzer“ bezeichnet wurden. Hinzu kamen Jugendliche, welche nahe der Innenstadt wohnten. Zu den Engelsdorfern, welche von der Staatsanwaltschaft stellenweise auch „Engelsdorfer Meute“ genannt wurden, gehörte eine Gruppe von etwa zehn Jugendlichen um den Buchdrucker Horst „Jony“ Zimmerschitt (Jg. 1925) und den Hilfsmonteur Rudolf „Micke“ Jäger (Jg.1926). Der Ort Engelsdorf befand sich damals kurz hinter der östlichen Stadtgrenze. Jäger ging Anfang der 40er Jahre gelegentlich baden an den Lübschützer Teichen, wo sich nach späteren Angaben der Staatsanwaltschaft „seit längerer Zeit außerhalb der Hitlerjugend stehende Jugendliche trafen“.72 Dort erfuhr er, dass im „Canitz“ Jazzmusik gespielt wurde und verkehrte dort seit Herbst 1942, zumeist an den Wochenenden. Zusammen mit Zimmerschitt fertigte Jäger außerdem als „Gangsteraufnahmen“ bezeichnete Fotos an: „z. B. eine, auf der er mit einem anderen das Sternenbanner hält, eine weitere, auf der sich ein ‚Gangster’ die Brücke runterstürzt und eine dritte, auf der zwei ‚Gangster’ einen Hitlerjungen festhalten, während ein weiterer ‚Gangster’ mit dem Messer auf ihn einsticht.“73 Diese übertriebene Gewaltdarstellung zeigt, wie stark man die HJ damals ablehnte und wie wenig Respekt man ihr gegenüber aufbrachte. Das Zeigen der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika verdeutlicht außerdem, dass man sich zu diesem Zeitpunkt mehr mit einem offiziellen Kriegsgegner identifizierte als mit der eigenen Staatsjugend. Horst Zimmerschitt soll nach späteren eigenen Angaben bereits Ende der 30er Jahre zur „Bündischen Jugend“ in Leipzig gehört haben. In welcher Meute er damals verkehrte, ist nicht überliefert, vermutlich einer im Leipziger Osten. Nachdem er zunächst ebenfalls die typische Meuten-Kluft mit einem roten Halstuch getragen hatte,74 veränderte er Anfang der 40er Jahre sein Äußeres. So trug er öfters ein Ziertuch mit der englischen und amerikanischen Flagge. Im Februar 1943 verfasste er ein Gedicht, welches er einigen Jugendlichen vortrug: „Heute ist Nazijazz in Leipzig auf dem Kohlenplatz“.75 In den nicht weiter überlieferten Versen soll er „den Führer, den Reichsmarschall Göring, den Reichsminister Dr. Goebbels, den Reichsorganisationsmeister Ley und den Jugendführer Axmann“76 lächerlich gemacht haben. Im „Canitz“ legte er einmal 72 73 74 75

76

StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.6. Ebda. Bl.7; Die Fotos sind nicht überliefert, da die Hauptakten während eines Bombenangriffes „durch Feindeinwirkung vernichtet“ wurden. BArch DY 55/V 241/7/39, Bl.28, Erinnerungsbericht für VVN (um1948). Ein Kohlenplatz ist in Leipzig unbekannt. Es gibt lediglich eine Kohlenstraße unweit des Bayrischen Bahnhofs. Möglicherweise bezieht sich „Kohlenplatz“ auf das Wort „Kohlenmänner“, eine Bezeichnung für die Hitlerjugend unter den „Broadway-Gangstern“. StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.8; Leider ist nur diese Textzeile überliefert.

288

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

ein selbst geschriebenes Plakat mit der Aufschrift „BroadwaygangsterBroadway-Melodien“77 ins Fenster. Die NS-Justiz fand auch folgenden Sachverhalt erwähnenswert: „Von seiner englischen Grammophonplatte ‚Goodygoody’ hörte er den Text ab und gab ihn Jäger.“78 Die Sympathien für „den saloppen angelsächsischen Lebensstil“79 sind deutlich erkennbar –– zumindest was sich Arbeiterjugendliche in Leipzig damals darunter vorstellten. Zu den Connewitzern zählten u. a. der Beifahrer Fritz Quaas (Jg. 1926) und der Stanzer Joachim Wawrzyniak (Jg. 1922) aus der Südvorstadt. Letzterer soll nach Justiz-Angaben „durch sein lautes Wesen, grobes Lachen und durch Erzählen von angeblichen Heldentaten gegen die Hitlerjugend den Ton der Meute“80 angegeben haben. Wawrzyniak war um 1933 Mitglied der Christlichen Jungschar gewesen und 1934 in die HJ übernommen worden. 1938 soll er ausgetreten sein und sich mit anderen Jugendlichen nach eigenen Angaben der „Bündischen Jugend“ angeschlossen haben.81 Anhand von Wawrzyniak und Zimmerschitt wird deutlich, dass es in einigen Fällen Überschneidungen zwischen der „Generation“ der Leipziger Meuten aus den 30er und der „BroadwayGeneration“ in den 40er Jahren gegeben hat. Fritz Quaas soll, nachdem sein Vater 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde, „erhebliche Erziehungsschwierigkeiten bereitet“ haben. Ab November 1942 kam er darum unter „Schutzaufsicht“. Im Februar 1943 wurde gerichtlich Fürsorgeerziehung angeordnet und Quaas befand sich anschließend für einige Monate in der Arbeitsanstalt Riebeckstraße in Leipzig. Insgesamt sollen etwa sechs Jugendliche zu den Connewitzern gehört haben. Drei weitere Mitglieder wohnten in der unmittelbaren Nähe zum Stadtzentrum. Alle neun namentlich bekannten „BroadwayGangster“ waren zumindest zeitweilig in der Staatsjugend. Wegen Führerbeleidigung und Dienstversäumnissen waren fast alle inzwischen wieder ausgeschlossen worden oder gingen nicht oder nur selten zum Dienst. Außer Joachim Wawrzyniak entstammten alle Mitglieder den Geburtsjahrgängen 1925/26 und waren Lehrlinge. Einige der „Broadway-Gangster“ trugen Abzeichen, um ihre Ablehnung gegenüber der HJ zum Ausdruck zu bringen. Überliefert sind der rote Tiroler Adler, der Totenkopf oder die Buchstaben „BJ“ für „Bündische Jugend“.82 Besonders die letzten beiden Abzeichen waren auch von Mitgliedern der Leipziger Meuten getragen worden. 77 78 79 80 81 82

In der Urteilsschrift wird besagter Zettel anders zitiert: „Ab 9 Uhr Broadway-Melodien“, eine Anspielung auf den amerikanischen Film „Broadway-Melody“ aus den 30er Jahren. StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.8. Ebda. Bl.16. In den eingesehenen Prozessakten wird an einigen Stellen der Begriff „Meute“ verwendet, jedoch nicht ein einziges Mal auf die Leipziger Meuten von 1937-39 eingegangen. StAL, VdN-Akte Nr.14628, OdF-Fragebogen vom 9.11.1945. StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.7.

5. Der „Broadway“

289

Hauptgrund der späteren Verfolgung durch Polizei und Staatsanwaltschaft war eine Auseinandersetzung mit einem HJ-Führer zu Ostern 1943 auf einem Rummelplatz im Leipziger Osten. Am 26. April, dem dritten Osterfeiertag, trafen sich einige „Broadway-Gangster“ auf dem von etwa 100 Jugendlichen besuchten Platz an der Wurzener Straße. Zimmerschitt hatte zuvor im „Canitz“ bekannt gegeben, dass die Hitlerjugend verprügelt werden sollte. Auf dem Rummelplatz entdeckte einer der „Broadway-Gangster“, Joachim Steinert, einen ihm bekannten Scharführer der HJ, der ihn in seinem Lehrlingsbetrieb „wiederholt grundlos zurechtgewiesen und auch geschlagen“ hatte. Steinert hatte ihm bereits auf der Arbeit gedroht, sich nicht auf dem Rummel mit HJoder Parteiabzeichen sehen zu lassen, „dort wäre die ‚BJ’ aus Engelsdorf, dem ‚Römischen Haus’ und ‚Canitz’.“83 Nach einer Rangelei zwischen weiteren HJMitgliedern und einigen „Broadway-Gangstern“ nahm ein hinzukommender Polizeibeamter alle involvierten Jugendlichen mit auf die nächste Polizeiwache. „Ihnen folgte unter Pfeifen und Johlen eine große Menge Jugendlicher, unter ihnen auch solche mit HJ-Abzeichen [...]. Hierbei wurden Rufe laut: ‚Es lebe die BJ.’ Einer aus der Menge gab Schüsse ab, womit, hat sich nicht feststellen lassen.“84 Mehrere „Broadway-Gangster“ kamen infolgedessen in Untersuchungshaft. Auffällig ist, dass alle beteiligten Jugendlichen den hinzukommenden Polizisten offenbar als Autorität ansahen und keinerlei Fluchtversuch unternahmen, hingegen die Vertreter der HJ keine Respektspersonen sondern Gegner darstellten, gegen die man sofort handgreiflich wurde. Die spontanen Sympathiebekundungen durch weitere anwesende Jugendliche sowie die Hochrufe auf die „Bündische Jugend“ lassen auf weit verbreitete Unzufriedenheit, wenn nicht gar Ablehnung der HJ schließen und die Bereitschaft, diese offen zu bekunden. Es geht aus den Akten nicht hervor, ob von den anwesenden Jugendlichen, welche theoretisch alle HJ-Mitglieder hätten sein müssen, auch nur einer spontan den Mitgliedern der Staatsjugend unterstützend zur Seite stand. Im Gegenteil, es sollen sich unter der begleitenden Menge sogar Jugendliche mit HJ-Abzeichen befunden haben. Inwieweit die Besucher dieses Rummelplatzes in einem Arbeiterviertel im Leipziger Osten mit den übrigen Jugendlichen der Stadt vergleichbar sind, kann hinsichtlich der Aktenlage leider nicht gesagt werden. Ein ähnlich offensives Vorgehen gegen die HJ ist im selben Zeitraum zumindest für den Leipziger Süden bekannt und wird an anderer Stelle noch erläutert.

83

84

In der Anklageschrift heißt es zur Ankunft auf dem Rummelplatz: „Dort waren etwa 60 weitere ‚Gangster’ anwesend. Jäger trat als Wortführer hervor.“ (StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.9); Zimmerschitt beziffert nach späteren Erinnerungen die Zahl der dort anwesenden Broadway-Gangster mit 25 (BArch DY 55/V 241/7/39, Bl.28, Erinnerungsbericht für den VVN, um 1948). StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.16/17.

290

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Die Gestapo ermittelte und die Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen acht der Jugendlichen wegen „Neubildung von Parteien“, „Vergehen gegen das Heimtückegesetz“ und „vorsätzlicher Körperverletzung“. Verhandelt wurde auch der Diebstahl und Weiterverkauf einer Pistole durch ein Mitglied. „Die Beschuldigten bestreiten eine Betätigung für eine andere Partei, geben dagegen zu, dass ihre Abzeichen von den die Hitlerjugend ablehnenden Jugendlichen getragen werden.“85 Am 26. November 1943 sprach die 39. Strafkammer des Leipziger Landgerichtes die Angeklagten vom Vorwurf der Neubildung von Parteien „mangels Schuldbeweis“ frei: „Die Anwendung der Vorschriften des Gesetzes gegen die Neubildung von Parteien scheitert daran, dass die vorgenannten Jugendlichen sich weder einem führenden Willen gegenübersahen, dem sie sich hätten unterordnen können und wollen, noch untereinander irgendwelche innere Bindungen eingehen wollten, noch mit ihrem Zusammenschluss politische Ziele erstrebten. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Jugendlichen auf das innere und äußere Geschehen im Volke durch ihren Zusammenhalt einwirken wollten.“86

Die drei Jahre zuvor gefällten Urteile gegen Mitglieder der Leipziger Meuten vor demselben Gericht wegen „Neubildung von Parteien“ mit vergleichbarer Beweislage dienten in diesem Fall nicht als Vorlage, anders sind die relativ milden Urteile nicht zu erklären. Dies lässt Rückschlüsse auf Koordinations- und Sachwissenmängel innerhalb der NS-Justiz zu dieser Zeit in Leipzig zu. Verurteilt wurden zwei der Jugendlichen wegen Körperverletzung gegen die HJMitglieder zu zwei Wochen bzw. vier Monaten Gefängnis. Zimmerschitt erhielt wegen des Gedichtes sechs Monate Haft wegen Vergehens gegen das „Heimtückegesetz“. Der Angeklagte, der eine Schusswaffe weiterverkauft hatte, bekam drei Monate Gefängnis. Die übrigen wurden freigesprochen. Mögliche strafverschärfende, staatsfeindliche Motive hätten wegen der HJFeindlichkeit der Gruppe seitens der Justiz durchaus konstruiert werden können, analog zu den Prozessen gegen die Leipziger Meuten. Hingegen kamen die Richter zu dem Schluss: „Dass bei diesen Zusammenkünften politische Gespräche geführt wurden, hat sich nicht feststellen lassen. Allen Besuchern mehr oder weniger gemeinsam war aber die Abneigung gegen den Dienst in der HJ, deren Angehörige man mit ‚Kohlenmänner’ zu bezeichnen pflegte, und eine abfällige Kritik an den Bestimmungen der VO. zum Schutz der Jugend, in der man ebenso wie im Streifendienst der HJ. einen ungerechtfertigten Eingriff in die ‚Rechte’ der Jugend erblickte.“

85 86

StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.11. Ebda. Bl.17.

5. Der „Broadway“

291

Auch bezüglich der Fortführung der „Bündischen Jugend“ fällten die Richter ein mildes Urteil: „Die Vorstellungen der Angeklagten über die ‚Bündische Jugend’ waren aber völlig unklar. Es konnte ihnen insbesondere nicht widerlegt werden, dass sie in der ‚Bündischen Jugend’ keine illegale Organisation gesehen haben und auch nicht des Glaubens gewesen sind, die B. J. bestehe noch. Sie haben aber mit dem Tragen dieser beiden Buchstaben ihre ablehnende Haltung der HJ gegenüber zum Ausdruck bringen wollen.“87

Offensichtlich sahen die Richter auch darin keinen verurteilungswürdigen Sachverhalt. Entlastend für die Angeklagten führten die Richter des Weiteren bezüglich der Schlägerei aus: „Hier ist darauf zu verweisen, dass selbst der Zeuge K. und auch der Zeuge E. […] der Meinung waren, die Jugendlichen hätten die Gelegenheit nur ergriffen, um sich einmal auszutoben. Jugendlicher Übermut und Tatendrang seien die Motive des rüpelhaften und gewalttätigen Auftretens der Angeklagten gewesen.“88 Das Gericht sah sich nicht veranlasst, die Staatsjugend vor solchen Übergriffen im Nachhinein in Schutz zu nehmen, sondern bewertete dies lediglich als Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen. Warum die HJ in diesem Zusammenhang nicht mehr Unterstützung zur Wiederherstellung ihrer Autorität von der NS-Justiz eingefordert hat, ist unbekannt. Es gab am 27. Dezember 1943 einen zweiten Prozess gegen mindestens ein weiteres Mitglied der „Broadway-Gangster“ vor dem Landgericht Leipzig, in dem der mutmaßliche „Rädelsführer“ der Connewitzer Gruppe Joachim Wawrzyniak zu einem Jahr und zwei Monaten verurteilt wurde.89 Dieses Urteil fiel wesentlich härter aus als die übrigen, vermutlich seines höheren Alters wegen oder einer Intervention der Staatsanwaltschaft bzw. der HJ aufgrund der vorangegangenen milden Urteile gegen einige „Broadway-Gangster“. Verurteilt wurde er unter anderem wegen „Abhaltung Jugendlicher vom Dienst der HJ“.90 Insgesamt überraschen die vergleichsweise milden Urteile mitten im Krieg. Eine abschreckende Wirkung für andere Jugendliche war offenbar nicht geplant. Ob die verurteilten „Broadway-Gangster“ nach ihrer Haftentlassung wieder zusammenfanden, ist nicht überliefert. Man kann davon ausgehen, dass sie im Laufe des Jahres 1944 zum Reichsarbeitsdienst zwangsverpflichtet oder zur Wehrmacht eingezogen wurden.

87 88 89 90

StAL, LG/SG, Nr.632, Bl.16. Ebda. Bl.17. Auszug aus Strafregister. Siehe StAL, VdN-Akte Nr.14628 unpag. Ebda.

292

b.

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Der Freundeskreis um Werner Teumer

Neben den „Broadway-Gangstern“ ist ein weiterer Freundeskreis aktenkundig geworden, der sich in Gaststätten der Leipziger Innenstadt traf und ebenfalls gegen die Staatsjugend eingestellt war. Zu den etwa zehn Jugendlichen gehörte auch der Feinmechanikerlehrling Werner Teumer (Jg. 1927) aus Reudnitz. Die Gruppenmitglieder trugen vorwiegend Anzüge und Krawatten. Teumer trat um 1938 zunächst dem Jungvolk bei und wurde später in die HJ übernommen, bei der er 1943 durch Dienstversäumnisse auffiel. Die Gruppe traf sich spätestens ab 1942 an Nachmittagen und Abenden in Gaststätten in der Innenstadt wie dem „Astra-Kabarett“, dem unter Jugendlichen sehr beliebten „Naumannbräu“ und auch dem „Canitz“. Letztere Kneipe besuchten sie einmal, weil jemand aus der Gruppe gehört hatte, dass sich dort auch Jugendliche trafen, die gegen die HJ eingestellt waren. Sie bekamen aber keinen Kontakt zu den „BroadwayGangstern“, denn ihr Besuch wurde durch eine Polizeirazzia jäh unterbrochen.91 Später beschrieb die Staatsanwaltschaft Teumer folgendermaßen: „Der Beschuldigte hatte während seiner Volksschulzeit Englisch gelernt und dadurch eine gewisse Neigung für englisches Wesen bekommen [...]. Bezeichnend für ihn ist, dass er sich im Jahre 1943 Besuchskarten mit englischen Phantasienamen anfertigen ließ.“92 Die Mitglieder dieses Freundeskreises lernten sich offenbar erst zu Beginn der 40er Jahre kennen und kamen aus verschiedenen Leipziger Stadtteilen. Näheres konnte nicht ermittelt werden. Teumer selbst erinnerte sich später an die Zeit um 1943: „Wir waren ein Freundeskreis und trafen uns regelmäßig in der Stadt, meistens mittwochs, sonnabends und sonntags. Wir gingen ins ‚Naumannbräu’ oder in andere Kneipen und diskutierten über die Nazis und hatten alle die gleiche Gesinnung. Wir waren ungefähr zehn Mann, alles Lehrlinge, und es waren auch ein paar Mädchen dabei, Jugendclique würde man heute dazu sagen. Wir waren alle gegen die HJ und gegen die Nazis eingestellt und wussten auch über die Konzentrationslager Bescheid und hatten zu der Zeit eigentlich das Ziel, nicht zur Wehrmacht eingezogen zu werden, weil wir gegen den Krieg waren. Oder, falls wir eingezogen werden würden, die erstbeste Gelegenheit zum Überlaufen nutzen.“93

Die Gruppe fuhr außerdem zum Baden an die Lübschützer Teiche, wo es manchmal zu Schlägereien mit der HJ gekommen sein soll. Teumer hatte des Weiteren mit einem seiner Freunde aus der Gruppe heimlich Radio BBC gehört.

91 92 93

Interview des Verfassers mit W. Teumer am 20.2.2003. Anklageschrift gegen Teumer, BArch NJ 9169, Bl.5. Interview des Verfassers mit W. Teumer am 7.3.2002.

5. Der „Broadway“

293

Die Vorliebe für angloamerikanische Tanzmusik, welche die Jugendlichen von ausländischen Sendern oder Tanzveranstaltungen in der Leipziger Innenstadt gekannt haben werden, gipfelte in der Gründung einer eigenen „Band“ mit Namen „Jack Brandy“. Der Verfasser hat zwei Fotos aus dem Besitz von Werner Teumer eingesehen, auf dem die fünfköpfige „Band“ im Stile einer damals modernen Tanzkapelle mit Instrumenten um 1942/43 zu sehen ist. Teumer versicherte später, dass es sich dabei lediglich um einen Spaß gehandelt hatte, niemand von ihnen konnte wirklich ein Instrument spielen. Doch selbst die bloße Inszenierung dieser Fotos zeigt das Interesse der Gruppe an angloamerikanischem Lifestyle. Neben dem geselligen Beisammensein führte die Gruppe immer wieder politische Gespräche über die aktuelle Kriegssituation und das Desinteresse am Wehrdienst. Innerhalb der Gruppe wurden Informationen ausgetauscht, wie man bei der Musterung einen schlechten Gesundheitszustand vortäuschen konnte. Diese Gespräche gipfelten 1943 in dem gemeinsamen Vorhaben Flugblätter herzustellen und diese in der Nacht zu einem Montag an größeren Straßenbahnhaltestellen in Innenstadtnähe anzubringen, um möglichst viele Leser zu erreichen. Der Text ist aus der späteren Anklageschrift überliefert: „Deutsche Jugend! Komme zu uns! Wir rufen Euch! Kämpft mit uns für einen gemeinsamen Frieden! Wer hat den Krieg gewollt? Wer ist an den Bombenangriffen schuld? Wer hetzt die Jugend in den Tod? Wir wollen geschlossen marschieren für einen Frieden! Aber nicht hoffnungslos kämpfen für eine aussichtslose Sache! Nur der Freiheit gehört unser Leben! Es lebe der Broadway!!!!!“94

Diese einfachen, einleuchtenden Sätze zeugen von einer genauen Einschätzung der existenziellen Situation, der sich die Jugendlichen damals ausgesetzt sahen. Soweit bekannt, folgte ihre Haltung Erkenntnissen, die sie aus gemeinsamen Gesprächen gewonnen oder Radio BBC entnommen hatten. Unterhaltungen in den Familien können diese Einstellung ebenso herausgebildet haben. Teumer erwähnte später hierzu, dass sein Großvater vor 1933 mit der linkssozialistischen Arbeiterbewegung sympathisiert hatte. Von den anderen Jugendlichen stammte nach bisherigen Quellenstudien keiner aus einem ehemals organisierten linkssozialistischen Elternhaus.95 Auch wenn die Auswirkungen des Krieges 94 95

Urteilsschrift gegen Teumer BArch NJ 9169, unpag. Davon zeugen die fehlenden VVN-Anträge, Erinnerungsberichte und keinerlei Erwähnung der Gruppe nach 1945 in der DDR-Geschichtsschreibung.

294

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

in Form von Bombenangriffen zu diesem Zeitpunkt in Leipzig noch nicht spürbar wurden, so waren die Jugendlichen über den Kriegsverlauf so weit informiert, dass sie ihn als eine „aussichtslose Sache“ ansahen. Wenn im Herbst 1943 selbst Jugendliche den Krieg verloren glaubten, so muss auch für weitere Teile der Bevölkerung angenommen werden, dass sie die tatsächliche Situation durchaus realistisch einschätzen konnten. Die Unterzeichnung des Flugblattes mit „Broadway“ verdeutlicht die hohe Identifikation der Gruppe mit ihrem selbst gewählten Freiraum und Treffpunkt. Darüber hinaus zeigen die Überlegungen, wie man mit den Flugblättern möglichst viele Menschen erreichen könnte, dass man sich über diese Aktion genau Gedanken gemacht hatte und nicht spontan handelte. Der Inhalt des Textes zeigt deutlich, dass man zum Widerstand gegen das gesamte NS-System aufrief. Mit der Formulierung „Nur der Freiheit gehört unser Leben“, forderte man weitaus mehr als das Ende der NS-Kriegspolitik oder des HJ-Dienstes. Nach Angaben von Teumer beinhaltete ein weiteres Flugblatt, welches mit „Bündische Jugend“ unterzeichnet worden war, den Rütli-Schwur aus dem „Willhelm Tell“ von Friedrich Schiller: „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren. Eher den Tod als in der Knechtschaft leben.“96 Weiterer Text aus diesem Flugblatt ist nicht überliefert. Insgesamt soll er etwa 15 Exemplare heimlich auf der Schreibmaschine seines Lehrbetriebes hergestellt haben.97 Im „Astra-Kabarett“ gab Teumer drei bis fünf Exemplare an Jugendliche weiter.98 Die anderen Flugblätter hatte er bei sich, als er zu seinem Pflichtdienst bei einem HJ-Luftschutzkommando in der Innenstadt ging, um sie nach Dienstschluss an den Straßenbahnhaltestellen anzubringen. „Wir verstanden uns eigentlich in dem Dienst ganz gut und an die habe ich die Flugblätter verteilt. Nun ja, der eine hatte das in der Hand und rannte damit gleich runter zur Polizei. Da habe ich die anderen noch in einem Ofen versteckt, aber die haben sie dann später gefunden und ich wurde in der Nacht noch abgeführt. Das war am 6. November 1943.“99 Die Gestapo verhörte Teumer mehrmals und er saß für einige Wochen im Polizeigefängnis in der Beethovenstraße ein. Bei den Verhören erklärte Teumer jedes Mal, dass er die Flugblätter in der Fußgängerunterführung

96 97

98 99

Interview mit W. Teumer am 7.3.2002. In der Anklageschrift wird nur ein Flugblatt erwähnt. Teumer war sich aber auch nach Einsicht in Kopien seiner Gerichtsakten in einem zweiten Interview mit dem Verfasser am 20.2.2003 absolut sicher, er wäre mit drei verschiedenen Flugblättern von der Gestapo verhaftet worden. Warum die anderen zwei Flugblätter nicht mit zur Anklage kamen, ist unbekannt. Urteilsschrift gegen Teumer BArch NJ 9169 unpag; In der Anklageschrift ist von drei verteilten Zetteln die Rede (Bl.5), in einem weiteren Schreiben von fünf Zetteln (Bl.2). Interview mit W. Teumer am 7.3.2002.

5. Der „Broadway“

295

am Hauptbahnhof gefunden und abgeschrieben hätte und die „auch mal anderen zeigen wollte.“100 Anfang Dezember wurde Teumer in die Untersuchungshaft überstellt und sein Vorgang an den Volksgerichtshof in Berlin weitergeleitet. Dies zeugt davon, dass die Gestapo bzw. die Leipziger Staatsanwaltschaft diesem Vorgang zunächst wesentlich größere Bedeutung beimaß als zuvor den „BroadwayGangstern“. Ein möglicher Prozess beim VGH hätte unter Umständen das Todesurteil oder zumindest Zuchthaus für Teumer bedeutet, wie dies vergleichbare Anklagen gegen Jugendliche aus anderen deutschen Städten belegen, z. B. gegen die „Hübener-Gruppe“ in Hamburg.101 Der Volksgerichtshof gab die Akten aus unbekannten Gründen im Mai 1944 an das Oberlandesgericht in Dresden ab und Mitte Juli erhob man gegen Teumer Anklage wegen „Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung zum Hochverrat“. In der Anklageschrift heißt es hierzu: „Der Beschuldigte hat sich in Leipzig im Sommer 1943 durch Anfertigung und Verbreitung von hetzerischen Flugzetteln vorbereitend hochverräterisch betätigt und zugleich öffentlich den wehrhaften Selbstbehauptungswillen des Deutschen Volkes zu lähmen und zu zersetzen gesucht.“102 Der Prozess fand am 15. September 1944 in Dresden statt. Werner Teumer konnte sich bei allen Verhören erfolgreich als Einzeltäter darstellen und so blieb sein Freundeskreis von größeren Ermittlungen verschont, obgleich ein Mitglied aus der Gruppe als Zeuge vorgeladen war. Vor Gericht widerrief Teumer seine Aussage, die er zuvor bei der Gestapo gemacht hatte. Er gab nun an, dass er im Sommer 1943 die Flugblatttexte von einem ihm unbekannten Jugendlichen in der Gaststätte „Naumannbräu“ gehört hätte.103 Teumer erklärte diesen „Sinneswandel“ später dadurch, dass er in der Untersuchungshaft von einem politischen Gefangnen dazu ermuntert wurde, den „großen Unbekannten“ als Urheber zu nennen, da seine erste Aussage zu unglaubwürdig erschien.104 Obgleich das Gericht an dem Wahrheitsgehalt der neuen Aussagen zweifelte, konnte es Teumer nichts Gegenteiliges beweisen. Auch für die „Gruppenbildung“ fehlten letztlich die Beweise, weswegen der Vorwurf „Vorbereitung zum Hochverrat“ fallen gelassen werden musste. Als Motive für seine Tat gab Teumer vor Gericht die ihn einschränkenden Bestimmungen der „Verordnung zum Schutze der Jugend“ und die schikanösen Auftritte des HJ-Streifendienstes an. Die Richter schenkten dem Glauben und verurteilten ihn letztlich wegen „Wehrkraftzersetzung“ zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis, wobei ihm die zehn Monate Untersuchungshaft mit angerechnet wurden. Seine Haftstrafe verbüßte 100 101 102 103 104

Interview mit W. Teumer am 20.2.2003. Vgl. Jugendliche „Vierergruppen“ (Hübener, Klingenbeck, Landgraf). In: BENZ (Hg.): Lexikon, S.237-239; Siehe auch KLÖNNE: Jugend, S.278f. Anklageschrift gegen Teumer, BArch NJ 9169, Bl.4. Urteilsschrift gegen Teumer, In: BArch NJ 9169, unpag. Interview mit W. Teumer am 20.02.2003.

296

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

er anschließend in Dresden, Bautzen, Leipzig und zuletzt im Jugendgefängnis Hoheneck, aus dem er am 8. Mai 1945, unmittelbar nach der über Radio verkündeten Kapitulation, als einziger Inhaftierter vom dortigen Anstaltsdirektor entlassen wurde – sechs Tage vor dem offiziellen Ende seiner Haftstrafe. Nach eigenen Angaben war Werner Teumer zu diesem Zeitpunkt der einzige politische Gefangene in Hoheneck gewesen. Auch in diesem Fall zeigen sich gravierende Unterschiede zu vergleichbaren Prozessen gegen Mitglieder der Leipziger Meuten. Bereits äußerlich fällt die Anklageschrift durch Knappheit auf. Die Tatsache, dass das Gericht keinerlei Grund sah, wegen des vorliegenden Flugblattes eine hohe Strafe wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu verhängen, ist aus heutiger Sicht kaum zu erklären. Wenn man auch davon ausgehen kann, dass es vergleichbare Aktionen von Jugendlichen in Sachsen zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben hat, so wäre ein abschreckendes Urteil in diesem Fall doch nicht überraschend gewesen. Möglicherweise war es gerade dieser Einzelfall eines Jugendlichen, der das Gericht veranlasste, dieser Sache keine höhere Bedeutung beizumessen, um nicht durch übertrieben harte Urteile gegen die eigene Bevölkerung in der Endphase des Krieges unnötig für Unruhe zu sorgen. Die kurz zuvor ergangenen Todesurteile gegen die „Verschwörer“ vom 20. Juli 1944 reichten der Justiz in Dresden möglicherweise aus, um die Staatsraison wieder hergestellt zu wissen. Allerdings wurden die westdeutschen Edelweiß-Gruppen im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 nun den „Landes- und Hochverratskomplexen“ zugeordnet.105 Die konkreten Umstände der Strafbemessung bei Werner Teumer können aufgrund fehlender weiterer Quellen nicht erschöpfend beantwortet werden.

6.

„Bündische Jugend“ nach 1940

Die Jugendbünde aus der Weimarer Zeit existierten bereits seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre in Leipzig nicht mehr, obgleich einzelne Bündische untereinander noch informellen Kontakt hielten. Bereits die proletarischen Leipziger Meuten aus den Jahren 1937 bis 1939 können nicht als deren Fortführung verstanden werden. Gleichwohl haftete den Leipziger Meuten der Begriff „Bündische Jugend“ an. Darunter verstand das NS-System Jugendcliquen jenseits der HJ, welche ihre Freizeit nach ihren eigenen Vorstellungen gestalteten (z. B. in Form von Wanderungen) und mitunter gegen die HJ tätlich wurden. Verschwanden die bekannten Meuten aufgrund staatlicher Repression relativ schnell, so blieb unter Leipziger Jugendlichen der Begriff „Bündische Jugend“ für Gruppen und Personen jenseits der HJ weiter erhalten. Seine Zugehörigkeit 105

Siehe KENKMANN: Wilde Jugend, S.333.

6. „Bündische Jugend“ nach 1940

297

zur „Bündischen Jugend“ zeigte man jetzt nicht mehr durch einen einheitlichen Dresscode. Allenfalls ein Abzeichen an der Jacke, die Buchstaben „BJ“, ein Totenkopf oder der rote Tiroler Adler manifestierten jetzt nach außen die ablehnende Haltung zur HJ. Neben den Cliquen, die sich in der Leipziger Innenstadt auf dem „Broadway“ trafen, gab es in den einzelnen Stadtteilen ebenfalls Gruppen von Jugendlichen, die der HJ und der Jugendschutzverordnung ablehnend gegenüberstanden. Anhand der „Broadway-Gangster” konnte bereits für Jugendliche aus dem Leipziger Osten, Süden und der Innenstadt Sympathie und Identifikation mit der “Bündischen Jugend” aufgezeigt werden. Von den Gruppen in den verschiedenen Wohngebieten ist aufgrund der ungenügenden Aktenlage leider relativ wenig bekannt. Bei der folgenden Darstellung konnte nicht für alle Cliquen die Selbstbezeichnung „Bündische Jugend“ zweifelsfrei nachgewiesen werden. Da dieser Terminus jedoch auch von den unterschiedlichen NS-Verfolgungsinstanzen gebraucht wurde und in Leipzig als weit verbreiteter Sammelbegriff für alle Jugendlichen jenseits der Staatsjugend herhalten musste, sind im Folgenden auch Jugendgruppen aufgeführt, die ihrem Verhalten nach (Cliquenbildung, Übertretung der Jugendschutzverordnung, Auseinandersetzung mit HJMitgliedern) in dieses Schema passen.

a.

„Bündische Jugend” im Leipziger Westen

Mitte Mai 1943 verübten vier Lehrlinge aus dem Leipziger Westen einen Einbruch in ein Turmhäuschen der Parkanlage „Rudolf Sack“. Neben einigen Gegenständen, die sie dort stahlen, schrieben sie an die Wand „Werde Mitglied der BJ und du hast Frieden“.106 Konrad P. hatte außerdem von einer dort gefundenen Hakenkreuzfahne die weißen Felder herausgetrennt und auf das rote Fahnentuch die Worte „Nieder mit dem Kapitalist“ geschrieben sowie mehrere Totenköpfe darauf gezeichnet.107 Diese Gruppe der Geburtsjahrgänge 1925 bis 1927 war bereits zuvor negativ aufgefallen. Konrad P. wurde im November 1942 vom Jugendamt folgendermaßen beschrieben: „Freunde hat er immer viel um sich gehabt und hat sich mit diesen auch abends in Kneipen herumgedrückt und hat sich mit noch 3 Freunden nach auswärts begeben. Zuvor hat er jedoch seinem Großvater, der mit bei den Eltern wohnt, 200,- RM gestohlen.“108 Der Klassenlehrer F. Schade von Konrad P. aus der Handwerkerschule für Bau-, Holz- und Kunstgewerbe

106 107 108

StAL PP-S 3823; Der Satz war im Original bereits unvollständig. StAL PP-S 2854/109, Bl.5. StAL LG 3803, unpag.

298

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

schätzte ihn so ein: „Er hat einen sehr starken Trieb zum Herumbummeln, Schuleschwänzen und ist ein völlig nichtsnutziger Bursche. [...] Strengste Fürsorgeerziehung kann hier nur helfen, und jede falsche Humanität wäre verfehlt.“109 Gegen Konrad P. und Werner Suffa-Friedel (Jg. 1925) wurde bereits vier Wochen nach der Tat je ein Monat Jugendarrest verhängt. Am 12. August 1943 verurteilte das Jugendgericht den ebenfalls daran beteiligten Rolf S. (Jg. 1926) wegen schweren Diebstahls und Fälschung von HJ-Ausweisen in zwei Fällen zu einer Haftstrafe von sechs Monaten.110 Wegen der oben genannten Delikte gab es offenbar eine Revision des Urteils. Ende Dezember 1943 tagte das Jugendgericht abermals gegen drei der vier Jugendlichen. Suffa-Friedel, Roland K. und Konrad P. wurden wegen „Unterstützung bündischer Bestrebungen“, Diebstahls sowie „Wehrdienstentziehung“ zu jeweils zehn Monaten Haft verurteilt, unter Anrechnung von sieben Monaten Untersuchungshaft.111 Konrad P. wurde nach seiner Haftentlassung im April 1944 zunächst zur Gestapo zurückgeführt und befand sich im Juni beim RAD. Diese Gruppe ist die einzige für Leipzig bekannt gewordene im Zeitraum 1933 bis 1945, bei der sich Kleinkriminalität und Sympathien für die „Bündische Jugend“ so stark vermischten. Bei allen anderen überwog von Seiten der NS-Organe der Vorwurf des politischen bzw. „bündischen“ Charakters, so diffus dieser auch gebraucht und verstanden wurde. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass es noch eine Anzahl weiterer Jugendlicher mit kriminellen Ambitionen und gleichzeitigen Sympathien für die „BJ“ in Leipzig gegeben haben könnte. Bemerkenswert ist die Umgestaltung einer Hakenkreuzfahne durch Konrad P. in eine rote Arbeiterfahne mit der linkssozialistischen Parole „Nieder mit dem Kapitalist“. Diesem Sachverhalt ging das Gericht im Übrigen nicht weiter nach. Wegen des Alters von Konrad P. (Jg. 1927) ist es ausgeschlossen, dass er selbst noch bis 1933 in einer linkssozialistischen Kindergruppe gewesen war. Dennoch muss er über rudimentäres Wissen über die Arbeiterbewegung verfügt haben und sei es nur aus Gesprächen mit älteren Verwandten oder Bekannten. Näheres ist hierzu nicht aktenkundig. Zu einem Treffpunkt für Jugendliche im Leipziger Westen entwickelte sich außerdem ein Billardsaal direkt am Lindenauer Markt. Der HJ-Streifendienst stellte im Januar 1943 mehrmals fest, dass sich dort abends etwa 25 bis 40 Jugendliche aufhielten. An manchen Abenden würde dort außerdem „fürchterliche Jazzmusik“ gespielt. HJ-Streifenführer Böhme forderte Mitte Februar vom Jugendamt deshalb eine strenge Bestrafung für den Inhaber, der sich augen-

109 110 111

StAL LG 3803, unpag. Vgl. StAL PP-S 4108. Vgl. StAL PP-S 3823.

6. „Bündische Jugend“ nach 1940

299

scheinlich nicht um die Einhaltung der Jugendschutzverordnung kümmerte. Ein Wohlfahrtspfleger, der das Lokal ebenfalls in Augenschein nahm, berichtete, dort „recht fragwürdige Gestalten“ gesehen zu haben.112 Ob gegen diese Jugendlichen und den Inhaber tatsächlich eingeschritten wurde, ist nicht bekannt. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Billardsaal am Brühl in der Innenstadt erwähnt, in dem ähnliche Zustände herrschen würden.

b. Der „Tiroler Bund des Roten Ostens“ Im südöstlichen Stadtteil Stötteritz gab es um 1944 im Lokal „Harmonie“ in der Langen Reihe eine Jugendgruppe, welche sich „Tiroler Bund des Roten Ostens“ nannte. Auch von einigen „Broadway-Gangstern“ ist bekannt, dass sie am Jackett den roten Tiroler Adler trugen. Wie es genau zu der Identifikation mit Tirol unter Leipziger Jugendlichen in dieser Zeit gekommen ist, konnte bislang nicht geklärt werden. Vermutlich handelte es sich um eine jugendkulturelle Besonderheit, die etwas mit dem Freiheitskampf der Tiroler zu Beginn des 19. Jahrhundert und dessen späterer Mystifizierung zu tun haben könnte. Möglicherweise war es auch lediglich eine romantische Verklärung der alpinen Bergwelt jenseits der industrialisierten Großstadt. Mit „Roter Osten“ wurde eine umgangssprachliche Begrifflichkeit aus der Zeit vor 1933 verwendet, da der Leipziger Osten gemeinhin als „rot“, also linkssozialistisch galt. Vor dem Lokal soll es außerdem zu Schlägereien mit dem HJ-Streifendienst gekommen sein.113 Es ist davon auszugehen, dass die Jugendlichen aus dem Arbeitermilieu kamen und den Begriff „Roter Osten“ von älteren Verwandten, Bekannten oder Arbeitskollegen bei Unterhaltungen „aufgeschnappt“ hatten. Näheres ist zu dieser Gruppe nicht überliefert.

c.

„Bündische Jugend“ im Leipziger Süden

Bereits seit Ende 1942 beobachtete der HJ-Streifendienst eine Gruppe Jugendlicher aus dem Leipziger Süden, „die der Hitler-Jugend ablehnend gegenübersteht und auf deren Konto auch verschiedene Überfälle auf HJ- und DJ-Führer bzw. Jungens zu schreiben sind. Einzelne von diesen sind auch kriminell in Erscheinung getreten und im Großen und Ganzen dürfte es sich um Jugendli-

112 113

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.134, 137f. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern.

300

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

che handeln, denen von obenher eine straffe Hand fehlt.“114 Die Beobachtungen wurden von der HJ Anfang 1943 fortgesetzt, Namen ermittelt und dem Jugendamt gemeldet. Das Jugendamt schickte daraufhin einen „Volkspfleger“ zu den einzelnen Jugendlichen nach Hause, um diese zu verwarnen. Den mutmaßlichen Rädelsführer Joachim B. aus Connewitz, der die Verwarnungen nicht befolgte, wies das Jugendamt Anfang März 1943 für 26 Stunden in eine Arbeitsanstalt ein. Das Jugendamt berichtete daraufhin an die HJ, dass diese Maßnahme „merkbaren Eindruck“ bei B. hinterlassen hätte.115 Ein Treffpunkt für die „Bündische Jugend“ war in dieser Zeit die Kantine des Sportplatzes der „Leipziger Sportfreunde“ in der Connewitzer Waisenhausstraße (heutige Arno-Nitzsche-Straße). Ob die Gruppe um Joachim B. dort ebenfalls verkehrte, ist nicht bekannt, hinsichtlich der räumlichen Nähe aber wahrscheinlich. Sieben namentlich bekannte Mitglieder kamen aus dem benachbarten Stadtteil Lößnig, gingen aber auf die 7. Volksschule in Connewitz. Zu den sich in der Kantine treffenden Jugendlichen gehörten außerdem mehrere Ältere und einige Mädchen. Nachdem Schüler der oben genannten Schule ihren Direktor über diesen Treffpunkt der „BJ“ informiert hatten, setzte dieser interessanterweise zunächst nicht die Polizei, das Jugendamt oder den HJStreifendienst, sondern den Amtsleiter der NSDAP-Ortsgruppe Süd davon in Kenntnis. Dieser ging mit einem weiteren NSDAP-Mitglied und dem HJStreifendienst daraufhin in besagte Sport-Kantine und traf dort eine „Anzahl Jugendlicher“ an sowie mehrere Soldaten in Uniform. Bei einer eigenmächtigen Ausweiskontrolle wurde festgestellt, dass ein Großteil nicht mehr HJ-Mitglied war, sondern nach eigenen Angaben der „Technischen Nothilfe“ angehörte, was als Schutzbehauptung angesehen wurde. Ein Jugendlicher trug ein Totenkopf-Abzeichen, welches er darauf hin bei der nächstgelegenen Polizeiwache abgeben sollte.116 An einem anderen Abend sollen 15 Mitglieder der „Bündischen Jugend“ in der Kantine gewesen sein. Es ist nicht bekannt, ob sich dort auch Mitglieder der Connewitzer Meute aus den späten 30er Jahren trafen. Wahrscheinlicher ist, dass diese beiden Generationen Connewitzer Jugendlicher kaum Kontakt miteinander hatten, da die um 1920 geborenen männlichen Jugendlichen spätestens ab 1942 größtenteils zur Wehrmacht eingezogen worden waren. Aus der besagten 7. Grundschule in der Bornaischen Straße häuften sich in dieser Zeit die Klagen von HJ-Mitgliedern über die „Bündische Jugend“. 1942 und 1943 wurde vom Direktor eine Anzahl an Vorkommnissen aus Connewitz 114

115 116

Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.120, Bl.90, Brief von der HJ an Jugendamtsdirektor Gerlach vom 11.12.1942; Was konkret mit „kriminell in Erscheinung getreten“ gemeint ist, geht aus dem Schreiben nicht hervor. Möglicherweise wollte die HJ die Mitglieder der Gruppe durch diese Äußerung moralisch abwerten. Ebda. Bl.92. Vgl. Stadtarchiv Leipzig Schulamt Nr.625, Bl.294.

6. „Bündische Jugend“ nach 1940

301

und Lößnig dokumentiert, wo mehrere Mitglieder der „Bündischen Jugend“ HJ-Mitglieder überfallen hatten. Dabei waren Sätze gefallen, wie: „Wieder so ein Nazischwein und Lumpensohn.“ Außerdem wurden regelmäßig die HJAbzeichen abgerissen.117 Solche Überfälle ereigneten sich vor allem abends, wenn Angehörige der HJ vom Dienst nach Hause gingen. Mitte März 1943 wurden zwei uniformierte HJ-Mitglieder, welche im Connewitzer Wald unterwegs waren, von zwei namentlich bekannten Mitgliedern der „Bündischen Jugend“ mit einem Luftgewehr beschossen. Einem Jungen zerschoss man dabei die HJ-Mütze. Ein Staatsjugend-Mitglied gab dem Direktor der 7. Volksschule außerdem zu Protokoll: „Im September 1942 wurde unser Jungzug II an der Möncherei von der BJ angegriffen. Der Jungzug war gerade beim Entfernungsschätzen. […] Auf dem Heimweg kamen zehn Mann von unserem Jungzug an und brüllten: ‚Haut ab, die BJ kommt’. Wirklich kam eine Meute Jungen hinter den anderen her.“118 Gerade dieser Vorfall zeigt deutlich, wie stark der Mythos der Bündischen Jugend Anfang der 40er Jahre unter den Jugendlichen weiterlebte und verbreitet war. Dass sich Mitglieder der Staatsjugend zu dieser Zeit verjagen ließen und geradezu panisch flüchteten, zeugt von entschlossenem und selbstbewusstem Auftreten der „BJ“-Anhänger. Daran wird ersichtlich, dass es sich bei der „Bündischen Jugend“ Anfang der 40er nicht nur um einige wenige Außenseiter handelte, sondern dass diese Jugendlichen ähnlich offensiv gegen die HJ vorgingen wie seinerzeit die Leipziger Meuten. Jugendliche außerhalb der HJ versteckten sich auch zu Beginn der 40er Jahre in Leipzig nicht nur in dunklen Ecken von Gaststätten, sondern agierten darüber hinaus im öffentlichen Raum, von wo sie die HJ verdrängen wollten. Im März 1943 berichtete der Rektor der 7. Volksschule ausführlich in einem Schreiben an die Gestapo und das Schulamt über die Aktivitäten der „Bündischen Jugend“ in Lößnig und Connewitz und nannte auch Namen von Verdächtigen. Das Schulamt leitete sein Schreiben ebenfalls an die Gestapo weiter. Im September schrieb der Rektor abermals das Schulamt an, da er bislang noch keinerlei Rückantwort erhalten hatte. Es ist nicht bekannt, ob in dieser Angelegenheit später noch von Seiten der Gestapo ermittelt wurde. Offensichtlich hatte diese keine Zeit, sich um diese Angelegenheiten zu kümmern, welche sie möglicherweise als Bagatelldelikte einstufte.119 Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass bereits Schüler der 8. Klasse sich zur „Bündischen Jugend“ zugehörig fühlten und 1942/43 offenbar keine ernsthaften Repressionen zu erwarten hatten, wie ihr offensives Vorgehen zeigt. 117 118 119

Stadtarchiv Leipzig Schulamt Nr.625, Bl.291ff. Ebda. Bl.296. Solcherart Fälle, wo Schuldirektoren „BJ“-Übergriffe auf HJ-Mitglieder erfolglos an die Gestapo meldeten, gab es z.B. auch im westdeutschen Oberhausen, wo die Polizei diese Vorfälle als „irregeleitete Romantik der Jugend“ ansah. Siehe KENKMANN: Wilde Jugend, S.309 und 315.

302

7.

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Die Gestapo-Arbeit nach 1940

Für die Zeit bis 1939 war vorrangig die Leipziger Gestapo für die Bekämpfung und Ausschaltung oppositioneller Jugendgruppen wie den Leipziger Meuten verantwortlich. Die zuständigen Beamten sammelten alle Ermittlungsergebnisse, kannten die Treffpunkte und mit der Zeit auch die Mitglieder. Sie nahmen außerdem Verhaftungen vor und verhörten eine ganze Anzahl von Jugendlichen. Auch gegen die Überreste der Bündischen Jugend war auf diese Weise bereits Mitte der 30er Jahre seitens der Gestapo vorgegangen worden. Mit Kriegsbeginn änderten sich in Leipzig die Zuständigkeitsbereiche, obgleich die Polizei für die Einhaltung der „Jugendschutzverordnung“ verantwortlich war. Einige der Zuständigkeiten bzw. der bürokratischen Abläufe zwischen Jugendamt, HJ-Streifendienst und Leipziger Polizei konnten bereits in dem Kapitel über die Jugendschutzverordnung aufgezeigt werden. Doch die Leipziger Gestapo fiel ab 1940 bei der Bekämpfung von verbotenen Jugendgruppen völlig aus. Ermittlungen aus eigenem Antrieb analog den 30er Jahren wurden seitens der Gestapo ab 1940 gegen Jugendliche nicht mehr geführt bzw. sind nicht überliefert. Einzig die Verhöre im Zusammenhang mit der Flugblattaktion des Freundeskreises um Werner Teumer und gegen die „Broadway-Gangster“ sind von der Gestapo geführt worden. Daraus lässt sich schließen, dass die Gestapo in Leipzig nur noch in Ausnahmefällen für Jugendliche zuständig war bzw. nur aktiv wurde, wenn ihnen Sachverhalte von anderen Stellen konkret zugetragen wurden. Auch im westdeutschen Rhein- und Ruhrgebiet wurde die Gestapo in der Regel erst nach Informationen von außen aktiv.120 Im Unterschied zu Leipzig ging die Gestapo dort auch noch zu Beginn der 40er Jahre in weit größerem Umfang gegen informelle Jugendgruppen vor.121 Mehrere Beamte der Gestapo Leipzig bekamen mit Kriegsbeginn neue Aufgaben zugeteilt. Gleichzeitig wurden einige in die besetzten Ostgebiete abgestellt.122 Für 1941 sind für die Gestapo in Leipzig 133 Planstellen überliefert, was die eng begrenzten personellen Kapazitäten verdeutlicht.123 Des Weiteren war die Gestapo für die Deportation der noch in Leipzig verbliebenen Juden verantwortlich. Um 1941/42 wurde von der Leipziger Gestapo außerdem in Lagern mit sowjetischen Kriegsgefangenen in ganz Mitteldeutschland nach Juden und kommunistischen Politoffizieren gefahndet. Zeitgleich wuchs in der Messestadt die Zahl der ausländischen Zwangs- und Fremdarbeiter in die Tau120 121 122

123

Vgl. SCHOTT/STEINACKER: Wilde Gesellen, S.168. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.320ff. SCHMID: Gestapo Leipzig; Dies bestätigt auch SCHREIBER: Politische Polizei, S.176; Die Arbeitssituation der Gestapo ab 1940 in Leipzig ist symptomatisch für das gesamte Reich. Siehe R. GELLATEY: Gestapo und die deutsche Gesellschaft. In: SCHMIECHENACKERMANN (Hg.): Soziale Milieus, S.112f. Siehe auch DAMS/STOLLE: Gestapo, S.115ff. Siehe C. SCHREIBER: Täter und Opfer. In: VOLLNHALS (Hg.): Sachsen in NS-Zeit, S.176.

7. Die Gestapo-Arbeit nach 1940

303

sende, welche es zu überwachen galt. Die beiden um 1938 für die Leipziger Meuten zuständigen Beamten bekamen neue Tätigkeitsfelder außerhalb Leipzigs zugewiesen, denn ihre Namen tauchen in keiner Akte nach 1940 wieder auf. Dies könnte auch erklären, warum seitens der Polizeibehörden zwischen den Leipziger Meuten und den Jugendgruppen nach 1940 keine Kontinuitäten gesehen wurden, was aufgrund der gemeinsamen Verwendung des Begriffes „Bündische Jugend“ und teilweise auch „Meute“ durchaus plausibel gewesen wäre. Warum kein Gestapo-Beamter nach 1940 explizit für die Leipziger Jugend zuständig war, ist zum einen thesenhaft damit erklärbar, dass es in Leipzig keine oppositionelle Jugendbewegung mit den Ausmaßen der Leipziger Meuten mehr gegeben hat. Alle nach 1940 in Erscheinung tretenden oppositionellen Jugendgruppen stellten offensichtlich nicht die „Bedrohung“ dar, welche zuvor von den teilweise offen linkssozialistisch orientierten Leipziger Meuten ausgegangen war. Dadurch, dass die Gruppen sich auch nicht mehr in der Öffentlichkeit trafen, verschwanden sie somit aus dem Straßenbild. Die zahlreichen Verstöße, die Ordnungspolizei und HJ-Streifendienst im Zusammenhang mit der Jugendschutzverordnung feststellten, waren kein Aufgabengebiet für die Gestapo. Offenbar fehlte es auch an konkreten Denunziationen seitens der Bevölkerung.124 HJ-Streifendienst und Jugendamt hatten die Ordnungsmaßnahmen in Bezug auf Jugendliche übernommen. Besorgte Schreiben von Schulleitern über Aktivitäten der „Bündischen Jugend“ brachte die Gestapo nicht in Zusammenhang mit den Leipziger Meuten und Ermittlungen blieben aus. Solcherart Nichtzuständigkeit für Jugendgruppen jenseits der HJ ab 1940 scheint kein reichsweiter Trend gewesen zu sein. Beispielsweise für das westdeutsche Wuppertal ist bekannt, dass die dortigen Gestapo-Beamten „akribisch ermittelten und mit wenigen Ausnahmen alle Ermittlungsergebnisse an die zuständige Staatsanwaltschaft weiterleiteten.“125 In Frankfurt am Main war ab 1939 ein Kriminaloberassistent der Gestapo die gesamte Kriegszeit über für Fälle von Swing-Jugendlichen sowie anderer oppositioneller Jugendgruppen zuständig und für seine Brutalität gefürchtet.126 Auch für Köln und andere Städte im Rhein-Ruhr-Gebiet sind bis in die Endphase des NS-Regimes zahlreiche Ermittlungen gegen informelle Jugendgruppen überliefert.127 Die vorangegangenen Kapitel zeigen, dass die untersuchten Jugendgruppen in Leipzig relativ ungestört agieren konnten und eine Verfolgung seitens der Gestapo in Leipzig nicht stattfand.

124 125 126 127

Vgl. GELLATEY: Gestapo. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hg.): Soziale Milieus, S.118. Vgl. SCHOTT/STEINACKER: Wilde Gesellen, S.180. Vgl. KURZ: Swinging Democracy, S.145f. Siehe KENKMANN: Wilde Jugend.

304

8.

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Der „Hot Club Leipzig“ „Die Nazis marschierten auf den Straßen zum Reichsparteitag nach Nürnberg und wir fuhren mit dem Auto zum Konzert von Teddy Staufert nach Berlin.“128

Seit den 20er Jahren hatte sich eine weitere Freizeitbeschäftigung zunächst unter der bürgerlichen Jugend ausgebreitet, nicht nur in Deutschland, sondern in vielen westlichen Ländern: der Besuch von Tanzmusikveranstaltungen. Amerikanische Jazzmusik kam zunehmend in die deutschen Tanzsäle und fand eine wachsende Anhängerschar – eine neue Jugendkultur entwickelte sich. Diese Musik vermittelte ihren Hörern ein Lebensgefühl, das völlig mit dem Jugendbild brach, welches sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Im Gegensatz zu den schon besprochenen Jugendbünden und parteinahen Jugendorganisationen stand hier vor allem eine völlig individualisierte Freizeitgestaltung im Vordergrund. Diese Jugendkultur „mit ihren typischen Attributen Musik, Tanz, Kleidung“129 strebte keine politischen oder gesellschaftlichen Veränderungen an. Hier ging es vorrangig um Vergnügung. Während Ende der 20er Jahre in Deutschland die Jugendorganisationen sich immer weiter uniformierten und somit ihre Militanz zeigen wollten, trugen die „Tangoscheichs“ bzw. „Tangojünglinge“, wie Arbeiterjugendliche in Leipzig diese Gleichaltrigen nannten, ausschließlich Anzüge oder zumindest Jacketts und Hemden – alles in allem ein bürgerliches Erscheinungsbild zu dieser Zeit.130 Für viele Städte sind während der NS-Zeit Jugendcliquen aktenkundig geworden, auch „Swingjugend“ genannt, welche ihre Vorliebe für den angloamerikanischen Lebensstil mehr oder weniger offen zu Schau stellten. In Hamburg beispielsweise wurden solcherart Erscheinungen bereits seit 1937/38 beobachtet. Zunächst kamen dort die Swingjugendlichen aus bürgerlichem Haus, später zunehmend aus dem Proletariat. Dieses Phänomen ist auch für Frankfurt am Main zu dieser Zeit belegbar, in Gestalt des „Harlem Clubs“. In Dresden gab es ebenfalls Swingjugendliche.131 Das Interesse an angloamerikanischem Lebensstil unter Leipziger Arbeiterjugendlichen zu Beginn der 40er Jahre konnte bereits im „Broadway“-Kapitel aufgezeigt werden. Im Folgenden soll es darum gehen, die Ursprünge der Jazzbegeisterung unter Leipziger Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem

128 129 130

131

Interview des Verfassers mit Kurt Michaelis alias „Hot Geyer“ am 28.04.2008 in Leipzig. R. POHL: „Schräge Vögel, mausert euch!“ In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.242. „Tangojünglinge“ unterschieden sich von den späteren Swing-Jugendlichen dadurch, dass sie der Musik weniger Bedeutung beimaßen, sondern vielmehr dem „Leben, welches sich um die Musik herum abspielte“. Vgl. KURZ: Swinging Democracy, S.31. Vgl. PEUKERT: Edelweißpiraten, S.201ff.

8. Der „Hot Club Leipzig“

305

bürgerlichen Milieu zu Beginn der 30er Jahre darzustellen sowie deren Verhalten unter dem NS-Regime.132 Amerikanische Jazzmusik hatte in Deutschland bereits in den 20er Jahren erste Aufmerksamkeit erregt, vor allem in Berlin. Aber auch andere deutsche Städte wurden von ausländischen Jazzorchestern bereits in dieser Zeit bespielt. Im Gegensatz zu Berlin konnte sich in den übrigen deutschen Großstädten keine eigene Jazzkultur entwickeln.133 Darum war zu dieser Zeit die Fangemeinde in Leipzig überschaubar, aber nicht weniger fanatisch. 1932 fuhr der Zahntechnikerlehrling Kurt „Hot Geyer“ Michaelis (Jg. 1913) nach London, um ein Konzert der Jazzlegende Louis Armstrong zu erleben. Michaelis war Mitglied des „Hot Club Leipzig“, eines kleinen Freundeskreises von jazz- und swingbegeisterten jungen Menschen, welche vorwiegend aus bürgerlichem Hause stammten. Ihre Spitznamen waren durchweg anglisiert: Neben „Hot Geyer“, dem Jüngsten in der Gruppe, gehörten „Fiddlin’ Joe“ (Jg. 1906), „Hot Ibsen“ (Jg. 1909), Heiner „Fats“ Kluge (Jg. 1911), „Dreamy-Hot“ und Hermann Ucko (Jg. 1912) zum Leipziger „Hot Club“. Standards ihrer Kleidung waren Anzüge mit weiten Hosen und Krawatten.134 Die nationalsozialistische „Machtergreifung“ tat diesem Treiben zunächst keinen Abbruch, wenn auch Jazz- und Swingmusik in der Öffentlichkeit zunehmend Anfeindungen aus dem Propagandaministerium ausgesetzt war.135 Es gab sporadische informelle Kontakte zu „Hot Clubs“ aus anderen Städten des Reiches und man informierte sich gegenseitig auf maschinenbeschriebenen Blättern über Neuerscheinungen.136 Prinzipiell konnte man nach 1933 weiterhin ausländische Jazz- und Swingplatten in den Geschäften kaufen, welche oftmals von deutschen Plattenfirmen in Lizenz hergestellt wurden. „Die Jahre von 1935 bis 1937 brachten eine regelrechte Swingwelle in Deutschland“.137 Erst 1937 wurde ein Verbot für den Verkauf von ausländischen Jazz- und Swingplatten erlassen und im Frühjahr 1938 verbot man alle Schallplatten, „an denen nichtarische Autoren oder Künstler mitgewirkt haben.“138 Viele deutsche Musikliebhaber besorgten sich daraufhin auf dem Postweg ihre Platten direkt im Ausland. Noch vorhandene Freiräume wurden erkannt und genutzt.

132

133 134 135 136 137 138

Zur Rolle von Jazz- und Swingmusik während des „3. Reiches“ siehe auch: KURZ: Swinging Democracy; POLSTER (Hg.): Swing heil; F. RITTER (Hg.): Heinrich Himmler und die Liebe zum Swing, Leipzig 1994; M. KATER: Gewagtes Spiel, Köln 1995; O. BENDER (Hg.): Swing unterm Hakenkreuz in Hamburg, Hamburg 1993; sowie POHL: „Schräge Vögel, mausert euch!“ In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.241-270. Vgl. KATER: Gewagtes Spiel, S.29. Interview mit K. Michaelis am 28.04.2008. Vgl. KURZ: Swinging Democracy, S.19f. KATER: Gewagtes Spiel, S.S.145f. KURZ: Swinging Democracy, S.34. KATER: Gewagtes Spiel, S.107.

306

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Auch waren in- und ausländische Orchester, welche Jazz- und Swingmusik spielten, Mitte der 30er Jahre in Deutschland auf Tournee und machten in Leipzig Station.139 Neben Berlin galten Hamburg, Leipzig und Düsseldorf als die „drei anderen bedeutenden Jazz-Zentren des Reiches.“140 Auch amerikanische Musikfilme wie „Broadway Melody“ wurden in den späten 30er Jahren in deutschen Kinos gezeigt, stellenweise noch nach 1939. Hier konnten die zumeist jugendlichen Filmbesucher sehen, wie zur Swingmusik getanzt wurde. Der Leipziger „Hot Club“ traf sich aller 14 Tage zum „Blue Monday“ bei einem der Mitglieder zu Hause, um Schellackplatten anzuhören.141 Während bei diesen Treffs nur männliche Mitglieder anwesend waren, ging man mit den Freundinnen zum Tanzen. Es wurden verschiedene Lokalitäten vorzugsweise im Leipziger Zentrum besucht, vor allem das berühmte Cafe „Drei Könige“, das „Central Theater“, aber auch der „Pavillon“ hinter dem Bildermuseum. Das musikalische Treiben in letzterem Etablissement fand jedoch nicht nur Freunde. So schrieb 1937 ein Wilhelm F. an die Leipziger SA-Führung, welche das Schreiben an das Jugendamt weiterleitete: „Auch heute noch ertönt aus den herrlichen […] Anlagen in der Hauptsache anwiderndes Jazzgejaule, anstatt Klänge von Wagner, Weber, Lortzing usw., wie sich dies für das Musikstadt wollende Leipzig gehört.“142 Der „Hot Club Leipzig“ fuhr außerdem gelegentlich nach Berlin, um in den bekannten Clubs, wie der „Femina“ oder der „Moka Efti“ Swingbands anzuhören und um ausgiebig zu tanzen.143 Im März 1939 wurde in Sachsen ein „Verbot undeutscher Tänze“ ausgesprochen. Von nun an war bei öffentlichen Veranstaltungen das „Swing“- und „Lambeth Wall“-Tanzen verboten, ebenso das „Hot-Spielen“ der Tanzkapellen, „insbesondere das übermäßige Ziehen und Jaulen der Instrumente“. Des Weiteren wurde das Spielen von „Potpourris und Tänzen aus Werken jüdischer Komponisten“ verboten.144 Für die Einhaltung waren zunächst die Gaststättenund Saalbetreiber verantwortlich. Inwieweit diese das Verbot in den Leipziger Lokalitäten sofort umsetzten, ist nicht bekannt. Zumeist werden die kommerziellen Überlegungen überwogen haben, jedenfalls wenn keine Kontrolleure anwesend waren. Während des Krieges gab es überdies zeitweise generelle Tanzverbote, weswegen man den Kapellen nur zuhören, aber zur Musik nicht tanzen durfte. „Hot Geyer“ stand seit Mitte der 30er Jahre mit mehreren amerikanischen Musikfreunden in Briefkontakt. Diesen widersprach er, dass Jazz und Swing in Deutschland verboten seien. Einer seiner in (nicht ganz korrektem) Englisch Telefoninterview des Verfassers mit Werner Tautz am 11.03.2008. KATER: Gewagtes Spiel, S.133. 141 Vgl. Ritter (Hg.): Heinrich Himmler, S.81. 142 Stadtarchiv JuA Nr. 335, Bl.106. 143 Kater: Gewagtes Spiel, S.152f. 144 Leipziger Neueste Nachrichten vom 04.03.1939, S.9. 139 140

8. Der „Hot Club Leipzig“

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verfassten Leserbriefe wurde 1937 in der September-Ausgabe der amerikanischen Musikzeitschrift „Tempo“ unter der Überschrift „Is Swing – or Something – Banned in Germany?“ abgedruckt. „Hot Geyer“ zitierte man: „It is not true that we have no Jazz in Germany for there are many jazzbanders. We have Brunswick records of all the famous hot stars, Armstrong, Red Nichols, the jazzy Mr. Ellington, and the Red Hot Benny Goodman’s boys. American newspapers are not telling you the truthfulness about our Jazz world over here because rather the people over her mostly don’t like much rhythm.”145

Warum „Hot Geyer“ hier das NS-Regime indirekt in Schutz nahm und die zuvor erlassenen Beschränkungen und Verbote für Jazzmusik in Deutschland ausblendete, kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden. Michael Kater unterstellt „Hot Geyer“ sogar „stark nationalistische Gefühle“, weil dieser sich 1935 freiwillig zum Reichsarbeitsdienst gemeldet hatte.146 Dieser Vorwurf muss als haltlos angesehen werden, jedenfalls fehlen weitere, stichhaltige Belege dafür. Interesse an Politik jedweder Art war im „Hot Club Leipzig“ generell kaum vorhanden.147 Der oben zitierte Brief kam zustande, weil es für den Leipziger „Hot Club“ zu diesem Zeitpunkt noch keine konkrete Beeinträchtigung ihrer Musikleidenschaft gab – im Gegensatz zu den Berichten in den erwähnten amerikanischen Zeitungen. Wie „Hot Geyer“ später immer wieder betonte, gab es nie ein totales Verbot von Swingmusik.148 Einer Art Selbstkontrolle schien sich der „Hot Club Leipzig“ jedoch auch schon zu dieser Zeit – bewusst oder unbewusst – unterzogen zu haben. In Bezug auf die später erfolgten GestapoAktionen gegen die offen auftretende Hamburger „Swingjugend“ resümierte „Hot Geyer“: „Wenn man sich unauffällig benahm so wie wir, da tat einem niemand was, weil es keine Angriffsfläche gab. […] Wir tanzten in dem Sinne nicht öffentlich wahnsinnig den Swing, denn auf der Tanzfläche war oft gar kein Platz. Wir tanzten beswingt in ordentlicher Manier.“149 Hieran wird deutlich, dass es dem „Hot Club Leipzig“ nicht um ein offenes Aufbegehren gegen einschränkende Verordnungen oder gegen öffentliche Anfeindungen ihrer Musik durch die NS-Propaganda ging. Was der NS-Staat Mitte/Ende der 30er Jahre noch an Freiraum zuließ, wurde akzeptiert. Dies reichte den „Hot-Club“Mitgliedern offenbar zum Ausleben ihrer Musikinteressen. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters war die Gruppe außerdem nicht mehr im Focus des HJStreifendienstes. 145 146 147 148 149

„Tempo“, Ausgabe September 1937; Kopie aus Privatarchiv von K. Michaelis im Besitz des Verfassers. KATER: Gewagtes Spiel, S.187. Interview mit K. Michaelis am 28.04.2008. Ebda. Siehe auch BENDER: Swing unterm Hakenkreuz, S.22. Interview mit K. Michaelis am 28.04.2008. Zum auffälligen Erscheinungsbild der Hamburger Swings siehe: PEUKERT: Edelweißpiraten, S.203f; Sowie KURZ: Swinging, S.53ff.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Mit Kriegsbeginn wurden mehrere Mitglieder des „Hot Club Leipzig“ zur Wehrmacht eingezogen. Der Kontakt untereinander blieb über den Postweg erhalten. In Leipzig entwickelte sich in der Folgezeit aus dem alten „Hot Club“ ein neuer Kreis von Jugendlichen aus bürgerlichen Familien um den Geburtsjahrgang 1925 herum. Diese hatten ihre Begeisterung für Jazz und Swing ausschließlich nach 1933 vorzugsweise über das neue Medium Radio erlangt und waren zuvor für einige Zeit Mitglieder der HJ bzw. des DJ gewesen. Die Staatsjugend war für diese Jugendlichen mit wachsendem Musikinteresse zunehmend unattraktiv geworden und bald blieben sie dem Dienst fern. Bereits 1938 war der damals 17-jährige Frohwalt „Teddie“ Neubert zum Hot Club Leipzig gestoßen. Neubert veranstaltete einige der Clubtreffen in seiner elterlichen Wohnung. Zu diesem Kreis stießen weitere Jugendliche, wie der „Halbjude“ Lutz Warschauer, Stefan Kryves, der Kunsthochschulstudent Ingfried Henze (Jg. 1925) und Werner Tautz (Jg. 1923)150, außerdem Herbert Becke aus gutbürgerlichem Hause, der nach 1933 zunächst Jungzugführer beim Jungvolk war. In der elterlichen Villa der Beckes war hierfür sogar ein Kellerraum für die Heimabende seiner DJ-Gruppe zur Verfügung gestellt worden. Nachdem Becke mit der Zeit das Interesse am Jungvolk verloren hatte, ging er zunächst mit Stefan Kryves und einem weiteren Freund privat auf Fahrt. Kryves soll übrigens um 1933 Mitglied einer Pfadfindergruppe gewesen sein.151 Ausschlaggebend für das Zusammenkommen war das Interesse an Jazzbzw. Swingmusik. Im Gegensatz zum „Hot Club“ der 30er Jahre gehörten dem neuen Kreis auch junge Frauen an. Bekannt sind Maria Rausch, die Freundin von Herbert Becke, und die Kunsthochschulstudentin Jutta Hipp (Jg. 1925). Becke wurde 1941 eingezogen. Zuvor hatte er noch seinen jüngeren Bruder Julius (Jg. 1927) mit Jazz „angesteckt“ Julius Becke traf sich in der Folgezeit mit anderen bei einem Jungen mit Spitznamen „Shark“ (Jg. 1929) auf dem ausgebauten Dachboden der elterlichen Villa, wo man zu den ersten Zigaretten Schellackplatten und die Jazz-Sendungen von Radio Luxemburg hörte.152 Neben Jutta Hipp am Klavier versuchten auch andere an Jazz und Swing interessierte Jugendliche ein Instrument zu lernen. Der zur Wehrmacht eingezogene Frohwalt „Teddie“ Neubert spielte Schlagzeug und war öfters in Leipzig auf Heimaturlaub oder ließ sich krankschreiben, um dem Fronteinsatz zu entgehen. Bei ihm fanden Sessions statt, an denen auch Werner Tautz am Klavier teilnahm.153 Ermittlungen seitens der Gestapo zum „Hot Club Leipzig“, wie etwa bei der Hamburger Swingjugend, sind weder in den 30er noch in den 40er Jahren er150 151 152 153

Vgl. KATER: Gewagtes Spiel, S.281. J. BECKE: Really the blues, Leipzig 1999, Das Buch beinhaltet die Kindheits- und Jugenderinnerungen von Julius Becke im Leipzig der NS-Zeit; S.24/25. Vgl. ebda. S.63f. Erinnerungsbericht von Werner Tautz, Juli 2008.

8. Der „Hot Club Leipzig“

309

folgt. Die Treffen in Privatwohnungen schützten die Jugendlichen zudem vor den Kontrollen des HJ-Streifendienstes. Ob sie ihre Zusammenkünfte selbst durch ein Mindestmaß an Verschwiegenheit (der Begriff Konspiration scheint in diesem Fall übertrieben) schützten oder ob das Desinteresse der NS-Organe durch die allgemeine Kriegssituation sie davor bewahrte, kann leider nicht mehr ermittelt werden. Festzuhalten ist, dass der Freundeskreis kein Interesse hatte, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Hier unterschieden sie sich stark z. B. von der Hamburger Swingjugend, welche ihren übernommenen angloamerikanischen Lifestyle in der Öffentlichkeit sichtbar auslebte und somit einen Gegenpol zur HJ bildete. Kontakte zu Leipziger Arbeiterjugendgruppen, die sich in den 40er Jahren ebenfalls zunehmend für Jazz und Swing interessierten, konnten nicht nachgewiesen werden. Ein Grund war, dass sie aus finanziellen Gründen nicht dieselben Lokale besuchten. Auffallend ist, dass mehrere Personen aus diesem Kreis Jazz und Swing nicht nur „konsumierten“, sondern während der NS-Zeit ernsthaft daran gingen, ein Instrument zu lernen, um selber diese Musik spielen zu können. Die nach Kriegsende teilweise beachtlichen internationalen Karrieren von einigen aus diesem Kreis sprechen für sich und sollen im Unterpunkt „Bürgerliche Jugendliche nach 1945“ noch Erwähnung finden. Mit der sich zuspitzenden Kriegssituation wurden die Mitglieder zu verschiedenen Diensten zwangsverpflichtet bzw. zur Wehrmacht eingezogen. Jutta Hipp beispielsweise, die zuletzt an der Leipziger Akademie Malerei studierte, musste in der Endphase in einer Waffenfabrik arbeiten.154 Julius Becke wurde ab Februar 1944 als Luftwaffenhelfer in der Nähe Leipzigs eingesetzt, im Sommer kam er zum RAD und anschließend zur Wehrmacht. Von seinem Fronteinsatz im Frühjahr 1945 in der Nähe von Cottbus flüchtete er im allgemeinen Chaos gen Westen über die Elbe in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Die Besonderheit des „Hot Club Leipzig“ liegt zum einen in seiner Resistenz gegenüber den NS-Anfeindungen gegen Jazz- und Swingmusik. Unbeirrt ging man seinen musikalischen Leidenschaften nach, auch nach 1940. Der Freundeskreis hatte sich im privaten Rahmen eine eigene Nische geschaffen, die nicht einmal mit juristischen Verboten kollidierte. Besonders die „zweite Generation“ des „Hot Club Leipzig“ zeigt deutlich, dass Jugendliche durchaus in der Lage waren, trotz massiver NS-Beeinflussung durch Schule, HJ und Medien, einen eigenen musikalischen Geschmack zu entwickeln und diese Interessen auch im gegebenen Maße auszuleben. Dass es sich bei einem Großteil dieser Jugendlichen um Oberschüler handelte, ist umso bemerkenswerter, weil bereits Mitte der 30er Jahre nahezu alle Gymnasiasten in Leipzig HJ-Mitglieder waren – im Gegensatz zu gleichaltrigen Berufsschülern.

154

Vgl. BECKE: Really the blues, S.70.

310

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

In Leipzig kam es nicht zu einer ähnlich ausgeprägten SwingjugendBewegung wie in Hamburg. Die Gründe können aufgrund der ungenügenden Quellen nur thesenhaft aufgeführt werden: - Versteht man die Swingjugend in Hamburg als Sammelbecken für Jugendliche, welche gegen die Staatsjugend eingestellt waren, so bedienten dies in Leipzig in den späten 30er Jahren die Meuten. Erst nach deren Zerschlagung verschwanden größtenteils die Einflüsse aus der Arbeiterbewegung sowie der Jugendbünde der Weimarer Zeit. Spätestens zu Beginn der 40er Jahre drang der angloamerikanische Lebensstil verstärkt zu Leipziger Arbeiterjugendlichen durch, in Form von Musik und Film.155 - Der „Hot Club Leipzig“, als möglicher Vorreiter für eine Ausbreitung dieser Jugendkultur, war in den 30er Jahren ein kleiner, geradezu elitärer Freundeskreis, welcher nicht in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollte. Somit konnte er keine Breitenwirkung unter nachfolgenden Jugendgenerationen erzielen. - In Leipzig gab es zu Beginn der 40er Jahre durchaus mehrere Jugendgruppen, welche sich für angloamerikanischen Lebensstil interessierten (siehe Kapitel „Broadway“). Die in anderen Städten von den Verfolgerorganen verwendete Bezeichnung „Swingjugend“ wurde in Leipzig nicht aufgegriffen. Dafür kursierte die aus den 30er Jahren stammende Selbstbezeichnung „Bündische Jugend“ noch zu stark unter den Jugendlichen. - Die Swingjugend in Hamburg wurde vor allem so massiv verfolgt, weil sich die Hamburger HJ-Gebietsführung an die Reichsjugendführung wandte, welche sich Anfang 1942 beim Reichsführer der SS Heinrich Himmler über das Treiben in Hamburg beschwerte und „entsprechende Maßnahmen“ gefordert hatte. Daraufhin ordnete Himmler an, dass man „brutal durchgreifen“ müsse, was Verhaftungen und auch KZ-Einweisungen nach sich zog.156 Da die jugendlichen Jazz- und Swing-Liebhaber in Leipzig nicht in dem Maße von den lokalen Verfolgungs- und Überwachungsorganen wahrgenommen wurden wie in Hamburg, stigmatisierte man sie auch nicht als „Swingjugend“ und es kam nicht zur Verfolgung wie seinerzeit bei den Leipziger Meuten.

9.

Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

Ende Januar 1943, zu einer Zeit, als sich das „Kriegsglück“ im Osten schon längst zugunsten der Roten Armee verschoben hatte, wurde die Anordnung 155 156

Bis zur deutschen Kriegserklärung an die USA liefen in den Kinos amerikanische Filme. Vgl. PEUKERT: Edelweißpiraten, S.155f., Abbildung der Schreiben der RJF an Himmler vom 8.1.1942 und Schreiben von Himmler an Heydrich vom 26.1.1942.

9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

311

über den „Kriegshilfseinsatz der deutschen Jugend in der Luftwaffe“ bekannt gegeben. Man stellte „alle Schüler der höheren und mittleren Schulen, die das 15. Lebensjahr vollendet haben, bis zur Einberufung zum Reichsarbeitsdienst oder zum Wehrdienst als Luftwaffenhelfer für den Kriegshilfseinsatz zur Verfügung“.157 Bereits 14 Tage später wurden die Geburtsjahrgänge 1926/27 in Leipzig gemustert. Wer den gesundheitlichen Eignungstest nicht bestand, blieb regulär in der Schule. Auch stark versetzungsgefährdete Schüler wurden 1943 nicht eingezogen. Die HJ konnte überdies Schüler vom Luftwaffenhilfsdienst befreien, wenn sie diese als Führer benötigte.158 Im Frühjahr befanden sich die ersten Leipziger Oberschüler in ihren „Stellungen“. Auch aus drei Mittelschulen wurden Luftwaffenhelfer rekrutiert. Die Schüler kasernierte man an den Einsatzorten, ihre Lehrer kamen zum Unterrichten in die Unterkünfte.159 Beaufsichtigt wurden die Luftwaffenhelfer vom Kommandeur der Flakeinheit und den jeweiligen „Betreuungslehrern“. Den HJDienst sollte der Mannschaftsführer der Flakeinheit durchführen, wobei aus den eingesehenen Akten nicht hervorgeht, ob der Kriegshilfsdienst bereits als Jugenddienst im Sinne der HJ angesehen wurde, oder ob zusätzlich noch Heimabende vorgesehen waren. In der Praxis hatte die HJ auf die Luftwaffenhelfer keinen Einfluss mehr. Die Gründe werden später noch erläutert. Mehrere Inspektionen des Schulamtes in den Flakstellungen 1943 und 1944 stuften die Stimmung und Motivation der eingesetzten Leipziger Schüler als „gut“ ein. Die Tätigkeit als Flakhelfer war zunächst für viele eine willkommene Gelegenheit, von der Schule wegzukommen, da der Unterricht in den Flakstellungen in der Praxis nur in sehr geringem Umfang stattfand. Viele Oberschüler verstanden ihre Einberufung daher als den Beginn eines „Abenteuers“.160 Am 4. Dezember 1943 erfolgte der erste groß angelegte Luftangriff auf Leipzig. Die Opfer unter der Zivilbevölkerung hielten sich jedoch im Vergleich zu anderen Städten relativ in Grenzen.161 Bei dem Bombardement entstand eine Vielzahl von Zerstörungen. Von den knapp 100 Schulen in Leipzig war etwa die Hälfte beschädigt, 17 waren völlig zerstört. Der gesamte Unterricht wurde erst Mitte Januar 1944 wieder aufgenommen. In einigen Gebäuden waren nun bis zu sechs Schulen untergebracht. Verschiedentlich wurden Schulkinder aus Leipzig

157 158 159 160 161

Anordnung des Reichsminister der Luftwaffe vom 26.1.1943; Zitiert nach JAHNKE: Jugend, S.439-442. Stadtarchiv Leipzig, Schul-Amt 2/417, Bd.2, Bl.131 u. 170. Siehe auch KLOSE: Generation, S.252f. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern; Siehe auch Becke: Really, S.85f. Ein Grund ist im „nicht luftschutzgerechten Verhalten der Leipziger Bevölkerung“ zu suchen, welche noch vor der offiziell verkündeten „Entwarnung“ die Luftschutzkeller verließ, um die Brände in ihren Häusern und Wohnungen zu löschen. Dadurch entkamen viele einem möglichen Erstickungstod in den Kellern. Vgl. B. HORN: Leipzig im Bombenhagel, Leipzig 1998, S.78.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

evakuiert.162 Die 1944 und 1945 folgenden Bombenangriffe sowie Beschlagnahmungen durch die Wehrmacht verschlechterten die Schulsituation weiter. Bereits seit dem Frühjahr 1942 wurde etwa ein Drittel aller Unterrichtsräume von Wehrmacht, Polizei und anderen NS-Institutionen belegt.163 Bis zum 1. September 1944 waren nach Angaben des Schul- und Bildungsamtes insgesamt 1.326 Leipziger Schüler als Luftwaffenhelfer eingezogen worden, Ende des Jahres waren es bereits knapp 2.000.164 Eine unbekannte Anzahl von ihnen kam bei den Einsätzen ums Leben.165 Mochten viele den stupiden HJ-Dienst und dessen Streifen als schikanierend empfunden haben, mit dem Eintritt zum Luftwaffenhelfer stiegen sie in der jugendlichen Hierarchie auf und fühlten sich mehr der Erwachsenenwelt zugehörig – obgleich sie wiederum von den Wehrmachtssoldaten nicht ernst genommen wurden.166 Dies zeigte sich auch symbolisch, wenn nach jedem Kampfeinsatz die jugendlichen Flakhelfer um Leipzig als Zusatzration Bonbons und Kekse erhielten, die Erwachsenen Alkohol und Zigaretten.167 Die HJ predigte nationalsozialistische Parolen, die Flakhelfer standen de facto an der Front. Darum wurden die HJ-Führer von vielen Flakhelfern auch als Drückeberger angesehen.168 Ob sich trotz eifrigem Dienst in der Stellung unter den Leipziger Flakhelfern ein eigenständiges politisches Bewusstsein herausgebildet hat, wie es in der Forschung stellenweise beschrieben wird, konnte anhand des Quellenmaterials nicht ermittelt werden.169 Die partielle Ablehnung der HJ als Störfaktor auf dem Weg zum Erwachsensein führte im Allgemeinen nicht zu einer Ablehnung des NS-Systems als Ganzes und des von ihm begonnenen Krieges.170 Während die HJ immer noch mittels weltanschaulicher Propaganda versuchte, die Jugend auf den totalen Krieg einzuschwören, fühlten sich die Flakhelfer als Pragmatiker am Geschütz, die ihre Aufgabe – nach ihrem Selbstverständnis die Verteidigung der Heimat – ohne die ideologischen Phrasen der HJ bewältigen konnten.171

162 163 164 165 166

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Vgl. HORN: Bombenhagel, S.58. Vgl ebda, S.95 und S.54. Stadtarchiv Leipzig, Schul-Amt 2/417, Bd.3, Bl.213; Horn: Bombenhagel, S.58. Ebda. Bl.182. Dies bestätigt für Leipzig auch das frühere HJ-Mitglied Wolfgang Renner (Jg.1927). Musste man in der Flakstellung die HJ-Armbinde tragen, wurde sie beim Ausgang von den Jugendlichen sofort abgemacht. Siehe Interview mit Renner in: SCHULMUSEUM (Hg.): Kinder in Uniform, S.25; Zur Problematik der Stellung der Flakhelfer in der Hierarchie von NS-Institutionen siehe außerdem KATER: Hitlerjugend, S.172ff. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern; Siehe auch BECKE: Really, S.85f. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern. Vgl. R. SCHÖRKEN: Luftwaffenhelfer und das Dritte Reich, Stuttgart 1984. Vgl. auch KATER: Hitlerjugend, S.177. Geradezu als Prototyp ist die Romanfigur Wolzow zu nennen aus DIETER NOLLS autobiographischen Roman: Die Abenteuer des Werner Holt, Berlin 1966.

9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

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Konnten anhand der eingesehenen Akten für die Jahre 1942 und 1943 mehrere Jugendgruppen beschrieben werden, die der HJ und dem NS-Staat reserviert bis ablehnend gegenüberstanden und oft zahlreiche vorsätzliche Übertretungen der Jugendschutzverordnung begingen, so fehlen für 1944 und 1945 solcherart Berichte für Leipzig. Die Gründe sind zum einen darin zu suchen, dass infolge des sich verschärfenden Krieges die Überwachungs- und Verfolgungsorgane sich kaum noch mit intensivem Schriftverkehr und Dingen wie der Einhaltung der Jugendschutzverordnung beschäftigen konnten. Andererseits wurden infolge der verstärkten Einberufungen zum Reichsarbeitsdienst und zur Wehrmacht, der Abkommandierung von Schülern als Luftwaffenhelfer sowie längerer Arbeitszeiten und Schichtdienste Jugendcliquen immer wieder auseinander gerissen und konnten somit nicht mehr in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten.172 Darum fand in dieser Zeit in Leipzig kaum noch eine freizeitorientierte Gruppenbildung statt. Die Leipziger Jugend bereitete den NS-Instanzen dafür zunehmend auf anderen Gebieten Probleme. Ende Juli 1944 meldeten die „Leipziger Neuesten Nachrichten“, dass die Jugendkriminalität im Steigen begriffen sei. Vor allem Diebstähle, gefolgt von Disziplinverstößen am Arbeitsplatz seien die verbreitetsten Delikte.173 Dieser Trend wurde auch in anderen Teilen Deutschlands zum Problem; besonders Arbeitsvertragsbrüche in Folge steigender Unlust am Schichtbetrieb und Mehrarbeit an einem zwangszugewiesenen Arbeitsplatz sorgten für diese Entwicklung.174 Der Wunsch nach individuell verlebter Freizeit überwog im Vergleich zum Dienst an der „Heimatfront“. Die juristische Verfolgung solcher Vergehen war in Leipzig zu dieser Zeit äußerst unterschiedlich. Offenbar wurde danach entschieden, ob und in welcher Art man einerseits Exempel statuieren musste oder mit milden Urteilen den Hass der Jugendlichen und deren Eltern auf den NS-Staat beschwichtigen wollte. So wurde beispielsweise im März 1944 vom Sondergericht Leipzig die 21-jährige Straßenbahnschaffnerin Charlotte Ringel wegen Diebstahls von Geldbörsen und Lebensmittelkarten als „Volksschädling und gefährliche Gewohnheitsverbrecherin“ zum Tode verurteilt.175 Ein gutes halbes Jahr zuvor war der 17-jähriger Bauschlosser Rolf Schultze wegen mehrfachen „schweren Diebstahls“ und Fälschung von HJ-Ausweisen vom Amtsgericht Leipzig lediglich zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden.176 Ein 17-jähriger Kraftfahrer erhielt im Januar 1944 wegen „böswilliger, gehässiger Äußerungen gegen Anordnungen und Einrichtungen des Staates und der Partei“ nach dem „Heimtückegesetz“ vom Landgericht 172 173 174 175 176

Siehe KENKMANN: Wilde Jugend, S.259. Zeitungsartikel aus LNN v. 23.07.1944, In: Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.3, Bl.136. Für Westdeutschland siehe Kenkmann: Wilde Jugend, S.289ff. Für den bayrischen Raum: KLÖNNE: Jugendprotest. In: BROSZAT (Hg.): Bayern, Bd.IV, S.593ff. StAL PP-S 3400/127, unpag. Das Urteil wurde am 26.7.1944 vollstreckt. Vgl. StaL PP-S 4108, unpag.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Leipzig fünf Monate Jugendgefängnis.177 Im Mai 1944 verurteilte das Jugendgericht einen 18-jährigen Schlosserlehrling wegen „Arbeitsvertragsbruch“ zu 18 Tagen Jugendarrest. Bei diesen beispielhaft aufgezeigten Urteilen unterschiedlicher Leipziger Gerichte wird sichtbar, dass man bei Jugendlichen unter 18 Jahren zu diesem Zeitpunkt offensichtlich mehr Nachsicht walten ließ. Hierbei werden auch Überlegungen eine Rolle gespielt haben, dass sie bald wieder ihrer Arbeit bzw. dem Wehrdienst zugeführt werden konnten. In diesem Zusammenhang ist ebenso das Urteil gegen Werner Teumer (siehe Kapitel „BroadwayGangster“) zu sehen. Auch die Leipziger Schüler bereiteten den NS-Institutionen zunehmend Sorgen. In einer Besprechung von Schulamt und HJ-Führung Mitte Dezember 1944 kamen beide zu der Einschätzung, „dass die Haltung der Schüler und Schülerinnen starken Anlass zu Klagen gibt. Besonders sind die Beschwerden über das Grüßen sehr zahlreich. Ursache der Missstände ist in der Hauptsache das Fehlen der Erzieher sowohl in der Schule als auch in der HJ.“178 Des Weiteren beklagte die HJ-Führung, dass Schüler, die aus Kinderlandverschickungslagern nach Leipzig zurückkehrten, sich vielfach nicht wieder zum HJ-Dienst meldeten. Daran wird erkennbar, dass das Interesse an der HJ unter den Schülern Ende 1944 weiter schwand. Der HJ-Bannführer bat darum, dass die Schulen auf die Schüler einwirken sollten, damit diese wieder den HJ-Dienst besuchen. Die Tatsache, dass die HJ das Schulamt „bittet“ und nicht forderte die Schüler zum HJ-Dienst zu schicken, zeigt deutlich, wie gering die Autorität der HJ unter Jugendlichen – trotz aller juristischen Instrumentarien – stellenweise war.179 Das hing natürlich auch damit zusammen, dass die Schüler inzwischen anderen NS-Institutionen wie dem RAD unterstanden oder als Luftwaffenhelfer tätig waren. Desinteresse am HJ-Dienst bzw. Erschwernisse bei dessen Ausübung waren Ende 1944 nicht die Folge solch chaotischer Zustände wie z. B. in Köln oder anderen westdeutschen Städten. In der stark zerstörten Rheinmetropole lebten zu diesem Zeitpunkt nur noch etwa 40.000 Menschen, Düsseldorf verfügte lediglich über etwa die Hälfte seiner 540.000 Einwohner aus dem Jahre 1939.180 In Leipzig hingegen blieb die Einwohnerzahl – vor allem aufgrund der Fremdund Zwangsarbeiter, zahlreicher Flüchtlinge aus Westdeutschland und den Ostgebieten – bis zuletzt relativ stabil und soll bei Kriegsende etwa 750.000 betragen haben.181 Trotz der zahlreichen Bombenschäden kam es in Leipzig

177 178 179 180 181

StAL PP-S 58/4, Bl.6. Stadtarchiv Leipzig JuA Nr.323 Bd.3, Bl.117. Ebda. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.244. Vgl. STEINECKE: Drei Tage, S.17; Eine andere Publikation zitiert die Stadtverwaltung von Ende 1944, die feststellte, dass Leipzig auf etwa 70% ihres Vorkriegsstandes gemindert

9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

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nicht zu einer vergleichbaren Extremsituation wie im fast entvölkerten westdeutschen Köln, wo 1944 einige Jugendliche sogar mit Waffengewalt gegen Vertreter des NS-Regimes vorgingen. Auch ist für Leipzig nicht bekannt, dass sich hier eine größere Anzahl Illegaler (desertierte Wehrmachtssoldaten und entflohene Zwangsarbeiter) verborgen hätten, wie dies für Köln bekannt ist. Die dortige Situation stellt somit einen Sonderfall in dieser Phase des Krieges dar.182 Im Vergleich dazu waren das öffentliche Leben und die soziale Kontrolle in Leipzig bis Kriegsende trotz aller Einschränkungen noch so weit intakt, dass es nicht zu einer bedrohlichen Radikalisierung von Jugendlichen kam.183 Dazu fehlte der in Köln herrschende übermäßige Druck vor allem der Gestapo auf Jugendliche zur Aufrechterhaltung der Ordnung, Die zahlreichen Dienstverpflichtungen jenseits des eigentlichen HJ-Dienstes in der Rüstungsproduktion, im RAD, in den Flakabteilungen und beim Brandschutz banden zudem die Jugendlichen in Leipzig bis zuletzt ein. Auch gab es in Leipzig nicht so viele Rückzugsmöglichkeiten wie in der „Ruinenlandschaft“ Köln. Die schwindende Autorität und zunehmende Bedeutungslosigkeit des HJ-Dienstes gegen Ende des Krieges kann jedenfalls für ganz Deutschland angenommen werden. Mit der Einrichtung des „Volkssturmes“ Ende September 1944, in dem alle 16- bis 60-jährigen Jungen bzw. Männer (später sogar schon ab 15 Jahren) zusammengefasst wurden, gab es zusätzlich ein Zwangsmittel, Jugendliche zum Kampf an der „Heimatfront“ zu verpflichten, sofern sie nicht bereits zur Wehrmacht eingezogen waren. Die in diesem Aufgebot zusammengezogenen Mitglieder der HJ standen ebenfalls nicht mehr unter HJ-Aufsicht. Festgelegt wurde, dass der Volkssturmdienst jedem anderen Dienst übergeordnet war.184 Somit muss von einem Zusammenbrechen des HJ-Dienstes insgesamt ab Ende 1944 gesprochen werden. Im Gegensatz dazu fand der Jungvolk-Dienst in Leipzig stellenweise bis in die letzten Tage des NS-Regimes statt.185 Durch die beständig näher rückenden Alliierten von Ost und West war Anfang 1945 ein Kampf um Leipzig immer wahrscheinlicher geworden. Auch die in den letzten Monaten mehrmals am Tage ausgelösten Fliegeralarme kündigten dies an. Von den Leipziger Schülern wurden für den „Volkssturm“ bereits die Geburtsjahrgänge 1929/30 in Wehrertüchtigungslagern für ihren bevorstehen-

182 183

184 185

war. Möglicherweise wurden die zahlreichen Flüchtlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen nicht mitgezählt. Siehe HORN: Bombenhagel, S.177f. Zur Kontroverse bei der Bewertung der Ehrenfelder Gruppe siehe RUSTINEK: Desintegration. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.271-294. Auch die amerikanische Besatzungsmacht stufte im Juni 1945 Leipzig, im Vergleich zu anderen Großstädten, noch als relativ intakte Metropole ein. Siehe K.-D. HENKE: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1996, S.701. Vgl. BUDDRUS: Totale Erziehung, Bd.1, S.54. Siehe Tagebucheintragung von Hanskarl Hoerning (damals 13 Jahre alt) aus Reudnitz vom 11.April 1945. In: STEINECKE: Drei Tage, S.131.

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V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

den Kampfeinsatz ausgebildet.186 Nachdem die sowjetischen Truppen Ende Januar bereits die Oder überschritten hatten, waren sie nur noch etwa 200 Kilometer von Leipzig entfernt, die Westalliierten etwa 400 Kilometer. Angesichts des geringen Widerstandes seitens der Wehrmacht an der Westfront konnten die amerikanischen Truppen jedoch binnen kurzer Zeit große Geländegewinne verbuchen. Durch rasche Vorstöße standen sie bereits am 12. April bei Pegau, nur noch elf Kilometer südlich von Leipzig. Wegen der begrenzten materiellen und personellen Möglichkeiten seitens der Wehrmacht kann bei den Vorbereitungen für eine Verteidigung Leipzigs allenfalls von Improvisationen gesprochen werden. Der Verteidigungsplan des für die Westfront zuständigen Oberbefehlshabers der Wehrmacht Generalfeldmarschall Albert Kesselring sah vor, einen ersten Verteidigungsring drei Kilometer vor der Stadt durch örtliche HJ-Einheiten errichten zu lassen, erst dahinter waren reguläre Wehrmachtseinheiten vorgesehen.187 Ebenso waren die wenigen um Leipzig verbliebenen Flak-Stellungen (und deren jugendliches Personal) für den „Erdkampf“ eingeplant worden. In der Stadt selbst wurden mehrere Straßensperren errichtet und Kampfverbände am Neuen Rathaus und im Völkerschlachtdenkmal konzentriert. Zeitgleich versuchten verschiedene NSInstitutionen, belastende Dokumente zu vernichten bzw. sich aus der Stadt abzusetzen. Die Leipziger Gestapo beispielsweise ließ einen Großteil ihrer Akten verbrennen. Wie brutal das NS-Regime bis zuletzt handelte, bezeugt die heimliche Erschießung von 52 Häftlingen in Lindenthal bei Leipzig am 12. April durch Gestapobeamte.188 Dass in den letzten Stunden des NS-Regimes führende Institutionen wie die Gestapo mit äußerster Brutalität hervortaten, ist auch für andere deutsche Städte, wie z. B. Köln, nachweisbar.189 Der Verteidigungswille der Leipziger Bevölkerung muss als gering bis nicht vorhanden eingestuft werden. „Es ging für die meisten Menschen nur darum, sich möglichst unbeschädigt in eine Zeit nach Hitler hinüberzuretten.“190 Die zahlreichen Bombenangriffe der letzten Monate hatten zur Kriegsmüdigkeit beigetragen. Darüber hinaus war vielen Leipzigern die tatsächliche Kriegslage – im Gegensatz zur offiziellen Propaganda – durchaus bewusst. Die Besetzung der Stadt schien unausweichlich und hierbei waren die Amerikaner, im Gegensatz zur weithin gefürchteten Roten Armee, für die Zivilbevölkerung das „kleinere Übel“. Auf umso weniger Verständnis stießen daher die Appelle der lokalen NS-Prominenz zur Verteidigung der Stadt. 186 187 188 189 190

Interview des Verfassers mit Herrn Weißflog (Jg.1930) am 09.03.2005 in Leipzig; HJWehrertüchtigungslager wurden seit 1942 durchgeführt. Siehe JAHNKE: Jugend, S.429f. Vgl. STEINECKE: Drei Tage, S.15. Siehe SCHMID: Gestapo Leipzig, S.55ff. Siehe auch RUSTINEK: Desintegration. In: BREYVOGEL (Hg.): Piraten, S.276ff. BEHRING: Das Kriegsende 1945. In: VOLLNHALS (Hg.): Sachsen, S.233.

9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

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Zeitgleich hatten sich die Reste des 1944 zerschlagenen Leipziger „Nationalkomitees Freies Deutschland“ reorganisiert.191 Neben einer neuen Leitung wurden Ortsgruppen in verschiedenen Stadtteilen gebildet. Am 14. April wandte sich das NKFD mit einem ersten Flugblatt an die Bevölkerung und forderte darin, Leipzig kampflos zu übergeben. Einen Tag später erschien in Leipzig ein weiteres illegales Flugblatt „Der Rufer“, ähnlich einer Zeitung im A4-Format mit mehreren Artikeln. Ein Bericht wandte sich unter dem Titel „Hitlerjunge oder Meuchelmörder?“ speziell an HJ-Mitglieder. Diese wurden aufgerufen, keinen Widerstand zu leisten, vor allem nicht den wenige Wochen zuvor vom NS-Regime bekannt gegebenen „Wehrwolf“-Gründungen nachzukommen. Der Artikel suggeriert, dass es in der Leipziger Hitlerjugend einsichtige Führer gäbe, die gegen mögliche Wehrwolfeinheiten vorgehen würden. Unterzeichnet wurde der Artikel mit: „Bann Leipzig (107) Anti-Wehrwolf“. Das anonyme Flugblatt wurde professionell layoutet und gedruckt und muss dem Leipziger NKFD zugeordnet werden.192 Inwieweit Leipziger HJ-Mitglieder diesen Aufruf zur Kenntnis genommen haben, ist nicht bekannt. Er zeugt aber von dem Selbstbewusstsein und taktischen Vorgehen seiner Verfasser im Hinblick auf eine angestrebte kampflose Übergabe der Stadt. Es ist nicht bekannt, ob es innerhalb der Leipziger HJ tatsächlich Kräfte gab, die auf eine widerstandslose Übergabe der Stadt an die Amerikaner hinarbeiteten. Im Gegenteil, die HJ-Führung muss bis zuletzt als eine der ideologischen und praktischen Stützen des NS-Regimes in Leipzig angesehen werden. Nachdem die US-Armee in einem großen Bogen Leipzig von Südost bis Nordost nahezu vollständig umschlossen hatte, startete sie am 17. April von Südwesten her den ersten Vorstoß. Die einzige bekannte reine VolkssturmEinheit aus HJ-Mitgliedern des geplanten äußeren Verteidigungsringes hatte südwestlich der Stadt mit 80 Angehörigen in Rehbach Stellung bezogen. Involviert waren auch Hitlerjungen aus dem benachbarten Markranstädt. Die Einheit unterstand dem Kommando eines SS-Mannes, der sich während des amerikanischen Angriffes absetzte und die HJ-Mitglieder führungslos zurückließ. Zwei Jungen starben, bevor Rehbach eingenommen wurde. Wie improvisiert und chaotisch die Verteidigung vonstatten ging, bezeugt der Bericht, dass eine HJ-Gruppe aus dem Leipziger Osten mit Patronen in der Tasche, aber ohne Gewehre an die Verteidigungslinie am südöstlichen Stadtrand geschickt wurde. Dort angekommen, flüchteten sie sofort wieder, nachdem amerikanische Panzer sie entdeckt und das Feuer eröffnet hatten. Auf einem Zwischenstopp in der elterlichen Wohnung wurde mindestens einer von seiner besorgten Mutter nicht mehr aus dem Haus gelassen, für ihn war der

191 192

Siehe auch TUBBESING: Nationalkomitee, besonders S.65f.; Siehe auch S.75. Vgl. Original-Flugblatt in: BArch SgY 12/V 238/4/158, unpag.

318

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

Krieg zu Ende.193 Es ist zu vermuten, dass eine Reihe weiterer umsichtiger Familienangehöriger auf ähnliche Weise ihre NS-ideologisch verblendeten Kinder von weiteren Widerstandshandlungen gegen die Amerikaner abgehalten haben wird. Von den „Volkssturm“-Einheiten sind insgesamt kaum nennenswerte Verteidigungsaktionen bekannt. Im Allgemeinen wurden sie beim Herannahen der Amerikaner von einsichtigen Führern aufgelöst, ohne dass sie überhaupt aktiv geworden waren. Auch hatten Anwohner sowie Mitglieder des Leipziger NKFD mehrere Einheiten zur Selbstauflösung überreden können.194 Während das westliche Stadtgebiet im Verlauf des 18. April nahezu kampflos eingenommen wurde und – organisiert durch das NKFD – große Teile der Zivilbevölkerung weiße Fahnen aus den Fenstern hängten, versuchten zwei Hitlerjungen an der Kreuzung Karl-Heine-/Ecke Zschochersche Straße in Lindenau, die vorrückenden amerikanischen Truppen noch aufzuhalten. Versteckt in einem Eckhaus schossen sie mit einer Panzerfaust einen herannahenden Sherman-Panzer ab. Einer der Hitlerjungen wurde daraufhin getötet.195 In anderen Fällen hatten bereits Anwohner in verschiedenen Stadtteilen HJ-Mitglieder entwaffnet, bevor die auf die vorrückenden Amerikaner schießen konnten.196 In einem Fall setzte sich ein Hitlerjunge im Leipziger Osten gegen seine Entwaffnung mit einer Panzerfaust zur Wehr und verletzte dabei zwei Menschen schwer.197 Die Entschlossenheit der eingesetzten HJ-Mitglieder zeigt deutlich, dass es sich – wie auch bei den zu diesem Zeitpunkt im Neuen Rathaus und im Völkerschlachtdenkmal sitzenden letzten kämpfenden Einheiten von Wehrmacht und NS-Funktionären – um fanatisierte NS-Anhänger gehandelt hat. In völliger Verkennung der militärischen Lage waren sie motiviert, einen von vornherein aussichtslosen Verteidigungskampf zu führen, auch gegen den Willen der eigenen Zivilbevölkerung, und hierfür notfalls den „Heldentod“ zu sterben. Die nationalsozialistische Beeinflussung der Jugend trug somit unter den 14- bis 18Jährigen ebenso Früchte, wie sie Gegner hervorgebracht hatte. Die bis zuletzt andauernde Brutalität des NS-Regimes bezeugt auch folgender Vorfall: Als am 18. April sich Teile Leipzigs bereits in amerikanischer Hand befanden, kam es am östlichen Stadtrand in Abtnaundorf noch zu einem Massaker an KZ-Häftlingen. Gegen Mittag hatte die SS, unterstützt von Volkssturm-Angehörigen, etwa 200 verbliebene Häftlinge eines KZ-Außenlagers in eine Baracke gesperrt und diese angezündet. Häftlinge, die dem Inferno zu 193 194 195 196 197

Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern. Siehe auch den Erlebnisbericht von Otto Bäßler, Januar 1963, In: StAL SEDErinnerungen V/5/016, sowie TUBBESING: Nationalkomitee, S.65ff. Vgl. STEINECKE: Drei Tage, S.42ff. Vgl. ebda. S.73f., sowie der abgedruckte Erinnerungsbericht von Heinz Kaufmann aus Thekla, S.223f. Vgl. ebda. S.53.

9. Leipziger Jugend im „totalen Krieg“

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entkommen versuchten, wurden, nach Recherchen des amerikanischen LIFEMagazins, auch von Hitlerjungen erschossen.198 Diese Information kam von einigen Überlebenden des Massakers, mit welchen die amerikanische Photographin Margaret Bourke-White wenige Stunden nach dem Verbrechen am Ort des Geschehens sprach.199 Hans-Dieter Schmid hingegen ermittelte keine beteiligten HJ-Angehörigen. Bei den Volkssturm-Männern soll es sich um ältere Personen gehandelt haben.200 Seit dem 19. April war Leipzig restlos von amerikanischen Truppen besetzt. In der ersten Bekanntmachung der Alliierten Militärregierung, welche am 19. April nachmittags in Kraft trat, wurde unter anderem bekannt gegeben, dass das „Hitlerjugendgesetz vom 1. Dezember 1936“ seine Wirksamkeit verloren hätte, ebenso alle darauf folgenden Ergänzungen.201 Nichtsdestotrotz traf sich einen Tag später, am Geburtstag Adolf Hitlers, im Leipziger Osten eine HJ-Gruppe bei ihrem Führer, welcher Durchhalteparolen ausgab und meinte, das Kriegsgeschehen könnte sich doch noch zugunsten der Nationalsozialisten wenden.202 Es ist anzunehmen, dass bis zur endgültigen deutschen Kapitulation am 8. Mai vereinzelte NS-Anhänger sich solchen Fantasien hingaben, ohne diesbezüglich in Leipzig aktiv zu werden. Ein letzter Hinweis über mögliche Aktivitäten der HJ findet sich in einem Schreiben vom 5. Mai 1945 vom damaligen Bürgermeister an den amtierenden Polizeipräsidenten Fleissner:203 „Es wurde mir mitgeteilt, dass sich in dem Grundstück Färberstr.11 noch ein Rest der früheren Hitler-Jugend und des Volkssturmes verborgen halten. Ich bitte, erforderliche Maßnahmen zu ergreifen.“204 Es ist nicht bekannt, ob dort tatsächlich illegale Treffen abgehalten wurden. Besonders im Hinblick auf den bereits bei der Verteidigung Leipzigs nicht nennenswert hervorgetretenen „Volkssturm“, ist dies sogar unwahrscheinlich. Die Leipziger HJ trat seit dem 18./19. April nicht mehr öffentlich in Erscheinung.

198 199 200 201 202 203 204

Vgl. Dokumentation der Reportage über die Einnahme Leipzigs für das LIFE-Magazin vom Mai 1945. In: STEINECKE: Drei Tage, S.225ff. Siehe auch M. BOURKE-WHITE: Deutschland April 1945, München 1979, S.93-96 (Die amerikanische Originalsausgabe erschien 1946). Vgl. SCHMID: Gestapo Leipzig, S.61ff. Zitiert nach STADTGESCHICHTLICHES MUSEUM (Hg.): Verwundungen, Leipzig 1993, S.147. Interview mit ehem. HJ-Mitgliedern. Das SPD-Mitglied Fleissner war bis 1933 Polizeipräsident in Leipzig und wurde nach der Befreiung durch die Amerikaner zunächst wieder in sein altes Amt eingesetzt. Stadtarchiv Leipzig Kap.3 Nr.70 Bh4 Bd.1, Bl.89; Die Färberstraße ist eine kleine Seitenstraße und befindet sich am nordwestlichen Rand des Stadtzentrums.

320

V. Phase III: Leipziger Jugend im Krieg

10. Einschätzung der Gruppen nach 1940 Die nach 1940 aktiven informellen Jugendgruppen aus dem Arbeitermilieu hatten kaum Berührungen mit der Zeit vor 1940 und erst recht nicht mit der Arbeiterbewegung vor 1933. Es handelte sich weitgehend um eine neue Generation, welche die Geburtsjahrgänge 1925 bis 1929 umfasste. Anhand der eingesehenen Quellen ist auffällig, dass diese Gruppen verstärkt ab 1942 in Leipzig in Erscheinung traten bzw. von den Verfolgerorganen wahrgenommen wurden. Über die Jahre 1940 und 1941 ist hingegen nichts überliefert. Die Gründe können nur thesenhaft zusammengefasst werden: - Die Generation der Leipziger Meuten war im Sommer 1939 relativ schnell verschwunden und hatte somit keinen „Nachwuchs“ herausbilden können. Wer nicht in Haft saß, zog sich ins Private zurück. Es gab außerdem nach Kriegsbeginn zahlreiche Einberufungen zur Wehrmacht, verbliebene soziale Kontakte wurden auseinandergerissen. Die Generation der Jahrgänge um 1920 fiel somit für weiteres oppositionelles Verhalten in der Stadt zum Großteil aus. - 1940 und 1941 waren die beiden Jahre, in denen sich die militärischen Erfolge des NS-Regimes geradezu überschlugen. Die Generation der Jahrgänge ab 1925 könnte zunächst in ihrem Pflichtdienst bei der HJ bzw. beim Jungvolk in größerem Umfang von dieser Euphorie mitgerissen worden sein. Auch standen sie durch die ab 1936 erfolgte jahrgangsweise Eingliederung der Schüler in das Jungvolk seit mehreren Jahren unter dem Einfluss nationalsozialistischer Propaganda. Widersprüche bildeten sich erst verstärkt nach den militärischen Niederlagen ab 1942 heraus. - Hauptverfolger der Leipziger Meuten war bis 1939 die Leipziger Gestapo. Wie bereits geschildert, wendete diese sich mit Kriegsbeginn anderen Aufgaben zu. Die Verfolgungsorgane wie HJ-Streifendienst, NSV und Jugendamt, welches für Verstöße gegen die Jugendschutzverordnung nun zuständig waren, hatten in den Jahren 1940 und 1941 wegen Personalknappheit und fehlender Koordination dem Treiben informeller Jugendgruppen relativ tatenlos zugesehen. Erst ab 1942 versuchte man der Jugendlichen wieder verstärkt Herr zu werden. 1942 und 1943 stiegen die Hinweise auf oppositionelle Arbeiterjugendgruppen und teilweise auch auf Schüler sprunghaft an – nach bisherigem Wissensstand jedoch in den Ausmaßen nicht vergleichbar mit der Beobachtung der Leipziger Meuten. Anders als in den 30er Jahren war der Dresscode nun betont zivil und unauffällig und eher der (bürgerlichen) Erwachsenenwelt angepasst. Bedeutung erlangten dafür verschiedene Abzeichen, um die eigene Haltung gegen die HJ offen zu zeigen. Diese Abzeichen waren bereits von den Leipziger Meuten getragen worden und verdeutlichen, dass es zwischen Meuten und „Broadway-Gangstern“ zumindest kulturelle Überschneidungen gab. Der Begriff „Bündische Jugend“ wurde, wie zuvor in den 30er Jahren, weiterhin als Sammelbezeichnung für Jugendliche jenseits der HJ verwendet.

10.

Einschätzung der Gruppen nach 1940

321

Im Gegensatz zu einigen Leipziger Meuten fehlten den Gruppierungen der Geburtsjahrgänge zwischen 1925 und 1929 fast völlig linkssozialistische Bezüge, sowohl was die politischen Gespräche betrifft als auch in Bezug auf Kleidungsstücke wie z. B. rote Halstücher. Erinnerungen an „bessere Zeiten“ vor 1933 waren aufgrund des Alters nicht vorhanden. Die Resistenz gegenüber dem NSSystem speiste sich darum in erster Linie aus zeitnahen eigenen Erfahrungen mit der Jugenddienstpflicht und der sich zuspitzenden Kriegssituation. Der immer wieder propagierte totale Anspruch der Nationalsozialisten auf die Jugend kollidierte mit deren alterstypischen individuellen Freizeitbedürfnissen. Darüber hinaus standen Anspruch und Wirklichkeit bei der Durchführung des HJ-Dienstes in starkem Widerspruch. Die HJ büßte nicht nur Sympathien, sondern auch Respekt ein. Sie war zu Beginn der 40er Jahre nicht mehr in der Lage, einen jugendgemäßen, geregelten Dienst durchzuführen. Wanderungen und Lagerfeuerromantik, welche in den 30er Jahren das „Jungvolk“ noch begeistert hatten, fehlten bei der HJ nach Kriegsbeginn. Der permanente Hilfseinsatz an der „Heimatfront“ bediente zwar die Kriegsromantik einiger Weniger, für viele stellte dies jedoch keine erstrebenswerte Freizeitbeschäftigung nach einem langen Arbeitstag dar. Sieht man, dem reichhaltigen Quellenmaterial folgend, in den Jahren 1942/43 einen Höhepunkt oppositionellen Verhaltens von informellen Jugendgruppen, so muss man festhalten, dass zu diesem Zeitpunkt Leipzig noch nicht Ziel der angloamerikanischen Bombenangriffe gewesen war. Die Herausbildung einer Antihaltung gegen den NS-Staat bzw. seine Institutionen bedurfte also nicht erst der chaotischen Zustände in einer zerbombten Stadt, sondern entstand bereits vorher aus seinen inneren Widersprüchen. Das Opponieren gegen die Staatsjugend aus einem eigenen Erkenntnisprozess heraus führte beispielgebend bei der Gruppe um Werner Teumer 1943 zu grundsätzlichen Diskussionen über den Sinn des Krieges. Die Verbreitung selbst verfasster Anti-KriegsFlugblätter zu dieser Zeit muss als Versuch des Widerstands gegen das NSSystem verstanden werden. Die Grenzen zwischen Geselligkeit und illegalen Aktionen waren hierbei fließend. Für die Endphase des Krieges in Leipzig ab 1944 konnte keine oppositionelle, informelle Jugendgruppenbildung mehr festgestellt werden, dafür ein Ansteigen der Jugendkriminalität und der zunehmende Bedeutungsverlust des HJDienstes. In dieser Zeit banden dafür andere Institutionen wie RAD und Luftschutz die Leipziger Jugend zwangsweise an sich.

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VI. Jugend in Leipzig nach 1945

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

Anders als bei Alfons Kenkmanns Untersuchungen für das Rhein-RuhrGebiet205 erschwert die spärliche Leipziger Quellenlage einen umfassenden Vergleich der überkommenen Gruppen mit den jugendspezifischen Entwicklungen nach 1945. Dennoch ist ein Überblick darüber möglich, in welcher Richtung sich verschiedene Mitglieder der einzelnen Jugendgruppen nach Kriegsende engagierten. Viele der Jugendlichen erlebten das Kriegsende nicht in Leipzig. Von den Nationalsozialisten verurteilte Jungkommunisten der Geburtsjahrgänge um 1915 warteten in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern auf ihre Befreiung und hofften auf Heimkehr. Die noch lebenden Mitglieder der Leipziger Meuten (geboren um 1920) befanden sich vielfach als Soldaten in Kriegsgefangenenlagern. Mitunter kamen sie erst Jahre später nach Leipzig zurück. Die Angehörigen der „Flakhelfergeneration“, z. B. Mitglieder der „BroadwayGangster“ (Jahrgänge um 1928), waren kurz vor Kriegsende ebenfalls noch zur Wehrmacht eingezogen worden. Wer diese letzten sinnlosen Kämpfe überlebt hatte, befand sich ebenfalls in Gefangenschaft. Erst nach und nach kehrten diese zum Teil noch sehr jungen Männer in den Folgewochen, -monaten und jahren in ihre Heimatstadt zurück.

1.

Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

Zehn Jahre zuvor waren die illegalen Strukturen von KJVD und SAJ in Leipzig zerschlagen worden. Es formierten sich daraus Gesinnungsgemeinschaften, welche in den späten 30er Jahren im kleineren Kreise in Sport- und Musikvereinen weitergeführt wurden. 1945 waren diese Männer und Frauen dem Jugendalter entwachsen. Dagegen waren die (jüngeren) Mitglieder der KdFJugendgruppe, die diese Mischung aus geselligem Zusammensein und gezielter politischer Schulung bis in die 40er Jahre hinein praktiziert hatten, 1945 wirklich noch Jugendliche. Sie kamen vorwiegend aus kommunistischen Elternhäusern. Um aufzuzeigen, wie sich die früheren Mitglieder der linkssozialistischen Jugendorganisationen nach 1945 in Leipzig politisch engagierten, muss zunächst überblicksartig auf die unmittelbare Nachkriegszeit und vor allem auf das mitt-

205

Siehe KENKMANN: Wilde Jugend.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

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lerweile halblegale NKFD als dominierende politische Kraft eingegangen werden.

a.

Das NKFD nach der Befreiung Leipzigs

Wie bereits ausgeführt, wurde unmittelbar vor dem Einmarsch der Amerikaner in Leipzig Mitte April 1945 das Leipziger NKFD reorganisiert. Hierbei engagierten sich die Mitglieder der KdF-Jugendgruppe zusammen mit älteren Kommunisten. In verschiedenen Stadtteilen bildeten sich örtliche Ausschüsse. Außerdem nahm das NKFD unmittelbar nach der Befreiung Kontakt mit der amerikanischen Militärverwaltung in Leipzig auf. Neben den langjährigen Kommunisten Bruno Plache, Kurt Roßberg und Karl Plesse nahm an dieser Unterredung auch das leitende Mitglied der KdF-Gruppe Martel Decker teil. Hieran wird ersichtlich, wie eng die Zusammenarbeit zwischen illegalen Kommunisten und der Jugendgruppe zuletzt war. Die Abordnung berichtete den Amerikanern über ihre bisherige illegale Tätigkeit und bot eine umfassende Zusammenarbeit an.206 Zwei Tage später schlugen sie das frühere Leipziger KPD-Stadtratsmitglied Paul Kloß als Oberbürgermeister vor.207 Wunsch und Wille der aktiven Leipziger Kommunisten, nach der Befreiung politische Verantwortung im Sinne antifaschistischer Politik zu übernehmen, war groß. Es wurden keine realitätsfernen Phrasen der frühen 30er Jahre verbreitet, sondern es ging vorrangig darum, im Sinne einer breiten politischen Mehrheit („Volksfrontpolitik“) den Wiederaufbau zu organisieren, die verbliebenen NS-Strukturen in Verwaltung und Politik zu beseitigen sowie die Verantwortlichen an den NS-Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Besatzungsmacht war von dem selbstbewussten und engagierten Auftreten des Leipziger NKFD überrascht und zunächst überfordert. „Unsere Militärbehörden sahen sich zum ersten Mal im deutschen Feldzug einer deutschen Untergrundbewegung von Größe und Gewicht gegenüber“, bemerkte der Nachrichten- und Abwehrdienst des VII. US-Korps wenig später geradezu anerkennend in einem Bericht.208 Doch einen Kommunisten zum OBM zu erklären, lag den Amerikanern fern. Sie ernannten am 23. April den nationalkonservativen Rechtsanwalt Dr. Hans Vierling zum Oberbürgermeister und setzten den bis 1933 amtierenden Polizeipräsident Fleißner (SPD) wieder in sein 206

207 208

Vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, S.76. Zum Problem der amerikanischen Militärverwaltung mit dem NKFD in Leipzig siehe W. L. DORN: Inspektionsreisen in der USZone, Stuttgart 1973, S. 34-39. Dorn war US-Bürger und Berater der Militärverwaltung in Leipzig 1945. Hierzu auch KLEßMANN: Staatsgründung, S.122. Der Bericht ist vom 15. Mai 1945. Zitiert nach STEINECKE: Drei Tage, S.82. Siehe auch DORN: Inspektionsreisen, S. 36f.

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VI. Jugend in Leipzig nach 1945

altes Amt ein. Mit dieser Aktion stießen die Amerikaner das NKFD vor den Kopf, denn Fleißner war den Kommunisten noch aus der Weimarer Zeit in schlechter Erinnerung.209 Hinzu kam, dass der Fleißner unterstellte Leipziger Polizeiapparat noch stark von NS-Anhängern durchsetzt war, welche nur zögerlich von der US-Militärverwaltung entfernt wurden.210 Der Aktionismus des NKFD, etwa die Besetzung aller NSDAP- und DAFGeschäftsstellen sowie ihre Anmeldung für eine Demonstration am 1. Mai, führten dazu, dass am 28. April die Besatzungsmacht jede weitere Tätigkeit zunächst untersagte. Sie berief sich auf das Verbot jeglicher politischer Betätigung in den besetzten deutschen Gebieten durch das Alliierte Oberkommando.211 Ein Grund für das Verbot war auch, dass es bei den Amerikanern keine genaue Vorstellung gab, um welche Personen konkret es sich beim Leipziger NKFD handelte. Zu diesem Zeitpunkt soll es bereits etwa 4.500 Mitglieder, verteilt auf 38 Ortsausschüsse, gehabt haben.212 Selbst wenn die Mitgliederzahl möglicherweise gegenüber der amerikanischen Militärverwaltung nach oben korrigiert wurde, um politische Relevanz zu demonstrieren, so muss dennoch gesagt werden, dass viele Menschen, vor allem schon immer linkssozialistisch orientierte, in dieser Zeit im NKFD ein Betätigungsfeld sahen. In keiner anderen deutschen Stadt hatten die Amerikaner eine größere autochthone AntifaBewegung vorgefunden.213 Das Leipziger NKFD war bestrebt, in der Stadt eine größtmögliche politische Relevanz zu erreichen. Die seit dem 14. April bestehende Leitung war darum etwa zehn Tage später um zwei Anhänger der SPD, einen Liberalen und zwei Pastoren erweitert worden. Alle 15 Leitungsmitglieder waren zuvor in Widerstandsgruppen aktiv gewesen.214 An dieser Zusammensetzung wird die Absicht deutlich, eine Sammlung aller antifaschistischen Kräfte in Leipzig voranzutreiben – obgleich es in der Folgezeit schnell wieder zu Lagerbildungen kommen sollte wie teilweise vor 1933. Einige langjährige Sozialdemokraten sahen im Nachgang das NKFD vorwiegend als kommunistische Organisation an und meinten, dass ihre Anwesenheit dort nicht immer erwünscht gewesen sei.215 „Diese ‚Vorherrschaft’ [des NKFD, d.Verf.] zu diesem Zeitpunkt lässt sich anhand verschiedener Faktoren erklären. Die Kontinuität des Widerstandes, die Flexibilität der han209 210 211 212 213 214 215

Hier ist vor allem der Polizeieinsatz gegen das Pfingsttreffen des KJVD in Leipzig 1930 zu nennen. Vgl. DORN: Inspektionsreisen, S.39. Zur amerikanischen Militärverwaltung und der Auseinandersetzung mit dem Leipziger NKFD siehe auch HENKE: Besetzung Deutschlands, S.701-714. Vgl. DORN: Inspektionsreisen, S.38; Siehe auch KLEßMANN: Staatsgründung, S.123. Vgl. HENKE: Besetzung, S.712. Vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, S.80. RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.172.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

325

delnden Akteure und die Entschlossenheit der organisierten Antifaschist/innen fielen zusammen mit der Unfähigkeit der anderen politischen Strömungen aus dem bürgerlichen bzw. traditionell sozialdemokratischen Spektrum, sich unter den gegenwärtigen Bedingungen wirkungsvoll zu reorganisieren.“216

Programmatisch ging es dem NKFD zu dieser Zeit zunächst um die restlose Entfernung aller Nationalsozialisten aus öffentlichen Ämtern und der Wirtschaft, die Bestrafung aller Schuldigen und den Aufbau eines freien, demokratischen Deutschlands. Zu beachten ist, dass in Teilen des damaligen Reiches und Europas noch bis zum 8. Mai gekämpft wurde. Diese Ziele formulierte das NKFD in Leipzig unabhängig von übergeordneten Instanzen, da die Kontakte zur Exil-Parteileitung der KPD immer noch unterbrochen waren. Unter der Bedingung, dass keine politische Organisation aufgebaut werde, entstand nach dem Verbot des NKFD Ende Mai in Leipzig auf Initiative entlassener kommunistischer Buchenwaldhäftlinge und unter der Leitung des früheren KPD-Funktionärs Fritz Selbmann217 der „Antifaschistische Block“, welcher als Nachfolgeorganisation des NKFD angesehen werden kann.218 Obgleich für alle Besatzungszonen ein Organisationsverbot bestand, gaben die Amerikaner in Leipzig den antifaschistischen Kräften nach anfänglichem Zögern nun die Möglichkeit sich zu organisieren. Die Vorwürfe in späteren DDR-Publikationen, dass die US-Besatzungsmacht an einer Demokratisierung nicht interessiert gewesen sei und die Kräfte unterstützt habe, die mit den Nationalsozialisten kooperiert hätten, stimmen daher nur teilweise.219 Von Anfang an ist die Besetzung Leipzigs durch amerikanische Truppen zeitlich begrenzt gewesen, deswegen konnte auch kein nachhaltiger Verwaltungsaufbau betrieben werden. Die frühere basisdemokratische Struktur des NKFD verschwand beim Antifaschistischen Block zugunsten des zunehmenden Einflusses der seit Ende April bestehenden Bezirksleitung der KPD in Leipzig. Die Skepsis der Sozialdemokraten gegenüber der zunehmenden Dominanz der Kommunisten spiegelte sich auch in der Konstituierung eines „Sozialpolitischen Ausschusses“ Mitte Mai wider. Vor allem ältere Sozialdemokraten, welche teilweise nach 1933 illegal tätig gewesen waren, arbeiteten am Wiederaufbau der SPD. Doch nicht alle früheren SPD-Mitglieder wollten zwangsläufig eine Wiedergründung ihrer Partei. Einige Leipziger Sozialdemokraten sahen die Möglichkeit eines Neuanfangs der Arbeiterbewegung und somit die Gründung einer Einheitspartei, um die

216 217 218 219

TUBBESING: Nationalkomitee, S.78. Selbmann war vor 1933 Politischer Leiter der KPD in Sachsen gewesen und Mitte Mai 1945 aus dem KZ Sachsenhausen nach Leipzig gekommen. Vgl. HENKE: Die amerikanische Besetzung, S.713; Zur Programmatik, Struktur und Funktion des Antifaschistischen Blocks siehe TUBBESING: Nationalkomitee, S.85f. Vgl. H. WEISSFLOG: Wir sind Deutschlands neues Leben, Leipzig 1959, S.19.

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VI. Jugend in Leipzig nach 1945

frühere Spaltung zu überwinden.220 Parallel dazu arbeiteten die Kommunisten in den Folgemonaten am Wiederaufbau der KPD. Mit dem am 2. Juli 1945 vollzogenen Wechsel der Besatzungsmacht kam Leipzig unter sowjetische Verwaltung. Die Kommunisten hatten nun die Möglichkeit, den Wiederaufbau sowie die weiteren gesellschaftspolitischen Entwicklungen verstärkt in ihrem Sinne voranzutreiben. Noch existierte der unter den Amerikanern entstandene Antifaschistische Block, in dessen Zentralausschuss Mitte Juli jeweils 26 Vertreter der SPD, der KPD und des bürgerlichen Lagers (LDP und CDU zusammengefasst) saßen. Jedoch war das Ende dieses Gremiums bald besiegelt. Nur zwei Tage nach dem Besatzungswechsel reiste der ehemalige Leipziger Walter Ulbricht, welcher zur Moskauer Exil-Führung der KPD gehörte, in seine alte Heimatstadt, wo er den örtlichen Kommunisten massive Vorhaltungen über ihre bisherige Arbeit gemacht haben soll.221 Dies ist umso unverständlicher, da die Arbeit der Leipziger Kommunisten unter den Bedingungen der amerikanischen Besatzung keineswegs als erfolglos bezeichnet werden kann. Jedoch lag sie für Ulbricht nicht auf der Linie der Moskauer ExilFührung. Mitte August kam es zu einer ersten „Säuberungsaktion“ des Berliner ZK bei der Leipziger KPD-Bezirksleitung. Lediglich zwei Mitglieder des frühren illegalen NKFD blieben in der Parteispitze, unter ihnen Helmut Holtzhauer, langjähriges illegales KJVD-Mitglied. Damit setzte das ZK der KPD eine zentralistische, einheitliche Struktur durch, in der es keine regionalen oder lokalen Sonderwege geben durfte.222 Die KPD wie auch die SPD konnten sich bei ihrer Wiedergründung zunächst nur auf ältere Mitglieder stützen, welche bereits vor 1933 diesen Parteien angehörten. Das hing auch damit zusammen, dass potentielle jüngere männliche Mitglieder sich zum Großteil noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Dennoch erreichte die Leipziger SPD bereits Ende 1945 wieder ihre Mitgliederzahl von 1933, etwa 44.000 im gesamten Bezirk Leipzig.223 Daran wird deutlich, dass die sozialdemokratische Gesinnung vieler gestandener Mitglieder und Sympathisanten durch die NS-Zeit gehalten hatte. Die KPD kam zeitgleich auf etwa 14.000 Mitglieder,224 konnte ihren Mitgliederstamm aber offenbar innerhalb der nächsten Monate bis zum März 1946 verdoppeln.225

220 221 222 223 224 225

Vgl. RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.173f. Vgl. RUDLOFF: SED-Gründung in sozialdemokratischer Hochburg. Das Beispiel Leipzig. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.381; Sowie TUBBESING: Nationalkomitee, S.104. Siehe hierzu auch KLEßMANN: Staatsgründung, S.123. Vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, S.128. Vgl. ebda. S.132. Vgl. RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.211; Letztere Zahl stammt vom Protokoll der Org.-Konferenz des SED, Bezirk West-Sachsen. Möglicherweise wurde die KPD-Zahl

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

327

Es waren in der Leipziger SPD einerseits nicht viele, die sich offen gegen eine Zusammenarbeit mit der KPD aussprachen. Andererseits waren aber auch die expliziten Befürworter um Dr. Erich Zeigner in der Minderheit. Unterstützt wurde Zeigner vor allem von der jüngeren Generation der 17- bis 25-Jährigen, die sich in Arbeitsgemeinschaften organisiert hatten. Sie waren zum Teil früher Mitglieder der Roten Falken bzw. der SAJ gewesen und sahen in der wieder gegründeten KPD eine erneuerte Partei.226 Dies lag auch daran, dass die neuen KPD-Mitglieder wesentlich jünger waren als die SPD-Genossen.227 Somit fanden die jungen Sozialdemokraten eher mit gleichaltrigen Kommunisten eine gemeinsame Sprache als mit älteren SPD-Mitgliedern.228 Am 31. März 1946 wurde in Leipzig die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vollzogen.229 Daran hatte auch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) im Sinne der KPD aktiv mitgewirkt, was aus Platzgründen nicht näher dargestellt werden kann.230 Das Interesse an der Mitgliedschaft in der SED war groß, in der Hoffnung auf eine neue Partei, die einen antifaschistischen, demokratischsozialistischen Staat aufbauen wollte. Im August 1947 verfügte die SED nach eigenen Angaben bereits über 87.000 Mitglieder im Bezirk Leipzig.231 Das sind mehr Mitglieder als KPD und SPD zuvor zusammen hatten. Die Zahl kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa 25 bis 35 Prozent der Leipziger SPD-Mitglieder nicht der SED beigetreten sein sollen.232

b.

Organisierte Jugendarbeit nach 1945

Die Mitglieder der KdF-Gruppe sowie viele der aus den Gefängnissen entlassenen früheren KJVD-Mitglieder engagierten sich unmittelbar nach der Befreiung im NKFD und fühlten sich für eine neu aufzubauende Jugendarbeit zuständig. Da ein Großteil der Leipziger Jugendlichen bis Kriegsende vom Nationalsozialismus indoktriniert worden war, wollte man eine Jugendarbeit anbieten, welche

226 227 228 229

230 231 232

auch nach oben korrigiert, um bei der neu gegründeten SED mehr Einfluss legitimieren zu können. Vgl. RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.193. Vgl. ebda. S.197. Siehe RUDLOFF: SED-Gründung. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.395. Zu den vorangegangenen Auseinandersetzungen auch innerhalb der SPD siehe RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.196-215; Außerdem: RUDLOFF: SED-Gründung. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.371-414; Zur Vereinigung von KPD und SPD siehe auch Kleßmann: Staatsgründung, S.135-141. Siehe RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.200f. Vgl. TUBBESING: Nationalkomitee, S.139. Zur weiteren Entwicklung der SED sowie zur schrittweisen Zurückdrängung der Sozialdemokratie siehe ebda. S.140ff.

328

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

sich ohne jede militärische Ausrichtung wieder an (damals) jugendgemäßen Themen wie Musik, Tanz und Wanderungen orientierte. Ein weiteres Ziel war die Sammlung aller antifaschistisch gesinnten Jugendlichen in einer Organisation analog zum NKFD bzw. dem Antifaschistischen Block. Die ersten konkreten Besprechungen hierfür gab es bereits kurz nach der Befreiung Leipzigs in der Wohnung der Nothnagels. Für einzelne Stadtteile teilte man jeweils zwei Mitglieder als Beauftragte ein. Mitte Mai gab es eine erste öffentliche Veranstaltung im Kleingartenverein „Elstertal“ in Leipzig-Möckern.233 Das frühere KdFGruppenmitglied Karl Hauke erinnerte sich: „Noch in der Zeit, als die Amerikaner in Leipzig waren, hatte ich in den Meyerschen Häusern eine Jugendgruppe neu gebildet. Dazu hatten wir die ehemalige Baracke der HJ okkupiert und haben Veranstaltungen durchgeführt. Wenn die Amis dort vorbeigefahren sind, haben wir schnell die Fensterläden zugemacht, denn so was war ja noch verboten. Am 21. oder 22. Juni hatten wir eine Sonnenwendfeier gemacht. Wir machten ein Sonnenwendfeuer und verbrannten die Fasstrommeln der Nazis, die waren in dem Jugendheim vergraben worden. Leider kamen diese Trommeln ja später wieder zu hohem Ansehen. Das war ein wildes Völkchen, was dort die erste Zeit da war. Es wurde hauptsächlich getanzt.“234

Man versuchte von Anfang an auch die früheren Jungvolk- und HJ-Mitglieder nicht sich selbst zu überlassen, sondern für sie neue, ungezwungene Freizeitangebote zu schaffen. Neben der KdF-Gruppe beschäftigte sich die illegale KPD-Leitung im Konzentrationslager Buchenwald, das am 11. April 1945 befreit wurde, mit dem Thema Jugendarbeit in Leipzig. Nachdem Mitte Mai die dort inhaftierten Leipziger, 100 an der Zahl, in ihre Heimatstadt entlassen wurden, bekam das frühere illegale KJVD-Mitglied Hermann Axen den Auftrag, die Jugendarbeit zu organisieren. Alfred Nothnagel kehrte wenige Tage später am 26. Mai aus seiner Haft nach Leipzig zurück und bildete mit Hermann Axen die „provisorische Leitung der Leipziger Jugend“235. Die Ankunft der Kommunisten aus Buchenwald, welche in Leipzig die Partei- und Jugendarbeit aufbauen wollten, löste teilweise Meinungsverschiedenheiten mit der früheren KdF-Gruppe aus, die mit der Arbeit bereits begonnen hatte. Walter Kern, der unmittelbar nach der Befeiung für den Leipziger Osten eingeteilt worden war und in der Folgezeit dort den Bezirksjugendausschuss leitete, sah sich Mitte Mai plötzlich Karl Stenzel236 gegenüber, der von der KPD-Leitung in Buchenwald ebenfalls den Auftrag

233 234 235 236

Erinnerungsbericht K. Scheffler, S.14. Interview mit K. Hauke. Hermann Axen wechselte 1946 in das Sekretariat des FDJ-Zentralrates nach Ost-Berlin. K. Stenzel war Ende 1934 als illegales KJVD-Mitglied im Leipziger Osten aktiv gewesen.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

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hatte, die Jugendarbeit im Leipziger Osten zu organisieren. Walter Kern sprach sogar von „Reibereien“ mit Karl Stenzel.237 Neben der praktischen Arbeit in den Stadtteilen trat man außerdem im Mai 1945 an den Leipziger Kreisjugendpfarrer Heinz Wagner heran und sprach mit ihm über die künftige „Führung und Betreuung der Jugend“.238Auch soll es noch unter amerikanischer Besatzung den Versuch gegeben haben, diese Jugendgruppe unter dem Namen „Freie Deutsche Jugend“ zu legalisieren, was von den Amerikanern unter Verweis auf das für ganz Deutschland geltende Verbot politischer Betätigungen nicht genehmigt wurde. Die Aufbauarbeit ging jedoch weiter. Im Juni sollen die Jugendgruppen in den verschiedenen Stadtteilen insgesamt bereits 400 Mitglieder gehabt haben. Ende Juni, als klar war, dass in wenigen Tagen die Rote Armee als neue Besatzungsmacht in Leipzig eintreffen würde, fand in einem früheren HJ-Heim, dem ehemaligen „Eiskeller“ in Connewitz, die erste Jugendkonferenz der „Freien Deutschen Jugend“ statt.239 Hierbei lehnte man sich bei der Namensgebung an die bereits im englischen und französischen Exil gegründete Jugendorganisation an. Die Verwendung des Namens „Freie Deutsche Jugend“ zeigt, dass die Gruppenmitglieder in den vorangegangenen Jahren – zumindest über ausländische Radiosender – Kenntnis von Gestalt und Ziel der FDJ bekommen haben müssen. Diese „Gründung von unten“ wurde, für viele der Akteure womöglich überraschend, durch die neue Besatzungsmacht gestoppt. Am 2. Juli 1945 kam Leipzig unter sowjetische Verwaltung. Die SMAD hatte in der von ihr verwalteten Zone bereits am 10. Juni die Gründung von Parteien und Gewerkschaften gestattet. Innerhalb kurzer Zeit gründeten sich die KPD und die SPD wieder sowie die Liberaldemokratische Partei und die Christlich-Demokratische Partei. Mitte Juli wurde aus diesen Parteien die von der SMAD geförderte „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“.240 Der Aufbau von Jugendorganisationen blieb hingegen vorerst ausdrücklich verboten.241 Offenbar fürchtete man, dass die Jugendlichen noch zu stark nationalsozialistisch indoktriniert waren und traute den regionalen antifaschistischen Kräften nicht zu, eine völlig erneuerte Jugendarbeit auf Verbandsbasis zu 237

238 239 240 241

Siehe Protokoll der Aussprache von Walter Kern am 20.02.1966. In dem maschinenschriftlichen Protokoll des Gespräches 1966 hatte Jahnke zunächst - aufgrund Kerns Aussagen - notiert, dass Stenzel von der KPD-Leitung aus Buchenwald diesen Auftrag erhalten hatte. Beim Gegenlesen durch W. Kern strich er diese Aussage und ergänzte handschriftlich: „von wem ist mir nicht bekannt“. Möglicherweise war ihm im Nachgang diese Behauptung zu „heiß“, da dies die Konfusion der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Kompetenzrangeleien der verschiedenen KPD-Leitungen aufzeigte. C. KAUFMANN: Agenten mit dem Kugelkreuz, Leipzig 1995, S.27. Vgl. WEISSFLOG: Wir sind Deutschlands, S.21f. Vgl. U. MÄHLERT/G.-R. STEPHAN: Blaue Hemden, rote Fahnen. Opladen 1996, S.13f. Siehe Abschrift der „Mitteilung über die Schaffung Antifaschistischer Jugendkomitees“ in ebda. S.18; Vgl. auch WEISSFLOG: Wir sind Deutschlands, S.24f.

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VI. Jugend in Leipzig nach 1945

leisten. Wie in der gesamten Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gestattete man in Leipzig Ende Juli lediglich die Bildung eines Antifaschistischen Jugendausschusses, welcher an die Stadtverwaltung angegliedert wurde.242 Diesem Gremium maßen Besatzungsmacht und Stadt große Bedeutung hinsichtlich der Betreuung der Leipziger Jugend bei. In den Folgemonaten waren bereits 30 Personen hauptamtlich in der städtischen Jugendarbeit tätig.243 Für August 1945 sind außerdem zwanglose Fahrten der neu gegründeten Jugendgruppen der einzelnen Stadtteile in die nähere Umgebung Leipzigs bekannt.244 Die Zusammensetzung des Jugendausschusses aus Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen erfolgte, zumindest auf dem Papier, paritätisch. Die KPD hatte dies jedoch strategisch unterlaufen. Mehrere ihrer Anhänger, vor allem Mitglieder der früheren KdF-Jugendgruppe, hatten im Juni 1945 den „Parteiauftrag“ bekommen, der SPD beizutreten, um dort Einfluss auf Entscheidungen in Richtung einer Einheitspartei zu nehmen.245 Zu den Mitgliedern der KPD im Jugendausschuss gehörten Hermann Axen, Hans Thoma, Max Zaspel, Liesbeth Kern und Hasso Grabner. Letzterer war zeitweise auch der Leiter des Ausschusses. Mehrere von ihnen hatten vor 1933 dem KJVD angehört und anschließend illegal gearbeitet, Liesbeth Kern gehörte zur KdFGruppe. Von der SPD kamen Werner Thalheim246, Fritz Füßler, Richard Füchsel sowie die beiden früheren KdF-Gruppenmitglieder Anni Strauß und Alfred Nothnagel. Besonders bei Nothnagel ist klar, dass er nicht aus Überzeugung in die SPD eingetreten war, sondern sich seit Ende der 30er Jahre als Kommunist verstand. Bei Anni Strauß ist das ebenso anzunehmen.247 Thalheim und Füßler waren während der NS-Zeit illegal aktiv und wurden von Seiten der KPD als „fortschrittlich“ angesehen, hingegen sah man in Richard Füchsel einen „Rechten“ innerhalb der SPD. Dies ging so weit, dass man Füchsel Anfang 1946 aus dem Ausschuss ausschloss.248 Zum Jugendausschuss gehörten außerdem die Vertreter der christlichen Jugend Anneliese Weisbender, Otto Gallus (Jg. 1907)249, Walter Trobisch (Jg. 242 243 244 245 246

247 248

249

Allein in Sachsen soll es Anfang 1946 fast 200 Jugendausschüsse gegeben haben. Vgl. SCHMEITZNER: Im Schatten, S.35. Kaufmann: Agenten, S.30. Vgl. StAL IV/5/01/531, Fahrtberichte vom 19.8.1945, unpag. Vgl. StAL V/5/313 Erinnerungsbericht A. Nothnagel, Bl.184. Thalheim war KPO-Mitglied, 1931 in die SAP eingetreten und nach 1933 nach Frankreich emigriert. Vgl. RUDLOFF: SED-Gründung. In: BRAMKE/HEß (Hg.): Wirtschaft, S.395. Sie bekleidete später eine leitende Funktion beim Zentralrat der FDJ in Ost-Berlin. Vgl. StAL V/5/313 Erinnerungsbericht A. Nothnagel, Bl.184; Füchsel (1904-1949) später auch SED-Mitglied, soll sich erschossen haben, kurz nachdem er in die sowjetische Kommandantur bestellt worden war. Siehe RUDLOFF/ADAM: Leipzig-Wiege, S.222. A. Weisbender und O. Gallus waren Gründungsmitglieder der CDU in Leipzig, welche sich am 4. August 1945 konstituierte. Gallus, geboren in Bonn, kam aus der katholischen

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

331

1923), Herbert Dost (Jg. 1908)250 und Richard List.251 Dies zeigt, dass man die zuvor von den Nationalsozialisten bekämpfte kirchliche Jugendarbeit zunächst als legitimes Betätigungsfeld ansah und sie anfangs auch brauchte. Einige wenige engagierte Pfarrer und Gemeindemitarbeiter hatten es bis in die Kriegsjahre hinein geschafft, im kleinen Umfang Jugendarbeit in den Kirchen zu ermöglichen, wenngleich diese auch auf rein religiöse Themen beschränkt war. „Für die evangelisch-lutherische Landeskirche wie für die katholische Kirche bedeutete das Kriegsende 1945 und der Beginn der sowjetischen Besatzung keinen völligen Neuanfang, sondern in jugendpolitischer Hinsicht ein Wiederanknüpfen an bestimmte Strukturen aus der Zeit vor 1933 und während des ‚Dritten Reiches’.“252 Darum wurde neben der Mitarbeit im Jugendausschuss zeitgleich auch der Aufbau von Jugendgruppen in den Kirchgemeinden vorangetrieben. Dem Ausschuss gehörten weniger Jugendliche im engeren Sinne als vielmehr junge Erwachsene an. Viele von ihnen hatten aber ihre sozialen Wurzeln in der Jugendbewegung der 20er Jahre bzw. waren als Jugendliche nach 1933 illegal aktiv gewesen. Obgleich der Jugendausschuss an die Stadtverwaltung angegliedert war und offiziell keiner Partei oder Konfession unterstand, agierte er politisch mit dem Ziel, eine einheitliche legale Jugendorganisation unter kommunistischem Einfluss vorzubereiten. Der Landesjugendsekretär der KPDSachsen Robert Bialek äußerte auf einer Konferenz im Oktober 1945, dass dafür die Schlüsselpositionen der Jugendausschüsse mit Kommunisten besetzt sein müssen.253 Man wollte jede Zersplitterung vermeiden und verstand sich als Interessenvertreter aller Jugendlichen. Auch kam dem Ausschuss die Aufgabe zu, die Jugend vom Nationalsozialismus zu lösen und für den Neuaufbau Deutschlands zu gewinnen. Eine der Hauptaufgaben des Jugendausschusses bestand darum vor allem darin, den aus dem Krieg heimkehrenden Jugendlichen wieder eine geregelte Arbeit zu ermöglichen. Neben Arbeitseinsätzen und politischen Bildungsveranstaltungen organisierte der Jugendhilfeausschuss kulturelle Großveranstaltungen, wie z. B. Tanzabende. Für die Basisarbeit waren in den einzelnen Stadtteilen die „Wohngruppen“ verantwortlich. Diese führten an zahlreichen Wochenenden Fahrten in die Natur durch. Hatte man kurz nach

250

251 252 253

Jugendbewegung. 1948 wurde er verhaftet und in Dresden wegen Spionage zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. 1956 entlassen, siedelte in die BRD über. H. Dost arbeitete seit 1938 im kirchlichen Dienst und soll während der NS-Zeit kurzzeitig inhaftiert gewesen sein. Nach 1945 gehörte er ebenfalls zu den Mitbegründern der CDU. In den Folgejahren war er Diakon und ab 1951 Leiter der Leipziger Spielgemeinde. 1953, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen SED und „Jungen Gemeinden“, wurde er verhaftet und saß vier Monate in U-Haft. Namenliste siehe StAL V/5/313 Erinnerungsbericht A. Nothnagel, Bl.184; Siehe auch WEISSFLOG: Wir sind Deutschlands, S.26. SCHMEITZNER: Im Schatten, S.13. Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.24f.

332

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

der Befreiung Leipzigs etwa 80 Jugendliche erfasst (bei denen es sich um Personen aus der KdF-Gruppe und deren Umfeld gehandelt hat), so sollen es im Februar 1946 bereits 7.900 Mitglieder gewesen sein, vorwiegend aus Arbeiterfamilien.254 Das waren mehr Mitglieder, als 1932 KJVD und SAJ in Leipzig zusammen hatten. Die vielen Mitglieder kamen zustande, weil die Basis nun über eine größere Heterogenität verfügte. Hier fand sich 1946 auch eine ganze Anzahl christlich orientierter Jugendlicher und früherer HJ-Mitglieder zusammen. Die bis 1945 verbliebenen Anhänger des KJVD und der SAJ in Leipzig konnten keinesfalls knapp 8.000 Personen stellen. Der Einfluss des Jugendausschusses auf die Oberschüler war hingegen gering.255 Hinzu kam, dass sich seit 1946 an vielen Gymnasien in der SBZ unabhängige Schülerräte gebildet hatten, was den Alleinvertretungsanspruch des Jugendausschusses und später der FDJ untergrub. Ab 1948 fassten Oberschüler diese Räte auf kommunaler Ebene zusammen, um als soziale Interessenorganisation eigene Forderungen aufstellen zu können. Aufgrund der Erfahrungen, welche mit dem bereits zu diesem Zeitpunkt herrschenden autoritären Führungsstil der FDJ gemacht wurde, lehnten die Leipziger jede Zusammenarbeit mit dem Einheitsjugendverband ab.256 Trotz der vielfältigen Aktivitäten konnte Ende 1945/Anfang 1946 der Jugendausschuss nur einen Teil der Jugendlichen in Leipzig erreichen. Gebremst wurden die Organisierungspläne beispielsweise durch das starke Bedürfnis nach individueller Freizeitbeschäftigung. Viele Vergnügungsstätten öffneten nach Kriegsende wieder in Leipzig. Darin sah der Jugendausschuss sowohl seine Einheitsbestrebung als auch die Moral der Jugend gefährdet. „Eine geregelte und interessante Freizeitgestaltung würde der Jugend helfen, ihre Abende nicht nur auf dem Tanzboden und in Gaststätten zu verbringen.“257 Das Interesse an einer neuen einheitlichen Organisation war bei vielen Jugendlichen schlicht nicht vorhanden, waren sie doch kurz zuvor noch Mitglied der NS-Staatsjugend gewesen.258 Auch führte der Kampf ums tägliche Überleben dazu, dass eine ganze Anzahl junger Menschen ihr Glück auf den Schwarzmärkten suchte und sich bandenmäßig im kleinkriminellen Milieu zusammenschloss. Diese „Ruinenkriminalität“ als Ausdruck sozialer Verwahrlosung hatte seine Ursachen nicht zwangsläufig in der Nachkriegszeit, sondern entstand teilweise noch unter den Bedingungen des Nationalsozialismus.259 So wurden in Leipzig beispielsweise Mitte September 1945 von der Polizei vier Jugendliche der Geburtsjahrgänge um 1927 verhaftet, welche mehrere Einbruchdiebstähle verübt hatten. 254 255 256 257 258 259

Vgl. WEISSFLOG: Deutschlands, S.43f. Die Zahlen konnten nicht überprüft werden. Vgl. ebda. S.37. Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.67. WEISSFLOG: Deutschlands, S.28. Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.28f. Siehe hierzu auch KLEßMANN: Staatsgründung, S.53.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

333

Den Haupttäter Rolf P. aus dem Leipziger Osten verurteilte man deswegen Ende November zu drei Jahren Jugendgefängnis. Bereits im Sommer 1943 war Rolf P., damals als Hilfsarbeiter tätig, zusammen mit neun anderen Arbeiterjugendlichen aus dem Leipziger Osten wegen „vollendeten schweren Bandendiebstahls und Verbrechen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung“ vor dem Jugendgericht Leipzig angeklagt worden. Rolf P. sowie zwei weitere Angeklagte erhielten damals eine Gefängnisstrafe „von unbestimmter Dauer“, die Übrigen bekamen mehrmonatige Gefängnis- bzw. Jugendarreststrafen.260 Die näheren Umstände, die zu der damaligen Verurteilung führten, sind leider nicht überliefert. Über solcherart wilde Jugendgruppen der unmittelbaren Nachkriegsjahre sind bislang keine präziseren Quellen bekannt, sodass man keine weiterführenden Aussagen treffen kann. Aufgrund der vielfältigen Jugendarbeit in Leipzig, besonders für Arbeiterjugendliche, und der damit einhergehenden sozialen Kontrolle kann als These formuliert werden, dass es hier wahrscheinlich weniger „problematische“ wilde Jugendgruppen gegeben hat, als dies für das Rheinund Ruhrgebiet nach 1945 nachgewiesen werden konnte.261 Nach späteren Aussagen von Alfred Nothnagel gab es außerdem einige SPD-Leute, die keine „Einheitsjugend“ aufbauen, sondern die SAJ wieder gründen wollten, was vom Jugendausschuss offenbar verhindert wurde. Hierbei soll es sich um Teile des bereits erwähnten Postsportvereins gehandelt haben, in dem nach 1933 mehrere SAJ-Mitglieder untergetaucht waren.262 Auch die SPDFührung selbst hatte sich offensichtlich auf die (Wieder-)Gründung eines eigenen Jugendverbandes vorbereitet.263 Vermutlich ließ man die Pläne, in Hinblick auf die sich bereits anbahnende Vereinigung von KPD und SPD, zugunsten eines Einheitsjugendverbandes fallen. Die Dominanz der Kommunisten im Jugendausschuss und vor allem die Frage nach der Art und Weise kirchlicher Jugendarbeit führten bereits ab der zweiten Jahreshälfte 1945 zunehmend zu Spannungen mit den christlichen Vertretern. Herrmann Axen beispielsweise wollte – in Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht – der Kirche lediglich zugestehen, Gottesdienste, Konfirmations- und Kommunionsunterricht sowie Religionsunterricht veranstalten zu dürfen. Darüber hinaus sollte es keine weitere kirchliche Jugendarbeit geben.264 Unmittelbar nach der Befreiung waren die Leipziger Gemeinden jedoch daran gegangen, ihre durch die Nationalsozialisten stark eingeschränkte 260 261 262

263 264

StAL PP-S 2854/105, Bl.3ff. Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.334ff. StAL V/5/313 Erinnerungsbericht A. Nothnagel, Bl.184; Siehe auch Protokoll W. Kern am 20.02.1966; Bestrebungen von Teilen der SPD, die SAJ wiederzugründen, gab es auch in anderen Städten der SBZ. Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.23. KAUFMANN: Agenten, S.35. Vgl. ebda. S.23.

334

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

Jugendarbeit wieder aufzunehmen. Der Leipziger Superintendent Heinrich Schumann hatte sich dafür bei der amerikanischen Militärverwaltung die Genehmigung eingeholt, dass Gottesdienste, Konfirmandenunterricht und regelmäßige Zusammenkünfte der Jugend stattfinden dürfen. Zunächst war von Seiten der Kommunisten versucht worden, die „Jungen Gemeinden“ in das Projekt der sich bildenden Einheits-Jugend zu integrieren. Die innerkirchliche Jugendarbeit war auch durch die SMAD weiterhin gestattet worden. In der Folgezeit sahen die kommunistischen FDJ-Funktionäre in ihr zunehmend eine Konkurrenz und verstanden sie als Bremsklotz auf dem Weg zur Einheits-Jugend. Mit den Jahren wurden die Jungen Gemeinden immer offener bekämpft.265

c.

Die Gründung der Freien Deutschen Jugend

Am 7. März 1946 erreichte die KPD die Genehmigung der SMAD zur Gründung der „Freien Deutschen Jugend“ und am 23. März konstituierte sich im Felsenkeller die FDJ in Leipzig.266 Ihr erster Leiter wurde Alfred Nothnagel.267 Die FDJ war zu diesem Zeitpunkt die einzige zugelassene Jugendorganisation in der SBZ. Auch in den Westzonen gründeten sich in der Folgezeit Gruppen der FDJ, waren dort allerdings nur eine unter vielen Neu- bzw. Wiedergründungen und wurden hauptsächlich als Jugendorganisation der KPD wahrgenommen. Ende 1946 hatte die FDJ nach eigenen Angaben in der SBZ bereits 400.000 Mitglieder, wovon die Hälfte aus Sachsen und Sachsen-Anhalt kam. Zwei Drittel der Mitglieder waren zwischen 14 und 17 Jahre alt.268 Das zeigt, dass die FDJ vor allem in der „Luftwaffenhelfergeneration“ bzw. bei ehemaligen HJMitgliedern Fuß fassen konnte, was durch das vielfältige und zunächst ungezwungene Freizeitangebot an der Basis erklärbar wird. Hervorzuheben ist auch, dass in den neu entstandenen Gruppen Jungen und Mädchen gemeinsam ihre Freizeit verbrachten – für frühere Mitglieder der NS-Staatsjugend ungewöhnlich, aber nicht weniger gewünscht Dies entsprach den natürlichen Bedürfnissen von Jugendlichen und steigerte die Attraktivität der FDJ-Veranstaltungen, vor allem der geselligen. Der Anfangserfolg der FDJ hatte aber auch politische Gründe:

265

Einen Überblick über die weitere Situation in Leipzig und in der SBZ gibt: SCHMEITZim Konflikt, Stuttgart 2003; sowie

NER: Im Schatten; E. UEBERSCHÄR: Junge Gemeinde KAUFMANN: Agenten. 266 Vgl. WEISSFLOG: Deutschlands, S.54. 267 KAUFMANN: Agenten, S.41. 268 Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.44.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

335

„Das Bedürfnis, einen persönlichen Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands zu leisten, sei es aus Scham ob der Verbrechen der vergangenen Diktatur oder der eigenen Verstrickung in das System als Soldat, Flakhelfer oder HJ-Führer, mochte für manch anderen maßgeblich gewesen sein. Während viele Jugendliche aus dem Gefühl des Betrogenseins den Rückzug ins Private antraten, entdeckten einzelne im zukunftsbejahenden Optimismus der FDJ für sich einen neuen Lebenssinn. Die SED, die sich aufgrund des hohen Blutzolls, den Sozialdemokraten und Kommunisten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatten bezahlen müssen, nicht nur ihrem eigenen Selbstverständnis moralisch auf der Seite der Sieger des Zweiten Weltkrieges sah, suggerierte den Jugendlichen bewusst die Möglichkeit, durch einen Beitritt zur FDJ nachträglich in dieses Lager überzuwechseln.“269

Wie bereits erwähnt, versuchte die FDJ zu Beginn die Junge Gemeinde in ihre Arbeit zu integrieren. Alfred Nothnagel hatte nach mehreren Gesprächen Herbert Dost überzeugen können, die Leipziger Jungen Gemeinden in die FDJ einzugliedern.270 In einem FDJ-Veranstaltungsprogramm für Leipzig vom August 1946 sind z. B. für die Leipziger Südvorstadt die Termine der Jungen Gemeinde der Andreaskirche gleichberechtigt neben denen nichtkirchlicher FDJGruppen aufgeführt.271 Möglicherweise war die Existenz von fünf bis sechs explizit christlichen FDJ-Gruppen in Leipzig im Vergleich zu anderen Städten eine absolute Ausnahme.272 Als Treffpunkte dienten den einzelnen Gruppen vielfach frühere HJ-Heime, welche sich in städtischem Besitz befanden. Obgleich es innerhalb des Jugendausschusses ein Jahr zuvor schon Diskussionen zwischen Kommunisten und Kirchenvertretern gegeben hatte, führte dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Bruch mit dem Einheitsjugendgedanken.273 Der Leipziger FDJ wird für die Anfangsphase sogar eine „starke kirchliche Komponente“ nachgesagt, welche weniger auf kirchliche Dienststellen zurückzuführen war, sondern auf das engagierte Arbeiten von Herbert Dost und anderen (jungen) Christen. Besonders enge Beziehungen soll es außerdem zwischen dem Jugendpfarrer Heinz Wagner und der FDJ-Kreisleitung gegeben haben, obwohl Wagner selbst nicht FDJMitglied war.274 Noch im Spätsommer 1947, als in anderen ostdeutschen Städten schon die christlichen Vertreter aus den FDJ-Vorständen gedrängt wurden oder sich aufgrund der SED-Dominanz abwandten, saßen im Leipziger FDJ269 270 271 272 273

274

MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.47. Siehe SCHMEITZNER: Im Schatten, S.112. Vgl. StAL IV/5/01/531, B.238. Vgl. UEBERSCHÄR: Junge Gemeinde, S.86ff. Der integrative Gedanke wird am ersten „Liederbuch der deutschen Jugend“ sichtbar, 1946 herausgegeben vom Zentralrat der FDJ. Lieder aus der Arbeiterbewegung halten sich zahlenmäßig mit christlichen Festliedern etwa die Waage, der Großteil besteht aus Wander- und Volksliedern. KAUFMANN: Agenten, S.41.

336

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

Kreisvorstand noch vier CDU-Mitglieder und existierten in der Stadt noch mehrere evangelische FDJ-Gruppen.275 Möglicherweise hatte man in Leipzig auf beiden Seiten, aufgrund der zuvor geleisteten Arbeit in der Illegalität, ein Mindestmaß an Respekt voreinander bewahrt, was die Konflikte nicht so heftig ausbrechen ließ wie in anderen ostdeutschen Städten. Obgleich die FDJ zunächst über eine Monopolstellung verfügte, hatte die SMAD auch kirchliche Jugendarbeit erlaubt, welche sich großer Beliebtheit erfreute. Auch Jugendgruppen der neu gegründeten Gewerkschaften, des Kulturbundes u. a. waren zugelassen. Es zeichnete sich ab, dass die FDJ, wenn auch organisatorisch gewachsen, bald nur noch eine Jugendorganisation unter vielen gewesen wäre.276 Bei der nach Kriegsende neu gegründeten Liberaldemokratischen Partei sollen von den etwa 7.000 Leipziger Mitgliedern annähernd 1.200 Jugendliche gewesen sein.277 In der sächsischen CDU sammelten sich ab Anfang 1946 ebenfalls junge Menschen, welche einen politischen Neuanfang suchten und sich in der Folgezeit als „Junge Union“ etablierten.278 Gleichzeitig kündigte sich Ende 1947, nach dem Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz der vier Siegermächte, der Kalte Krieg an. Der zunehmend autoritäre Führungsstil sowie die immer deutlicher zu Tage tretende kommunistische Orientierung und die einsetzende Verehrung des sowjetischen Komsomol durch die Führungsriege der FDJ brachten die Mitgliederzahlen an der Basis ins Stocken. Hatte man Ende 1947 in der SBZ fast 500.000 Mitglieder, waren es ein Jahr später nur noch etwa 450.000.279 Zu diesem Zeitpunkt hatte die FDJ ihre Transformation zu einer SED-Massenorganisation vollzogen. Die FDJ war vollends in der Realpolitik der SED-Führung und der SMAD angekommen. Für die konfessionellen Jugendgruppen war kein Platz mehr in der FDJ, weshalb diese darangingen, ihre eigenen Strukturen zu forcieren.280 Dies hatte die FDJ-Führung und die SMAD so provoziert, dass z. B. in Leipzig, nach der bislang guten Zusammenarbeit, im Herbst 1947 plötzlich den christlichen FDJGruppen vorgeworfen wurde, dass sie Jugendliche im „antidemokratischen Sinne“ erzogen hätten. Auf Anordnung der SMAD wurden mehrere Gruppen der FDJ aufgelöst sowie Jugendgruppen der CDU verboten. Auch kam es zu zeitweiligen Verhaftungen u. a. des früheren Jugendausschussmitglieds Otto

275 276 277 278

279 280

Vgl. SCHMEITZNER: Im Schatten, S.140. Vgl. MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.51. StAL BPA-L IV 5/01/047, Referententagung der SED in Leipzig am 20.9.46, Bl.92. Siehe auch SCHMEITZNER: Im Schatten, S.48; S.75ff. Hierbei handelte es sich bei der „Jungen Union“ in der SBZ nicht um einen eigenständigen Jugendverband, sondern um eine Arbeitsgemeinschaft bzw. einen Gremiumsbegriff innerhalb der Ost-CDU, welcher im Laufe des Jahres 1949 in der SBZ verboten wurde. Statistische Monatsberichte der FDJ für das Gebiet der SBZ und Berlin. Zitiert nach MÄHLERT/STEPHAN: Blaue Hemden, S.63. Vgl. ebda. S.23, siehe auch S.30.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

337

Gallus.281 Der seit August 1945 im Leipziger Jugendausschuss tätig gewesene evangelische Werner Ihmels (Jg. 1926), späterer FDJ-Funktionär, wurde am 11. September 1947 verhaftet. Ihm warf man Spionage für den amerikanischen Geheimdienst vor.282 Aufgrund fehlender Quellen ist weitgehend unbekannt, wie sich Jugendliche jenseits der FDJ trafen und ihre Freizeit verbrachten. Es gibt einen Hinweis, dass nach Kriegsende viele Jugendliche in Leipzig ein Edelweiß als Abzeichen trugen. Während nicht nachgewiesen werden konnte, dass dies – analog den westdeutschen Edelweißpiraten – eine politische Aussage darstellte und SEDFunktionäre daran auch keinen Anstoß nahmen, interpretierte der Leipziger Polizeileiter Kirmse die „sog. Edelweiß-Seuche“ folgendermaßen: „Aber was ist das Edelweiß-Abzeichen, es ist ein Ersatzabzeichen für das Hakenkreuz! […] Wer Augen hat in der Straßenbahn, auf den Schulen, in den Fachschulen, auf der Universität zu sehen, wird merken, dass die Edelweißabzeichen jeden Tag mehr werden. Es gibt sogar Mädchen mit gestrickten Mützen, die haben drei Streifen mit dem Edelweiß. Ich war zur Immatrikulationsfeier in der Löhrstraße, wo die Schüler Massen von Edelweiß-Abzeichen, meistens an Hüten und Mützen und am Rockaufschlag trugen. Schwarz-weiß-rote Abzeichen werden getragen und alle möglichen Geheimabzeichen. Man muss sich die Hüte ansehen, was für ein Blechladen da dran hängt. Man soll sich hüten, die Sache als harmlos anzusehen. Manchmal sind es Gebirgstrachten. Es ist merkwürdig, dass in Leipzig so viele Gebirgstrachten auftauchen. Kriegsschiffe, Anker, alle möglichen Symbole des Militarismus. Und trotzdem wird auf diese Seuche nicht eingegangen.“283

Um 1950 wurde außerdem am Rande von Leipzig eine „Edelweiß-Truppe“ gemeldet, ohne näher auf sie einzugehen.284 Leider ist es aufgrund fehlender Quellen nicht möglich, diese Erscheinungen näher zu analysieren. Thesenartig kann hierzu gesagt werden, dass die SED spätestens ab Herbst 1947 (und auch bis zum Ende der DDR) in allem, was sich jenseits ihrer Partei- und Massenorganisationen traf und etwas organisierte, eine Bedrohung ihrer Macht sah. Dass 1946 niemand mit dem Tragen von Edelweißabzeichen Probleme hatte und

281 282

283 284

Siehe SCHMEITZNER: Im Schatten, S.149f. Ihmel wurde zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und starb im Juni 1949 in einem Sonderlager in Bautzen aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes. Zu den näheren Umständen der Vorwürfe gegen Ihmel siehe UEBERSCHÄR: Junge Gemeinde, S.88ff. StAL BPA-L, IV 5/01/047, Protokoll „SED-Funktionäre diskutieren“ vom 12.12.1946 in Leipzig, Diskussionsbeitrag von Polizeileiter Kirmse, S.75. StAL BPA-L, IV 5/01/355, Bericht an die KPKK unpag. Zu beiden Hinweisen siehe auch Tubbesing, S.159; Kenkmann nennt weitere ostdeutsche Städte zu Beginn der 50er Jahre, in denen sog. „Edelweißgruppen“ stellenweise gegen die FDJ aktiv wurden, mit den selben Mitteln, wie zehn Jahre zuvor Edelweißpiraten gegen die NS-Staatsjugend vorgegangen waren (z.B. Einschlagen von Schaukästen). DERS.: Wilde Jugend, S.276.

338

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

offenbar nur besagter Polizeileiter, lässt darauf schließen, dass es sich zu diesem Zeitpunkt nicht um eine gegen die SED bzw. die SMAD gerichtete Jugendbewegung in Leipzig gehandelt hat. Die Vermutung, dass das Edelweiß-Abzeichen als Hakenkreuzersatz verwendet wurde, lässt sich für Leipzig nicht belegen. Das Edelweiß als Zeichen für Wanderer und Bergsteiger war bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet. Auch wenn es während der NS-Zeit in Leipzig nicht zu einem bewussten Symbol jugendlicher Opposition wurde wie bei den westdeutschen Edelweißpiraten, so war das Edelweiß oftmals an den damals typischen Lederhosen am Geschirr werkseitig befestigt und wurde auch in der Stadt getragen. Es ist in diesem Zusammenhang am ehesten denkbar, dass Nachkriegsjugendliche unter diesem Symbol eine romantisch verklärte Freiheit in den Bergen und in der Natur verstanden, jenseits der zerstörten Städte. Für Westdeutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden verschiedene Gruppen festgestellt, welche einen zunehmenden anti-alliierten, ausländerfeindlichen und auch teilweise NS-verklärenden Charakter hatten.285 Da für diese Arbeit aus Zeitgründen keine (eventuell in Unterlagen der SMAD noch vorhandenen) Akten über die unmittelbare Nachkriegszeit eingesehen werden konnten, ist es nicht auszuschließen, dass es solche Gruppen auch in Leipzig gegeben haben könnte, allerdings in kleinerem Ausmaß. Zum einen gab es in den letzten Kriegsjahren in Leipzig keine zahlenmäßig den westdeutschen Edelweißpiraten vergleichbaren informellen Jugendgruppen, welche nach 1945 weiter agierten bzw. sich reproduzierten. Besonders die Affinität einiger Edelweißpiraten zu bestimmten Waffengattungen der Wehrmacht oder gar der Waffen-SS konnte bei vergleichbaren Jugendgruppen in Leipzig nicht nachgewiesen werden.286 Im Gegenteil suchten hier Jugendliche nach Möglichkeiten, bei der Musterung Krankheiten vorzutäuschen.287 Zum anderen werden SMAD und SED – nicht zuletzt auf der Suche nach vermeintlichen „Wehrwolf“-Gruppen – gegen solcherart Erscheinungen konsequent vorgegangen sein. Möglicherweise reichte die Androhung einer Einweisung in eines der gefürchteten sowjetischen Internierungslager, dass solche Jugendgruppen nach außen nicht so offensiv in Erscheinung traten wie in Westdeutschland. Darüber hinaus gab es in Leipzig auch in Bezug auf die Auswirkungen der alliierten Bombenangriffe andere Voraussetzungen in der Nachkriegszeit. So war die Stadt, beispielsweise im Vergleich zu Köln, weitaus weniger zerstört worden und hatte weniger Todesopfer 285 286

287

Vgl. KENKMANN: Wilde Jugend, S.249-341. Vgl. ebda. S.255; Die Freiwillig-Meldung für die Wehrmacht muss nicht zwingend mit blinder Kriegsbegeisterung in Verbindung gebracht werden. Ein Vorteil war, dass man sich die Waffengattung aussuchen konnte, zu der man später eingezogen wurde. Da viele Jugendliche nicht zur Infanterie wollten, kam man dem so zuvor. Siehe auch Interview mit W. Renner (Jg.1927) In: SCHULMUSEUM (Hg.): Kinder in Uniform, S.18. Interview mit W. Teumer am 07.03.2002.

1. Die linkssozialistische Arbeiterbewegung nach dem Ende des NS-Regimes

339

zu beklagen. Aus diesem Grund wird es im Nachkriegs-Leipzig weniger Vollwaisen im jugendlichen Alter gegeben haben. Zumindest die Mütter, wenn der Vater gefallen oder noch in Gefangenschaft war, konnten ein Mindestmaß an familiärer Kontrolle und Erziehung gewährleisten. Obgleich unter dem NSRegime der Schwund der elterlichen Autorität zugunsten einer Erziehung im nationalsozialistischen Sinne forciert worden war und Familien durch Wehrund Arbeitsdienst auseinander gerissen wurden, so stellten doch die Frauen (auch Großmütter und Tanten) in der unmittelbaren Nachkriegszeit für Jugendliche einen Halt dar.288 Die in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen früheren KJVDMitglieder absolvierten in den Folgejahren in der 1949 gegründeten DDR teilweise beachtliche Karrieren. So z. B. Hermann Axen, der von einem eher unbedeutenden illegalen KJVD-Mitglied nach 1945 zum Mitbegründer der FDJ in der SBZ und Mitglied im ZK der SED in Ost-Berlin aufstieg. 1970 kam er ins Politbüro und galt seit den 60er Jahren als „Architekt“ der DDR-Außenpolitik. Voraussetzung für solcherart Karriere war natürlich, dass man sich jederzeit SED-konform verhielt. Probleme damit hatte Alfred Nothnagel. Ab 1946 SED- und FDJFunktionär, bekam er 1949 den „Parteiauftrag“, erster Kreissekretär der SED in Zittau zu werden. Gemessen an seinen herausragenden Leistungen im Leipziger Widerstand muss dies als Strafversetzung angesehen werden. Nach nur drei Jahren in Zittau zog er 1952 mit seiner Familie nach Kirchberg bei Zwickau. Dort zunächst Kreissekretär der SED, hatte er in der Folgezeit einen relativ unbedeutenden Posten inne.289 Anfang der 60er Jahre äußerte sich Nothnagel in persönlichen Gesprächen kritisch über den Personenkult in der DDR. Innerhalb der SED vermutete man im April 1964, dass er mit dem wenige Wochen zuvor aus der SED ausgeschlossenen Robert Havemann sympathisierte.290 Auch die ungenügende Würdigung seiner Arbeit im kommunistischen Widerstand in Leipzig schien Nothnagel in dieser Zeit stark zu beschäftigen.291 Die Zentrale Partei-Kontrollkommission hielt Nothnagel darum Mitte der 60er Jahre unter Beobachtung. Seine vielen Kontakte zu SED-Mitgliedern in anderen Städten, welche er immer wieder besuchte, schienen verdächtig. „Sein Bestreben ist, junge Genossen an der Partei irre zu machen und dabei mit gemeinen

288 289 290 291

Hierzu auch KLEßMANN: Staatsgründung, S.57. Erinnerungsbericht von E. Nothnagel; Der Bericht ist sehr vorsichtig formuliert und enthält keine Informationen zu den „Strafversetzungen“ ihres Mannes. BArch DY 30/IV 2/4/483 Aktennotiz der Zentralen Partei-Kontrollkommission vom 8.4.1964, Bl.16. Ebda. Abschrift eines Briefes von A. Nothnagel vom 4.6.1963, Bl.12.

340

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

Verleumdungen zu arbeiten.“292 Zeit seines Lebens wurde Nothnagel eine angemessene Würdigung seiner geleisteten illegalen Arbeit verwehrt.

2.

Die Anerkennung der Leipziger Meuten als Verfolgte des Naziregimes

Unmittelbar nach Kriegsende gründete sich die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), um die NS-Opfer in der Nachkriegszeit finanziell und medizinisch betreuen sowie Rechtsansprüche aufgrund des zuvor erlittenen Unrechtes durchsetzen zu können. Neben inhaftierten Mitgliedern aus der illegalen Zeit des KJVD stellten sowohl Mitglieder der Leipziger Meuten als auch einige „Broadway Gangster“ noch im August 1945 bzw. nach ihrer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Anträge auf den Status „Opfer des Faschismus“ bzw. „Kämpfer gegen den Faschismus“. Nahezu alle eingesehenen Anträge aus den Jahren 1945 bis 1947 wurden positiv bescheinigt.293 Doch je stärker der VVN (später VdN) in der SBZ bzw. in der DDR an die SED gebunden wurde, desto mehr entwickelte sich die Anerkennung als Verfolgter des Naziregimes zu einer politischen Entscheidung. Im Juni 1950 wurden neue Richtlinien festgelegt, so z. B., dass man unter dem NS-Regime mindestens 18 Monate in Haft gewesen sein musste.294 Wie diese Regelung in der Praxis gehandhabt wurde, zeigen einige exemplarische Beispiele: Wolfgang Schieweg war einer der führenden Köpfe der Meute Reeperbahn und zusammen mit seinem Bruder vor 1933 Mitglied eines linken Jugendverbandes gewesen.295 Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ saß er fast zwei Jahre im Zuchthaus Waldheim und kam anschließend ins KZ Buchenwald. Zunächst als Verfolgter anerkannt, wurde ihm später dieser Status entzogen. 1967 versuchte Wolfgang Schieweg als VdN wieder anerkannt zu werden. Begründet wurde die erneute Ablehnung folgendermaßen: „Aufgrund Ihres eines VdN unwürdigen Verhaltens in den Jahren nach 1945 bis noch vor kurzer Zeit ist, entsprechend den Richtlinien vom 10.2.1950 für die Anerkennung als VdN, eine Wiederanerkennung nicht möglich, da dadurch auch das Ansehen der VdN in ihrer Gesamtheit geschädigt würde.“296 Bei dem „unwürdigen Verhalten“ soll

292 293 294 295 296

BArch DY 30/IV 2/4/483, Bericht der Zentralen Partei-Kontrollkommission Berlin an die Bezirks-Partei-Kontrollkommission Karl-Marx-Stadt vom 23.4.1964, Bl.11. Siehe StAL VdN-Bestände beim Rat des Bezirkes Leipzig. StAL VdN-Akte 15613. Sein Bruder Rudolf wurde um 1943 wegen „Wehrkraftzersetzung“ erschossen. Siehe StAL VdN 13098. Ebda.

2. Die Anerkennung der Leipziger Meuten als Verfolgte des Naziregimes

341

es sich um „Verfehlungen“ bei seiner Arbeit als Volkspolizist gehandelt haben. Gerichtliche Verurteilungen sind diesbezüglich nicht bekannt. Martin F. war Mitglied der Meute Hundestart und von Juli bis Oktober 1939 in U-Haft. Politische Aktivitäten von ihm sind aus dieser Zeit nicht überliefert. Bei den späteren Ermittlungen und dem anschließenden Prozess gegen die „Rädelsführer“ der Meute Hundestart taucht sein Name ebenfalls nicht auf. Aufgrund einer Amnestie wurde im Herbst 1939 das Verfahren gegen ihn eingestellt und er kam wieder frei. Nach 1945 arbeitete er bei der Volkspolizei und wurde Mitglied der SED. Neben seiner Anerkennung als VdN erhielt er später die Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“.297 Es ist anzunehmen, dass er diese Auszeichnung aufgrund seines staatskonformen Verhaltens erhielt und nicht aufgrund seiner geleisteten illegalen Arbeit bzw. seiner Haftzeit.298 Insgesamt konnte für neun ehemalige „Reeperbahn“- und „Hundestart“-Mitglieder diese Auszeichnung nachgewiesen werden.299 Die meisten von ihnen waren vor 1933 Mitglieder bei den Roten Falken und alle nach 1945 Mitglieder der SED. Ein Großteil von ihnen saß während der NS-Zeit mindestens 18 Monate in Haft. Harry Bogacki war Mitglied der Meute „Arndtstraße“ und aus diesem Grund vor dem Jugendgericht Leipzig im März 1939 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt worden. Anschließend wurde er in das Jugendschulungslager Mittweida eingewiesen. Ende 1944 verpflichtete man ihn als „jüdischen Mischling ersten Grades“ nach Osterrode/Harz zur Zwangsarbeit. 1946 zunächst als OdF anerkannt, entzog man ihm später diesen Status. Bogacki beantragte daraufhin Mitte der 70er Jahre seine Wiederanerkennung. Die Entscheidung der VdN-Kreiskommission fiel folgendermaßen aus: „In der Bewährungszeit bis heute hat B. nicht gezeigt, dass er positiv zu unserem Staat steht. An Feiertagen flaggt er trotz Aufforderungen nicht, seine Diskussionen sind negativ. Er leistet keinerlei gesellschaftliche Arbeit. Eine ausreichende Begründung hierfür kann er nicht geben. An Hausversammlungen beteiligt er sich nicht […]. Es gibt für ihn nur das Westfernsehprogramm.“300

Außer für Bogacki konnte für fünf weitere inhaftierte Mitglieder der Meute „Arndtstraße“ eine Ablehnung des VdN-Antrages in den 50er Jahren nachgewiesen werden, zumeist aufgrund der zu geringen Haftstrafe. Keiner von ihnen war Mitglied in der SED.301

297 298 299 300 301

Diese Auszeichnung wurde vom Ministerrat der DDR gestiftet für besondere Verdienste im antifaschistischen Widerstand. Siehe StAL VdN 15011. Siehe StAL Bestände VdN. StAL VdN 13920. Siehe StAL Bestände VdN.

342

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

An den aufgeführten Beispielen wird deutlich, dass der VdN-Status, auch über die festgelegten Regelungen hinweg, in erster Linie eine Auszeichnung für Verdienste in der DDR war und nicht Würdigung bzw. materielle Hilfe für während der NS-Zeit erlittenes Unrecht. Unverhohlen formulierte die VdNKommission in Leipzig dies in einem weiteren Ablehnungsbescheid: „... dass ohne eine Pflichterfüllung in der Gegenwart (und dazu zählt die Zeit von 1945 […] bis heute) keine Rechte aus der Vergangenheit anerkannt werden können.“302 Für die Generation der Broadway-Gangster sind nur wenige Beispiele bekannt, wie diese sich nach 1945 politisch orientierten. Eine Ausnahme ist Werner Teumer, der sich nach seiner Haftentlassung am 8. Mai sofort dem Antifaschistischen Block in Leipzig anschloss und im Juni der KPD beitrat. Teumer führte als wesentliche Gründe dafür die politischen Gespräche während seiner Untersuchungshaft in Leipzig an.303 Einer der verurteilten Broadway-Gangster trat nach 1945 der LDP bei.304 Ein anderer, Joachim Wawrzyniak, wurde 1946 als „Kämpfer gegen den Faschismus“ eingestuft, 1951 als VdN aus unbekannten Gründen abgelehnt.305 Außer Werner Teumer sind keine weiteren Jugendlichen aus der Generation der Broadway-Gangster bekannt, die sich nach 1945 einer linkssozialistischen Arbeiterpartei anschlossen. Augenscheinlich war diese „Generation“ nicht so stark politisch geprägt wie noch zuvor die Leipziger Meuten.

3.

Zum Problem der DDR-Historiker mit den Leipziger Meuten

Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und der Heimkehr nach Leipzig trat eine ganze Anzahl von früheren Meuten-Mitgliedern, vor allem der linkssozialistisch geprägten Meuten, in die SPD und später in die SED ein. Von mehreren Mitgliedern ist bekannt, dass sie in der Nachkriegszeit zeitweise als Polizisten arbeiteten und mehrere über den zweiten Bildungsweg in der DDR studierten.306 Hieran wird nochmals deutlich, dass bei diesen Meutenmitgliedern das Aufbegehren gegen den NS-Staat um 1938 keine unpolitische, jugendliche Oppositionshaltung gegen jegliche Obrigkeit war, sondern, dass – bedingt durch diese politische Prägung vor 1933 – die linke Gesinnung auch nach 1945 Bestand hatte und sich weiter verfestigte. Hier unterschieden sich die Meuten deutlich von den Edelweißpiraten, die „keineswegs in einer sozialistischen Ge-

302 303 304 305 306

StAL VdN 15893. Interview mit W. Teumer am 07.03.2002. StAL VdN 13982. StAL VdN 14628. Interviews des Verfassers mit W. Wolf; Herbert Kl.; Rolf S.

3. Zum Problem der DDR-Historiker mit den Leipziger Meuten

343

sellschaftsordnung ihre zukünftige gesellschaftliche Perspektive“ sahen.307 Wie viele von den ehemaligen Meutenmitgliedern sich allerdings inzwischen von ihren früheren Überzeugungen verabschiedet hatten, geht aus der Aktenlage nicht repräsentativ hervor. Während in der BRD in den 80er Jahren oppositionelle Jugendgruppen wie die Edelweißpiraten und die Swing-Jugend „wiederentdeckt“ wurden, blieben die Leipziger Meuten bis zum heutigen Tag in ihrer Heimatstadt weitgehend unbekannt. Die Tatsache, dass sie fast ausschließlich aus Arbeiterjugendlichen bestanden, die zu einem nicht geringen Teil auch noch direkte Bezugspunkte zur Arbeiterbewegung vor 1933 hatten, hätte sie für das SED-Konstrukt von einem kontinuierlich von der KPD geführten Widerstand geradezu prädestiniert. Schließlich sahen bereits die NS-Verfolger in einigen Leipziger Meuten die Fortführung kommunistischer bzw. marxistischer Jugendgruppen. Natürlich unterschieden sich die Leipziger Meuten in nicht wenigen Punkten vom illegalen KJVD und auch von der KdF-Jugendgruppe, eine ideologisch-historische Vereinnahmung wäre aber möglich gewesen. Der Grund, warum dies nicht geschah, beruht auf einem Missverständnis, welches bereits Mitte der 30er Jahre seinen Anfang nahm. Damals fanden sich einzelne Jugendcliquen jenseits der HJ zusammen und entwickelten ihre eigene Jugendkultur aus Teilen der bündischen und linkssozialistischen Jugendbewegungen der Weimarer Zeit. Während aber besonders an Rhein und Ruhr für diese Cliquen sich die Bezeichnung „Edelweißpiraten“ durchsetzte, griffen die Leipziger Arbeiterjugendlichen zur Bezeichnung „Bündische Jugend“, die ihnen vor allem die HJ gegeben hatte. Als nach 1945 viele ehemalige Mitglieder der Leipziger Meuten Anträge auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ stellten, trugen sie ganz nach dem Verständnis der späten 30er Jahre in die Formulare unter dem Punkt illegale Arbeit nach 1933 „Bündische Jugend“ ein. Für die späteren SED-Entscheidungsträger waren darum die Leipziger Meuten nichts anderes als Vertreter der Bündischen Jugend, welche nach kommunistischem Verständnis eine bürgerliche (und damit „reaktionäre“) Jugendbewegung war. Dies verhinderte allerdings nicht spätere Auszeichnungen einzelner MeutenMitglieder als „Kämpfer gegen den Faschismus“, sofern sie sich nach 1945 im Sinne der SED entwickelt hatten. Obgleich die erste etwas ausführlichere Betrachtung der Leipziger Meuten 1977 von dem DDR-Historiker Karl-Heinz Jahnke veröffentlicht wurde, stellte er sie nur als „Erscheinungen der Opposition in der HJ“ dar.308 Auch ein Aufsatz von Werner Bramke zu den „Broadway-Gangstern“ aus dem Jahre 1986

307 308

KENKMANN: Wilde Jugend, S.299. Vgl. JAHNKE: Jungkommunisten, S.258.

344

VI. Jugend in Leipzig nach 1945

änderte nichts an der Tatsache, dass die informellen Jugendgruppen aus Leipzig in der lokalen Öffentlichkeit weiterhin unbekannt blieben.309

4.

Bürgerliche Jugendliche nach 1945

Boten sich in der SBZ und später in der DDR systemkonformen Jugendlichen und Jungerwachsenen vielfältige Möglichkeiten für Karrieren in Politik, Wirtschaft und anderen Berufszweigen, so sind die Informationen über bürgerliche Mitglieder früherer bündischer Gruppen im Nachkriegs-Leipzig sehr spärlich.310 Nachdem es SED-Mitgliedern in den Folgejahren schrittweise gelungen war, in alle Schlüsselpositionen des öffentlichen Lebens und auch der Universität vorzudringen, verringerten sich die beruflichen Aufstiegschancen für junge Erwachsene aus dem Bürgertum, so sie nicht SED- oder FDJ-Mitglieder waren. Von früheren Angehörigen der Deutschen Freischar und des Leuchtenburgkreises ist bekannt, dass sie sich vielfach nach 1945 im Westteil Deutschlands eine neue Existenz aufbauten.311 Dies kann auch für weitere ehemalige Mitglieder und Funktionäre von anderen bündischen Gruppen angenommen werden. Somit sind für Leipzig in der Nachkriegszeit keine Versuche überliefert – im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen bzw. später der BRD – Gruppen der Bündischen Jugend wiederzugründen. Hermann Axen befragte 1945 unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem KZ Buchenwald die Mitglieder der KdF-Gruppe nach möglichen Kontakten zu Bündischen, was verneint wurde. Offenbar hatte er zunächst vor, auch frühere Bündische in die neu zu gründende Einheitsjugend zu integrieren. Von Horst Vanja, einem der führenden Köpfe der illegalen Bündischen in Leipzig nach 1933, ist bekannt, dass er 1946 aus dem Schweizer Exil mit seiner Ehefrau nach Leipzig zurückkehrte. Er nahm sein zuvor unterbrochenes Studium an der Universität wieder auf und promovierte 1951 in Germanistik über Stefan George. Unmittelbar danach verließ er aus politischen Gründen Leipzig und ging mit seiner Familie zunächst zurück in die Schweiz, ehe er in der Bundesrepublik Deutschland Pfarrer wurde.312 Hermann Mau, ein Mitglied aus der illegalen Gruppe um Horst Vanja, hatte 1940 in Leipzig promoviert. Er wurde 1946 stellvertretender Direktor des Historischen Institutes der Leipziger Universität und Mitglied der CDU. 1947 soll er kurzzeitig von der SMAD inhaftiert worden sein und ging daraufhin 1948

309 310 311 312

Siehe BRAMKE: Der unbekannte Widerstand. In: Jahrbuch Regionalgeschichte, S.220-253. So existieren beispielsweise keine VdN-Anträge von früheren Mitgliedern nach 1933 verfolgter bündischer Gruppen, wie z.B. der dj 1.11; Vgl. StAL Bestand VdN. Siehe BORINSKI: Leuchtenburgkreis. In: ARBEITSKREIS (Hg.): Jugend, S.145. Brief der Tochter von Horst Vanja an den Verfasser vom 14.11.2008

4. Bürgerliche Jugendliche nach 1945

345

nach München. Dort wurde er erster Leiter des neu gegründeten Institutes für Zeitgeschichte. Noch in Leipzig verfasste er 1946 seinen Aufsatz „Die deutsche Jugendbewegung. Rückblick und Ausblick“ mit der nüchternen Feststellung: „Die Jugendbewegung ist tot. Sie gehört der Geschichte an und ist wie alles geschichtlich Gewordene nicht wiederholbar. Das nationalsozialistische Regime hat ihre Bünde 1933 zerschlagen, und der innere Zusammenhalt ist an Verfolgung und Krieg zerbrochen.“313 Diese Resignation der Nachkriegszeit beschreibt auch ein weiteres früheres Mitglied aus Horst Vanjas Gruppe.314 Ein Neuanfang schien nicht möglich, sicherlich auch aufgrund des fortgeschrittenen Alters. Der Aufbauelan, den die Funktionäre der FDJ versprühten, färbte nicht auf frühere Bündische in Leipzig ab. Bereits Anfang der 40er Jahre hatte sich ein Generationswechsel beim „Hot Club Leipzig“ vollzogen. Die „Youngsters“, besonders die Musiker unter ihnen, konnten nach 1945 ihrer Swing-Leidenschaft in der Öffentlichkeit ungestört nachgehen und veranstalteten mehrere öffentliche „Jamsessions“ in der Kongresshalle am Zoo („Sharps“ Vater war der Zoodirektor). Unter den JazzMusikern waren dennoch mehrere, welche Leipzig den Rücken kehrten und im westlichen Teil Deutschlands Karriere machten. Jutta Hipp beispielsweise verließ bald nach 1945 Leipzig. Sie kam über München nach Frankfurt/Main, wo sie zu der deutschen Jazzpianistin aufstieg. In den 50er Jahren zog sie nach New York, wo sie als erste Europäerin einen Plattenvertrag bei dem weltberühmten Blue-Note-Label unterschrieb. „Hot Geyer“ übernahm Ende der 40er Jahre für einige Zeit beim Mitteldeutschen Rundfunk die Sendung „Die halbe Stunde für den Jazzfreund“. Er ging Ende der 50er Jahre in die BRD.315 Obgleich aus dem Nachkriegs-Leipzig einige qualitativ hochwertige Jazzund Swingorchester von nationalem Ruf kamen,316 blieb diese Musik für die Leipziger Nachkriegsjugend eine Nischenerscheinung. Es ist nicht bekannt, dass die FDJ solcherart Musikveranstaltungen für ihr Freizeitprogramm vereinnahmt hatte. Jazzmusik blieb ein individuelles Vergnügen.

313 314 315 316

Mau: Jugendbewegung. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Heft 2, S.135. „keunze erinnert sich 8/82“, S.6. Interview mit Kurt Michaelis am 28.04.2008. So z.B. das „Rundfunktanzorchester Leipzig“.

Zusammenfassung

Ziel der vorliegenden Arbeit war, verschiedene Formen jugendlicher Nichtanpassung bis hin zum Widerstand während der NS-Zeit in Leipzig aufzuzeigen. Es wurden zwischen 1933 und 1945 drei Phasen festgestellt, in denen jeweils verschiedene „Generationen“ von Jugendlichen aktiv waren. Darauf aufbauend konnten Vergleiche zu anderen Jugendgruppen im damaligen Deutschen Reich gezogen und Überlegungen angestellt werden, wie die Handlungen der verschiedenen Jugendgruppen zwischen Resistenz und Widerstand einzuordnen sind. Arbeiterjugendliche bildeten qualitativ und quantitativ den Schwerpunkt. Die Ursachen liegen in den 30er Jahren in der für Leipzig hervorzuhebenden starken Verankerung im linkssozialistischen Milieu, welchem eine antifaschistische Grundhaltung immanent war. Trotz der brutalen Zerschlagung der Arbeiterbewegung 1933 hatten sich politische Überzeugungen bei vielen Leipzigern nicht gewandelt. Nach der „Machtergreifung“ war es der KJVD, welcher aus der Illegalität heraus politisch gegen das NS-Regime aktiv wurde. Er agierte in Leipzig weitgehend unabhängig und kann nicht als „Laufbursche“ der KPD angesehen werden. Der hierarchische Aufbau des Verbandes blieb in der Illegalität erhalten, trotz personeller Verkleinerung. Der Leipziger KJVD war mit 200 bis 250 organisierten Mitgliedern der größte illegale Unterbezirk in Sachsen und kann auch reichsweit zu den Bedeutendsten gezählt werden. Er rekrutierte seine Mitglieder nicht nur aus seinen eigenen Strukturen aus der Weimarer Zeit, sondern es fanden darüber hinaus SAJ-Mitglieder und andere Jugendliche den Weg zum illegalen Leipziger KJVD. Dies führte Ende 1933 zu Vereinigungsbestrebungen zwischen KJVD und Teilen der SAJ in Leipzig, welche aus Gründen der Verbandsdisziplin von den jeweils übergeordneten Reichsleitungen verhindert wurden. Daran wird ersichtlich, dass der KJVD in dieser Zeit als (revolutionäre) antifaschistische, politische Alternative unter jungen Sozialdemokraten wahrgenommen wurde, trotz seiner Polemik gegen die SPD. Ende 1933 wandten sich SAJ-Mitglieder auch deshalb von der SPD ab, weil diese in mehrere politische Flügel gespalten war und es kein einheitliches Vorgehen gegen das NS-Regime gab. Darum erschien eine Aktionseinheit mit den Jungkommunisten erfolgversprechender. Die Leipziger SAJ-Führung versuchte 1933 nur teilweise, ihre Strukturen zumindest kurzzeitig in der Illegalität weiterzuführen. Hervorzuheben ist die hohe Anzahl von SAJ-Mitgliedern bei den Leipziger „Kampfstaffeln“, welche nach den Reichstagswahlen im März 1933 bereitstanden, die Republik mit mili-

Zusammenfassung

347

tärischen Mitteln zu verteidigen. Dies stellt reichsweit einen Sonderfall dar und zeugt von der herausragenden Stellung der Stadt als ein Zentrum der Arbeiterbewegung. Mehrere SAJ-Gruppen führten in der Folgezeit in legalen Sport- und Kulturvereinen ihre früheren sozialen Zusammenhänge jenseits politischer Aktivitäten weiter. Nach einem personellen Neuaufbau erschloss sich der illegale Leipziger KJVD – gemessen an seinen Möglichkeiten – ein breites Betätigungsfeld. Es wurden illegale Flugschriften verteilt sowie regelmäßige Zellensitzungen abgehalten. Diese Dichte an Aktivitäten kann keine andere verbotene oder zwangsaufgelöste Jugendorganisation in Leipzig in dieser Phase des NSRegimes vorweisen. Hervorzuheben bleibt, dass die Ziele der illegalen Arbeit nicht der politischen Realität entsprachen. Aus der Illegalität heraus war es kaum möglich „Massenagitation“ zu betreiben. Die von den Kommunisten erhoffte revolutionäre Situation entwickelte sich nicht. Im Sommer 1934 gelang der Gestapo nach zwei Denunziationen der Einbruch in die Strukturen, in dessen Verlauf nahezu der gesamte illegale KJVD verhaftet wurde. Die darauf folgenden Reorganisierungsversuche konnten qualitativ und quantitativ nicht an die vorherige Struktur anknüpfen. In dieser Zeit fanden weitere frühere SAJMitglieder den Weg zum KJVD, was die Anziehungskraft des Verbandes in der Illegalität, trotz aller Schwierigkeiten, nochmals unterstreicht. Im Mai 1935 wurde der Leipziger KJVD endgültig durch die Gestapo zerschlagen. Das partielle Zusammengehen von SAJ und KJVD kann nach bisherigem Forschungsstand als Besonderheit für Leipzig festgehalten werden. Die Überlegungen einer lokalen Vereinigung beider Jugendverbände „von unten“ zeugen von den politischen Denkprozessen unter linkssozialistischen Jugendlichen zu dieser Zeit in der Stadt, die zu der Erkenntnis führten, in der Illegalität zusammenarbeiten zu wollen. Vergleichbare Diskussionen zwischen Sozialdemokraten und illegaler KPD sind für diese Zeit in Leipzig nicht bekannt, was die Eigenständigkeit beider Jugendverbände nochmals unterstreicht. Die Bündische Jugend war in der Weimarer Zeit vielfältig in Leipzig vertreten. Mehrere Leipziger bekleideten wichtige nationale Ämter bei Jugendbünden und die Stadt kann zu einem der bündischen Zentren in Deutschland gezählt werden. Die Gruppen setzten sich vorrangig aus Oberschülern und Studenten zusammen, es sind für Leipzig außerdem eine Anzahl Arbeiterjugendliche als Mitglieder aktenkundig. Verschiedene Leipziger Gruppen hatten sich im Frühjahr 1933 zunächst dem Großdeutschen Bund angeschlossen. Nach dessen Auflösung im Juni 1933 führte die Deutsche Feischar einen Teil ihrer jüngeren Gruppen geschlossen ins Jungvolk. Manche konnten sich bis 1937 halten. Frühere bündische Führer bekleideten Ämter in der neuen Staatsjugend in dem Glauben, dass ihre Erfahrung in der Jugendarbeit von Bedeutung sei. Die Nationalsozialisten hatten hingegen von Anfang an kein Interesse daran, mit den Bündischen zu verschmelzen, sondern forderten Unterordnung unter die NS-

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Ideologie. Der Wunsch vieler Jugendbünde, bei der „nationalen Erneuerung“ unter Wahrung der eigenen Autonomie aktiv mitarbeiten zu können, erfüllte sich nicht. Auch von innen heraus konnten die Bündischen, vom Jungvolk der Anfangszeit abgesehen, keinen Einfluss auf die Entwicklung der Staatsjugend nehmen. Die bündischen Strukturen aus der Weimarer Zeit zerfielen in Leipzig größtenteils um 1933/34. Neben den wenigen Gruppen im Jungvolk gab es noch einige illegale Fortführungen wie die aus der dj 1.11 hervorgegangene Deutsche Jungentrucht. Besonders die Gruppe um Horst Vanja verweigerte sich dem NSRegime und führte ihre Aktivitäten in einem illegalen Rahmen weiter. Bis Mitte der 30er Jahre sind für Leipzig darüber hinaus Jugendliche aktenkundig, welche sich stark mit der dj 1.11 identifizierten. Die evangelischen Jugendverbände gingen nach Abschluss des Eingliederungsvertrages im Frühjahr 1934 zum überwiegenden Teil in die Staatsjugend. Für Leipzig konnten dennoch eigenständige evangelische Jugendgruppen nachgewiesen werden, die sich unter den neuen Bedingungen kaum noch bündischer Insignien bedienten. Einige Mitglieder früherer evangelischer Bünde, welche sich nach 1934 außerhalb der Kirche trafen, lehnten sich an die dj 1.11 an, was die Attraktivität dieser elitären bündischen Gruppe unterstreicht. Der Unterschied zwischen den linksozialistischen Jugendorganisationen und bündischen bzw. evangelischen Jugendgruppen ist 1933/34 darin zu suchen, dass Erstere eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten kategorisch ablehnten und politischen Widerstand leisteten, hingegen Letztere die „nationale Erhebung“ begrüßten und zu einer Zusammenarbeit bereit waren. An mehreren bündischen bzw. evangelischen Jugendgruppen wurde nach 1933 das Nebeneinander von Resistenz und partieller Befürwortung des NS-Systems deutlich. Die Hitlerjugend schaffte es zwischen 1933 und 1945 in Leipzig – wie auch reichsweit – nicht, ihren Führungsanspruch gegenüber der gesamten deutschen Jugend durchzusetzen. Nach zahlreichen freiwilligen Eintritten und gruppenweise erfolgten Eingliederungen 1933/34 konnte die Staatsjugend erst durch zunehmende Zwangsmaßnahmen ab 1936 größere Teile der Jugend in ihren Reihen organisieren. Für Leipzig ist nachweisbar, dass vor allem Lehrlinge sich gegen die Werbungen immun zeigten, hingegen unter den Leipziger Oberschülern es bald nach 1933 einen hohen Anteil an Staatsjugend-Mitgliedern gab. Darüber hinaus hatte die HJ zeit ihres Bestehens massive Probleme mit der qualifizierten Führung ihrer Mitglieder sowie geeigneten Räumlichkeiten. Diese Schwierigkeiten vergrößerten sich mit Beginn des Krieges. Ab 1936/37 wurde in einer zweiten Phase eine neue Generation von Arbeiterjugendlichen in der Stadt aktiv. Bei diesen als Leipziger Meuten bezeichneten informellen Jugendgruppen ist erkennbar geworden, dass sich ab Mitte der 30er Jahre einzelne Jugendliche und Freundeskreise unabhängig voneinander in vie-

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len Stadtteilen zu einer neuen Jugendkultur zusammenfanden. Ein Teil von ihnen war vor 1933 in der linkssozialistischen Arbeiterjugendbewegung aktiv gewesen, ein anderer, kleinerer in Gruppen der bündischen bzw. evangelischen Jugend. Zulauf bekamen die Meuten auch von früheren Staatsjugendmitgliedern. Deren Austritt aus der HJ bedeutete gleichzeitig einen ideologischen Bruch mit ihrer früheren NS-Gruppenzugehörigkeit. Sie wurden in der Folgezeit zu Gegnern der NS-Jugendpolitik. Dies zeigt, dass sich Resistenz und Opposition auch zeitnah an den eigenen Widersprüchen innerhalb des NS-Regimes herausbilden konnten. Wichtigstes äußeres Merkmal der Meuten war ihr einheitliches Erscheinungsbild, das sich in der Übernahme von Kleidungsstücken früherer Jugendbünde und linkssozialistischer Jugendgruppen ausdrückte. Als Selbstbezeichnung fungierte der Begriff „Bündische Jugend“, obgleich es kaum personelle Kontinuitäten zu früheren bündischen Gruppen gab. Die Meuten besetzten an bestimmten Stellen in ihren Wohnvierteln den öffentlichen Raum und einige Gruppen wurden auf verschiedenste Weise gegen die Staatsjugend aktiv, z. B. durch Handzettel mit gegen die HJ gerichteten Inhalten sowie Werbung für die „Bündische Jugend“. Diese Aktionsformen stellten den Versuch dar, die eigene Jugendkultur gegenüber der Staatsjugend zu behaupten und den NS-Einfluss unter Jugendlichen zurückzudrängen. Politische Gespräche „im kommunistischen Sinne“ sind nur von den drei bekannten linkssozialistisch ausgerichteten Meuten „Hundestart“, Lille“ und „Reeperbahn“ überliefert. Bei Letzterer bildete sich Ende 1938 mit dem „Schwarzenberg-Kreis“ eine Gruppe heraus, die Ansätze konspirativer Arbeit zeigte. In diesem Kreis war aktuell der Wunsch entstanden, die eigene Jugendkultur einerseits vor dem NS-Verfolgungsapparat zu schützen, andererseits durch Werbung die Meuten als Alternative zur Staatsjugend weiter zu etablieren. Dieses Selbstbewusstsein zeigt, wie marginal stellenweise die Staatsjugend unter Leipziger Jugendlichen angesehen wurde. Die Bedeutsamkeit der Leipziger Meuten zeigt sich auch in der für Ende der 30er Jahre in Deutschland beispiellosen Verfolgung durch Gestapo, Gerichte und Jugendamt. Mitgliedern der drei bekanntesten Meuten wurde unterstellt, die Jugendlichen auf einen kommunistischen Umsturz vorbereiten zu wollen. Nach bisherigem Forschungsstand gab es in keiner anderen deutschen Stadt zu diesem Zeitpunkt eine informelle Jugendbewegung mit vergleichbarer politischer Ausrichtung. Parallel und unabhängig zu den Leipziger Meuten bildeten sich ab Mitte der 30er Jahre verstärkt Freundeskreise heraus, welche aus früheren Mitgliedern linkssozialistischer Jugendorganisationen bestanden und zum Großteil denselben Geburtsjahrgängen angehörten wie den unter der ersten Phase beschriebenen. Hinzu kam eine Anzahl verurteilter Jungkommunisten nach ihrer Haftentlassung Ende der 30er Jahre. Diese Gruppen aus früheren SAJ- und KJVD-

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Angehörigen sowie Mitgliedern anderer linkssozialistischer Verbände führten das seit den 20er Jahren gepflegte Jugendleben unter veränderten Bedingungen und in kleinerem Umfang weiter. Die Jugendlichen trafen sich weiter in ihren tradierten politischen und sozialen Zusammenhängen, um sich auf diese Weise vor dem NS-Regime abzuschotten. Daraus entstand in Leipzig Ende der 30er Jahre eine Gruppe mit bis zu 100 Jugendlichen, welche sich unter dem Deckmantel einer KdF-Wandergruppe eine effektive Struktur gab. War diese Gruppe zunächst aus einer anhaltenden Resistenz gegenüber dem NS-Regime entstanden, so entwickelte sie sich gegen Ende des Krieges zu einer Widerstandsgruppe, die an das kommunistische Leipziger NKFD angeschlossen war. Nach bisherigem Forschungsstand gab es zu dieser Zeit in anderen deutschen Städten keine vergleichbaren Gruppen. Das zeugt davon, wie die linkssozialistischen und hier vor allem kommunistischen Kreise unter der NS-Herrschaft fortwirkten und sich teilweise sogar reproduzierten, wenn auch nur innerhalb ihres Milieus. Zu Beginn der 40er Jahre bildete sich in einer dritten Phase eine neue Generation Arbeiterjugendlicher der Geburtsjahrgänge zwischen 1926 und 1929 heraus. Die Gruppen, die um 1943 in Leipzig in Erscheinung traten, fielen zahlenmäßig wesentlich kleiner aus als die Leipziger Meuten oder die zeitgleich aktiven westdeutschen Edelweißpiraten. Grund ist der massive Zugriff verschiedener NS-Institutionen auf Jugendliche als Hilfskräfte für den Krieg. In Leipzig entstanden bis zuletzt keine so chaotischen Verhältnisse wie in westdeutschen Städten, welche frühzeitig durch die massiven alliierten Bombenangriffe in eine Ausnahmesituation gebracht wurden. Überwogen bei den Leipziger Meuten noch Insignien der Jugendbünde bzw. aus der Arbeiterjugendbewegung, so orientierten sich die neuen Leipziger Gruppen, welche z. B. die Selbstbezeichnung „Broadway-Gangster“ verwendeten, am angloamerikanischen Lebensstil, jedoch nicht in dem Umfang wie die Hamburger Swingjugend. Für die „Broadway-Gangster“ kann festgehalten werden, dass sie kaum über linkssozialistische Traditionen verfügten, im Gegensatz zu einigen Meuten. Noch vor den ersten verheerenden Bombenangriffen auf Leipzig im Dezember 1943 und trotz mittlerweile gesetzlich fixierter „Jugenddienstpflicht“ schwanden Einfluss und Autorität der Staatsjugend weiter. Nicht nur Führermangel und fehlende Heime, sondern auch der Zugriff anderer NSInstitutionen auf die Jugend als Hilfskräfte waren die Ursachen. Die „Broadway-Gangster“ entstanden aus dem Wunsch, jenseits des unattraktiven HJDienstes die Freizeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Dabei kollidierten sie zwangsläufig mit den Maßnahmen des NS-Systems gegenüber Jugendlichen. Die daraus entstehende Abneigung gegen das NS-Regime sowie Informationen über den für Deutschland ungünstigen Kriegsverlauf führten bei der Gruppe um Werner Teumer 1943 zu einer grundsätzlichen Ablehnung des NS-Regimes

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und zu Widerstand in Form der Herstellung und Verbreitung eines Flugblattes, in der sie zur Beendigung des Krieges aufrief. Unmittelbar nach Kriegsende waren es vor allem Mitglieder der KdFGruppe, die sich für den Wiederaufbau eines Jugendlebens in der Stadt engagierten. Die Gründung der FDJ in Leipzig wurde maßgeblich von früheren Mitgliedern linkssozialistischer Jugendorganisationen aus der Weimarer Zeit vorangetrieben, welche nach 1933 illegal aktiv gewesen waren. Besonders die Kommunisten sahen, unterstützt durch die ab Juli in Leipzig stationierte sowjetische Besatzungsmacht, in der aktuellen Situation ihre Chance auf maßgeblichen politischen Einfluss für gekommen. Auch Angehörige der Leipziger Meuten, welche vor 1933 Mitglied einer Arbeiterjugendorganisation waren, fanden nach 1945 den Weg in die wieder gegründeten Arbeiterparteien und später in die SED. Hingegen schlossen sich frühere Meutenmitglieder, welche vor 1933 keinen Bezug zur Arbeiterbewegung hatten, nur in wenigen Fällen der SED an. Noch auffälliger wird dies bei den „Broadway-Gangstern“. Ihnen fehlten zu Beginn der 40er Jahre die Bezugspunkte zum linkssozialistischen Milieu, weswegen sie nach 1945 kaum zur SED fanden. Hieran wird deutlich, dass für die untersuchten Jugendgruppen die mentale Verwurzelung in stabilen Gemeinschaften, vor allem denen aus dem linkssozialistischen Milieu, nach 1945 oftmals die Basis für die weitere politische Meinungsbildung darstellte.

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Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin: DY 55/V (VVN-Erinnerungsberichte) RY 1 (SED-Erinnerungsberichte) NJ (Prozessakten) R (Akten der Justiz) Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden: Sondergericht Freiberg (Personenakten) Sächsisches Staatsarchiv Leipzig: Polizeipräsidium Leipzig (Personenakten, Vereinsakten) Landgericht Leipzig (Prozessakten) SED-BPA Leipzig V/5 (Erinnerungsberichte) SED-BPA Leipzig IV (SED-Dokumente) Rat des Bezirkes Leipzig (VdN-Akten) Archiv der deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein/ Witzenhausen: - Personennachlässe - Akten Jugendbünde - „keunze erinnert sich 8/82“, Sonderdruck der AG Burg Waldeck 1982 Stadtarchiv Leipzig: Bestand Jugendamt Bestand Schulamt Stadtgeschichtliches Museum Leipzig: Bestand Fotos Erinnerungsberichte aus Privatbesitz: Kurt Scheffler: „Bericht über die Geschichte und das Wirken der ehemaligen Leipziger „KdF-Jugendgruppe“, Leipzig 1965 (aus Privatbesitz Kurt Scheffler) Else Nothnagel: Lebensweg, vom 13.01.1979 (aus Privatbesitz Kurt Scheffler)

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Wolfgang Donndorf vom 18.11.1987 in Leipzig (aus Privatarchiv Sabine Kircheisen) Harry Stude vom 12.06.1988 in Leipzig (aus Privatarchiv Sabine Kircheisen) Rolf F. vom 22.07.1988 in Leipzig (aus Privatarchiv Sabine Kircheisen) Werner Tautz vom 21.07.2008 in Besitz des Verfassers Weitere Dokumente aus Privatbesitz Gertraud Seifert, Prof. Dr. Christina Vanja, Kurt Michaelis, Werner Tautz Unterlagen aus Privatarchiv Prof. Karl-Heinz Jahnke (Rostock): Dorle Lenge: „Bericht zur Jugendarbeit“ vom 02.04.1964 Protokoll der „Aussprache mit Mitgliedern der ehemaligen Leipziger antifaschistischen KDF-Jugendgruppe“ vom 14.03.1965 in Leipzig maschinenschriftliche Konzeption von A. Nothnagel: „Der Aufbau einer illegalen Jugendgruppe als KdF-Gruppe“, vermutlich für das Treffen ehem. Mitglieder der KdF-Gruppe am 14.3.1965 in Leipzig erstellt Protokolle der Gespräche mit Walter Kern vom 20.02.1966; mit Jochen und Felicitas Nebig vom 31.05.1966; mit Hasso Grabner vom 13.02.1967; mit Kurt Riehl vom 14.02.1968; mit Bruno Frank vom 15.02.1968; mit Anni Dörner (geb. Strauß) in Berlin, o.J. (um 1966); mit Heinz Haferkorn in Leipzig, o.J. (um 1966); mit Herbert Schätzler, o.J. (um 1966); mit Anneliese Schellenberger, o.J. (um 1966)

Interviews des Verfassers mit Zeitzeugen Werner Wolf am 11.04.2001 und 24.05.2002 in Leipzig Gertraud Klaus, geb. Seifert am 11.04.2001 und 09.05.2002 in Leipzig Herbert Kl. am 08.05.2001 in Leipzig Werner Teumer am 07.03.2002 und 20.02.2003 in Leipzig Rolf S. am 14.03.2002 in Leipzig und telefonisch am 10.6.2002 Wilhelm Endres am 27.03.2002 in Leipzig Karl Hauke am 05.04.2002 in Schkeuditz Kurt Scheffler am 11.04.2002 und 26.04.2002 in Leipzig Horst Geisenhainer am 6.8.2002 in Leipzig Johannes Pawlisch am 09.08.2002 in Berlin und telefonisch am 3.5.2003 Herr Weißflog am 09.03.2005 in Leipzig Hans Lauter am 01.04.2008 in Leipzig Kurt „Hot Geyer“ Michaelis am 28.04.2008 in Leipzig vier ehemaligen HJ-Mitgliedern und Schülern des Humboldt-Gymnasiums Leipzig am 20.03.2002 in Leipzig Telefoninterview mit Werner Tautz am 11.03.2008

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Anhang

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Personenindex

Ackermann, Rolf 185 Axen, Hermann 90f., 241, 328ff., 339, 344 Axmann, Artur 282, 287 Bauer, Rudolf 205 Bebel, August 33 Becke, Herbert 308 Becke, Julius 308f. Becker, Willi 237 Benndorf, Werner 50, 118, 126 Berger, Erich 234f. Beutan, Kurt 257 Bialek, Robert 331 Biller, Ruth 107 Blanke, Erich 83 Bochow, Herbert 79, 104 Bogacki, Harry 197, 199, 341 Borinski, Fritz 47, 110 Brandes, Elisabeth 107 Brandes, Karl 79f., 95, 102-105, 107 Brandes, Kurt 92f., 105, 107 Brettschneider, Bruno 52 Brünner, Kurt 83f. Buchardt, Harry 126 Clauß, Hans 94 Daniel, Karl 49, 120, 127f. Decker, Martel 245, 253f., 257, 259, 323 Dettmann, Friedrich 90, 105 Diepelt, Richard 108f. Dietrich, Rudolf 132f., 195 Dietze, Kurt 101, 103 Doerwaldt, Arthur 130ff. Döhler, Elfriede 96f. Donndorf, Wolfgang 135, 184, 191, 353 Dost, Herbert 331, 335 Duensing, Friedrich 141 Eden, Günter 127 Eggert, Johannes 90 Ehrlich, Franz 86 Ehrlich, Willy 86f. Eilenberger, Rudolf 184 Eistel, Franz 256 Ellrodt, Gerhard 249 Endres, Wilhelm 179, 238, 241, 244, 353

Finger, Erich 122, 208 Fischer, „Trude“ Helene 81-95 Fischer, Fritz 206 Fölck, Fritz 55, 67, 144 Frank, Alfred 59 Frank, Bruno 36f., 41, 64, 353 Franz, Rolf 271 Friede, Erhard 177, 179, 215f. Fritzsche, Hans 124 Fritzsche, Hugo 52 Fritzsche, Rolf 199f. Fritzsche, Werner 196 Fröhbrodt, Käte 101 Füchsel, Richard 330 Füßler, Fritz 107, 330 Gallus, Otto 330, 337 Geisenhainer, Horst 201f., 353 Gerlach (Leipziger Jugendamtsdirektor) 220, 222, 282f. Gerst, Alfred 84 Giresser, Rudolf 170 Gittel, Kurt 42, 127, 234f., 249 Gleitze, Willy 101f. Goerdeler, Carl Friedrich 64 Gottschalk, Erika 77, 88 Gottschalk, Heinz 185 Grabenstätter, Horst 66, 193, 196 Grabner, Hasso 36, 41f., 75, 80, 87, 330, 353 Graf, Rolf 185 Groß, Johannes 185, 188 Großmann, Paul 83f. Grunov, Richard 127f. Günther, Herbert 234, 247, 254 Haferkorn, Heinz 238f., 246, 255, 353 Haßkerl, Lotte 255, 257, 262 Hauke, Karl 247, 251, 258f., 261f., 328, 353 Heber, Rolf 92 Heidelauf, Günther 150 Heinze, Walter 100 Helas, Martin 73, 75, 237f., 240, 245, 247f., 255 Helbig, Karl 83

Personenindex

Hene, Jochen 119 Henze, Ingfried 308 Heppe, Gustav 241, 243, 245 Heß, Helmut 170-174, 215f. Hesse, Gerhard 81 Hesse, Werner 185 Hiek, Gustav 263 Himmler, Heinrich 278, 305, 310, 362 Hipp, Jutta 308f., 345 Hirsch, Rudolf 140 Hodina, Hans 244 Hoffmann, Arthur 242f., 258 Holtz, Johannes 114 Holtzhauer, Helmut 83, 234f., 249, 326 Holzmüller, Harry 83 Hoppe, Kurt 170, 215f. Hösel, Herbert 95f. Huber, Doris 125 Hunger, Wilhelm 234 Ihmels, Werner 337 Illing, Heinz 199, 222 Jaffé, Felix 106 Jäger, Rudolf 287 Jonas, Horst 80, 92-95, 102, 106f. Jonas, Wilhelm 102f. Jungbluth, Karl 242f., 250f. Jürgens, Rudolf 52 Keil, Paul 80 Keller, Horst 49 Kern, Liesbeth 330 Kern, Walter 247, 249, 254, 260, 328f., 353 Kesselring, Albert 316 Kind, Willy 202 Kleinert, Heinz 137 Kloß, Paul 323 Kluge, Heiner „Fats“ 305 Kluge, Rudolf 101 Köbel, Eberhard 49, 118f., 131, 157, 359 Kohl, Gerhard 255f. Kölbel, Erich 144 Kössling, Heino 116f. Kötz, Rudolf 142 Kranz, Ilse 257 Kranz, Willi 257 Krause, Heinz 177f., 180, 193f., 215, 270 Krauße, Karl 236 Kresse, Walter 78 Krogull, Walter 76 Krollmann, "Herta" Maria 90

369

Kryves, Stefan 308 Küglers, Hermann 113 Kupsch, Helmut 56, 126, 129, 130-132 Lämmermann, Karl 62 Lange, Friedrich 84 Langhans, Rudi 177, 181f., 215 Lautenschläger, Hilde 256, 260, 262 Lautenschläger, Willy 238, 249, 258f. Lauter, Hans 81f., 91-95, 98, 353 Lehmann, Robert 81 Lein, Walter 96f. Lenge, "Dorle" Dora 242, 247f., 258, 262, 353 Lenge, Kurt 78, 248, 256 Liebknecht, Wilhelm 33 Liebmann, Gerhard 215 Liebmann, Hermann 100 Liebs, Ludwig 61f., 113f. Lindner, Rolf 241 Lindner, Susanne 244 Lippert, Horst 170, 172, 174, 215f. Lippert, Rolf 169f., 174 List, Fritz 101 List, Richard 331 Lorenz, Kurt 206f. Lorisch, Otto 126 Ludwig, Martin 61f., 113f., 360 Mau, Hermann 111, 344 Mehnert, Gerhard 125-128, 361 Michaelis, Kurt "Hot Geyer" 305, 353 Mißlitz, Heinz 91 Mockry, Paul 192f. Mohr, Hanna 237f. Moog, Horst 170 Müller, Karl 49 Müller, Ludwig 62 Mutschmann, Martin 112 Nebrig, Jochen 249 Neubert, Frohwalt „Teddie“ 308 Nothnagel, Alfred 29, 238, 240-263, 328, 330, 333f., 339 Nothnagel, Else 258-263, 352 Oehler, Reinhard 50f., 110 Ollenhauer, Erich 98, 102 Pabst, Rolf 30, 121-125 Pala, Heinz 185, 188 Pawlisch, Johannes 168, 201f., 353 Pfaller, Alois 89f. Pflocksch, Hans 183-189 Philippi, Walter 105

370

Personenindex

Pilz, Gestapobeamter 208f. Plache, Bruno 323 Plesse, Karl 247, 323 Plesse, Werner 247 Prüfer, Willi 177-181, 194, 215f., 270 Quaas, Fritz 288 Rauch, Lothar 47 Rausch, Maria 308 Reichwein, Adolf 48 Reuter, Fritz 78 Richter, Heinz 135, 196 Riedel, Johannes 52 Riefler, Gerhard 90, 92 Riehl, Kurt 104f., 353 Ritterstädt, Fritz 146 Roßberg, Kurt 245, 323 Rössele, Wilhelm 48 Rothe, Herbert 197 Rothe, Rudolf 108 Rott, Maria 91, 94 Rudolf, Werner 240 Rudolph, Werner 104f. Ruprecht, Kurt 101 Scharsig, Renate 86f. Schätzler, Arno 249 Schätzler, Felicitas 249 Schätzler, Hubert 254 Scheffler, Herbert 238, 240, 249 Scheffler, Kurt 238, 244, 253-262, 352f. Scheibe, Herbert 248, 258 Schellenberger, Alfred 245, 256, 261f. Schieweg, Rudolf 185 Schieweg, Wolfgang 186-191, 270, 340 Schirach, von Baldur 60f., 64, 115, 118 Schirdewan, Karl 78 Schlotterbeck, Friedrich 78-81, 102, 363 Schmidt, Kurt 234, 235 Schmude, Karl-Heinz 167, 169 Schnaedter, Franz 62 Schubert, Herbert 91 Schuberth, Rolf 211 Schumann, Georg 242f. Schumann, Heinrich 334 Schütze, Fritz 195 Schütze, Werner 128, 131 Schwager, Paul 257 Schwarz, Helmut 248 Schwenke, Wilhelm 52 Seifert, Gertraud 223, 353 Seifert, Rudolf 167

Seydel, Kurt 102 Singer, Joachim 114f. Smidt, Udo 138, 148 Sredzki, Gerda 256 Stange, Erich 54, 138 Stawicki, Erich 135 Stawicki, Hans 135, 185, 196 Steinert, Joachim 289 Stenzel 90, 328 Strasser, Otto 48, 127 Strauß, Anni 237, 247, 249, 261f., 330 Stude, Harry 221, 353 Suffa-Friedel, Werner 298 Tautz, Werner 308, 353 Teubner, Ilse 103 Teumer, Werner 292-296, 302, 314, 321, 342, 350, 353 Teutsch, Stadtrat 72, 219f., 222 Thalheim, Werner 330 Thälmann, Ernst 43 Theil, Willy 167 Thiele, Martin 262 Thielke, Gertrud 107 Thieme, Walter 83 Thierack, Otto 213, 215, 284 Thomas, Helmut 241 Thomas, Martel 262 Trobisch, Walter 330 Ucko, Hermann 305 Ueberschaar, Johannes 126 Ulbricht, Walter 326 Vanja, Horst 121-130, 134, 344, 348, 353 Vierling, Hans 323 Wach, Joachim 126 Wagner, Heinz 329, 335 Walther, Gestapobeamter 208 Warkus, Wax 39 Warschauer, Lutz 308 Wawrzyniak, Joachim 288, 291, 342 Weber, Gustav 101f. Weber, Paul 83, 249 Weidelt, Heinz 108f. Weisbender, Anneliese 330 Weise, Hans 100f. Weiser, Max 153 Wildfeuer, Otto 167f. Wilhelm, Herbert 95f. Wilisch, Heinrich 144-147 Wilke, Gestapobeamter 208 Wolf, Werner 176, 188f., 353

Personenindex

Wolff, Günther 117f., 127-130, 357 Wolfram, Willy 129 Wunderlich, Rudolf 262 Zaspel, Max 92, 330 Zeigner, Erich 327 Ziegler, Karl 256 Zimmerschitt, Horst 287, 288, 289, 290

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Zipperer, William 242- 245, 251, 253, 255, 259, 261 Zöger, Heinz 30, 365 Zorn, Werner 108 Zschocher, Gerhart 30, 43, 80, 83-85, 88f., 108, 367