Eine soziologische Theorie des Rechts [1 ed.] 9783428535743, 9783428135745

Einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie Niklas Luhmanns verpflichtet weiß, muss es um die Fr

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Eine soziologische Theorie des Rechts [1 ed.]
 9783428535743, 9783428135745

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 256

Eine soziologische Theorie des Rechts

Von Martin Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN SCHULTE

Eine soziologische Theorie des Rechts

Schriften zur Rechtstheorie Heft 256

Eine soziologische Theorie des Rechts

Von Martin Schulte

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13574-5 (Print) ISBN 978-3-428-53574-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-83574-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Petra

Vorwort Wir dürfen davon ausgehen, dass die Fremdbeschreibung des Rechtssystems (dazu zählen Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Juristische Methodenlehre, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie) als eines sich selbst beschreibenden Systems die „Rechtswissenschaft“ nach wie vor irritiert. Wenn Irritation aber eine der Produktivkräfte einer ko-evolutiven Entwicklung sozialer Systeme ist, gibt es guten Grund mit einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie Niklas Luhmanns verpflichtet weiß, daran weiterzuarbeiten. Dies durchaus in einem orthodoxen Sinne, der Luhmanns Beobachtungs- und Beschreibungsansätze einer Theorie der Gesellschaft ernst nimmt und sie mit Blick auf das Rechtssystem zu vertiefen sucht. Damit geht eine ausdrückliche Distanznahme gegenüber den Luhmann-Apologeten in der „Rechtswissenschaft“ einher, denen mehr an ihrer eigenen Theorieprofilierung und weniger daran gelegen ist, seine soziologischen Grundannahmen in ihrer Belastbarkeit für das Rechtssystem zu überprüfen und nur soweit notwendig theorieimmanent fortzuentwickeln. Den Boden der Luhmannschen Systemtheorie nach Möglichkeit nicht zu verlassen, ist deshalb durchaus ein erklärtes Ziel dieser Untersuchung. Dogmatische Erstarrung verbindet sich damit nicht, schon aber die Annahme, dass seine allgemeinen Beobachtungs- und Beschreibungsansätze für das Rechtssystem noch gar nicht hinreichend ausgelotet sind, um sich vorschnell von ihnen zu verabschieden. Einer soziologischen Theorie des Rechts mangelt es an jedem normativen Anspruch. Wer deshalb Niklas Luhmann vorwirft, es sich in der klimatisierten VIPLounge der 27. Beobachterebene im „Grand Hotel Abgrund“ mit einem Glas Champagner bequem zu machen und die emanzipatorischen Kämpfe geschundener Individuen zu vernachlässigen (so Andreas Fischer-Lescano, Kritische Systemtheorie Frankfurter Schule, in: Callies/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Berlin 2009, S. 49, 50), betreibt keine Systemtheorie, auch keine „kritische“ Systemtheorie, sondern schlicht und ergreifend „Kritische Theorie“. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden, nur sollte man dies klar und deutlich sagen. Denn wo Systemtheorie draufsteht, sollte auch Systemtheorie drin sein! Diese Untersuchung kennt weder Anfang noch Ende. Deshalb erhebt sie auch nicht den Anspruch, sämtliche Bauelemente einer soziologischen Theorie des Rechts bereits abschließend zu beschreiben. Wir halten es auch insoweit mit Niklas Luhmann: „Ich habe bei Büchern und Aufsätzen keine Perfektionsvorstellung, so wie manche, die meinen, bereits bei dem ersten Buch ein endgültiges Werk schreiben zu müssen.“ (Niklas Luhmann, Short Cuts, Berlin 2000, S. 25)

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Vorwort

Unsere Hoffnung geht lediglich dahin, einige Grundfragen einer soziologischen Theorie des Rechts auf ein angemessenes Theorieniveau zu bringen und als Tradition zu bewahren (in diesem Sinne schon Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 8). Die Entstehungsgeschichte dieser Untersuchung reicht weit zurück. Der methodische Ansatz einer Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems konnte erstmals anlässlich eines Vortrags vor Mitgliedern der Russischen Akademie der Wissenschaften (Morozovka 2002) entworfen, leider aber nicht sofort entfaltet werden. Ein dreijähriges Dekanat (2003–2006), in dem es eine Fakultät durch schweres Fahrwasser zu manövrieren galt, verlangte seinen Tribut. Zwei sich anschließende Forschungssemester (2006/2007) ermöglichten es, wieder zum Wissenschaftssystem aufzuschließen. Seitdem gehorcht die wissenschaftliche Arbeit an der Untersuchung den klassischen Grundsätzen von Einsamkeit und Freiheit. In einem ganz spezifischen Sinne gilt dies auch für die im Sommer 2008 gewonnene Einsicht, dass Organisation eine besondere Rolle bei der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen, insbesondere von Recht und Politik sowie Recht und Wirtschaft, zukommen könnte. Sie verdankt sich der Ausarbeitung eines Antrags zur Förderung dieser Untersuchung im Rahmen der Förderinitiative „Pro Geisteswissenschaften“ (Opus magnum – Programm) der VolkswagenStiftung. Ein solch langer Bearbeitungszeitraum gibt Anlass zu vielfältigem Dank. Auch diese Untersuchung ist in den letzten fünf Jahren ganz maßgeblich dadurch gefördert worden, dass ich mich in regelmäßigen Abständen in ein Refugium der Wissenschaft zurückziehen durfte. „Ein kleiner Unterschlupf“ im Gästehaus der Katholischen Kirche „Maria Meeresstern“ auf Borkum gewährte mir die Ruhe und Abgeschiedenheit, deren Wissenschaft in einem sich immer ruheloser entwickelnden universitären Leben wohl mehr denn je bedarf. Für die darin zum Ausdruck kommende Gastfreundschaft danke ich Pastor Rüdiger With, heute Katholische Pfarrgemeinde St. Raphael Bremen, sehr herzlich. Das detaillierte Literaturverzeichnis dieser Untersuchung ist von Frau Katrin Börner, Sekretärin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung von Umwelt- und Technikrecht der Juristischen Fakultät der TU Dresden, in mühevoller Kleinarbeit aus dem Manuskript heraus erstellt worden. Auch dafür mein herzlicher Dank. Schließlich möchte ich Herrn Dr. Florian R. Simon (LL.M.) ganz herzlich dafür danken, dass er sich bereiterklärt hat, auch diese Untersuchung in das Verlagsprogramm von Duncker & Humblot in Berlin aufzunehmen. Eine Widmung bedarf keiner Worte. Sie versteht sich von selbst. Dresden, am 20. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands Martin Schulte

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung des Rechtssystems . . .

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1. Kapitel Recht als soziales System

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§ 1 Begriff und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

§ 2 Geltung und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

§ 3 Recht und Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

§ 4 Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

2. Kapitel Ausdifferenzierung des Rechtssystems § 5 Evolution des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84 84

§ 6 Hierarchie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 § 7 Rationalität des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

3. Kapitel Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

136

§ 8 Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 § 9 Recht und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Ausblick: Weltrecht in der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

Einleitung: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung des Rechtssystems Das Problem des Anfangs ist ein unlösbares: „Für die Operation (und das gilt auch für Kommunikation, wenn dies denn eine autopoietische Operation sein soll) gibt es . . . nie einen Anfang, weil das System immer schon angefangen haben muß, um seine Operation aus eigenen Produkten reproduzieren zu können . . .“1

Das gilt auch für diese Untersuchung. Sie hat längst vor diesem Anfang angefangen und wenn trotzdem vom Anfang die Rede ist, dann im Sinne eines im System selbst gefertigten Mythos oder der Erzählung eines anderen Beobachters.2 Am Anfang stand Niklas Luhmanns Beschreibung eines Desiderats in seinem „Recht der Gesellschaft“: „Eine soziologische Rechtstheorie liefe demnach auf eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems hinaus; aber sie wäre eine sachangemessene Theorie nur, wenn sie das System als ein sich selbstbeschreibendes System beschriebe (was in der Rechtssoziologie heute noch kaum ausprobiert ist).“3

Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als eine soziologische Theorie des Rechts im Sinne einer Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbstbeschreibenden Systems. Dies setzt Klarheit über die Operationen der Selbst- und Fremdbeschreibung sowie ihre unterschiedlichen Perspektiven (Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Juristische Methode/Juristische Methodenlehre, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie) voraus.4 Was bezeichnen folglich die Operationen der Selbstbeobachtung/-beschreibung und Fremdbeobachtung/-beschreibung des Rechtssystems? Zunächst sind und bleiben sie kommunikative Operationen, die nur im Ereigniszusammenhang des Systems existieren. Durch sie erfährt jedes Subsystem der Gesellschaft – damit auch das Rechtssystem – eine doppelte Beschreibung: eine Selbstbeschrei1 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 440 f.; Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, 2002, S. 77 f. 2 Luhmann, ebd., S. 441; im letzteren Sinne schon Johannes 1, 1 ff. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott.“ 3 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 17. 4 Siehe dazu schon Schulte, Recht, Staat und Gesellschaft – rechtsrealistisch betrachtet, in: Aarnio/Paulson/Weinberger/v. Wright/Wyduckel (Hrsg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit, FS Werner Krawietz zum 60. Geburtstag, 1993, S. 317 ff.

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bung (insb. durch Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie) und eine Fremdbeschreibung (durch eine soziologische Theorie des Rechts). Stets geht es dabei um Referenzen auf dasselbe System, die sich nur durch die Inklusion oder Exklusion der Beschreibung in das beschriebene System unterscheiden. Selbstbeschreibung des Rechtssystems ist die Beschreibung von innen, Fremdbeschreibung des Rechtssystems eine solche von außen. Wechselseitig vermögen sich interne und externe Beschreibung des Rechtssystems zu irritieren, weil übergreifende Kommunikation trotz innerhalb der Gesellschaft existierender Systemgrenzen als Vollzug von Gesellschaft möglich bleibt.5 Besondere Bedeutung kommt der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems zu.6 Beiden geht es um die Einheit des Systems. Selbstbeobachtung ist die im System auf das System gerichtete Operation, während Selbstbeschreibung die Anfertigung eines entsprechenden Textes meint. Mit ihrem faktisch-kommunikativen Vollzug setzen sie sich unvermeidlich ihrerseits der Beobachtung und Beschreibung aus. Das Problem der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung, nämlich das „Problem der Identität, bleibt in der Identität des Problems erhalten“. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass jede Problemlösung, jeder Identitätsvorschlag, als Operation des Systems erfolgt und sich deshalb zwangsläufig im System der Beobachtung aussetzt.7 Ausgehend von unserem eingangs erläuterten methodologischen Grundansatz, der auf eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems, aber als eines sich selbst beschreibenden Systems zielt, bedarf diese Selbstbeschreibung der begrifflichen Präzisierung und inhaltlichen Konturierung. Zunächst sind und bleiben Selbstbeschreibungen im strengen Sinne Beobachtungen. Jede Selbstbeschreibung des Systems ist immer Konstruktion, durch die das System von ihm wahrgenommene Inkonsistenzen dirigiert und dadurch gleichzeitig Irritabilitäten begrenzt und verstärkt. Weiterhin muss es begrifflich nicht nur eine Selbstbeschreibung des Systems geben, sondern wir können es durchaus mit einer Mehrheit von Selbstbeschreibungen eines Systems zu tun haben. Gerade das Rechtssystem ist dafür ein gutes Beispiel, weil es mit der Rechtsdogmatik und der Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie, u. U. sogar mit der Rechtspraxis, unterschiedliche Selbstbeschreibungen ein und desselben Systems produziert.8 Die jeweilige Selbstbeschreibung

5 Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: de Berg/Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, S. 38, 39; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 496 f.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 883. 6 Nur am Rande sei damit vermerkt, dass es der soziologischen Theorie des Rechts zu keinem Zeitpunkt um eine Marginalisierung der Eigenleistungen des Rechtssystems (insb. Rechtspraxis und Rechtsdogmatik) ging oder geht. Ganz im Gegenteil! 7 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 879 ff. 8 Der Zusammenhang mit der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechtssystems ist unübersehbar!

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trägt dabei ihrer je eigenen Kontingenz und dem Umstand Rechnung, dass es auch andere Selbstbeschreibungen des Systems geben kann.9 Der Selbstbeschreibung geht es – wie bereits gesagt – um die „Darstellung der Einheit des Systems im System“. Sie stellt sich als Reflexion der Einheit in dem System dar, das sich reflektiert. Genau deshalb muss sie seinen Ansprüchen genügen, auf das System Rücksicht nehmen und seine Zugehörigkeitsmerkmale akzeptieren. Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems muss sich folglich mit den eigenen Normen identifizieren. Sie ist gezwungen, sich dem System, das sie beschreibt, durch Übernahme und Thematisierung der systemspezifischen Bindungen zuzuordnen. Rechtsdogmatik, die bestreiten wollte, dass es richtig ist, normkonform zu handeln, kann es demnach nicht geben. Für das Rechtssystem gewinnt die Unterscheidung von Norm und Faktum zentrale Bedeutung, und zwar in Richtung der Normativität.10 Nachdem damit zumindest ein wenig Klarheit über die Operationen der Selbstund Fremdbeschreibung (des Rechtssystems) geschaffen werden konnte, stellt sich nunmehr die Frage nach den unterschiedlichen Beobachtungs- und Beschreibungsperspektiven. Als solche sind Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Juristische Methode/Juristische Methodenlehre und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie zu nennen, die sich auf unterschiedlichem Abstraktionsgrad und unter je spezifischer Distanznahme in der Perspektive mit dem Rechtssystem befassen. In Abhängigkeit von der Perspektive der Theoretisierung des Rechtsdenkens kommt es zu einer unterschiedlichen Rekonstruktion des Rechtssystems.11 Das Spezifikum unseres Ansatzes liegt dabei – wie eingangs erläutert – gerade in einer Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems. Deshalb muss dem Umstand, dass die unterschiedlichen Subsysteme des Rechtssystems als Ausdruck ihrer Selbstreferenz wiederum unterschiedliche Selbstbeschreibungen im Verhältnis zueinander anfertigen, in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Der Rechtspraxis geht es in prägnanter Verkürzung um die praktische Handhabung des Rechts in Alltagssituationen, insb. im Rahmen der praktischen Entscheidungstätigkeit. Noch immer steht dabei die „rechtsprechende Gewalt“, die

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Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 882, 886, 891 f. Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 498, 501 f. 11 Krawietz, Zur Einführung: Neue Sequenzierung der Theoriebildung und Kritik der allgemeinen Theorie sozialer Systeme, in: ders./Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, 1992, S. 27 f.; siehe zum Verhältnis der Teildisziplinen der „Rechtswissenschaft“ zueinander aber insb. auch Hofmann, Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: Stober (Hrsg.), Recht und Recht. FS Gerd Roellecke, 1998, S. 117 ff.; vgl. ferner Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004, passim et S. 292, der die Strukturtheorie des Rechts als „eine spezifische, von den Problemlösungsanforderungen der Rechtsdogmatik geleitete Verbindung von Normlogik und Soziologie“ versteht. 10

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formell die Rechtsweggarantien und Richtervorbehalte des Grundgesetzes umschließt und darüber hinaus materiell Streitentscheidung durch einen unbeteiligten Dritten bedeutet,12 im Mittelpunkt des Interesses und der Aufmerksamkeit. Dies gilt nicht nur für die Wahrnehmung der Rechtsprechung in der Öffentlichkeit, sondern auch für die Ausrichtung der juristischen Ausbildung.13 Darüber darf allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass Rechtsetzung (Gesetz- und Verordnungsgebung), Rechtsanwendung (Regierung und Verwaltung) und vor allem die anwaltliche Rechtsberatung mit ebensolcher Berechtigung zur Rechtspraxis zählen. In der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts erweist sich Rechtspraxis als Organisation14 der gerichtlichen und nichtgerichtlichen Arbeitsbereiche des Rechtssystems (z. B. Gerichtsbarkeit, Gesetzgebung), aber auch als rechtsgestaltende Interaktion15 (z. B. Vertragsschlüsse) im Rechtssystem. Sie arbeitet auf der Grundlage basaler Selbstreferenz, d. h. ihr liegt die Unterscheidung von Element und Relation zugrunde.16 Das Selbst, das sich referiert, ist normative Kommunikation im Recht, sei es in der Form eines Gerichtsurteils, sei es die Einreichung einer Klageschrift bei Gericht oder auch die auf den Abschluss eines Vertrages gerichtete Willenserklärung. Mit der Organisation der gerichtlichen Arbeitsbereiche des Rechtssystems entsteht dabei als Bedingung einer durchgängigen Beobachtung des Beobachtens ein engerer Bereich rechtlich verbindlichen Entscheidens, der sich als organisiertes Teilsystem durch die Unterscheidung von Mitgliedern/Nichtmitgliedern ausdifferenziert. Die Mitglieder – Richter, aber etwa auch Rechtspfleger – produzieren auf der Grundlage einer universellen Codierung Recht/Unrecht und am Maßstab der Entscheidungsprogramme (Verfassung, Gesetz, Rechtsverordnung etc.) ununterbrochen Entscheidungen, so dass mit Grund vom „organisierten Entscheidungssystem des Rechtssystems“ gesprochen wird. Es arbeitet auf der Basis der Reflexivität mit den Formen der doppelten Modalisierung, d. h. es geht um das Normieren des Normierens, wie es etwa besonders deutlich wird, wenn den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den in § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG genannten Fällen Gesetzeskraft zukommt.17 12

Achterberg, in: Bonner Kommentar (BK), Art. 92 (Zweitbearbeitung) Rn. 111. Obwohl der Anteil der „fertigen Juristen“, deren Berufsweg in die staatliche Gerichtsbarkeit führt, immer geringer wird, bereitet es große Schwierigkeiten, der Bearbeitung des „pathologischen Falles“ ein wenig seines Stellenwertes in der Ausbildung zu nehmen und stattdessen – erheblich realitätsnäher – moderne Techniken und Fertigkeiten der Rechtsetzung, Rechtsanwendung und -durchsetzung (z. B. Vertragsgestaltung, Meditation usw.) zu vermitteln. 14 Siehe dazu Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, passim. 15 Siehe dazu Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme, 1999, passim. 16 Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 600 f. 17 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 144 ff. 13

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Mit geringfügigen Unterschieden in der Nuancierung begreift sich die Rechtsdogmatik als das „juristische Forschungsinteresse par excellence“ oder als „Kerndisziplin der Rechtswissenschaft.“18 Dabei hebt sie stets ihren besonderen Bezug zur Rechtspraxis hervor; ihr objektives Forschungsinteresse ist durch die Leistungen bestimmt, „die die Rechtspraxis, insb. die richterliche, von ihr im Allgemeinen tatsächlich erwartet und vernünftigerweise erwarten darf“.19 Trotzdem ist der Begriff der Rechtsdogmatik im allgemeinen juristischen Sprachgebrauch weder verankert noch etwa durchweg positiv besetzt. Nicht selten werden mit ihr vielmehr „konservative Erstarrung“, „Dogmatismus“ und „Fremdheit des Rechts gegenüber der Lebenswirklichkeit“ assoziiert. Auch vom „Abwehrmittel der Juristen“ gegenüber notwendigen „Innovationen“ ist die Rede. Schließlich leidet der Begriff zweifellos noch immer unter den Belastungen der „Anpassungsfähigkeit“ juristischer Dogmatik an sich wandelnde politische Herrschaftssysteme.20 18 Siehe nur Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Rechtstheorie 2 (1971), 37, 41; ders., Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, in: Behrends/Dießelhorst/ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 17, 21; Simon, Die Rechtswissenschaft als Geisteswissenschaft, RJ 12 (1992), 351, 360 m.w. N. in Fn. 33; Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I (GVwR I), 2006, § 3 Rn. 37 befürchtet für die deutsche Rechtsdogmatik gar im internationalen Gespräch die „Marginalisierung durch Überdogmatisierung“; vgl. ferner Baufeld, Rechtsanwendung und Rechtsdogmatik – Parallelwelten, Rechtstheorie 37 (2006), 171 ff.; Pöcker, Unaufgelöste Spannungen und blockierte Veränderungsmöglichkeiten im Selbstbild der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie 37 (2006), 151 ff.; ders., Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik. Von der rationalistischen Rechtsvorstellung zu einer rechtstheoretisch angeleiteten Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 2007, passim, der für die „Etablierung einer neuen Verkettung (systemtheoretisch inspiriert: einer ,strukturellen Kopplung‘) zwischen ,Dogmatik‘ und ,Theorie‘ in einer für beide Kommunikationszusammenhänge möglichst überzeugenden Weise“ plädiert (S. 4). Damit dürfte sich aber wohl seine eigene Befürchtung (S. 4) bestätigen, nämlich mit einem solchen Ansatz „zwischen den Stühlen zu landen“. Vgl. insoweit nur Leisner, Buchbesprechung zu Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, DVBl. 2008, 1238 f. 19 Dreier, ebd., S. 21; Engel, Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft, in: Gemeinschaftsgüter: Recht, Politik und Ökonomie, Preprints aus der Max-PlanckProjektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter Bonn, 1998/1, S. 26, 36; ders., Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition. Das Proprium des Rechts aus der Perspektive des öffentlichen Rechts, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods Bonn 2006/13; Morlok, Vom Reiz und vom Nutzen, von den Schwierigkeiten und den Gefahren der Ökonomischen Theorie für das Öffentliche Recht, in: Engel/ders. (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 1, 7; Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, 1976, S. 23; siehe dazu auch Osterloh-Konrad, Symposium „Das Proprium der Rechtswissenschaft“, JZ 2006, 1013 ff. m.w. N. auf die Diskussion um den „strictly legal point of view“ der Jurisprudenz; ein dezidiert abweichender Standpunkt findet sich bei Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft. Rechtliche Theorien und Modelle, 2006, der mit seinem analytischen Ansatz allerdings eigentlich einen Beitrag zur Identität des Rechtssystems, d.h. zur Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, leistet. 20 Zum Ganzen Rüthers, Rechtstheorie, 1999, S. 176; kritisch dazu Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 35 ff., dem die Feststellung angemessener erscheint, dass die Dogmatik „das Ge-

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Das heutige Verständnis von Rechtsdogmatik lässt sich im Kern auf Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entstandene Arbeiten von Josef Esser,21 Franz Wieacker,22 Niklas Luhmann23 und Winfried Brohm24 zurückführen. Die Begriffsbildung unterscheidet sich zwar im Einzelnen, lässt aber in ihren Grundgedanken doch deutliche Gemeinsamkeiten erkennen.25 Dogmatik soll ganz allgemein die „Lehre von autoritär – hier legal – festgelegten ,Wahrheiten‘, ihrer Verbindung zu einem System und ihrer Fruchtbarmachung für die Rechtserkenntnis im Einzelfall“ sein.26 Bisweilen wird sie auch als Herstellung eines lehrbaren Ordnungszusammenhangs zwischen Begriffen, Regeln, Prinzipien und Instituten des positiven Rechts bezeichnet, „die zusammen dessen Bestand an

meinsame – die Schnittmenge – von praktischer Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft“ bezeichne (Rn. 35). 21 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1972, S. 90 ff. 22 Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, in: Hermeneutik und Dialektik, Aufsätze II, hrsg. von Bubner/Cramer/Wiehl, 1970, S. 311 ff. 23 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 15 ff. 24 Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), 245 ff.; siehe auch ders., Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung der Rechtsdogmatik, in: Staat-Kirche-Verwaltung. FS Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1079 ff. 25 Zur Begriffsgenese siehe im Einzelnen Herberger, Dogmatik, 1981, S. 345 ff.; Sandström, Das dogmatische Verfahren als Muster der rechtswissenschaftlichen Argumentation, in: Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16.–18. Jahrhundert, 1998, S. 191 ff., 194; Schulz-Schaeffer, Rechtsdogmatik als Gegenstand der Rechtssoziologie, ZRSoz 25 (2004), 141 ff.; besondere Aufmerksamkeit verdient Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., I. Bd., 1911, Vorwort zur 2. Aufl., S. IX, der Dogmatik auf eine „rein logische Denktätigkeit“ begrenzt, siehe dazu insb. Dreier, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, in: Behrends/Dießelhorst/ders. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 1990, S. 17, 22; Herberger, Logik und Dogmatik bei Paul Laband. Zur Praxis der sog. juristischen Methode im „Staatsrecht des Deutschen Reiches“, in: Heyen (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984, S. 91 ff.; die Verbindung von Dogmatik und Systemdenken wird kritisch hinterfragt von Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 36, dessen Hinweis, dass „Systeme“ in der Biologie ebenso selten geworden seien wie in der Soziologie allerdings allein vor dem Hintergrund aktueller Forschungsbemühungen zu „maritimen Systemen“ (Biologie, Geographie) und einer langjährigen Forschungsdokumentation systemtheoretischer Analysen in einer eigenen Zeitschrift, „Soziale Systeme“ (1995 ff.), als verfehlt bezeichnet werden muss; siehe ferner Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006, S. 81 ff. 26 Esser, Das Bewußtwerden wissenschaftlichen Arbeitens im Recht, in: Dubischar, Grundbegriffe des Rechts, 1968, S. 95, 96; kritisch dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 224 ff.; kritisch zur Funktion von Dogmatik auch Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1, 16 ff., der ihr vorwirft, ihre „wahren Chancen“ nicht zu reflektieren und einen „theoretisch denkbaren wissenschaftlichen Anspruch auf Ideologiekritik“ zu vernachlässigen. Dogmatik sei stattdessen „zu sehr ein die verschiedenen juristischen Professionen nivellierender Selbstzweck geworden“ (S. 18, 21).

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Dogmen bilden.“ 27 In diese Richtung weist auch ein Verständnis, das Rechtsdogmatik als „innersystematisch erarbeitetes Gefüge juristischer Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln“ begreift, die als Bestandteil der positiven Rechtsordnung unabhängig von einer gesetzlichen Fixierung allgemeine Anerkennung und Befolgung beanspruchen.28 Oder es heißt, „dass derjenige Jurist dogmatisch arbeitet, der darauf abzielt, das für ein bestimmtes Gebiet maßgebliche Material an Rechtsregeln nach einheitlichen, übergreifenden und durchlaufenden Gesichtspunkten und Zusammenhängen zu ordnen, die dabei zutage getretenen allgemein leitenden Begriffe und Grundgedanken namhaft zu machen, sie zu einem logischen und deshalb intersubjektiv vermittelbaren System zu ordnen und den ständig neu produzierten Rechtsstoff – es handele sich um neue gesetzliche Vorschriften oder auch um Gerichtsentscheidungen – daraufhin zu prüfen, ob er sich in die gegebene Ordnung einfügt oder die Ergänzung oder den Ausbau dieser Ordnung erfordert.“ 29

Aus der Perspektive der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts reflektiert Rechtsdogmatik als Selbstabstraktion die Rechtspraxis. Im Sinne einer „Konsistenzkontrolle“ definiert sie die „Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen.“ 30 Sie arbeitet auf der Grundlage prozessualer Selbstreferenz (Reflexivität), d. h. ihr liegt die Unterscheidung von Vorher und Nachher elementarer Ereignisse zugrunde. Das Selbst, das sich referiert, ist in diesem Fall nicht ein Moment der Unterscheidung, sondern der dadurch konstituierte Prozess. Kommunikation entspricht dem, weil sie in ihren Elementarereignissen durch Reaktionserwartung und Erwartungsreaktion bestimmt wird.31 In ganz besonderer Weise gilt dies für normative Kommunikation im Recht. Recht „operiert reflexiv“, die „Unterscheidung kognitiven und normativen Erwartens“ wird selbst zum „Gegenstand normativen Erwartens“, oder kurz gesagt: Recht „ist überhaupt nur Recht, wenn erwartet werden kann, dass normatives Erwarten normativ erwartet wird“. Rechtsdogmatik bezieht sich regelmäßig auf vorhergehende Entscheidungen der Rechtspraxis oder vorhergehende eigene Stellungnahmen; insoweit kommuniziert sie über (normative) Kommunikation. Dabei erarbeitet die Rechtsdogmatik normative Entwürfe des unter gegebenen tatsächlichen Bedingungen juristisch 27 Gröschner, in: ders./Dierksmeier/Henkel/Wiehart, Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 2. 28 Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), 245, 246; vgl. ferner Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, 1979, S. 34; ders., Rechtsdogmatik – Wissenschaft oder Technik?, in: ders., Wegen Recht und Billigkeit, 1988, S. 90, 93, 94. 29 Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, in: Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990, S. 75, 78; vgl. auch Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in: Bettermann/Zeuner (Hrsg.), FS Eduard Bötticher zum 70. Geburtstag am 29. Dezember 1969, 1969, S. 443, 445. 30 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 18 f. 31 Luhmann, Soziale Systeme, S. 601.

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Möglichen, d. h. der Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen. Darüber hinaus wendet sie sich im Sinne des Normierens des Normierens mit rechtspolitischen Vorschlägen zur Fortentwicklung des geltenden Rechts an das organisierte Entscheidungssystem des Rechtssystems, insbesondere an den Gesetzgeber. In engem Kontakt mit der Rechtspraxis und der Rechtsdogmatik steht die Juristische Methode.32 Während die Rechtsdogmatik aber Aussagen über das geltende Recht selbst macht, geht es der juristischen Methode um Aussagen über das Verfahren, das geltende Recht zu ermitteln. Dazu werden die Regeln über die Anwendung der generellen Rechtsnorm auf den Einzelfall ebenso gerechnet wie die Regeln über die Ermittlung der generellen Rechtsnorm selbst (Theorie der wissenschaftlichen Rechtsfindung).33 Methode meint dabei in ihrem allgemeinen Sinne den Weg (hodos), das Verfahren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.34 Oder es heißt, Methoden bildeten „eine Art immanenter Regeln der Fachwissenschaften“. Sie seien das, was diese sehen, „wenn sie nach Regelmäßigkeiten in der eigenen Beschäftigung mit dem jeweiligen Erkenntnis,material‘ Ausschau halten.“ 35 Als juristische Methode wird das Verfahren begriffen, festzustellen, was generell oder in einem bestimmten Fall praktisch anwendbares Recht ist.36 Von daher erscheint es naheliegend und angemessen, die Begriffe der Juristischen Methode und der Rechtsdogmatik weitgehend synonym zu verwenden, weil beide einander bedingen und ineinander übergehen. So lassen sich auf der einen Seite komplexe Rechtsgeflechte nicht ohne Dogmatik analysieren und auf der anderen Seite lassen sich allgemeine Regeln, Institute und Lehrsätze eben nicht ohne Erkenntnis der Rechtslage aufstellen.37 32 Zum Zusammenhang von Juristischer Methodenlehre und Rechtsphilosophie siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff.; zum Verhältnis von Juristischer Methodenlehre und Rechtsdogmatik siehe Hassemer, Juristische Methodenlehre und richterliche Pragmatik, Rechtstheorie 39 (2008), 1, 15 f. 33 Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S.1; kritisch zu dieser dienenden, anwendungsbezogenen Perspektive der Juristischen Methode neuerdings Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 22; Appel/Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 226, 235 ff.; 286, 289 ff.; zur Diskussion darum siehe auch Osterloh-Konrad, Symposium „Das Proprium der Rechtswissenschaft“, JZ 2006, 1013 ff. und Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition. Das Proprium des Rechts aus der Perspektive des öffentlichen Rechts, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods Bonn 2006/13, S. 26 ff. 34 Vgl. Möllers, ebd., § 3 Rn. 18, wonach das Wort semantisch den „Weg“ bezeichnet, der einzuschlagen ist, um eine Erkenntnis zu erhalten; siehe allgemein Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, 2009, passim. 35 Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, S. 171 f.; vgl. ferner Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 2002, S. 27 ff. 36 Schröder, ebd.

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In jüngerer Zeit gehen allerdings Teile der Juristischen Methodenlehre über diese Selbstbeschreibung der Juristischen Methode ganz bewusst hinaus. Methode wird als „ex post entwickelte Vergegenwärtigung, Standardisierung und Überprüfung einer wissenschaftlichen Praxis“ verstanden. Viel zu lange sei die Juristische Methodenlehre allein mit der „Vermittlung von juristischem Handwerkszeug“ für die Standardisierung einer Rechtspraxis lege artis verquickt gewesen, was Methodenprobleme der Rechtswissenschaften zugunsten solcher der Rechtspraxis unberechtigterweise in den Hintergrund gedrängt habe.38 Anstatt sich – wie bisher – auf die Erfassung von Denkweisen des Rechts und seiner praktischen Umsetzung zu beschränken, komme es zukünftig darauf an, sich intensiver auf die „Entwicklung von Ergebnissen – etwa ,richtiger‘ Rechtsanwendung oder rechtswissenschaftlicher Systembildung –“ zu konzentrieren. Damit werde über die Akkumulation von „Reflexionswissen“ hinaus der „Entscheidungsbezug oder die Leistungskraft für Akte praktischer Rechtsanwendung“ betont.39 Hinter dieser Erweiterung des Methodenbegriffs steht letztlich der Versuch einer Wiederbelebung des Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gescheiterten Projekts einer Integration der Sozialwissenschaften in das Öffentliche Recht.40 Als „Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts“ oder als „Innovationsrecht“ kommt die Debatte bei im Wesentlichen gleich bleibendem Inhalt lediglich in neuem Gewande daher. Die Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, die rezeptionsoffene Rechtswissenschaft, die – sogar ausdrücklich so bezeichnete – Integration von Rechts- und Sozialwissenschaft, Kommunikation in einer multidisziplinären Scientific Community, Perspektivenver37 Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209, 213. 38 Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: dies., ebd., S.131, 133 f. (Hervorhebung im Original). 39 Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in dies., ebd., S. 9, 11 ff. 40 Siehe dazu nur ders., Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung in öffentlich-rechtlichen Übungs- und Prüfungsarbeiten. Vorüberlegungen und praktische Hinweise, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, 1981, 3 ff.; vgl. auch Grimm, Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1973, 53 ff.; siehe insoweit insb. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I (GVwR I), 2006, § 1 Rn. 11: „Was lag näher, als das alte Gespräch mit den Nachbarwissenschaften wieder aufzunehmen?“; eher zurückhaltend demgegenüber Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 48, der allerdings den Status der Systemtheorie verkennt, wenn er beim Umgang mit dieser zur Vorsicht mahnt, weil sie „einem bestimmten nationalen Rahmen“ verpflichtet sei. Gerade die Systemtheorie hat schon früh „weltgesellschaftlich“ gedacht. Siehe nur Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: ders. Soziologische Aufklärung 2, 1. Aufl. 1975, 5. Aufl. 2005, S. 63 ff.; Stichweh, Zur Theorie der Weltgesellschaft, Soziale Systeme 1 (1975), 29 ff.

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klammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft sowie der Ruf nach einer „Neuen Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft“ 41 sind die Leitbilder dieser Diskussion.42 Inzwischen hat man aber offensichtlich selbst die Übersicht verloren. Nicht anders zu deuten ist es wohl, wenn die Versuche, die rechtliche Qualität von Schlüsselbegriffen und Leitbildern zu ergründen, „irgendwo“ zwischen soziologischer Analyse und juristischer Dogmatik angesiedelt werden.43 Dem bleibt schlicht und ergreifend entgegenzuhalten, dass das „Hineinmischen sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in die juristischen Auslegungs41 Voßkuhle, ebd., § 1 Rn. 1 m. Fn. 16 und 17, demzufolge sich die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft lediglich durch den Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes von der Neuen Staatswissenschaft unterscheide. Während erstere sich mit einem spezifischen Ausschnitt der staatlichen Ordnung, der Verwaltung und ihrem Recht, befasse, gehe es letzterer stärker um die Voraussetzungen und Formen gesellschaftlicher Ordnungsbilder und legitimer Herrschaftsausübung. Dabei scheut man sich auch nicht (ders., ebd., § 1 Rn. 1 m. Fn. 17) das Prädikat „neu“ mit der „La Nouvelle Histoire“ eines Jacques Le Goff in Verbindung zu bringen. Zumindest bleibt man sich aber bewusst, dass dem „Neuen“ eine Tendenz innewohnt, relativ schnell „alt“ zu werden. Das Schicksal der sog. „Postmoderne“ hätte hier durchaus zur Vorsicht mahnen können! 42 Die Debatte ist mittlerweile modisch und deshalb unübersichtlich geworden. Siehe statt vieler nur Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht: Kommunikation in einer multidisziplinären Scientific Community, in: Die Verwaltung, Beiheft 2: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Werkstattgespräch aus Anlaß des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann, 1999, 83 ff.; ders., Juristische Verwaltungswissenschaft – multi-, trans- und interdisziplinär, in: Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003, S. 45 ff.; Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft, ebd., 103 ff.; ders., Koordination durch Struktursteuerung als Funktionsmodus des Gewährleistungsstaates, in: Benz/Siedentopf/Sommermann (Hrsg.), Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung. FS Klaus König zum 70. Geburtstag, 2004, S. 287 ff.; Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Einige Leitmotive zum Werkstattgespräch, in: Die Verwaltung, Beiheft 2: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Werkstattgespräch aus Anlaß des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann, 1999, 9 ff.; Voßkuhle, Die Reform des Verwaltungsrechts als Projekt der Wissenschaft, Die Verwaltung 32 (1999), 545 ff.; ders., „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), 184 ff.; ders., Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht. Vorüberlegungen zu einem differenziert-integrativen Methodenverständnis am Beispiel des Umweltrechts, in: Bauer/Czybulka/Kahl/ders. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 ff.; ders., Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 ff.; Scherzberg, Das Allgemeine Verwaltungsrecht zwischen Praxis und Reflexion. Theoretische Grundlagen der modernen Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 837 ff.; Kahl, Über einige Pfade und Tendenzen in Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft – Ein Zwischenbericht, Die Verwaltung 42 (2009), 463 ff.; Kersten/Lenski, Die Entwicklungsfunktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 42 (2009), 501 ff.; nüchtern distanziert demgegenüber Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), 7, 49 f. m. Fn. 143. 43 So hinsichtlich der Schlüsselbegriffe Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 41.

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und Entscheidungsverfahren“ dem Sinn der Arbeitsteilung von Sozialwissenschaft und Entscheidungslogik widersprechen und das Entscheiden mit einer Komplexität überbelasten würde, der es nicht gerecht werden kann.44 Vielmehr liegt das Verdienst der Juristischen Methode bei der Norminterpretation gerade darin, ihre Erkenntnisse methodenrein zu erarbeiten.45 In diesem Sinne müssen die Gerichte aus Rechtsgründen jeden Fall, der bei ihnen eingeht, entscheiden und über den konkreten Fall die Vergangenheit rekonstruieren.46 Dabei hilft ihnen das geltende Recht, diese Rekonstruktion der Vergangenheit auf das für die konkrete Fallentscheidung Notwendige zu beschränken. Mit diesen normativen Vorgaben allein lässt sich der Fall aber nicht entscheiden, so dass es zusätzlich der Ausarbeitung und Anwendung methodischer Entscheidungsregeln bedarf, die dann die Grundlage zukünftigen Entscheidens der Gerichte bilden. Dass sich in den gerichtlichen Entscheidungsbegründungen regelmäßig keine methodologischen Ausführungen finden, dürfte allerdings weniger damit zu tun haben, dass das Gericht vermeiden möchte, seine Selbstbindung auch auf solche Annahmen zu erstrecken;47 vielmehr hat die gerichtliche Rechtspraxis ihre Identität von Anfang an im Entscheiden gefunden, so dass für sie, auch zukünftig, gilt: „Methode hat man, über Methode spricht man nicht!“ 48 44 So schon Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, 1966, S. 21 f.; die Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik hätte hier übrigens allen Grund, sich eines ihrer Klassiker zu vergewissern, siehe dazu Schulte, Hans Kelsens Beitrag zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 248 ff. 45 Unmissverständlich in diesem Sinne Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209, 216 f.: „Für unseren Zusammenhang ist festzuhalten, dass sich die Entwicklung der Juristischen Methode durch die Beschränkung auf die systematische Durchdringung des Rechtsstoffes charakterisierte. Sie war deshalb, und ist bis heute von ihrem Selbstverständnis her nicht interdisziplinär“; vgl. insoweit auch Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241, 280 f. 46 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 326. 47 So allerdings ders., ebd. 48 Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht. Vorüberlegungen zu einem differenziert-integrativen Methodenverständnis am Beispiel des Umweltrechts, in: Bauer/Czybulka/Kahl/ders. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171, 175 f., aber ohne Bezugnahme auf die Rechtspraxis; ein „Praxisbericht“ findet sich bei Strauch, Theorie-Praxis-Bruch – aber wo liegt das Problem?, in: Krawietz/Morlok (Hrsg.), Vom Scheitern und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis?, Rechtstheorie 32 (2001), 197 ff.; siehe dazu aber auch Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53, 54 unter Verweis auf eine Äußerung des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Zeidler: „Ach wissen Sie, bei uns hat eigentlich jeder Fall seine eigene Methode.“ Vgl. ferner Kranenpohl, Die Bedeutung von Interpretationsmethoden und Dogmatik in der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 387 ff.; Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I,

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Ausgehend von der Selbstbeschreibung des Rechtssystems und seiner Unterscheidung von Juristischer Methode und Juristischer Methodenlehre muss diese Differenzierung auch zur Grundlage der Fremdbeschreibung im Sinne einer soziologischen Theorie des Rechts gemacht werden. Dass sich die Begriffe der Rechtsdogmatik und der Juristischen Methode weitgehend synonym verwenden lassen, ist bereits erwähnt worden. Eine funktionale Beobachtungsperspektive, die der Fremdbeschreibung des Rechtssystems im Sinne einer soziologischen Theorie des Rechts eigen ist, fördert jedoch darüber hinaus weiteren Erkenntnisgewinn zu Tage. Mit der Juristischen Methode setzt sich nämlich innerhalb der Rechtsdogmatik (prozessuale Selbstreferenz) die Trias der Selbstreferenz (basale Selbstreferenz, prozessuale Selbstreferenz, Reflexion) gleichsam nach innen oder unten fort. So ist die Juristische Methode mit ihrem normativ-deskriptiven Beobachtungsansatz als Reflexionsleistung der Rechtsdogmatik in Auseinandersetzung mit der staatswissenschaftlichen Methode und den sie konstituierenden „Wissenschaften“ (Geschichte, Politik, Soziologie, Ökonomie) an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden.49 Funktionale Differenzierung findet folglich mit Blick auf das Rechtssystem der Gesellschaft nicht etwa auf der Ebene der Unterscheidung von Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie ihre natürliche Grenze, sondern lässt sich in Abhängigkeit vom Ausdifferenzierungsbedarf der einzelnen Subsysteme grundsätzlich immer weiter in die Tiefe treiben. Eine solchermaßen fortgesetzte Binnendifferenzierung des Rechtssystems erscheint dann als systeminterne Reaktion auf ein asymetrisches Komplexitätsgefälle zwischen dem Rechtssystem und seiner Umwelt. Schon früh ist die Juristische Methodenlehre in die Nähe der Rechtsphilosophie gerückt worden. So führe die „Untersuchung der Richtigkeitsprobleme“, mit der die Juristische Methodenlehre inhaltlich befasst sei, „gewollt oder ungewollt, aber unweigerlich“ in die Philosophie.50 Dass dies nicht ohne Grund geschieht, unterstreicht eine funktionale Betrachtung der Juristischen Methodenlehre im Sinne der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts. Wie die 2006, § 3 Rn. 21, der mit Grund darauf hinweist, dass diese „Routinen“ gar nicht durch die Rechtspraxis selbst systematisch beschrieben werden können, weil diese damit das Gebiet der Praxis verlassen und sich in den Bereich der Wissenschaft begeben würde. Zu viel und zu genaue Systematik irritiere die Praxis eher, als dass sie sie stabilisiere. Zum dahinter latent verborgenen Theorie-Praxis-Problem siehe insb. Krawietz/Morlok (Hrsg.), ebd.; Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006; ders., „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 241, 254 mit dem Vorwurf an die Gerichte, dass „sie zumeist nicht tun, was sie sagen, und sie nicht sagen, was sie tatsächlich – hinter der Fassade der ,Methode‘ – tun“. 49 Siehe dazu nur Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band: 1800–1914, 1992, S. 320 ff. 50 Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 59; ebenso Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245.

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Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, was im Einzelnen sogleich noch darzulegen sein wird, sucht auch die Juristische Methodenlehre im Wege der Reflexion51 nach der Identität des Rechtssystems im Unterschied zu seiner Umwelt. Eine Suche, die ihr nicht leicht fällt und die sie unaufhörlich zwischen Nähe und Distanz zu den Sozialwissenschaften (insb. Soziologie, Geschichte, Philosophie, Ökonomie) hin und her mäandrieren lässt.52 Am Ende steht der Entwurf einer Theorie über das Rechtssystem.53 Vornehmlich dem älteren Schrifttum lag die Vorstellung von der Rechtsphilosophie als Rechtswertbetrachtung oder Rechtswertlehre zugrunde.54 Auch stärker ontisch geprägte Begriffsbestimmungen, wonach sich die Rechtsphilosophie als „Wissenschaft vom Wesen des Rechts und von der Rechtsidee, vom Erkennen des Rechts, vom Begriff des Rechts und den einzelnen Rechtsbegriffen, ferner von der Einteilung der Rechtswissenschaften, vom Sinn und Zweck des Rechts sowie auch von der rechtlichen Weltanschauung“ 55 darstellt, gehören heute der Vergangenheit an. Für die nach wie vor vertretene Sprachanalytik56 hingegen wird die Rechtsphilosophie zum kritischen Horizont der Juridik. Auf diesen werden die in der Sprache vorkommenden juridischen Werturteile projiziert, vor ihm diskutiert und systematisiert, wobei der Rechtsphilosophie die Aufgabe zukommen soll, das richtige Recht zu erkennen.57 Von solchen dezidiert durch einen bestimmten rechtsphilosophischen Ansatz geprägten Begriffbestimmungen setzt sich das gegenwärtig „herrschende“ Verständnis von Rechtsphilosophie deutlich ab. Es begreift sich sehr offen als diejenige Disziplin, in der juristische Grundsatzfragen und Grundprobleme auf „philosophische Manier“ reflektiert, disku51

Siehe dazu Luhmann, Soziale Systeme, S. 601 f. Symptomatisch Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9, 15: „Die anderen wissenschaftlichen Disziplinen – also Geschichte, Philosophie, Soziologie, Informatik u. a. – haben so Brückenköpfe in der Rechtswissenschaft und die Rechtswissenschaft in ihnen.“ 53 Siehe in diesem Sinne beispielhaft nur Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 131, 132 f.: „Mit Methoden bezeichnet man in der Regel wissenschaftliche Meta-Theorien, die die Wahrheitsermittlung der jeweiligen Diszilin für diese Disziplin reflektieren.“ (Hervorhebung i.O.) 54 Lask, Gesammelte Schriften, hrsg. von Herringel, I. Bd., 1923, S. 286, 279 f.; Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosphie, 1948, S. 17; ders., Rechtsphilosophie, 8. Aufl., hrsg. von Wolf und Schneider, 1973, S. 93 ff., 96; siehe auch Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosphie, 3. Aufl., 1928, S. 1 ff.; Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, 1969, S. 39. 55 Kubes, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, Rechtstheorie 13 (1982), 207, 221. 56 Siehe dazu Krawietz, Sprachphilosophie in der Jurisprudenz, in: Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle (Hrsg.), Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 2. Halbband, 1996, S. 1470 ff. 57 In diesem Sinne Schmidt, Die Neutralität der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie 2 (1971), S. 95, 96. 52

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tiert und, sofern möglich, beantwortet werden58 bzw. in normativer Absicht über das Recht, wie es sein sollte, nachgedacht wird.59 Genau an dieser Stelle wird die Abgrenzung zur Rechtstheorie problematisch. Rechtsphilosophie und Rechtstheorie nehmen dies offensichtlich wahr, wenn es heißt: „Es scheint eine Entwicklungstendenz von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück zur Rechtsphilosophie zu geben, d.h. normative Fragen und methodische Einstellungen, die zunächst in der Rechtsphilosophie beheimatet sind, werden in Zeiten grundlegender Neuerungsdebatten im Rahmen einer ,Rechtstheorie‘ problematisiert, anschließend aber wieder langsam in die Rechtsphilosophie zurück verlagert, bis die Rechtsphilosophie die rechtstheoretischen Themen weitgehend integriert hat . . . Eine plakative Formel für den Entwicklungsgang der Rechtstheorie könnte lauten: Von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück zur Rechtsphilosophie.“ 60

Trotzdem wird das Bemühen um Abgrenzung und Unterscheidung nicht aufgegeben. Für die einen bleiben „gleitende Übergänge“, aber dennoch sei die Rechtstheorie als eine primär juristische Disziplin aufzufassen, der in erster Linie eine juristische Perspektive zugrunde liege und/oder liegen sollte. Diese aber 58 In diesem Sinne ausdrücklich Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: ders./Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., 2011, S. 1 ff.; vgl. aber auch Engel, Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft, in: Gemeinschaftsgüter: Recht, Politik und Ökonomie, Preprints aus der Max-Planck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter Bonn 1998/1, S. 26; Simon, Die Rechtswissenschaft als Geisteswissenschaft, RJ 12 (1992), 351, 361 „Rechtsphilosophie . . . hat demgegenüber die Aufgabe, die Arbeit, die Funktion und den Sinn der Rechtswissenschaft zu reflektieren und zu legitimieren“; Weinberger, Norm und Institution, 1988, S. 46 „Die allgemeine Rechtstheorie (Rechtsphilosophie) umfasst vor allem: . . . b) die Erörterung allgemeiner juristischer Begriffe und Probleme . . .“ Siehe ferner Alexy, The Nature of Legal Philosophy, Ratio Juris 17 (2004), 156 ff.; ders., Die Natur der Rechtsphilosophie, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 11 ff.; Hilgendorf, Rechtswissenschaft, Philosophie und Empirie, in: Jus humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. FS Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Dölling, 2003, S. 285 ff.; von der Pfordten, Was ist und wozu Rechtsphilosophie?, JZ 2004, 157 ff.; Anderheiden, Rechtsphilosophie jenseits des Ordinary-language-Ansatzes, in: Brugger/ Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 26 ff. 59 Rüthers, Rechtstheorie, 1999, S. 8. 60 Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985, 2005, S. 15; vgl. direkt dazu auch Dreier, Von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück?, in: Grote/Härtel/Hain/Schmidt/Schmitz/Schuppert/Winterhoff (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit. FS Christian Starck, 2007, S. 21 ff.; zur Entstehung der Rechtstheorie siehe insb. Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997; zur Entwicklung der Rechtstheorie siehe auch Simon, An der Front. Zu Stand und Zustand der Rechtstheorie, myops 9 (2010), 41 ff.; zur Entwicklung der Rechtsphilosophie siehe insb. Dreier, Deutsche Rechtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Rückblick, in: Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen, 2005, S. 215 ff.

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gemeinsam mit der Rechtsethik „in einem schwachen Sinne“ der Rechtsphilosophie zuzuordnen, mache Sinn, weil beide in der Sache vielfältig aufeinander verwiesen seien und auch institutionell verbunden bleiben sollten.61 Für die anderen entzieht sich die Rechtstheorie letztlich einer abschließenden disziplinären Festlegung und Zuordnung. Sie bleibe vielmehr ein „Grenzgänger“ mit der Rechtspraxis als spezifischem „Publikum“. Im Unterschied zur Rechtsphilosophie sei sie aber eine Form der Selbstbeschreibung des Rechtssystems und gehöre deshalb auch institutionell an die juristischen und nicht an die philosophischen Fakultäten.62 Ganz ohne Zweifel ließen sich diese Bemühungen um Abgrenzung und Unterscheidung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie noch beliebig weitertreiben.63 Im Sinne der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts geht es aber Rechtsphilosophie wie Rechtstheorie darum, die Identität des Rechtssystems im Unterschied zu seiner Umwelt begrifflich auszuarbeiten und dabei z. B. Überlegungen zur Legitimation der Geltung positiven Rechts anzustellen (Legitimation durch Verfahren, Legitimation durch Begründung, Legitimation durch Konsens etc.). Weil ihnen die Unterscheidung von System und Umwelt zugrunde liegt, können wir von Reflexion sprechen.64 Das Selbst, das sich referiert, ist das System, wobei sich im Gegensatz zur basalen und prozessualen Selbstreferenz ausnahmsweise sogar Selbstreferenz und Systemreferenz, d. h. die Operation, die mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt ein System bezeichnet, überschneiden.65 Da Rechtsphilosophie und Rechtstheorie eine Theorie über das Rechtssystem entwickeln, sie sich auf das System bezieht und dessen Standpunkt teilt, können sie in aller Kürze als „Theorie des Systems im System“ bezeichnet werden.66 Besonders anschaulich wird dieser Zusammenhang in der seit geraumer Zeit verstärkt geführten Debatte um die „Staatsrechtslehre als Wissenschaft“.67 Die 61

Dreier, ebd., S. 32 (Hervorhebungen im Original). Vesting, Rechtstheorie, 2007, S. 14. 63 Siehe dazu nur mit zahlreichen Nachweisen ders., ebd., S. 8 ff. 64 Zu den Statuskennzeichen von Reflexionstheorien siehe insb. Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: de Berg/Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, S. 50 ff. 65 Luhmann, Soziale Systeme, S. 601. 66 Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1999, S. 419, 422. 67 Siehe dazu nur Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, passim; vgl. aber auch Pauly, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Deutschland, in: von Bogdandy/Cruz Villalon/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008, § 27; von Bogdandy, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Vergleich, ebd., § 39; zur möglichen „Selbstzerstörung der Staatsrechtslehre als Wissenschaft“ siehe Sieckmann, Zum Nutzen der Prinzipientheorie für die Grundrechtsdogmatik, JZ 2009, 557, 558. 62

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signifikante Leistung der Staatsrechtslehre in der „Erkenntnis, Darstellung und Bezeugung des Verfassungsrechts und Förderung ,guter‘ Verfassungsanwendung“ zu sehen,68 wird jedenfalls von einem Teil derselben als offensichtlich zu anspruchslos und antiquiert empfunden. Zwar sei es nach wie vor das Streben der Staatsrechtsdogmatik, „dass bei der Auslegung und Anwendung des Rechts die Bindung an die demokratischen Entscheidungen des Gesetzgebers gewährleistet wird, Wertungswidersprüche vermieden werden, durch dogmatische Konsistenz und Kontinuität der Rechtspraxis Wertungsgerechtigkeit gespeichert und gewährleistet wird und die Praxis durch eine einzelfallübergreifende Perspektive und durch systematische Geschlossenheit und rechtsstaatliche Berechenbarkeit davon entlastet wird, jeden Einzelfall immer wieder umfassend neu zu durchdenken.“ 69

Dies könne allerdings nur gleichsam der Ausgangspunkt der Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft sein. Darüber hinaus soll es in besonderer Weise darauf ankommen, charakteristische Erscheinungsformen methodischen Wandels in der Wissenschaft und Praxis des Öffentlichen Rechts zu berücksichtigen. Methodenarmut in der (verfassungsgerichtlichen) Rechtsprechung und Methodenpluralismus in der Rechtswissenschaft müssten sichtbare Konsequenzen nach sich ziehen: Verstärkung des Bemühens um Trans- oder Interdisziplinarität, verstärkte Geltung der Wissensbestände empirisch-analytisch forschender Wissenschaften im Rahmen der Rechtsanwendung (Zwecke im Recht), Notwendigkeit einer Erkenntnistheorie der Rechtswissenschaft als Metatheorie (Berücksichtigung des Vorverständnisses, Folgenreflexion etc.).70 Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang mit der Feststellung auf den Punkt gebracht, dass sich die Staatsrechtslehre – mit mehr oder weniger theoretischem Anspruch – als eine Reflexionstheorie der Praxis versteht.71 Wie die Rechtsdogmatik und die Juristische Methodenlehre sei sie in besonderer Weise 68 Siehe dazu insb. Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), 7, 49: „Die Staatsrechtslehre . . . kann das geltende Verfassungsrecht nur beschreiben. Sie ist auf die Rolle eines bloßen Beobachters, Kritikers und Beraters verwiesen. Mit Verfassungsrechtsmethodik und -dogmatik kann sie zur Verfassungserkenntnis beitragen, das positiv geltende Verfassungsrecht seinem normativen Inhalt nach zur Darstellung bringen und mit dem ihr eigenen Wahrheitsanspruch zugleich bezeugen.“ Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch neuerdings Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, passim. 69 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in: ders. (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 11, 20. 70 Ders., ebd., S. 21 ff., 24 ff. Und damit einhergehend gelangen wieder die „usual suspects“ zum Einsatz: Wandel des Erkenntnisinteresses der Staatsrechtslehre (Steuerungsperspektive des Rechts), Gewährleistungsstaat, Funktionalisierung des rechtswissenschaftlichen Methodik (S. 43 ff.). 71 Hierzu und zum Folgenden Trute, Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft?, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 115, 117 ff.

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den Beschränkungen des Teilsystems unterworfen, deren Reflexion sie diene. Staatsrechtslehre als „Wissenschaft“ fungiert dann als „Legitimation von Theoriearbeit“, ohne diesen Bezug auf Wissenschaft nach den Standards des Wissenschaftssystems auch notwendig einlösen zu müssen.72 Ob „Theorie“ dabei tatsächlich dem Anspruch gerecht zu werden vermag, unter Wahrung der jeweiligen Funktionsbezüge die notwendigen Vermittlungsleistungen zwischen Rechts- und Wissenschaftssystem zu erbringen, bleibt eine offene Frage.73 Zumindest aber wird eines verständlich: Wenn sich die Staatsrechtslehre schon als einfacher Arbeiter im „Weinbau des Herrn“ 74 wird verstehen müssen, dann will sie dies doch lieber in demjenigen des Wissenschaftssystems als in dem des Rechtssystems sein. Gleichsam kongenial gehen damit in jüngster Zeit Bemühungen um die Begründung einer „Rechtswissenschaftstheorie“ einher.75 Sie nehmen ihren Ausgangspunkt darin, die „disziplinäre Binnendifferenzierung der Rechtswissenschaft(en)“ und die „Regeln der intradisziplinären Gewaltenteilung und Gewaltenzuordnung“ kritisch zu hinterfragen. So würden beispielsweise Methodenfragen in der Rechtswissenschaft entweder nur abstrakt-rechtsphilosophisch/ rechtstheoretisch behandelt oder allein anwendungsbezogen konkret-dogmatisch thematisiert. Und das Verhältnis unterschiedlicher Disziplinen zueinander sei ausschließlich von einer interdisziplinären, nicht aber intradisziplinären Betrachtungsweise gekennzeichnet.76 Angesichts dessen bedürfe es der Rechtswissenschaftstheorie als „Meta-Disziplin der Jurisprudenz“,77 um den „juridischen Theoriediskurs mit dem Praxisdiskurs zu verbinden“ und um das „Verhältnis der einzelnen juridischen (Sub-)Disziplinen zu- und untereinander“ zu beleuchten.78 72 Allgemein dazu Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: de Berg/ Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, S. 38, 65. 73 Die insoweit von Trute, Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft?, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 115, 123 m. Fn. 47 herangezogene Textstelle bei Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 543 f. zur Theorie als Form struktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme lässt sich mit Grund auch skeptischer lesen. 74 Matthäus 20, 1–16. 75 Grundlegend dazu Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, passim; Jestaedt, Braucht die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht eine fachspezifische Wissenschaftstheorie?, in: Funke/Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, 17 ff.; vgl. allgemein auch Funke/Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 2009, passim. 76 Jestaedt/Lepsius, ebd., Vorwort, V. 77 Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Lepsius, Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 185, 201; für van Aaken, Funktionale Rechtswissenschaftstheorie für die gesamte Rechtswissenschaft. Eine Skizze, in: Jestaedt/Lepsius, ebd., S. 79, 81, 100 ist sie sogar eine „Mesotheorie“. Was immer das sein mag? 78 Kritisch zur Notwendigkeit einer „Rechtswissenschaftstheorie“ Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des öffentlichen Rechts, in: Jestaedt/Lepsius, ebd., S. 151, 172 ff.

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Das Projekt einer so verstandenen Rechtswissenschaftstheorie, die von ihren Protagonisten auch als „Wissenschaft der Rechtswissenschaften“ bzw. als „Rechtswissenschaftswissenschaft“ bezeichnet wird,79 sei deshalb primär die Intradisziplinarität der Jurisprudenz. Lässt man das mittlerweile übliche Programmgeplapper neuer „Theorien“ – es gehe darum, die Anschlussfähigkeit der Rechtswissenschaft an internationale wie interdisziplinäre Diskurse wieder herzustellen bzw. die Rechtswissenschaft vom Theorieimporteur zum Theorieexporteur zu machen (!?)80 – einmal beiseite, so wird zweierlei ersichtlich: Zum einen arbeitet sich die Rechtswissenschaftstheorie ohne Not, aber mit umso größerem Ehrgeiz an ihrem Wissenschaftsverständnis ab.81 Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft zwar erkannt, aber letztlich nicht verkraftet wird. Anders wäre die Klage darüber kaum nachvollziehbar, dass zwischen den Beiträgen von Wissenschaftlern und Praktikern kein qualitativer Unterschied mehr bestehe, weil Praktiker wie Wissenschaftler gleichermaßen im Stande seien, den Anspruch auf dogmatisch sauberes Arbeiten zu erfüllen. Mehr noch: in zahlreichen Fachzeitschriften sei es schon längst so, dass Wissenschaftler nur noch eine Stimme unter vielen darstellten.82 In Anbetracht dessen wird man den Vertretern der „Rechtswissenschaftstheorie“ zurufen dürfen: Ihre Probleme möchte man haben! Zum anderen geht es der „Rechtswissenschaftstheorie“ um die Identität der „Rechtswissenschaft“. Sie reflektiert sich selbst und entwickelt dabei eine Theorie über das Rechtssystem und seine funktionale Binnendifferenzierung (Rechtsdogmatik, Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie). Besonders deutlich wird dies, wenn als Gegenstand der „Rechtswissenschaftswissenschaft“ Fragen bezeichnet werden, „die der Rechtswissenschaftler namentlich aus Gründen reflexiver Ortsbestimmung und Selbstvergewisserung innerhalb der Jurisprudenz, also sozusagen zum Eigengebrauch und aus der Binnensicht aufwirft.“ 83 Alles in allem: Beobachtungen, die mit Blick auf die soeben dargestellte Debatte um die „Staatsrechtslehre als Wissenschaft“ den nachhaltigen Eindruck von déjà vu-Erlebnissen vermitteln.84

79 Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders./Lepsius, ebd., S. 185, 189. 80 So Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/ders., Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1, 49. 81 Beispielhaft ders., ebd., S. 19 ff. 82 Ders., ebd., S. 19. 83 Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, ebd., S. 185, 189. 84 Zumindest vor diesem Hintergrund schlüssig Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des öffentlichen Rechts, ebd., S. 151, 172 ff., der für eine „Wissenschaftstheorie des öffentlichen Rechts“ mit einerseits „empirisch-komparativem“ und andererseits „begrifflich-theoretischem“ Anspruch plädiert.

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Nachdem damit deutlich geworden sein dürfte, welchen Beitrag eine soziologische Theorie des Rechts, die eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems anfertigt, zur wissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung von Recht und „Rechtswissenschaft“ zu leisten vermag, soll dieser Forschungsansatz nachfolgend auf einige Grundfragen und Grundprobleme des sozialen Systems Recht (z. B. Begriff und Funktion des Rechts, Recht und Unrecht, Recht und Gerechtigkeit, Recht und Politik) übertragen werden, die Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Juristische Methode/Juristische Methodenlehre und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie stets aufs Neue mit Blick auf das Rechtssystem formulieren.

1. Kapitel

Recht als soziales System § 1 Begriff und Funktion Was-Fragen nach dem Wesen der Dinge führen in der Wissenschaft nicht wirklich weiter. Das ist schon lange kein Geheimnis mehr, weil sich bereits seit dem Spätmittelalter die Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen feststellen lässt. Und auch heute interessiert uns primär: Wie kommt Technik zustande und wie funktioniert sie? Wie gewinnt man Herrschaft und wie bewahrt man sie? Die Reihe der Wie-Fragen ließe sich beliebig fortsetzen. Dahinter steht die allgemeine Erkenntnis, dass „alle Beschreibungen, und damit auch alle wissenschaftlichen Theorien, ein Paradox voraussetzen, das sie selbst ausblenden müssen, da sie es nicht in die Beschreibung einfuhren können, ohne die Operation des Beschreibens dadurch zu blockieren“. Geht man davon aus, so muss die erste WieFrage stets lauten, durch welche Unterscheidung welches Paradox entfaltet wird, so dass fortan und bis auf weiteres mit der Unterscheidung gearbeitet und das Paradox vergessen werden kann. Wird diese methodische Umstellung von Wasauf Wie-Fragen in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft ernst genommen, so erweist es sich als unerheblich, was die Gesellschaft eigentlich ist, aber als höchst bedeutsam, wie (durch wen, durch welche Unterscheidungen) sie sich beschreibt. Dies wiederum trägt der Polykontexturalität der modernen Welt Rechnung.85 Das Rechtssystem zeigt sich von diesen Erkenntnissen offensichtlich gänzlich unberührt. Für die meisten Autoren eines Lehrbuchs der „Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie“ lautet deshalb die eingangs gestellte, nachgerade klassische Standardfrage: Was ist (das) Recht?86 Andere weisen darauf hin, dass die Juristen noch immer um den Begriff vom Recht streiten.87 Dies galt schon für die römischen Juristen,88 für Thomas von Aquin89 und für Immanuel Kant,90 für Begriffs85 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 520, 995; ders., Organisation und Entscheidung, S. 40, 43. 86 Gleichsam paradigmatisch v. der Pfordten, Was ist Recht? Ziele und Mittel, JZ 2008, 641 ff.; ders., Was ist Recht? Eine philosophische Perspektive, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 261 ff.; vgl. ferner Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 3 ff., Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl., 1997, S. 19 ff., Rüthers, Rechtstheorie, 1999, S. 34 ff. 87 Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1994, S. 3.

§ 1 Begriff und Funktion

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bildungen bei Rudolf von Jhering,91 Emst Rudolf Bierling,92 Hans Kelsen93 sowie H. L. Hart94 und wird heute maßgeblich durch die Arbeiten von Robert Alexy,95 Peter Koller96 und Klaus F. Röhl97 bestimmt. Dass die Was-Frage nach dem Begriff und Wesen des Rechts damit für das Rechtssystem zur „never ending story“ wird, vermag aus der Perspektive einer Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems nicht wirklich zu überraschen. Geht es doch dabei einzig und allein darum, die Identität des Rechtssystems im Unterschied zu seiner Umwelt und den von 88 Siehe die berühmte Begriffsbestimmung des Juristen Celsus: „Jus est ars boni et aequi“; zur römischen Jurisprudenz als solcher siehe insb. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, passim. 89 „Jus est ars qua cognoscitur quit sit justum.“ 90 „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 91 „Recht ist der Inbegriff der in einem Staate geltenden Zwangsnormen, und sie hat in meinen Augen das Richtige vollkommen getroffen. Die beiden Momente, welche sie in sich schließt, sind die der Norm und die der Verwirklichung derselben durch Zwang.“ 92 „Recht im juristischen Sinne ist im Allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen.“ 93 „Als Recht wird hier eine normative Ordnung verstanden, die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen sucht, dass sie vorschreibt, dass im Falle eines gegenteiligen, des sogenannten rechtswidrigen Verhaltens, des ,Unrechts‘, ein Zwangsakt als Unrechtsfolge, als sogenannte Sanktion erfolgen soll. In diesem Sinne ist das Recht eine normative Zwangsordnung.“ 94 Zu H. L. Harts Rechtsbegriff siehe ausführlich Koller, Theorie des Rechts, S. 162 ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 2001, S. 31 ff. 95 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 201: „Das Recht ist ein Normensystem, das (1) einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt, (2) aus der Gesamtheit der Normen besteht, die zu einer im Großen und Ganzen sozial wirksamen Verfassung gehören und nicht extrem ungerecht sind, sowie aus der Gesamtheit der Normen, die gem. dieser Verfassung gesetzt sind, ein Minimum an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance aufweisen und nicht extrem ungerecht sind, und zudem (3) die Prinzipien und die sonstigen normativen Argumente gehören, auf die sich die Prozedur der Rechtsanwendung stützt und/oder stützen muß, um den Anspruch auf Richtigkeit zu erfüllen.“ 96 Koller, Theorie des Rechts, S. 44: „Recht ist in seinem wesentlichen Kern eine Menge von sozialen Normen, (1) deren Wirksamkeit zumindest im Großen und Ganzen durch organisierten Zwang garantiert wird, (2) deren Anwendung und Erzeugung auf Ermächtigung beruht und (3) deren Anspruch auf Verbindlichkeit die Überzeugung ihrer Legitimität voraussetzt.“ Siehe auch ders., Der Begriff des Rechts und seine Konzeptionen, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 157 ff. 97 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl., 2008, S. 77: „Als Rechtsnormen können . . . diejenigen Normen bezeichnet werden, die von einem speziellen Rechtsstab angewendet werden, der innerhalb territorialer Grenzen für sich die Kompetenz-Kompetenz in Anspruch nimmt und diese im Wesentlichen auch faktisch durchzusetzen in der Lage ist.“

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1. Kap.: Recht als soziales System

dort herrührenden Irritationen begrifflich auszuarbeiten. Diese Reflexionsleistung unterscheidet sich zwar von den elementaren Operationen des Rechtssystems, wird von der Rechtspraxis vermutlich gar argwöhnisch beobachtet, aber erweist sich ihrerseits gegenüber der Rechtspraxis und ihren Abstraktionen nicht gänzlich indifferent, um anschlussfähig zu bleiben. Ob sich die Rechtspraxis jedoch darin wiedererkennt und sich die Ergebnisse der Reflexion zueignet, um darin eine Bestätigung für die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Handelns zu finden, ist eine ganz andere Frage.98 Ein Beispiel mag dieses komplexe Zusammenspiel von Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie verdeutlichen: ich denke an Art. 20 Abs. 3 GG, wonach die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Die Vorschrift thematisiert damit auf der Stufe des Verfassungsrechts ausdrücklich den Gesetzes- und Rechtsbegriff des Grundgesetzes. Die Frage nach dem Begriff und dem Verhältnis von Gesetz und Recht zählt zu den Grundproblemen und Dauerkontroversen der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie. Auch die verfassungsgerichtliche und die höchstrichterliche ordentliche Rechtsprechung sowie die Dogmatik des Verfassungsrechts hat die sog. Bindungsformel des Art. 20 Abs. 3 GG bereits früh beschäftigt. Besondere Aktualität ist ihr vor allem durch die Mauerschützen-Urteile im Nachgang zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zuteil geworden.99 Letztlich verbirgt sich dahinter der rechtsphilosophische Grundlagenstreit zwischen positivistischen und nichtpositivistischen Rechtskonzeptionen. Er ist noch immer nicht und wird aus den genannten Gründen wohl auch nie vollends zum Erliegen kommen.100 Für die Rechtspositivisten ist Recht nur das positive Recht, d.h. das Recht, wie es tatsächlich existiert. Welche Normen zum Recht zu zählen sind, ist eine Frage der Empirie, weil es insoweit um beobachtbare Tatsachen geht. Die Anknüpfungsmerkmale dafür sind aber ganz verschieden und reichen von der autoritativen Gesetztheit über die soziale Wirksamkeit bis hin zur Anerkennung der Norm. Man spricht deshalb auch von setzungs-, wirksamkeits- und anerkennungsorientierten Varianten positivistischer Rechtskonzeptionen.101 98 Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: de Berg/Schmidt (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, S. 38, 51, 53. 99 Siehe zum Ganzen insb. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht. Eine verfassungsrechtliche und verfassungstheoretische Untersuchung zu Art. 20 Abs. 3 GG, 2003. 100 Siehe insoweit nur die Debatte zwischen Bulygin und Atienza auf dem Weltkongress der IVR (Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie) in Krakau (2007); dazu Kemmerer, Oberster Weltgerichtshof. Alle Rechtswege führen nach Washington, FAZ v. 18.8.2007, Nr. 191, S. 36; vgl. ferner Dreier, Horst, Naturrecht und Rechtspositivismus. Pauschalurteile, Vorurteile, Fehlurteile, in: Härle/Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Aktuelle Probleme des Naturrechts, 2007, S. 127 ff.

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Dem positivistischen Rechtsbegriff wird vor allem das Unrechtsargument entgegengehalten. Gustav Radbruch hat es in der berühmt gewordenen „Radbruchschen Formel“ auf den Punkt gebracht: „. . . Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ 102

Unter den nichtpositivistischen Rechtskonzeptionen dominiert noch immer der naturrechtliche Rechtsbegriff. Auch er kennt aber – insoweit dem positivistischen Rechtsbegriff durchaus vergleichbar – unterschiedliche Varianten bzw. Spielarten. So wird zwar übereinstimmend eine Menge von Grundsätzen und Richtlinien menschlichen Verhaltens, weitgehend unabhängig von Zeit und Raum, für objektiv verbindlich gehalten, doch gibt es Unterschiede in den Erkenntnisquellen, aus denen Naturrecht seine Grundsätze und Richtlinien zu gewinnen sucht. Hier werden insbesondere die Natur des Menschen, die göttliche Offenbarung und die menschliche Vernunft bemüht. Man spricht deshalb auch vom anthropologischen, religiösen und rationalen Naturrecht. Unabhängig von der Erkenntnisquelle wird heute überwiegend eine sog. schwache Version des naturrechtlichen Rechtsbegriffs vertreten, wie sie in der bereits erwähnten „Radbruchschen Formel“ zum Ausdruck kommt.103 Vor diesem Hintergrund werden dann auch die anhaltenden Kontroversen um die sog. Bindungsformel des Art. 20 Abs. 3 GG verständlich. Die Rechtspraxis hat ihren Weg auf der Grundlage einer schwachen Version des naturrechtlichen Rechtsbegriffs gefunden. So kann nach Ansicht des Bundesgerichtshofs ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund nur dann wegen Verstoßes gegen 101

Siehe dazu im Einzelnen Koller, Theorie des Rechts, S. 24 ff. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1946, 105, 107; vgl. dazu auch Meyer, „Gesetzen ihrer Ungerechtigkeit wegen die Geltung absprechen“. Gustav Radbruch und der Relativismus, in: Alexy/Meyer/ Paulson/Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 319 ff.; Adachi, Die Radbruchsche Formel, 2005, passim; Dieckmann, Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes? Eine kritische Würdigung der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung, 2006, S. 18 ff.; vgl. auch Paulson, Ein ewiger Mythos: Gustav Radbruch als Rechtspositivist – Teil I, JZ 2008, 105 ff. 103 Siehe dazu im einzelnen Koller, Theorie des Rechts, S. 31 ff. 102

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1. Kap.: Recht als soziales System

höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein „offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ zum Ausdruck kommt. Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit müsse so unerträglich sein, „dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch, SJZ 1946, 105, 107)“. Mit den internationalen Menschenrechtspakten und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seien heute sogar noch konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugetreten.104 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Interpretation des Bundesgerichtshofs ausdrücklich bestätigt, nimmt selbst Bezug auf die „Radbruchsche Formel“ und stellt diesbezüglich fest: „Das Verhältnis der . . . Kriterien der Radbruchschen Formel und der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte hat der Bundesgerichtshof dahin umschrieben, dass zu den wegen ihrer Unbestimmtheit schwer zu handhabenden Kriterien der Radbruchschen Formel konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen seien, weil die internationalen Menschenrechtspakte Anhaltspunkte dafür böten, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Diese Bewertung entspricht dem Grundgesetz.“ 105

Der Kurs der Verfassungsrechtsdogmatik schlingert hingegen. Für die einen ist mit dem Begriff des Rechts in Art. 20 Abs. 3 GG die „Idee der Gerechtigkeit“ angesprochen, der sich das Gesetz im NS-Staat und in der ehemaligen DDR entfremdet habe. Das Grundgesetz scheine nun Gesetz und Recht miteinander zu versöhnen, weil es die „zentralen Gerechtigkeitsanforderungen für das Gesetz“ verbindlich mache. Konflikte zwischen beiden seien „zwar nicht schlechthin unmöglich, aber doch nur schwer vorstellbar.“ 106 In diese Richtung weist auch, den Begriff des Rechts in Art. 20 Abs. 3 GG als sprachliche Verdoppelung des Gesetzes als (gerechtes) Recht, überpositives (Natur-)Recht oder ungeschriebenes (Gewohnheits- oder Richter-)Recht zu verstehen. Der Begriff des Rechts zielt dann auf überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen und erinnert daran, dass „auch die Auslegung des Grundgesetzes als Form kodifizierten Naturrechts in Rückbindung an fundamentale Gerechtigkeitsvorstellungen erfolgt, denen weder das Grundgesetz noch einfaches Recht widersprechen dürfen.“ 107 Für die anderen hingegen konkretisiert die Bindung an das „Gesetz“ den Stufenbau der Rechtsordnung im Verhältnis von Gesetzgebung und Verwaltung, während durch die Bindung an das „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG das „umfassende Gebot der Rechtstreue“, bezogen auf die verfassungsmäßige Rechtsordnung als solche, verankert werde. Im Gegensatz zur herrschenden Meinung, die von der „ewigen 104

BGHSt 39 1, 15 ff. BVerfGE 95, 96, 134 f.; siehe dazu insb. Schwill, Zur Anwendung der Radbruchschen Formel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, KritV 85 (2002), 79, 86 ff. 106 Sachs, Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl., 2009, Art. 20 Rn. 103 f. 107 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 85. 105

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Spannung“ zwischen Gesetz im Sinne von positivem Recht und Recht im Sinne von materieller Gerechtigkeit ausgehe, sei einer solchen Auslegung des Begriffes „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG zu widersprechen, weil damit eine „Konstitutionalisierung der Gerechtigkeit mit der Gefahr einer Aufweichung der sonst auf strenge Normativität bedachten Verfassungsordnung“ einhergehe. Rechtsbindung verstanden als Gerechtigkeitsbindung könne auf diese Weise zum „Einfallstor für der grundgesetzlichen Wertordnung zuwiderlaufende Gerechtigkeitsvorstellungen“ werden.108 Ein weiteres Beispiel mag das Bild abrunden: nach dem sog. „Historikerstreit“ der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist vor einiger Zeit der auch bereits so bezeichnete „Juristenstreit“ 109 um die Bedeutung und Reichweite des Art. 1 Abs. 1 GG und der in ihm verbürgten Unantastbarkeit der Menschenwürde ausgerufen worden. Man hätte eigentlich annehmen sollen, dass dieser „Streit“ die Rechtspraxis nicht erreichen, sich vielmehr einzig und allein in den esoterischen Höhen der Rechtsdogmatik und der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie abspielen würde. Doch dieser Eindruck würde täuschen. Verfassungsbeschwerden gegen das Luftsicherheitsgesetz des Bundes vom 11.1.2005 haben die Debatte um Bedeutung und Reichweite der in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürde vor das Bundesverfassungsgericht getragen. Dieses hat die Ermächtigung der Streitkräfte, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, als mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar bezeichnet, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrtzeuges betroffen werden.110 Die Entscheidung hat lebhafteste verfassungsrechtsdogmatische und verfassungspolitische Diskussionen ausgelöst.111

108 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 20 Abs. 3 Rn. 265 ff.; ders., Taugt die Gerechtigkeit als Maßstab der Rechtsstaatlichkeit?, Jura 1999, 337 ff. 109 Leicht, Wahret die Anfänge!, in: Die Zeit vom 11.9.03, Nr. 38, S. 9. 110 BVerfGE 115, 118 (Leitsatz 3), 152 f.; zu den diesbezüglichen Stellungnahmen der Rechtsdogmatik siehe nur die zahlreichen Nachweise bei Hofmann, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG Kommentar zum Grundgesetz, 11. Aufl., 2008, Art. 2 Rn. 51. 111 Siehe z. B. nur den Streit um die Wahl des Staatsrechtlers Horst Dreier zum Richter des Bundesverfassungsgerichts und designierten Bundesverfassungsgerichtspräsidenten wegen seiner Auffassungen zu einer möglicherweise „rechtfertigenden Pflichtenkollision“ aus Anlass der Debatte um das Luftsicherheitsgesetz und die Frage des Folterverbots (Fall Daschner), aber auch wegen seiner verfassungsrechtsdogmatischen Konzeption eines „gestuften Lebensschutzes“ im Zusammenhang mit der embryonalen Stammzellforschung, dazu Müller, Streit um neuen Richter für Karlsruhe, FAZ v. 2.2.2008, Nr. 28, S. 1; ders., Schwierige Verhandlungen über Nachfolge Hassemers, ebd., S. 2.

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1. Kap.: Recht als soziales System

Dabei taucht am Horizont erneut der alte rechtsphilosophische Grundlagenstreit zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus auf. So stand für das bisherige Verständnis der Menschenwürdegarantie über fast ein halbes Jahrhundert der Entwurf Günter Dürigs in seiner Kommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG im Maunz/Dürig112 gleichsam Pate. Er übernahm die Menschenwürdegarantie als grundlegenden sittlichen Wert, der in der europäischen Geistesgeschichte Ausdruck gefunden habe, in das positive Verfassungsrecht. Diese erhielt dadurch selbst ein vorpositives Fundament, „eine Art naturrechtlichen Anker.“ 113 Art. 1 Abs. 1 GG wurde zum „obersten Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“, das sich im Wert- und Anspruchssystem des Grundrechtsteils realisiere. Inhalt und Programm wird dieses vorpositive Fundament, wenn es heißt: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“ 114

Genau an diesem „überpositiven Gehalt“ der Menschenwürdegarantie Dürigscher Prägung knüpft Matthias Herdegen an. Er räumt ein, dass die „im Parlamentarischen Rat herrschende Vorstellung, das Grundgesetz übernehme mit der Menschenwürdeklausel ,deklaratorisch‘ einen Staat und Verfassung vorgeordneten Anspruch ins positive Recht“, noch über „beachtliche Suggestivkraft“ verfüge und in manchem „metaphysischen Interpretationsansatz“ fortwirke.115 Damit vermag der staatsrechtliche Positivist allerdings nichts anzufangen. Nach Ansicht Herdegens ist deshalb „allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts“ 116 von maßgeblicher Bedeutung. Aber auch vermeintlich modernen Konzeptionen gegenüber, die sich von der Diskursethik eines Jürgen Habermas beeinflusst sehen und der Menschenwürde insoweit einen eigenständigen objektiven Gehalt zusprechen, als sie dem Schutz der menschlichen Gattung, dem Schutz eines gattungsbezogenen Würdestandards und der Bewahrung eines bestimmten Menschenbildes diene,117 sei „äußerste 112 Dürig, Kommentierung des Art. 1 Abs. 1, in: Maunz/ders., Grundgesetz-Kommentar, Loseblatt, Std. 1958. 113 Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ vom 3.9.03, Nr. 204, S. 33. 114 Dürig, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Maunz/ders., Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 18. 115 Herdegen, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, GrundgesetzKommentar, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 17 m.w. N. 116 Ders., ebd. 117 Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 20 Rdnr. 54, S. 815, 843; Höfling, Kommentierung des Art. 1 GG, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 5. Aufl., 2009, Art. 1 Rdnr. 36 ff. Zur „gattungsethischen Einbettung der Moral“ siehe Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu

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Skepsis“ geboten. Mit Blick auf den pränatalen Würdeschutz wird das Programm noch deutlicher: „Hier geht es um eine Dimension des Würdeschutzes, zu welcher der Diskurs über Gottesebenbildlichkeit, den Beginn der Beseeltheit menschlichen Lebens, sittliche Autonomie und Selbstzweckhaftigkeit der individuellen Existenz in der Geistesgeschichte der letzten zweieinhalb Jahrtausende ebenso wenig einen verlässlichen Zugang bietet wie das schwach konturierte Menschenbild des Grundgesetzes.“ 118

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat vor diesem Hintergrund gemeint, in der Herdegenschen Kommentierung des Art. 1 Abs. 1 GG einen „Epochenwechsel“ sehen zu müssen, mit der Folge, dass die Menschenwürdegarantie „nicht mehr die Grundfeste und meta-positive Verankerung der grundgesetzlichen Ordnung, nicht mehr ,Pfeiler im Strom‘ des verfassungsrechtlichen Diskurses“ sei, sondern darin mitfließe, „anheimgegeben und anvertraut der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, für die kein verbindlicher Kanon der Interpretationswege“ existiere.119 Es bleibt abzuwarten, ob sich die divergierenden Selbstbeschreibungen der Rechtsdogmatik zum Begriff und Wesen des Rechts und des Menschen wirklich in der Zunft zu einem veritablen „Juristenstreit“ entwickeln werden120. Zumindest aber belegen sie vergleichbare Schwierigkeiten, die Soziologie und Philosophie bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit dem „Menschen“ und dem „Menschenbild“ haben. Um Einheit bezeichnen zu können, hatte man lange Zeit einer liberalen Eugenik?, 2001, S. 70 ff., 72, 74, der darunter „intuitive Selbstbeschreibungen, unter denen wir uns als Menschen (kursiv im Originaltext) identifizieren und von anderen Lebewesen unterscheiden – also das Selbstverständnis von uns als Gattungswesen“ fasst und zudem darauf hinweist, dass die „abstrakte Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte selbst wiederum in einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen Selbstverständnis der Gattung (kursiv im Originaltext) ihren Halt findet. 118 Herdegen, Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG, in: Maunz/Dürig, GrundgesetzKommentar, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 29, 55. 119 Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar, FAZ vom 3.9.03, Nr. 204, S. 33, 35. 120 Im Sinne erster Ansätze dazu siehe Borowsky, In letzter Minute. Abwägen zwecklos: Europa rettet die Menschenwürde, FAZ v. 17.10.03, Nr. 241, S. 40; Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip, JZ 2003, 809 ff.; Classen, Die Menschenwürde ist – und bleibt – unantastbar, DÖV 2009. 689 ff.; Gerhardt, Die Frucht der Freiheit, Die Zeit v. 27.11.03, Nr. 49, S. 47; Grasnick, Ab mit Würde, FAZ v. 7.10.03, Nr. 232, S. 41; Hildebrand, Unantastbar? Eine Anfrage. Dogmenkritik: Juristen streiten über die Menschenwürde, FAZ v. 5.1.2007, Nr. 4, S. 34; Höfling, Wer lebt, hat Würde, FAZ v. 26.11.03, Nr. 275, S. 37; Isensee, Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR 131 (2006), 173 ff.; Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 2003, S. 169 ff.; Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010, S. 300 ff.; Pawlik, Wo die Menschenwürde unverständlich bleibt, FAZ v. 7.10.03, Nr. 232, S. L30; Spaemann, Freiheit der Forschung oder Schutz des Embryos?, Die Zeit v. 20.11.03, Nr. 48, S. 39; Tiedemann, Menschenwürde als Rechtsbegriff. Eine philosophische Klärung, 2007; Volkmann, Nachricht vom Ende der Gewissheit, FAZ v. 24.11.03, Nr. 273, S. 8; Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot – Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG –. DÖV 2003, 873 ff.

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1. Kap.: Recht als soziales System

auf die „semantische Figur des (menschlichen) Individuums und später auf die Semantik des Subjekts“ gesetzt.121 Heute könnte man wissen, wie fragwürdig es ist, wenn wir vom Menschen reden, ohne ihn als Individuum zu kennzeichnen, über unser eigenes Menschenbild sprechen oder gar sagen, dass wir Menschen sind und sein wollen.122 Offensichtlich sind es humanistische Erblasten, die mit Erfolg dahingehende Denkverbote postulieren. Aber haben wir nicht – historisch betrachtet – mit der Orientierung an bestimmten „Menschenbildern“ durchweg schlechte Erfahrungen gemacht? Sollte eine hinreichend komplexe Beschreibung der modernen Gesellschaft den Menschen nicht vielmehr als Mitwirkenden und Betroffenen in die Umwelt der Gesellschaft versetzen?123 Und würde nicht erst gerade das dem „taking individuals seriously“ 124 Rechnung tragen?125 So wichtig es für die Identitätsbildung des Rechtssystems zweifellos ist, dass die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie stets aufs Neue nach dem Begriff und Wesen des Rechts fragt sowie Rechtspraxis und Rechtsdogmatik auf ihre Weise daran anzuschließen suchen, so notwendig erscheint es uns nun aber, im Sinne der bereits angemahnten Umstellung von Was- auf Wie-Fragen, intensiver über die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft nachzudenken. Selbstverständlich soll auch dabei die Perspektive der Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems gewahrt bleiben. Funktional betrachtet eröffnet Recht zunächst einmal eine zeitliche Dimension, indem Kommunikation „in zeitlicher Extension ihres Sinnes“ an Erwartungen orientiert wird und diese zum Ausdruck bringt. Der Begriff der „Erwartung“ wird zum gleichsam archimedischen Punkt einer funktionalen Betrachtung des Rechts. „Erwartung darf dabei nicht als aktueller Bewusstseinszustand irgendeines Individuums verstanden werden, sondern ist auf das Grundelement sozialer Systeme, nämlich Kommunikation, zu beziehen. Geht man davon aus, so thematisiert Erwartung den Zeitaspekt des Sinnes von Kommunikation.“ 126

121 Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, 1995, Vorwort, S. 7. 122 Ders., ebd., Vorwort, S. 11, und ders., Die Soziologie und der Mensch, ebd., S. 265, 274. 123 Ders., Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen, ebd., S. 155, 167 f. 124 So Niklas Luhmanns Anspielung auf Ronald Dworkins „Taking Rights Seriously“ in Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 48 m. Fn. 19. 125 Beispielhaft dafür, wie in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie bisweilen all dies verkannt wird, Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S. 37, 44, 45, 48, 50; siehe dazu auch Schulte, Eine Theorie der Gesellschaft und ihre „Feinde“, Rechtstheorie 32 (2001), 451 ff. 126 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 125; zum Thema „Recht und Zeit“ siehe insb. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, 1998, passim; siehe ferner Hiller, Der Zeitkonflikt in der Risikogesell-

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Es geht mithin nicht um die Dauer der Normgeltung, nicht um die „immanente Geschichtlichkeit des Rechts“ und auch nicht um das menschliche Verhalten in Raum und Zeit, sondern einzig und allein darum, dass die Funktion des Rechts darin besteht, sich „auf der Ebene der Erwartungen auf, eine noch unbekannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen.“ 127 Recht hat es folglich primär mit dem „Aufbau von Erwartungserwartungen“ zu tun.128 Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems weicht davon zum Teil nicht unerheblich ab. Der bereits erwähnten „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ zufolge besteht die Funktion des Rechts primär darin, „bezogen auf eine bestimmte Aufgabe ein Verwaltungshandeln zu ermöglichen, das die inhaltlichen Vorgaben insbesondere des Europa- und Verfassungsrechts berücksichtigt, in rechtsstaatlich geordneten Bahnen verläuft, sachrichtige Entscheidungen hervorbringt, bürgernah und effektiv ist und auf Akzeptanz stößt.“ 129 Demgegenüber wird in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie gerne auf die soziale Funktion des Rechts abgestellt. Danach geht es Sozialnormen (im Allgemeinen) darum, „(1) die Unsicherheiten eines Zustandes ungeregelten menschlichen Zusammenlebens zu beseitigen oder Verhaltenssicherheit zu gewährleisten; (2) den Konflikt um knappe Güter in friedliche Bahnen zu lenken, oder anders gesagt: den sozialen Frieden zu sichern; und (3) der Verfolgung eigennütziger Interessen gewisse Grenzen zu setzen, um eine wechselseitig vorteilhafte soziale Zusammenarbeit zu ermöglichen.“

Rechtsnormen (im besonderen) eignet die Friedens-, Gestaltungs- und Ausgleichsfunktion: Recht soll danach im Interesse des Zusammenlebens einer Vielzahl von Menschen Sicherheit und Frieden gewährleisten, für eine zweckmäßige und effiziente Gestaltung des sozialen Zusammenlebens Sorge tragen und einen gerechten Ausgleich zwischenmenschlicher Konflikte herbeiführen.130 Nicht selten wird sogar ausdrücklich die sozialintegrative Funktion des Rechts hervorgehoben.131 Beispielhaft werden in diesem Zusammenhang der die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands vorbereitende und bewirkende Einigungsvertrag von 1990 sowie die den Weg zur Europäischen Union ebnenden europäischen schaft: Risiko und Zeitorientierung in rechtsförmigen Verwaltungsentscheidungen, 1993. 127 Luhmann, ebd., S. 130. 128 Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, S. 98 f.; Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, S. 317; vgl. auch Chanos, Erwartungsstruktur der Norm und rechtliche Modalisierung des Erwartens als Vorgaben sozialen Handelns und Entscheidens, in: Krawietz/Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, 1992, S. 230 ff. 129 Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 24. 130 Koller, Theorie des Rechts, S. 53 ff., 57 ff. 131 Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, S. 90 ff., 98; siehe dazu kritisch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 125 f. m. Fn. 3.

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Regelungen des Wettbewerbs- und Kartellrechts, aber auch des Waren- und Dienstleistungsverkehrs genannt.132 Auf die sozialintegrative Funktion des Rechts abzustellen, birgt Gefahren in sich: zum einen diejenige, über die Bedeutung des Begriffs der „sozialen Integration“ für das allgemeine Verständnis sozialer Systeme die Besonderheiten des Rechtssystems zu ignorieren; zum anderen ist die integrative Funktion des Rechts in der Vergangenheit mit Grund, nicht zuletzt von der Critical Legal Studies – Bewegung,133 in Zweifel gezogen worden. Ganz allgemein wird man von folgendem ausgehen müssen: Integration als Begriff verspricht Einheit; alles Denken hingegen beginnt mit der Differenz. Integration zielt auf das Ganze und meint doch nur die Reduktion der Freiheitsgrade von Teilsystemen.134 Diese Kritik an der sozialintegrativen Funktion des Rechts bedeutet aber nicht, die soziale Relevanz des Rechts bestreiten zu müssen oder gar nur zu wollen. Sie liegt vielmehr gerade in der Verbindung mit der zeitlichen Dimension des Rechts. Die zeitstabile Erwartungssicherung durch das Recht erzeugt Anlass für die Unterscheidung von Konsens und Dissens, an der sich wiederum soziale Spannungen im Sinne einer Bifurkation entzünden. Das Problem dieser Spannung von Zeit- und Sozialdimension wird vom Recht erfasst und in der Kombination der Unterscheidungen kognitiv/normativ des Erwartens sowie Recht/Unrecht der Codierung verarbeitet. Dadurch ermöglicht es, gesellschaftliche Komplexität auch unter den Bedingungen evolutionärer Steigerung auszuhalten.135 Aus alldem folgt für die Beantwortung der Frage nach der Funktion des Rechts: „Abstrakt gesehen hat das Recht mit den sozialen Kosten der zeitlichen Bindung von Erwartungen zu tun. Konkret geht es um die Funktion der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung.“

Man weiß, was man von anderen erwarten darf und was nicht; man weiß, mit welchen Erwartungen man sich nicht blamiert, aber Überraschungen und Enttäuschungen sind deswegen nicht ausgeschlossen.136 Eine solchermaßen funktionale Betrachtung des Rechts, die Kommunikation „in zeitlicher Extension ihres Sinnes“ an Erwartungen orientiert und diese zum 132

Rüthers, Rechtstheorie, S. 55 f. Siehe dazu Bix, Jurisprudence. Theory and Context, Second Edition, 1999, S. 203 ff. und zuvor Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, 1987; Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1986. 134 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 603; vgl. in diesem Zusammenhang auch Holz, Funktionale und segmentäre Differenzierung der Politik, ZRSoz 22 (2001), 53, 55 ff. am Beispiel der Staatsbürgerschaft. 135 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 126, 130 f. 136 Ders., ebd., S. 131 f., 151 f. 133

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Ausdruck bringt, hat unweigerlich Konsequenzen für den Normbegriff. Auch insoweit tut man gut daran, das Erkenntnispotential auszuschöpfen, das mit der Differenzierung von Selbstbeobachtung/-beschreibung und Fremdbeobachtung/ -beschreibung verbunden ist. Für das Rechtssystem gibt es gar keine andere Möglichkeit, als die Normqualität seiner Entscheidungen tautologisch zu definieren. Recht ist, was vom Recht als Recht bestimmt wird; Recht außerhalb des Rechts kann es nicht geben. Das rechtliche Sollen steht für die Einheit und die Geschlossenheit des Systems. Für die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie bedeutet dies die Unmöglichkeit, Normen aus Fakten abzuleiten.137 Sie muss stattdessen als Beitrag zur Identitätsbildung im Rechtssystem auf die Benennung besonderer Wesensmerkmale abstellen oder – ganz klassisch – den Zwangscharakter der Rechtsnorm als deren konstitutives Merkmal hervorheben.138 In der Fremdbeschreibung des Rechtssystems müssen wir uns allerdings von solchen klassischen Begriffsbestimmungen trennen. Im Lichte einer soziologischen Theorie des Rechts erscheinen Normen als Fakten, so dass die eigentliche Theorieleistung darin besteht, wie Normen als Fakten behandelt werden, d.h. wie die theoretische Anschlussfähigkeit der Norm als Faktum realisiert wird. Dies geschieht, indem Normen als kontrafaktische Verhaltenserwartungen begriffen werden. Es geht folglich um Erwartungen, die auch im Falle ihrer Enttäuschung aufrechterhalten werden, so dass auch von normativen Erwartungen gesprochen wird.139 Soweit diesem Normverständnis entgegengehalten wird, in ihm dokumentiere sich eine „Tendenz zur Verobjektivierung, zur Konstruktion einer Gesellschaft ohne Menschen“, wodurch „Subjekt und Vernunft“ verloren gingen,140 lautet unsere Antwort schlicht und ergreifend: Und das ist gut so! Wo immer von der Funktion sozialer Systeme die Rede ist, wird nicht selten zugleich ihr Funktionsverlust thematisiert. So gehe die klassische, Generationen verbindende Großfamilie im Zeichen der modernen „Patchwork-Family“ mehr 137

Ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1985, S. 20 f. Stellvertretend dafür Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, S. 34 ff.: „In diesem Sinne sind die als Recht bezeichneten Gesellschaftsordnungen Zwangsordnungen menschlichen Verhaltens. Sie gebieten ein bestimmtes Verhalten, indem sie an das entgegengesetzte Verhalten einen Zwangsakt knüpfen, der gegen den sich so verhaltenden Menschen (oder seinen Angehörigen) gerichtet ist . . . Dass das Recht eine Zwangsordnung ist, besagt, dass seine Normen der Rechtsgemeinschaft zuschreibbare Zwangsakte statuieren“; zum Verhältnis von „Norm und Sanktion“ siehe eingehend Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, 2000, S. 28 ff. 139 Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 21 f.; von diesen normativen Erwartungen sind kognitive Erwartungen zu unterscheiden, bei denen man bekanntlich aus Erfahrungen lernt. 140 Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, S. 319. 138

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und mehr ihrer angestammten Funktion verlustig. Auch die Religion beklagt ihren Funktionsverlust in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft, die sich immer mehr an kurzlebigen „events“ und immer weniger an christlichen Grundwerten orientiere. Das Spektrum derartiger Selbstbeschreibungen sozialer Systeme ließe sich zweifellos noch erweitern, doch soll unser Augenmerk nachfolgend allein dem Rechtssystem gelten. Das Rechtssystem fertigt dabei eine Selbstbeschreibung von sich an, die durch zahlreiche, mittlerweile zum gängigen Argumentationshaushalt der Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik zählende Stereotype gekennzeichnet ist. Zunächst einmal befindet sich alles in der „Krise“ 141: unabweisbar seien eine „Krise des (regulativen) Rechts“ 142 eine „Krise des Verwaltungsrechts“ 143, eine „Krise des subjektiv öffentlichen Rechts“ 144, nicht zuletzt auch speziell eine „Krise der Wissenschaftsfreiheit“.145 Bisweilen wird gar der gesamte „Verwaltungsstaat“ oder noch weiterreichend der „Rechtsstaat“ in der Krise gesehen.146 Zumindest aber befinde sich das Öffentliche Recht als solches vor dem Hintergrund der „Komplexität der Lebensverhältnisse in modernen Industriestaaten und angestoßen durch Prozesse der Europäisierung und Globalisierung, gegenwärtig aber auch der wachsenden Ökonomisierung und Informatisierung“ in einem „dramatischen Wandlungsprozeß.“ 147 In jüngster Zeit „schmilze“ nicht nur die äußere 141 Zum Status von „Krisen“ siehe insb. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 9 f. 142 Günther, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des regulativen Rechts, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 51 ff.; Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), 184, 185 ff.; ders., Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 10; zu weiteren Nachweisen siehe Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 3 m. Fn. 9. 143 Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren – Strukturprobleme, Funktionsbedingungen und Entwicklungsperspektiven eines konsensualen Verwaltungsrechts, 1990, S. 50. 144 Ders., ebd., S. 51. 145 Geis, Universitäten im Wettbewerb, VVDStRL 69 (2010), 364, 393 spricht gar von einer „Erosion des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit“; siehe zu derartigen Verfallsszenarien schon Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), 110, 140 m.w. N. Tatsächlich geht es nämlich nur um die Komplexität der Forschung, an der sich die Autonomie der Wissenschaft beweist; es geht nicht um diese selbst. So zu Recht auch Kaube, Forschungsfreiheit – Soziologische Anmerkungen, Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen 1998, 30, 31. 146 Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, S. 48 „Der Verwaltungsstaat in der Krise“; Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders. (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 291 ff.; siehe auch Pitschas, Allgemeines Verwaltungsrecht als Teil der öffentlichen Informationsordnung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 219, 265 „Staatskommunikation in der Krise“. 147 Hoffmann-Riem, Tendenzen in der Verwaltungsrechtsentwicklung, DÖV 1997, 433.

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Souveränität des Staates durch Europäisierung und Globalisierung mehr und mehr dahin, sondern es „bröckele“ auch die innere Souveränität des Staates, die sich wesentlich in den einseitig gesetzten Hoheitsakten dokumentiere.148 Alles in allem gehe es schlechterdings um nicht mehr als einen „Funktionswandel moderner Staatlichkeit“ 149 bzw. eine „veränderte Architektur von Staatlichkeit.“ 150 Man muss dabei nicht so weit gehen, den vermeintlichen Funktionsverlust sozialer Systeme und die damit einhergehenden Krisenszenarien als „optische Täuschung“ zu diskreditieren.151 Das Krisengerede der Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik beansprucht nämlich zumindest Aufmerksamkeit im Rechtssystem. Rechtspraxis und Rechtsdogmatik sehen sich aufgerüttelt und alarmiert, ihre bisher eingenommenen Positionen erneut zu reflektieren und sich des eigenen Standortes zu vergewissern. Damit leisten sie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Identitätsbildung im Rechtssystem. Aus der Fremdbeobachtungsperspektive einer soziologischen Theorie des Rechts ist allerdings Zurückhaltung geboten. Nicht jedes Krisengerede oder noch so dramatisch gezeichnete Krisenszenario ist bereits Ausdruck einer Krise. Vielmehr sind wir uns der Kontingenz wahrheitsbeanspruchender Beschreibungen bewusst und halten deshalb einen bloßen Wandel des Gegenstandes, des Beobachters oder gar nur der Begrifflichkeiten für zumindest ebenso wahrscheinlich.152 Der vermeintliche Funktionsverlust des Rechts schlägt sich in der Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik vor allem in der Diskussion um die Steuerungsfähigkeit des Rechts und dem gewandelten Verständnis der Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft nieder.153 Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich Rechtswissenschaft nicht darauf beschränken dürfe, „Rechtsregeln, Figuren, Institute und Lehrsätze dogmatisch auszuformen“, sondern sich zugleich 148 Ritter, Buchbesprechung zu Benz, Kooperative Verwaltung, 1994, Die Verwaltung 32 (1999), 123, 124 f. 149 Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz – in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts –, Die Verwaltung 32 (1999), 241, 252 f. 150 Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Einige Leitmotive zum Werkstattgespräch, in: Die Verwaltung, Beiheft 2: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht. Werkstattgespräch aus Anlaß des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Eberhard Schmidt-Aßmann, 1999, 9, 10. 151 So Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 154. 152 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 9 f. 153 Grundlegend Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 19 ff.; Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993; Appel/Eifert, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 226 ff., 286 ff.; Spiecker gen. Döhmann, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischem Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, DVBl. 2007, 1074 ff.; überblicksartig zur Diskussion Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), 184 ff.

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mit den Wirksamkeitsbedingungen des Rechts154 zu beschäftigen habe.155 Dabei wird von einem handlungstheoretischen, akteurbezogenen Steuerungsansatz ausgegangen, der (Verwaltungs-)Recht als Instrument zur Bewirkung von erwünschten und zur Vermeidung von unerwünschten Folgen, also zur „Beeinflussung von Ereignisabläufen“ begreift.156 Obwohl der damit verbundene Steuerungsanspruch mittlerweile deutlich zurückgenommen worden ist, und zwar in dem Sinne, dass die neue Theorie politischer Steuerung kein gesellschaftstheoretisches Paradigma mehr liefere, sondern zu einer Theorie politischen Handelns in einer funktionell differenzierten Gesellschaft werde,157 erweist sich auch ein solches Steuerungskonzept letztlich als rechts- und gesellschaftstheoretisch unterkomplex. Natürlich halten auch wir Steuerung weder für schlechterdings unmöglich noch für bloße Don-Quichotterie. Dies wäre – mit den Worten Niklas Luhmanns – tatsächlich absurd, weil damit geleugnet würde, was faktisch in erheblichem Umfang geschieht.158 Allerdings ist mit dem diesen Überlegungen zugrundeliegenden Autopoiese-Konzept, demzufolge das Rechtssystem seine Autopoiesis realisiert, indem es dem Rechtscode folgt und dadurch sich selbst gegen die innergesellschaftliche Umwelt abgrenzt, ein verändertes Verständnis von Steuerung verbunden. Herkömmlicherweise meint der Begriff der Steuerung – und dies gilt auch für den handlungstheoretischen, akteurbezogenen Steuerungsansatz – ein im klassischen Sinne technisches Wirkungsverständnis, das die Herstellung eines 154 Siehe dazu Hof/Lübbe-Wolff (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht I. Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, 1999; Hill/Hof (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht II. Verwaltung als Adressat und Akteur, 2000; Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III. Folgen von Gerichtsentscheidungen, 2001. 155 Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 92 (2001), 184, 194 f.; zu Funktion und Aufgaben der Verwaltungsrechtsdogmatik siehe Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), 245 ff.; Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 9 ff. 156 Explizit Sacksofsky, Anreize, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 40 Rn. 38: „Denn rationales Verhalten bedeutet nichts anderes, als dass Menschen durch Veränderungen von Anreizen systematisch (in vorhersagbarer Weise) beeinflusst werden. Würde man diese Annahme entfallen lassen, wäre jegliche (sinnvolle) Steuerung von vornherein zum Scheitern verurteilt“; vgl. aber auch Hoffmann-Riem, Organisationsrecht als Steuerungsressource – Perspektiven der verwaltungsrechtlichen Systembildung, in: Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 355 ff.; Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 17 ff.; neuerdings in diesem Sinne – allerdings theoretisch merkwürdig unterkomplex – Sieber, Rechtliche Ordnung in einer globalen Welt. Die Entwicklung zu einem fragmentierten System von nationalen, internationalen und privaten Normen, Rechtstheorie 41 (2010), 151 ff. 157 Mayntz, Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, in: dies., Soziale Dynamik und politische Steuerung, 1997, S. 263, 286. 158 Luhmann, Politische Steuerungsfähigkeit eines Gemeinwesens, in: Göhner (Hrsg.), Die Gesellschaft für morgen, 1993, S. 50, 55, 56; ders., Steuerung durch Recht? Einige klarstellende Bemerkungen, ZRSoz 12 (1991), 142, 143 f.; ders., Politische Steuerung: ein Diskussionsbeitrag, PVS 30 (1989), 4 ff.

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Systemzustandes bezeichnet, der anderenfalls nicht eintreten würde.159 Dies setzt die nicht vorhandene Fähigkeit zur ausreichenden Isolierung beabsichtigter Wirkungsketten gegen Störungen voraus, d.h. anders gesprochen: die Fähigkeit zur Kontrolle der entscheidenden Ursachen einer Veränderung. Damit wird verkannt, dass Steuerung nur als Vergrößerung oder Verringerung spezifischer Differenzen zu begreifen ist. Kurz gesagt: Steuerung darf nicht länger als Zentralsteuerung von außen verstanden werden, sondern erweist sich als Differenzminderung durch Selbststeuerung.160 Die Diskussion um die Steuerungsfähigkeit des Rechts und das gewandelte Verständnis der Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft thematisiert darüber hinaus aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt, nämlich die Differenz von Funktion und Leistung des Rechtssystems. Die besondere Bedeutung dieser Unterscheidung ist von Niklas Luhmann immer wieder hervorgehoben worden.161 Für das Rechtssystem liegt sie vor allem in der unterschiedlichen Reichweite funktionaler Äquivalente.162 Anzusetzen ist dabei stets an der Differenz – der Unterscheidung – von Funktion und Leistung, nicht hingegen einseitig am Leistungsaspekt (Verhaltenssteuerung und Konfliktschlichtung).

159 Siehe zu den unterschiedlichen Steuerungskonzepten insb. Voigt, Staatliche Steuerung aus interdisziplinärer Perspektive, in: König/Dose (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handelns, 1993, S. 289, 290 ff.; vgl. auch Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 19 ff.; Schmidt-Preuß, Steuerung durch Organisation, DÖV 2001, 45, 47 ff.; Harms, Statement: Zur Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht, in: Hesse/Schuppert/dies. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 55 ff. 160 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 154 und zuvor ders., Steuerung durch Recht? Einige klarstellende Bemerkungen, ZRSoz 12 (1991), 142, 143 f.; ders., Politische Steuerung: ein Diskussionsbeitrag, PVS 30 (1989), 4 ff.; siehe ferner Di Fabio, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 56 (1997), 317 f.; Fuchs, Intervention und Erfahrung, 1999, S. 11 ff.; zur über den Steuerungsansatz hinausreichenden Kritik am handlungstheoretischen, akteurbezogenen Steuerungsansatz siehe Schulte, Wandel der Handlungsformen der Verwaltung und der Handlungsformenlehre in der Informationsgesellschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 333, 344 ff.; Tietze, Kooperation im Städtebau, 2003; diese Zusammenhänge verkennen auch Ladeur, Postmodeme Rechtstheorie, 2. Aufl., 1995; Teubner, Reflexives Recht, ARSP 69 (1982), 13 ff.; ders., Recht als autopoietisches System, 1989; ders., Die Episteme des Rechts. Zu erkenntnistheoretischen Grundlagen des reflexiven Rechts, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 1, 5 ff.; Teubner/Willke, Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht, ZRSoz 6 (1984), 4 ff.; Callies, Prozedurales Recht, 1999; Hagenah, Prozedurales Umweltrecht, 1995, die die Vorstellung einer zumindest beschränkten Steuerung der Gesellschaft durch Recht aufrechterhalten wollen. 161 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 757 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 156 ff.; siehe aber auch Japp, Risikoreflexion – Beobachtung der Gesellschaft im Recht, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement. Form, Funktion und Leistungsfähigkeit des Rechts in der Risikogesellschaft, 1999, S. 239, 242 f. 162 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 160; Japp, ebd., S. 242.

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Dies geschieht aber, wenn beispielsweise für außerrechtliche Selbstvergewisserung des Rechts163 plädiert wird. Dann heißt es, dass das „entformalisierte, entmaterialisierte und enthierarchisierte Recht“ weder den hergebrachten rechtsstaatlichen Strukturvorgaben noch der ihm traditionell zugewiesenen Aufgabe der „Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung“ gerecht werde. Das auf ungewisser Tatsachengrundlage agierende und zugleich Ungewissheit regulierende Recht gerate an die Grenzen seiner Steuerungskraft. Mit der Forderung nach Herstellung von Sicherheit auf der Grundlage unsicheren Wissens steuere die Gesellschaft immer tiefer in die rechtsnormative Ungewissheit. Notwendig sei die persönliche Verarbeitung normativer Ungewissheit (im Modus des Gewissens!?), womit das Recht eben unter Ungewissheitsbedingungen auf die Chancen und Risiken außerrechtlicher Selbstvergewisserung verweise. Über eine solche Thematisierung der Grenzen rechtlicher Steuerung des Gesellschaftssystems bzw. der vielbeschworenen Krise des (regulativen) Rechts, die den Leistungsaspekt des Rechts anspricht, zu einer Funktionskritik zu gelangen, ignoriert genau diese Differenz von Funktion und Leistung des Rechts.164 Noch deutlicher wird das mangelnde Problembewusstsein für die Differenz von Funktion und Leistung des Rechts nur, wenn in der klassischen, rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Lehrbuchliteratur sogar unter der Überschrift „Was leistet Recht? Die Funktionen des Rechts“ nach der Gestaltungs- und Steuerungsfunktion, der Zuordnungs- und Rechtsgarantiefunktion, der Streitentscheidungsfunktion, der Befriedungsfunktion, der Integrationsfunktion sowie der Präge- und Erziehungsfunktion gefragt wird.165 Dem ist dann allerdings wirklich nichts mehr hinzuzufügen.

§ 2 Geltung und Wirksamkeit Geltung und Wirksamkeit des Rechts markieren eine grundlegende Unterscheidung im Rechtssystem. Gerade ihre Unterscheidung erweist sich aber auch als Problem, zumindest in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems. Gleichsam schlaglichtartig wird dies deutlich, wenn es schon bei Max Ernst Mayer – noch der Metaphorik des frühen 20. Jahrhunderts verhaftet – heißt:

163 Dazu und zum Folgenden Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: Engel/Halfmann/Schulte (Hrsg.), Wissen, Nichtwissen, Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 ff. 164 Dies gilt auch für den Ansatz Ladeurs, wie er etwa in Ladeur, Perspektiven einer post-modernen Rechtstheorie, Rechtstheorie 16 (1985), 383 ff.; ders., Lernfähigkeit des Rechts und Lernfähigkeit durch Recht, Jahresschrift für Rechtspolitologie 4 (1990), 141 ff.; ders., Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995 deutlich wird. 165 So ausdrücklich Rüthers, Rechtstheorie, S. 48 ff.

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„Wie ein aufgescheuchter Vogel flattert der Begriff des Geltens durch die Rechtsphilosophie, in jedem Teil hat er sich schon niedergelassen und nirgends hat er Ruhe gefunden.“ 166

Erheblich nüchterner und abgeklärter stellt sich das Problem für Karl Larenz dar: „Die Frage nach der Geltung des Rechts, ihrer Bedeutung, ihrem Grunde und ihren Grenzen ist eine jener nie zur Ruhe kommenden Fragen, die immer wieder erneut zum Nachdenken herausfordern.“ 167

Für Vater und Sohn Röhl hingegen rückt das Problem der Rechtsgeltung in den Rang einer höchst abstrakten (philosophischen) Behandlung eines die ganze Rechtswissenschaft durchziehenden Grundthemas, nämlich der Frage, „ob die Rechtsqualität von formalen oder von inhaltlichen Anforderungen abhängt.“ 168 Dort, in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie als Reflexionstheorie des Rechtssystems, hat die Problematik offensichtlich ihre Heimstatt gefunden. Bevor wir uns dieser Diskussion um die Gründe für die Geltung des Rechts169 eingehender zuwenden, sei aber zuvor noch ein Blick darauf geworfen, inwieweit die Problematik für die Rechtspraxis und Rechtsdogmatik relevant geworden ist. Es sind die beiden zwar ganz unterschiedlichen, aber doch rechtlichen und politischen Ausnahmezustände des 20. Jahrhunderts, an die es argumentativ anzuknüpfen gilt: das NS-Unrecht der ersten und das DDR-Unrecht der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beide Ausnahmezustände haben Rechtspraxis und Rechtsdogmatik nachhaltig beschäftigt. Hier ist sicher nicht der Ort, ihre Befassung mit dem NS- und dem DDR-Unrecht in allen Einzelheiten nachzuzeichnen; etwas anderes gilt aber dann, wenn sich Rechtspraxis und Rechtsdogmatik in diesem Zusammenhang ausdrücklich dem Problem der Rechtsgeltung zuwenden. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zum NS- und DDR-Unrecht ist dies häufiger der Fall. Bisweilen werden von der Rechtsdogmatik gar „Entwicklungslinien“ in der Rechtsprechung ausgemacht.170 Solchen Entwicklungsvorstellungen, zumeist deterministisch geprägt und Fortschritt suggerierend, ist zwar mit Zurückhaltung zu begegnen,171 einschlägige Judikate lassen sich aber als Kommunikationen in einer bestimmten Zeit und als Reaktion auf die Gesellschaft dieser Zeit lesen. Mary Hesse nennt dies „redescription“, d.h. die Neubeschreibung von Beschreibungen.172 Rede166

Mayer, Rechtsphilosophie, 1922, S. 56. Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung (1929), Nachdruck 1967, S. 46. 168 Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 313. 169 Zur Notwendigkeit, eigentlich zwischen den Gründen und Bedingungen der Rechtsgeltung zu unterscheiden, siehe Luhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22 (1991), 273 ff. 170 Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 80 ff. 171 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staatsund Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, 1999, S. 39. 172 Hesse, Models and Analogies in Science, 2. Aufl., 1970, S. 157 ff. 167

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scription als autologische und autopoietische Operation173 geht es um das „laufende Transformieren von Notwendigkeit in Kontingenz.“ 174 Um die Welt zu erkennen, d.h. sie zu beschreiben, bleibt uns keine andere Wahl als das ständige Neubeschreiben der Wiederbeschreibungen von Beschreibungen. Dies gilt auch mit Blick auf das Problem der Rechtsgeltung. Schon sehr früh hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Problem der Rechtsgeltung befassen müssen. Anlass dafür war das sog. Beamtenurteil des Ersten Senats, dem eine Verfassungsbeschwerde zahlreicher Beamten, die nach dem Zusammenbruch der NS-Gewaltherrschaft keine Wiederverwendung im Beamtenverhältnis gefunden hatten, gegen das Gesetz zu Art. 131 GG zugrunde lag. Ihre Rüge bezog sich darauf, dass das Gesetz ihnen ihre unverändert gebliebenen Beamtenrechte entziehe und sie deshalb in ihren Grundrechten verletze. In seiner Entscheidung hat der Senat zunächst einmal ganz positivistisch auf die ordnungsgemäße Setzung der NS-Beamtengesetze als notwendiger Geltungsbedingung des positiven Rechts abgestellt. Er ist hier aber nicht stehengeblieben, sondern hat maßgeblich auf das Kriterium der soziologischen Geltungskraft der Norm abgehoben. Dabei sei es für die Geltungsfrage unerheblich, dass die in Rede stehenden Gesetze möglicherweise „in einem höheren philosophischen Sinne“ Unrecht darstellten. Nach Ansicht des Gerichts würde es nämlich „eine in hohem Grade unrealistische Betrachtungsweise sein, diesen Gedanken positiv-rechtlich dahin auszubauen, dass dieses (formale) Recht ex post als nichtig und die dadurch bewirkte Umwandlung des Beamtenverhältnisses als nicht vorhanden betrachtet würde. Eine solche Auffassung würde übersehen, dass es auch eine ,soziologische‘ Geltung von Rechtsvorschriften gibt, die erst dort bedeutungslos wird, wo solche Vorschriften in so evidentem Widerspruch mit den alles formale Recht beherrschenden Prinzipien der Gerechtigkeit treten, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht spräche. Diese äußerste Geltungsgrenze ist hier nicht erreicht; die nationalsozialistischen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Beamtenrechts sind nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen, die sich das ,Dritte Reich‘ selbst geschaffen hatte, formell ordnungsmäßig erlassen worden, sind von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft hingenommen worden (von den unmittelbar betroffenen weithin sogar mit innerer Zustimmung) und haben jahrelang unangefochten bestanden.“ 175

Von der Rechtsdogmatik ist der Entscheidung deshalb die Annahme einer „soziologischen Rechtsgeltungslehre“ zugeschrieben worden.176

173 Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, 1996, S. 58 f. unter Hinweis darauf, dass dies möglicherweise im Gegensatz zur klassischen Philosophie ein radikal anderes Zeitverständnis voraussetzt. 174 Ders., ebd., S. 57. 175 BVerfG, BVerfGE 3, 58, 118 f. 176 Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 64 f.

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Die Bezugnahme des Ersten Senats auf den Gedanken der „soziologischen“ Geltung von Rechtsvorschriften ist aber innerhalb des Bundesverfassungsgerichts nicht unbestritten geblieben. In seinem sog. Staatsangehörigkeitsbeschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dem deutlich widersprochen. Dem Beschluss lag eine Verfassungsbeschwerde gegen Zivilurteile zugrunde, denen zufolge eine Erbscheinerteilung versagt worden war, weil der Erblasser – ein während der NS-Gewaltherrschaft emigrierter Jude – gem. § 2 der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 die deutsche Staatsangehörigkeit verloren habe und daher nicht nach deutschem Recht beerbt werden könne. Der Senat hat das Problem der Rechtsgeltung dabei sogar zum Gegenstand seines ersten Leitsatzes gemacht, in dem es heißt: „Nationalsozialistischen ,Rechts‘vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde.“

In diesem Sinne ist die 11. Verordnung als von Anfang an nichtig erachtet worden, woran sich auch dadurch nichts ändere, „dass sie über einige Jahre hin praktiziert worden ist oder dass sich einige der von der ,Ausbürgerung‘ Betroffenen seinerzeit mit den nationalsozialistischen Maßnahmen im Einzelfall abgefunden oder gar einverstanden erklärt haben. Denn einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstituierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, dass es angewendet und befolgt wird.“ 177

Die Rechtsdogmatik hat dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts deshalb eine „klassisch nichtpositivistische Argumentation“ bescheinigt, wonach sich Rechtsgeltung eben nicht auf Faktizität gründen könne.178 Ein solcher Ansatz liegt auch dem Beschluss des Großen Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 20.5.1954 zugrunde, der sich – wie das Bundesverfassungsgericht – ebenfalls mit dem Fortbestand der Beamtenrechtsverhältnisse aus der Zeit der NS-Gewaltherrschaft beschäftigen musste. Erneut wird die „soziologische Rechtsgeltungslehre“ in aller Deutlichkeit zurückgewiesen. Zwar habe die tatsächliche Durchsetzung ungültigen und verbrecherischen „Rechts“ einen Zustand dauernder unrechtmäßiger Gewaltausübung hervorgebracht, aber Unrecht, gekleidet in das formale Gewand von Gesetzesbestimmungen, könne auch durch „eine ,soziologische‘ Geltung (d.h. wohl durch seine tatsächliche, eine gewisse Zeit hindurch fortgesetzte Durchsetzung und ihre tatsächlichen Folgen) nicht zu Recht werden“. Nackte Gewalt setze weder Recht, noch zerstöre es solches.179 177

BVerfG, BVerfGE 23, 98, 106. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 66 f. 179 BGH, BGHZ 13, 265, 297 f. Zur Bedeutung des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs siehe insb. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 81 ff. 178

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Fast vierzig Jahre später musste sich der Bundesgerichtshof noch einmal mit der soziologischen Rechtsgeltungslehre auseinandersetzen. Grund dafür waren diesmal die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze. Auch in der sog. Mauerschützen-Judikatur180 stellt der Bundesgerichtshof klar, dass für ihn die über Jahre hinweg geübte Rechts- und Staatspraxis im Sinne bloßer Faktizität nicht allein maßgeblich ist, hinzukommen müsse vielmehr eine Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht. In einem gleichsam „positivistisch-naturrechtlichen“ Ansatz orientiert sich das Gericht in seiner rechtlichen Bewertung der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze einerseits am Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte181 und andererseits an seiner schon früher entwickelten „Neo-Radbruchschen Konzeption“ eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs.182 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Argumentationsansatz unbeanstandet gelassen und die Radbruchsche Formel in ihrer Präzisierung durch die universell anerkannten Menschenrechte sogar ausdrücklich rezipiert.183 Obwohl damit auch die Rechtspraxis zur Selbstbeschreibung des Rechtssystems mit Blick auf das Problem der Rechtsgeltung beigetragen hat, darf dennoch nicht übersehen werden, dass diese – wie bereits gesagt – im Wesentlichen von der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie als Reflexionstheorie des Rechtssystems wahrgenommen wird. Ihr soll deshalb im Folgenden unser besonderes Augenmerk gelten. In der klassischen wie der zeitgenössischen Rechtsphilosophie/Rechtstheorie wird insoweit eine breite und bunte Palette unterschiedlichster Vorstellungen von der Geltung und Wirksamkeit des Rechts sichtbar. Noch durchaus gemeinsam ist ihnen der Ausgangspunkt einer Unterscheidung von juristischer (rechtlicher), soziologischer (faktischer) und ethischer (moralischer) Geltung. Juristisch (rechtlich) gilt eine Norm, die in einem verfassungsgemäßen Verfahren gesetzt worden ist; soziale Geltung meint, dass die Norm entweder befolgt wird oder ihre Nichtbefolgung sanktionsbewehrt ist; ethische (moralische) Geltung fragt danach, ob eine Norm moralisch gerechtfertigt ist.184 Lässt man diesen gemeinsamen Ausgangspunkt aber hinter sich, so zeigt sich ein Spektrum von „Geltungstheorien“, das von Kelsens Grundnormlehre, über Macht- und Anerkennungstheorien sowie utilitaristische Geltungsbegründungen bis hin zu (Neo-)Vertragstheorien 180 BGH, BGHZ 39, 1 ff.; BGH, BGHZ 40, 241 ff.; aus der Rechtsdogmatik siehe dazu insb. Amelung, Strafbarkeit von „Mauerschützen“ – BGH, NJW 1993, 141, JuS 1993, 637 ff.; Dreier, Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, 421 ff.; Schwill, Zur Anwendung der Radbruchschen Formel in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, KritV 85 (2002), 79 ff. 181 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, 1534. 182 Siehe dazu insb. Hoffmann, Das Verhältnis von Gesetz und Recht, S. 172 ff. 183 BVerfG, BVerfGE 95, 96 ff. 184 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 139 ff.

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reicht.185 Besonders wirkungsmächtig sind dabei die Hart’sche Anerkennungsregel und der Neo-Kontraktualismus geworden, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil sie – wie noch zu zeigen sein wird – auf einem gemeinsamen, von der rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Community weitgehend geteilten philosophischen Fundament beruhen. Möglicherweise hat die Hart’sche Anerkennungstheorie aber auch gerade deshalb solch breite Gefolgschaft gefunden, weil sie sich dezidiert an der Praxis der Gerichte, Behörden und Privatpersonen ausrichtet. Bisweilen ist gar darauf hingewiesen worden, dass sich in ihrer Erkenntnisregel die ganze Rechtspraxis spiegelt.186 Als notwendige und hinreichende Minimalbedingung für die Existenz eines Rechtssystems werden dabei zwei Gruppen von Normen identifiziert: Zum einen Verhaltensregeln (primary rules), deren Gültigkeit sich aus den obersten Kriterien eines Systems, z. B. der Verfassung, ergeben muss und die allgemein befolgt werden. Dabei spielt es keine Rolle, aus welchem Motiv heraus (individuell/kollektiv) die Bürger gehorchen. Zum anderen Erkenntnis-, Entscheidungsund Veränderungsregeln (secondary rules). Sie stellen „allgemeine öffentliche Standards des offiziellen Verhaltens“ dar und müssen von den handelnden Beamten ausdrücklich „angenommen“ werden. Dies bedeutet, dass die Bürger einzig und allein den Verhaltensregeln Folge leisten müssen, für die Beamten hingegen zusätzlich die Erkenntnis-, Entscheidungs- und Veränderungsregeln gelten.187 Wohl nicht ohne Grund ist der Hart’sche Ansatz deshalb als „Theorie der Normativität aus repräsentativer Anerkennung der Grundlagen eines Rechtssystems“ bezeichnet worden.188 Zumindest gleichberechtigt stehen alte und neue Formen des Vertragsdenkens neben der Hart’schen Anerkennungstheorie.189 Hier spannt sich ein weiter Bogen, der von rein individualistischen Vertragsvorstellungen (Hobbes) über freiheitlichbesitzindividualistische Vertragsmodelle (Locke) bis hin zu einer universalistischen Deutung des Sozialkontrakts („New Contractarianism“) reicht. Die NeoKontraktualisten werden dabei vornehmlich durch John Rawls,190 Robert Nozick191 und James M. Buchanan192 repräsentiert, wobei das Rawls’sche Modell

185 Siehe dazu eingehend Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 311 ff. m.w. N.; Simon, Assoziation und Institution als soziale Lebensformen in der zeitgenössischen Rechtstheorie, 2001, S. 135 ff. 186 Röhl/Röhl, ebd., S. 318 f.; daran anschließend Engländer, Moralische Richtigkeit als Bedingung der Rechtsgeltung?, ARSP 90 (2004), 86, 95; vgl. aber auch WatkinsBienz, Die Hart-Dworkin Debatte, 2004, passim. 187 Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 163 f. 188 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 56. 189 Grundlegend zu den unterschiedlichen Formen des Vertragsdenkens noch immer Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, passim. 190 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 5. Aufl. 1990, passim. 191 Nozick, Anarchie, Staat, Utopia, 1976, passim.

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der „Gewinnung konsensfähiger Grundsätze des Richtigen“ 193 als spezifische Form autonomer Geltungsbegründung besonders nachhaltige Verbreitung und Anerkennung gefunden hat.194 Ausgangspunkt der Rechtfertigung moralisch vertretbarer Grundsätze des sozialen Zusammenlebens ist für Rawls der sog. Urzustand. Er umfasst – ausgerichtet am Gedanken der „Gerechtigkeit als Fairneß“ 195 – alle positiven und negativen Bedingungen, die die Entwicklung allgemein akzeptabler Grundsätze des Zusammenlebens ermöglichen und unfaire Lösungen von vornherein ausschließen. Diese Voraussetzungen lassen sich vertragstheoretisch nicht begründen. Vielmehr bedarf es nach Ansicht von Rawls einer Rückbindung an unsere Alltagsmoral. Dies geschieht zunächst im Wege eines „rückgekoppelten Läuterungsprozesses“,196 bei dem die Alltagsmoral unter Zugrundelegung allgemeiner Rationalitätskriterien von Vorurteilen und unvernünftigen Verzerrungen befreit wird. Aus diesen „Grundauffassungen des alltäglichen Gerechtigkeitsverständnisses“ werden dann normative Prinzipien abgeleitet. Sie dienen dazu, gleichsam in einem „Gegenstromverfahren“ 197 die wohlerwogenen Urteile der Alltagsmoral in einen widerspruchsfreien Zusammenhang zu bringen („Kohärenztheorie“).198 Am Ende steht die Herstellung eines „reflektiven“ oder „Überlegungs-Gleichgewichtes“ (reflective equilibrium), das erreicht ist, wenn „die Alltagsmoral die normative Theorie als Explikation ihrer Grundanschauungen akzeptiert und die normative Theorie den common sense ordnet und diszipliniert.“ 199 Die allgemein akzeptierten Grundsätze des sozialen Zusammenlebens sieht Rawls in einer „Theorie des Guten“ repräsentiert, die zwischen „Primär- oder Grundgütern“ (primary goods) und Sekundärgütern unterscheidet.200 Schließlich müsse unterstellt werden, dass ein „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance) die Wahl der „Grundsätze der Gerechtigkeit“ (Freiheit, Gleichheit, Fairness) verberge, wobei die Stabilität des erzielten Konsenses über die Annahme eines entsprechenden Gerechtigkeitssinnes der handelnden Akteure garantiert werde.201

192 Buchanan, Die Grenzen der Freiheit. Zwischen Anarchie und Leviathan, 1984, passim. 193 So Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 62. 194 Zur Kritik des Modells siehe insb. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987, S. 130 ff. 195 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 2003, passim. 196 Siehe dazu Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 63. 197 Ders., ebd. 198 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 65 ff.; siehe dazu auch Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, S. 78 ff. 199 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 63. 200 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 111 ff. 201 Ders., ebd., S. 159 ff.

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Aber wie lassen sich nun die Geltungsansprüche der Hart’schen Anerkennungstheoretiker und der Neo-Kontraktualisten begründen? Konkret gefragt: was macht die anerkannte Verfassung anerkennungswürdig und wie gelangt man zur Normativität der allgemein akzeptierten Grundsätze des sozialen Zusammenlebens? Als gemeinsames Fundament dient hier die „kommunikative Vernunft“ 202 im Sinne der Habermas’schen Diskurstheorie. Sie bringe zwar keine inhaltlich bestimmten Handlungsanweisungen hervor, führe aber zu einer Verständigung über die Rationalität von Geltungsansprüchen und vermittele so Handlungsorientierung.203 Da Rationalität und Normativität nicht allein über Verfahren zu gewährleisten sei, erfordere dies allerdings gewisse Idealisierungen der Gesprächssituation (z. B. die Herrschaftsfreiheit des Diskurses). Im Sinne einer solchen „idealen Theorie des vernünftigen Diskurses“ ist eine Norm dann gültig, wenn der Diskurs erweist, dass „die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.“ 204 Für die Neo-Kontraktualisten heißt dies, den „Urzustand“, der – wie gesagt – alle positiven und negativen Bedingungen, die die Entwicklung allgemein akzeptabler Grundsätze des Zusammenlebens ermöglichen und unfaire Lösungen von vornherein ausschließen, umfasst, als ideale Gesprächssituation der Diskurstheorie zu definieren.205 Mit der Frage nach den Gründen für die Geltung des Rechts befinden wir uns direkt an der Nahtstelle der Selbst- und Fremdbeschreibung des Rechtssystems. Noch immer geht es in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems vornehmlich um die Bewältigung des Legitimationsproblems; zwischen den Bedingungen und den Gründen der Rechtsgeltung wird nicht unterschieden.206 Im Vordergrund steht eben nach wie vor die Suche nach dem (letzten) Geltungsgrund positiven Rechts. Zuständig dafür ist und bleibt, wie gesehen, die Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie. Und hier treffen nun schon seit mehr als einem Jahrhundert zwei Groß„theorien“ aufeinander: der Rechtspositivismus (heute vor allem in der Variante der Hartschen Anerkennungstheorie) einerseits und die Kritische Theorie

202 Siehe dazu Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 1999, S. 102 ff.; zur Kritik siehe Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, S. 106 ff. 203 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 57. 204 Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 6. Aufl. 1996, S. 75 f. (Hervorhebungen des Verf.); vgl. auch Keul, Kultur und Leben. Faktizität und Geltung bei Rickert und Habermas, in: Alexy/Meyer/Paulson/Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 435, 445 ff.; zu den Dimensionen der Rechtsgeltung siehe Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 45 ff. 205 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 63. 206 Luhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22 (1991), 273, 274.

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(früher als Natur- oder Vernunftrechtslehre, heute als diskurstheoretisch fundierter Neo-Kontraktualismus) andererseits. Die Kritische Theorie ist dabei gleichsam das Produkt fortdauernder Beobachtung des Rechtspositivismus. Weil es keinen Sinn macht, die Geltung positiven Rechts zu leugnen, versucht sie, „das Schiff der Vernunft zwischen der Skylla der Positivität und der Charybdis des Anarchismus hindurchzusteuern, ohne auf die Minen aufzulaufen, die die Dialektik der Aufklärung gelegt hatte“. Inhaltlich mündet dies in ein „Recycling der Vernunft.“ 207 Dabei wird an einer normativen Qualifikation der Rechtsgeltung festgehalten: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ 208 Letztlich steht dahinter die alte, liberale Freiheitsregel, der zufolge die Freiheit des einen ihre Grenze an den Rechten des anderen findet.209 So überzeugend diese plakative Regel auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so sehr wird man ihre Justitiabilität und Praktikabilität im Rechtssystem schon angesichts ökologischer Betroffenheiten210 und terroristischer Bedrohungen211 doch in Zweifel ziehen müssen. Die Kritische Theorie behilft sich deshalb mit einer Legalfiktion: Gültig ist eine Norm, wenn bei ihrem Zustandekommen die üblichen rechtsstaatlichen Verfahrensregeln eingehalten wurden. Ihr kommt dann die „Vermutung rationaler Akzeptabilität“ zu.212 An der „Unvermeidlichkeit . . . legalfiktionaler Legitimität“ ändert dies nichts.213 Demgegenüber geht der Rechtspositivismus vom Begriff der Rechtsquelle aus. Mit ihm verbinden sich Universalität und Spezifizierbarkeit. Rechtsgeltung ist demnach stets auf eine Rechtsquelle zurückzuführen und nur bestimmte Rechtsquellen genießen Anerkennung.214 Damit erbringt der Begriff der Rechtsquelle zwar eine komplexe Leistung, doch sind zugleich die mit seiner Metaphorik einhergehenden Probleme umschrieben. So ermöglicht er eine Rechtsquellen„theorie“, die Rechtsquellen inkludiert, aber auch solche ausschließt.215 Beispielhaft seien hier nur die zahlreichen Auseinandersetzungen um die Anerkennung von Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht oder Rechtsdogmatik als Rechtsquelle genannt. Vor allem aber asymetriert der Begriff der Rechtsquelle das Geltungsproblem durch eine „externe Referenz“ – sei es im Kelsenschen Sinne über den Verweis 207

Ders., ebd., 274 f. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138. 209 Siehe dazu nur Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 13. 210 Siehe dazu Luhmann, Ökologische Kommunikation, 3. Aufl., 1990, passim. 211 Siehe dazu Japp, Zur Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus, Soziale Systeme 9 (2003), 54 ff. 212 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 188. 213 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 100. 214 Ders., Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22 (1991), 273, 275 f. 215 Noch immer grundlegend dazu Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, passim. 208

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auf eine Grundnorm, sei es im Sinne H. L. A. Harts durch die Bezugnahme auf seine „rules of recognition“ oder institutionentheoretisch unter Rückgriff auf die gerichtliche Praxis216 – und verleiht ihm auf diese Weise den „quasi-normativen Status eines Konditionalprogramms.“ 217 Man mag darüber streiten, ob die Kontroverse von Rechtspositivismus und Kritischer Theorie wirklich produktiv ist oder ihr doch nur noch der Status „kongresspolitischer Positionskämpfe“ 218 zukommt; jedenfalls aber trägt die Diskussion um die Gründe der Rechtsgeltung zur Selbstbeschreibung des Rechtssystems bei. Eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems lässt dies sichtbar und verständlich werden. Und sie zeigt auch, dass der Einheit des Systems keineswegs eine Einheit der Selbstbeschreibung entsprechen muss. Zugleich ermöglicht die Fremdbeschreibung aber auch, von der Frage nach den Geltungsgründen zu derjenigen nach den Geltungsbedingungen des Rechts überzugehen. Eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems lässt dieses selbst als Bedingung der Rechtsgeltung erscheinen. Oder kurz gesagt: „Ohne Rechtssystem gilt kein Recht.“ 219 Natürlich wirft dies die naheliegende Frage auf, ob es dann überhaupt noch der Geltungssymbolik bedarf. Die Antwort liegt in der mit dem Geltungssymbol verbundenen Einführung einer weiteren produktiven Unterscheidung in das Rechtssystem, nämlich derjenigen von geltendem und nichtgeltendem Recht. Dabei thematisiert Geltung in der Terminologie George Spencer Browns die Innenseite, Nichtgeltung hingegen die Außenseite der Form.220 Die Einheit von Geltung und Nichtgeltung lässt sich allerdings nicht mehr in der Geltungsterminologie wiedergeben, weil Systeme nur Unterscheidungen, nicht aber Einheiten zu prozessieren vermögen.221 Begrifflich betrachten wir das Symbol der Rechtsgeltung als „semantische Errungenschaft der Moderne“ 222 und lösen uns damit von der herkömmlichen Semantik der Ästhetik und der Theologie. Rechtsgeltung zirkuliert als von Operation zu Operation weiterzureichendes Symbol im Rechtssystem.223 Es steht für 216 Siehe dazu Mac Cormick/Weinberger, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, 1985; kritisch dazu Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers. Kritik eines institutionalistischen Rechtspositivismus, passim. 217 Luhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22 (1991), 273, 276. 218 Ders., ebd., 277. 219 Ders., ebd., 278. 220 Spencer-Brown, Laws of Form, 1997, passim. 221 Luhmann, Die Geltung des Rechts, Rechtstheorie 22 (1991), 280 f.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 104. 222 Zum Begriffsverständnis im Mittelalter und zur wegbereitenden Leistung des theologischen Voluntarismus des Spätmittelalters siehe ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 105. 223 Siehe zum Folgenden ders., ebd., S. 98 ff.

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die Autopoiesis normativer Kommunikation und die dynamische Stabilität des Rechtssystems; es dient der Wahrung und Reproduktion der Einheit des Rechtssystems. Das Geltungssymbol markiert die Innenseite der Form und lässt die Außenseite unmarkiert. Damit ermöglicht es operative Anschlussfähigkeit im Rechtssystem, weshalb man eben in demselben feststellen kann, dass eine Norm nicht gilt. Die „Verwerfungskompetenz“ des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 31 Absatz 2 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz, in den Fällen der Entscheidung über Verfassungsbeschwerden ein Gesetz für nichtig zu erklären und dieser Entscheidung sogar Gesetzeskraft zukommen zu lassen, legt dafür beredtes Zeugnis ab. Ein solches Verständnis „temporalisiert“ zunächst einmal den Geltungsbegriff, indem an Stelle überpositiver normativer Geltungsgründe einzig und allein auf den Faktor Zeit als unabdingbare Geltungsgrundlage rekurriert wird, und dies im Sinne der „Gleichzeitigkeit aller faktischen Operationen des Gesellschaftssystems und seiner Umwelt.“ 224 Vor allem aber wird ungeachtet dieser „Umstellung von Hierarchie auf Zeit“ der „dynamische“ Charakter eines solchen Geltungsverständnisses sichtbar.225 Geltung ist nicht länger das Symbol eines unabänderlichen Bestandes, der sich aus stabilen externen Referenzen – sei es einer hypothetischen Grundnorm, sei es „kommunikativer Vernunft“ – speist. Geltung steht vielmehr als Symbol für Bewegung im Rechtssystem. Im Wechsel seiner Operationen erzeugt es die Einheit des Systems. Mit der Weitergabe des Symbols von Operation zu Operation trägt es zur permanenten Reproduktion des Systems bei. Rechtsgeltung ist auf Änderung des Rechtszustandes gerichtet. Jede Änderung des geltenden Rechts muss operativ an den geltenden Rechtszustand anknüpfen. Deshalb ist z. B. dem Bundesverfassungsgericht durch das geltende Recht (§ 31 Absatz 2 Satz 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) vorbehalten, Gesetze für nichtig und damit für nicht geltend zu erklären. Dieser Zusammenhang verdeutlicht, was gemeint ist, wenn der Rechtsgeltung als Symbol im Rechtssystem die Funktion zugeschrieben wird, Kontinuität in der Diskontinuität zu garantieren. Und genau deswegen ist die Kennzeichnung der Rechtsgeltung als Symbol der „dynamischen Stabilität“ des Rechtssystems eine zutreffende Beobachtung.

§ 3 Recht und Unrecht „Der . . . zulässige Normenkontrollantrag führt zu der Feststellung, dass das Sechste Gesetz zur Änderung des Hochschulgesetzes . . . mit Art. 70, 75 Abs.1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 72 Abs.2 GG unvereinbar und insoweit nichtig ist.“ 226 224 Ders., ebd., S. 109 f.; siehe auch Esposito, Die Konstruktion der Zeit in der zeitlosen Gegenwart, Rg 10 (2007), 27 ff.; Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, S. 307 f. 225 Siehe zum Folgenden Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 98 ff. 226 BVerfG, BVerfGE 112, 226, 242.

§ 3 Recht und Unrecht

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„Auf Antrag des Straßenbauunternehmers, des Beigeladenen zu 1, stellte der Beklagte im Wege eines (Ergänzungs-)Planfeststellungsverfahrens nach dem Personenbeförderungsgesetz die Straßenbahnführung entsprechend dem städtebaulichen Konzept der Beigeladenen zu 2 fest. Die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg.“ 227 „Das Berufungsgericht hat den Beklagten wegen der Erteilung der hier in Rede stehenden Genehmigung . . . für schadensersatzpflichtig gehalten . . . Daneben hält das Berufungsgericht ersichtlich auch einen mit dem Staatshaftungsanspruch konkurrierenden Amtshaftungsanspruch . . . für gegeben. Hiergegen wendet sich die Revision ohne Erfolg.“ 228

Tagtäglich beschreibt das Rechtssystem, auch durch die hier zitierte Rechtspraxis,229 seine systemleitende Codierung von Recht und Unrecht aufs Neue. Ist das Gesetz verfassungsgemäß oder verfassungswidrig, ist der Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig und ist der geltend gemachte Anspruch begründet oder unbegründet? Das sind die Fragen, die über die Zuordnung zum positiven oder negativen Wert des binären Codes Recht/Unrecht entscheiden. Ob durch Urteil oder Beschluss entschieden wird, so oder so bleibt die Zuerkennung der Werte Recht und Unrecht eine systeminterne Angelegenheit. Das Recht wird zur „endlosen Geschichte“,230 das Elemente (z. B. Urteile) nur produziert, um weitere Elemente (z. B. eine Berufungs- oder Revisionsentscheidung) zu produzieren. Aber auch die Rechtsdogmatik, die etwa im Rahmen eines Fachzeitschriftenbeitrages danach fragt, ob die Einführung von Studiengebühren im Zuge des Sechsten Hochschuländerungsgesetzes mit den kompetenzrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes zu vereinbaren ist, ordnet ihre Kommunikation der Codierung des Rechtssystems (hier: verfassungsgemäß oder verfassungswidrig) zu. Bisweilen wird sie gar zum Ausgangspunkt für normative Anschlusskommunikation der Rechtspraxis, z. B., wenn sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidungsbegründung ausdrücklich auf Stellungnahmen der Rechtsdogmatik bezieht.231 Oder aber die Rechtsdogmatik knüpft ihrerseits selbständig an eine 227

BVerwG, BVerwGE 123, 286, 287 f. BGH, BGHZ 153, 198, 200. 229 Diese stellt aber rein quantitativ sicherlich den kleineren Teil der Operationen des Rechtssystems dar, denn jede Kommunikation, die sich am Rechtscode orientiert, ordnet sich dem Rechtssystem zu, so z. B. auch der Hinweis der Stewardess an einen Fluggast, weiterer Alkoholausschank sei ihr unter Bezugnahme auf die für das Flugbegleitpersonal geltenden Vorschriften leider untersagt. Andererseits führt aber auch nicht jede Benutzung eines Rechtsbegriffs gleich dazu, dass diese Kommunikation zwangsläufig dem Rechtssystem zuzuordnen ist. Siehe dazu mit Beispielen Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 67. 230 Ders., ebd., S. 179. 231 Siehe z. B. BVerfG, BVerfGE 112, 1, 35 – Zur Vereinbarkeit der Enteignungen in der ehemaligen SBZ zwischen 1945 und 1949 mit dem Völkerrecht und zu den Folgen einer möglichen Völkerrechtswidrigkeit für die verfassungsrechtlichen Bindungen der Bundesrepublik Deutschland – unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Tomuschat, Die 228

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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, um der Frage nachzugehen, ob diese mit den Vorgaben der Verfassung vereinbar ist.232 Auch dieser Regress ist wie bei jedem autopoietischen System ein grundsätzlich infiniter. Und sogar die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie teilt die Entscheidungsperspektive des Rechtssystems, wenn sie der Differenz von Recht und Unrecht einen „Horizont und in ihm einen Richtungs- und Steigerungssinn“ zuschreibt, den sie im Widerstreben des Rechten und Unrechten sieht. Recht gehe dabei in seinem Bewegungs- und Steigerungssinn auf das Rechte als seinen Fluchtpunkt, ohne diesen etwa in einem Rekurs auf einen einzigen höchsten Begriff des Rechts zu finden. Vielmehr gehe es darum, die jeder Gesellschaft und ihrem Recht „gemeinsamen Orientierungen, allgemeinen Standards, Einstellungen und Haltungen“ zu ermitteln. Nur im Rekurs auf und Diskurs über die „tragenden und strukturbildenden Prinzipien der Rechtsordnung und ihren kulturellen Kontext“ seien Recht und Rechtsanwendung gegen subjektive Beliebigkeit zu stabilisieren.233 Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie vermögen Recht und Unrecht ebenso „leicht“ und ebenso „richtig“ festzustellen. Und dennoch ist es nicht ohne Bedeutung, ob man sich im Recht oder Unrecht befindet. Der Positivwert Recht ist nämlich mit größerer Anschlussfähigkeit ausgestattet als der Negativwert Unrecht, d.h. an Recht lassen sich im Vergleich zum Unrecht mehr Kommunikationen anschließen.234 Dies findet seine Ursache aber nicht etwa in einer ideal existierenden Werthaftigkeit bzw. Wertwidrigkeit der Werte, sondern einzig und allein in der Differenz ihrer Anschlussfähigkeit. Damit ist nicht nur ein utilitaristisch größerer Nutzen des Codewerts Recht gemeint. Vielmehr knüpfen sich moralische Achtung, politischer Einfluss und sozialer Kontakt, also Partizipation an Gesellschaft schlechthin, in spezifischer Weise an das „Recht“. Der Code Recht/Unrecht ist demzufolge durch eine Asymmetrie kommunikativer Anschlussfähigkeit gekennzeichnet. Codierung ist ohne Programmierung nicht denkbar.235 Letztere füllt erstere mit Inhalt; nur gemeinsam ermöglichen sie die Einheit eines autopoietischen SysVertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), 1, 29 oder BGH, BGHZ 153, 198, 204 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Oebbecke, Kommunalaufsicht – nur Rechtsaufsicht oder mehr?, DÖV 2001, 406. 232 Mit Blick auf die benannte „Studiengebühen-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts siehe nur Hain/Uecker, Die „Studiengebühren-Entscheidung“. Konzeptionelle Kontinuität in der Kompetenzrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2006, 48 ff.; Waldhoff, Studiengebühren im Bundesstaat, JuS 2005, 391 ff. 233 So z. B. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 23 ff. unter Bezugnahme auf Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984; Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994. 234 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171, 177 f. 235 Zum Folgenden siehe ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 165 ff.; ders., ebd., 171, 194 ff.

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tems. Dies gilt auch für die Codierung und Programmierung des Rechtssystems. Die Strukturform des Recht/Unrecht-Codes steht dabei für zeitliche Invarianz und Anpassungsfähigkeit des Rechtssystems; seine Programme hingegen lassen die notwendige Differenz von Änderbarkeit und Nichtänderbarkeit zu. Im Kontingenzraum, den der Code des Rechtssystems eröffnet, sind die Programme darauf spezialisiert, die Zuteilung der Codewerte zu regeln. Sie entscheiden über die „richtige“ Bestimmung von Recht und Unrecht, bieten aber unter Verzicht auf jeden Apriorismus ihrer Vernunft (z. B. die Geltung einer Grundnorm oder eines höherrangigen Sittengesetzes)236 lediglich Gesichtspunkte des „Richtigen“ an und stehen nicht für das absolut „Richtige“. Gerade deshalb müssen Programme – im Gegensatz zum Code – von Zeit zu Zeit modifiziert werden. Die Programme des Rechtssystems sind Konditionalprogramme.237 Dies hängt mit der Funktion des Rechts zusammen, nämlich der Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung. Danach werden Erwartungen für den Fall ihrer Enttäuschung in die Form von Normen gebracht. Wenn man in der Gegenwart wissen und entscheiden will, ob Erwartungen berechtigt sind, so lässt sich dies nur durch Konditionalprogramme gewährleisten. Für das Recht sind hier vor allem Gesetz, Rechtsverordnung, Satzung und Verwaltungsvorschrift zu nennen.238 Als Gesetz werden dabei alle Anordnungen bezeichnet, „die in dem in der Verfassung vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zustande kommen und wirksam werden“. Rechtsverordnungen hingegen kennzeichnen „materielle Rechtssätze, die im Regelfall aufgrund einer formellgesetzlichen Ermächtigung von Stellen der Exekutive erlassen werden und allgemeinverbindliche Wirkungen erzeugen“. Satzungen sind demgegenüber „Rechtsvorschriften, die von einer dem Staat eingeordneten juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörigen und unterworfenen Personen erlassen werden“. Unter Verwaltungsvorschriften schließlich versteht man Regelungen, „die innerhalb der Verwaltungsorganisation von übergeordneten Verwaltungsinstanzen oder Vorgesetzten an nachgeordnete Behörden, Verwaltungsstellen oder Bedienstete ergehen und die dazu dienen, Organisation und Handeln der Verwaltung näher zu bestimmen“. Darüber hinaus erfüllen aber ganz selbstverständlich jeder Verwaltungsakt, jede Gerichtsentscheidung und jeder Vertrag den Charakter eines Konditionalprogramms im Rechtssystem. Kurzum: es geht um

236 Einen Apriorismus, auf den die Rechtsphilosophie zur Wahrung der Identität des Rechtssystems selbstverständlich nicht verzichten kann! 237 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 195 ff. 238 Siehe dazu insb. Ossenbühl, § 61 Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, Rn. 13, § 63 Verfahren der Gesetzgebung, § 64 Rechtsverordnung Rn. 1, § 65 Autonome Rechtsetzung der Verwaltung Rn. 4 und § 66 Satzung Rn. 1, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl., 1996.

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das positive Recht.239 Dadurch, dass nur dieses über die Zuordnung zum Recht/ Unrecht-Code des Rechtssystems entscheidet, wird ausgeschlossen, dass künftige, im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht feststehende Tatsachen entscheidungsrelevant werden. Recht macht sich demnach nicht von der Zukunft abhängig. Über die Zuteilung der Codewerte Recht und Unrecht wird auf der Grundlage der Programme des Rechtssystems nur selten ad hoc entschieden. Ob vor Gericht, bei der Gesetzgebung oder beim Verwaltungshandeln kommt vielmehr ein Gedanke zum Tragen, der es dem Rechtssystem erlaubt, Entscheidungen aufzuschieben und eine Zeitlang im Ungewissen zu operieren: die Rede ist vom Verfahren.240 Dem Verfahrensgedanken wird auch in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems besondere Aufmerksamkeit zuteil. Am Beispiel des Verwaltungsverfahrens sei dies nachfolgend verdeutlicht. In der Rechtspraxis hat dies vor allem im Umwelt- und Planungsrecht seinen Niederschlag gefunden. So hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof etwa für die Umweltverträglichkeitsprüfung in der straßenrechtlichen Planfeststellung entschieden, dass es das Hauptanliegen der Umweltverträglichkeitsprüfung sei, die Auswirkungen des Vorhabens auf die Umwelt für sich darzustellen, zu bewerten und als gebündelte Entscheidungsgrundlage herauszuarbeiten. Da die Ermittlung und Bewertung von Belangen zum Entscheidungsprogramm der (Fach-)Planungsbehörden gehöre, wirke die Umweltverträglichkeitsprüfung zudem auf das materielle Recht ein. Nach alledem lasse sich die Funktion der Umweltverträglichkeitsprüfung tendenzweise mit der Argumentationsfigur der „Richtigkeitsgewähr durch Verfahren“ umschreiben.241 Und auch der Baurechtsgesetzgeber hat diesem Gedanken Nachdruck verliehen, z. B. durch das Gesetz zur Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien.242 Im Interesse der „Gewähr materieller Rechtmäßigkeit des Bauleitplans durch ein ordnungsgemäßes Verfahren“ solle der Sinn und Zweck von Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung, nämlich die Gewährleistung einer materiell richtigen Entscheidung durch sorgfältige Ermittlung und Bewertung der von der Planung berührten Belange im Verfahren der Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung, stärker berücksichtigt werden. Dies insbesondere deshalb, weil in der Rechtsprechung bereits anerkannt sei, dass die Einhaltung bestimmter Verfahren indizielle Bedeutung für die mit der Verfahrensordnung zu gewährleistende, materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung haben könne.243

239 240 241 242 243

Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171, 197. Siehe dazu insb. ders., Legitimation durch Verfahren, 1969, passim. BayVGH, DVBl. 1994, 1198, 1200; siehe aber auch BVerwG, NVwZ 1999, 989 f. Europarechtsanpassungsgesetz Bau v. 24.6.2004, BGBl. I S. 1359. BT-Drucks. 15/2250, 31 f., BR-Drucks. 756/03, 85 f.

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Dieser Befund zur Bedeutung des Verfahrensgedankens findet in der Rechtsdogmatik seine Entsprechung. Insoweit ist vor allem auf die Diskussion um die Reform des Verwaltungsrechts hinzuweisen. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Grundsatz vollständiger Kontrolle und die Neigung der Gerichte, die Verantwortung für die inhaltliche Richtigkeit der Verwaltungsentscheidungen zu übernehmen, dazu geführt habe, dass das Verwaltungsverfahrensrecht in seiner eigenständigen Bedeutung für die Richtigkeitsgewähr nicht hinreichend erfasst worden sei. Wenn aber die prozeduralen Vorgaben des EG-Rechts244 künftig besser rezipiert werden sollten, dann sei das Zentralthema der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte einzubeziehen. Solange die Verwaltungsgerichte dazu verpflichtet würden, Verwaltungsentscheidungen inhaltlich grundsätzlich vollständig zu kontrollieren und damit Verantwortung für die Ergebnisrichtigkeit zu übernehmen, komme das Verwaltungsverfahrensrecht aus seiner „dienenden Funktion“ nicht heraus. Erfreulicherweise greife man aber in jüngerer Zeit den europarechtlichen Ansatz auf, die inhaltliche Qualität von Planungsentscheidungen durch die Gestaltung des Verfahrens zu gewährleisten. Damit werde eine behutsame Umsteuerung von einem zu stark materiell ausgerichteten auf ein prozedurales Konzept initiiert.245 Und sogar in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie hat der Verfahrensgedanke in erheblichem Umfang Raum gegriffen.246 Hier sind insbesondere die Konzepte eines prozeduralen bzw. reflexiven Rechts, einer prozeduralen Gerechtigkeitstheorie sowie einer prozeduralen Geltungstheorie247 zu nennen. So bezeichnet prozedurales Recht das Recht als ein „Kommunikationssystem, dessen Komponenten darauf gerichtet sind, die Rationalität des Rechts durch Verfahren zu steigern. Zu den Komponenten eines prozedural-rationalen Rechts gehören (1) alle rationalitätsfördernden Normen, durch die das Recht sich als 244 Siehe dazu vor allem Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, 279 ff. 245 Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 223, 305, 361 f.; ebenso Hoffmann-Riem, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz. Einleitende Problemskizze, in: ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 9, 13, 22; Möllers, Methoden, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 5, 25 „Gebot einer prozedural reflektierten Auslegung“; Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 226, 271 ff.; vgl. auch Hagenah, Prozedurales Umweltrecht, 1995; Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997. 246 Aus der politischen Philosophie siehe mit Blick auf das Rechtssystem insb. Gerhardt, Partizipation. Das Prinzip der Politik, 2007, S. 278 ff, 324 ff. 247 Siehe dazu Schulte, Geltung und Wirksamkeit des Rechts der Gesellschaft. Eine Selbst- und Fremdbeschreibung des Rechtssystems, in: Krawietz/Sproede (Hrsg.), Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewusstsein. Transformationen der Rechtskultur in West- und Osteuropa, Rechtstheorie 35 (2004), 669 ff.

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System konstituiert einschließlich derer, die die Kopplung des Rechts an seine Umwelt regeln, (2) alle Kommunikationen, die einen Anspruch auf richtige Verwendung des Rechtscodes erheben einschließlich derer, die sich auf die diskursive Einlösung dieses Anspruchs richten (operative Komponente) und (3) ein prozedurales Rechtsparadigma, das bei allen Rechtsoperationen zur Bestimmung von Identität und Grenzen des Rechts mitzuführen und beständig zu überarbeiten ist (reflexive Komponente).“ 248 Die prozedurale Gerechtigkeitstheorie hingegen versucht mit Hilfe des hypothetischen idealen Diskurses – einem Verfahren der reinen prozeduralen Gerechtigkeit – einzelne Gerechtigkeitsprinzipien zu begründen. Dazu sollen „ein umfassendes System öffentlicher und privater Freiheiten, der allgemeine Gleichheitssatz, das Gebot der Verhältnismäßigkeit und ein Grundrecht auf Demokratie“ zählen. Eine Diskurstheorie der Gerechtigkeit ermögliche dadurch, dass Anwendungsbedingungen und Verfahrensregeln der regulativen Idee eines Diskurses unter idealen Bedingungen folgten, eine weitergehende, konkretisierende Gerechtigkeitsbegründung jenseits der unmittelbar begründeten Gerechtigkeitsnormen.249 Aus alldem wird ersichtlich, dass das Rechtssystem mit dem Verfahrensgedanken vornehmlich inhaltliche Richtigkeitsgewähr verbindet. Eine Fremdbeschreibung dieser Selbstbeschreibung des Rechtssystems aus der Sicht einer soziologischen Theorie des Rechts fördert jedoch einen davon deutlich abweichenden Befund zu Tage.250

248 Callies, Prozedurales Recht, 1999, S. 180; ders., Das Tetralemma des Rechts, ZRSoz 21 (2000), 293 ff.; vgl. insoweit auch Denninger, Recht und rechtliche Verfahren als Klammer in einer multikulturellen Gesellschaft, in: Summa. Dieter Simon zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Kiesow/Ogorek/Simitis, 2005, S. 117, 130 ff. 249 Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 2000, S. 366 f. 250 Zu kurz geschlossen deshalb Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 517: „Während ursprünglich zwischen der Systemtheorie Luhmanns und der Gesellschaftstheorie Habermas’ Welten zu liegen schienen, ist der Gedanke der Prozeduralisierung heute zur Brücke zwischen den beiden Theorielagern geworden . . . Aus soziologisch-theoretisch gemeinten Konzepten des reflexiven Rechts ergeben sich damit ebenso wie aus der Diskurstheorie zwanglos (oder zwangsläufig) prozeduralistische Gerechtigkeitstheorien, die man herkömmlicherweise als normativ einordnen würde, die sich selbst aber gegen solche Klassifizierung sperren.“ und Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 63 f.: „Während ,Verfahren als Verwirklichungsmodus‘ auf die Umsetzung abstrakt-genereller Vorgaben im konkreten Einzelfall gerichtet ist, geht der Leitgedanke der ,Prozeduralisierung‘ darüber hinaus, indem er verstärkt eine materielle Komponente in den Vordergrund rückt: Auch die Norminhalte sollen überwiegend im Verfahren selbst gewonnen werden. Gespeist wird die dahinterstehende Vorstellung regulierter Selbstregulierung aus ganz verschiedenen Quellen: Systemtheorie und die auf ihrer Basis entwickelten Konzepte des ,reflexiven Rechts‘ und der ,Kontextsteuerung‘ gehen hier in gewisser Weise eine strategische Allianz ein mit Steuerungsvorstellungen der modernen Institutionen- und Diskurstheorie.“

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Danach sind Verfahren nämlich kurzfristig eingerichtete, auf ein Ende hin konstruierte Sozialsysteme, denen die besondere Funktion zukommt, bindende Entscheidungen zu erarbeiten. Wie bereits erwähnt, dienen sie dazu, Entscheidungen aufzuschieben (Latenzfunktion) und eine Zeitlang im Ungewissen251 zu operieren.252 Zum Teil wird dem entgegen gehalten, dass Verfahren desto mehr Zeit in Anspruch nähmen je weiterreichend und komplexer die Entscheidung sei. Dabei sei der „Zeitvorrat“ aber nicht nur allgemein begrenzt, sondern gerade Entscheidungen unterlägen in dieser Hinsicht einem besonderen Druck. Vor allem die „wichtigen“ dürften nicht verzögert werden. Da bereits das bloße Abwarten als – negative – Entscheidung fungieren könne, bilde auch in diffizilen, unsicheren Konstellationen Attentismus keine adäquate Entscheidungshaltung.253 Darin wird ein unterentwickeltes Zeitverständnis sichtbar.254 Die Rede vom „Zeitvorrat“ suggeriert – salopp formuliert –, dass sich Zeit in Tüten packen lasse. Dabei ist sie nichts anderes als die Differenz von Vergangenheit und Zukunft und hat nur als Differenz Aktualität. „Sie ist nur, indem sie nicht mehr und noch nicht ist. Sie hat keinen Platz in der Welt.“ 255 Und wer soll eigentlich die „wichtigen“ Entscheidungen, die keine Verzögerung dulden, von den unwichtigen unterscheiden. Es muss deshalb wohl dabei bleiben, dass das Rechtssystem auf dem Weg zur Produktion seiner Entscheidungen mit dem Verfahren Latenz einbaut und eine Zeitlang im Ungewissen operiert.256

251 Ungewissheit wird zum Medium der eigenen Autopoiesis, „um Beiträge zu motivieren, Partizipation zu ermutigen, Chancen . . . in Aussicht zu stellen und damit die Teilnehmer zur Mitwirkung, also auch zur Anerkennung zu veranlassen, bis sie am Ende Gefangene ihrer eigenen Teilnahme sind und wenig Aussichten haben, nachträglich die Legitimität des Verfahrens zu bestreiten“ (Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 207, 208 f.). 252 Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., 1987, S. 142; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 209 hält sie deshalb für eine der bedeutendsten evolutionären Errungenschaften; für Ladeur/Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143, 148 f. fungieren sie im Rechtssystem als Substitut früherer substantieller Gewissheiten und nehmen ohne Aufgabenverlust die Stelle des transzendentalen Bewusstseins als konstitutives Ordnungszentrum ein. 253 Ladeur/Augsberg, ebd., 149 f. unter Bezugnahme auf Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke in der Dogmatik des öffentlichen Rechts, in: Lerche/Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, 1, 13, wo der „Hang zum Dilatorischen“ zu den „Untugenden des Zeitgeistes“ gerechnet wird. 254 Zu Zeit und Temporalisierungen siehe insb. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 997 ff.; ders., Organisation und Entscheidung, S. 152 ff.; vgl. aber auch Koselleck, Vergangene Zukunft, 1989; ders., Zeitschichten, 2003; Weinrich, Knappe Zeit, 2004; Rosa, Beschleunigung, 2005; Agamben, Die Zeit, die bleibt, 2006; grundlegend nach wie vor Augustinus, Bekenntnisse, 1987, S. 629 ff. 255 Ders., Organisation und Entscheidung, S. 154. 256 Gerade dieses ermöglicht zusätzlich die Absorption von Protest. Die Konfliktschlichtungsversuche um das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ könnten dafür kein besseres Beispiel sein.

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Bislang haben uns nur Konditionalprogramme beschäftigt, d.h. solche Programme, die Bedingungen festlegen, nach denen sich die Zuschreibung des Codewertes Recht oder Unrecht richtet. Und tatsächlich bestimmen sie ganz überwiegend das Rechtssystem. Dennoch gibt es aber Einbruchstellen für Zweckprogramme im Rechtssystem, d.h. für final ausgerichtete Programme, bei denen sich die Zuschreibung des Codewertes am erwünschten Ziel orientiert.257 Ein Beispiel dafür ist die sog. vorausschauende Rechtsberatung, bei der man sich vorstellt, wie ein in Gang gesetzter Rechtsstreit möglicherweise entschieden wird und mit Bezug darauf die Konditionen seiner Entscheidung festzulegen versucht.258 So wird etwa ein kluger Strafverteidiger in Erwartung einer Verurteilung seines Mandanten versuchen, mit dem Gericht für den Fall eines vollumfänglichen Geständnisses ein Strafhöchstmaß zu vereinbaren. Des Weiteren sind hier Ermessensnormen zu nennen, die sich als final programmiert darstellen, weil die Behörde entsprechend dem Zweck der erteilten Ermächtigung von ihrem Ermessen Gebrauch zu machen hat. Hiervon zu unterscheiden sind aber wiederum, obwohl bisweilen in ein und derselben Norm zu finden, „unbestimmte Rechtbegriffe“ mit Beurteilungsspielraum (z. B. „Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“, „Stand von Wissenschaft und Technik“), die sich als Bestandteil von Konditionalprogrammen erweisen. So kann die Polizei im Freistaat Sachsen gemäß § 3 Abs. 1 PolG innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken die „erforderlichen Maßnahmen“ (Finalprogrammierung) treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende „Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ (Konditionalprogrammierung) abzuwehren. Vor allem dem Wohlfahrtsstaat eignet eine deutliche Tendenz zur Zweckprogrammierung im Rechtssystem. In diesem Sinne ist in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu den Grundrechten als Abwehrrechten klassisch-liberaler Prägung ein Verständnis derselben als „objektive wertentscheidende Grundsatznorm“ hinzugetreten.259 Individuelles Freiheitsrecht und objektive Wertent257 Als Beispiele außerhalb des Rechtssystems wären hier zu nennen: Investitionsentscheidungen, Entscheidungen eines Arztes, Planungsentscheidungen einer Behörde, siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 195; zum Verhältnis von Konditionalund Zweckprogrammen in der Selbstbeschreibung der Rechtsdogmatik siehe Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 4 Rn. 13 ff. 258 Luhmann, ebd., S. 197. 259 Grundlegend BVerfG, BVerfGE 7, 198, 205: „Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertesystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“ Siehe dazu insb. Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, JZ 2004, 1 ff.; kritisch zu dieser Entwicklung Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 425: „Die Auswirkungen dieser

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scheidung stehen dabei neben-, aber nicht beziehungslos nebeneinander; gemeinhin wird von einer Effektuierung des Individualrechts durch die objektiv-rechtliche Garantie des Grundrechts ausgegangen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat zu dieser Einschätzung in der Vergangenheit allen Anlass gegeben, soll doch in der objektiven Werteordnung eine „prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte“ zum Ausdruck kommen.260 Nun befindet sich aber der Wohlfahrtsstaat spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts in geradezu signifikanter Weise auf dem mehr oder weniger geordneten Rückzug. Dies findet erwartungsgemäß auch in der Rechtspraxis und Rechtsdogmatik seinen Niederschlag. So erfolgt z. B. in der Verfassungsrechtsdogmatik eine unverkennbare Rückbesinnung auf ein Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte.261 Und auch die Euphorie des Bundesverfassungsgerichts für die mit einem Verständnis der Grundrechte als objektive Werteordnung verbundene prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft derselben scheint mittlerweile Grenzen zu finden. So dürfte es kaum einem Zufall entspringen, dass im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Brandenburgischen Hochschulgesetz sämtliche diesbezüglichen Aussagen fehlen. Vielmehr wird ein Rückbezug der objektiv-rechtlichen Bedeutungsschichten des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG auf die individualrechtliche Freiheitsgarantie sichtbar,262 wenn es dort heißt, dass zur „Sicherung dieses Bereichs“ – und gemeint ist einzig und allein der „Kernbereich wissenschaftlicher Betätigung“ – Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht nur die Freiheit von staatlichen Geboten und Verboten gewährleiste, sondern den Staat auch zu Schutz und Förderung verpflichte und den in der Wissenschaft Tätigen Teilhabe an öffentlichen Ressourcen und an der Organisation des Wissenschaftsbetriebs gewähre.263 Man wird vor diesem Hintergrund zumindest für die nahe Zukunft erwarten dürfen, dass die bislang beobachtbare Tendenz zur Zweckprogrammierung im Rechtswohlfahrtsstaatlichen Selbststimulation der Politik auf das . . . Rechtssystem liegen offen zutage . . . Umstellung der Grundrechtsdogmatik von subjektiven Abwehrrechten auf Wertbegriffe mit hohen richterlichen Interpretationsfreiheiten und Verlusten an Rechtssicherheit.“ Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 481: „Mehr und mehr ändern sich die Vorstellungen über Sinn und Funktion der Grundrechte in Richtung auf allgemeine Wertprogramme, die als Richtlinien der Politik zu verstehen seien.“ 260 Siehe z. B. BVerfG, BVerfGE 35, 79, 114, 115, 116. 261 Paradigmatisch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, passim. 262 Siehe zu diesem Verhältnis von individuellem Freiheitsrecht und objektiver Wertentscheidung im Rahmen des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit bereits Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: Becker/Bull/Seewald (Hrsg.), FS Werner Thieme, 1993, 697, 704 f.; und noch früher Weber, Werner, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 27 (1969), 194: „Das Institutionelle an diesem Grundrecht hat mehr akzessorischen Charakter oder hat mehr den Charakter einer institutionellen Komplementärgarantie, während das Entscheidende nach wie vor das subjektive Grundrecht der Freiheit von Forschung und Lehre ist.“ Vgl. auch Ladeur, Die Wissenschaftsfreiheit der „entfesselten Hochschule“ – Umgestaltung der Hochschule nach Ermessen des Staates?, DÖV 2005, 753, 757 f. 263 BVerfG, DVBl. 2005, 109, 111.

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1. Kap.: Recht als soziales System

system jedenfalls in diesem Bereich keine beschleunigte Fortsetzung erfahren wird. Eher könnte das Gegenteil der Fall sein. Mag der Wohlfahrtsstaat seinen Zenit überschritten haben, so gilt dies mitnichten für den „Risikostaat“. Spätestens mit der Tschernobyl-Katastrophe vor 25 Jahren ist das Bewusstsein dafür erwacht und mit der atomaren Katastrophe von Fukushima (Japan) im März 2011 gleichsam wiedererwacht, in einer „Risikogesellschaft“ 264 zu leben und damit gleichzeitig den Anspruch an den Staat zu verbinden, Vorsorge gegenüber solchen und anderen Risiken265 technischer Zivilisation zu treffen. Mit Grund lässt sich dabei darüber streiten, ob und wieweit derartige Beschreibungen eigentlich tragen;266 vielleicht ist es sogar tatsächlich riskant, „von ,Risikogesellschaft‘ zu sprechen und damit riskante Risikoaversionen wachzurufen.“ 267 All dies ändert aber nichts daran, dass das politische System seine eigene Empfindlichkeit für Risikofragen als Irritation an das Rechtssystem weitergereicht und dieses auch autonom darauf reagiert hat. Die zahlreichen Genehmigungstatbestände des Atom-, Bio- und Gentechnik- sowie des Immissionsschutzrechts und die mit ihnen verbundene staatliche Risikovorsorge sind dafür nur ein Beleg.268 Und auch die Rechtsdogmatik ist der Rechtspraxis mit grundlegenden Untersuchungen über „Risikoentscheidungen im Rechtsstaat“ 269 und „Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge“ 270 sowie jüngst „Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik“ 271 zur Seite getreten.272 Risikoentscheidungen sind solche Entscheidungen, die die Möglichkeit nachteiliger Folgen in Kauf nehmen. Die damit verbundene Folgenbeobachtung rechtlicher Entscheidungen273 bereitet dem Rechtssystem verständlicherweise erheb264 Paradigmatisch Beck, Weltrisikogesellschaft, 2007, passim; ders., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, passim; siehe aber auch Halfmann/Japp (Hrsg.), Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale, 1990; Luhmann, Risiko und Gefahr, Soziologische Aufklärung 5, 1990, S. 126 ff.; ders., Soziologie des Risikos, 1991; Japp, Risikoreflexion – Beobachtung der Gesellschaft im Recht, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 239 ff.; ders., Risiko, 2000. 265 Zu nennen wären hier z. B. die Risiken der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Bio- und Gentechnologie. 266 Kritisch dazu Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1091 ff. 267 Ders., ebd., S. 1093. 268 Siehe dazu Schröder, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des Technikrechts, in: Schulte/ders. (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl., 2011, S. 237, 250 ff. 269 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994. 270 Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005. 271 Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik. Moderne Technologien im Spiegel des Verwaltungsrechts, 2010. 272 Siehe aber auch Hart (Hrsg.), Privatrecht im „Risikostaat“, 1997; Hesse, Der Schutzstaat, 1994; Denninger, Der Präventons-Staat, KJ 1988, 1 ff.; Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 12 Rn. 28 ff.

§ 3 Recht und Unrecht

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liche Probleme, werden doch dadurch die normative Erwartungssicherung als Funktion des Rechtssystems und seine Selbststeuerung durch die Rechtsdogmatik zumindest gefährdet.274 Insbesondere erweisen sich Risikoentscheidungen als inkompatibel mit der Recht/Unrecht-Codierung des Rechtssystems. Vergleichbar den aristotelischen futura contingentia geht es auch hier darum, sich an Zukunftsperspektiven zu orientieren, um gegenwärtig unentscheidbare Aussagen über kontingente Ereignisse in der Zukunft zu treffen.275 Und dennoch erscheint es nicht ausgeschlossen, Entgegengesetztes, nämlich die Zukunftsunsicherheit riskanten Entscheidens im Hinblick auf den Recht/Unrecht-Code und seine Vergangenheitsorientierung im Kontext kontrafaktischer Erwartungsstabilisierung,276 gleichzeitig und komplementär zu ermöglichen.277 Nachfolgend sei diese Synchronisierung inkongruenter Perspektiven gleichsam paradigmatisch am Beispiel der Gefährdungshaftung verdeutlicht. Der Gefährdungshaftung liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass derjenige, der eine Gefahrenquelle zum eigenen Vorteil unterhält und beherrscht, im Falle der Realisierung der Gefahr für die dadurch bei Dritten verursachten Schäden haftet, und zwar unabhängig davon, ob diese sich durch Maßnahmen pflichtgemäßer Sorgfalt hätten vermeiden lassen.278 Zwar wird das Zivilrecht auch im Bereich der deliktischen Haftung weitgehend vom Verschuldensprinzip geprägt, doch ist der Siegeszug des Gefährdungshaftungsprinzips bis heute ungebrochen, zumindest dann, wenn es darum geht, neuartige Gefahrenquellen haftungsrechtlich zu erfassen.279 Von besonderem Interesse mit Blick auf die Recht/Unrecht273 Siehe dazu allgemein Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, passim; vgl. aber auch Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ders. (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 32 ff., der u. a. (Rn. 35 ff.) für eine Ergänzung um das „Lernen aus Erfahrungen und Vergleich“ plädiert; siehe ferner Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, ebd., § 4 Rn. 67 ff. 274 Eingehend dazu Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 29 ff.; ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 28 ff. 275 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 171 Fn. 11. 276 Japp, Risikoreflexion – Beobachtung der Gesellschaft im Recht, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 239, 241 f.: „Kurz gesagt, stehen sich Rechtsunsicherheit generierendes riskantes Verhalten und die Lernunwilligkeit des Rechts in seiner genuinen Funktion der Stabilisierung von Erwartungen in die Zukunft hinein gegenüber.“ 277 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 323. 278 Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl., 2009, Vor § 823 Rn.17; ders., Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, in: Zimmermann (Hrsg.), Grundstrukturen des Europäischen Deliktsrechts, 2003, S. 189, 270 ff.; siehe auch ders., Neue Perspektiven im Schadensersatzrecht – Kommerzialisierung, Strafschadensersatz, Kollektivschaden, Gutachten für den 66. Deutschen Juristentag, 2006; grundlegend aber noch immer Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941. 279 Beispielhaft seien hier nur die §§ 25 ff. AtG, 32 ff. GentG und 1 ff. UmweltHG genannt; siehe des Weiteren Wagner, ebd., Rn. 16.

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1. Kap.: Recht als soziales System

Codierung des Rechtssystems ist dabei nicht zuletzt, dass in der Rechtspraxis und der Rechtsdogmatik heftig darum gestritten wird, ob die Gefährdungshaftung die Rechtswidrigkeit des Eingriffs voraussetzt.280 Überwiegend sehen die Gefährdungshaftungstatbestände ferner zugunsten des Schädigers Haftungshöchstgrenzen vor oder gewähren einen Freistellungsanspruch gegenüber dem Staat, gehen andererseits aber auch von einer Ursachenvermutung zu seinen Lasten aus.281 Mit der Institutionalisierung einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung wird der Versuch unternommen, eine wissenschaftlich-technisch ermöglichte und wirtschaftlich gewollte Risikogenerierung juristisch zu unterfangen. Damit ist zwar zwangsläufig eine Relativierung der Recht/Unrecht-Unterscheidung (Erwartungsstabilisierung) verbunden, weil diese von in der Zukunft liegenden Folgen abhängig gemacht wird; die Einbeziehung von Entwicklungs- und Verborgenheitsrisiken in der Umwelthaftung lässt dies besonders deutlich werden. Andererseits kommt es zu einem re-entry von Rechtssicherheit (Funktion: Erwartungsstabilisierung) und Rechtsunsicherheit (Leistung: Präventionsanreize).282 Das Rechtssystem stellt die Erwartung stabil, dass die Inbetriebnahme einer Anlage unabhängig von zukünftigen Ereignissen (Folgenberücksichtigung!) rechtmäßig ist, „destabilisiert“ diese aber zugleich dadurch, dass eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung explizit einbezogen wird. Empirisch gestützt lässt sich dabei argumentieren, dass der re-entry auf der Seite der Rechtssicherheit erfolgt, wenn sich die Haftungsobergrenzen (ggfl. sogar abgefangen über Freistellungsverpflichtungen) und die Beweislastregelungen (Ursachenvermutungen) der Gefährdungshaftung nicht als signifikante Irritation der am Code des Wirtschaftssystems orientierten Unternehmen erweisen. Soweit hingegen nach oben hin offene Haftungsgrenzen und klar betroffenheitsorientierte Beweislastregelungen greifen, die zu einer signifikanten Irritation des Wirtschaftssystems führen, erfolgt der re-entry auf der Seite der Rechtsunsicherheit, d.h. es wird auf Folgenorientierung hin asymmetriert.283 Aber selbst solche re-entries bleiben re-entries, die die Orientierung am Recht/Unrecht-Code des Rechtssystems nach wie vor mit sich führen. Mögen die Einbruchstellen für Zweckprogramme im Rechtssystem deshalb auch im Wohlfahrts- und im Risikostaat vielleicht besonders ausgeprägt sein, so bleibt die Relevanz der Recht/Unrecht-Codierung davon dennoch unberührt. Und nicht nur empirisch betrachtet gilt dies für die sie flankierende Konditionalprogrammierung des Rechtssystems in gleicher Weise. 280

Auch dazu Wagner, ebd., Rn. 18 ff. m.w. N. Siehe z. B. §§ 25, 31, 34 AtG, §§ 33,34 GentG; §§ 6, 15 UmweltHG. 282 Zum Folgenden ausführlich Japp, Risikoreflexion – Beobachtung der Gesellschaft im Recht, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999, S. 239, 247 ff. 283 Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht siehe insb. Adams, Ökonomische Analyse der Gefährdungs- und Verschuldenshaftung, 1985. 281

§ 4 Recht und Gerechtigkeit

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§ 4 Recht und Gerechtigkeit Die Frage nach der Gerechtigkeit polarisiert seit jeher und stets aufs Neue. So ist die Gerechtigkeit – einer Meinungsforschungsumfrage aus dem Jahre 2009 zufolge – den Menschen im Osten Deutschlands mehr wert als im Westen (44 zu 33 %). Und während 44 % der Frauen der Auffassung sind, Gerechtigkeit sei für sie persönlich der wichtigste Wert, teilt nur ein gutes Viertel der Männer (26 %) diese Ansicht.284 Auch mit Blick auf die „Grundlagen und Grundfragen des Rechts“ dürfte es kaum eine andere Frage geben, die so nachhaltig und so kontrovers diskutiert worden ist, wie diejenige nach dem Verhältnis von „Recht und Gerechtigkeit“. Ein bloßer Blick auf das vergangene Jahrhundert – ganz zu schweigen von den vielen Jahrhunderten zuvor285 – mag dies verdeutlichen.286 So haben es die NS-Diktatur und das DDR-Unrechtsregime bedauerlicherweise notwendig werden lassen, nach dem Spannungsverhältnis von Recht und Gerechtigkeit sowie nach dem Begriff des Rechts287 zu fragen. Die berühmte und viel zitierte „Radbruchsche Formel“ sei dafür noch einmal bemüht: „. . . Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“ 288

284

EMNID-Institut im Auftrage von chrismon (www.chrismon.de). Siehe dazu etwa Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 161 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, S.195 ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie, S. 132 ff. 286 Wie ubiquitär das Problem der Gerechtigkeit mittlerweile diskutiert wird, zeigt der Bericht von Kemmerer, Alles fair handelbar, FAZ v. 8.8.06, Nr. 182, S. 34 über den „Internationalen Gerechtigkeitskongress“ der „International Society for Justice Research“!? 287 Siehe oben 1. Kapitel, § 1. 288 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1946, 105, 107; vgl. dazu auch Meyer, „Gesetzen ihrer Ungerechtigkeit wegen die Geltung absprechen“ Gustav Radbruch und der Relativismus, in: Alexy/Meyer/ Paulson/Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 319 ff.; Adachi, Die Radbruchsche Formel, 2005, passim; Dieckmann, Überpositives Recht als Prüfungsmaßstab im Geltungsbereich des Grundgesetzes? Eine kritische Würdigung der Rezeption der Radbruchschen Formel und des Naturrechtsgedankens in der Rechtsprechung, 2006, S. 18 ff. 285

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1. Kap.: Recht als soziales System

Und selbst nach der Überwindung des DDR-Unrechtsstaates ist die Suche nach und bisweilen das Verzweifeln an der Gerechtigkeit nicht zum Stillstand gekommen, wie der bekannte Ausspruch der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ in eindrucksvoller Weise belegt. Neben dieser politischen Dimension des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit ist aber auch dessen soziale Dimension in Gestalt der Frage nach sozialer Gerechtigkeit zu nennen.289 Obwohl das Verteilungsproblem als Folge der sich entwickelnden Marktwirtschaft im vergangenen Jahrhundert eigentlich schon lange als zentrale Gerechtigkeitsfrage der Gesellschaft auf der politischen Handlungsagenda stand, haben erst die Forschungen John Rawls’ zu einer „Theorie der Gerechtigkeit“ 290 und zur „Gerechtigkeit als Fairness“ 291 den Anstoß für eine nachhaltige rechtsphilosophische Diskussion der Thematik gegeben.292 Auf der anderen Seite hat es im vergangenen Jahrhundert aber auch nicht an Stimmen gefehlt, die Suche nach Gerechtigkeit für aussichtslos zu halten und deshalb jedes dahingehende Bemühen aufzugeben. An erster Stelle ist hier zweifellos Hans Kelsen mit seiner These von der Gerechtigkeit als „irrationalem Ideal“ zu nennen.293 In dieselbe Richtung geht Friedrich August von Hayek, der von der „Illusion der sozialen Gerechtigkeit“ spricht und ihr den Status eines quasi-religiösen Aberglaubens zuerkennt.294 Gänzlich resignativ wird Peter Schwerdtner, wenn er vorschlägt, die Suche nach Gerechtigkeit ganz aufzugeben, „weil sie Alternativen-Denken hemmt, gefundenen Problemlösungen gleichsam eine Weihe verleiht, die Denken stillstellt und dem Glauben Raum bietet.“ 295 Und erst jüngst hat die intellektuelle Speerspitze der „Generation Reform“, der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte, dezidiert für den „Abschied von der Gerechtigkeit“ plädiert. Der neue Begriff der Gerechtigkeit, der der Freiheit den Rang abgelaufen und sich aus der Verflechtung mit ihr gelöst habe, sei zu einem Appell an Umverteilung und unmittelbare soziale Gleichheit geworden. Damit wecke er jedoch falsche Erwartungen und führe immer tiefer in eine Enttäu289 Siehe nur Karl Kardinal Lehmann, Ausgleichende Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Menschen. Über den gar nicht so selbstverständlichen Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“, Eröffnungsreferat des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 25. September 2006 in Fulda. 290 Rawls, A Theory of Justice, 1971. 291 Ders., Justice as Fairness. A Restatement, 2001. 292 Siehe im Nachgang der Forschungen von John Rawls z. B. Miller, Social Justice, 1976; Walzer, Spheres of Justice, 1983. 293 Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, in: ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 355 ff., 397. 294 von Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981. 295 Schwerdtner, Rechtswissenschaft und Kritischer Rationalismus (II.), Rechtstheorie 2 (1971), 224, 242.

§ 4 Recht und Gerechtigkeit

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schungsspirale über ausbleibende Gerechtigkeit hinein. Dabei seien die Maßstäbe einer materiellen oder umverteilenden Gerechtigkeit keineswegs so eindeutig wie oftmals angenommen. Außerdem erweise sich die Moralisierung der Gerechtigkeit, die ein weiteres Merkmal des neuen Gerechtigkeitsbegriffs darstelle, als schlechter politischer Ratgeber moderner Gesellschaften. Im Ergebnis müsse man deshalb „mit Recht daran zweifeln, ob die Gerechtigkeit der höchste Wert ist, dem wir nacheifern sollen.“ 296 Aber gerade an dieser Stelle ist Vorsicht geboten. Noch 1973 hat auch Niklas Luhmann gemeint, dass die Idee der Gerechtigkeit im juristischen Denken ihre operative Bedeutung und damit ihre Normativität verloren habe; sie werde nur noch geschätzt.297 Genau 20 Jahre später hat er diese Einschätzung zugunsten einer differenzierten Betrachtung korrigiert.298 Das Rechtssystem müsse nicht auf die Idee der Gerechtigkeit verzichten, allerdings sei es erforderlich ihre „theoretische Placierung“ neu zu überlegen. Es gehe um die „Repräsentation der Einheit des Systems im System“ und damit um die „Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Systems“. Die Idee der Gerechtigkeit nehme dabei offenbar normative Qualität in Anspruch, bleibe aber in ihrer Respezifikation unbestimmt. Letztlich handele es sich bei der Frage nach der Gerechtigkeit um die Frage nach der Form einer rechtseigenen Selbstkontrolle des Rechtssystems. Diese Selbstkontrolle ist im Rechtssystem in Gestalt der Selbst- und Fremdbeobachtungen der Rechtspraxis, der Rechtsdogmatik und der Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie gleichsam „institutionell“ verankert. Primär erfolgen Selbstkontrolle und Repräsentation der Einheit des Systems im System am Maßstab der Gerechtigkeitsidee durch die klassische Rechtsphilosophie/Rechtstheorie. Sie hat in der Vergangenheit wirklich zahllose Beobachtungs- und Beschreibungsansätze zu Tage gefördert.299 296

Nolte, Abschied von der Gerechtigkeit, FAZ v. 20.12.2008, Nr. 298, S. 17. Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, Rechtstheorie 4 (1973), 131, 133. 298 Siehe zum Folgenden Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 217 f.; zu skeptisch in diesem Zusammenhang Fögen, Das Lied vom Gesetz, S. 107, anders aber dies., ebd., S. 109 m. Fn. 241. 299 Siehe dazu aus dem monographischen Schrifttum nur statt vieler die Lehr- und Handbücher von Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 191 ff.; Horn/Scarano (Hrsg.), Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, 2002, passim; Kaufmann, Arthur, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 151 ff.; Kaufmann, Matthias, Rechtsphilosophie, 1996, S. 290 ff.; Koller, Theorie des Rechts, S. 295 ff.; Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 161 ff.; Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2010, S. 160 ff.; 283 ff.; Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010; Preuß, Bedingungen globaler Gerechtigkeit, 2010; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 339 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, S.195 ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie, S. 132 ff.; vgl. auch Bock, Gerechtigkeit als Prinzip des Rechts, Rechtstheorie 37 (2006), 329 ff.; Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert. Die Rückkehr der Gerechtigkeit, 2001, passim; Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. 297

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1. Kap.: Recht als soziales System

Dabei können wir aktuelle „Transzendierungsdelirien“ 300 beruhigt beiseite lassen, die juridische Gerechtigkeit als eigensinnigen Prozess der Selbstbeschreibung im Recht begreifen, „der die routinisierte Rekursivität der Rechtsoperationen unterbricht, blockiert, sabotiert, unterminiert, der damit das Recht zu seiner Selbsttranszendierung über jeden Sinn hinaus zwingt, der sich aber sogleich wieder unter den Fortsetzungszwang, weitere Rechtsoperationen zu produzieren, setzt und sich dadurch selbst sabotiert, dass er genau dadurch neue Ungerechtigkeiten schafft.“ 301 Soweit darin eine „etwas diffizile Mitgift“ 302 für die Suche nach einer Gesellschaftstheorie der Gerechtigkeit gesehen wird, darf dies durchaus als Euphemismus bezeichnet werden. Im Zentrum der rechtsphilosophischen Gerechtigkeitsdebatte verbleiben dann diskursive und kritische Theorien der Gerechtigkeit,303 die allesamt ihre Familienzugehörigkeit zur Rawlschen Gerechtigkeitstheorie als wirkungsmächtigster Variante des Neo-Kontraktualismus nicht bestreiten können. Sowohl mit Blick auf die politische als auch auf die soziale Dimension des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit haben sich die Grundannahmen der von John Rawls seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erarbeiteten „Theorie der Gerechtigkeit“ weitgehend durchgesetzt.304

Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2007; Höffe, Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung, Merkur 60 (2006), Heft 692, 1113 ff.; Holländer, Abriß einer Rechtsphilosophie. Strukturelle Überlegungen, 2003, S. 82 ff.; Huber, Gerechtigkeit und Recht, in: Schmidinger (Hrsg.), Gerechtigkeit heute. Anspruch und Wirklichkeit, 2000, S. 31 ff.; Isensee, Gerechtigkeit – zeitlose Idee im Verfassungsstaat der Gegenwart, ebd., S. 253 ff.; Kloepfer, Umweltgerechtigkeit. Environmental Justice in der deutschen Rechtsordnung, 2006, passim; Koselleck, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten, 2003, S. 336 ff.; Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit. Auf der Suche nach den philosophischen Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts, 2004; Müller, Gerechtigkeit als „Die Unruh im Uhrwerk“, 2009; Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, passim; Roschmann, Recht, Gerechtigkeit und ökonomisches Handlungsmodell, 2003; Steinhauer, Gerechtigkeit als Zufall. Zur rhetorischen Evolution des Rechts, 2007; Szekessy, Gerechtigkeit und inklusiver Rechtspositivismus, 2003, passim; Tschentscher, Gerechtigkeit, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, 2006, Sp. 724 ff.; van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft, 2003, S. 270 ff. 300 Simon, Das Irrsal hilft nicht, myops 2009, 41, 47. 301 Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?, ZRSoz 29 (2008), 9, 22; vgl. auch Bung, Das Bett des Karneades. Zur Metakritik der Paradoxologie, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 72, 83 f., der darin die „Konturen eines anspruchsvollen Programms“ sieht!?; Renner, Kontingenz, Redundanz, Transzendenz? Zum Gerechtigkeitsbegriff Niklas Luhmanns, Ancilla Iuris (anci.ch) 2008, 62 ff. 302 Simon, Das Irrsal hilft nicht, myops 2009, 41, 42. 303 Beispielhaft dafür hier nur Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2007, passim. 304 Nach Ansicht von Fögen, Das Lied vom Gesetz, S. 109 wird Gerechtigkeit bei John Rawls zum „Supercode“ des Rechts.

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Hier wie dort ist sie verständlicherweise nicht ohne Kritik geblieben305, aber ihr unverkennbares Fundament in der Kantschen Vernunftlehre306 hat ihr andererseits beachtliche Gefolgschaft beschert.307 Inhaltlich geht es um ein Modell der subjektiven Begründung objektiver, für alle geltender, „richtiger“ 308 Regeln, Normen oder Grundsätze.309 Rawls entwickelt in diesem Zusammenhang zwei zentrale Gerechtigkeitsgrundsätze und damit verbunden zwei wichtige Vorrangregeln.310 Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz lautet, dass jedermann das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten besitzt. Dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz zufolge müssen soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen sowie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen auf der Grundlage fairer Chancengleichheit offen stehen. Nach der ersten Vorrangregel wiederum können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar dann, wenn eine weniger umfangreiche Freiheit das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärkt und eine geringere als gleiche Freiheit für die davon Betroffenen annehmbar ist. Die zweite Vorrangregel schließlich befasst sich mit dem Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard. Danach ist die faire Chancengleichheit dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar dann, wenn eine Chancen-Ungleichheit die Chancen der Benachteiligten verbessert und eine besonders hohe Sparrate insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildert. Unter dem Eindruck der Kritik, die seine Gerechtigkeitsgrundsätze und Vorrangregeln im rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Schrifttum erfahren ha-

305 Zusammenfassend dazu Tschentscher, Gerechtigkeit, in: Heun/Honecker/Morlok/ Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Sp. 724, 730 unter Hinweis auf die libertären Vertreter der politischen Theorie (Nozick, Buchanan), die Entscheidungstheorie (Gauthier), die Diskurstheorie (Habermas, Alexy) oder den Kommunitarismus (MacIntyre, Walzer). 306 Ausdrücklich in diesem Sinne Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert, S. 11; Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 207. 307 Siehe nur Kim, Gerechtigkeit und Verfassung. Eine Rawlsche Deutung der bundesverfassungsgerichtlichen Formel „eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise“, 2004, passim; Hofmann, ebd., S. 62 ff., 206 ff.; vgl. ferner Loretan, Überpositive Gerechtigkeitstheorien sind unentbehrlich! Rechtsphilosophische Überlegungen, in: Richli (Hrsg.), Wo bleibt die Gerechtigkeit?, 2005, S. 39, 59 ff., 62. 308 Zur „Richtigkeit als Gerechtigkeit“ siehe insb. Sieckmann, Recht als normatives System, 2009, S. 229 f. 309 Siehe dazu ausführlich oben S. 52. 310 Zum Folgenden siehe Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 336 f.; siehe dazu eingehend Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert, S. 142 ff.; Kim, Gerechtigkeit und Verfassung, S. 148 ff.; Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 164 ff.

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1. Kap.: Recht als soziales System

ben,311 hat Rawls im weiteren Verlauf seine Position modifiziert und relativiert.312 So wird der erste Gerechtigkeitsgrundsatz der Freiheit nunmehr an den wesentlichen Einrichtungen der Verfassung ausgerichtet, der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz – das sog. Differenzprinzip – wird vor allem als regulatives Prinzip der einfachen Gesetzgebung verstanden. Die in einem fairen Entscheidungsverfahren erzielten Ergebnisse erfahren damit über den Grundsatz konstitutioneller Freiheit eine vorläufige Rechtfertigung, ohne dass auf das Differenzprinzip als materieller Kontrollmaßstab verzichtet werden muss.313 Im Ergebnis gelangt Rawls dazu, „dass soziale Kooperation . . . zumindest dann, wenn wesentliche Verfassungsinhalte betroffen sind, soweit wie möglich unter Bedingungen stattfinden muss, die für alle Bürger als vernünftige und rationale Personen einsichtig und akzeptabel sind. Diese Bedingungen werden am besten mit Bezug auf die grundsätzlichen politischen und verfassungsrechtlichen Werte formuliert (die ihrerseits von einer politischen Gerechtigkeitskonzeption artikuliert werden), so dass auch angesichts einer Vielfalt umfassender Lehren von allen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie ihnen zustimmen.“ 314

Unter dem Grundgesetz wird diese Funktion der „politischen Gerechtigkeitskonzeption“ im Sinne einer Gerechtigkeitslehre durch die Verfassungsrechtsdogmatik im Allgemeinen und diejenige der Grundrechte (Abwehr-, Leistungs-, Gleichbehandlungs- und Teilhaberechte; Grundrechte als Wertordnung; Grundrechte als Verfahrensgarantien; Grundrechtliche Schutzpflichten) im Besonderen wahrgenommen.315 Schon von daher, aber nicht allein deswegen, liegt es nahe, dass der Rechtsdogmatik bei der systeminternen Beobachtung und Beschreibung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit besondere Bedeutung zukommt, weil auf dieser Ebene gesamtgesellschaftliche Gerechtigkeitsanforderungen respezifiziert und operationalisiert werden.316 Regelmäßig geschieht dies unter Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes.317 Als gleichsam traditionelle Ausformung des Prinzips der Gerechtigkeit ist danach nur (wesentlich) Gleiches 311 Siehe dazu noch einmal Tschentscher, Gerechtigkeit, in: Heun/Honecker/Morlok/ Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Sp. 724, 730. 312 Siehe dazu insb. Kim, Gerechtigkeit und Verfassung, S. 243 ff. 313 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 209 f. 314 Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. v. Hinsch, 1992, S. 356; ders., Politischer Liberalismus, 1998, passim; siehe dazu auch Pies/Leschke (Hrsg.), John Rawls’ politischer Liberalismus, 1995, passim. 315 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, S. 211. 316 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 20. 317 Siehe dazu insb. Huster, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 32 f. „Gleichheit als Gerechtigkeit“, Rn. 34 ff. „Gerechtigkeit als Gleichheit?“; vgl. aus philosophischer Perspektive auch Lübbe, Gleicheit macht frei, FAZ v. 13.2.2007, Nr. 37, S. 7.

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auch gleich zu behandeln und darf oder muss gar (wesentlich) Ungleiches auch ungleich behandelt werden. Zum Teil wird dabei versucht, den Grundsatz der Gerechtigkeit über den Begriff der Gleichbehandlung (im Sinne einer identischen Behandlung) zu konkretisieren, wobei der Gleichbehandlung eine gewisse Vorrangstellung in dem Sinne erwachsen soll, dass eine Gleichbehandlung dann geboten ist, wenn keine Gründe für eine Ungleichbehandlung vorliegen (Gleichheitspräsumtion im Sinne von Ernst Tugendhat).318 Bisweilen wird aber auch gerade das Prinzip der Gleichbehandlung für sekundär gehalten und stattdessen darauf abgestellt, ob der betroffenen Person mit gleicher Achtung und gleichem Respekt begegnet werde (normativer Gleichheitsbegriff im Sinne Ronald Dworkins).319 Obwohl sich beide Ansätze nicht unmittelbar widersprechen, führt die unterschiedliche rechtsphilosophische/rechtstheoretische Rückbindung zumindest zu einer divergierenden Akzentsetzung, die sich auch verfassungsrechtsdogmatisch niederschlägt. Auf der Grundlage des normativen Gleichheitsbegriffs gelangt man nämlich zu einem Eingriffsmodell des Gleichheitsrechts,320 das zwischen internen und externen Zwecken sowie Gerechtigkeits- und Nützlichkeitsüberlegungen unterscheidet. In der Konsequenz wird entweder lediglich die Entsprechung zwischen einer rechtlichen Differenzierung und den relevanten Ungleichheiten geprüft oder eine echte Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist deshalb die inhaltliche These, dass die Gestaltung von Vergleichsbeziehungen entweder auf Gerechtigkeits- oder Nützlichkeitsüberlegungen beruhen kann und dass diese Gründe auch verfassungsrechtsdogmatisch folgenreich werden, weil sie nämlich entweder durch eine Entsprechungs- oder eine Verhältnismäßigkeitsprüfung verarbeitet werden müssen. Der „Dualismus von Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen“ wird dabei als Ausprägung einer grundlegenden normativen Unterscheidung begriffen, der zufolge politische Entscheidungen auf Prinzipienargumenten, die sich auf Betroffenenrechte beziehen, oder auf Zielsetzungsargumenten, die auf die Verfolgung kollektiver Güter gerichtet sind, beruhen. Die Unterscheidung von Rechten und Zielen zeitigt Konsequenzen für die gleichheitsrechtliche Dogmatik. Differenzierungen, die einen internen Gerechtigkeitszweck verfolgen, orientieren sich an den Gleichheitsrechten der Vergleichs-

318 Vgl. zu diesem Ansatz insb. Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, 2004, passim. 319 Vgl. zu diesem Ansatz insb. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1984, S. 370 und passim. 320 Siehe dazu und zum Folgenden eingehend und instruktiv Huster, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Rn. 34 ff., 42 ff., 49 ff., 82 ff.; ders., Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 29 ff. und passim.

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1. Kap.: Recht als soziales System

personen. Zielbestimmte Differenzierungen geraten hingegen mit diesen Rechten in Konflikt und müssen in eine Abwägung mit ihnen eingestellt werden. Ob man dieser gleichheitsrechtlichen Modellvorstellung nun folgen will oder nicht, wird daraus jedenfalls ersichtlich, wie sehr die Grundrechtsdogmatik an der systeminternen Herstellung von Gerechtigkeit beteiligt ist, und dies vor allem unter expliziter Bezugnahme auf rechtsphilosophische Gerechtigkeitskonzepte. Gleiches gilt nicht minder für die Rechtspraxis. Die ausgefeilte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit ist dazu mittlerweile Legion.321 Deshalb sei hier nur in aller Kürze noch einmal stellvertretend für zahlreiche Entscheidungen hervorgehoben: „Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, unter allen Umständen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nur dann ist nach Art. 3 Abs. 1 GG Gleiches gleich, Ungleiches aber nach seiner Eigenart zu behandeln, wenn die Gleichheit oder Ungleichheit in dem jeweils in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam ist, dass ihre Beachtung bei einer gesetzlichen Regelung nach einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise geboten erscheint.“ 322

Darüber hinaus haben wir bereits im Rahmen unserer Überlegungen zu Begriff und Funktion sowie Geltung und Wirksamkeit des Rechts nachweisen können, wie dezidiert der Bundesgerichtshof bei der Behandlung des NS-Unrechts und das Bundesverfassungsgericht bei der Befassung mit dem DDR-Unrecht auf die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, insb. das rechtsphilosophische Gerechtigkeitskonzept Gustav Radbruchs, Bezug genommen haben.323 Diese Tendenz hat sich auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fortgesetzt, und zwar in einem Zusammenhang, der die Bezug321 Umfangreiche Nachweise dazu bei Huster, ebd., Rn. 42 ff.; vgl. auch Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 3 Rn. 19 ff. m.w. N.; grundlegend schon Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Über den Begriff der Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1980, S. 87 ff. 322 BVerfGE 9, 124, 129 f.; siehe dazu insb. Kim, Gerechtigkeit und Verfassung. Eine Rawlsche Deutung der bundesverfassungsgerichtlichen Formel „eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise“, 2004, passim. 323 So kann nach Ansicht von BGHSt 39, 1, 15 ff. ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein „offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ zum Ausdruck kommt. Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit müsse so unerträglich sein, „dass das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch, SJZ 1946, 105, 107)“. Und das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 95, 96, 134 f.) hat diese Interpretation ausdrücklich bestätigt: „Das Verhältnis der . . . Kriterien der Radbruchschen Formel und der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte hat der Bundesgerichtshof dahin umschrieben, dass zu den wegen ihrer Unbestimmtheit schwer zu handhabenden Kriterien der Radbruchschen Formel konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen seien, weil die internationalen Menschenrechtspakte Anhaltspunkte dafür böten, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Diese Bewertung entspricht dem Grundgesetz.“

§ 4 Recht und Gerechtigkeit

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nahme auf die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie zumindest nicht unbedingt nahe legte. Ich denke an das Länderfinanzausgleich-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem dieses den Gesetzgeber verpflichtet, das verfassungsrechtlich nur in unbestimmten Begriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem durch anwendbare, allgemeine, ihn selbst bindende Maßstäbe zu konkretisieren und zu ergänzen. Dabei verlange die Finanzverfassung eine „gesetzliche Maßstabgebung, die den rechtsstaatlichen Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in die Zukunft (vgl. G. Husserl, Recht und Zeit. Fünf rechtsphilosophische Essays, 1955, S. 27 ff., sic!, Hinzufügung des Verf.) in der Weise erfüllt, dass die Maßstäbe der Steuerzuteilung und des Finanzausgleichs bereits gebildet sind, bevor deren spätere Wirkungen konkret benannt werden.“ 324 Dies mache es notwendig, dass das maßstabgebende Gesetz „in zeitlichem Abstand vor seiner konkreten Anwendung im Finanzausgleichsgesetz beschlossen und sodann in Kontinuitätsverpflichtungen gebunden“ werde, die seine „Maßstäbe und Indikatoren gegen aktuelle Finanzierungsinteressen, Besitzstände und Privilegien abschirmen.“ 325 Auch wenn sich dabei „nicht ein allgemeiner ,Schleier des Nichtwissens‘ (J. Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1. Aufl., 1975, S. 29 ff., 159 ff.) über die Entscheidungen der Abgeordneten“ breiten lasse, könne die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes doch eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickle, ohne dabei den konkreten Anwendungsfall schon voraussehen zu können.326 Damit verdeutlicht auch diese Entscheidung, dass die Rechtspraxis zumindest in den sog. „hard cases“ ihre Zuflucht in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, und hier vor allem in ihren Gerechtigkeitskonzepten, sucht.327 In dieser Selbstbeschreibung des Rechtssystems durch Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Rechtspraxis dokumentiert sich eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems, die Gerechtigkeit im Sinne einer Kontingenzformel als „adäquate Komplexität konsistenten Entscheidens“ begreift.328 Gerechtigkeit tritt den Kontingenzformeln anderer Sozialsysteme (z. B. Knappheit im Wirtschaftssystem oder Bildung im Erziehungssystem) zur Seite und 324

BVerfGE 101, 158, 217. BVerfGE, ebd., 218. 326 BVerfGE, ebd.; zur Argumentationsfigur vom „Schleier des Nichtwissens“ in der Länderfinanzausgleich-Entscheidung des BVerfG siehe auch Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, 2009, passim. 327 In diesem Sinne zu Recht Osterkamp/Thiesen, Forum: Rechtsphilosophie – Orchideenfach oder juristische Grundausstattung? Ein Plädoyer für die Grundlagenfächer, JuS 2004, 657, 659. 328 Zum Ganzen Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 214 ff. und vor der autopoietischen Wende ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, Rechtstheorie 4 (1973), 131 ff.; siehe dazu auch Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, S. 121 ff. 325

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zieht die Konsequenz daraus, dass die Voraussetzungen eines naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriffs ein für allemal entfallen sind. Ob wir es nun begrüßen oder nicht, an der Erkenntnis, dass in der modernen Gesellschaft Gerechtigkeit nicht mehr als „Perfektionsbegriff“ 329 – sei es als Tugend, Prinzip, Idee oder Wert – verstanden werden kann,330 führt kein Weg vorbei. Aber dies selbstverständlich nur in der Fremdbeschreibung des Rechtssystems, denn systemintern trägt vor allem die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie – wie gesehen – zur Identifikation und damit zur Einheit des Systems im System bei, indem sie Gerechtigkeit gerade als Tugend, Prinzip, Idee oder Wert gleichsam verabsolutiert.331 Im Vergleich damit leistet der Begriff der Kontingenzformel eine Abstraktion. Gerechtigkeit erscheint lediglich als „Schema der Suche nach Gründen oder Werten, die nur in der Form von Programmen Rechtsgeltung gewinnen können.“ 332 Würde man Gerechtigkeit hingegen – etwa im Sinne der Neo-Kontraktualisten – als Selektionskriterium verstehen, so verlöre sie automatisch ihre Funktion der Repräsentation des Systems im System.333 Die besondere Schwierigkeit der Kontingenzformel Gerechtigkeit liegt im Verhältnis von Generalisierung und Respezifikation begründet. Von jeder Operation im Rechtssystem muss einerseits erwartet werden, dass sie gerecht ist, anderenfalls ginge nämlich der Bezug der Gerechtigkeit als Norm zur Einheit des Rechtssystems verloren. Andererseits muss Gerechtigkeit als Norm eine Einzelfallorientierung vermitteln, wobei aber nicht allein aus der Zugehörigkeit der Operation zum Rechtssystem resultieren darf, dass sie als gerecht zu betrachten ist.334 Insgesamt erscheint Gerechtigkeit damit als ein eben nicht in Einheit kurzzuschließender wertneutraler Differenzbegriff, dessen andere Seite die durch Ausschluss eingeschlossene Ungerechtigkeit ist.335 Operationalisiert wird dieses Verständnis von Gerechtigkeit dadurch, dass es in erster Linie um die Konsistenz rechtlichen Entscheidens geht.336 Konsistenz 329

Luhmann, ebd., Rechtstheorie 4 (1973), 131, 134. Und zwar ganz gleich, ob naturrechtlich, utilitaristisch oder vernunftrechtlich! 331 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 219, spricht davon, dass die Kontingenzformel Gerechtigkeit systemintern „unbestreitbar gesetzt“ bzw. im Anschluss an Aleida und Jan Assmann (Assmann (Hrsg.), Kanon und Zensur, 1987) „kanonisiert“ wird. Diesen Zusammenhang verkennen z. B. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 219, wenn sie davon ausgehen, dass sich die Systemtheorie als Ersatz für die – aus ihrer Sicht – „obsolet gewordenen rechtsphilosophischen Theorien der Gerechtigkeit“ positioniere. 332 Luhmann, ebd., S. 223. 333 Ders., ebd., S. 221. 334 Ders., ebd., S. 222. 335 Krause, Luhmann-Lexikon, S. 113. 336 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 223, 225, 227 ff.; soweit dem entgegengehalten wird, dass ein solches Verständnis „trotz des innersystemischen Erklärungswer330

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meint dabei formale Gleichheit in dem Sinne, wie es das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung in die Formel fasst, dass „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich, noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ behandelt werden dürfe.337 Willkürlich ist danach ein Handeln, das sich nicht am Gerechtigkeitsgedanken orientiert. Lange Zeit war dies der Fall, wenn sich für das Handeln keine vernünftigen Erwägungen finden ließen, die sich aus der Natur der Sache ergaben oder sonstwie einleuchtend waren. Schließlich war Willkür „im objektiven Sinn zu verstehen als eine Maßnahme, welche im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden wollte, tatsächlich und eindeutig unangemessen“ war. Seit Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist das Bundesverfassungsgericht dann im Sinne der sog. „neuen“ Formel dazu übergegangen, einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot anzunehmen, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.“ 338 Sicherlich geht damit eine „strikte Formalisierung von Gerechtigkeit“ 339 einher; und zweifellos verlagert sich auf diese Weise das Problem der Gerechtigkeit von der Einzelfallgerechtigkeit zur konsistenten Zuordnung verschiedener Fälle.340 Wer das aber zum Anlass für Kritik an einem solchen Ansatz nimmt, sollte sich dann auch klar und deutlich zu einem rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Verständnis von Gerechtigkeit als „materiale Richtigkeit des Rechts“

tes nicht unmittelbar und nicht vollständig zu überzeugen“ vermöge (Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 149), bleibt man dafür eine Begründung schuldig. Zumindest sei der Gedanke aber nicht vorschnell zu verwerfen, sondern es gelte ihn eher zu entfalten (!?); vgl. in diesem Zusammenhang allgemein auch Engel/Daston (Hrsg.), Is there Value in Inconsistency?, 2006. 337 Zur diesbezüglichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und zum Folgenden siehe mit dezidierten Nachweisen Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 3 Rn. 19 ff. 338 Siehe auch dazu mit zahlreichen Nachweisen ders., ebd., Rn. 21, wobei sich dahinter wohl kaum ein ernsthafter verfassungsrechtsdogmatischer Gegensatz verbergen dürfte, siehe dazu ebenfalls ders., ebd., Rn. 22 m.w. N. 339 Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 126. 340 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 357; kritisch dazu Fögen, Das Lied vom Gesetz, S. 111 ff.: „Denn Recht, das unter diesen Umständen im Zeichen von Gerechtigkeit = Gleichheit = konsistentes Entscheiden weitermacht wie immer, verblödet, erstarrt, versteinert – wird ungerecht.“ (S. 112), die stattdessen meint, dem „systemtheoretisch inspirierten Begriff der Gerechtigkeit als Diskursgerechtigkeit“ im Sinne Gunther Teubners folgen zu sollen; siehe dazu Fögen, ebd., S. 113: „Es geht nicht einfach um Konsistenz rechtlicher Entscheidungen, sondern um höchstmögliche Konsistenz des Rechts bei gleichzeitiger höchstmöglicher Erfüllung von extrem divergierenden Umweltanforderungen.“ unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Teubner, Dreiers Luhmann, in: Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, 2005, S. 199, 201 f.

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1. Kap.: Recht als soziales System

bekennen.341 Will man dem jedoch mit guten Gründen nicht Folge leisten,342 so erscheint ein formales Verständnis von Gerechtigkeit nicht zuletzt deshalb als vorzugswürdig, weil es Philosophie und Politik in der Domäne des Rechts gleichermaßen auf Distanz hält. Nur das Recht vermag die „geordnete Speicherung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, die stete Systematisierung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, die Bewahrung institutioneller Formtypik, den formell kontrollierten Einzelfallbezug und die Anwendungsgleichheit“ zu garantieren.343 Gleichheit im Sinne konsistenten Entscheidens steht dann durch seine Argumentationshorizonte und Operationsmethoden für voraussehbare Regelhaftigkeit und gegen unberechenbare Beliebigkeit.344 Das ist nicht eben wenig. Maßgebliche Grundlage dieser Operationalisierung formaler Gerechtigkeit im Sinne der Konsistenz rechtlichen Entscheidens sind die Konditionalprogramme des Rechts.345 Sie ermöglichen es, Rechtsfragen vom Vorliegen bestimmter Tatbestandsmerkmale abhängig zu machen und Selektionen in die entscheidungstechnisch günstige Form eines binären Schemas zu bringen.346 Dieses WennDann-Schema erweist sich bei der Arbeit mit dem Gleichheitssatz (gleich/ungleich-Differenz) nicht nur als hilfreich, sondern konditionale Programmierung ist Voraussetzung dafür, dass die „Idee der Gerechtigkeit überhaupt in die Form der Gleichheit (= Regelhaftigkeit) gebracht werden kann.“ 347 Bei der Arbeit mit den Konditionalprogrammen des Rechts kommt der Rechtsdogmatik im Hinblick auf den Gerechtigkeitsgedanken eine besondere Aufgabe zu. Diese besteht rechtssystemintern in dem „Bemühen um begriffliche Konsistenz, um ein Testen der Verallgemeinerbarkeit von Prinzipien, Begriffen oder Entscheidungsregeln, also um ,Amplifikation‘, und dann um Korrektur zu weit

341 Siehe dazu Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 126 ff., u. a. mit Verweis auf Dreier, R., Zu Luhmanns systemtheoretischer Neuformulierung des Gerechtigkeitsproblems, Rechtstheorie 5 (1974), 189 ff.; vgl. dazu aber wiederum Luhmann, Die Systemreferenz von Gerechtigkeit, Rechtstheorie 5 (1974), 201 ff.; nur rechtsphilosophisch lässt sich auch Gunther Teubners Gerechtigkeitsmodell interpretieren: „Gerechtigkeit stellt damit eine Doppelanforderung: innere Konsistenz plus Responsivität gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen. Also nicht einfach innere Widerspruchsfreiheit, sondern ein Balance-Verhältnis, ja möglicherweise ein Steigerungsverhältnis, zwischen internen Konsistenzanforderungen und externen gesellschaftlichen Anforderungen an das Recht.“ Siehe Teubner, ebd., S. 202. 342 Weil sich nämlich ein Verständnis von Gerechtigkeit als „Perfektionsbegriff“ in der modernen Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten lässt, siehe dazu oben S. 78. 343 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 155. 344 So zutreffend ders., ebd., S. 149. 345 Schon für das Rechtssystem als solches haben wir ihnen vor dem Hintergrund der Funktion des Rechts zentrale Bedeutung beigemessen, siehe dazu oben S. 59 ff. 346 Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, Rechtstheorie 4 (1973), 131, 149. 347 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 231.

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gehender Generalisierungen, vor allem durch das Regel/Ausnahme-Schema.“ 348 Der Sinn dieser Operationen ist darin zu sehen, dass die Rechtsdogmatik nicht etwa den ohnehin feststehenden Rechtsstoff bloß fixiert, sondern diesen begrifflich-klassifikatorisch durcharbeitet und damit verwendungsfähig aufbereitet.349 Auf diese Weise wird die Rechtspraxis nicht nur der konkreten Entscheidungssituation gerecht, sondern weiß sich dem gesamten Rechtssystem verpflichtet. Dies verhindert, dass sie sich gleichsam aus der Rechtsordnung „hinausspiralt“.350 Die derart konkretisierte „Konsistenz des Entscheidens“ muss sich schließlich zusätzlich durch ihre „adäquate Komplexität“ auszeichnen.351 Damit wird eine Eigenschaft thematisiert, die sich zumindest nicht primär – wie die Konsistenz des Entscheidens – auf das Rechtssystem selbst, sondern auf seinen Kontakt zur Umwelt bezieht.352 Fehl geht es allerdings, wenn dieses Verhältnis des Rechtssystems zum Gesellschaftssystem dahingehend gedeutet wird, dass damit lediglich bezeichnet werde, was herkömmlicherweise als „Sachgerechtigkeit“ zu begreifen sei. Sachgerechtigkeit meine „ein angemessenes (= ,adäquates‘) Verhältnis eines Entscheidungsverfahrens (= eines ,Systems‘) zum beurteilten Gegenstand (= zur ,Umwelt‘).“ 353 Wer so argumentiert, bewegt sich noch in den Bahnen des Niklas Luhmann vor der autopoietischen Wende.354 Nach der autopoietischen Wende heißt „adäquate Komplexität“ in der Sprache der Systemtheorie hingegen „Irritabilität“.355 Selbstverständlich kann dies nicht bedeuten, dass sich das Rechtssystem gegenüber dem Gesellschaftssystem als in jeder Hinsicht offen und allen Anforderungen gegenüber empfänglich erweist. Denn wie jedes andere soziale System auch, muss das Rechtssystem seine Komplexität reduzieren und seinen eigenen Komplexitätsaufbau schützen. Dem Erfordernis der Gerechtigkeit entspricht diese „interne Komplexität“ allerdings nur, soweit sie sich mit der Eigen348

Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 11. Ders., Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 16 m.w. N.; ebenso Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 128 f. 350 Luhmann, ebd., S. 18; ebenso Osterkamp, ebd., der darin allerdings nur eine andere Umschreibung der Forderung nach Einheit des Systems sieht und deswegen auch die systemtheoretische Rekonstruktion der Gerechtigkeit nur für eine Umschreibung von Einheit hält. 351 Siehe dazu insb. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 225; ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, Rechtstheorie 4 (1973), 131, 144 ff.; Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 132 ff. 352 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 225: „Die Adäquität ergibt sich aus dem Verhältnis des Rechtssystems zum Gesellschaftssystem.“ 353 So Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 133. 354 Deshalb stützt sich Osterkamp, ebd., (siehe insb. Text zu Fn. 94!) auch an dieser Stelle vornehmlich auf Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, Rechtstheorie 4 (1973), 131 ff.; die Fortentwicklung der Luhmannschen Position zu Fragen der Gerechtigkeit wird auch übersehen von Kunz/Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, S. 219 f. 355 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 225. 349

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1. Kap.: Recht als soziales System

schaft der „Entscheidungskonsistenz“ als noch kompatibel erweist.356 Und vor diesem Hintergrund ist es dann auch tatsächlich richtig, wenn zwischen dem Merkmal der „Konsistenz des Entscheidens“ und demjenigen der „adäquaten Komplexität“ ein Zusammenhang gesehen wird. Letzteres meint eben nicht einfach bloß „Umweltanpassung“ des Rechtssystems, sondern eine solche, die die internen Systemanforderungen – Konsistenz des Entscheidens – mitberücksichtigt. Im Sinne einer „notwendigen“ Bedingung ist die Ermöglichung konsistenten Entscheidens Voraussetzung für „adäquate Komplexität“.357 Irritabilität des Rechtssystems erfordert kognitive Offenheit, d.h., dass sich das Rechtssystem seiner Umwelt gegenüber öffnen muss, um Informationen aus dieser zu verarbeiten. Gleichzeitig aber tritt eine operative Geschlossenheit des Rechtssystems hinzu, d.h., dass es zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen ist und sich in diesem Sinne selber reproduziert. Dies bedeutet weder, dass das Rechtssystem beliebig offen ist, noch dass es hermetisch geschlossen ist. Es ist vielmehr offen und geschlossen zugleich.358 Nur auf diese Weise bewahrt es in der offenen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt seine „Identität“; nur so behält es die „Herrschaft“ darüber, „in welcher Dosis und welcher Form gesellschaftliche Ereignisse und Zumutungen Berücksichtigung finden.“ 359 Dies verkennt, wer mit Blick auf das Rechtssystem von einem „geschlossenen System, das von seiner Umwelt strikt geschieden ist“, ausgeht und nach einer adäquaten „Beziehung“ von System und Umwelt sucht.360 Voraussetzung dieses durch kognitive Offenheit und operative Geschlossenheit gekennzeichneten Verhältnisses des Rechtssystems zu seiner Umwelt ist ein „eigener grundsätzlich invarianter, aber nicht unveränderlicher Kommunikationskontext, in den jede Entscheidung eingepasst werden kann und aus dem sie ihre Begründung erfährt.“ Dabei kann es sich um „Gesetze, höchstrichterliche Entscheidungen, Rechtsgrundsätze oder Lehrgebäude der Rechtswissenschaft“

356

Ders., ebd., S. 225 f. Zutreffend insoweit Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 132 f. 358 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 150. 359 Ders., ebd. 360 In diesem Sinne Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, S. 135 ff.; ebenfalls verkannt von Teubner, Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsuchungen von System und differance, in: Koschorke/Vismann (Hrsg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, 1999, S. 199, 210: „Nach Luhmann ist Gerechtigkeit adäquate Komplexität des Rechtssystems, höchstmögliche innere Konsistenz angesichts extrem divergierender Umweltanforderungen. Aber auch hier offenbart sich der Mangel, dass die Umweltrelation zwar angezielt, aber nicht ,als solche‘ systemtheoretisch erfasst werden kann, sondern nur asymetrisch, entweder aus der Innenperspektive des Rechtssystems oder aus einer externen Beobachterperspektive. Das Verhältnis von Recht und Gesellschaft selbst, die Übersetzung von einem System in das andere, verschwindet im blinden Fleck der System/ Umwelt-Unterscheidung.“ 357

§ 4 Recht und Gerechtigkeit

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handeln.361 Auf diese Weise bewahrt das Rechtssystem auch zukünftig die Kontrolle über den eigenen Argumentationskontext. Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie leisten damit auf unterschiedlichem Abstraktionsgrad und unter je spezifischer Distanznahme in der Perspektive ihren unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis von Gerechtigkeit als adäquater Komplexität konsistenten Entscheidens.

361

Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 150 f.

2. Kapitel

Ausdifferenzierung des Rechtssystems § 5 Evolution des Rechts Für die Evolution des Rechts ist in der „Rechtswissenschaft“ gleichsam von Hause aus die Rechtsgeschichte zuständig. Sie erfasst im Sinne eines historischen Vorgangs „die Entwicklung des Rechts insgesamt oder innerhalb einer gewissen Zeitspanne, bestimmter Gemeinschaften, Räume oder Gebiete, schließlich auch – als Dogmengeschichte – die Entwicklung einzelner Rechtsinstitute oder Institutionen“. Soweit die Entwicklung an ältere Rechtsformen und Rechtseinrichtungen anknüpft, ist von historischer Kontinuität die Rede.362 Herkömmlicherweise will die Rechtsgeschichte das Recht „im Flusse der lebendigen Entwicklung nicht als Gewesenes, sondern als Gewordenes“ 363 zeigen oder als „gewordenes und sich fortentwickelndes Recht“ 364 begreifen.365 Schon diese knappe Kennzeichnung von Gegenstand und Reichweite der Rechtsgeschichte lässt eines deutlich erkennen: „Entwicklung“ ist eines ihrer herrschenden Erklärungsmuster für Veränderungen im Recht. Im ursprünglichen Wortsinne meint es das „Auseinanderwickeln von etwas, was in anderer Form schon vorhanden ist“. In der Rechtsgeschichte wird damit heute eine „unumkehrbare, allmähliche, meist langfristige Veränderung in der Zeit“ umschrieben, wobei der Entwicklungsbegriff besonders gut geeignet sein soll, um Kontinuität und Linearität in der Veränderung zum Ausdruck zu bringen. Als allen historischen Entwicklungslehren gemeinsam wird der Umstand bezeichnet, die „Fülle historischer Einzeltatsachen in die Einheit eines Sinnganzen zu fügen“.366 362

Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. 2006, XI. Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, S. 1. 364 Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, XIII. 365 Für ein solches Verständnis der Rechtsgeschichte siehe insb. auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 1992; Meder, Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2005; Hoke, Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1996; Köbler, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Aufl. 2005; Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2001; Mitteis-Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992; Honsell, Römisches Recht, 5. Aufl. 2002; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, 18. Aufl. 2005; Waldstein/ Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005. 366 Wieland, Entwicklung, Evolution, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 4. Aufl. 1998, S. 199, 201 f. 363

§ 5 Evolution des Rechts

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Als weiteres Erklärungsmuster für Veränderungen im Recht ist der geläufige Begriff der „Rezeption“ zu nennen. Darunter wird die Übernahme (Aufnahme) fremder Rechtsordnungen oder Rechtseinrichtungen verstanden. Beispielhaft dafür stehen die frühe Rezeption des römischen Rechts in Deutschland,367 aber auch die Übernahme des französischen Zivilrechts durch andere europäische Völker in napoleonischer Zeit oder aus neuerer Zeit die Aufnahme des deutschen und schweizerischen Zivilrechts in Asien. In Konkurrenz zum tradierten Begriff der „Rezeption“ tritt gegenwärtig der beinahe modische Terminus des „Rechtstransfers.“ 368 Als Beispielsfälle dafür werden die „Rechtskolonialisierung“ der ehemaligen DDR, die Europäisierung des englischen Vertragsrechts und die Adaption der schweizerischen Familienrechtsreform in der Türkei diskutiert.369 Dabei sieht sich die Diskussion um den „Rechtstransfer“ maßgeblich beeinflusst durch die geraume Zeit zurückreichende wissenschaftliche Kontroverse um die sog. „Legal Transplants“. Sie ist vornehmlich von Alan Watson und Pierre Legrand geführt worden.370 Watson zufolge verdankt sich jede Rechtsentwicklung regelmäßig der von Juristen und dem Recht selbst angetriebenen Übernahme fremden Rechts (sog. borrowing), wobei die Rechtsnormen sich verändern sollen, wenn sie von einer Gesellschaft in eine andere und von einer Zeit in eine andere transplantiert werden. Legrand hingegen hält solche „Rechtstransplantationen“ für unmöglich. Damit werde der Blick viel zu statisch – nämlich von zeitlicher, örtlicher und rechtskultureller Differenz unabhängig – auf im Wesentlichen schriftlich fixierte Rechtsnormen gerichtet, obwohl diese keineswegs das Recht als solches darstellten. Letztlich werde auf diese Weise Einheit suggeriert, wo Differenz und Varietät zu betonen sei. 367 Siehe insb. von Below, Die Ursachen der Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland, 1905 und dazu Fögen/Teubner, Rechtstransfer, Rg 7 (2005), 38 ff. 368 Siehe nur Aschke, Einheit. Theoretische Aspekte des Großtransfers von Recht und juristischem Personal, Rg 7 (2005), 13 ff.; Fögen/Teubner, ebd.; Gonzales del Campo, Neue Vertragsformen als Rechtstransfer?, Rg 7 (2005), 46 ff.; Lachmund, Aus der Schweizer Werkstatt. Das Forum junger Rechtshistoriker widmet sich dem europäischen Rechtstransfer, Rg 7 (2005), 62 ff.; Müller, Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz. Semantik und Sozialstruktur einer „Gelehrtenrezeption“, Rg 7 (2005), 87 ff.; Amstutz/Karavas, Rechtsmutation. Zu Genese und Evolution des Rechts im transnationalen Raum, Rg 8 (2006), 14 ff.; Monateri, The Weak Law. Contaminations and Legal Cultures, Rg 8 (2006), 39 ff.; Nuzzo, La colonia come eccezione. Un’ipotesi di transfer, Rg 8 (2006), 52 ff.; Seckelmann, Im Labor. Beobachtungen zum Rechtstransfer anhand des Europäischen Verfassungsvertrages, Rg 8 (2006), 70 ff.; Duss/Linder u. a. (Hrsg.), Rechtstransfer in der Geschichte, 2006. 369 Aschke, ebd.; Gonzales del Campo, ebd.; Aslan, Rückfahrkarte. Das schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei, Rg 7 (2005), 33 ff. 370 Zum Folgenden siehe Watson, Legal Transplants, 2. Aufl. 1995; Legrand, The Impossibility of „Legal Transplants“, Maastricht Journal of European and Comparative Law 4 (1997), 111 ff.; mit Blick auf das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht siehe insoweit auch Fleischer, Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht als wissenschaftliche Disziplin – Das Proprium der Rechtswissenschaft –, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 50, 73.

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2. Kap.: Ausdifferenzierung des Rechtssystems

„Entwicklung“, „Rezeption“ und „Rechtstransfer“ als Erklärungsmuster für Veränderungen im Recht sehen sich darüber hinaus aber auch grundsätzlicher Kritik ausgesetzt.371 Wer in „Entwicklungslinien“ denkt, ist mit der „Wurzel“ der Entwicklung meist schnell bei der Hand: „Rechtsordnungen haben eine Geschichte und sind selbst Geschichte. Die Rechtsnorm hat ihre Daseinswurzel immer in einer bestimmten geschichtlichen Situation . . . Die Historie empfiehlt sich so als Mittel zur Selbsterkenntnis, zur Erfahrung menschlicher Möglichkeiten und Grenzen. Ihr besonderer Anspruch ist es, . . . nach den geschichtlichen Wurzeln unserer Kultur als verbindliche Grundlage unseres Daseins zu fragen.“ 372

Und wer die Wurzel der Entwicklung kennt, denkt die Geschichte des Rechts mehr oder weniger linear als deterministische Abfolge von Phänomenen, bei denen – ad infinitum – eines auf ein vor ihm liegendes anderes zurückzuführen ist.373 Eine solche „Entwicklung“ verläuft notorisch langsam, sie kennt keine unerwarteten „jumps.“ 374 Aber hätte nicht auch alles ganz anders kommen können? Verdeckt nicht die Metapher von der „Wurzel“ der Entwicklung, ihrer Linearität und Kontinuität, die Kontingenz jeden historischen Geschehens? Oder wollen wir wirklich behaupten, dass die Deutschland über mehr als ein Vierteljahrhundert teilende Mauer im Jahre 1989 nicht gefallen wäre, wenn es Perestrojka und Glasnost in der Sowjetunion nicht gegeben hätte? Ganz ohne Zweifel waren sie Bedingungen der Möglichkeit dieser Evolution des Rechts, aber das ist bereits eine andere Sicht der Dinge. Fakt ist auch, dass sich der Begriff des „Transfers“ offensichtlich großer Beliebtheit erfreut. Denken wir nur an den weltweiten Technologietransfer oder an den globalen Spielertransfer im Fußball. Aber lässt sich wirklich vom „Rechtstransfer“ reden? Oder salopp formuliert: Suggeriert nicht die Rede vom Rechtstransfer, dass sich das Recht in Tüten packen und dann getrost forttragen lasse? Festzuhalten bleibt zunächst einmal, dass der Begriff des Transfers wissenschaftstheoretisch nicht zu den für den Aufbau von Sozialsystemen konstitutiven Elementen zählt.375 Dies vielleicht auch deshalb, weil er sich von der Autonomie einer Gesellschaft und ihrer Rechtskultur ausgehend als hoch politisch und ideo371

Zur Kritik am Begriff der „Rezeption“ siehe Fögen, Einleitung, Rg 7 (2005), 12. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, XII, XV. 373 Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 15 f.; siehe zum Determinismus-Vorwurf auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, S. 39 f.; kritisch zum „Entwicklungsdenken“ Schulte, Wandel der Handlungsformen der Verwaltung und der Handlungsformenlehre in der Informationsgesellschaft, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 333, 342 f. 374 Oder mit Schulz, Geschichte der Römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 13: „Die Geschichte der römischen Rechtwissenschaft kennt keine Sensationsgeschichten.“ 375 Stichweh, Transfer in Sozialsystemen: Theoretische Überlegungen, in: Duss/Linder/Kastl/Börner/Hirt/Züsli (Hrsg.), Rechtstransfer in der Geschichte, München 2006, S. 1 ff. 372

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logisch besetzt erweist. Ferner lässt sich Transfer nicht ohne Tradition denken und darüber erfährt man regelmäßig wenig bis gar nichts. Schließlich leistet der Begriff des „Rechtstransfers“ der verbreiteten, aber empirisch nicht zu belegenden Ansicht Vorschub, dass das Recht grundsätzlich Wirtschaft, Politik und Gesellschaft „hinterhinke“. Mit dem „Rechtstransfer“ scheint das Rechtssystem dann Defizite gegenüber seiner Umwelt (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc.) zu kompensieren, indem er deren Errungenschaften mehr oder weniger sklavisch nachholt.376 Vor diesem Hintergrund wollen wir all dem eine völlig andere Betrachtungsweise gegenüberstellen. Hier sei diese zunächst nur kurz umrissen: Sie begreift Rechtsgeschichte nicht als Einheit der Geschichte bzw. als Entwicklungsgeschichte von einem Anfang bis heute, sondern als Geschichte der Evolution eines sozialen Systems.377 In diesem Sinne geht es ihr um „die Bedingungen der Möglichkeit unplanmäßiger Strukturänderungen und um die Erklärung von Diversifikation oder Komplexitätssteigerung.“ 378 Das ist zweifellos ungewöhnlich, stellt aber zumindest den Versuch dar, anschlussfähig gegenüber den Naturwissenschaften zu bleiben und auf diese Weise vielleicht sogar ein wenig der Sprachlosigkeit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu begegnen.379 Beobachtet und beschrieben wird dabei die Kommunikation380 (im Sinne von Information, Mitteilung und Verstehen), die sich am Code des Rechtssystems, d.h. der Unterscheidung von Recht und Unrecht, orientiert. Damit wird das Recht als soziales System zur Einheit einer evolutionstheoretisch geprägten Rechtsgeschichte. Als Mechanismen der Evolution werden Variation, Selektion und Restabilisierung zu betrachten sein; als Muster der Evolution wird von Fortschritt auf Komplexität umgestellt werden müssen. Eine solche Betrachtungsweise hat Konsequenzen für das Verhältnis des Rechtssystems zu seiner Umwelt. Hier ist das Modell der Ko-Evolution sozialer Systeme fruchtbar zu machen. Bevor wir uns dem im Einzelnen zuwenden, gilt es aber noch die Vorfrage zu beantworten, ob eine Evolution funktionaler Teilsysteme der Gesellschaft über376

Fögen, Rechtstransfer. Eine theoretische Einführung, unveröffentlichtes MS, S. 3. Grundlegend zum Folgenden dies., Römische Rechtsgeschichten; dies., Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14 ff.; vgl. auch Abegg, Evolutorische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 371 ff.; Henke, Über die Evolution des Rechts, 2010, passim. 378 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 240. 379 Hoffnungsvolle Ansätze dazu finden sich bereits in den Literatur- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch in der Rechtswissenschaft, siehe dazu z. B. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001; Leder, Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 61 ff. 380 Siehe dazu auch Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005; Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme,1999. 377

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haupt möglich ist. Dies lässt sich anschaulich auch als das Matrjoschka-Problem einer systemtheoretisch fundierten Gesellschaftstheorie beschreiben, nämlich dem Problem der „gesellschaftlichen Verschachtelung operativ geschlossener autopoietischer Systeme.“ 381 Konkret geht es um die Frage, wie ein soziales System in einem anderen Autopoiese auf der Grundlage operativer Geschlossenheit aufbauen kann.382 Funktionale Differenzierung der Gesellschaft dürfte dafür eine unverzichtbare Voraussetzung sein, weil sich erst damit jene Kombination von operativer Geschlossenheit und hoher Eigenkomplexität einstellt, die der Differenzierung evolutionärer Funktionen eine hinreichend stabile Basis liefert. Wie bereits erwähnt, ist allerdings erst in wenigen Fällen der Versuch unternommen worden, die Begrifflichkeit der Evolutionstheorie konsequent auf die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft zu übertragen. Wissenschaftsgeschichtlich sind diese Bemühungen regelmäßig mit dem „Zusammenbrechen älterer Theorievorstellungen“, insbesondere dem „Zweifel an der immanenten Rationalität des Gegenstandsbereiches“ in Verbindung zu bringen.383 Für das Rechtssystem darf insoweit mit Grund auf das Scheitern naturrechtlicher, analytischer und begriffsjuristischer „Theorie“konzepte verwiesen werden,384 auch wenn die diesbezüglichen Kontroversen in der „Theorie des Systems im System“, d.h. in der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, scheinbar kein Ende nehmen wollen. Funktionale Differenzierung der Gesellschaft ist es auch, die vor diesem Hintergrund die Beobachtung von Kommunikation über die binäre Codierung funktionsspezifischer Operationen, für das Rechtssystem in Form der Recht/UnrechtUnterscheidung, systematisiert. Strenge Codierung erweist sich als kontingenzförderlich und damit als evolutionsempfindlich. So bieten binäre Codes die schnellste Möglichkeit, um aktuell Komplexität aufzubauen. Sie werden gleichsam zu „Scharnieren, an denen sich die Tore zu Teilsystemevolutionen öffnen“. Repräsentieren Codes spezifische Eigenwerte des Systems, z. B. Recht und Unrecht, so sorgen Programme, z. B. Gesetz, Rechtsverordnung und Satzung, für die notwendige Anpassungsfähigkeit desselben, weil dieses in der Selektion von Programmen durch die Umwelt irritiert werden kann. Erst die Autopoiesis garantiert dann wieder die nötige dynamische Stabilität des Systems. Codierung und Programmierung erweisen sich damit als Resultat und Bedingung der Evolution von Funktionssystemen. Obwohl beide als besonders evolutionsempfindlich gelten dürfen, bedarf es zusätzlich einer spezifischen historischen Ausgangslage, die als take-off eines evolutorischen Sprungs genutzt wird. 381 382 383 384

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 562. Dazu und zum Folgenden ders., ebd., S. 557 ff. Ders., ebd., S. 557 ff. im Hinblick auf das Wissenschafts- und Wirtschaftssystem. Ders., ebd., S. 561.

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Historisch betrachtet möchte man fast meinen, dass dabei immer erst etwa 1000 Jahre vergehen müssen, bevor die Evolution zu einem neuen Sprung ansetzt. Am Anfang war nämlich Rom, obwohl wir von Anfang an wissen, dass das Problem des Anfangs ein unlösbares ist und bleibt. Es gab die römische Republik und das römische (Privat-)Recht. Die wichtigsten Unterscheidungen, mit denen das moderne Privatrecht in seiner tagtäglichen Praxis noch heute arbeitet, z. B. Eigentum und Besitz, Vertrag und Delikt, dingliche und obligatorische Rechte, testamentarische und gesetzliche Erbfolge usw.,385 verdanken sich dem römischen Recht. Und Rom wurde zur Erfolgsstory. Schon lange nachdem es Rom nicht mehr gab, trat das römische Recht seinen Siegeszug an. Vom 12. Jahrhundert, dem nicht zu Unrecht als „juristischem Jahrhundert“ 386 bezeichneten, bis zum vergangenen Jahrhundert stand es im Mittelpunkt universitärer Lehre an den juristischen Fakultäten Europas.387 Geblieben ist die Referenz Rom,388 wenngleich als „Konstruktion der Konstruktion.“ 389 Die Referenz Rom war auch gut 1000 Jahre später noch wirksam.390 Bis zum 11. Jahrhundert gab es zwar kein selbständiges „System“ des Rechts, zumindest aber waren zahlreiche Rechtsbegriffe und Rechtsregeln aus dem römischen Recht überkommen. Sie fanden sich in den Kanones und Erlassen lokaler Kirchenversammlungen und einzelner Bischöfe, aber auch in einigen königlichen Gesetzen und im Gewohnheitsrecht. Ansonsten gestaltete sich die Abgrenzung des Rechts von anderen Formen sozialer Kontrolle aber als schwierig. Dies vor allem deshalb, weil sich das weltliche Recht noch nicht vom allgemeinen Stammes-, Lokal- und Feudal-Brauchtum (auch der königlichen und kaiserlichen Hausgemein385 Siehe insoweit am Beispiel der Sicherungsrechte grundlegend Schanbacher, Zu Ursprung und Entwicklung des römischen Pfandrechts, SZ 123 (2006), 49 ff.; ders., Grenzüberschreitende Sicherungen im antiken Rom – ius gentium und lex rei sitae, in: Jung/Baldus (Hrsg.), Differenzierte Integration im Gemeinschaftsprivatrecht, 2007, S. 27 ff. 386 Siehe dazu m.w. N. Berman, Recht und Revolution, S. 199. 387 Siehe für Deutschland noch Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts. Vorlesungen gehalten an der Universität Berlin, mit Vorlesungseinheiten, die heute wohl kaum noch denkbar wären, z. B. „Isolierung“ S. 13 ff., „Abstraktion“ S. 27 ff., „Einfachheit“ S. 45 ff., „Tradition“ S. 57 ff., „Nation“ S. 74 ff., „Freiheit“ S. 95 ff., „Autorität“ S. 112 ff., „Humanität“ S. 128 ff., „Treue“ S. 151 ff., „Sicherheit“ 162 ff. 388 Siehe dazu insb. Fögen, Nach Hause . . ., Rg 4 (2004), 116 f.; Conte, Archeologia giuridica medievale. Spolia monumentali e reperti istitutzionali nel XII secolo, Rg 4 (2004), 118 ff.; Grünbein, Vom Terror, Rg 4 (2004), 137 ff.; De Giorgi, Rom als Gedächtnis der Evolution, Rg 4 (2004), 142 ff.; Kempe, Untergänge Roms, Rg 5 (2004), 58 ff. 389 Fögen, ebd., 116. 390 Siehe dazu und zum Folgenden eingehend Berman, Recht und Revolution, S. 212 ff., 227 ff., 337 ff., 399 ff., 463 ff., 778 ff.; siehe aber auch ders., Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, 2003.

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schaften) hatte lösen können. In eben solcher Weise war das kirchliche Recht zu weiten Teilen im kirchlichen Leben verstreut. Berufsjuristen, Berufsrichter, Gerichtshierarchien und akademische Rechtsschulen fehlten völlig. Dieses Bild änderte sich vom Ausgang des 11. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts grundlegend. Dem Recht gelang es, sich als Korpus von Rechtsgrundsätzen und Rechtsverfahren zu verselbständigen; erstmals erstarkten kirchliche und weltliche Zentralgewalten; Europa erlebte die Gründung seiner ersten Rechtsschulen.391 All diese Umstände trugen zur „Bildung der modernen westlichen Rechtssysteme“ 392 bei, als deren erstes sich das Kanonische Recht der römisch-katholischen Kirche herauskristallisierte. Vor seinem Hintergrund und in Konkurrenz zu ihm schufen auch die europäischen Königreiche ihre eigenen weltlichen Rechtsordnungen und die freien Städte Europas gaben sich ihr erstes Stadtrecht. Neben dem sich allmählich formierenden Feudal-, Grundherren-, Handels- und Stadtrecht waren aber auch religiöse Kräfte am Werk. Hier ist ganz maßgeblich die sog. päpstliche Revolution zu nennen, allen voran das Wirken Papst Gregor VII., der 1075 die politische und juristische Oberhoheit des Papsttums über die ganze Kirche, letztlich aber auch in weltlichen Angelegenheiten proklamierte und die Unabhängigkeit des Klerus von weltlicher Kontrolle forderte. Der sich anschließende sog. Investiturstreit zwischen Königtum und Kirche fand mit dem Wormser Konkordat (1122) in einem bis heute fortwirkenden „Dualismus von kirchlichem und weltlichem Rechtssystem“ sein Ende.393 Und weitere knapp 1000 Jahre später könnte sich das Rechtssystem erneut vor einem oder gar bereits in einem evolutorischen Sprung befinden. Ich denke dabei an die Globalisierung des Rechts,394 ohne deswegen gleich unbesehen und vielleicht sogar voreilig für ein Weltrecht395 oder eine Weltrechtspflege396 zu plädie-

391 Beispielhaft sei hier die Gründung der Juristischen Fakultät von Bologna genannt, dazu insb. Berman, ebd., S. 204 ff. 392 Ders., ebd., S. 193 ff. 393 Zum Ganzen eingehend ders., ebd., S. 193 ff.; siehe aber auch Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 443 Fn. 59, der mit Berman darin den maßgeblichen „take off“ für die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems sieht und ders., ebd., S. 566, unter Hinweis auf die mit dieser Entwicklung verbundenen Anforderungen an „Präzision und Änderbarkeit“ des Rechts. 394 Siehe z. B. Voigt, Von der Romanisierung zur Globalisierung? Zur Entwicklung der westlichen Rechtskultur, in: ders. (Hrsg.), Evolution des Rechts, 1998, S. 119 ff.; Fischer-Lescano, Globalverfassung, 2005; ders./Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006; vgl. ferner Brunkhorst, Die globale Rechtsrevolution. Von der Evolution der Verfassungsrevolution zur Revolution der Verfassungsevolution?, in: Christensen/Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, 2008, S. 9 ff.; Höffe, Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung, Merkur 60 (2006), Heft 692, 1113 ff. 395 Siehe dazu Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 143 ff. 396 Siehe dazu Gärditz, Weltrechtspflege, 2006.

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ren. Wenn wir aber darin übereinstimmen, dass es Kommunikation ist, welche die Gesellschaft als umfassendes soziales System konstituiert, und zugleich von ihrer Umwelt abgrenzt, dann kann es für alle anschlussfähige Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben, eben die Weltgesellschaft.397 Sie ist das „Sich-Ereignen von Welt in der Kommunikation.“ 398 Das gilt auch für normative Kommunikation im Rechtssystem, d.h. für Kommunikation am Maßstab der Codierung Recht/Unrecht. Sie kennt funktional keine regionalen Unterschiede.399 Aber vielleicht fällt uns diese Beobachtung wegen ihres blinden Flecks derzeit noch etwas schwer, obwohl dies natürlich für jede Beobachtung gilt und ihre Paradoxieentfaltung schlicht und ergreifend die Inanspruchnahme von Zeit zwischen der ersten und jeder weiteren Beobachtung verlangt. Jedenfalls kann vor diesem Hintergrund kein Zweifel daran bestehen, für das Rechtssystem von einer unverkennbaren Teilsystemevolution ausgehen zu dürfen. Dies könnte sogar zu der Vermutung Anlass geben, die gesamte gesellschaftliche Evolution als Resultat von Teilsystemevolutionen zu betrachten.400 Auf alle Fälle geht es aber nur über Evolution weiter, egal wie und wohin. Dies führt uns direkt zu der Frage nach den (Bewegungs-)Mechanismen der Evolution im Allgemeinen und des Rechtssystems im Besonderen. Als solche sind Variation, Selektion und Stabilisierung zu nennen.401 Sämtlich beziehen sie sich auf das System: Variation auf die Elemente,402 Selektion auf die Struktur403 und Stabilisierung auf die Einheit des Systems.404 Mit Hilfe dieses evolutionstheoretischen Instrumentariums beobachtet man, „welches die Bedingungen der Möglichkeit waren, dass Recht so wurde, wie wir es in jeweiligen historischen und gegenwärtigen Situationen vorfinden.“ 405

397 Siehe dazu Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 5. Aufl. 2005, S. 63 ff.; Stichweh, Die Weltgesellschaft, 2000. 398 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 150. 399 Funktionale Differenzierung dieser Art schließt aber segmentäre Differenzierung nicht aus, vielmehr ist interne Differenzierung eine Folge funktionaler Differenzierung. So für das politische System ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 222. 400 Dazu wäre es erforderlich, Teilsystemevolutionen in anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft zu beobachten und zu beschreiben, siehe dazu ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 565 f.; 567 ff. 401 Siehe dazu ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 456 ff. und zur Differenzierung von Variation, Selektion und Restabilisierung S. 498 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 257 ff.; ders., Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 11, 16 ff.; vgl. ferner Abegg, Evolutorische Rechtstheorie, in: Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, S. 371, 378 ff.; Huber, Systemtheorie des Rechts. Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns, 2007, S. 82 ff. 402 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 456–472. 403 Ders., ebd., S. 473–484. 404 Ders., ebd., S. 485–497. 405 Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 17 (Hervorhebung i.O.).

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„Variation eines autopoietischen Elements im Vergleich zum bisherigen Muster der Reproduktion“ 406 vollzieht sich durch unerwartete, gleichsam überraschende Kommunikation im Rechtssystem, d.h., zum Beispiel dann, wenn Umweltereignisse (technische Erfindungen, politische Umstürze etc.) das Rechtssystem irritieren und zur Variation im Recht provozieren. Die unverkennbaren, mit der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands verbundenen Änderungen im Verfassungs- und Gesetzesrecht der Bundesrepublik Deutschland dürften dafür ein besonders treffendes Beispiel aus jüngerer Zeit sein. Solche Variation im Recht ist die Grundvoraussetzung aller Evolution, nicht zu prognostizieren, aber zumindest zu rekonstruieren.407 „Selektion“ der mit der Variation verbundenen Möglichkeiten der Veränderung im Recht bedeutet, dass aus der Vielzahl der Möglichkeiten eine und eben nicht eine andere ausgewählt und auf der Grundlage der Recht/Unrecht-Unterscheidung markiert wird.408 So wie im 19. Jahrhundert der Dampfkessel zum „Rechtsproblem“ wurde,409 gilt dies etwa im 20. Jahrhundert für den Computer und das Internet.410 Selektion ist kontingent, aber nicht beliebig, weil sie nämlich an vorangegangene Selektion und damit verbundenen Strukturaufbau gebunden bleibt. „Stabilisierung“ des Systems erfolgt über die Einfügung des selegierten neuen Elements in die vorhandene Struktur. Für das Rechtssystem wird diese Funktion ganz maßgeblich von der Rechtsdogmatik wahrgenommen.411 Dadurch gelingt es, den Überraschungswert künftiger und ähnlicher Umweltirritationen zu mindern, gleichzeitig aber neue Komplexität aufzubauen. Der evolutorische Prozess ist damit zunächst am Ende, aber nur um sofort als Anfang neuer Variation und 406

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 242. Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 15. 408 Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung von Variation und Selektion siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 257 „Variation und Selektion lassen sich nicht unterscheiden . . .“ und ders., Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 11, 16 „Sucht man im Bereich des Rechts nach entsprechenden Mechanismen der Erzeugung von Varietät, der Selektion und der Stabilisierung, so stößt man auf drei Funktionsbereiche, die sich (1) als Reichhaltigkeit und Konfliktsträchtigkeit normativer Erwartungen, (2) als Entscheidungsverfahren und (3) als regulative Formulierung des geltenden Rechts unterscheiden lassen.“ (Hervorhebung i.O.) 409 Siehe dazu Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, S. 3, 24 ff. 410 Siehe dazu Dreier/Meyer van Raay, Computerrecht, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, S. 813 ff.; Rossnagel, Rechtsverbindliche Telekooperation, ebd., S. 887 ff.; Kröger/Gimmy (Hrsg.), Handbuch zum Internetrecht, 2000. 411 Dazu eingehend Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 265 ff.; für die Rechtsgeschichte siehe die Hinweise von Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 142 f. auf „Autoritäten, Geheimhaltung und Rituale“. 407

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Selektion zu dienen. Im Sinne dynamischer Stabilität geht es also um das Weiterführen der autopoietischen, strukturdeterminierten Reproduktion in geänderter Form.412 Vor diesem Hintergrund werden im Rechtssystem Normativität (Variation), Verfahren (Selektion) und Rechtsdogmatik (Stabilisierung) als Evolutionsmechanismen wirksam.413 Normen als enttäuschungsfeste, kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen sind dabei für die Evolution des Rechtssystems nachgerade unverzichtbar. Die damit fast zwangsläufig einhergehende Vermehrung wechselseitiger Enttäuschungen und Rechtsstreitigkeiten lässt eine Vielzahl widerstreitender individueller Normprojektionen sichtbar werden. Das Recht mutiert. Aus dem Übermaß an miteinander nicht zu vereinbarenden und nicht zugleich durchsetzbaren normativen Erwartungen muss sodann durch Selektion bestimmt werden, welche Auffassung dem geltenden Recht entspricht. Dabei sind die Selektionsmechanismen des Rechts grundsätzlich nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern variieren gleichsam mit ihr. Besaßen diese in der archaischen Gesellschaft, aber auch noch in der bürgerlichen Gesellschaft414 vornehmlich Kampfcharakter, so sind in der funktional ausdifferenzierten, hochkomplexen Gesellschaft der Moderne leistungsfähigere Selektionsmechanismen415 an ihre Stelle getreten. Gemeint sind Interaktionssysteme,416 insbesondere Verfahren,417 in denen die Bewältigung normativer Konflikte verhandelt werden kann.418 Als kurzfristig eingerichtete, auf ein Ende hin konstruierte Sozialsysteme kommt ihnen die besondere Funktion zu, Entscheidungen zunächst aufzuschieben (Latenzfunktion) und eine Zeitlang im Ungewissen zu operieren, dabei Partizipationsbeiträge der Verfahrensteilnehmer zu provozieren, bevor dann verbindlich entschieden wird; mit der Konsequenz, dass die Verfahrensteilnehmer angesichts ihrer Mitwirkung am Verfahren nur geringe Chancen besitzen, die Le-

412 Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 16. 413 Siehe dazu eingehend Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 11, 17 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 261 ff. 414 Siehe dazu etwa Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, 1991. 415 An die Stelle des Duells treten Strafrecht und Strafverfahren. Siehe dazu etwa Amelung, Die Ehre als Kommunikationsvoraussetzung. Studien zum Wirklichkeitsbezug des Ehrbegriffs und seiner Bedeutung im Strafrecht, 2002. 416 Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, 1999. 417 Dazu insb. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 55 ff. (Gerichtsverfahren), 137 ff. (Gesetzgebungsverfahren), 201 ff. (Verwaltungsverfahren). 418 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 260; ders., Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 11, 18 f.

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gitimität desselben in Frage zu stellen.419 Auf diese Weise kommt es zu erhöhter Transparenz im Selektionsvorgang. Die Ausbildung unterschiedlicher Rechtsverfahren (vor Gericht, bei der Gesetzgebung, im Verwaltungsverfahren) ist aber nur eine Bedingung der Möglichkeit von Evolution. Eine andere, als eigentlicher Träger der Rechtsevolution betrachtete Bedingung420 ist in den Modalitäten argumentativer Bezugnahme auf die Rechtsmaterialien des Rechtssystems zu sehen. Und hier kommt wiederum Rom ins Spiel. Es ist nämlich das römische Zivilrecht, dem es erstmals gelang, mit der „Absonderung eines Bestandes an Begriffen und Maximen, Prinzipien und Entscheidungsregeln“ einzelfallunabhängige Abstraktionen (regulae, brocardia etc.) auszubilden,421 an die man bei der „Bildung der modernen westlichen Rechtssysteme“ zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert anzuknüpfen vermochte. Seitdem darf Rechtsdogmatik als stabilisierender, auf die Evolution des Rechts zurückwirkender Faktor gelten.422 Mit der Ausdifferenzierung der Rechtsdogmatik geht die Ausdifferenzierung ihrer Stabilisierungsfunktion für die Evolution des Rechtssystems einher. Auf begriffliche Systematik und geschichtliche Kohärenz achtend definiert sie – wie oben bereits erläutert423 – im Sinne einer „Konsistenzkontrolle“ die „Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen.“ 424 Rechtsdogmatik ist systematisch oder sie ist nicht!425 Dies hat in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems vor allem in der „juristischen Methode“ Otto Mayers426 seinen Niederschlag gefunden. Sie zeichnete sich dadurch aus, „dass zunächst alle nichtjuristischen Erwägungen, als welche politische, geschichtliche, philosophische und volkswirtschaftliche angesehen wurden, ausgeschieden wurden. Der verbleibende, nunmehr stofflich reine Rest war sodann nach rechtlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Um die rechtlichen Erscheinungen in ein solches System einfügen zu können, mussten anhand ihres juristischen Gehalts allgemeine Begriffe gebildet werden.“ 427

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Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 208 f. Ders., ebd., S. 263. 421 Zu dieser Entwicklung, insb. auch der Bedeutung von Eigentum und Vertrag in diesem Argumentationskontext, siehe ders., ebd., S. 264 ff., 266 ff. 422 Ders., ebd., S. 265. 423 Siehe dazu oben S. 15 ff. 424 Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 18 f. 425 In leichter Abwandlung von Hans Julius Wolffs Diktum „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht!“, siehe dazu Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, Studium Generale 5 (1952), 195 ff. 426 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1924, S. 18 „das der deutschen Rechtswissenschaft eigentümliche Bedürfnis nach strenger Systematik.“ 427 Hueber, Otto Mayer. Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982, S. 14 f. 420

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Obwohl nie unumstritten,428 blieb dies für lange Zeit gleichsam common sense der Rechtsdogmatik. Und noch immer wird davon ausgegangen, „dass nur ein systematisch ausgerichtetes Verwaltungsrecht in der Lage ist, Wertungswidersprüche bewusst zu machen und den auseinander laufenden Rechtsentwicklungen der Fachgebiete entgegenzuwirken. Es trägt so dazu bei, administratives Handeln transparent zu gestalten und der öffentlichen Verwaltung die nötige Akzeptanz zu sichern. Nur als systematische Wissenschaft kann das Verwaltungsrecht auf die großen Herausforderungen der heutigen Verwaltungssituation reagieren – auf die Chancen und Gefahren des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, auf die im Zuge von Privatisierungen eintretenden Verschiebungen im staatlich-gesellschaftlichen Verantwortungsgefüge, auf Verknappungen der finanziellen Rahmenbedingungen und auf die Europäisierung und Internationalisierung der Rechts-, Wirtschaftsund Sozialvorgänge . . . Systematik ist etwas Vorgegebenes und etwas Aufgegebenes zugleich.“ 429

Allerdings sind gerade in jüngster Zeit Aufweichungstendenzen der traditionellen Rechtsdogmatik unverkennbar.430 Der „Siegeszug des Zwecks“ 431 scheint unaufhaltsam und mit ihm derjenige der „Interessenabwägung“ 432 als „trojanischem 428 Siehe dazu insb. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 407 ff.; Dritter Band, 1999, S. 203 ff.; Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, AöR 117 (1992), 212 ff. 429 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, S. 1 f.; ders., Der Beitrag der Gerichte zur verwaltungsrechtlichen Systembildung, VBlBW 1988, 381; zum Systemdenken im Verwaltungsrecht siehe auch Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 183 ff. 430 Siehe dazu insb. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Schmidt-Aßmann/HoffmannRiem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 ff. 431 Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition. Das Proprium des Rechts aus der Perspektive des öffentlichen Rechts, Preprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods Bonn 2006/13, S. 13 ff. m.w. N.; siehe auch Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 4 Rn. 13 ff.; siehe aber demgegenüber Schober, Der Zweck im Verwaltungsrecht, 2007, S. 257: „Dabei hat sich gezeigt, dass die vielfach beschworene Finalisierung nur an der Oberfläche stattfindet, in gewisser Weise also eine Scheinfinalisierung ist . . . Der Begriff des Zwecks taucht zwar häufiger in Regelungen, Konzepten und Diskussionen auf, eine zentrale Funktion kommt ihm jedoch nicht zu.“ 432 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, S. 146: „Recht schützt Interessen, bewertet Interessen und ordnet durch Verfahrensregeln den Ausgleich von Interessen.“ Christensen/Lerch, Dass das Ganze das Wahre ist, ist nicht ganz unwahr, JZ 2007, 438 ff.; Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), Staat im Wort, FS Josef Isensee, 2007, S. 253 ff.; Möller, Abwägungsverbote im Verfassungsrecht, Der Staat 46 (2007), 109 ff.; Hofmann, E., Abwägung im Recht, 2007; theoretische Grundlegung bei Sieckmann, Recht als normatives System, 2009, S. 65 ff., 169 ff.; kritisch Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im

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Pferd jeder juristischen Dogmatik.“ 433 Die weitere Entwicklung lässt sich nicht prognostizieren. Sie bleibt, wie es sich für Evolution gehört, schlicht abzuwarten, zugleich aber zu beobachten und zu beschreiben. Normativität, Verfahren und Rechtsdogmatik treiben folglich die Teilsystemevolution des Rechts unaufhaltsam voran. Aber können wir es dabei allein belassen? Nehmen nicht zusätzlich andere gesellschaftliche Faktoren „Einfluss“ auf die Evolution des Rechtssystems? Ist in diesem Sinne nicht z. B. die Französische Revolution von maßgeblichem „Einfluss“ für das moderne Rechtssystem gewesen? Sind nicht ganz allgemein Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in vielfältiger Weise „ursächlich“ geworden für die Evolution des Rechts?434 Aber andererseits: sind „Ursache“ und „Einfluss“ wirklich die wissenschaftstheoretisch überzeugenden Erklärungsmuster für das Verhältnis des Rechts zu den übrigen Funktionssystemen der Gesellschaft (z. B. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft)? Wir bezweifeln dies und wollen stattdessen ein Modell der Ko-Evolution sozialer Systeme fruchtbar machen.435 Dieses geht davon aus, dass die Stabilität von Gesellschaft auf einer mehr oder minder austarierten Balance ihrer unterschiedlichen Funktionsbereiche beruht. Wechselseitige strukturelle Angewiesenheiten kennzeichnen deshalb das Verhältnis von Recht und Politik, Politik und Wissenschaft, Recht und Wirtschaft oder Wirtschaft und Erziehung.436 In der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft wird diese Aufgabe vornehmlich von strukturellen Kopplungen der unterschiedlichen Sozialsysteme wahrgenommen.437 Sie ermöglichen und erleichtern die Ko-Evolution sozialer Systeme. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür ist die Behandlung des Problems physischer Gewalt durch Recht und Politik. Recht setzt gesicherten Frieden voraus. Dafür ist in der Gesellschaft das Funktionssystem der Politik zuständig. Es

21. Jahrhundert, 2007, S. 35 „Unübersichtlichkeit permanenter Abwägung“; Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, S. 343 ff. „Die Entwertung der Grundrechte durch die grenzenlose Abwägung“. 433 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 268. 434 Beispiele für diese Sichtweise z. B. schon bei von Below, Die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, 1905. 435 Zur Ko-Evolution sozialer Funktionssysteme siehe insb. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 427; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 281 ff.; Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 18; dies./Teubner, Rechtstransfer, Rg 7 (2005), 38, 43, 44 f.; vgl. auch Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, S. 112 ff. 436 Fögen, ebd. 437 Siehe dazu für das Rechtssystem im einzelnen unten das 3. Kapitel „Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems“; vgl. auch Teubner, Rechtsirritationen: Zur Koevolution von Rechtsnormen und Produktionsregimes, in: Dux/Welz (Hrsg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne: Zur Legitimation gesellschaftlicher Ordnung, 2001, 351 ff.

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entzieht ersterer das „Macht“mittel physischer Gewalt und konsolidiert seine „Macht“ über das staatliche Gewaltmonopol. War der Weg dahin – historisch betrachtet – durchaus steinig und beschwerlich,438 so herrscht mittlerweile doch Einigkeit darin, dass das Gewaltmonopol des Staates seinen letzten normativen Grund in der Volkssouveränität findet.439 Und diese wiederum ist über Art. 20 Abs. 2 GG an das Rechtssystem rückgebunden. Dass damit aber nicht sämtliche Probleme gelöst sind, zeigen „Grenzfälle, in denen das Recht es unter rechtlich geregelten Bedingungen erlaubt, gegen das Recht zu verstoßen.“ 440 Neben den klassischen Notwehr- und Notstandsrechten strafrechtlicher Provenienz ist hier insbesondere, weil sogar auf verfassungsrechtlicher Ebene geregelt und damit strukturell an das politische System gekoppelt, das Widerstandsrecht gem. Art. 20 Abs. 4 GG zu nennen.441 Danach darf gegen jeden, der es unternimmt, das Grundgesetz zu beseitigen, Widerstand geleistet werden, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist;442 eine Paradoxie der rechtlichen Codierung, die durch rechtsinterne Entfaltung invisibilisiert wird.443 Alles in allem bestätigt dieser Befund aber einerseits den Zusammenhang von Autopoiese und struktureller Kopplung444 sowie andererseits die Ko-Evolution von Recht und Politik.445 Ein weiteres Beispiel der Ko-Evolution sozialer Funktionssysteme der Gesellschaft liefert übrigens das bereits angesprochene Problem des „Rechtstransfers“. In der Selbstbeschreibung des Rechtssystems werden regelmäßig „äußere Gründe“ für den „Rechtstransfer“ verantwortlich gemacht, seien es solche der Politik (Modernisierung), der Wirtschaft (Einführung der Geldwirtschaft) oder 438 Siehe dazu insb. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 214 m.w. N.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 351 ff.; Jachtenfuchs, Das Gewaltmonopol: Denationalisierung oder Fortbestand?, in: Leibfried/Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, S. 69 ff.; vgl. auch Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 281 ff.; zu aktuellen „Aufweichungen“ des staatlichen Gewaltmonopols im Sinne einer Verteilung auf Staat und Private siehe Schulte, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols, DVBl. 1995, 130 ff.; Storr, Zu einer gesetzlichen Regelung für die Kooperation des Staates mit privaten Sicherheitsunternehmen im Bereich polizeilicher Aufgaben, DÖV 2005, 101 ff. 439 Siehe z. B. nur Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 124 f.; Schröder, R., Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, S. 7 f.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 143 ff. 440 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 285. 441 Siehe dazu Schmahl, Rechtsstaat und Widerstandsrecht, JöR N.F. 55 (2007), 99 ff. 442 Die Einklagbarkeit des Widerstandsrechts käme dabei, soweit es um die Durchsetzung der Widerstandshandlung als solcher geht, einer contradictio in adiecto gleich. So zu Recht Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 20 Rn. 356. 443 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 285. 444 Dazu ders., ebd. 445 Zur Evolution des politischen Systems siehe in ersten Ansätzen Wimmer, Evolution der Politik. Von der Stammesgesellschaft zur modernen Demokratie, 1996.

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der Wissenschaft (Internationalisierung).446 Dies suggeriert, dass es externe Kausalfaktoren sind, die die „Entwicklung“ des Rechts planvoll steuern und leiten.447 Aus evolutionstheoretischer Perspektive geht es hingegen um getrennte Evolutionsprozesse, die sich unterschiedlicher Evolutionsmechanismen bedienen, aber über ko-evolutive Mechanismen, wie Irritationen und strukturelle Kopplungen, aneinander gebunden sind. „Rechtstransfers“ sehen sich dabei der „Evolutionsdynamik eines an das Recht gekoppelten Sozialbereichs“ gegenüber.448 Statt vom „Transfer über Systemgrenzen“ sollte hier von „Rekonstruktion in anderen Systemkontexten“ die Rede sein.449 Aber auch innerhalb eines sozialen Systems führt die Vorstellung des „Transfers“ nicht wirklich weiter, geht es doch insoweit um Strukturtransformation, die im Nachhinein als Stabilität von Strukturen rekonstruiert wird.450 Alles in allem sollte auf den Begriff des „(Rechts-)Transfers“ verzichtet werden und stattdessen von „unterschiedlichen Grenzüberschreitungen bei der Resignifikation von Rechtsnormen“ ausgegangen werden.451 Evolution (des Rechts) ist demnach Ko-Evolution. Aber geht es dabei beliebig zu oder wird im Auf- und Abbau von Strukturen (des Rechtssystems) ein Muster erkennbar? Dem „Entwicklungsdenken“ als Erklärungsmuster für Veränderungen (im Recht) hat dabei lange Zeit der „Fortschrittsglaube“ Pate gestanden.452 Für das Rechtssystem hat Rottleuthner dies auf den Punkt gebracht: „Wenn Fortschritt nur in Technik und Naturwissenschaft manifest wird und gerade darin seine Ambivalenz zeigt, wenn nicht mehr der sittliche Rechtsfortschritt im Zentrum der sich welthistorisch entfaltenden Vernunft steht, dann kippt die Geschichtsphilosophie in ihr Negatives um: in Theorien des Kreislaufs, der Dekadenz oder des Untergangs. Die großen Projekte der Machbarkeit, Perfektibilität und Emanzipation verlieren sich im blinden Geschehen. Wenn es nicht mehr vernünftig vorangeht, gibt es aber nicht nur diese Wendung zu negativen Utopien, sondern auch den Rekurs auf das Vorgegebene, Substantielle, die Markierung von natürlichen Grenzen oder Schranken. Die Geschichtsphilosophie resigniert dann zur Anthropologie und biologischen Metaphorik (und das Recht interessiert die Philosophen nicht länger).“ 453

446 Siehe dazu schon früh von Below, Die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, S. 11 f., 22, 120 f. 447 Dagegen dezidiert Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 268 „Evolution ist kein Planverfahren.“ Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 429 f. 448 Fögen/Teubner, Rechtstransfer, Rg 7 (2005), 38, 43. 449 Dies., ebd., 44. 450 Dies., ebd., dort auch zum Sonderproblem der Kontakte zwischen autonomem Rechtsordnungen (44 f.). 451 Dies., ebd. 452 Siehe dazu insb. Koselleck, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. Brunner/Conze/ders., Bd. 2, 1975, S. 351 ff.; ders., ,Fortschritt‘ und ,Niedergang‘ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, 2006, S. 159 ff.; Ritter, Fortschritt, in: ders. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 1032 ff.

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Zu einer dezidiert anderen Sicht der Dinge gelangt man, wenn man den „Fortschrittsglauben“ bei der Bewertung von Evolution aufgibt, d.h. Konstruktion und Destruktion von Systemen mit Gleichmut hinnimmt.454 Stattdessen ist dann – mit erheblichen Konsequenzen für das Theoriedesign – auf „Komplexität“ umzustellen. „Emergenz“ und „Zufall“ werden zu maßgeblichen Faktoren evolutionären Denkens. Ohne Sinn oder telos bemühen zu müssen, geht es um die „Morphogenese von Komplexität“.455 Dabei kommen auch für das Rechtssystem die typischen Erscheinungsformen der Autopoiese sozialer Systeme zum Tragen456: Operative Schließung des Systems und umweltindifferente Codierung,457 Abkopplung des Rechtsgeltungssymbols von historischen Ursprüngen und externen Referenzen458 sowie Temporalisierung des Rechts.459 Eigenkomplexität vermag das Recht dabei nur zu entwickeln, wenn es eine hinreichend unruhige Umwelt gibt, die mit technischen Neuheiten, politischen oder wirtschaftlichen Ereignissen das Rechtssystem „beschäftigt“.460 Je mehr dieses sich von solchen Strukturänderungen in seiner Umwelt irritieren lässt, umso mehr nimmt die Komplexität des Rechtssystems zu; eine Beobachtung, die sich durch Vergleich des Rechts der modernen Gesellschaft und desjenigen älterer Gesellschaftsformationen anschaulich beschreiben lässt.461 Im Regelfall dauert es dann nicht lange, bis sich Klagen über die Komplexität des Rechts häufen und nach der Reduktion von Komplexität gerufen wird.462 Die Evolution reagiert auf ihr eigenes Resultat.463 Die Geister, die sie rief, wird sie aber nicht mehr los: Reduktion und Steigerung von Komplexität lassen sich nicht getrennt denken, d.h., die Bemühungen um Reduktion der Kom-

453 Rottleuthner, Biologie und Recht, ZRSoz 6 (1985), 104 (Hervorhebung des Verf.); kongenial Mahlmann, Katastrophen der Rechtsgeschichte und die autopoietische Evolution des Rechts, ZRSoz 21 (2000), 247 ff. 454 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 428. 455 Ders., ebd., S. 415; grundlegend ders., Soziale Systeme, 1984, S. 45 ff. 456 Eingehend dazu ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 288 ff. 457 Siehe dazu bereits oben 1. Kap., § 3 „Recht und Unrecht“. 458 Siehe dazu ebenfalls oben 1. Kap., § 2 „Geltung und Wirksamkeit“. 459 Auch dazu oben 1. Kap., § 2 a. E. 460 Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 196. 461 Instruktiv dazu Vec, Kurze Geschichte des Technikrechts, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, S. 3, 24 ff. am Beispiel des durch die Dampfkesselgesetzgebung ausgelösten Verrechtlichungsschubes infolge der Industriellen Revolution. Und siehe im Vergleich dazu wiederum die aktuelle Immissionsschutzgesetzgebung des Bundes und der Länder. 462 Dazu am Beispiel des Immissionsschutzrechts insb. Schneider, Öko-Audit und Deregulierung im Immissionsschutzrecht, 1999, S. 129 ff. „Deregulierung im Immissionsschutzrecht durch Öko-Audit“; S. 144 ff. „Deregulierungsmöglichkeiten“; vgl. ferner Dolde, Verwaltungsverfahren und Deregulierung, NVwZ 2006, 857 ff. 463 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 288.

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plexität führen ihrerseits zwangsläufig zur Entstehung höherer Komplexität.464 Und damit beginnt alles wieder „von Anfang an“. Aber nach dem „Anfang“ zu suchen ist – wie wir wissen – vergeblich. Allenfalls gibt es die Chance, die Emergenz eines Ereignisses zu beobachten.465 Emergenz meint das „Benutzen oder Ausnutzen der Vergangenheit (in Form vorhandener Elemente), markiert jedoch zugleich den Bruch mit der Vergangenheit durch das Entstehen einer neuen Eigenschaft, die nicht in den ursprünglichen Elementen enthalten und nicht auf sie zurückzuführen ist.“

Es geht um eine „Momentaufnahme, um die Rekonstruktion einer Situation in der systemeigenen Evolution“, in der irgendwo, irgendwann und irgendwie z. B. der Vertragsgedanke,466 der Schutz privaten Eigentums467 oder eben der Wissenschaft und Wissenschaftsrecht bis heute prägende Gedanke der Wissenschaftsfreiheit468 entstand. Aber nicht jeder Gedanke gelangt zur Entstehung und nicht jedes Ereignis realisiert sich; hier kommt der Zufall469 ins Spiel. Zufall – verstanden als „differenztheoretischer Grenzbegriff“ – ist „eine Form des Zusammenhangs von System und Umwelt, die sich der Synchronisation (also auch der Kontrolle, der ,Systematisierung‘) durch das System entzieht.“ Es stellt die Fähigkeit desselben dar, „Ereignisse zu benutzen, die nicht durch das System selbst (also nicht im Netzwerk der eigenen Autopoiesis) produziert und koordiniert werden können.“ 470 Aus der Sicht des Rechts sind deshalb etwa politische Umstürze, wirtschaftliche Zusammenbrüche oder technische Neuheiten schlicht „Gefahren, 464 Dies wird besonders deutlich bei Schneider, Öko-Audit und Deregulierung im Immissionsschutzrecht, S. 129 „Deregulierung im Immissionsschutzrecht durch Öko-Audit“, wo schon die Überschrift die erneute Komplexitätssteigerung (Öko-Audit) signalisiert. 465 Hierzu und zum Folgenden Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, Rg 6 (2005), 84, 85 f. m.w. N.; Wägenbaur (Hrsg.), Blinde Emergenz? Interdisziplinäre Beiträge zu Fragen kultureller Evolution, 2000; Gumbrecht, Die Emergenz der Emergenz, FAZ v. 19.4.2003, Nr. 92, S. 38; vgl. auch mit Blick auf den Gedanken der Wissenschaftsfreiheit Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2005), 110, 114 ff. 466 Dazu Fögen, ebd., wo es dem Untertitel zufolge um die „Emergenz des synallagmatischen Vertrags“ geht. 467 Dazu Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 266 f. 468 Dazu Schulte, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit, VVDStRL 65 (2006), 110, 114 ff. m.w. N. 469 Siehe dazu und zum Folgenden insb. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 448 ff.; Aschke, Kommunikation, Koordination und soziales System, S. 111 ff.; Kuchler, Das Problem des Übergangs in Luhmanns Evolutionstheorie, Soziale Systeme 9 (2003), 27, 29 f.; Stichweh, Selbstorganisation und die Entstehung nationaler Rechtssysteme (17.–19. Jahrhundert), RJ 9 (1990), 254, 262 ff.; Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 159; dies., Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 17 f. 470 Luhmann, ebd., S. 449 f.

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Chancen, Gelegenheiten“, auf die das Rechtssystem in seiner Kommunikation reagieren kann, aber nicht muss. Keineswegs nimmt das Rechtssystem nämlich alles, was in seiner Umwelt geschieht, gleichermaßen wichtig. Vieles „da draußen“ wird vom Recht schlicht ignoriert.471 Nicht einmal Aufstieg und Niedergang politischer Herrschaftssysteme haben das Recht zu allen Zeiten ernsthaft irritiert.472 Umgekehrt haben schon im Mittelalter die Einführung neuer Gewerbe im venezianischen Raum, aber auch die Errichtung kostenintensiver Mühlenanlagen sowie im Bergbau nördlich der Alpen das Vordringen in größere Tiefen und die Erzförderung mittels neuartiger „Hebekünste“ – also technische Errungenschaften, die das Recht doch scheinbar nichts angehen – ein obrigkeitliches Privilegienwesen entstehen lassen, aus dem das moderne Patentrecht hervorgegangen ist.473 Umweltanstöße dieser Art – also Zufälle – treffen dabei stets auf ein bereits evoluierendes System und werden von diesem unter Ausnutzung seiner Autopoiesis umgearbeitet. Noch im Einzelnen zu behandelnde strukturelle Kopplungen sozialer Systeme474 gestatten es dann, die vom System wahrgenommenen Irritationen zu kanalisieren.475 Damit bleibt abschließend nur noch der Verweis auf das „Ergebnis“ der Evolution des Rechts. Das „Resultat“ ist denkbar einfach, es lautet: Positivität des Rechts.476 Das heißt, das Recht macht sich unabhängig von jeder externen Geltungsgarantie – sei es „Natur“ oder „Vernunft“ – und bindet sich einzig und allein an die laufende Produktion von Rechtstexten. Aus ihnen wird ersichtlich, was Rechtsgeltung beansprucht und was nicht.477 Irritationen in der Umwelt des

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Fögen, Römische Rechtsgeschichten, S. 159. So für die Begründung des römischen Prinzipats ausdrücklich Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rg 1 (2002), 14, 18. Auf der anderen Seite haben der Zusammenbruch der ehemaligen DDR und die damit verbundene Wiedervereinigung Deutschlands das Rechtssystem nachhaltig irritiert. 473 Siehe dazu Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung. Schöpferische Leistungen unter dem Schutz des Grundgesetzes, 1999, S. 18 ff., 25 ff.; Götting/Röder-Hitschke, Grundlagen des Patentrechts, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl. 2011, 721, 736 ff.; vgl. ferner Troitzsch, Erfinder, Forscher und Projektemacher. Der Aufstieg der praktischen Wissenschaften, in: van Dülmen/Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, 2004, S. 439, 447 f.; Ölschlegel, Das Bergrecht als Ursprung des Patentrechts, 1978; Silberstein, Erfindungsschutz und merkantilistische Gewerbeprivilegien, 1961. 474 Siehe dazu unten 3. Kap. „Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems“. 475 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 285. 476 Siehe dazu insb. ders., Die soziologische Beobachtung des Rechts, S. 24 ff.; ders., Rechtssoziologie, S. 190 ff., 207 ff.; ders., Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts, Rechtstheorie 19 (1988), 11 ff.; ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 113 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 38 ff., 280 f.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 493. 477 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 280 f.; zur damit verbundenen „Temporalisierung der Rechtsgeltung“ siehe oben 1. Kap., § 2 a. E. 472

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Rechtssystems mag dieses zum Anlass nehmen, das geltende Recht zu ändern. Jede Rechtsentscheidung (z. B. jeder Verwaltungsakt) und jeder Rechtsetzungsakt (z. B. Gesetz oder Verordnung) verändern in diesem Sinne die Rechtslage und damit zugleich die Strukturen des Rechts.478 Kontrolle ist über diese Dynamik nicht zu behalten.479 Es bedarf ihrer aber auch nicht, denn an ihre Stelle tritt: Autopoiesis.480

§ 6 Hierarchie des Rechts Wann immer von der Hierarchie des Rechts die Rede ist, kommt der „Stufenbau der Rechtsordnung“ zumeist im selben Atemzug zur Sprache.481 Ungeachtet aller Kritik482 gilt er in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems durch die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie nach wie vor als das klassische Erklärungsmuster einer hierarchischen Ordnung des Rechts.483 Von Adolf Merkl begrün478 Ders., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, S. 113, 122 ff., 127. 479 Zu den verzweifelten Bemühungen der Rechtsdogmatik um Kontrolle siehe am Beispiel des Art. 79 Abs. 3 GG, der sog. „Ewigkeitsgarantie“ des Grundgesetzes, Maunz/Dürig, in: dies. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. V, Art. 79 Rn. 50 „Für einen Gesetzespositivisten alter Schule dürfte es kaum Argumente geben, die es verbieten, im Wege eines Verfassungsänderungsgesetzes zuerst den Art. 79 III zu ändern, um anschließend die dort genannten Unantastbarkeiten zu beseitigen . . . Halbwegs überzeugen kann man den Gesetzespositivismus wohl nur mit einem seiner Lieblingsbegriffe – der ,Normlogik‘. Nach hier vertretener Auffassung ist es ein Gebot der Normlogik, dass außer den für unantastbar erklärten anderen Verfassungssätzen auch der Verfassungssatz selbst, der die Unantastbarkeit ausspricht, unantastbar sein muss“; vgl. aber auch Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 79 Abs. 3 Rn. 34: „. . . zeigt schon die im Grundgesetz angelegte Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt . . . und die Errichtung der Sperre des Art. 79 Abs. 3 nur gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber, dass die Unberührtheit ausschließlich im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung und ,nicht auf ewig‘ statuiert ist.“ 480 Stichweh, Selbstorganisation und die Entstehung nationaler Rechtssysteme (17.– 19. Jahrhundert), RJ 9 (1990), 254, 269 f. 481 Siehe z. B. RöhlRöhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 305. 482 Kritisch zur Theorie vom „Stufenbau der Rechtsordnung“ insb. Krawietz, Die Lehre vom Stufenbau des Rechts – eine säkularisierte politische Theologie?, in: Krawietz/Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, 1984, S. 255, 260 f., 266 f.; ders., Identität oder Einheit des Rechtssystems, in: Yasaki/ Troller/Llompart (Hrsg.), Japanisches und europäisches Rechtsdenken – Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, Rechtstheorie 16 (1985), 233, 270 ff.; ders., Recht als Regelsystem, 1984, S. 133 ff., der auf der Basis eines sinnkritischen Rechtsrealismus interessen- bzw. wertungsjuristischer Prägung fehlerhafte Deutungen rechtlicher Zusammenhänge sowie „Realitätsverschätzungen der Rechtswirklichkeit bzw. der sozialen Wirklichkeit des Rechts“ befürchtet. Insbesondere sieht er in der Theorie vom Stufenbau des Rechts die Gefahr einer „Reideologisierung des Rechtsdenkens“ strukturell angelegt. 483 Siehe dazu insb. Koller, Theorie des Rechts, S. 118 ff.

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det,484 dann zentraler Bestandteil der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens485 geworden, ist der Stufenbau der Rechtsordnung das Ergebnis einer rechtlichen Strukruranalyse, der es vor allem darum geht, „innerhalb der in den Rechtsordnungen gegebenen Fülle von Rechtserscheinungen diejenigen Strukturen und systematischen Zusammenhänge aufzuzeigen, die vom Begriff des Rechts vorgezeichnet sind und damit rechtswesenhaften Charakter aufweisen.“ 486 Der Stufenbau der Rechtsordnung deutet diese als Erzeugungszusammenhang der Rechtsnormen. Sämtliche Rechtsnormen können auf eine hypothetische Grundnorm als letzten Geltungsgrund zurückgeführt werden. Von dieser Grundnorm leitet sich die Völkerrechtsordnung ab, die ihrerseits die einzelstaatliche Rechtsordnung delegiert. Aus der Verfassung als oberster Stufe dieser Rechtsordnung entwickeln sich beliebig viele, durch permanente Konkretisierung gekennzeichnete Rechtserzeugungsstufen, die alle Rechtsnormcharakter besitzen. Im Rahmen dieses Rechtserzeugungsprozesses stellt jede Rechtsnorm aufgrund der Regelung des Verfahrens und teilweise auch des Inhalts der zu erzeugenden Norm den Geltungsgrund der erzeugten Norm dar. Hieraus ergibt sich ein Ordnungssystem der einzelnen Rechtserzeugungsstufen.487 Dennoch führt die Determination der erzeugten durch die erzeugende Norm nicht zu einer „Voll-Determination“ der ersteren, sondern dieser bleibt vielmehr eine „autonome Determinante“, die eine Regelung nach ihren eigenen Bedürfnissen ermöglicht.488 Die Notwendigkeit einer „autonomen Determinanten“ erklärt sich aus dem Sinn und Zweck der Normstufen, nämlich der Konkretisierung der vorhergehenden Rechtsnormen durch die nachfolgenden. Das Konkretisierungsbedürfnis ist Folge der nur begrenzten Prognosefähigkeit des Verfassungsgebers, des Gesetzgebers und der weiteren Rechtserzeuger. Der „Stufenbau der Rechtsordnung“ und mit ihm einhergehend die Vorstellung von der „Einheit der Rechtsordnung“ sowie einer darauf gestützten „Hierarchie 484 Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen, Wien 1931, S. 252 ff. 485 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960; zur Reinen Rechtslehre siehe insb. Achterberg, Hans Kelsens Bedeutung in der gegenwärtigen deutschen Staatsrechtslehre, DÖV 1974, 445 ff.; Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, 1977; Dreier, Horst, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986; Gianformaggio (Hrsg.), Hans Kelsens’s Legal Theory. A diachronic point of view, 1990; Paulson/Litschewski Paulson, Introduction to the Problems of Legal Theory by Hans Kelsen, 1992; dies., Normativity and Norms. Critical Perspectives on Kelsenian Themes, 1998; Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005. 486 Behrend, ebd., S. 11. 487 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 238, 243; Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, FS Hans Kelsen, 1931, S. 252, 275. 488 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 243.

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des Rechts“ sind nicht erst, aber besonders in letzter Zeit unter argumentativen Begründungsdruck geraten.489 Schon immer ist der Vorstellung vom „Stufenbau der Rechtsordnung“ vorgeworfen worden, dass sie sich nicht mit der Rechtswirklichkeit in Einklang bringen lasse.490 Und schon immer ist dem entgegengehalten worden, dass die Stufenbaulehre gar keine Beschreibung der Rechtswirklichkeit sein wolle, sondern einzig und allein den unveränderten Geltungsanspruch des Rechts betone. Sie sei ein theoretisches Konzept, das der Rechtspraxis als Formulierungshilfe dienen könne.491 In jüngster Zeit ist diese Kritik auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlicher Perspektive reformuliert worden. Für die einen dient als Ausgangspunkt ganz allgemein und plakativ – wie so oft492 – eine „Krise“ der Hierarchie. Ein „neues Öffentliches Recht jenseits des Staates“ müsse ein „Kollisionsrecht konfligierender Rechtsordnungen“ sein, dem es um die „Ausarbeitung einer ,Meta-Dogmatik des Rechtspluralismus‘ gehe, die Abstimmungsregeln zwischen den raum- und funktionsbezogenen ,Rechtskreisen‘ entwerfe“.493 In einem solchen weltweiten Netzwerk von Rechtskommunikationen gebe es „kein Oben und kein Unten, kein Zentrum und keine Peripherie, keinen Ursprung und keinen letzten Grund“ mehr. Die neuen Phänomene ließen sich nicht mehr vom Staat aus entwickeln, vielmehr gehe es um Netzwerke, „um prinzipiell gleich geordnete Rechtsordnungen mit eigenen Traditionen und Infrastrukturen, die wie die Olympischen Ringe ineinander hängen und sich partiell überlappen.“ 494

Für die anderen ist aus dezidiert rechtsphilosophischer/rechtstheoretischer Perspektive sogar der „Zusammenbruch der klassischen Rechtsnormenhierarchien programmiert“. An ihre Stelle müsse eine „normative Netzwerktheorie globaler Rechtsregime“ treten.495 Dazu gesellt sich eine Kritik des „vertikalen Ho489 Zur „Einheit der Rechtsordnung“ grundlegend Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, 1995; Felix, Einheit der Rechtsordnung. Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998; kritisch jüngst Baufeld, Rechtsanwendung und Rechtsdogmatik – Parallelwelten, Rechtstheorie 37 (2006), 171 ff.; Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts. Vom hierarchischen zum reflexiven Verständnis deutscher und europäischer Grundrechte, 2007, S. 23 ff. 490 So insb. Krawietz, Recht als Regelsystem, S. 133 ff. 491 Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 278 f. 492 Siehe dazu bereits oben S. 42 f. 493 Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41, 66, 67 m. Fn. 88; siehe dazu auch Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels. Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der ökonomischen Analyse des Rechts, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 64 (2000), 60, 98 ff. 494 Vesting, ebd., 64. 495 Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006, S. 63 ff. (Hervorhebung des Verf.). Die Konsequenzen eines solchen An-

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lismus“ der klassischen Rechts(quellen)lehre, die sich gleichsam kongenial für den Übergang von der Hierarchie zum Netzwerk stark macht.496 Ausdruck eines nationalstaatlich geprägten „alteuropäischen Denkens“ sei es, das Recht nach wie vor als Hierarchie von Normen oder Rechtsquellen zu begreifen, obwohl die „Fundamente dieses Bauwerks“ im Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und zunehmender Globalisierung des Rechts längst brüchig geworden seien. Recht müsse deshalb als dynamisches System begriffen werden, das nicht einfach in einer hierarchischen Normstruktur vorgegeben sei, sondern dessen Herstellung in „Rechtsverfahren, im Streit der Beteiligten, in darauf bezogenen richterlichen Begründungen, in Skandalisierungsprozessen, politischen Interventionen“ erfolge, also „in lokalen und globalen Netzwerken der Rechtskreation“. Speziell für den Bereich der Grundrechte müsse dies zur Folge haben, „von der vertikalen zur reflexiven Grundrechtstheorie“ und „vom monistischen zum polyzentrischen Grundrechtsmodell“ überzugehen.497 Im Sinne eines „Grundrechtskollisionsrechts“ gelte es dabei, „Selbstregulierungsmechanismen in transnationalen Entscheidungsprozessen prozedural zu steuern, demokratische Ansätze rechtlich abzustützen und die vielfältigen Formen der Regime-Kollisionen zu moderieren“.498 Deutlich moderater klingt es demgegenüber schon, wenn wieder andere aus rechtsdogmatischer Perspektive lediglich die „Notwendigkeit einer Neukonzeption der Rechtsquellenlehre“ sehen.499 Argumentativer Ausgangspunkt dieser Forderung ist auch hier die „Staats- und Territorialzentriertheit“ der überkommenen Rechtsquellenlehre, die normhierarchisches Bindungsdenken fördere und einzelne „Rechtsschichten“ beziehungslos nebeneinander stehen lasse. Notwendig sei aber vor dem Hintergrund der Entwicklung vom Nationalstaat zum europäischen Mehrebenensystem eine „Vernetzung der Rechtsschichten“, deren Einwirkungsströme ein „polyzentrisches Rechtsgefüge“ entstehen ließen.500 satzes zeigen sich beispielhaft an den Überlegungen von Pöcker, Fehlende Kommunikation und die Folgen. Das heutige Verhältnis dogmatischer Rechtswissenschaft zu rechtstheoretischer Innovationsforschung, Die Verwaltung 37 (2004), 509 ff.; dazu in der Kritik überzeugend Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, S. 194 m. Fn. 9. 496 Zum Folgenden Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, S. 21, 23 ff. 497 Dies., ebd., S. 242 ff. 498 Dies., ebd., S. 287 ff.; zum hier deutlich durchschimmernden Konzept „reflexiven Rechts“ ist allerdings eigentlich schon alles gesagt, siehe insoweit nur Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, ZRSoz 6 (1985), 1 ff.; Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, S. 123 ff. m.w. N. 499 In diesem Sinne und zum Folgenden Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 8 ff. 500 Ders., ebd., Rn. 26; vgl. auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 215 ff.; Brohm, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit als Steue-

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Festgemacht wird dies im Wesentlichen an fünf Problemschwerpunkten, die aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen der gegenwärtigen Verfassungsund Verwaltungsrechtsdogmatik kennzeichnen501: Erstens gehe es darum, das Europarecht, das keine eigene Rechtsquellenlehre kenne, in die klassische Rechtsquellenlehre zu integrieren; zweitens müsse eine dem modernen Verwaltungsrecht sachadäquate Rechtsquellenlehre imstande sein, die Auswirkungen von Internationalisierung und Globalisierung502 (Transnationales Verwaltungsrecht, Transnationale Verwaltungskooperation, Lex Mercatoria, Lex Informatica etc.) dogmatisch überzeugend zu verarbeiten; drittens bedürfe es der Entwicklung einer konsistenten Dogmatik der Rechtsquelle „Verwaltungsvorschrift“, welche die Anforderungen des supranationalen Rechts beachte und vor diesem Hintergrund gegebenenfalls zu bereichsspezifischen Differenzierungen komme; viertens sei der Rechtsquellenlehre angesichts der Bedeutung privater, kooperativer Rechtsetzung deren Integration aufgegeben; und schließlich dürfe sich die Rechtsquellenlehre fünftens auch nicht scheuen, Erscheinungsformen eines Verwaltungsrechts ohne Staat (Privatverwaltungsrecht, Global Governance503) zu rezipieren und zu integrieren. Lassen wir nach diesem kurzen Überblick zur Kritik der Hierarchie des Rechts die apokalyptischen „Theorie“konstrukte der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie vom „Zusammenbruch und der Brüchigkeit der Fundamente eines Bauwerks“ aus längst vergangenen Zeiten einmal beiseite, weil ihre methodischen Mängel nicht zu übersehen sind,504 so verdient die soeben erwähnte rechtsdogmatische Kritik allerdings vertiefte Aufmerksamkeit. rungsmechanismen in einem polyzentrischen System der Rechtserzeugung, DÖV 1987, 265 ff. 501 Zum Folgenden ausführlich Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 30 ff., 40 ff., 67 ff., 85 ff., 21 f. unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 5 Rn. 69; vgl. neuerdings auch Weiß, Der Europäische Verwaltungsverbund. Grundfragen, Kennzeichen, Herausforderungen, 2010, passim. 502 Siehe dazu insb. Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 16 Rn. 158 ff. 503 Siehe dazu insb. ders., ebd., Rn. 31 ff.; ders., Was ist und wozu Governance?, Die Verwaltung 40 (2007), 463 ff.; Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit – Zum Konzept der „Global Governance“, VerwArch 98 (2007), 30 ff. 504 Besonders deutlich wird dies bei Christensen/Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, S. 361 f. in einem zweifelhaften Theoriemix von analytischer Sprachtheorie, soziologischer Systemtheorie und reflexiver Theorie: „Genau hier hat dann auch die Theorie anzusetzen. Ihre Aufgabe ist es, durch Beobachtung die Struktur erfolgreicher Praxis von Recht zu konstruieren. Ihr Gegenstand ist das sprachliche Handeln der Juristen. Und ihr Maßstab sind die der Praxis immanenten rechtsstaatlichen Anforderungen. Damit wird eine Beobachtung erster Ordnung ersetzt durch eine Beobachtung zweiter

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Rechtsetzung und Rechtsprechung sind danach funktionale Bausteine im europäischen Mehrebenensystem. Dieses den Sozialwissenschaften entlehnte Modell505 hat zwischenzeitlich auch in der Rechtsdogmatik Karriere gemacht.506 Dabei ist man sich der Vorläufigkeit und der damit verbundenen Erkenntnisgrenzen des Mehrebenenmodells durchaus bewusst.507 Es handele sich um einen offenen, noch auszufüllenden Begriff, dem bis zu einem „wirklich theoretischen Verständnis der Architektur der Welt“ eine wichtige „Platzhalterfunktion“ zukomme. Vor allem heuristisch und systematisch wird er für fruchtbar gehalten, weil er das Ganze des Rechts und die Verbundenheit der unterschiedlichen Rechtsebenen (nationale, (welt-)regionale und globale Ebene)508 in den Blick nehme. Er diene „in einer rechtsvergleichenden Perspektive der Eröffnung des Rechtsvergleichs zwischen nationalen und übernationalen Rechtsordnungen“, ergänze die „föderalen Begrifflichkeiten“, kennzeichne die „Formen der Verselbständigung beOrdnung: Der Kontext einer Bedeutung muss immer neu beschrieben werden. Die Einheit des Rechts ist kein fester Punkt, den man erreichen könnte. Sie liegt vielmehr auf der Fluchtlinie ständig neuer Beschreibungen. Diese Fluchtlinie ist auch nicht Gegenstand einfacher Beobachtung. Sie wird nur dann sichtbar, wenn man die Beobachter beobachtet. Das Heranziehen des Kontextes führt damit nicht zur Sinnmitte des Rechts, sondern in die Beobachtung zweiter Ordnung. Zu diesen gehört auch der empirische Befund der Referenz von Gerichtsentscheidungen auf Gerichtsentscheidungen . . . Die Gerichte haben die vertikale Systematik durch die horizontale Systematik ersetzt. Zur Beantwortung der Frage, wie dieser Übergang theoretisch zu strukturieren ist, greift die Untersuchung auf die Ergebnisse der Diskussion zur nötigen Moderation des Holismus zurück. Dort wurde eine inferentielle Semantik zugrunde gelegt. Diese geht davon aus, dass eine Erklärung von Sprache aus ihr vorgeordneten gemeinsamen Standards aller Sprecher im Regulismus scheitern muss. Stattdessen entwickelt sie die Alternative, Sprache in der Vernetzung gelungener Verständigung als sich selbst stabilisierendes System zu begreifen.“ Dazu nur kurz und knapp Krause, Luhmann-Lexikon, 2. Aufl., 1999, S. 184 „Sprache ist kein System.“ Was sollte auch der Code des Systems Sprache sein? 505 Siehe dazu mit ausführlichen Nachweisen nur Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra vires-Akte in Mehrebenensystemen. Eine rechtsvergleichende Betrachtung von Konflikten zwischen Gerichten am Beispiel der EU und der USA, 2000, S. 32 ff. 506 Siehe dazu ders., ebd., S. 35 ff. m.w. N.; Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), 45, 46 m.w. N. in Fn. 6; ders., Internationalisierung des Staates, in: Bohnert/Gramm/Kindhäuser/Lege/Rinken/Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, FS Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 193, 216 ff.; vgl. ferner Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005, S. 210 ff.; Pache, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), 106 ff.; Groß, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), 152 ff.; auch im Hinblick auf das „Mehrebenenmodell“ bereits wieder auf dem Rückzug befindlich und statt dessen ganz auf „Netzwerke“ setzend Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41, 64. 507 Zum Folgenden insb. Wahl, ebd., Der Staat 40 (2001), 46 f. 508 Zum weltweit gesehenen Ausnahmecharakter des europäischen Drei-Ebenen-Modells ders., ebd. m.w. N. in Fn. 7.

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stimmter Rechtspersonen in übernationalen Rechtsordnungen“, bündele die „Untersuchung strukturähnlicher Rechtsbeziehungen zwischen horizontal organisierten Rechtssubjekten“ und gewähre damit eine „perspektivische Öffnung“ über die klassische Rechtsquellenlehre hinaus.509 Auf diese Weise werde schon im Ansatz der Gefahr begegnet, eine einzelne Ebene510 – sei es nun das nationale Verfassungs- und Gesetzesrecht, eine internationale Verwaltungsorganisation oder die europäische Gerichtsbarkeit – isoliert zu betrachten. Mit Blick auf die nationale, supra-, inter- und transnationale Rechtsetzung wird ein stark ausdifferenziertes Gefüge unterschiedlicher Rechtsetzungsebenen (Rechtsschichten) sichtbar. So haben sich neben dem nationalen Verfassungsund Verwaltungsrecht allein mindestens vier Schichten eines Europäischen Verwaltungsrechts herausgebildet.511 Dazu zählt auch das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht, soweit die Europäische Gemeinschaft selbst keine direkt vollziehbaren Normen geschaffen hat. Gerade deswegen wird es zum „System des Europäischen Verwaltungsrechts im weiteren Sinne“ gerechnet. Als „Europäisches Verwaltungsrecht im engeren Sinne“ werden hingegen das „Eigenverwaltungsrecht“ und das „Gemeinschaftsverwaltungsrecht“ bezeichnet. Das Eigenverwaltungsrecht der EG, d.h. das Recht, auf dessen Grundlage die EG-Organe ihre eigenen administrativen Tätigkeiten ausüben, lässt sich dabei noch einmal nach Organisations- und Handlungsrecht unterscheiden. Das Gemeinschaftsverwaltungsrecht umfasst demgegenüber die in allen oder für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Verwaltungsrechtsregeln. Vom Eigenverwaltungsrecht grenzt es sich dadurch ab, dass es sich unmittelbar oder mittelbar auf das Handeln nationaler Verwaltungen bezieht. Soweit es hingegen um das Zusammenspiel der Rechtsregime des nationalen Verwaltungsrechts, des Eigenverwaltungsrechts und des Gemeinschaftsverwaltungsrechts geht, wird vom sog. Verwaltungskooperationsrecht gesprochen. In ihm verbinden sich Akte unterschiedlicher Rechtsschichten, die eine Differenzierung nach vertikaler Kooperation (zwischen Mitgliedstaaten und EG-Verwaltungsstellen) und horizontaler Kooperation (zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen) möglich machen. Dem Verwaltungskooperationsrecht eignet zusätzlich in besonderer Weise ein transnationaler, d. h. nicht mehr staatenvermittelter Charakter.512 Und um das Spektrum der Rechtsetzungsschichten zumindest einigermaßen komplett zu erfassen, sind schließlich noch diverse völker509

Möllers, Gewaltengliederung, S. 218. Gemeint sind „Entscheidungsebenen“, siehe dazu Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 56 m.w. N. in Fn. 198, für die Gerichtsbarkeit, ebd., S. 58 ff. 511 Siehe dazu im Einzelnen Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 384 ff.; vgl. für das Mehrebenenmodell der EU ferner Roeben, Constitutionalism of Inverse Hierarchy: the Case of the European Union, Jean Monnet Working Paper 8/03, 32 S.; ders., Constitutionalism of the European Union after the Draft Constitutional Treaty: How much Hierarchy, The Columbia Journal of European Law 10 (2004), 339 ff. 510

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rechtliche Rechtsquellen (Völkerrechtliche Verträge, Völkergewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, Recht Internationaler Organisationen, Soft Law) zu berücksichtigen. Das Gefüge dieser unterschiedlichen Rechtsetzungsebenen (Rechtsschichten) soll sich zum einen einer strikten Hierarchisierung entziehen, zum anderen sollen die einzelnen Rechtsschichten aber auch nicht isoliert oder getrennt nebeneinander stehen. Vielmehr zeichne sich eine intensive Vernetzung mit vielfachen Wechselwirkungen in die eine oder andere Richtung ab. Die Einwirkungsströme innerhalb dieser Vernetzungen sollen in drei Grundrichtungen verlaufen: Als erste Grundrichtung wird die „Beeinflussung einer Rechtsschicht durch eine andere kraft deren übergeordneter Stellung“ beschrieben.513 Sie wirke sowohl im Verhältnis einzelner Rechtsschichten zueinander als auch innerhalb der Rechtsschichten und ermögliche damit ein „gestuftes normatives Abarbeiten der Regelungserfordernisse.“ 514 Als zweite Grundrichtung wird die „bereichernde Rezeption einer Rechtsschicht um materielle Inhalte einer neben- oder untergeordneten anderen Rechtsschicht“ genannt, die im Hinblick auf formell nebeneinander liegende Rechtsschichten eine „materiell koordinierende Abstimmung und wechselseitig befruchtende Anreicherung“ gewährleiste. Die dritte Grundrichtung schließlich beschreibe die kooperative Verschränkung der beiden ersten, was die Intensität der Vernetzungen zusätzlich steigere.515 Insgesamt komme der Vernetzung der Rechtsschichten ein erhebliches innovatives Potential zu, weil sie es ermögliche, Impulse aus abweichenden Entwicklungen anderer Rechtsschichten zu rezipieren und zu verarbeiten. Dadurch, dass Normenhierarchien in der Netzwerkstruktur aufgebrochen werden könnten und die Neuerung damit die gesamte Rechtsordnung zu erreichen vermöge, entfalte sich das Innovationspotential einer Vernetzung der unterschiedlichen Rechtsschichten.516 Allerdings müssten Reibungsverluste und Anpassungsschwierigkeiten einkalkuliert werden.517 512 Siehe dazu insb. Schmidt-Aßmann, ebd., S. 388 f.; Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 153 ff. 513 Dazu, dass sich dies nicht unter Verweis auf ein Rangverhältnis beschreiben lasse, siehe Ruffert, ebd., Rn. 27. 514 Siehe dazu von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung. Eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer Dogmatik, 2000, S. 213. 515 Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 26–29; siehe aber auch in diesem Zusammenhang Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 5 Rn. 69. 516 Ruffert, ebd., Rn. 171; vgl. ferner Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5, 64 f. 517 Siehe dazu ebenfalls Ruffert, ebd., Rn. 171 ff. unter Hinweis auf nationale Reformwiderstände gegen inter-, supra- und transnationale Impulse sowie den verfassungsrechtlichen Anpassungsdruck innerhalb der staatlichen Rechtsordnung.

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Das Mehrebenenmodell findet aber nicht nur für den Bereich der Rechtsetzung, sondern auch für den der Rechtsprechung Anwendung.518 Selbstverständlich ist die Bedeutung der nationalen Fachgerichtsbarkeit wie diejenige der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit nach wie vor unumstritten. Aber schon seit geraumer Zeit besitzen die letztinstanzlichen nationalen Gerichte nicht mehr stets das letzte Wort, wenn es darum geht, endgültig Rechtsfrieden herzustellen. Wo es früher für das Verfassungsrecht „Karlsruhe locuta, causa finita“ hieß, müssten heute wohl an die Stelle von Karlsruhe Luxemburg oder Straßburg treten.519 Alles in allem gerät das nationale Rechtsschutzmonopol jedenfalls mehr und mehr unter Druck. Typisch für das institutionelle Verhältnis von staatlichen und überstaatlichen Rechtsprechungsorganen ist eine „Mischung aus den vertikalen Strukturen in Form des klassischen Instanzenzuges mit vertikalen und horizontalen Strukturen“. Die Entscheidungsebenen bestehen auch nicht unabhängig voneinander, sondern sind durch Verknüpfungen und Wechselwirkungen gekennzeichnet, die das Bundesverfassungsgericht als „funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit“ bezeichnet hat.520 Das Ganze lässt sich auch als „grenzüberschreitende Rechtsprechungskoordination“ beschreiben, im Rahmen derer „einseitige bzw. kooperative Entscheidungen von zumindest zwei Rechtsprechungsorganen verschiedener Rechtsordnungen über prozessuale bzw. materielle Fragen“ getroffen werden.521 Als Anwendungsfelder grenzüberschreitender Rechtsprechungskoordinationen werden einseitige Zuständigkeitsabgrenzungen der Gerichte,522 judikative Fremdreferenzen auf gerichtliche Entscheidungen aus anderen Rechtsordnungen sowie – ganz speziell – grenzüberschreitende Insolvenzverwaltungsverträge benannt.523 Und schließlich darf nicht übersehen werden, dass in einzelnen Rechtsbereichen, insbesondere im Wirtschaftsrecht, neben diesen staatlichen und überstaatlichen Rechtsprechungsorganen eine Proliferation nationaler und internationaler Schiedszentren stattgefunden hat.524

518 Siehe zum Folgenden insb. Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 58 ff.; vgl. ferner Classen, Effektive und kohärente Justizgewährleistung im europäischen Rechtsschutzverbund, JZ 2006, 157 ff.; ders., Funktional ausdifferenzierte Rechtsprechungskompetenzen?, JZ 2007, 53 ff.; Erbguth/Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 2005, passim. 519 Siehe dazu nur jüngst und eindrucksvoll den sog. Mangold-Beschluss des BVerfG v. 6.7. 2010, BVerfG, NZA 2010, 995 ff. 520 BVerfG, BVerfGE 73, 339, 367 f. 521 Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 58, 60; vgl. auch Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff. 522 Für das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof siehe auch insoweit den sog. Mangold-Beschluss des BVerfG, BVerfG, NZA 2010, 995 ff. 523 Dazu im Einzelnen Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 58, 61 ff.

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Judikative Netzwerke bilden dabei das Pendant zu den bereits beschriebenen Vernetzungen der Rechtsschichten bei der Rechtsetzung.525 Im Gegensatz zu diesen fehlt es für die judikativen Netzwerke allerdings noch an einer weiterreichenden analytischen Durchdringung der Einwirkungsströme innerhalb dieser Vernetzungen. Erste Ansätze dazu finden sich zwar bei der amerikanischen Völkerrechtlerin und Politologin Anne-Marie Slaughter, die sich ausführlich den transnationalen judikativen Netzwerken widmet und nicht zuletzt darin langfristig die Entwicklung einer globalen Rechtsordnung begründet sieht.526 Bislang haben wir es jedoch nur mit solch „blumigen“ politikwissenschaftlichen Globalisierungstheorien zu tun, die in Netzwerken die Welt von morgen sehen; eine Welt, in der Aktion durch Interaktion ersetzt, Dependenz durch Interdependenz abgelöst und Unübersichtlichkeit zum Programm werden.527 Rechtsdogmatisch ist man über eine heuristische Funktion der Netzwerke noch nicht hinausgekommen.528 So wird der „Erkenntniswert des Netzwerks für intergerichtliche Zuständigkeitsabgrenzungen“ darin gesehen, im Gegensatz zum überkommenen Bild des absoluten Vorrangs und der absoluten Letztentscheidung eine zeitlich und räumlich relative Über- und Unterordnung zum Ausdruck zu bringen. Damit lasse sich der „relative Vorrang von Rechtsnormen“ ohne Beschreibungsverluste veranschaulichen. Außerdem werde es möglich, die „Dynamik der Entwicklungen“ adäquat abzubilden. Schließlich erhalte die Komplexität der Prozesse durch das Netzwerkmodell eine entsprechende „mehrdimensionale Konstruktion“. Für freiwillige judikative Fremdreferenzen auf Rechtsnormen oder Gerichtsentscheidungen aus fremden Rechtskreisen eröffne der Netzwerkgedanke die Perspektive, diese Prozesse „als Entscheidungen unter Bedingungen der Komplexität durch

524 Für das Wirtschaftsrecht seien insoweit nur genannt: International Chamber of Commerce, London Court of International Arbitration, American Arbitration Association; siehe dazu insb. Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, 2002, S. 235 ff.; Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995, passim. 525 Siehe dazu Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 58, 72 ff. 526 Slaughter, A New World Order, 2004, S. 65 ff. 527 Siehe dazu insb. Franzius/Kötter, Netzwerke verändern die (Sicht der) Welt, in: fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin 02/2006, 66. 528 Zum Folgenden siehe insb. Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, S. 58, 74 ff., die sich – soweit ersichtlich – als erste aus dezidiert rechtsdogmatischer Perspektive mit judikativen Netzwerken befasst; vgl. aber auch Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), 361 ff.; Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), 392 ff.; dazu insb. Kemmerer, Recht der Weltgesellschaft? Die Netzwerker, FAZ v. 25.7.2007, Nr. 170, S. N 3; siehe auch Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen. Die Entwicklung eines Modells zur Lösung von Konflikten zwischen Gerichten unterschiedlicher Ebenen in vernetzten Rechtsordnungen, 2008, passim.

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wechselseitige Beobachtung und Komplexitätsreduktion zu integrieren.“ 529 Und für die bereits erwähnten grenzüberschreitenden Insolvenzverträge, die eine strukturelle Gemeinsamkeit zwischen dem Vertragsmodell und dem Denken in Netzwerken erkennen ließen, ermögliche Letzteres einen „abstrakteren Rahmen zu liefern und den Zusammenhang mit Phänomenen herzustellen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben“. Insgesamt besitze die Netzwerkperspektive das Potential, den Blick auf die wechselseitige Beeinflussung bei der Entscheidungsfindung zu richten, und zwar entweder als Ergänzung oder sogar als Ablösung einer hierarchischen Betrachtung.530 Vor diesem Hintergrund muss man den Eindruck gewinnen, dass sich Rechtsetzung und Rechtsprechung angesichts der aktuellen Entwicklungen und Herausforderungen der gegenwärtigen Verfassungs- und Verwaltungsrechtsdogmatik augenscheinlich nur noch in einem „Netz der Netzwerke“ 531 oder gar einem „Netzwerk der Netzwerke“ 532 begreifen lassen. Im Zeichen einer „Krise der Hierarchie“ 533 scheint „Vernetzung“ (von Rechtsquellen und Rechtsschichten)534 529 Allerdings wird damit bereits der Beschreibungsansatz der Rechtsdogmatik zugunsten soziologischer Theoriebildung aufgegeben, siehe dazu Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 407 ff.; Holzer, Netzwerke, 2006, passim. 530 Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, Baden-Baden 2007, S. 78 ff.; zum Netzwerkmodell allgemein siehe auch Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft. Netzwerke als Rechtsproblem, 2004; Augsberg, Das Gespinst des Rechts. Zur Relevanz von Netzwerkmodellen im juristischen Diskurs, Rechtstheorie 38 (2007), 479 ff.; Boysen, Netzwerke – Grundmodell einer neuen Ordnung?, in: fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin 02/2006, 40 ff.; Fangerau/Halling (Hrsg.), Netzwerke, 2009, passim; Kemmerer, Der normative Knoten. Über Recht und Politik im Netz der Netzwerke, in: Boysen u. a. (Hrsg.), Netzwerke, Baden-Baden 2007, S. 195 ff.; Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, S. 296 ff.; Losano, Turbulenzen im Rechtssystem der modernen Gesellschaft – Pyramide, Stufenbau und Netzwerkcharakter der Rechtsordnung als ordnungsstiftende Modelle, Rechtstheorie 38 (2007), 9, 28 ff.; Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts – Zur juristischen Beschreibung dezentraler Steuerung – in: Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, S. 285 ff.; Schliesky, Von der organischen Verwaltung Lorenz von Steins zur Netzwerkverwaltung im Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2009, 641 ff.; Teubner, Paradoxien der Netzwerke in der Sicht der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik, in: Bäuerle/Hanebeck/Hausotter/Mayer/Mohr/Mors/Preedy/Wallrabenstein (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit. Beiträge zum Kolloquium anlässlich des 60. Geburtstages von Brun-Otto Bryde, Baden-Baden 2004, S. 9 ff.; ders., Netzwerk als Vertragsverbund. Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, 2004; vgl. aber auch Stolleis, Vormodernes und postmodernes Recht, Merkur 62 (2008), 425, 428, der im Netzwerkmodell den Weg zu einer „erneuerten juristischen ,Kulturkreislehre‘ “ sieht. 531 Kemmerer, ebd. 532 Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41, 67 m. Fn. 88. 533 Ders., ebd.; vgl. auch Teubner, Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts, Soziale Systeme 2 (1996), 229 ff.

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jedenfalls zum alles bestimmenden Megatrend der modernen Rechtsquellenlehre zu werden. Umso mehr muss es dann aber erstaunen, dass sich die diesbezüglichen rechtsdogmatischen Überlegungen letztlich doch wieder einträchtig der „Rechtskonkretisierung in einem polyzentrischen Rechtsgefüge“ 535 zuordnen. Bei aller Entdifferenzierung, die mit dem Netzwerkmodell verbunden ist,536 bleibt am Ende offenbar doch die Suche nach tragfähigen Unterscheidungen. Denn wer von „Zentren“ (oder gar von Polyzentren) spricht, muss die Peripherie mitdenken. Von daher dürfte es zumindest nicht ganz fern liegen, auch für die Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems auf die gleichsam „primitivere Differenzierungsform“ 537 der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie umzustellen. Insoweit wird es zunächst darauf ankommen, die Bedeutung dieser Unterscheidung in der funktional differenzierten Gesellschaft herauszuarbeiten. Dies macht Überlegungen zur Genese der Differenz und ihrem funktionalen Verständnis erforderlich. Die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zählt zum Gemeingut des Theoriedesigns funktionalistischer Soziologie.538 Auf den Forschungen von Edward Shils,539 Shmuel N. Eisenstadt540 und Immanuel Wallerstein541 aufbauend hat Niklas Luhmann die Zentrum/Peripherie-Differenz als vierte Differenzierungsform der Gesellschaft neben segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung gestellt.542 Die besondere Bedeutung der Unterscheidung lässt sich am Beispiel der Stadt- und Reichsgründung veranschaulichen: Wer die Stadt als Zentrum denkt, kommt an der Anerkennung ländlicher Peripherie kaum noch

534 Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 26 ff. 535 Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 5 Rn. 69; Ruffert, ebd., § 17 Rn. 26; siehe auch Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 215 ff. 536 Möllers, Netzwerk als Kategorie des Organisationsrechts – Zur juristischen Beschreibung dezentraler Steuerung – in: Oebbecke (Hrsg.), Nicht-normative Steuerung in dezentralen Systemen, 2005, S. 285, 300. 537 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 336 f. 538 Stichweh, Die Weltgesellschaft, S. 198; vgl. aber auch für die USA Halfmann, Zentrum und Peripherie: Zur Soziologie des nordamerikanischen „Exzeptionalismus“, ZAA 2002, 17 ff. 539 Shils, Centre and Periphery, in: The Logic of Personal Knowledge. Essays Presented to Michael Polanyi on his Seventieth Birthday, 11 March 1961, 1961, 117 ff. 540 Eisenstadt, The Political Systems of Empires, 1963. 541 Wallerstein, The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, 1974. 542 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 612 f., 663 ff.

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vorbei.543 Und wo das Reich zum „Sinnhorizont von . . . Kommunikationen bürokratischer Eliten“ wird, begreifen diese – von der Einzigartigkeit ihres Reiches überzeugt – Raumgrenzen als allenfalls „vorübergehende Einschränkung ihres faktischen Einflussbereichs.“ 544 Für das vergangene Jahrhundert sind das sog. Dritte Reich, China und die ehemalige Sowjetunion wohl nur einige besonders prominente Beispiele. In der Stadt wie im Reich wird durch die Zentrum/Peripherie-Differenz nochmalige Differenzierung nach Rangunterschieden (stratifikatorische Differenzierung) ermöglicht. Diese „Kombination und Staffelung unterschiedlicher Differenzierungsformen“ garantiert zugleich den Aufbau gesellschaftlicher Komplexität.545 In jüngster Zeit ist die Tragfähigkeit der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie unter den Bedingungen der Globalisierung kritisch hinterfragt worden. Haben wir es nicht mit einer Analysetradition zu tun, die zwar der „Selbstauffassung der Nationalstaaten“ relativ nahe steht, die aber doch durch abnehmende analytische Zugriffssicherheit gekennzeichnet ist? Handelt es sich bei der Zentrum/Peripherie-Differenz nicht um einen „Globalisierungsbegriff der alten Welt“? Spricht angesichts der „Vernetzung von Globalem und Lokalem“ nicht alles für einen Trend der „Dezentralisierung in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft, der funktionssysteminterne Zentrum/Peripherie-Differenzierungen langsam erodieren lässt?“ 546 Hintergrund dafür ist der Versuch, die „Entstehung regionaler Differenzierungen“ in einzelnen Funktionssystemen der Gesellschaft zu erklären, wobei es um die „Stabilisierung und den Ausbau kleiner Differenzen auf der Basis räumlicher und kommunikativer Nähe, kultureller und sprachlicher Kontiguität“ gehen soll.547 Allerdings: Genau so wenig wie die Zentrum/Peripherie-Differenz hierarchisch gedacht werden darf,548 ohne damit stratifikatorische Differenzierung im Zentrum gesellschaftlicher Funktionssysteme auszuschließen,549 sollte sie räumlich (global, regional, lokal) verstanden werden.550 Geboten erscheint vielmehr ein 543 Siehe dazu aus rechtsdogmatischer Perspektive anschaulich Hoppe, Das Nachhaltigkeitsprinzip und das planungsrechtliche Prinzip der zentralörtlichen Gliederung (Zentrale-Orte-Konzept). Ein Steuerungsinstrument der Raumordnung zwischen Raumforschung und Planungs- sowie Umweltrecht, in: Führ/Wahl/von Wilmowsky (Hrsg.), Umweltrecht und Umweltwissenschaft. FS Eckard Rehbinder, 2007, S. 191, 210. 544 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 669, 670 f. 545 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, 2003, S.164 f. 546 Siehe zu allen Fragen Stichweh, Die Weltgesellschaft, S. 15, 199, 200 (Hervorhebungen i.O.); vgl. auch Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 105. 547 Am Beispiel des Wissenschaftssystems siehe dazu Stichweh, ebd., S. 120 ff. 548 Siehe dazu bereits Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981, S. 22; ebenso Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 104. 549 Ebenso Japp, Zur Soziologie des fundamentalistischen Terrorismus, Soziale Systeme 9 (2003), 54, 81, der auf Banken und produzierende Unternehmen in der Wirtschaft verweist.

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funktionales Verständnis der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie, das nachfolgend am Beispiel des Rechtssystems, insbesondere der Rechtsetzung und Rechtsprechung im europäischen Mehrebenensystem, verdeutlicht werden soll. Bis in die Neuzeit hinein werden Rechtsetzung und Rechtsprechung als zwei Bestandteile einer Aufgabe, der „iurisdictio“,551 begriffen. Dies ändert sich erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und vor allem im 17. Jahrhundert. Die Gesetzgebung erfährt nun deutliche Aufwertung, befreit sich immer mehr aus dem Sinnzusammenhang der „iurisdictio“ und verlagert sich in denjenigen politischer und rechtlicher Souveränität. Die Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsprechung im heute geläufigen Sinne ist allerdings erst ein Produkt des 18. Jahrhunderts. Noch immer wird die Gesetzgebung aber der Rechtsprechung weisungshierarchisch vorgeordnet, d.h., die Gerichte werden als ausführende Organe der Gesetzgebung begriffen und Rechtsmethodik wird als bloße Deduktion verstanden. Im 19. Jahrhundert gerät schließlich doch noch das hierarchische Verständnis der Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsprechung unter Druck. Belegen lässt sich dies u. a. damit, dass die Interpretationsvollmachten des Richters im Verhältnis zum Gesetzgeber deutlich ausgeweitet werden. Rechtsmethodisch tritt der Gedanke der Deduktion mehr und mehr in den Hintergrund, um zugleich einer Mehrheit von Methoden der Gesetzesauslegung Raum zu verschaffen. Zwar bestimmt nach wie vor die Hierarchie das Vorstellungsbild des Verhältnisses von Gesetzgebung und Rechtsprechung, doch wird der Richter nun über das Richterrecht als Rechtsquelle eigener Art an der Normproduktion beteiligt. Heute hingegen besteht kein Zweifel mehr daran, dass Rechtsetzung und Rechtsprechung, Gesetzgeber und Gerichte, als autonome, arbeitsteilig zusammenwirkende Organisationen mit der fortlaufenden (autopoietischen) Normproduktion im Rechtssystem befasst sind.552 Vor diesem Hintergrund verbietet sich ganz von selbst ein hierarchisches (rangmäßiges) Verständnis der Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsprechung. Gleiches gilt für die Vorstellung einer unterschiedlichen gesellschaftlichen Relevanz. Weder sind die Gerichte wichtiger als der Gesetzgeber noch kommt der Gesetzgebung eine größere Bedeutung zu als der Rechtsprechung.553 Vielmehr geht es einzig und allein darum, dass im Zentrum des Rechtssystems

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Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 321 Fn. 50. Siehe dazu grundlegend Wyduckel, Princeps Legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, 1979, S. 63 ff., 76 ff.; ders., Die Herkunft der Rechtsprechung aus der Iurisdictio, in: Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1986, S. 247 ff. 552 Zu den Einzelheiten des Verhältnisses von Gesetzgebung und Rechtsprechung in historischer Perspektive siehe Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 299 ff. 553 Dies verkennt Habermas, Faktizität und Geltung, S. 241, wenn er das Gerichtsverfahren als „den Fluchtpunkt für die Analyse des Rechtssystems“ bezeichnet. 551

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andere Funktionen als in der Peripherie desselben wahrgenommen werden.554 Zentrum und Peripherie bilden von daher die zwei Seiten einer Form,555 die aber nur dadurch einzurichten ist, dass im Zentrum in funktionsspezifischer Hinsicht genau das Gegenteil von dem gilt, was in der Peripherie gilt.556 Und dies ist das Verbot der Justizverweigerung, das eben nur für die Gerichte Geltung besitzt. Als „Grundnorm der Gerichtsbarkeit“ ist das Justizverweigerungsverbot in der Form einer „inhaltsleeren doppelten Negation“ konzipiert: Dem Richter ist nicht erlaubt, nicht zu entscheiden.557 Das war nicht immer so. Im antiken römischen Recht und im mittelalterlichen Recht wurde nur für bestimmte definierte Klagen (actiones) Rechtsschutz gewährt. Heute aber darf auch ohne ausdrückliches Verbot, wie z. B. in Art. 4 Code Civil, wonach ein Richter, der sich unter dem Vorwand des Schweigens, der Dunkelheit oder der Unzulänglichkeit des Gesetzes weigert, Recht zu sprechen, wegen Justizverweigerung verfolgt werden kann, diesem Grundsatz zumindest für rechtsstaatlich und demokratisch verfasste Rechtsordnungen allgemeine Geltung zuerkannt werden.558 Unter einem solchen rechtlichen Operations- und Entscheidungszwang stehen weder Gesetz noch Vertrag.559 Natürlich kann es zwingend eines Gesetzes bedürfen, wenn etwa zur effektiven Terrorismusbekämpfung Freiheitsrechte der Bürger (z. B. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung) beschnitten werden sollen. Der Grund dafür ist dann aber ein politischer und nur die Folge ist eine rechtliche. Gerichte hingegen müssen aus Rechtsgründen über jede bei ihnen eingehende Klage, jede Beschwerde oder jeden Antrag entscheiden, und wenn es nur darum geht, sich für unzuständig zu erklären (zugleich mit der Konsequenz, die Möglichkeit einer Verweisung an das zuständige Gericht zu prüfen560).561 Die Richter müssen Nor554 Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 469 f.; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 323; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 251. 555 Im Sinne von Spencer-Brown, Laws of Form, 1979. 556 Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 470. 557 Ders., ebd., 467. 558 Siehe dazu in historischer und vergleichender Perspektive insb. Schumann, Das Rechtsverweigerungsverbot. Historische und methodologische Bemerkungen zur richterlichen Pflicht, das Recht auszulegen, zu ergänzen und fortzubilden, ZZP 81 (1968), 79 ff.; vgl. ferner Fögen, Schrittmacher des Rechts. Anmerkungen zum Justiz- und Rechtsverweigerungsverbot, in: Privatrecht und Methode. FS E. A. Kramer, 2004, S. 3 ff.; dies., Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 34. 559 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 320 ff. 560 Siehe z. B. § 17 a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG): „Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges.“ 561 Deshalb wird man darin auch keine Relativierung des Justizverweigerungsverbotes sehen können, so aber Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, S. 140.

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men interpretieren und konstruieren, Fälle unterscheiden und entscheiden.562 Dabei arbeiten sie unter viel stärkerer „kognitiver Selbstisolation“ als der Gesetzgeber und die vertragsschließenden Parteien. Mit Ausnahme der Bereiche, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, nehmen Gerichte nämlich kognitiv nur zur Kenntnis, was ihnen in den dafür vorgesehenen Beweisverfahren vorgetragen und zur Entscheidung vorgelegt wird.563 Funktional betrachtet obliegt dem Verbot der Justizverweigerung die Wahrung der Einheit und Komplexität des Rechtssystems, d. h., es geht ihm um die Erhaltung der Einheit des Rechtssystems auch unter den Bedingungen wachsender Komplexität.564 Das Justizverweigerungsverbot dient damit dem Paradoxiemanagement des Rechtssystems.565 Indem den Gerichten ein „non liquet“ untersagt ist, gelingt es ihnen, die Paradoxie der unentscheidbaren Entscheidung zu invisibilisieren.566 Die Komplexität des Rechtssystems wird gesteigert, ohne allerdings gleichzeitig seine Funktionserfüllung zu beeinträchtigen. Als Zentralorganisationen des Rechtssystems lassen die Gerichte nämlich im Sinne der Komplexitätssteigerung Irritationen aus der Peripherie (Gesetzes- und Vertragsrecht) durchaus zu, treffen aber zugleich weiterhin die funktionsrelevanten Entscheidungen über Recht und Unrecht.567 Diese Sonderstellung der Gerichte im Rechtssystem, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Funktion des Rechts, nämlich der kontrafaktischen Stabilisierung normativer Erwartungen, steht, macht zugleich deutlich, dass das Rechtssystem als ganzes nicht hierarchisch strukturiert sein kann. Dafür ist es operativ

562 Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 468; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 307 ff., 327; zur „Entscheidung“ als wesentlichem Begriffsmerkmal der Rechtsprechung siehe auch BVerfG, BVerfGE 103, 111, 137 f.: „Zu den wesentlichen Begriffsmerkmalen der Rechtsprechung in diesem Sinne gehört das Element der Entscheidung, der letztverbindlichen, der Rechtskraft fähigen Feststellung und des Ausspruchs dessen, was im konkreten Fall rechtens ist . . . Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit ist daher typischerweise die letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren.“ 563 Entgegen der Auffassung von Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers, S. 140, verkennt Niklas Luhmann auch nicht, dass die Gerichte über die Institution der Beweiserhebung die Möglichkeit besitzen, relevante Informationen aus der Umwelt des Rechtssystems selbst einzuholen, siehe insoweit Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 322; ders., Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 468, wo dieser ausdrücklich auf Beweisverfahren und Beweisregeln Bezug nimmt. 564 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 429 f.; Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 104 f. 565 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 320; Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 61, 150 f.; Huber, Systemtheorie des Rechts, S. 171. 566 Huber, ebd., S. 166 ff., 171; vgl. ferner Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden, S. 278. 567 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 104 f.

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und strukturell viel zu komplex sowie zeitlich viel zu dynamisch.568 Deshalb sieht sich das Rechtssystem und hier vor allem die Rechtsdogmatik auch genötigt, in ihre Selbstbeschreibung die bereits erwähnten „Rückkopplungsschleifen, Resymmetrisierungen, rekursiv operierenden Netzwerke etc.“ 569 einzubauen.570 Überzeugender erscheint es uns demgegenüber, von einer „Differenzierung von Differenzierungsformen“ 571 auszugehen, der zufolge sich nur im Zentrum Hierarchien ausbilden, während die Peripherie zur Wahrung höherer Komplexität segmentär differenziert bleiben kann. Nur die Gerichte bilden eine Hierarchie. Nur sie kennen mehrere Instanzen: unterste und oberste Gerichte. Nur hier wird der Entscheidungszwang entfaltet und tendenziell nach oben verlagert. In der Peripherie des Rechts hingegen kann es zu einer „Parallelisierung und Vernetzung von gesetzlicher und vertraglicher Geltungsproduktion“ 572 kommen. Aber trägt diese Differenz von Zentrum und Peripherie des Rechtssystems unter den bereits beschriebenen Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung überhaupt noch? Könnte nicht die „Verlagerung der organisierten Normbildung“ in die Peripherie des Rechtssystems mit Konsequenzen für die Differenz von Zentrum und Peripherie verbunden sein? Und könnten sich nicht Europäisierung und Globalisierung auch auf die Hierarchieverhältnisse zwischen den Organisationen des Zentrums auswirken?573 Mit der hier gar nicht bestrittenen „Verlagerung der organisierten Normbildung“ in die Peripherie des Rechtssystems574 schwingt unterschwellig offenbar die Annahme eines Bedeutungsunterschiedes von Zentrum und Peripherie mit, 568 Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 470. 569 Ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 250 m. Fn. 34. 570 Zur systemtheoretischen Beschreibung von Netzwerken als auf den Voraussetzungen funktionaler Differenzierung aufbauende „Form der sekundären Ordnungsbildung“ siehe insb. Tacke, Netzwerk und Adresse, Soziale Systeme 6 (2000), 291, 299; vgl. ferner Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 846; siehe allgemein auch Barabasi, Linked. The New Science of Networks, 2002; Barkhoff/Böhme/Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, 2004; Rauner, Ziemlich verknotet, Die Zeit v. 26.2.2004, Nr. 10, S. 33 f.; Siegel, Frühe Knotenbildung, späte Macht. Jenseits modischer Unschärfen: Albert-Laszlo Barabasis Plan einer neuen Netzwerk-Wissenschaft, FAZ v. 13.1.2003, Nr. 10, S. 35. 571 Ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 251; ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 323 f.; ders., Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 470. 572 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 324. 573 Diese Fragen finden sich bei Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 105. 574 Siehe dazu insb. Fischer-Lescano/Teubner, Regimekollisionen, S. 48, die insoweit von „pluralen Rechtsbildungsmechanismen“ (Standardisierte Verträge, Vereinbarungen professioneller Verbände, Routinen formaler Organisation, technische und wissenschaftliche Standardisierungen, habituelle Normalisierungen, informelle Konsense von NGOs, Medien und gesellschaftlichen Öffentlichkeiten) sprechen.

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und zwar in dem Sinne, dass das Zentrum grundsätzlich wichtiger sei als die Peripherie. Zur „Bedeutung“ von Zentrum und Peripherie will die Differenz aber gerade keine Aussagen treffen. Mit ebenso guten Gründen ließe sich nämlich die Peripherie für wichtiger halten, weil sich dort das Ausmaß an Umweltsensibilität (Irritabilität) entscheide, das sich ein System im Verhältnis zur Umwelt leisten könne. Deshalb dürfte schon die Frage falsch gestellt sein.575 Die Differenz bleibt vielmehr einzig und allein eine funktionale: nur die Gerichte unterliegen dem Entscheidungszwang und nur sie treffen die letztverbindlichen funktionsrelevanten Entscheidungen über Recht und Unrecht. Dass Europäisierung und Globalisierung des Rechts Auswirkungen auf die Hierarchieverhältnisse zwischen den Organisationen des Zentrums zeitigen, sei hier ebenfalls nicht bestritten. Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems lässt vielmehr deutlich werden, dass die letztinstanzlichen nationalen Gerichte schon lange nicht mehr das letzte Wort besitzen, wenn es darum geht, endgültig Rechtsfrieden herzustellen.576 Mehr und mehr gerät das nationale Rechtschutzmonopol unter Druck. Die „grenzüberschreitende Rechtsprechungskoordination“, die das Bundesverfassungsgericht als „funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeit“ bezeichnet, tut ihr übriges hinzu. All dies ändert aber nichts daran, auch weiterhin von der hierarchischen Organisation des Zentrums des Rechtssystems, nämlich der Gerichtsbarkeit, ausgehen zu können. Art. 267 AEUV mag dies beispielhaft veranschaulichen: Er sichert dem Europäischen Gerichtshof ein Rechtsprechungsmonopol für Fragen des Gemeinschaftsrechts („autoritative Auslegung und Gültigkeitskontrolle“). Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV besteht eine Vorlageberechtigung für alle nationalen Gerichte in Fragen des Gemeinschaftsrechts. Art. 267 Abs. 3 AEUV konstituiert eine Vorlagepflicht für letztinstanzliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden können. Nationale Gerichte jeder Instanz müssen an den Europäischen Gerichtshof vorlegen, wenn sie sekundäres Gemeinschaftsrecht für ungültig halten und daher nicht anwenden wollen bzw. wenn sie einen Verstoß eines Gemeinschaftsrechtsaktes gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht vermuten. Außerdem besteht im Sinne einer „Divergenzvorlage“ immer dann eine Vorlagepflicht, wenn ein nationales Gericht von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes abweichen oder wenn es den Vollzug eines nationalen Verwaltungsaktes aussetzen möchte, der auf Gemeinschaftsrecht beruht. Als Rechtsfolge der „Vorabentscheidung“ des Europäischen Gerichtshofes kommt es zu einer Bindung des vorlegenden Gerichts und zu einer Bindung der übrigen mit dem Fall befassten Instanzgerichte. Des Weiteren entwickelt sich in der Europarechtsdogmatik zunehmend der Gedanke einer „erga-omnes“-Wirkung von Vorlageent-

575

Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 251. Noch einmal sei auf den sog. Mangold-Beschluss des BVerfG, NZA 2010, 995 ff. verwiesen. 576

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scheidungen, die eine (Un-)Gültigkeit von Gemeinschaftsakten beinhalten.577 Dies zeigt: An der hierarchischen Organisation der Gerichtsbarkeit hat sich auch unter den Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung nichts Grundsätzliches geändert. Die sichtbar gewordene „Streckung“ der Hierarchie im Zentrum des Rechtssystems stellt diese als solche nicht in Frage. War bislang ganz überwiegend von der Rechtsprechung als Zentrum des Rechtssystems, insbesondere von ihrer Funktion und Organisation, die Rede, so verbindet sich damit – wie bereits mehrfach betont – keine Aussage über den Bedeutungsgehalt dessen, was sich in der Peripherie des Rechtssystems ereignet. Hier ist der „Ort“ der staatlichen (nationalen wie supranationalen), staatlich-privaten und rein privaten Rechtsetzung. Mit dem Umbau der Differenzierungstheorie vom hierarchischen Modell zur Zentrum/Peripherie-Differenz kommt es dabei zu einer „Parallelisierung und Vernetzung von gesetzlicher und vertraglicher Geltungsproduktion“.578 Von der nationalen, supra-, inter- und transnationalen Rechtsetzung war bereits ausführlich die Rede. Auch auf die besondere Bedeutung des sog. Verwaltungskooperationsrechts ist in diesem Zusammenhang schon hingewiesen worden. Und vor dem Hintergrund der Globalisierung des Rechts sei das Völkervertragsrecht als „zentrales rechtliches Steuerungsinstrument der internationalen Gemeinschaft“ 579 nur noch einmal besonders erwähnt. Neben dieser staatlichen Rechtsetzung etabliert sich aber seit geraumer Zeit, wenngleich eher im Verborgenen, ein Bereich „staatlich-privater“ Rechtsetzung, der sich auch als „privat gesetztes, administrativ anerkanntes Recht“ kennzeichnen lässt. Dabei werden zwei Grundtypen unterschieden: die privatverbandliche Rechtsetzung und die halbstaatliche Standardsetzung.580 Ersterer Bereich wird vor allem von der technischen Normung (DIN, VDI/VDE-Richtlinien, CEN, CENELEC, ETSI, ISO) markiert; zum letzteren Bereich zählen insbesondere Standardsetzungen durch technische Ausschüsse. Für die rein private Rechtsetzung sei an dieser Stelle auf die sog. „Lex Mercatoria“ verwiesen. Darunter wird ein materieller Rechtskorpus verstanden, der sich vornehmlich über die Schiedsspruchpraxis selbst herausgebildet hat. Zu ihm zählen aber auch sich gewohnheitsrechtlich entwickelnde Normen im internationalen Wirtschaftsverkehr.581 Obwohl bei der Lex Mercatoria zumindest noch nicht von einem konsistenten Gebäude von Rechtsnormen ge577 Zum Ganzen siehe Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, S. 269 ff.; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, S. 232 ff. 578 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 324. 579 Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 17 Rn. 41. 580 Zum Ganzen ausführlich ders., ebd., Rn. 85 ff. 581 Siehe dazu aus zivilrechtsdogmatischer Perspektive grundlegend Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995; aus politikwissenschaftlicher Sicht siehe insb. Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, 2002, S. 235 ff.

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sprochen werden kann, vielmehr gegenwärtig erst eine Systematisierung kasuistischer Schiedssprüche und einiger Modellgesetze für den internationalen Wirtschaftsverkehr vorliegen, kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir es mit Kommunikation am Maßstab des Codes Recht/Unrecht und das heißt mit normativer Kommunikation, eben an der Peripherie des Rechtssystems, zu tun haben.582 Dabei stehen die soeben benannten Erscheinungsformen staatlicher, staatlichprivater sowie rein privater Rechtsetzung gleichsam paradigmatisch für die Charakterisierung der Peripherie des Rechtssystems als „Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft“.583 Konkret gesprochen ist hier für die staatliche Rechtsetzung das politische System und für die rein private Rechtsetzung, vornehmlich durch Vertrag, das Wirtschaftssystem zu nennen.584 Aber auch die staatlich-private Rechtsetzung steht bei der Formulierung von Technikstandards über die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in Kontakt mit einem anderen Funktionssystem der Gesellschaft, nämlich mit dem Wissenschaftssystem.585 An der Peripherie des Rechtssystems öffnet sich dieses mithin für seine Umwelt. So kommt z. B. der Gesetzgebung als „Grenzstelle“ von Rechtssystem und politischem System die Aufgabe zu, die „Dauerirritation des Rechtssystems durch das politische System im Rechtssystem zu ,akkomodieren‘“.586 Zu diesem Zweck bedarf es der Setzung allgemeiner Regeln, die dann im System weiter bearbeitet werden können. Dies schließt hohe Spezifikation der Regeln nicht notwendigerweise aus, sondern dient vielmehr dazu, „Übergriffen“ benachbarter Funktionssysteme in die Einzelfallentscheidungen der Gerichte im Zentrum des Rechtssystems vorzubeugen. Das Rechtssystem öffnet sich also an seiner Peripherie nicht nur für die Umwelt, sondern schließt sich zugleich, indem es seine Autonomie sichert. Die „Wahlfreiheit“ des Rechtssystems an seiner Peripherie, Irritationen benachbarter Funktionssysteme der Gesellschaft in Rechtsform zu bringen oder dies auch nicht zu tun bzw. zu entscheiden oder auch auf eine Entscheidung zu verzichten, schützt das gerichtliche Zentrum des Rechtssystems, indem dieses „nicht einfach als willenlose Fortsetzung rechtsexterner 582

Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 131. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 322; ferner Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 61; ders./Teubner, Regime-Kollisionen, S. 48. 584 Für die staatliche Rechtsetzung und ihren Kontakt zum politischen System siehe Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 245 ff.; für das Vertragswesen und seinen Kontakt zum Wirtschaftssystem siehe ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 324 f.; vgl. auch Huber, Systemtheorie des Rechts, S. 165; für den Verwaltungsvertrag siehe insb. Müller, Verwaltungsverträge im Spannungsfeld von Recht, Politik und Wirtschaft. Eine systemtheoretische Analyse von Verträgen zwischen dem Gemeinwesen und Privaten mit Hinweisen auf die rechtsdogmatischen Konsequenzen, 1997, S. 144 ff. 585 Siehe dazu im Einzelnen Schulte, Wissensgenerierung im Technikrecht, in: Collin/Spiecker gen. Döhmann (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, S. 259 ff. 586 Luhmann, Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem, Rechtstheorie 21 (1990), 459, 470 mit Hinweis auf Piaget in Fn. 34. 583

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Operationen fungiert.“ 587 Und das Zentrum des Rechtssystems bedarf genau dieses Schutzes, weil es vor dem Hintergrund des Justizverweigerungsverbotes unter der exakt entgegengesetzten Prämisse operiert.588 Wollte man das beschriebene Phänomen auf einen kurzen Nenner bringen, so ließe sich in Anlehnung an die Biologie vielleicht von der Semipermeabilität der Peripherie des Rechtssystems sprechen. Sie wird uns Anlass geben, an späterer Stelle unter dem Stichwort der strukturellen Kopplungen des Rechtssystems seinen Kontakten mit benachbarten Funktionssystemen der Gesellschaft detaillierter nachzugehen.

§ 7 Rationalität des Rechts Die Moderne tut sich schwer mit der Vernunft. Vielleicht spricht sie nicht zuletzt deshalb auch lieber von ihrer Rationalität.589 Ob „Schlüsselbegriff der Moderne“ 590 oder bloße Metapher591 für das, „was der Mensch in seinen höchsten Möglichkeiten von sich selbst erwartet“ 592, wer möchte nicht lieber rational denn irrational erscheinen. Noch schärfer formuliert: Die Berufung auf Rationalität markiert in der laufenden Kommunikation die Unverhandelbarkeit einer Position.593 Das gilt auch und ganz besonders für das Rechtssystem, wo der Rechtsstaat im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes schon früh zur „Rationalisierung des öffentlichen Gesamtzustandes“ bzw. zur „Form der Rationalisierung des staatlichen Lebens“ 594 erklärt worden ist. In merkwürdigem Widerspruch dazu 587 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 322; vgl. auch Fischer-Lescano, Globalverfassung, S. 61. 588 Luhmann, ebd. 589 Siehe nur Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet. Prolegomena zu einer Theorie juristischer Rationalität, in: Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen. Zum 70. Geburtstag am 15. Oktober 2004, 2004, S. 177, 178 „Rationalität als Vernunft der Moderne“; vgl. auch Depenheuer, Die Kraft des Mythos und die Rationalität des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Mythos als Schicksal. Was konstituiert die Verfassung?, 2009, S. 7 ff.; Voßkuhle, Das Konzept des rationalen Staates, in: Schuppert/ders. (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, 2008, S. 13 ff. 590 Brentel, Soziale Rationalität. Entwicklungen, Gehalte und Perspektiven von Rationalitätskonzepten in den Sozialwissenschaften, 1999, S. 11. 591 Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177, 178. 592 Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, 5. Aufl., 1991, S. 15; Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung. Zur Theorie der juridischen Vernunft, 1990, S. 250 f. spricht in Anlehnung an Robert Alexy von der „Idee der Optimierung menschlicher Kompetenz in allen ihren Aspekten“. 593 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 189; beispielhaft dafür aus der Perspektive der Rechtsdogmatik Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 177, 209 „Unaufgebbarkeit juristischer Rationalität“. 594 Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, in: ders., Reicke/Scheuner (Hrsg.), Staatsverfassung und Kirchenordnung. FG Rudolf Smend

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steht aber, dass Rationalität als rechtsdogmatischer Begriff und juristischer Argumentationstopos eher selten Anwendung findet.595 Dies wird – sicherlich nicht ohne Grund – mit seiner unterschiedlichen Konnotationsfähigkeit und flexiblen Sinnvariabilität in Verbindung gebracht.596 Bevor wir uns dem im Einzelnen zuwenden, fragt es sich allerdings, wie es dazu überhaupt gekommen ist. Die Moderne trägt letztlich noch immer schwer an der Erosion des „alteuropäischen Rationalitätskontinuums.“ 597 In der humanistischen Tradition Europas (13./14. Jahrhundert) gehörte ratio im Sinne eines normativen Begriffs schlicht und ergreifend zur Natur des Menschen. Das Konzept der Naturrationalität war in der Lage, alle Unterschiede – ob Handeln und Geschehen oder Denken und Sein – zu übergreifen. Doch schon das 17. Jahrhundert lässt erste Auflösungsund Spaltungserscheinungen des Rationalitätskontinuums der Natur sichtbar werden. Noch gleichsam trotzig tritt dem das „Jahrhundert der Aufklärung“ (18. Jahrhundert) entgegen, bevor im und zum Ende des 19. Jahrhunderts eine in genereller Rationalitätsskepsis gipfelnde Auflösung des Rationalitätsbegriffs einsetzt. Zweckrationalität auf der einen und Wertrationalität auf der anderen Seite wird zur maßgebenden Unterscheidung.598 Zweckrationalität eignet dem, der „sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional) noch traditional handelt.“ 599 Wertrationalität hingegen richtet sich auf die vernünftige und moralische Legitimierung eben jener Zwecke.600

zum 80. Geburtstag am 15. Januar 1962, 1962, S. 71, 83; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S. 76. 595 Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber. Über Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen „weicher“ Leitbegriffe in der Rechtsdogmatik, in: Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern. FS Klaus Vogel zum 70. Geburtstag, 2007, S. 311, 320; siehe aber neuerdings Hwang, Richtigkeit als Rechtsbegriff? – Eine Überlegung zur Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts aus rechtsmethodologischer Perspektive –, VerwArch 101 (2010), 180, 189 ff. 596 Schulze-Fielitz, ebd. 597 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 180 und zum Folgenden ebd., S. 171 ff. sowie ders. Rationalität in der modernen Gesellschaft, in: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie, hrsg. v. Kieserling, 2008, S. 186, 218: „Die Welt ist kein Rationalitätskontinuum mehr.“ 598 Noch immer grundlegend Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1921/ 1972, S. 12 ff.; siehe dazu insb. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991, S. 114 ff.; Raiser, Max Weber und die Rationalität des Rechts, JZ 2008, 853 ff. 599 Weber, ebd., S. 12. 600 Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989, S. 266 f.; vgl. insoweit auch Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisa-

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Auf dieser Unterscheidung beruht auch das Konzept der „juridischen Rationalität“, das zwischen einer „juridisch-institutionellen“ und einer „wissenschaftlichphilosophischen“ Rationalität trennt.601 Hintergrund dafür ist die Vorstellung, dass es eine „rationale Einheit oder Identität der Wissenschaft des Rechts mit der juridisch-institutionellen Praxis des Rechts als Gesetzgebung oder Justiz“ nicht gibt.602 Juridisch-institutionelle Rationalität entsteht „in einem institutionellen, nach Regeln arbeitsteilig organisierten Prozess“ (Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, Rechtsprechung) und will „,richtiges Verhalten‘ bei anderen im sozialen Zusammenhange bewirken.“ 603 Wissenschaftlich-philosophische Rationalität verfolgt demgegenüber nur ein rein kognitives Ziel und wird zur juridischen Vernünftigkeit erst, „wo sie unter institutionellem Führungszwang die Ebene der Argumentation abschließend überwindet.“ 604 Zwischen ersterer und letzterer besteht ein „Rationalitätsgefälle“ in dem Sinne, dass im institutionalisierten Verfahren gewonnene Bestimmungen des sozialen Handlungsfortgangs von „höherer Rationalität“ sind, weil sie die Stabilität der Institutionen sichern, in denen sich kommunikative Rationalität (philosophische Wahrheitssuche, Meinungs- und Diskussionsfreiheit) erst ereignen kann.605 Der Weberschen Handlungsrationalität (Zweck- und Wertrationalität) zumindest im Grundansatz verpflichtet bleibt auch das zeitgenössische und wohl gegenwärtig herrschende Konzept einer diskurstheoretisch-prozeduralen Rationalität.606 Sein Erkenntnisinteresse ist „auf die formalen Bedingungen der Rationalität des Erkennens, der sprachlichen Verständigung und des Handelns, sei es im Alltag oder auf der Ebene methodisch eingerichteter Erfahrungen bzw. systematisch eingerichteter Diskurse“ gerichtet. Es geht um eine dem Ideal der „Einheit der Rationalität“ verhaftete Theorie der (juristischen) Argumentation, die sich zum Ziel setzt, „die formalpragmatischen Voraussetzungen und Bedingungen eines explizit rationalen Verhaltens zu rekonstruieren“.607 Dabei wird dem Vertionsgesetzgeber, in: Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern. FS Klaus Vogel, 2007, S. 311, 320. 601 Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, 1980, S. 34 ff.; siehe dazu insb. Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften? Zur Konkurrenz divergierender Rationalitätskonzepte in der modernen Rechtstheorie, Rechtstheorie 15 (1984), 423, 438 ff. 602 Schelsky, ebd., S. 34 spricht sogar ausdrücklich von einer „Illusion“ und „Selbsttäuschung der Rechtswissenschaftler und der von ihnen ausgebildeten praktischen Juristen“. 603 Ders., ebd., S. 35. 604 Ders., ebd., S. 41. 605 Ders., ebd., S. 47. 606 Grundlegend zum Folgenden insb. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, 1981, passim; auf das Rechtssystem heruntergebrochen von Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl., 1991, passim.

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such, die Rationalität von Entscheidungen und Strukturen auch mit Blick auf ihre prozeduralen (verfahrensmäßigen) Erzeugungsbedingungen zu begründen, gerade in jüngster Zeit besondere Bedeutung beigemessen.608 Als rational betrachtet wird, „was selbst einer Begründung oder Rechtfertigung fähig ist.“ 609 Und „gute Gründe“ in diesem Sinne sind dann wiederum solche, die in einer idealen Sprechsituation allgemein anerkannt werden müssten, wobei ein vorurteilsfreies und verständigungsorientiertes Gespräch, das bestimmten Vernunftregeln folge, dem konsentierten Ergebnis besondere legitimatorische Kraft verleihe.610 Die vielfältigen Brechungen, die das alteuropäische Rationalitätskontinuum durch die Jahrhunderte erfahren hat,611 dürften damit hinreichend deutlich geworden sein. Wir wollen diese nicht weiter diskutieren, sie aber zumindest als Indiz werten, dass sich seit geraumer Zeit ein radikaler Wandel im Verhältnis von Realität und Rationalität vollzogen hat. Der Zerfall des alteuropäischen Begriffs der Rationalität bedeutet jedoch nicht, zukünftig ganz auf Rationalität verzichten zu müssen.612 Allerdings erscheint es uns schon notwendig, das Problem der Rationalität vom Theoriedesign her abstrakter613 und zugleich bescheidener614 zu formulieren. Insoweit bietet es sich an, auf Systemrationalität umzustellen.

607 Kritisch dazu m.w. N. Krawietz, Juridisch-institutionelle Rationalität des Rechts versus Rationalität der Wissenschaften, Rechtstheorie 15 (1984), 423, 436 ff. 608 Siehe dazu auch m.w. N. Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177, 184 ff.; kritisch Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 175 f. 609 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 25 ff.; im Anschluss daran Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 2007, passim; Bäcker, Begründen und Entscheiden, 2008, passim; siehe auch Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, S. 169. 610 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 165 ff.; vgl. auch Sieckmann, Recht als normatives System, 2009, S. 169 ff., 211 ff.; differenzierend Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum HansUwe Erichsen, 2004, S. 177, 188, der – was immer das heißen mag – für den Versuch plädiert, „den Rationalitätsbegriff unter Heranziehung sämtlicher für problembezogenes Entscheiden verfügbarer geistiger und sozialer Komponenten des Menschen zu modellieren“ (Hervorhebung i.O.), jedenfalls aber zugesteht, dass die „Weltformel“, die Rationalität auf den Begriff bringe, bislang noch nicht gefunden sei; vgl. aber auch ders., Das Allgemeine Verwaltungsrecht zwischen Praxis und Reflexion. Theoretische Grundlagen der modernen Verwaltungswissenschaft, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 837, 866 ff. Siehe in diesem Zusammenhang auch Brentel, Soziale Rationalität, S. 466 ff.; Mayntz, Rationalität in sozialwissenschaftlicher Perspektive, 1999, S. 9 ff.; Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, S. 183 ff. 611 Siehe dazu auch Luhmann, Soziale Systeme, S. 639 f. 612 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 176. 613 Ders., ebd., S. 178. 614 Von daher wollen wir nicht einmal im Ansatz mit einer „Theorie der juristischen Argumentation“ konkurrieren, denn wie anspruchs- und voraussetzungsvoll ist es doch, sich auf die Suche nach „guten Gründen“ für Gründe – vielleicht sogar nach einer hypothetischen Gründenorm – zu machen.

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Systemrationalität ist die adäquate Reaktion auf die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Wenn wir mit Grund davon ausgehen dürfen, dass die Gesellschaft kein evolutorisch in Vorsprung gegangenes Teilsystem (auch kein Leitsystem) mehr kennt,615 dann heißt es von einer „einheitlichen Rationalitätsprätention“ 616 Abschied nehmen. Dass die einzelnen Funktionssysteme je für sich die Einheit der Differenz von System und Umwelt zu reflektieren suchen, steht auf einem anderen Blatt. Entscheidend ist es nur, die Systemreferenzen auseinander zu halten. Dies schließt es eben aus, dass ein Funktionssystem der Gesellschaft diese als solche in sich reflektiert. Denn dann müsste dieses auch die Operationsbeschränkungen sämtlicher anderer Funktionssysteme der Gesellschaft mitreflektieren. Kurz gesprochen: „Die gesellschaftliche Rationalität wird unter modernen Bedingungen im wortgenauen Sinne eine Utopie. Für sie gibt es keinen Standort in der Gesellschaft mehr.“ 617 Unser Verständnis von Systemrationalität ist ein streng differenztheoretisches.618 Das heißt: Systeme, die ihren Beobachtungen die eigene Differenz zur Umwelt als Differenz von Selbst- und Fremdreferenz zugrunde legen, dürfen als rational bezeichnet werden.619 Damit wird eine Unterscheidung der Realität ausgesetzt und an ihr getestet.620 Mit Blick auf normative Kommunikation am Maßstab des Codes Recht/Unrecht verlangt dies zunächst den Re-entry621 der System/Umwelt-Differenz als Selbst- und Fremdbeschreibung im622 Rechtssystem (durch Rechtspraxis, Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie). Um als rational bezeichnet werden zu können, ist dies aber noch zu wenig. Hinzukommen muss die selbstreferentielle Verwendung des Begriffs der Differenz, indem 615 A.A. mit Blick auf das Wirtschaftssystem Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 110 f. 616 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 185; ders., Rationalität in der modernen Gesellschaft, in: ders., Ideenevolution, hrsg. v. Kieserling, 2008, S. 186, 202. 617 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 186. 618 Siehe dazu dezidiert ders., ebd., S. 178, 185 „Zentrierung auf Differenz“; zum Rationalitätsverständnis Niklas Luhmanns vor seiner „autopoietischen Wende“ siehe ders., Zweckbegriff und Systemrationalität, 5. Aufl. 1991, passim. 619 Esposito, Rationalität, in: Baraldi/Corsi/dies., GLU, 2. Aufl. 1998, S. 145, 146; Krause, Luhmann-Lexikon, 2. Aufl. 1999, S. 169; Luhmann, Rationalität in der modernen Gesellschaft, in: ders., Ideenevolution, hrsg. v. Kieserling, 2008, S. 186, 208 ff. 620 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 184; ders., Rationalität in der modernen Gesellschaft, in: ders., Ideenevolution, hrsg. v. Kieserling, 2008, S. 186, 189 „Rationalität . . . Abtastinstrument für Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens und Handelns“. 621 Zur Bedeutung der Figur des Re-entry für den Rationalitätsbegriff siehe ders., ebd., S. 180. 622 Ders., ebd., S. 182: „Das System selbst erzeugt und beobachtet die Differenz von System und Umwelt. Es erzeugt sie, indem es operiert. Es beobachtet sie, indem dies Operieren im Kontext der eigenen Autopoiesis eine Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz erfordert, die dann zur Unterscheidung von System und Umwelt ,objektiviert‘ werden kann.

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im Rechtssystem eine Reflexion auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt (durch Rechtsphilosophie/Rechtstheorie) erfolgt.623 Gerade in der Erhaltung und Ausnutzung dieser Differenzen dürften die Rationalitätschancen 624 für die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme zu sehen sein. Dass dies mit letzten gesellschaftstheoretischen Harmonievorstellungen – seien es nun „gute Gründe“ oder Modelle eines Verfahrenskonsenses – nicht harmoniert,625 liegt auf der Hand, bleibt aber auszuhalten. Die Rechtspraxis gewährleistet Rationalität im Rechtssystem (d.h. bezogen auf Gesetzgebung und Rechtsprechung) im Wesentlichen über Organisation und Verfahren.626 Dies macht schon ein erster kursorischer Blick auf staatliche Rechtsetzung und Rechtsprechung deutlich. Gesetzgebungsorgane (Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident), Sachverständigengremien (Enquetekommisionen, Wissenschaftliche Beiräte) und Evaluationseinrichtungen (Normenkontrollrat, Büro für Gesetzesfolgenabschätzung) gehören dazu für die Gesetzgebung genauso wie Gerichte, Schöffen und sachverständige Gutachter für die Rechtsprechung. Normative Vorgaben für das Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren (Art. 76 ff. GG, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages; Art. 92 ff. GG, Gerichtsverfassungsgesetz, Prozessordnungen etc.) treten flankierend hinzu und Planungsinstrumente (Haushaltsplan; Geschäftsverteilungsplan) tun ihr übriges.627 Die Rechtsdogmatik hat es bei diesem oberflächlichen Befund verständlicherweise nicht bewenden lassen. Etwa seit Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts macht es sich deshalb die Gesetzgebungslehre628 zur Aufgabe, formale und materielle Rationalitätskriterien der Gesetzgebung zu erarbeiten. Für 623

Ders., Soziale Systeme, 1984, S. 640. Es geht ohnehin nur um „Annäherungsmöglichkeiten“! Dazu ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 184. 625 Ders., ebd., S. 188: „Rationalität scheint der Fluchtpunkt gewesen zu sein, auf den hin man auch bei zunehmender Komplexität der Gesellschaft immer noch an eine letzte Harmonie glauben konnte“; ders., Rationalität in der modernen Gesellschaft, in: ders., Ideenevolution, hrsg. v. Kieserling, 2008, S. 186, 220: Eine andere Schlussfolgerung lautet, „dass Rationalität nicht auf Konsens gegründet werden kann, . . .“ (kursiv i.O.). 626 Zur Bedeutung von Organisation und Verfahren für die Gewährleistung von Rationalität siehe auch Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 84 ff. 627 Siehe insoweit aber bereits Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht, 1980, S. 34, 36 ff. 628 Zur Entwicklung der Gesetzgebungslehre siehe nur Noll, Gesetzgebungslehre, 1973; Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982; Schreckenberger/König (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986; Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002; Schuppert, Gute Gesetzgebung, 2003; Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung – sachverständige Beratung, Begründung, Folgeabschätzung und Wirkungskontrolle, Gutachten für den 65. Deutschen Juristentag, 2004. 624

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die Rechtsprechung ist der gleichgerichtete Versuch der Etablierung einer Rechtsprechungslehre629 in den Anfängen stecken geblieben. Heute versucht sich die „Neue Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft“ der Gesetzgebungslehre zu bemächtigen, indem sie ihr unter dem Dach der Verwaltungsrechtswissenschaft eine „neue Heimat“ anbietet und gleichzeitig vorschlägt, sich von der Gesetzgebungslehre über die Zwischenstationen der Rechtsetzungslehre630 und der Rechtsumsetzungslehre zur Rechtsänderungslehre fortzuentwickeln.631 Will man Rationalität nicht bloß als „Anforderungsbündel“ von „Konsistenz, Kohärenz, Begründbarkeit, empirische Wahrheit, Effektivität, Optimierung und Reflexivität, unter Ungewissheitsbedingungen auch Revisibilität“ verstehen,632 so kommt es entscheidend darauf an, die Aspekte formaler und materieller Rationalität kleinzuarbeiten.633 Eine „pragmatische“ Betrachtungsweise materieller Rationalität lässt dabei die Förderung des Alternativendenkens (z. B. durch Alternativgesetzentwürfe und die Aktivierung externen Sachverstandes) sowie die Sicherung rationaler Prognosen (z. B. durch die Ausschöpfung aller erreichbaren bzw. zugänglichen Erkenntnisquellen, durch ein Mindestmaß an empirisch-analytischem Sachverhaltswissen, durch Kostenanalysen) und pluralitärer Abwägungsprozeduren (z. B. durch eine ausgewogene Zusammensetzung von Sachverständigenkommissionen, durch Betroffenen-Analysen, durch pluralitäre Anhörungen) sichtbar werden. Als formale Rationalitätskriterien erscheinen demgegenüber die Begründung von Entscheidungen (z. B. Gesetzesbegründung), Zweckbestimmungsklauseln in Gesetzen, rechtsdogmatische Konsistenz, gesetzgeberische

629 Maßgeblich initiiert durch Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Internationales Symposium Münster 1984, 1986; zur Rationalität der Rechtsprechung siehe dort insb. Visser’t Hooft, Zur praktischen Rationalität in der Rechtsprechung, ebd., S. 213 ff.; Peczenik, Rationalität der juristischen Argumentation: Dialog, Logik und Wahrheit, ebd., S. 293 ff.; Petev, Die spezifische Rationalität der richterlichen Entscheidungstätigkeit, ebd., S. 565 ff.; zur Rationalität in der Rechtsprechung siehe insb. Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber, in: Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staat und Steuern. FS Klaus Vogel, 2007, S. 311, 321 f.; vgl. zum Bemühen um die Rechtsprechungslehre ferner Hoppe/ Krawietz/Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium Münster 1988, 1992. 630 Siehe dazu Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 1999. 631 Siehe dazu insb. Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 4 Rn. 104 ff.; Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab, in: dies., ebd., § 9 Rn. 109. 632 So Reimer, ebd., § 9 Rn. 4. 633 Grundlegend dazu und zum Folgenden Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung – besonders des 9. Deutschen Bundestages (1980–1983), 1988, S. 480 ff., 514 ff.; zur Spezifik juristischer Rationalität siehe auch Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157, 162.

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Kontinuität, die Vernetzung von Gesetzesregeln sowie Sachangemessenheit und Verständlichkeit.634 Im „Normalfall“ wird man damit auskommen. Organisation und Verfahren, formale und materielle Standards garantieren regelmäßig die Rationalität des Rechtssystems. Doch wie reagiert dieses in der „Ausnahmesituation“? Wie kaum ein anderer Bereich635 muss sich die Rationalität des Rechtssystems gerade auch für Entscheidungen unter Ungewissheit(sbedingungen) bewähren. Risikogesellschaft, Risikostaat und Risiko(verwaltungs)recht sind die Leitbilder dieser seit etwa zwei Jahrzehnten engagiert geführten Diskussion,636 die in derjenigen um Präventionsrecht im Präventionsstaat ihre aktuelle Fortsetzung findet.637 Riskantes Entscheiden hat es mit Wissen, Nichtwissen und Unsicherem Wissen zu tun.638 Wissen ist nur in seiner Differenz zum Nichtwissen zu begreifen.639 Gibt es dabei Grund zur Annahme, dass es an einem einzig wahren Wissen fehlt, so kommt der Beobachtung und Beschreibung von Nichtwissen beson634 Zu alldem ausführlich Schulze-Fielitz, ebd. m.w. N.; siehe aber auch im Anschluss daran Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989, S. 263 ff. 635 Zu nennen wäre hier allenfalls noch der Bereich der „Symbolischen Gesetzgebung“, siehe dazu Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 558 ff. 636 Aus dem kaum noch überschaubaren Schrifttum siehe unter soziologischem Blickwinkel insb. Beck, Risikogesellschaft – auf dem Weg in eine andere Moderne, 1990; Luhmann, Soziologie des Risikos, 1991; Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, 1995; Japp, Soziologische Risikotheorie, 1996; ders., Risiko, 2000; aus juristischer Perspektive siehe insb. Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem, VerwArch 84 (1993), 484 ff.; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994; Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement, 1999; Scherzberg, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen, VVDStRL 63 (2004), 214 ff.; Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht: Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen, VVDStRL 63 (2004), 264 ff.; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwichlungsvorsorge, 2005; Vieweg (Hrsg.), Risiko – Recht – Verantwortung, 2006; Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung. Zur Verwendung ökonomischer Kriterien im Risikoverwaltungsrecht, 2007; Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, S. 76 ff.; Pitschas, Maßstäbe des Verwaltungshandelns, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, § 42 Rn. 175 ff. m.w. N.; Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik. Moderne Technologien im Spiegel des Verwaltungsrechts, passim. 637 Siehe dazu mit weiteren Nachweisen insb. Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 12 Rn. 28 ff.; besonders pointiert zuletzt Pawlik, Der Terrorist will nicht resozialisiert werden, FAZ v. 25.2.2008, Nr. 47, S. 40, der für ein „Präventionsrecht mit kriegsrechtlichen Elementen“ plädiert!? 638 Siehe dazu Engel/Halfmann/Schulte (Hrsg.), Wissen – Nichtwissen – Unsicheres Wissen, 2002. 639 Grundlegend insoweit Japp, Struktureffekte öffentlicher Risikokommunikation auf Regulierungssysteme. Zur Funktion von Nichtwissen im BSE-Konflikt, ebd., S. 35, 43 ff.; ders., Die Beobachtung von Nichtwissen, Soziale Systeme 3 (1997), 289 ff.; Luhmann, Ökologie des Nichtwissens, in: ders., Beobachtungen der Moderne, 1992, S. 149 ff.

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dere Bedeutung zu. Dies vor allem auch deshalb, weil sich, je mehr Wissen generiert wird, umso mehr Nichtwissen in Gestalt wissensoperativer „blinder Flecken“ einstellt.640 Mit der kognitiven Operation der Wissensgenerierung wird daher in einem radikalen Sinne der Horizont möglichen Nichtwissens mitgezogen. Noch deutlicher und noch grundsätzlicher heißt dies: Keine Generierung von Wissen ohne gleichzeitige Generierung von Nichtwissen!641 Und noch folgenreicher: Auf die Beobachtung von Nichtwissen kommt es an!642 Dabei ist zwischen spezifischem und unspezifischem Nichtwissen zu unterscheiden.643 Spezifisches Nichtwissen ist das Ergebnis der Relationierung mehrdeutiger Schadensereignisse (z. B. für den Bereich der Gentechnologie: Kontextstörungen bei rekombinierten Genen, physiologische Veränderungen transgener Organismen, unerwünschter horizontaler oder vertikaler Gentransfer usw.) und (rechtlich) bewerteter Güter (z. B. Gesundheit von Mensch und Tier). Als wissenschaftliches Problem positioniert sich spezifisches Nichtwissen gegenüber sicherem Wissen der Wissenschaft und als Risiko gegenüber unspezifischem Nichtwissen, d.h. der in der Gesellschaft kommunizierten möglichen Katastrophe (z. B. Vogelgrippe-Pandemie, Schweinegrippe-Pandemie, Elektrosmog etc.). Im Gegensatz zu solchen katastrophischen Risikokonstruktionen, die mit kategorischen Vermeidungsimperativen einhergehen, führt spezifisches Nichtwissen zur Risikobewertung und Risikoabwägung im Expertenstreit. Führt an diesem Zusammenhang zwischen der Generierung rechtlich relevanten Risikowissens und der Rationalität der Risikoentscheidung kein Weg vorbei, so muss dies zunächst Konsequenzen für die Herstellung einer Entscheidung unter Ungewissheitsbedingungen haben.644 Zur wesentlichen Entscheidungsgrundlage wird dabei die möglichst weitgehende Aufklärung des Sachverhalts, d.h. der Versuch, die vorhandenen und verfügbaren Erkenntnisquellen breit und umfassend zu erschließen.645 Dazu dienen dem Gesetzgeber vor allem adaptive Mechanismen wie der Verweis auf „unbestimmte Rechtsbegriffe“, z. B. den „Stand der 640

Japp, ebd., S. 46. Denn jede Wissensgenerierung erfolgt unterscheidungsabhängig und ignoriert damit das von der Unterscheidung nicht Erfasste. Natürlich kann daran kommunikativ angeknüpft werden, doch gilt für diese Operation dann dasselbe. Siehe dazu ders., ebd. 642 Siehe dazu auch Maasen, Wissenssoziologie, 1999, S. 52 f.; vgl. aus handlungstheoretischer Perspektive auch Wehling, Ungeahnte Risiken. Das Nichtwissen des Staates – am Beispiel der Umweltpolitik, in: Collin/Horstmann (Hrsg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, 2004, S. 309 ff. 643 Grundlegend zum Folgenden Japp, Die Beobachtung von Nichtwissen, Soziale Systeme 3 (1997), 289 ff. 644 Siehe dazu insb. Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 293 ff.; vgl. auch Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: Scherzberg (Hrsg.), Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfungen, 2006, S. 3 ff. 641

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Technik“,646 die „allgemein anerkannten Regeln der Technik“,647 den „Stand von Wissenschaft und Technik“ 648 oder den „Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse.“ 649 Riskante Entscheidungen werden damit vertagt, eigene Handlungsspielräume offen gehalten und Fehlentscheidungen nach Möglichkeit verhindert.650 In diesen Zusammenhang gehören auch gesetzlich geregelte Aufzeichnungs-, Berichts-, Informations- und Beobachtungsrechte und -pflichten, die der Verwaltung für ihre Risikoentscheidungen die notwendigen Wissensgrundlagen vermitteln sollen.651 Des Weiteren sind hier Alternativen-, Substitutions- und Verträglichkeitsprüfungen zu nennen, denen es um Risikominimierung geht, wenn wirtschaftlich und sozial akzeptable Alternativen existieren.652 Und schließlich kommt Vertretbarkeitsprüfungen ein besonderer Stellenwert zu. Sie setzen die Erkenntnis um, dass völlige Risikolosigkeit per se nicht zu erreichen ist und konfligierende Schutzgüter zueinander in Relation gesetzt werden müssen. Vornehmlich finden sich solche Vertretbarkeitsprüfungen – in unterschiedlicher Ausprägung – im Pflanzenschutz-, Arzneimittel-, Gentechnik- und Chemikalienrecht.653 Sämtliche Instrumente zur sachgerechten Herstellung einer Entscheidung unter Ungewissheit lassen eine deutliche, auch schon in anderem Zusammenhang654 festgestellte Tendenz zur Prozeduralisierung des (Risiko-)Rechts erkennen.655 645 Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327, 337 f.; Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 44 ff. 646 Siehe z. B. § 3 Abs. 6 BImSchG. 647 Siehe z. B. § 62 Abs. 2 WHG. 648 Siehe z. B. § 4 Abs. 2 Nr. 3 AtG. 649 Siehe z. B. § 7 Abs. 2 S. 2 TSchG. 650 Scherzberg, Wissen, Nichtwissen und Ungewissheit im Recht, in: Engel/Halfmann/Schulte (Hrsg.), Wissen, Nichtwissen, Unsicheres Wissen, 2002, S. 113 ff. 651 Siehe dazu im Einzelnen Kahl, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, DVBl. 2003, 1105, 1114 ff.; Spiecker gen. Döhmann/Collin (Hrsg.), Generierung und Transfer staatlichen Wissens im System des Verwaltungsrechts, 2008, passim. 652 Beispielhaft dafür sind die Konzepte der europäischen Umweltverträglichkeitsprüfung sowie Alternativen- bzw. Bedürfnisprüfungen im europäischen Chemikalienrecht. 653 Siehe dazu m.w. N. Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 254 ff.; grundsätzlich auch Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 327, 348 f. 654 Siehe dazu oben § 3. 655 Appel, Methodik des Umgangs mit Ungewissheit, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 327, 355 f. m.w. N. in Fn. 96; vgl. auch Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 43 ff., 46, der aber – im Anschluss an Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177 ff. – weitergehend „intuitive, impressionistische bzw. heuristische Entscheidungsprozesse“ anmahnt, die „Intuition, Begabung und Finderglück er- bzw. herausfordern“!?

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Damit verbindet sich die Hoffnung, Defizite der materiellen Richtigkeitsgewähr zumindest teilweise zu kompensieren und zugleich eine rechtliche Antwort auf die Eröffnung administrativer Prognose- und Abwägungsspielräume zu geben. Auch für die Rechtsprechung bleibt die Prozeduralisierung des Rechts nicht folgenlos, weil die gerichtliche Kontrolle auf eine Überprüfung der Ränder zurückgeschnitten wird, d.h. von der inhaltlichen Richtigkeitsgewähr zur Wahrung verfahrensrechtlicher Standards.656 Rationalitätsanforderungen wird aber nicht nur die Herstellung, sondern auch die Darstellung von Entscheidungen unter Ungewissheitsbedingungen unterworfen. Insoweit geht es vornehmlich um die Begründung von Risikoentscheidungen im Sinne einer Ergebnisrechtfertigung.657 Dabei soll es nicht ausreichen, dass diese in einem angemessenen Verfahren zustande gekommen sind, sondern sie müssen „auch im Kontext vorheriger Entscheidungen reflektiert und argumentativ ,einwandfrei‘ begründet“ worden sein.658 Maßstab dafür sind die Verallgemeinerungsfähigkeit von Argumenten, die Klarheit, Vollständigkeit und Vorurteilslosigkeit der Argumentation sowie die Bereitschaft zur Beachtung abweichender Auffassungen. Macht man mit diesem Ansatz jedoch bis ins Letzte Ernst, so führt er zwangsläufig in die Endlosschleife einer Suche nach Gründen für Gründe.659 Deshalb soll es – auch unter Ungewissheitsbedingungen – eines Abbruchs des Begründungsprozesses (einschließlich der Begründung dieses Abbruchs) bedürfen, um überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen.660 Mit der Begründung staatlicher Entscheidungen als Ausdrucksform ihrer Darstellung ist aber bereits der Bogen dazu geschlagen, dass Systemrationalität zusätzlich die selbstreferentielle Verwendung der System/Umwelt-Differenz im Sinne einer im Rechtssystem erfolgenden Reflexion auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt verlangt. Diese Aufgabe wird in der Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie seit langem von der sog. juristischen Begründungslehre wahrgenommen.661 Begründung als Bestandteil von Argumentation meint ein Handeln, 656 Zur Kontrolldichte im aktuellen Risikoverwaltungsrecht siehe insb. Beutin, ebd., S. 268 ff. 657 Zur juristischen Begründung staatlicher Entscheidungen als solcher siehe insb. Kischel, Die Begründung. Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2003, passim. 658 Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 46 ff. 659 Auch bezeichnet als sog. „infiniter Regress“. Siehe dazu Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177, 203. 660 Zum Teil wird dabei erneut auf die psychischen Bedingungen rationalen Entscheidens (Entscheidungsfähigkeit, Augenmaß, Eigenverantwortung und Intuition des Entscheidungsträgers) verwiesen. Siehe z. B. Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 48; Scherzberg, ebd., S. 202 ff. 661 Siehe dazu insb. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Eine Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1978; Koch/Rüßmann,

§ 7 Rationalität des Rechts

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das darauf gerichtet ist, jemanden von der Berechtigung einer Behauptung und damit von der Richtigkeit des Behaupteten zu überzeugen.662 Als Theorie rationaler juristischer Argumentation sucht man in der Rechtswissenschaft nach Kriterien oder Regeln richtigen juristischen Argumentierens. Dabei wird zwischen internen und externen Rechtfertigungsregeln unterschieden. Erstere umschreiben das, was üblicherweise mit dem Begriff des „juristischen Syllogismus“ bezeichnet wird. Letztere dienen der Begründung der Prämissen, die zur Grundlage interner Rechtfertigungsregeln werden. Insoweit wird zwischen folgenden Argumentformen und Regeln differenziert: solchen der Auslegung (Gesetz), der dogmatischen Argumentation (Dogmatik), der Präjudizienverwertung (Präjudiz), der allgemeinen praktischen Argumentation (Vernunft), der empirischen Argumentation (Empirie) und sog. speziellen juristischen Argumentformen (juristisches Argument). Eine logische Analyse dieser Argumentformen führe dabei zu der Einsicht in die Notwendigkeit und die Möglichkeiten ihrer Verknüpfung im juristischen Diskurs.663 In dieses Konzept fügt sich auch die in jüngster Zeit von der „Neuen Staatsund Verwaltungsrechtswissenschaft“ geführte Diskussion um die Konjunktur „weicher“ dogmatischer Leitbegriffe nahtlos ein.664 Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Erkenntnis, dass sich in der Rechtswissenschaft verstärkt neuartige Leitbegriffe ausbreiten, die nicht an einzelne Gesetzesbegriffe anknüpfen und sich auch nicht als rechtsdogmatische Kategorien herkömmlicher Rechtssystematisierung interpretieren lassen. Neben Begriffen wie der „Organadäquanz“, der „Funktionsfähigkeit“ sowie der „Effizienz“ und „Effektivität“ gehört dazu auch derjenige der „Rationalität“. Aber auch an scheinbar „rein logische“ Kategorien wie die „Einheit“ und „Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“ sei hier zu denken.665 Diese „weichen“ Leitbegriffe sollen auf „sozialwissenschaftliche bzw.

Juristische Begründungslehre, 1982; Neumann, Juristische Argumentationslehre, 1986; ders., Theorie der juristischen Argumentation, in: Brugger/ders./Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 233 ff.; Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung, 1990; Kischel, Die Begründung, 2003; Alexy/Koch/Kuhlen/ Rüßmann, Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003; Neumann, Recht als Struktur und Argumentation, 2008; vgl. aber auch von Mettenheim, Recht und Rationalität, 1984; Garrn, Zur Rationalität rechtlicher Entscheidungen, 1986; siehe ferner Seibert, Über Begründungen entscheiden, in: Christensen/Pieroth (Hrsg.), Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller, 2008, S. 235 ff. 662 Zum Folgenden siehe insb. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 259 ff.; ders., Argumentation, Argumentationstheorie, Lexikon des Rechts (LdR) 2/ 30, S. 1. 663 Ders., Theorie der juristischen Argumentation, S. 285. 664 Siehe dazu mit Blick auf die „Rationalität des Rechts“ insb. Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber, in: Kirchhof/ Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staat und Steuern. FS Klaus Vogel, 2007, S. 311, 312 ff. 665 Zu weiteren Beispielen siehe ders., ebd., S. 314 f.

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2. Kap.: Ausdifferenzierung des Rechtssystems

wirklichkeitswissenschaftliche oder jedenfalls ,nichtjuristische‘ methodische Begriffe oder Kategorien“ verweisen und als „Schnittstellen zur Fruchtbarmachung z. B. ökonomischer oder sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse“ zu begreifen sein, indem sie sich nämlich realwissenschaftlichen Aussagen im Recht öffnen.666 Der Zweifel am „Neuen“ dieser staats- und verwaltungsrechtswissenschaftlichen Argumentationsfiguren schwingt aber gleich mit, wenn darauf hingewiesen wird, dass es letztlich eine Frage der Zweckmäßigkeit sei, ob man sie nun der „Rechtsdogmatik in einem weiten Sinne“ zuordne oder nicht.667 Und tatsächlich ist die Relevanz der sog. empirischen Argumentation (z. B. Sätze über natur- oder sozialwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten) von der klassischen juristischen Begründungslehre stets betont und zugleich auf die Problematik der Einbeziehung empirischen Wissens in die juristische Argumentation, nämlich das Erfordernis interdisziplinärer Kooperation, hingewiesen worden.668 Soviel vielleicht an dieser Stelle zur Halbwertzeit des Neuen in der „Neuen Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft“. Um das „Neue“ geht es naturgemäß auch der „Postmodernen“ Methodenlehre.669 Sie wendet sich ausdrücklich gegen eine „Intellektualisierung der Interpretation“, wie sie die juristische Argumentationstheorie von Alexy und die Diskurstheorie von Habermas kennzeichne. Dadurch, dass die Anwendung von Rechtsnormen mit dem „Postulat einer angemessenen und vollständigen Erfassung aller relevanten Kontexte“ verbunden werde, trete an die Stelle der notwendigen Umweltselektivität jeder Rechtsinterpretation ein Argumentationsverfahren, das keine Grenzen kenne.670 Stattdessen plädiert die „Postmoderne“ Methodenlehre dafür, Charakter und Funktion der Rechtsinterpretation im Sinne einer „netzwerkartigen Systembildung“ neu zu fassen.671 Diese verknüpfe die Rechtsakte horizontal zu einem „rekursiv und nachbarschaftlich operierenden System“. Dabei komme es darauf an, jede Rechtsinterpretation mit den gemeinsamen, die gesellschaftlichen Funktionssysteme übergreifenden Wissensbeständen (dem in der Kommunikation mitlaufenden, mittransportierten und immer nur aktuell abrufbaren Wissen) zu relationieren672 und den „Eigenwert“ des gemeinsamen Wissens als Selektionskriterium für fremdreferentielles Interpretieren zu nut666

Ders., ebd., S. 316. Ders., ebd., dem zufolge sie aber jedenfalls über die herkömmliche rechtsdogmatische Begriffsbildung hinausgehen und einen „unterschwelligen Wandel rechtswissenschaftlicher Systembildung hin zu einer rezeptionsoffenen (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft“ anzeigen sollen. 668 Siehe nur Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 285 ff. 669 Siehe dazu insb. Vesting, Rechtstheorie, S. 119 ff. 670 Ders., ebd., S. 126 Fn. 152. 671 Siehe dazu ders., ebd., S. 120 f., insb. S. 121 „,überlappendes Netzwerk‘ von Rechtsargumenten“ m.w. N. in Fn. 129. 672 Insoweit wird von Vesting, ebd., S. 123 auf zahlreiche Arbeiten Teubners verwiesen. 667

§ 7 Rationalität des Rechts

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zen.673 Damit unterscheide sich die „Postmoderne“ Methodenlehre maßgeblich von der klassischen juristischen Hermeneutik, weil sich die Rechtsinterpretation nicht mehr an der Kontinuität eines historischen Vorverständnisses orientiere, sondern sich auf die „dynamische Stabilität der gemeinsamen Wissensbestände der modernen bzw. postmodernen Gesellschaft“ einstelle.674 Dies muss nach Ansicht der „Postmodernen“ Methodenlehre auch Konsequenzen für die Rationalität der Rechtsinterpretation haben. Während sich die klassische juristische Hermeneutik nämlich nach wie vor an einer Erhöhung von Rationalitätsansprüchen orientiere, sei ganz im Gegenteil eine „Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen“ in dem Sinne erforderlich, dass es nicht mehr um die „Erkenntnis“ richtigen (gerechten) Rechts gehe, sondern „nur“ noch um die „Plausibilität von Begründungen“ (insb. bei Gerichtsentscheidungen). Deshalb müsse die Rechtsinterpretation zum Beispiel auch den Verwendungskontext der auszulegenden Regeln, die praktischen Erfahrungen und Zwänge, den Einfluss der im Sachbereich agierenden Rechtssubjekte und ihre Handlungsstrategien thematisieren.675 Demzufolge könne immer nur von einer beschränkten Rationalität des juristischen Entscheidens die Rede sein. Ob diskursiv-prozedurale Rationalität im Sinne juristischer Begründungslehre oder „bounded rationality“ im Sinne „Postmoderner“ Methodenlehre: Beide Ansätze verdeutlichen, dass sich das Rechtssystem nicht auf den re-entry der System/Umwelt-Differenz mit Hilfe von Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung beschränkt, sondern über Rechtsphilosophie/Rechtstheorie auf die Einheit der Differenz reflektiert und damit Anspruch auf Rationalität erheben darf.

673 Diesbezüglich wird von Vesting, ebd., S. 124 ff. auf die Forschungen Ladeurs (insb. Ladeur/Augsberg, Auslegungsparadoxien. Zur Theorie und Praxis juristischer Interpretation, Rechtstheorie 36 (2005), 143 ff.) Bezug genommen. 674 Vesting, ebd., S. 125. 675 Ders., ebd., S. 126 bezieht sich insoweit auf das Konzept der „bounded rationality“ von Herbert A. Simon. Ebenso Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 20 Rn. 40; ders., Rechtswissenschaftliche Beobachtung des Rechtssystems: Einheitsbildung und Differenzerzeugung, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 233, 248 f.; vgl. auch Beutin, Die Rationalität der Risikoentscheidung, S. 64 f. m.w. N.; Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: W. Krebs (Hrsg.), Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177, 204 f. mit Blick auf Entscheidungen unter Ungewissheitsbedingungen; ferner van Aaken, „Rational Choice“ in der Rechtswissenschaft. Zum Stellenwert der ökonomischen Theorie im Recht, 2003, S. 82 m. Fn. 318; kritisch zum Konzept der „bounded rationality“ insb. Stichweh, Systemtheorie und Rational Choice Theorie, ZSoz 24 (1995), 395, 399 f.

3. Kapitel

Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems § 8 Recht und Politik Nicht Einheit sondern Differenz kennzeichnet das Verhältnis von Recht und Politik. Dies gilt zumindest aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie verpflichtet weiß. Funktional geht es dem Recht um die Stabilisierung normativer Erwartungen durch Regulierung ihrer zeitlichen, sachlichen und sozialen Generalisierung, während der Politik die Aufgabe der Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen zukommt. Als Leistung des Rechts sind Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung zu nennen, für die Politik hingegen die Umsetzung bzw. der Vollzug kollektiv bindender Entscheidungen. Das Medium des Rechts ist das Recht bzw. die Rechtsprechung, dasjenige der Politik die Macht. Das Recht gehorcht dem Recht/Unrecht-Code, die Politik dem Macht/Ohnmacht- bzw. Regierung/Opposition-Code. Und die Programme des Rechts sind Konditionalprogramme in Form von Gesetz und Verordnung, während die Politik von Regierungs- und Parteiprogrammen bestimmt wird. Die Selbstbeschreibung des Rechts weicht davon allerdings in einer weit zurückreichenden Tradition deutlich ab. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dominiert hier die Vorstellung einer Einheit von Politik und Recht.676 Maßgeblich motiviert ist diese Annahme eines einheitlichen politischrechtlichen Systems einerseits durch einen zugleich politischen und juristischen Staatsbegriff,677 zum anderen durch den „Klammerbegriff“ des Rechtsstaats, der als Schema dient, um zwei gegenläufige Perspektiven als Einheit zu begreifen: „die juristische Fesselung der politischen Gewalt und die politische Instrumentierung des Rechts.“ 678 In ihm wird das Verständnis des Zusammenhangs von Poli676

Siehe dazu ausführlich Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 407 ff. Zum Begriff des Staates Conze, Staat, Souveränität, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 4–25; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 16 ff.; Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rn. 46 ff.; Koselleck, ,Staat im Zeitalter‘ revolutionärer Bewegung, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, S. 25 ff.; Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 214 ff.; Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 55 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 106 ff. 678 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 422. 677

§ 8 Recht und Politik

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tik und Recht gleichermaßen zusammengefasst und überwunden.679 Dieses als ein „wechselseitig-parasitäres Verhältnis von Politik und Recht“ zu deuten, erscheint vor dem Hintergrund, dass sich die Politik als Nutznießer der Verwaltung der Recht/Unrecht-Differenz im Recht erweist und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das Recht maßgeblich davon profitiert, durch die Politik die Macht/Ohnmacht-Differenz (den Frieden) gesichert zu wissen, ebenso angemessen wie zutreffend.680 Und auch die Selbstbeschreibung des Rechtssystems durch die gegenwärtige Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik vermittelt jedenfalls auf den ersten Blick keinen davon grundsätzlich abweichenden Befund. Wenn Rechtsstaatlichkeit als „Entscheidung für eine spezifische Struktur staatlichen und auch gesellschaftlichen Lebens: für eine Gestaltung nach Maßgabe des Rechts“ 681 oder gar als „Grad der Überformung von Macht durch Recht“ 682 verstanden wird, könnte die „Klammer“, die Politik und Recht im Begriff des Rechtsstaates umspannt, eigentlich schon kaum deutlicher sein. In besonderer Weise aber bündeln sich die Einheitserwartungen an Recht und Politik im Begriffsverständnis von Staat und Staatlichkeit.683 Man ist sich dabei durchaus bewusst, mit jedem Versuch einer begrifflichen Klärung des Staates in den Kontext zweier anderer, ihrerseits problematischer Konzepte zu geraten, nämlich genau derjenigen von Politik und Recht. Ob der Staat nun mit Carl Schmitt als ungeregelte politische Macht gegenüber der Rechtsordnung begriffen oder mit Hans Kelsen die Bindungen und die Konstituierung von Politik durch das Recht betont werden, rückt dann nur noch in den Rang „theoretischer Stellvertreterdebatten“ 684 um das Verhältnis von Recht und Politik.685 679 Zum Rechtsstaatsbegriff Di Fabio, Das Recht offener Staaten, S. 50 ff.; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, passim; Möllers, Staat als Argument, S. 64 ff., 273 ff.; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 26 Rn. 10 ff.; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, passim; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, S. 258 ff. 680 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 426. 681 Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 26 Rn. 21. 682 von Schlieffen, Rechtsstaat, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 1926, 1933. 683 Grundlegend dazu Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, 2007, S. 175 ff. „Ordnungsideen für die Überstaatlichkeit“; zumindest merkwürdig anmutend in diesem Zusammenhang Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 486: „,Staatlichkeit‘ . . . als Abstraktion und juristisches Konstrukt zu entwerfen, verkennt die Realität geistiger Zusammenhänge in der politischen Welt . . . Staatlichkeit . . . ist die Realität der Ideen (und ist damit zugleich eine Realität des Geistes) in der politischen Sphäre.“ Lässt hier Carl Schmitt grüßen!? 684 Siehe dazu instruktiv Möllers, Staat als Argument, S. 12 ff. am Beispiel von G. Jellinek, H. Kelsen, C. Schmitt, H. Heller und R. Smend. 685 Ders., Staat, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2272, 2273, dem zufolge sich der Zusammenhang von Recht und

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Im Grundsatz werden Recht und Politik als zwei Kreise gedacht, die idealtypisch deckungsgleich sind. Der in der Gesellschaft gebildete politische Wille wird durch die staatliche Organisation in das Recht übersetzt. Dabei wird die strukturelle Verbindung von Recht und Politik gerade in der Übertragung des politischen Willens auf den Staat und seinem verfassungskonformen Handeln deutlich.686 Recht und Politik beziehen sich auf einen konkreten Herrschaftsraum, wobei ihre normativen Aussagen so aufeinander abgestimmt sein sollen, „dass ein möglichst widerspruchsfreies, dem verfassungsrechtlichen Maßstab genügendes Rechtssystem den politischen Prozess diszipliniert und jeder Rechtssatz durch einen politischen Willensakt legitimiert wird.“ 687 Und da ist sie dann wieder: die tradierte Einheit von Recht und Politik. In diesem idealisierten, aus seinem historischen Entstehungszusammenhang heraus entwickelten Erklärungsmodell des Verhältnisses von Recht und Politik werden allerdings in jüngster Zeit verstärkt Erosionserscheinungen sichtbar. So wird darauf hingewiesen, dass es nicht mehr der beobachtbaren Lebenswirklichkeit entspreche und den zeitlichen Wandel unberücksichtigt lasse. Innere und äußere Faktoren legten es nahe, das Erklärungsmodell zu korrigieren oder gar durch ein neues zu ersetzen.688 Dieser zunächst etwas diffuse Befund (Lebenswirklichkeit, zeitlicher Wandel, innere und äußere Faktoren!?) lässt sich in zweifacher Hinsicht konkretisieren: zum einen ist hier der Wandel von Staat und Staatlichkeit zu nennen, zum anderen wird man – durchaus in einem Zusammenhang damit stehend – das Phänomen zunehmender Rechtsetzung jenseits des Nationalstaates in den Blick nehmen müssen. Beide Tendenzen stellen Einheitserwartungen an Recht und Politik grundsätzlich in Frage und lassen die Suche nach einem anderen Erklärungsmuster für das Verhältnis der beiden sozialen Systeme ebenso nahe liegend wie geboten erscheinen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen müssen einige grundlegende Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung sein.689 Für den Staat des politischen Systems heißt dies vor dem Hintergrund der Weltgesellschaft als weltweiten Kommunikationssystems690 seine „Staatlichkeit im Wandel“ 691 zu begreifen. Politik nur so erfassen lässt, dass im Staat zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt und in bestimmten Gebieten politische Prozesse und Rechtserzeugung institutionell zusammenfinden. 686 Zur Einheitsbildung kraft Verfassung siehe insb. Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 52 ff. 687 Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 178 m.w. N. 688 Ders., ebd., S. 181 ff. 689 Siehe dazu auch Albert/Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, 2007, passim. 690 Luhmann, Der Staat des politischen Systems, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, 1998, S. 345, 373 ff. 691 Siehe dazu die Forschungen im SFB 597 der Universität Bremen, insb. Leibfried/ Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, passim.

§ 8 Recht und Politik

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Zwar steht weder der Untergang des Staates bevor noch lebt er einfach munter weiter.692 Doch verändern Globalisierung und Privatisierung seine Staatlichkeit in umfassender und grundlegender Weise.693 Globalisierungsphänomene lassen sich dabei in praktisch allen Politikfeldern ausmachen. Handel und Finanzwesen694 sind davon genauso betroffen wie Gesundheitsschutz und Telekommunikation.695 Für den Umweltschutz und die Landwirtschaft gilt selbstverständlich nichts anderes. Und sogar die Bildungspolitik – das ehemals „kleinstaaterische“ Politikfeld par excellence – bleibt davon nicht unberührt, wie die Pisa-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eindrucksvoll beweist. Privatisierungsphänomene treten genauso umfassend und sichtbar hinzu. Zu den wichtigsten Privatisierungsfeldern werden mit Grund Gefahrenabwehr (insb. Öffentliche Sicherheit, Flugsicherheit, Umwelt- und Produktüberwachung, Wirtschaftsüberwachung), Infrastruktur und Versorgung (insb. Bundesfernstraßen, Streitkräftebedarf, Schul- und Verwaltungsgebäude, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Wohnungswesen) sowie Vollzug und Vollstreckung (insb. Straf- und Maßregelvollzug, Rechtsdurchsetzung, Gerichtsvollzieherwesen) gerechnet.696 In der Konsequenz kommt es zu einer „Zerfaserung von Staatlichkeit“,697 d.h. im Umfeld des Staates etablieren sich nicht-staatliche Träger von Staatlichkeit. So gibt es im Gefolge der Globalisierung mittlerweile kaum noch einen Regelungsbereich, der nicht von internationalen Organisationen nachhaltig beeinflusst würde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier nur genannt: die Vereinten 692 Siehe dazu insb. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41, 59 ff., 68. 693 Siehe in diesem Zusammenhang unter den Gesichtspunkten von Internationalisierung und Gubernalisierung auch Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 181 ff.; vgl. auch Frankenberg, Staat als Begriff und Vorstellung, Rg 15 (2009), 145 ff., 167 f.; Zimmermann (Hrsg.), Globalisierung und Entstaatlichung des Rechts. Teilband II Nichstaatliches Privatrecht: Geltung und Genese, 2008, passim. 694 Siehe nur Joerges, Freier Handel mit riskanten Produkten? Die Erosion nationalstaatlichen und die Emergenz transnationalen Regierens, in: Leibfried/Zürn (Hrsg.), Transformationen des Staates?, 2006, S. 151 ff.; Genschel/Uhl, Der Steuerstaat und die Globalisierung, ebd., S. 92 ff. 695 Siehe nur Rothgang/Cacace/Grimmeisen/Helmert/Wendt, Wandel von Staatlichkeit in den Gesundheitssystemen von OECD-Ländern, ebd., S. 309 ff.; Walter, Globales Netz und globale Politik? Politische Antworten auf Globalisierung am Beispiel des Internet, 2005. 696 In diesem Sinne Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gestaltungsmöglichkeiten, Grenzen, Regelungsbedarf, Gutachten D für den 67. Deutschen Juristentag, 2008, D 9, S. 28 ff. 697 Genschel/Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, TranState Working Papers No. 62, 2007; Hurrelmann/Leibfried/Martens/Mayer (Hrsg.), Zerfasert der Nationalstaat? Die Internationalisierung politischer Verantwortung, 2008, passim.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Nationen (UNO), der internationale Strafgerichtshof (ICC), die Welthandelsorganisation (WTO), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), ICANN für die Internetregulierung usw. usw. Und die Privatisierung mit ihren Idealtypen der Organisationsprivatisierung, der Aufgabenprivatisierung, der funktionalen Privatisierung und der Vermögensprivatisierung hat dazu geführt, dass zunehmend private Unternehmen und Organisationen in die Implementation kollektiv-verbindlicher Entscheidungen eingebunden werden. Projektbezogene oder institutionalisierte PPP (Public-Private-Partnership),698 Zertifizierungs- und Akkreditierungsagenturen,699 Toll-Collect für die Erhebung der Straßenmaut und DIN, CEN, CENELEC als private Unternehmen im Bereich der technischen Normung seien dabei wiederum nur beispielhaft erwähnt. In allen Fällen aber gibt es zur Letztverantwortung des Staates keine Alternative. Der Staat bleibt zentral,700 bisweilen werden staatliche Entscheidungen sogar erst durch die Globalisierung erforderlich.701 Globalisierung und Gubernalisierung702 des Staates stellen den Staatenwillen als zentrale Instanz nämlich nicht in Frage. Er bleibt vielmehr nach wie vor der Mittelpunkt der rechtlichen Verpflichtung eines politischen Gemeinwesens. So bedürfen z. B. gem. Art 59 Abs. 2 Satz 1 GG Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes. Der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl und die Implementation durch die zuständigen nationalen rechtsetzenden Organe werden folglich nicht entbehrlich. Dies geht letztlich sogar so weit, dass der Staat in seiner Entscheidung – zumindest theoretisch – völ-

698 Z. B. „Herkules“ als das von Siemens, IBM und der Bundeswehr gegründete voluminöseste Gemeinschaftsunternehmen Europas zur Modernisierung der IT bei der Bundeswehr. 699 Z. B. „ASIIN“ als in der Organisationsform eines gemeinnützigen Vereins geführte Fachakkreditierungsagentur, der „Akkreditierungsrat“ als Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland, „DAU“ als Deutsche Akkreditierungs- und Zulassungsgesellschaft für Umweltgutachten mbH. 700 Siehe nur Benz, Der moderne Staat, 2. Aufl., 2008, S. 320 ff.; Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 15; Knauff, Der Gewährleistungsstaat, 2004, passim; Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 26; Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, passim; ders., Der Gewährleistungsstaat, 2005, passim; Voigt, Den Staat denken, 2007, passim; vgl. aber auch Gusy, Brauchen wir eine juristische Staatslehre?, JöR N. F. 55 (2007), 41 ff.; Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, passim; Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 116 ff.; Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 183. 701 Siehe dazu insb, Mayntz, Die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten der Globalisierung, in: Heidbrink/Hirsch (Hrsg.), Staat ohne Verantwortung? Zum Wandel der Aufgaben von Staat und Politik, 2007, S. 267, 269 f. 702 Grundlegend dazu von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, passim.

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kerrechtlich frei ist, den unterzeichneten Vertrag in Kraft zu setzen oder doch zu verwerfen.703 Dass sich an der Zentralität des Staates auch im Zeichen von Globalisierung, Gubernalisierung und Privatisierung nichts ändert, bedeutet hingegen nicht, dass deshalb auch das Rollenverständnis des Staates keinem Wandel unterworfen ist. Mit Grund wird nämlich darauf hingewiesen, dass seine Zentralität immer weniger auf der „monopolartigen Verfügung über Entscheidungs- und Organisationskompetenz“ beruhe, sondern immer mehr auf seiner „besonderen Fähigkeit, die disparaten, sektoral und funktional beschränkten Entscheidungs- und Organisationsakte internationaler und privater Institutionen zu integrieren, zu koordinieren und in Wirkung zu setzen.“ Der Staat mutiere „vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager“. Immer weniger gelinge ihm allein, aber er allein sei in der Lage, das Herrschaftsgeflecht zusammen zu halten.704 Eine Tendenz übrigens, die zwar flächendeckend Geltung beanspruchen dürfe, zwischenstaatliche Unterschiede aber deshalb keineswegs negiere.705 Diese Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung korrelieren mit einer spezifischen Selbstbeschreibung des Rechtssystems. An ihr sind vornehmlich die Rechtspraxis, die Rechtsdogmatik und die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie beteiligt. Sie haben sich auf unterschiedlichem Abstraktionsgrad und unter je spezifischer Distanznahme in der Perspektive von den dargestellten Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung irritieren lassen. Für die Rechtspraxis sind lex mercatoria, lex sportiva, lex technica und neuerdings sogar lex maritima längst keine Fremdwörter mehr. Private Rechtsetzung jenseits des Nationalstaates ist vielmehr zur Normalität geworden und gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.706 Besonders hervorzuheben ist dabei zweifellos die noch an späterer Stelle ausführlich zu behandelnde lex mercatoria. Bei ihr 703 Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 183 f., 184 ff., der allerdings mit Grund darauf hinweist, dass eine Entwicklung, welche die Bindung an eine politische Entscheidung und ihre Umsetzung in Recht vom Staatenwillen abkopple oder auf die abstrakte Zustimmung zu einer Primärordnung reduziere und deren Organe zur autonomen Setzung konkreter Entscheidungen auf der Sekundärebene ermächtige (z. B. im Rahmen der EG), eine „systemische Herausforderung für das Modell des Verfassungsstaates“ darstelle. 704 Genschel/Zangl, Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates, S. 8 ff. 705 Dies., ebd., S. 9 f. 706 Zum Folgenden siehe insb. Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, 2009, passim; Röthel, Lex mercatoria, lex sportiva, lex technica – Private Rechtsetzung jenseits des Nationalstaates?, JZ 2007, 755 ff. m.w. N.; zur lex maritima siehe Maurer/Beckers, Lex Maritima, in: Callies/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 811 ff.; vgl. ferner Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006, S. 66 ff.; Zangl/Zürn (Hrsg.), Verrechtlichung – Baustein für Global Governance?, 2004.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

handelt es sich um Phänomene der Regelbildung im internationalen Handelsverkehr, z. B. in Gestalt branchenspezifischer Standardverträge und Handelsklauseln (sog. Incoterms), Verfahrensordnungen oder Schiedssprüche internationaler Schiedszentren. Man wird sie deshalb mit Grund als originäre Entwicklung der internationalen Vertrags-, Geschäfts- und Schiedspraxis verstehen dürfen.707 Aber nicht nur die Globalisierung hat die Rechtspraxis erreicht. Gleiches gilt vielmehr auch für die Privatisierung. Insoweit ist vor allem auf die zunehmende Ausbildung eines Gewährleistungsverwaltungsrechts (bisweilen auch Privatisierungsfolgerecht genannt) hinzuweisen.708 Bestandteile desselben finden sich zunächst in den verschiedensten Sektoren des Fachverwaltungsrechts (Telekommunikations- und Energierecht, Umweltordnungsrecht, Baurecht, Polizeirecht etc.), aber auch im allgemeinen Vergaberecht und im Gesellschaftsrecht. Mit dem Gewährleistungsverwaltungsrecht wird dem Staat einerseits die Einbeziehung Privater in die Aufgabenerfüllung ermöglicht, andererseits vermag er sich nicht der Bindung durch Verfassung und Gesetz zu entziehen.709 In besonderer Weise hat sich – gleichsam als Ausdruck ihres „Kerngeschäfts“ – die Rechtsdogmatik mit den dargestellten Beobachtungen und Beschreibungen der Rechtspraxis befasst. Was die private Rechtsetzung jenseits des Nationalstaates anbelangt, so sind hier vor allem die Formulating Agencies und die internationale Schiedsgerichtsbarkeitsdogmatik zu nennen.710 Die Formulating Agencies leisten dabei mit ihrer schriftlichen Fixierung der Lex Mercatoria-Regeln einen wesentlichen Beitrag zur Standardisierung der Vertragsgestaltung im internationalen Wirtschaftsverkehr. Ihre ausgearbeiteten Kodifikationswerke werden der internationalen Praxis der Vertragsgestaltung zugrunde gelegt. So handelt es sich bei den Incoterms 707 In diesem Sinne Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995, S. 187; vgl. dazu aus rechtstheoretischer Perspektive auch von Bogdandy/Dellavalle, Die Lex mercatoria der Systemtheorie, in: Callies/Fischer-Lescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 695 ff. 708 Aus dem kaum noch überschaubaren Schrifttum zum Gewährleistungsstaat und seinem Gewährleistungsverwaltungsrecht siehe hier nur Franzius, Der „Gewährleistungsstaat“ – ein neues Leitbild für den sich wandelnden Staat?, Der Staat 42 (2003), 493 ff.; ders., Gewährleistung im Recht, 2009; Schuppert, Der Gewährleistungsstaat – ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2004; Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004; Schoch, Gewährleistungsverwaltung: Stärkung der Privatrechtsgesellschaft?, NVwZ 2008, 241 ff.; Knauff, Gewährleistungsstaatlichkeit in Krisenzeiten: Der Gewährleistungsstaat in der Krise?, DÖV 2009, 581 ff.; Ladeur, Der Staat der „Gesellschaft der Netzwerke“. Zur Notwendigkeit der Fortentwicklung des Paradigmas des „Gewährleistungsstaates“, Der Staat 48 (2009), 163 ff. 709 Burgi, Rechtsregime, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 18 Rn. 79 f. 710 Siehe dazu insb. Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 25 ff.; zur Bedeutung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit siehe insb. Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit. Kommentar, 7. Aufl. 2005, S. 345 ff.

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z. B. um ein Klauselwerk, das wichtige und gängige Handelsbräuche notiert. Demgegenüber bezieht sich das UNCITRAL Model Law direkt auf die Harmonisierung der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit. Beide Kodifikationen sind in die Unidroit-Prinzipien eingeflossen, die das wohl umfassendste Werk weltweiter Vertragsregeln darstellen und das gesamte Spektrum internationaler Wirtschafts- und Handelsverträge abdecken. Was die Privatisierung öffentlicher Aufgaben anbelangt, so wird der Beitrag der Rechtsdogmatik besonders sichtbar. Mit dem Gewährleistungsverwaltungsrecht ist nämlich fast zeitgleich unter den Stichworten der „Privatverfahren“ und des „Privatverfahrensrechts“ (auch „Verfahrensprivatisierungsfolgenrecht“ genannt) eine eigenständige Dogmatik des Gewährleistungsverwaltungsrechts entstanden.711 Ihr geht es um die systematische Ausformung eines spezifischen, privatisierte Verfahren und Verfahrensteile administrativ umhegenden Gewährleistungsverwaltungsrechts.712 Besondere Bedeutung kommt dabei dem normativen Zusammenspiel staatlicher Regulierung und gesellschaftlicher Selbstregulierung zu. Es erwächst zunehmend in die neueste Erscheinungsform der Gewährleistungsverwaltung, die sog. Regulierungsverwaltung.713 Gleichsam paradigmatisch entfaltet sich diese gegenwärtig im Bereich der Versorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen und leitungsgebundener Energie, ohne jedoch auf die sog. Infrastrukturverwaltung begrenzt zu sein, wie die Leistungserbringung im Sozialrecht eindrucksvoll beweist.714 Vor allem aber werden diese Beobachtungen und Beschreibungen der Rechtspraxis und der Rechtsdogmatik in ganz unterschiedlicher Weise durch die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie überformt. Dabei kennt die Vielfalt der Beobachtungsund Beschreibungsansätze kaum noch Grenzen, so dass es schwer fällt, den Überblick zu behalten. Deshalb wird in der nachfolgenden Darstellung eine Beschränkung auf die besonders wirkungsmächtig gewordenen Erklärungsansätze im rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Schrifttum erfolgen. Vollständigkeit kann und soll nicht erstrebt werden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, die zentralen Leitideen der theoretischen Reflexion über die Identität des Rechtssystems herauszuarbeiten. 711 Grundlegend Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), 266, 310 ff.; siehe auch Appel, Privatverfahren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2008, § 32 passim. 712 Appel, ebd., § 32 Rn. 73 m.w. N. 713 Zum Standort der Regulierungsverwaltung in den Entwicklungslinien der juristischen Staatstheorie siehe Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 82 ff. 714 Schulze-Fielitz, Grundmodi der Aufgabenwahrnehmung, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 12 Rn. 57 ff.; zur Regulierungsverwaltung und ihrer Dogmatik siehe insb. Eifert, Regulierungsstrategien, ebd., § 19 passim; zur Leistungserbringung im Sozialrecht ders., ebd., Rn. 115; siehe nunmehr aber vor allem Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

In Anlehnung an das Theoriedesign der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie soll dabei zwischen „starken“ und „schwachen“ Theorien unterschieden werden.715 Diese Differenzierung darf aber nicht in der Weise missverstanden werden, dass „starken“ Theorien im Gegensatz zu „schwachen“ Theorien notwendigerweise eine besondere argumentative Überzeugungskraft zukommt. Das genaue Gegenteil kann durchaus der Fall sein. „Starke“ Theorien zeichnen sich im vorliegend verwendeten Sinne vielmehr dadurch aus, dass sie einen progressiven und umfassenden – in diesem Sinne universellen – Ansatz verfolgen, während „schwache“ Theorien eher konservativ und differenziert – in diesem Sinne partikular – ausgerichtet sind.716 Man könnte vielleicht auch plakativ formulieren, dass „starke“ Theorien anspruchs- und voraussetzungsvoll, „schwache“ Theorien hingegen eher traditionell717 und zurückhaltend auftreten. Zu den „starken“ Theorien zählt zweifellos das Konzept der transnationalen Staatenbildung, das den Staat gerade durch Staatlichkeit zu überwinden, den Teufel gleichsam mit dem Beelzebub zu vertreiben sucht. Dabei wird nicht mehr von der Nation oder dem Volk ausgegangen, das sich als souveräner Staat organisiert, sondern ein gemeinsames Menschheitsinteresse findet seine Repräsentation in einer weltbürgerlichen Ordnung, der Weltrepublik.718 Bricht man das Konzept der transnationalen Staatenbildung auf eine regionale Ebene herunter, so konkretisiert es sich in der Idee der Gründung eines Europäischen Bundesstaates, der in der Europäischen Gemeinschaft konzeptionell angelegt sei und über den Integrationsgedanken aus der Europäischen Union entwickelt werden könne.719 Im Gegensatz zum Konzept der transnationalen Staatenbildung denkt der Konstitutionalismus die neue Ordnung – ebenfalls im Sinne einer „starken“ Theorie – vom Verfassungsbegriff her.720 Dabei kann sich die Konstitutionalisierung entweder auf regionale und internationale Organisationen (Vereinte Nationen, Vertrags715 Siehe in der Rechtsphilosophie etwa Paulson, Zwei radikale Objektivierungsprogramme in der Rechtslehre Hans Kelsens, in: ders./Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 191, 219 f.; ders., Ralf Dreiers Kelsen, in Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, 2006, S. 159, 163 m. Fn. 13. 716 Zwischen „Universalität“ und „Partikularität“ der Denkrichtungen unterscheidend Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 187 ff., 220 ff. 717 Zum Merkmal des Traditionellen partikularer Denkrichtungen ders., ebd., S. 220. 718 Aus philosophischer Perspektive grundlegend Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2. Aufl., 2002, passim. 719 Zu den Grundgedanken und der Kritik dieses Konzepts siehe Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 189 ff. 720 Zum Zusammenhang von Konstitutionalisierung und Verfassung grundlegend Wyduckel, Verfassung und Konstitutionalisierung – Zur Reichweite des Verfassungsbegriffs im Konstitutionalisierungsprozeß, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat. FS Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 893 ff.; vgl. aber auch Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: Eberle/Ibler/Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den

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parteien der UN-Charta, Staaten Europas, Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten) beziehen, deren primäres Recht dann als Verfassung interpretiert wird. Oder sie stellt das Recht selbst und die sich nach funktionellen Kriterien über die verschiedenen Ebenen hoheitlicher Gewalt hinweg ausdifferenzierenden Teilrechtsordnungen (Menschenrechtsschutz, internationales Strafrecht, Umweltschutz, internationales Wirtschaftsrecht) ins Zentrum ihres Ansatzes, so dass sich letztlich Teilverfassungen in der funktional differenzierten Weltgesellschaft bilden.721 Aktuelle Entwicklungen im gerade bereits erwähnten Bereich des transnationalen Wirtschaftsrechts haben eine weitere „starke“ Theorie auf den Plan gerufen, die – wie noch zu zeigen sein wird – eine gewisse Nähebeziehung zum Konzept des Konstitutionalismus nicht zu verhehlen vermag, letztlich aber noch radikaler ansetzt. Gemeint ist die kühne Modellvorstellung eines Rechtspluralismus. Sein Normenset ist nicht auf staatliche und politische Setzungsakte reduziert. Ein „neues Öffentliches Recht jenseits des Staates“ müsse vielmehr ein „Kollisionsrecht konfligierender Rechtsordnungen“ sein, dem es um die „Ausarbeitung einer ,Meta-Dogmatik des Rechtspluralismus‘“ gehe, „die Abstimmungsregeln zwischen den raum- und funktionsbezogenen ,Rechtskreisen‘“ entwerfe.722 Die neuen Phänomene ließen sich nicht mehr vom Staat aus entwickeln. Es gehe um Netzwerke, „um prinzipiell gleich geordnete Rechtsordnungen mit eigenen Traditionen und Infrastrukturen, die wie die Olympischen Ringe ineinander hängen und sich partiell überlappen.“ 723 Deshalb soll am Ende auch unter ausdrücklicher Anknüpfung an erste Versuche in der Rechtspraxis und Rechtsdogmatik (Transnationales Copyright, Patentschutz auf Medikamente, Lex Constructionis, Transnationales Strafrecht, Lex Financiaria, Transnationales Cybercrime) der Entwurf einer „normativen Netzwerktheorie globaler Rechtsregime“ stehen.724 Herausforderungen der Gegenwart. FS Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, 2002, S. 191 ff. 721 Zu den Grundgedanken und der Kritik dieses Konzepts siehe Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 195 ff. 722 Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), 41, 66, 67 m. Fn. 88. 723 Ders., ebd., 64. 724 Zum Rechtspluralismus siehe insb. Teubner, Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, RJ 15 (1996), 255 ff.; ders., Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), 1 ff.; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen. Zur Fragmentierung des globalen Rechts, 2006, S. 63 ff.; dies., Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Rechtsregime statt etatistischer Rechtseinheit, in: Albert/Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, 2007, S. 37 ff.; Berman, Globaler Rechtspluralismus, in: Kötter/Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, S. 41 ff.; Fischer-Lescano/Viellechner, Globaler Rechtspluralismus, APuZ 2010, 20 ff.; vgl. auch Herberg, Innenansichten des Weltrechts. Methodologische Überlegungen zur aktuellen Rechtspluralismusdebatte, in: Callies/ders./Wielsch/

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Konsequenterweise ist dann auch an die „Verfassung jenseits des Nationalstaats“ zu denken.725 So wird die Vermutung geäußert, dass sich die Positivierung konstitutioneller Normen im globalen Maßstab auf unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren ausdehne, die parallel zu politischen Verfassungsnormen zivilgesellschaftliche Verfassungsnormen erzeugen. Es handele sich dabei um den „Realtrend“ einer „globalen Konstitutionalisierung ohne Staat“. Er gipfelt in der These: „Die Verfassung der Weltgesellschaft verwirklicht sich nicht exklusiv in den Stellvertreter-Institutionen der internationalen Politik, sie kann aber auch nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Globalverfassung stattfinden, sondern sie entsteht inkrementell in der Konstitutionalisierung einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen.“ 726

Dieser im Kern optimistischen Variante einer aufgeklärten globalen Zivilgesellschaft727 ist allerdings entgegengehalten worden, dass sie nichts anderes sei, als „die ins Rechtliche übersetzte Vision von nicht mehr nationalstaatlich oder imperial abgesteckten Machtsphären, sondern von einem Mit- und Nebeneinander verschiedener normativer ,Kulturen‘.“ 728 Letztlich sei dies der Weg zurück zu einer „erneuerten juristischen ,Kulturkreislehre‘ “.729

Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 739 ff.; Fischer-Lescano, Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, 2005, S. 117 ff.; kritisch zum Konzept des Rechtspluralismus Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, 2009, passim; Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 210 ff.; zu den Verbindungslinien zwischen dem Rechtspluralismus und der Habermasschen Diskurstheorie siehe insb. Habermas, Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, 2005, S. 324 ff.; ders., Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik, in: Niesen/Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, 2007, S. 406 ff. und besonders erhellend Fischer-Lescano, Kritische Systemtheorie Frankfurter Schule, in: Callies/ders./Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 49 ff. 725 Siehe dazu aus verfassungsrechtsdogmatischer Perspektive Kirchhof, Verfassunggebung jenseits des Verfassungsstaates?, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 769 ff.; Wahl, Verfassungsdenken jenseits des Staates, in: Appel/Hermes (Hrsg.), Mensch – Staat – Umwelt, 2008, S. 135 ff. 726 Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), 1, 6. 727 In diesem Sinne Stolleis, Vormodernes und Postmodernes Recht, Merkur 62 (2008), 425, 428. 728 Ders., ebd.; kritisch auch Vesting, Politische Verfassung? Der moderne (liberale) Verfassungsbegriff und seine systemtheoretische Rekonstruktion, in: Callies/FischerLescano/Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 609, 620 ff. 729 Stolleis, Vormodernes und Postmodernes Recht, Merkur 62 (2008), 425, 428; zur Renaissance solcher „Kulturkreislehren“ und der „Kulturwissenschaften“ Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 121 m.w. N.; siehe dazu aber auch Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, passim.

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Vom Konstitutionalismus über den Rechtspluralismus lässt sich schließlich die Brücke zu einer letzten „starken“ Theorie schlagen, dem Governance-Konzept.730 Mit der Pluralisierung der Teilrechtsordnungen korreliert eine Pluralisierung der relevanten Akteure. Staaten und internationale Organisationen werden deshalb zwar nicht bedeutungslos, dafür treten aber weitere „player“, z. B. Unternehmen und Konzerne, Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen, hinzu. „Regieren jenseits des Nationalstaates“ 731 bzw. „Regieren ohne Regierung“ wird zur charakteristischen Erscheinungsform dieses aus der Politikwissenschaft stammenden Konzepts; Regierungsform soll die verantwortungsvolle Kooperation im Netzwerk sein.732 Methodisch definiert als sektorenübergreifende und interaktionistische Steuerungstheorie733 fällt Teilen der Staats- und Verwaltungsrechtslehre der Anschluss ans Governance-Konzept leicht. So versteht sich die sog. Neue Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft734 dezidiert als Steuerungswissenschaft.735 Ausgehend von „Realbereichsanalysen“ werden die realen Folgen einer Maßnahme bei der Rechtsetzung und Rechtsanwendung (Wirkungs- und Folgenorientierung) berücksichtigt. Dies setze die Bereitschaft zur intra-, multi-, trans- und interdisziplinären Arbeit voraus, wobei ein „differenziert-integrativer Ansatz“ zu wählen sei. Insoweit bedürfe es der „Entwicklung geeigneter ,Verkehrsregeln‘, die den Wissenstransfer zwischen der normativ-dogmatischen Verwaltungsrechtswissenschaft und den Nachbarwissenschaften“ im Sinne einer „transdisziplinären Metatheorie“ strukturierten. Zur Koordinierung der verschiedenen Fachdiskurse wird dabei in ausgewählten Referenzgebieten mit Schlüsselbegriffen und Leitbildern gearbeitet.736 Trotzdem, vielleicht aber auch gerade deshalb,737 bleiben Resonanz und 730 Grundlegend Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 395 ff.; ders., Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 16 Rn. 20 ff.; zu weiteren Nachweisen siehe Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 68 ff.; vgl. ferner v. Bogdandy/Dann/Goldmann, Völkerrecht als Öffentliches Recht: Konturen eines rechtlichen Rahmens für Global Governance, Der Staat 49 (2010), 23 ff.; vgl. aber auch Rüdiger, Staatswissenschaften oder Governance-Theorie? Ein literaturkritischer Blick auf Genese und Zukunft von Staatlichkeit, in: Weber (Hrsg.), Räte und Beamte in der Frühen Neuzeit. Lehren und Schriften, JEV 19 (2007), S. 309 ff. 731 Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, 1998, passim. 732 Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 213 ff.; zur Genese des Governance-Konzepts in der Politikwissenschaft siehe Benz, Der moderne Staat, S. 199 m.w. N. in Fn. 50. 733 Schuppert, Staatswissenschaft, S. 407 ff. 734 Systematisch entfaltet von Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 1 m. Fn. 16, 17. 735 Ders., ebd., § 1 Rn. 17 ff. m.w. N. 736 Ders., ebd., § 1 Rn. 37 ff., 40 ff.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Rezeption des Governance-Konzepts in der Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft als Ganzer aber eher zurückhaltend. Dem breit gefächerten Spektrum „starker“ Theorien – seien es nun Konzepte transnationaler Staatenbildung, eines neuen Konstitutionalismus, des Rechtspluralismus oder einer „Good Governance“ – tritt eine „schwache“ Theorie – das Konzept offener Staatlichkeit – entgegen. Auf der Grundlage der „Seinsgebundenheit moderner Verfassungsstaatlichkeit“ entwickelt sie ein Modell partikularer Staatlichkeit in der internationalen Zusammenarbeit.738 Von seiner Wirkungsmächtigkeit her kann das Modell offener Staatlichkeit aber gar nicht überschätzt werden, da es zumindest mittelbar Eingang in die Rechtspraxis, nämlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, gefunden hat.739 Hinter dem Modell offener Staatlichkeit740 steht die Grundentscheidung eines Staates, sich als Herrschaftsverband einer als internationale Gemeinschaft verstandenen Staatengesellschaft rechtlich einzuordnen.741 Er begreift sich als Staat unter Staaten, mit der Konsequenz, dass seine Entscheidungen die Interessen anderer Staaten zu tangieren und damit zugleich Rückwirkungen auf den binnenstaatlichen Willensbildungsprozess zu entfalten vermögen. Dabei bleibt die Geltung überstaatlichen Rechts zwar nach wie vor an den staatlichen Rechtsetzungswillen in Form des Bindungswillens gekoppelt, der Staat bleibt eigenständig handelndes Subjekt und seine Öffnung zur internationalen Gemeinschaft ist Selbstöffnung, aber er akzeptiert die für sich und seine Bürger verbindliche Aufgabenerfüllung durch überstaatliche Gremien. Das Modell offener Staatlichkeit ist deshalb durch Offenheit und Geschlossenheit zugleich gekennzeichnet. Die Offenheit soll aber Grenzen kennen, die sich daraus ableiten lassen, dass der Staat eine komplementäre Ordnung zur überstaatlichen Ordnungsebene bildet.742 Weil der Staat zum Ausgleich von individueller Freiheit und Gemeinschaftsbin737 Auf den unklaren Bedeutungsgehalt und die Beliebigkeit der Verwendung des Governance-Begriffs hinweisend ders., ebd., § 1 Rn. 70. 738 Grundlegend Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, passim; ders., Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001; ders., Verfassungsstaat und Weltrecht, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 399 ff.; im Anschluss daran Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 220 ff.; vgl. auch Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren. Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft, 2010, passim. 739 BVerfG, NJW 2009, 2267 ff. – Vertrag von Lissabon – (Berichterstatter: Richter des BVerfG Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio). 740 Dazu und zum Folgenden aus jüngster Zeit Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 221 ff. 741 Zur verfassungsrechtsdogmatischen Herleitung dieses Gedankens siehe bereits Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, passim. 742 Zum Gedanken der Komplementarität siehe insb. Di Fabio, Verfassungsstaat und Weltrecht, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 399, 411 ff., 415 ff.

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dung verpflichtet ist, muss er diese Anforderung auch auf die überstaatliche Ebene übertragen. Sie konkretisiert sich in der Mitwirkung und Teilhabe nationaler Verfassungsorgane an überstaatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen.743 Dass sich dieses Konzept offener Staatlichkeit in der Rechtspraxis, und zwar – wie gesagt – in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, niedergeschlagen hat, wird nur denjenigen verwundern, der keinerlei Zusammenhang zwischen der personellen Besetzung des Gerichts und seinen sachlich-inhaltlichen Entscheidungen glaubt ausmachen zu können. Das Gegenteil ist der Fall! So geht das Bundesverfassungsgericht744 davon aus, dass das Grundgesetz offen ist für das Ziel, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Die deutsche Verfassung sei auf „Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung“ für das friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration gerichtet. Allerdings bedeuteten weder die gleichberechtigte Integration in die Europäische Union noch die Einfügung in friedenserhaltende Systeme wie die Vereinten Nationen eine Unterwerfung unter fremde Mächte. Vielmehr handele es sich um freiwillige, gegenseitige und gleichberechtigte Bindung, die den Frieden sichere und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten durch gemeinsames koordiniertes Handeln stärke. Souveräne Staatlichkeit stehe dabei für einen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung.745 Diese „moderne Deutung von Souveränität“ 746 gipfelt schließlich in der Feststellung: „Der Staat ist weder Mythos noch Selbstzweck, sondern die historisch gewachsene, global anerkannte Organisationsform einer handlungsfähigen politischen Gemeinschaft.“ 747 In ihm obliegt der Bundesregierung und den gesetzgebenden Körperschaften (Bundestag und Bundesrat) eine besondere „Integrationsverantwortung“, die innerstaatlich den Anforderungen des Grundgesetzes (insb. Art. 23 Abs. 1 GG) gerecht werden muss.748 Noch deutlicher lässt sich das im Konzept offener Staatlichkeit angelegte Spannungsverhältnis von Offenheit einerseits und Geschlossenheit andererseits wohl kaum auf den Punkt bringen. Vor dem Hintergrund dieser Selbstbeschreibung des Verhältnisses von Recht und Politik durch das Rechtssystem, insbesondere durch Rechtspraxis, Rechts743 Zu den Grenzen offener Staatlichkeit siehe Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, S. 243 ff.; vgl. ferner Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: von Bogdandy/Cruz Villalon/ders. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, 2008, § 26 Rn. 83 ff.; Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, ebd., § 14 Rn. 14 ff.; 50 ff. 744 Zum Folgenden BVerfG, NJW 2009, 2267, 2270 ff. 745 Vgl. Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, Viertes Kapitel: Freiheit und Selbstbestimmung in der Überstaatlichkeit (!!). 746 Ders., Der Mensch im Mittelpunkt, FAZ v. 16.7.09, Nr. 162, S. 6. 747 BVerfG, NJW 2009, 2267, 2270. 748 BVerfG, ebd., 2272.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

dogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie, stellt sich aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts die Frage, ob die Beziehungen von Recht und Politik auch weiterhin sachadäquat mit der Theoriestelle der strukturellen Kopplung beschrieben werden können. Einer soziologischen Theorie des Rechts muss nämlich ihre Anwendung auf konkrete Entwicklungen der modernen Gesellschaft ein zentrales Anliegen sein, um damit anderes zu sehen, als das ohne die Theorie möglich wäre. Dies fordert sie aber auch dazu heraus, für alle Fragen über das geeignete Theorieinstrumentarium zu verfügen. Mit jeder neuen Beschreibung werden nun jedoch fast zwangsläufig Theoriestellen markiert, an denen die Theorie der „systemimmanenten“ Weiterentwicklung oder Ergänzung bedarf. In diesem Sinne wollen auch die nachfolgenden Überlegungen verstanden werden: nämlich als Theoriereflektion mit der Konsequenz, vor dem Hintergrund der Selbstbeschreibung des Rechtssystems die Theoriestellen zu markieren, an denen die Präzision der Beschreibung noch erhöht werden kann, ohne den Boden der Luhmannschen Systemtheorie zu verlassen. Für das Verständnis der funktional differenzierten Gesellschaft ist die Theoriestelle der strukturellen Kopplung von zentraler Bedeutung. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis der Funktionssysteme Recht und Politik. Allgemein bedeutet strukturelle Kopplung, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt“. Die unterschiedlichen Formen struktureller Kopplung „beschränken mithin und erleichtern dadurch Einflüsse der Umwelt auf das System.“ 749 Für die beteiligten Funktionssysteme stellen sie sich damit als Lösung ihres Selbstreferenzproblems dar, da sie Verlässlichkeiten in der Umwelt erzeugen, ohne die operative Schließung der Systeme in Frage zu stellen. So entsteht ein komplexes Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit der Funktionssysteme.750 Staat und Verfassung haben sich vor diesem Hintergrund mitnichten als ephemere Erscheinungen erwiesen; sie bleiben vielmehr zentral. Damit wird nicht verkannt, dass sich das Verständnis von Staatlichkeit im Wandel befindet und sich die Verfassung als Leitbild und Grundordnung des Staates seit geraumer Zeit ganz unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen (z. B. Globale Zivilverfassungen) ausgesetzt sieht. Staat und Verfassung können auch weiterhin im Grundsatz als strukturelle Kopplung von Recht und Politik begriffen werden, allerdings ist es möglicherweise erforderlich, die Theoriestelle der strukturellen Kopplung durch eine vertiefte Betrachtung des Verhältnisses von Organisation und struktureller Kopplung weiterzuentwickeln. Dies schon deshalb, weil die Selbstbeschreibung des Rechtssystems – wie soeben erläutert – hierzu unverkennbaren Anlass gibt, aber auch deswegen, weil uns Niklas Luhmann dieses 749

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 441 (Hervorhebungen i.O.). Zur Theoriestelle der strukturellen Kopplung siehe grundsätzlich, ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92 ff., 776 ff. 750

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Problem – sehr weitsichtig – in seiner posthum erschienenen Monographie „Organisation und Entscheidung“ gleichsam als Forschungsauftrag hinterlassen hat: „Wissenschaft und Wirtschaft finden sich durch die technische und ökonomische Umsetzbarkeit neuen Wissens gekoppelt, Wirtschaftssystem und Krankenbehandlungssystem durch das Krankschreiben von Patienten in Arztpraxen; das Rechtssystem und das Wirtschaftssystem durch die beiderseitige Benutzung von Eigentum und Vertrag, Rechtssystem und politisches System durch die Institution der Verfassung. Wie weit Organisationen an diesen strukturellen Kopplungen beteiligt sind, müsste von Fall zu Fall entschieden werden.“ 751

Diesem Forschungsauftrag soll im Folgenden auf der Grundlage eines Verständnisses von Staat und Verfassung als strukturelle Kopplung von Recht und Politik im Einzelnen nachgegangen werden. Im Laufe des 16. Jahrhunderts gerät die stratifikatorische Ordnung der Gesellschaft unter Druck. Gestützt auf die semantische Vorstellung der Einheit von Recht, Politik und Gesellschaft entsteht der Staat als Träger der strukturellen Kopplung von politischem System und Rechtssystem. Wirklich wahrzunehmen vermag er diese Funktion aber erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der evolutionären Errungenschaft des Entparadoxierungskonzepts der Verfassung.752 Sie beschafft politische Lösungen für das Selbstreferenzproblem des Rechts und rechtliche Lösungen für das Selbstreferenzproblem der Politik.753 Für das Rechtssystem ist die Verfassung bis heute zentrales Leitbild und oberste rechtliche Grundordnung des Staates,754 für das politische System ist sie ein Instrument der Politik, sei es instrumentellen oder symbolischen politischen Handelns. Die operative Geschlossenheit von Recht und Politik garantiert dabei die Kompatibilität dieser beiden Funktionen der Verfassung, weil der Zustand des jeweiligen Funktionssystems nur über seine eigenen Operationen Veränderungen unterworfen ist. Andererseits nimmt die wechselseitige Irritabilität von Recht und Politik zu.755 Das Rechtssystem erhält mehr Möglichkeiten, politische Entscheidungen in Rechtsform zu verarbeiten, d.h. politische Maßnahmen zum Ausgangspunkt systeminterner, eigener Operationen zu machen. Und der Politik eröffnen sich verstärkt Möglichkeiten, das Recht zur Politikumsetzung zu benutzen, d.h. mit eigenen kommunikativen Operationen an juristische Entscheidungen (z. B. des Ge-

751

Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 397. Siehe dazu ders., Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176 ff., 185. 753 Dazu und zum Folgenden ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 470 ff., 478 ff.; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 390 ff. 754 Eindrucksvoll entfaltet bei Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HdbStaatsR II, 3. Aufl., 2004, § 15. 755 Zur wechselseitigen Irritabilität von Recht und Politik unter der Verfassung siehe Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176, 204 mit dem Hinweis, dass daraus die berühmt-berüchtigten „Fälle“ des Rechtssystems entstehen. 752

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setzgebers oder der Rechtsprechung) anzuknüpfen. Recht und Politik entwerfen über den „Ausschließungs-/Einschließungseffekt des Kopplungsmechanismus“ ihre eigene Geschichte, die eben nur aufgrund der Kopplung zu erklären ist.756 Im verfassungsgeprägten Staat treffen sich demnach laufend Recht und Politik. Allerdings geschieht dies in einer Weise, welche die Unterscheidbarkeit der gekoppelten Funktionssysteme nicht tangiert. Oder um es in einem Bild noch einfacher auszudrücken: das Verhältnis von Recht und Politik ist „nicht das von siamesischen Zwillingen, die sich nur zusammen bewegen können, sondern eher das von Billiardkugeln, die einander zwar häufig gezielt anstoßen, aber eben deshalb dann getrennte Wege rollen.“ 757 Aber lässt sich dieses Verständnis von Staat und Verfassung auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufrechterhalten oder besteht im Hinblick auf die Theoriestelle der strukturellen Kopplung vielleicht doch Präzisierungsbedarf? Zunächst einmal wird man Bedeutung und Funktion von Staat und Verfassung ausgehend von einem Verständnis der Gesellschaft als Weltgesellschaft begreifen müssen. Damit gewinnen wir für die Frage nach der Bedeutung und Funktion von Staat und Verfassung zwei Differenzierungsansätze: einerseits die funktionale Ausdifferenzierung des weltpolitischen Systems als Subsystem der Weltgesellschaft, andererseits seine interne Ausdifferenzierung in National- bzw. Territorialstaaten. Zugleich findet damit ein Perspektivenwechsel in dem Sinne statt, dass nicht Staaten das politische und rechtliche System der Weltgesellschaft konditionieren (z. B. durch internationale Verträge), sondern die weltgesellschaftliche Gestalt der Funktionssysteme konditioniert ihre Organisationen. National- bzw. Territorialstaaten erscheinen dann in vielerlei Hinsicht als „Interdependenzunterbrecher für weltweit sich vollziehende funktionsspezifische Kommunikationen.“ 758 Allerdings wird man Ausdifferenzierung und interne Differenzierung von Funktionssystemen nicht auf das Entstehen von National- bzw. Territorialstaaten verengen dürfen. Sie erscheinen vielmehr als Resultat einer, aber nicht einer einzigen Differenzierungslogik. Nur bestimmte evolutionäre Voraussetzungen haben sie die Gestalt eines Systems von Nationalstaaten annehmen lassen.759 Empirisch lässt sich nämlich ein durchaus differenzierter Befund feststellen. Die Globalisierung von Politik und Wirtschaft hat nicht-nationalstaatliche Organisationen, su-

756 Unter Bezugnahme auf Humberto Maturana spricht Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 495; ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 391; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 862 insoweit von „structural drift“ bzw. „koordinierten Strukturentwicklungen“. 757 Ders., Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176, 204. 758 Halfmann, Nationalstaat und Recht der Weltgesellschaft, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 279, 296; zur Interdependenzproblematik siehe auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 223 f. 759 Dazu eingehend Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176 ff.

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pranationale Organisationen (z. B. die Europäische Union) oder auch die United Nations Organization verstärkt ins Blickfeld öffentlicher Wahrnehmung treten lassen. Dass sie auf Staatenverträge zurückgehen, eine territoriale Basis besitzen und sich in mancherlei Hinsicht nicht dem staatlichen Recht zu entziehen vermögen, ändert nichts daran, ihnen ein politisches Eigenleben mit kollektiven Bindungswirkungen jenseits der Signatarstaaten zusprechen zu dürfen. Was ihre interorganisatorischen Beziehungen und die damit verbundenen Rechtsetzungen anbelangt, sind sie nämlich staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen. Allerdings darf auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass ihr Eigenleben Rückwirkungen auf die Legitimationsbasis solchen Rechts entfaltet. Wenn die staatliche Autorität der Rechtsetzung nämlich ganz maßgeblich von der spezifisch legitimatorischen Leistung einer Verfassung abhängt, den Staat mit der Autorität der Rechtsetzung zu versehen, dann muss Recht, das sich nicht aus staatlichen Quellen speist, gewisse Legitimationsdefizite hinnehmen.760 Alles in allem lässt sich jedoch festhalten: an der Rechtsetzung und Rechtsanwendung in der Weltgesellschaft sind nicht mehr nur Staaten und ihre Organisationen (Parlamente, Gerichte) beteiligt. Großen Anteil daran haben vermehrt auch nicht-staatliche Organisationen, die unter dem Globalisierungsdruck von Politik und Wirtschaft entstanden sind. Vor diesem Hintergrund geht unsere bereits angedeutete Vermutung dahin, dass gerade Organisationen (auch außerhalb des Staates) eine besondere Rolle bei der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen, insbesondere von Recht und Politik, spielen könnten. Genauer gesagt ist damit der bisher kaum ausgearbeitete Zusammenhang der Systemebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft angesprochen.761 Dabei wird man sich möglicherweise von dem Gedanken lösen müssen, dass es stets nur um Beziehungen zwischen Funktionssystemen geht. In den Blick sollten vielmehr auch die Beziehungen zwischen Organisationen und Funktionssystemen sowie zwischen Organisationen genommen werden. Auf welche Weise Organisationen aber zur strukturellen Kopplung von Funktionssystemen beitragen, ist nach wie vor weitgehend ungeklärt. Die häufiger auftauchenden Formulierungen Niklas Luhmanns, strukturelle Kopplung erfolge „über“ Organisation762 und diese biete einen „Treffraum“ für die unterschiedlichsten Funktionssysteme,763 vermögen angesichts ihrer Unbestimmtheit letztlich nicht vollends zufrieden zu stellen.

760 Halfmann, Nationalstaat und Recht der Weltgesellschaft, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 279, 284, 297 f. 761 Zur Interaktion als solcher siehe insb. Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, 1999, passim; zur Organisation als solcher siehe insb. Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, passim; Drepper, Organisationen der Gesellschaft. Gesellschaft und Organisation in der Systemtheorie Niklas Luhmanns, 2003, passim. 762 Siehe z. B. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 396. 763 Ders., ebd., S. 398.

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Nachfolgend soll es deshalb darum gehen, für das schwierige Verhältnis von Recht und Politik in der Weltgesellschaft die Präzision der Beobachtung und Beschreibung ihrer (strukturellen) Kopplung unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung und Funktion von Organisation zu erhöhen. Zunächst einmal: Auch in Organisationen wird kommuniziert, so dass sie nicht außerhalb, sondern innerhalb der Gesellschaft operieren; sie sind mithin Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft.764 Gesellschaft und Organisation unterscheiden sich allerdings maßgeblich darin, wie in ihnen die Autopoiesis des Systems erfolgt, nämlich unter Verwendung unterschiedlicher Arten kommunikativer Grenzziehung, der Realisierung operativer Geschlossenheit und der Strukturbildung. Organisationssysteme bestehen aus Entscheidungen und reproduzieren sich durch die Reproduktion von Entscheidungen. Durch diese Art der Autopoiesis führen sie Differenzen in die Gesellschaft ein, die es ihnen gestatten, zwischen sich selbst und ihrer Umwelt unterscheiden zu können. Gleichzeitig steigern sie damit die Komplexität der Gesellschaft in einer Weise, dass diese von keiner Organisation (auch nicht derjenigen des Staates) als Einheit erfasst und beschrieben werden kann.765 Wieder einmal kommt es nicht auf das Unterschiedene (Gesellschaft und Organisation) sondern auf die Unterscheidung an.766 Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung von Organisationen für die Gesellschaft stellt sich fast zwangsläufig die gleichsam darin eingelagerte Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen Funktionssystemen und Organisationssystemen. Grundlegend ist insoweit die Annahme, dass sich der spezifische Inklusions/Exklusions-Mechanismus der Organisation, d.h. die Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern, nicht auf die Funktionssysteme der Gesellschaft übertragen lässt. So wie die Weltgesellschaft keine Kommunikation auszuschließen vermag, gilt dies auch für ihre Funktionssysteme. Auf diese Weise wird es möglich, in der Gesellschaft Inklusion und Exklusion zugleich anzuwenden (mit Blick auf Organisationssysteme) und nicht anzuwenden (mit Blick auf Funktionssysteme).767 Funktions- und Organisationssysteme stehen darüber hinaus in einem engen, geradezu wechselseitigen Ab- und Unabhängigkeitsverhältnis. Schon historisch wird man davon ausgehen dürfen, dass die funktionale Ausdifferenzierung der 764 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 192 f.; Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 190. 765 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 229 f. 766 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 194 unter Hinweis auf Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 321: eine „funktional differenzierte Gesellschaft reproduziert sich mit Hilfe der Differenz von Gesellschaft und Organisation, also aufgrund dieses Unterschiedes, also nicht als Organisation von Gesellschaft.“ 767 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 232 f.

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Gesellschaft und die Konstitution von Organisationen einen koevolutiven Verlauf genommen haben. Das moderne politische System ist ohne administrative Verwaltungseinheiten, Parteien und Verbände kaum denkbar und ohne die unterschiedlichen Erscheinungsformen moderner Staatsorganisation wäre es wohl auch nicht zur bekannten funktionalen Ausdifferenzierung des politischen Systems gekommen. Allerdings sollte dies nicht zu der Annahme verleiten, dass moderne Politik auch in aller Zukunft stets auf staatliche Organisation angewiesen sein wird. Erstens ist die Zukunft ohnehin ungewiss und zweitens spricht die dargestellte Globalisierung der Politik, die nicht zuletzt vermehrt Non-Governmental Organizations (man denke nur an ICANN768) ins Blickfeld öffentlicher Wahrnehmung hat treten lassen, eine dezidiert andere Sprache.769 Ob nun staatlich oder nicht-staatlich konstituiert, versorgen sich Organisations- und Funktionssysteme der Gesellschaft jedenfalls im Sinne eines wechselseitigen Steigerungsverhältnisses mit Irritationen. In der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist Irritabilität zu steigern allerdings das eine, trotzdem aber Stabilität zu gewährleisten notwendigerweise das andere. Organisation leistet dabei einen wichtigen, über funktionale Differenzierung hinausgehenden Beitrag, um die Gesellschaft mit Ultrastabilität und der Fähigkeit zur Absorption von Irritationen auszustatten.770 Kurzum: „. . . keine funktionale Differenzierung ohne Organisation und keine Organisation ohne funktionale Differenzierung.“ 771 Vor allem aber kommt Organisationen für die zwischen den Funktionssystemen der Gesellschaft zu beobachtenden Leistungsbeziehungen eine zentrale, in ihrer Bedeutung gar nicht zu überschätzende Funktion zu. Leistungsstörungen (Widersprüche und Konflikte) werden nämlich nicht auf der Ebene der Funktionssysteme sichtbar, weil sie selbst nicht miteinander kommunizieren können. Aus solchen Leistungsstörungen resultierende Divergenzen in der Selbst- und Fremdbeschreibung werden vielmehr auf der Ebene von Organisationen formuliert. Sie repräsentieren die einzigen Sozialsysteme, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können. Deshalb müssen in den Funktionssystemen der Gesellschaft Organisationen gebildet werden, denn sie allein vermögen die funktio-

768 Siehe dazu insb. Teubner/Korth, Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft, in: Kötter/Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, S. 137, 142 ff. 769 Bereits in diesem Sinne Kneer, Organisation und Gesellschaft, ZfSoz 30 (2001), 407, 417. 770 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 394 ff., 396. 771 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 197; siehe auch Lieckweg/Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39: „Die Differenzierung von Funktionssystemen eröffnet die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung von Organisationen, die ihrerseits die weitere funktionale Differenzierung trägt.“

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nal ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft mit externer Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit auszustatten.772 Dies wirft die Anschlussfrage auf, an welchen funktionalen Fremdreferenzen Organisationen ihre Kommunikation orientieren. Nicht ohne Grund wird in diesem Zusammenhang immer wieder von Organisationen „des Rechts“, „der Politik“ oder „der Wissenschaft“ gesprochen. Dies vor allem deshalb, weil man zahlreichen Organisationen eine „eindeutige Identität“ 773 im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu einem Funktionssystem der Gesellschaft meint zuweisen zu können (z. B. für Gerichte und Banken). Ausgehend davon, dass Entscheidungen als Elemente von Organisationssystemen durch die Beobachtung von FunktionssystemCodes programmiert werden, ist es sicher zutreffend gewisse „Prioritäten der Programmierung“ zu unterstellen.774 Ohne deshalb exklusive Beziehungen zwischen Funktionssystemen und „ihren“ Organisationen annehmen zu müssen, bilden sich sog. „Primärorientierungen“, die andere gleichzeitig gehandhabte Unterscheidungen zurücktreten lassen.775 Gerade letzteres zeigt aber bereits, dass solche Programmierungen „Mischformen“ darstellen, weil Organisationen eben nicht auf eine einzige Fremdreferenz festzulegen sind.776 Mit Grund wird darum von der „Multireferentialität organisatorischer Kommunikation (Programmierung)“ 777, der „Perspektive multipler Programmierung“ 778 bzw. der „Fähigkeit zur Multireferenz von Organisation“ 779 gesprochen. Organisationen vermögen 772 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 842 f.; ebenso Bora, Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts, in: Schroer/Nassehi (Hrsg.), Soziale Welt. Sonderheft 14 „Der Begriff des Politischen“, 2003, 189, 205; Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 272 f.; a. A. Kneer, Organisation und Gesellschaft, ZfSoz 30 (2001), 407, 418 ff., dessen Annahmen (Notwendigkeit eines „Drittsystems“; Unterscheidung von Organisationssystem und korporativer Person; Kommunikationsfähigkeit nicht auf der Ebene operativer Selbstkonstitution, sondern nur auf der Ebene kommunikativer Selbstbeschreibung) allerdings diffus bleiben. 773 Lieckweg, ebd., 273. 774 Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 170, 171. 775 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 398. 776 Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 170, 171 f. 777 Bora, ebd., 171 ff,; ders., Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts, in: Schroer/Nassehi (Hrsg.), Soziale Welt. Sonderheft 14 „Der Begriff des Politischen“, 2003, 189, 206. 778 Ders., ebd., 172; vgl. auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 200. 779 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 273; dies./Wehrsig, Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 39, 49.

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sich folglich kommunikativ mit unterschiedlicher Gewichtung an verschiedenen Funktionssystemen der Gesellschaft zu orientieren. Beispielhaft seien hier zum einen nur öffentliche Verwaltungen genannt, die sich als Organisationen des Rechts und der Politik begreifen lassen. Je nach dem, ob ihre Entscheidungen über die Beobachtung von Politik oder Recht programmiert werden, operieren sie als Organisationen des politischen Systems oder des Rechtssystems.780 Zum anderen ließen sich in diesem Zusammenhang aber auch die Europäische Union und ihre Regierungsorganisationen nennen. So kommen dem Europäischen Parlament und dem EU-Ministerrat auf der einen Seite wichtige politische Gestaltungs- und Entscheidungsfunktionen zu, die sie als Organisationen des politischen Systems erscheinen lassen, auf der anderen Seite sind sie aber auch zentral am Normsetzungsprozess sekundären Gemeinschaftsrechts (über Rechtsverordnungen und Richtlinien) beteiligt, so dass ihre Einordnung als Organisationen des Rechtssystems ebenso zutreffend sein dürfte. Oder um schließlich ein Beispiel aus einem ganz anderen gesellschaftlichen Funktionssystem zu wählen: Mit der Wahrnehmung ihres am Code Immanenz/Transzendenz orientierten Verkündigungsauftrags erscheint Kirche als „klassische“ Organisation des Religionssystems. Wenn und soweit sie hingegen als Kirche Recht setzt, wie dies etwa besonders eindrucksvoll die Katholische Kirche mit dem Corpus Iuris Canonici (CIC) getan hat, wird man nicht umhin können, sie als Organisation des Rechtssystems zu betrachten. All dies gibt begründeten Anlass, die Fähigkeit von Organisationen zur Multireferenz mit der Möglichkeit des sog. „loose coupling“ von Organisationen zu erklären: „Offenbar können Funktionssysteme sich gerade dank dieses ,louse coupling‘ in Organisationssystemen einnisten – und zwar mehrere Funktionssysteme in ein und derselben Organisation . . . Generell wird man deshalb festhalten können: Jenes Erzeugen und Wegarbeiten von Entscheidungsmöglichkeiten durch Organisation . . . bietet einen Treffraum für die unterschiedlichen Funktionssysteme, ohne dass deren systemeigene Autopoiesis dadurch eingeschränkt würde.“ 781

Was aber meint „loose coupling“ genau und welche Rolle spielt es in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft? „Loose coupling“ steht für eine Funktion der Organisationsbildung innerhalb des Gesellschaftssystems, die auch als Interdependenzunterbrechung bezeichnet wird. In Anlehnung an die klassische kybernetische Theorie und ihre Terminologie (Teilfunktionen, Stufenfunktionen, Ultrastabilität) 782 soll durch Interdepen780 Ausführlich dazu Bora, Öffentliche Verwaltungen zwischen Recht und Politik. Zur Multireferentialität der Programmierung organisatorischer Kommunikationen, in: Tacke (Hrsg.), Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, 2001, S. 170 ff. 781 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 398. 782 Eingehend dazu Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 232 ff. m.w. N.

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denzunterbrechung verhindert werden, dass in Anbetracht einer recht groben gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nach Funktionssystemen letztlich alles mit allem variiert. Nur so sei es möglich, dass komplexe Systeme gleichzeitig ihre Irritabilität steigerten und trotzdem für ausreichende Stabilität gesorgt werde.783 Interdependenzunterbrechungen sind damit „ein notwendiges Erfordernis komplexer dynamischer Systeme . . . Gäbe es sie nicht, käme es zu unkontrollierbaren, nicht lokalisierbaren Irritationen, die durch strukturelle Kopplungen ständig auf das System einwirken.“ 784 Als wesentliche Träger solcher Interdependenzunterbrechungen fungieren in der modernen Gesellschaft785 Organisationen.786 Denn die moderne – funktional ausdifferenzierte – Gesellschaft hat ein solches Komplexitätsniveau erreicht, dass sie zur notwendigen Interdependenzunterbrechung selbst nicht mehr in der Lage ist und diese Funktion deshalb auf eine ganz andere Form von Systembildung, nämlich auf Organisation, übertragen muss. Diese stattet – über funktionale Differenzierung hinausgehend – die Gesellschaft mit Ultrastabilität und der Fähigkeit zur Absorption von Irritationen aus.787 Funktionssystem und Organisation bilden dabei ein durch Abhängigkeit und Unabhängigkeit788 gleichermaßen gekennzeichnetes Beziehungsgeflecht, in dem das Entstehen von Organisationen „zur Differenzierung des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme gegen die Autopoiesis der Organisationen und, mit Hilfe dieser Autopoiesis, zur Differenzierung der Funktionssysteme gegeneinander und gegen ihre jeweilige Umwelt“ beiträgt.789 Organisationen sind aber nicht nur an der Interdependenzunterbrechung, sondern auch an der Interdependenzherstellung gesellschaftlicher Funktionssysteme 783

Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 394. Ders., Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195; siehe auch mit Blick auf das Rechtssystem ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 359 f.: „Entscheidungen in einem Subkomplex dürfen nur in wenigen Hinsichten auf andere durchschlagen, so wie umgekehrt die notwendige Information über das Recht bei allen Entscheidungen in Schranken gehalten werden muss, weil man anders nicht für unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Entscheidungsmöglichkeiten bereithalten könnte.“ 785 Zu tribalen oder nach Schichtung differenzierten Gesellschaften siehe ders., Organisation und Entscheidung, S. 396. 786 Ders., ebd., S. 395; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 845. 787 Ders., Organisation und Entscheidung, S. 396. 788 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 847 spricht von einer augenfälligen strukturellen Diskrepanz: „. . ., dass nämlich die moderne Gesellschaft mehr als jede ihrer Vorgängerinnen auf Organisation angewiesen ist . . .; dass sie aber andererseits weniger als jede Gesellschaft zuvor in ihrer Einheit oder in ihren Teilsystemen als Organisation begriffen werden kann.“ 789 Ders., ebd., S. 846 f.; zur Bedeutung von Organisationen als „Muster der teilsystemischen Binnendifferenzierung“ in den Funktionssystemen der Gesellschaft siehe auch Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 235. 784

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beteiligt. Im Sinne strukturierter Interdependenz wirken sie daran mit, dass trotz operativer Geschlossenheit und klarer Systemgrenzen kommunikative Zusammenhänge in und zwischen Funktionssystemen möglich werden und bleiben.790 Konkret ist damit ihre Beteiligung und Funktion an der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen angesprochen. Sicherlich geht man dabei nicht fehl, wenn die gesellschaftliche Funktion von Organisationen zunächst einmal als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ beschrieben wird.791 Allerdings könnte sich die Trennschärfe in der Beobachtung möglicherweise dadurch optimieren lassen, dass zwischen Organisation als Voraussetzung für strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung unterschieden wird.792 Dem soll im Folgenden am Beispiel des Verhältnisses von Recht und Politik nachgegangen werden. Organisation als Voraussetzung struktureller Kopplung thematisiert dabei aber zunächst noch einen Zusammenhang, der sich nicht speziell auf eine bestimmte strukturelle Kopplung, z. B. die Verfassung im Verhältnis von Recht und Politik, bezieht. Vielmehr geht es um eine allgemeine Voraussetzung der Art, dass strukturelle Kopplungen „in der notwendigen Komplexität und Differenziertheit kaum möglich [wären], wenn es nicht Organisationen gäbe, die Informationen raffen und Kommunikationen bündeln können und so dafür sorgen können, dass die durch strukturelle Kopplungen erzeugte Dauerirritation der Funktionssysteme in anschlussfähige Kommunikation umgesetzt wird.“ 793 Durch ihre Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit, die allen Organisationen eigen ist, ermöglichen sie die „Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeit der Funktionssysteme“ in dem Sinne, dass die Trennung der Funktionssysteme verstärkt und zugleich der Kontakt zur Umwelt hergestellt wird. In dieser von Turbulenz bestimmten Umwelt garantieren Organisationen den Funktionssystemen untereinander stabile und spezifische Beziehungen.794 Während Organisationen grundsätzlich als Voraussetzung für strukturelle Kopplung begriffen werden können, erweisen sich nur wenige selbst als strukturelle Kopplung. Diese verlangt nämlich zunächst, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt.“ Außerdem müssen Organisationen, die selbst strukturelle Kopplung von 790

Drepper, ebd., S. 237. So Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/ Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195. 792 In diesem Sinne der Vorschlag von Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 ff. 793 Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 400. 794 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 f. 791

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Funktionssystemen sein sollen, die Lösung für die Selbstreferenzprobleme der gekoppelten Systeme darstellen. Das bedeutet, dass sie kein „Zwischen“ den Funktionssystemen sein dürfen; vielmehr müssen sie von den gekoppelten Systemen gleichermaßen, aber in ganz spezifischer Weise beansprucht werden. Und das trifft eben wirklich nur auf ganz singuläre Organisationen zu (z. B. Universitäten).795 Richten wir in unserem Zusammenhang, dem Verhältnis von Recht und Politik, nahe liegender Weise an das Verfassungsgericht als Organisation die „Gretchenfrage“, ob es „eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechtssystems“ ermögliche,796 so wird man dies wohl verneinen müssen.797 Die Verfassung selbst wird vielmehr zur Erwartungsstruktur, in der die Erwartungen der Teilsysteme aneinander kondensieren. Das politische System verlässt sich auf die Rechtskonformität der Verfassung, das Rechtssystem auf die demokratische Legitimation derselben. Für das Rechtssystem wird die in der Verfassung geronnene Macht zum Bezugspunkt, für das politische System das in ihr geronnene Recht.798 Und dennoch hat man wohl nicht ohne Grund den Eindruck, dass Verfassungsgerichte an dieser strukturellen Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung nicht völlig unbeteiligt sind. Damit ist die Problematik der Organisation als Vermittler struktureller Kopplung angesprochen. Diese Funktion der Organisation in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist zunächst klar und deutlich von derjenigen als Voraussetzung struktureller Kopplung zu unterscheiden. Im Gegensatz zu ihr geht es bei der Funktion von Organisation als Vermittler struktureller Kopplung nämlich um Organisationen, die sich auf eine ganz bestimmte strukturelle Kopplung von Funktionssystemen und ihre spezifische Umsetzung beziehen oder als Träger dieser konkreten strukturellen Kopplung identifiziert werden können.799 795 Dies., ebd., 276 ff., dort auch zur näheren Begründung, warum Universitäten diesem Anspruch gerecht werden. 796 So auf den Punkt gebracht bei Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176, 202 (Hervorhebungen i.O.). 797 So zu Recht Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 278, die allerdings zu Unrecht Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 398 unterstellt, dies anders zu sehen. Dort heißt es nämlich nur: „Besondere Aufmerksamkeit verdienen schließlich besondere, gleichsam extravagante Organisationen, in denen das Problem der strukturellen Kopplung in konzentrierter Form zum Ausdruck kommt. Das sind Verfassungsgerichte und Zentralbanken – jeweils unter der Voraussetzung politischer Unabhängigkeit . . . Sie bilden . . . die Spitzenorganisation eines der gekoppelten Systeme, nämlich des Rechtssystems bzw. des Wirtschaftssystems.“ Dem lässt sich m. E. gerade nicht entnehmen, dass Luhmann Verfassungsgerichte als strukturelle Kopplungen bezeichnet. 798 Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 240. 799 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 278.

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In diesem Sinne dienen Verfassungsgerichte der Vermittlung struktureller Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung. Sie ermöglichen die Realisierung der strukturellen Kopplung, indem sie diese tragen und innergesellschaftlich als Adressat fungieren. Ein Paradebeispiel dafür ist zweifellos das Bundesverfassungsgericht. Seine Funktion als Vermittler struktureller Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung ist z. B. im sog. Hartz-IV-Urteil besonders deutlich geworden. Auf Aussetzungs- und Vorlagebeschlüsse des Bundessozialgerichts aus den Jahren 2008 und 2009 hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9.2.2010 die sog. Hartz-IV-Vorschriften des Sozialgesetzbuchs für unvereinbar mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG erklärt. Von einer Nichtigerklärung der Vorschriften hat es abgesehen, weil damit ein Zustand geschaffen würde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige.800 Deshalb müsse der Gesetzgeber „ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen Leistungen entsprechend den . . . verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im Gesetz als Leistungsanspruch verankern.“ Wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens sei das Bundesverfassungsgericht aber nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Angesichts der lebensbestimmenden Bedeutung der Regelung für eine sehr große Zahl von Menschen habe der Gesetzgeber die Regelleistung in einem verfassungsgemäßen Verfahren bis zum 31.12.2010 neu festzusetzen.801 In einer ersten Reaktion auf das sog. Hartz-IV-Urteil hat das Bundesarbeitsministerium bereits unter dem 17.2.2010 eine überarbeitete Härtefallregelung der Sozialleistungen für Langzeitarbeitslose vorgelegt.802 Sie ist sogleich auf heftige Kritik der Sozialverbände gestoßen, verbunden mit dem Hinweis, gegebenenfalls erneut den Weg zum Bundesverfassungsgericht zu beschreiten, falls der Gesetzgeber diese in die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Neuregelung integrieren sollte. Schon an diesem einen Beispiel wird deutlich, in welch diffiziler Weise das Bundesverfassungsgericht an der Vermittlung der strukturellen Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung teilhat. Unvereinbarkeitserklärungen der dargestellten Art, mit denen das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Entscheidungsbegründung zum Ausdruck bringt, wie mängelbehaftet eine gesetzliche Regelung ist und wie dringend es daher eines Eingreifens des Gesetzgebers 800 Systemtheoretisch ist dieses Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts übrigens mit der sog. „Autokompetenz“ von Organisationen, insb. von Verfassungsgerichten, zu erklären, siehe dazu Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 399. 801 BVerfG, NJW 2010, 505 ff.; in diesem Sinne auch bereits die sog. „JobcenterEntscheidung“ BVerfG, BVerfGE 119, 331, 382 ff. 802 Schwenn, Bedarfsgerecht berechnet?, FAZ v. 18.2.2010, Nr. 41, S. 2.

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bedarf, dessen notwendige Gesetzesänderungen aber nicht bereits präjudiziert, kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Das Bundesverfassungsgericht zwingt die Politik dazu, ihrer Verfassungskonkretisierungsverantwortung gerecht zu werden, und leistet durch seinen judicial-self-restraint 803 zugleich einen Beitrag zur Stärkung der Legitimität der Verfassungsrechtsprechung.804 Damit gewährleistet es auf der Grundlage der Verfassung als struktureller Kopplung die spezifische Funktionsbalance im Verhältnis von Recht und Politik. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch die immer wieder in der Verfassungsjurisprudenz geltend gemachte Kritik eines Missbrauchs des Bundesverfassungsgerichts durch die Politik und der aus den Reihen der Politik erhobene Vorwurf, das Gericht werde mehr und mehr zum „Ersatzgesetzgeber“ bzw. zum verlängerten Arm der jeweiligen politischen Opposition, als unbegründet entkräften. Legt man nämlich das hier favorisierte Konzept der Multireferentialität von Organisationen zugrunde, so lässt sich mehr und anderes beobachten.805 Natürlich verfügt das Bundesverfassungsgericht als Organisation neben seiner – sicherlich unbestreitbaren – rechtlichen Primärorientierung über ein umfangreiches Spektrum politischer Präferenzkriterien. Gleichzeitig hat sich das Gericht aber in seiner mehr als 50jährigen Entscheidungspraxis – unabhängig von der ebenfalls unbestreitbaren politischen Natur der Stellenbesetzungen806 – immer wieder als politisch unberechenbar erwiesen, und zwar gerade wegen seiner Primärorientierung an juristischer und eben nicht politischer Rationalität. Von daher dürfte es auch nicht zu weit greifen, die besondere politische Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts gerade in seiner rechtlichen Primärorientierung begründet zu sehen. Theoretisch liegt dem die Annahme zugrunde, dass zu den wechselseitigen Systemleistungen im Verhältnis von Recht und Politik zumindest auch die „Externalisierung von Entparadoxierungen“ gehört. In diesem Sinne ermöglicht das Bundesverfassungsgericht der Politik, „juristisch programmierte Entscheidungen als Begründungen (Legitimation) und Limitationen politischer Macht zu lesen. Auf der anderen Seite gilt: in den zu Recht wenigen Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht als „Ersatzgesetzgeber“ rechtliche Akzeptanz findet, stattet es das Recht mit externen entparadoxierenden Strukturvorga803 Heute überwiegend unter dem Gesichtspunkt einer Betonung der funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert. Grundlegend dazu noch immer Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, passim. 804 Vgl. dazu auch bereits am Beispiel der sog. Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1988, 1200 ff. 805 Zum Folgenden Bora, Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts, in: Schroer/Nassehi (Hrsg.), Soziale Welt. Sonderheft 14 „Der Begriff des Politischen“, 2003, 189, 208 f. 806 Siehe dazu besonders anschaulich Müller, Karlsruher Wechsel, FAZ v. 18.2.2010, Nr. 41, S. 10.

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ben aus. Solange deshalb die Primärorientierung des Bundesverfassungsgerichts an juristischer Rationalität erhalten bleibt, besteht kein Grund zur Annahme, dass die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Gerichts drohe.807 Abschließend sei im Kontext unserer Überlegungen zur Funktion von Organisationen bei der Vermittlung und Umsetzung struktureller Kopplungen noch auf einen Gesichtspunkt hingewiesen, dem gerade auch für das Verhältnis von Recht und Politik besondere Bedeutung beizumessen ist. In einem weiteren Sinne lässt sich auch die Funktion von Organisationen, dafür Sorge zu tragen, dass sich strukturelle Kopplungen als weltweit anschlussfähig erweisen, zur Vermittlung struktureller Kopplungen zählen.808 Wenn nämlich Recht und Politik als weltumspannende Systeme zu denken sind, so dass mit Grund von Weltrecht und Weltpolitik die Rede ist, dann hat dies zur Konsequenz, dass die Organisationen, die eine enge Kopplung zwischen den Funktionssystemen herstellen, weltweit anschlussfähig sind. Zur funktionalen Ausdifferenzierung von Weltrecht und Weltpolitik tritt nun allerdings eine Besonderheit, nämlich ihre interne Differenzierung hinzu, und zwar in das, was gemeinhin Territorial- bzw. Nationalstaat genannt wird.809 So zeigt sich etwa am Beispiel der Verfassung, dass es in der Ausgestaltung der strukturellen Kopplung von Recht und Politik regional bedingte Unterschiede geben kann, die ihre Ursache in der starken regionalen Differenzierung des Rechtssystems und des politischen Systems finden. Diese Unterschiede bleiben übrigens auch auf supranationaler Ebene – man denke nur an den zuletzt durch den Lissabon-Vertrag geänderten Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union810 – erhalten. Selbst und erst recht die UN-Charta vermag daran nichts zu ändern. Was allerdings in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Organisation bei der strukturellen Kopplung von Recht und Politik eindrucksvoll zum Ausdruck bringt, zeigt ein einfacher Blick auf die zahlreichen „Vermittler“ im Verhältnis der Funktionssysteme zueinander. Zum Europäischen Parlament und Europäischen Ministerrat gesellen sich zum Beispiel der Europäische Gerichtshof, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Internationale Strafgerichtshof; und diese Aufzählung ist keineswegs abschließend. Resümierend lässt sich deshalb feststellen: Die bereits erwähnten, häufiger auftauchenden Formulierungen Niklas Luhmanns, strukturelle Kopplung erfolge 807 Bora, Politik und Recht. Krisen der Politik und die Leistungsfähigkeit des Rechts, in: Schroer/Nassehi (Hrsg.), Soziale Welt. Sonderheft 14 „Der Begriff des Politischen“, 2003, 189, 209. 808 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 279. 809 Dazu insb. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 222. 810 Siehe dazu insb. Nowak, Die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht auf der Ebene der Europäischen Union, 2007.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

„über“ Organisation,811 ihre Funktion lasse sich als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ beschreiben812 bzw. Organisation biete einen „Treffraum“ für die unterschiedlichsten Funktionssysteme,813 besitzen zusammenfassenden Charakter. Über die Unterscheidung von Organisation als Voraussetzung für strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung lässt sich aber vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen die Trennschärfe der Beobachtung und Beschreibung signifikant erhöhen. Ob sich dieser Befund möglicherweise auch am Beispiel der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft erhärten lässt, wird nicht zuletzt Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen sein.

§ 9 Recht und Wirtschaft Heute nach dem Verhältnis von Recht und Wirtschaft zu fragen, heißt fast zwangsläufig in einem Atemzug mit der Lex Mercatoria konfrontiert zu werden. Noch immer scheinen diesbezügliche Publikationen kein Ende nehmen zu wollen und so mittlerweile ins Unermessliche zu wachsen.814 Die Lex Mercatoria steht dabei gleichsam paradigmatisch für private Normensysteme im transnationalen Recht. Als „selbstgeschaffenes Recht der internationalen Wirtschaft“ oder „transnationales Wirtschaftsrecht“ werden ihr Entwicklungen zugerechnet, die auf ein „anationales Praxisrecht der Weltwirtschaft“ hindeuten sollen.815 Dies konkretisiert sich – wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird – in komplexen international einheitlichen materiellrechtlichen Gestaltungsformen, insb. einer Standardisierung der Vertragsgestaltung, und einer Flucht aus der staatlichen Rechtsprechung in die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit.816 Umfang und Intensität der aktuellen Diskussion über die Lex Mercatoria sollten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich insoweit keineswegs um ein völlig neues Phänomen handelt. Seine Wurzeln reichen vielmehr weit zurück. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass noch immer darum gestritten wird, ob es im Mittelalter – wie vielfach angenommen817 – tatsächlich eine universelle 811

Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 396. Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/ Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195. 813 Ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 398. 814 Siehe dazu unlängst nur Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, 2009, S. 65 ff. m. zahlreichen weiteren Nachweisen; aus rechtswissenschaftlicher Perspektive noch immer grundlegend Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995, passim. 815 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 17; mit Blick auf die Lex Mercatoria dezidiert skeptisch Ipsen, ebd., S. 95, 240 ff., 245 f. 816 Stein, Lex Mercatoria, S. 35. 812

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und autonome Lex Mercatoria gegeben hat.818 Zumindest darf festgehalten werden, dass der Begriff im Jahre 1290 erstmals in England in einer Sammlung von Handelssitten und Handelsbräuchen auftauchte, in der Folgezeit in unregelmäßigen Abständen wiederverwendet wurde und schließlich 1622 als Synonym für ein althergebrachtes Handelsrecht Eingang in die Literatur fand.819 Für die Diskussion der „neuen Lex Mercatoria“ kann es aber letztlich gar keine Rolle spielen, ob es eine solche schon im Mittelalter gegeben hat. Einiges spricht vielmehr dafür, dass wir es auch insoweit vor dem Hintergrund allgemeiner Globalisierungstendenzen in der Gesellschaft, hier des Funktionssystems Wirtschaft, mit dem zu tun haben, was Mary Hesse „redescription“, d.h. die Neubeschreibung von Beschreibungen, nennt.820 Ihnen geht es um das „laufende Transformieren von Notwendigkeit in Kontingenz.“ 821 Damit wird nicht für die Beliebigkeit des „anything goes“ plädiert, sondern „redescription“ erweist sich als autologische und autopoietische Operation.822 Um die Welt (der Wirtschaft) zu erkennen, d.h. sie zu beschreiben, bleibt uns keine andere Wahl als das ständige Neubeschreiben der Wiederbeschreibungen von Beschreibungen. Dass solche Neu- und Wiederbeschreibungen von Beschreibungen zu den charakteristischen Merkmalen moderner Weltbeschreibungen zählen823, dürfte sich damit möglicherweise auch am Beispiel der Lex Mercatoria belegen lassen. Idealtypisch ist die Globalisierung der Wirtschaft durch zwei Prozesse gekennzeichnet: zum einen durch die Auflösung zuvor nationalstaatlich organisierter Ökonomien und/oder zum anderen durch die Entstehung globalisierter Märkte (insb. Konsum- und Finanzmärkte). Eine strukturbestimmende Veränderung in diesem Prozess der Globalisierung stellt die zunehmende Bedeutung multinational operierender Unternehmen dar.824 Darunter werden solche Unternehmen verstanden, die selbst ein globales Netzwerk von Unternehmen sind. Sie vermögen 817

Siehe insoweit insb. Berman, Recht und Revolution, 1995, S. 527 ff. Zur Diskussion um den historischen Hintergrund der Lex Mercatoria siehe Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 66–75 m.w. N.; von Bogdandy/Dellavalle, Die Lex Mercatoria der Systemtheorie, in: Callies/Fischer-Lescano/ Wielsch/Zumbansen (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz. FS Gunther Teubner, 2009, S. 695, 696 ff.; vgl. aber auch instruktiv am Beispiel der sog. Erdbebenklausel Röder, Rechtsbildung im wirtschaftlichen „Weltverkehr“. Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen (1871–1914), 2006, S. 317 ff. 819 Ipsen, ebd., S. 66 m.w. N. 820 Hesse, Models and Analogies in Science, 2. Aufl. 1970, S. 157 ff. 821 Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, 1996, S. 57. 822 Ders., ebd., S. 58 f. 823 Ders., ebd., S. 56 f. 824 In diesem Sinne bereits Stichweh, Globalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft: Produktion und Transfer wissenschaftlichen Wissens in zwei Funktionssystemen der modernen Gesellschaft, Soziale Systeme 5 (1999), 27 ff. 818

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

sich einerseits den lokalen Gegebenheiten anzupassen, ermöglichen aber andererseits gerade in ihrem Zusammenwirken die Globalisierung ihrer Aktivitäten. In den Bereichen Produktion sowie Forschung und Entwicklung (F&E) tätigen multinationale Unternehmen drei Viertel des gesamten Welthandels und verantworten achtzig Prozent der weltweiten Forschungsaktivitäten. Ihre Organisationsstrukturen steigern die Wahrscheinlichkeit weltweiter Anschlussmöglichkeiten der Kommunikation und ermöglichen damit erst globale Wirtschaftskommunikation. Sie sind gleichsam die Vehikel der Globalisierung der Wirtschaft.825 Multinational operierende Unternehmen tätigen globale Transaktionen, die im Rechtssystem als Verträge beobachtet werden. Zur Gestaltung und Strukturierung dieser globalen Transaktionen treten ihnen sog. Formulating Agencies (zwischenstaatliche oder private Organisationen, die – neben den Branchenorganisationen – Empfehlungen zur Vertragsgestaltung herausgeben) zur Seite. Dazu zählen z. B. die United Nations Commission on International Trade (UNCITRAL), die Economic Commission for Europe (ECE), die International Chamber of Commerce (ICC), die International Maritime Commission (IMC) usw. usw. Im Nachgang zu dieser Entwicklung hat sich zur Streitbeilegung mittlerweile eine internationale (Handels-)Schiedsgerichtsbarkeit etabliert. So verzeichnet das Project on International Courts and Tribunals (PICT) 125 internationale Institutionen, in denen unabhängige Autoritäten rechtskräftige Urteile fällen.826 Diese ersten, zunächst noch vorläufigen Beobachtungen globaler wirtschaftlicher Strukturbildung korrelieren mit einer spezifischen Selbstbeschreibung des Rechtssystems in seinem Verhältnis zur Wirtschaft. An dieser Selbstbeschreibung des Rechtssystems sind – wie im Verhältnis von Recht und Politik – vornehmlich Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie beteiligt. Sie haben sich auch insoweit auf unterschiedlichem Abstraktionsgrad und unter je spezifischer Distanznahme in der Perspektive von den dargestellten Beobachtungen globaler wirtschaftlicher Strukturbildung irritieren lassen. In der Rechtspraxis kommt dabei – neben den bereits erwähnten multinationalen Unternehmen – vor allem der zunehmenden Zahl von Schiedsstellen im internationalen Handelsverkehr besondere Bedeutung zu. Ursächlich dafür war in der Vergangenheit insbesondere der verstärkte Handel mit Entwicklungsländern, und zwar speziell dort, wo zwischen staatlichen und (nicht-staatlichen) ausländischen Parteien eine Vertragsbeziehung („state contract“) begründet wurde.827 Anfangs dominierte insoweit die Internationale Handelskammer (International Chamber of Commerce, ICC) das Schiedsgeschehen.828 1919 als privatrechtliche 825

Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 4 ff., 65 ff. Siehe dazu insb. Sassen, Das Paradox des Nationalen, 2008, S. 434 ff. 827 Vgl. dazu auch Stein, Lex Mercatoria, S. 43 f. 828 Siehe dazu und zum Folgenden insb. Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, S. 239 ff, 257 ff. 826

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Vereinigung in Paris gegründet besteht sie aus einer „Commission on International Arbitration“ sowie einem mehr als 100 Mitglieder umfassenden „International Court of Arbitration“. Letzterer ist seit seiner Gründung im Jahre 1923 mehr als 10.000mal zur Streitbeilegung angerufen worden. Besonderen Einfluss auf das internationale Handelsrecht nimmt die ICC mit der Festlegung der bereits erwähnten Incoterms, einer Reihe von internationalen Regeln zur Definition spezifizierter Handelsbedingungen (Käufer- und Verkäuferpflichten) im Außenhandel. Ihr Ziel ist es, eine international einheitliche Auslegung bestimmter Pflichten von Käufern und Verkäufern zu erreichen, um dadurch Missverständnisse und Rechtsstreitigkeiten zwischen den Vertragsparteien zu vermeiden. Während der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stieg die Nachfrage nach Schiedsverfahren sprunghaft an, so dass es zu einer Proliferation regionaler und nationaler Schiedszentren kam. Neben die ICC und klassische Schiedsinstutionen, wie den London Court of International Arbitration, die American Arbitration Association und die Stockholm Chamber of Commerce, trat eine kaum noch überschaubare Zahl von Schiedsgerichten. Erwähnt seien hier nur – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – das Singapore International Arbitration Centre, das Hongkong International Arbitration Centre, das Deutsche Institut für Schiedsgerichtsbarkeit, das Cairo Centre For International Commercial Arbitration und das International Center for the Settlement of Investment Disputes. Gerade letzteres ist in besonderer Weise geeignet, die Aktualität und Relevanz von Schiedsgerichtsverfahren im internationalen Rechtsverkehr zu verdeutlichen. Beim ICSID (International Center for the Settlement of Investment Disputes) hat nämlich im April 2009 der Energiekonzern Vattenfall ein internationales Schiedsgerichtsverfahren eingeleitet, das eine Beschwerde über die Umweltauflagen für ein im Bau befindliches Kohlekraftwerk an der Elbe („Moorburg“) im Wert von 2,6 Mrd. Euro zum Gegenstand hat. Vattenfall verlangt Schadensersatz von der Bundesrepublik Deutschland in Höhe von 1,4 Mrd. Euro. Der schwedische Energiekonzern wirft Deutschland vor, dass das Kohlekraftwerk Moorburg wegen der genannten Umweltauflagen an etwa 250 Tagen im Jahr nicht mit voller Leistung betrieben werden konnte. Zudem seien durch die Umweltauflagen die Baukosten für das Projekt um 600 Millionen Euro gestiegen. In der Geschichte der Schiedsverfahren ist es das erste Mal, dass Deutschland zum Ziel einer Beschwerde beim ICSID wurde. Das Schiedsgericht setzt sich aus dem ehemaligen Finanzminister von Kanada, Marc Lalonde, als Vorsitzendem und den internationalen Juristen Sir Franklin Berman aus Großbritannien und Gabrielle Kaufmann-Kohler aus der Schweiz zusammen. Als letzte Verfahrensmaßnahme ist dabei unlängst auf Wunsch von Vattenfall und der Bundesrepublik Deutschland eine Aussetzung des Schiedsgerichtsverfahrens erfolgt, um die Möglichkeiten einer außer(schieds-)gerichtlichen Einigung zu prüfen.829 Das 829

Kopp, Weltbank-Tribunal setzt Moorburg-Prozess aus, Welt-Online v. 23.3.2010.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Moorburg-Verfahren verdeutlicht damit einmal mehr, welche Bedeutung Schiedsgerichten im internationalen Wirtschaftsrechtsverkehr zukommt.830 Dies vor allem deshalb, weil die Urteile und Entscheidungen der ICSID-Schiedsgerichte von den Gerichten der nationalen Mitgliedstaaten des ICSID nicht überprüft werden und grundsätzlich als rechtsverbindlich anzuerkennen sind. ICSID-Schiedssprüche gelten zudem, was finanzielle Ansprüche anbelangt, in den Mitgliedstaaten als uneingeschränkt durchsetzbar. Einzig und allein Immunitätserwägungen und der Souveränitätsvorbehalt können einer Vollstreckung mit Grund entgegen gehalten werden. Hier schließt sich dann aber auch der Kreis, weil die Unabhängigkeit der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit eben nicht ihre völlige Unabhängigkeit vom staatlichen Recht bedeutet, sondern vielmehr der Grundstein ihres Erfolges gerade in der Anerkennung durch das staatliche Recht liegt.831 In besonderer Weise befasst sich aber auch im Verhältnis von Recht und Wirtschaft die Rechtsdogmatik mit den dargestellten Beobachtungen und Beschreibungen der Rechtspraxis.832 Insoweit sind vor allem mit Blick auf die soeben erläuterte schiedsgerichtliche Praxis die internationale Schiedsgerichtsdogmatik und vor dem Hintergrund der globalen Transaktionen multinationaler Unternehmen die bereits zuvor erwähnten sog. Formulating Agencies zu nennen. Die Schiedsgerichtsdogmatik bemüht sich dabei um die Herstellung eines innersystematisch erarbeiteten Gefüges juristischer Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln.833 Die Schiedsvereinbarung, das Schiedsgericht, das Verfahren vor dem Schiedsgericht, der Schiedsspruch und die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs dienen ihr als systemleitender Analyserahmen.834 Die sog. Formulating Agencies leisten demgegenüber mit ihrer schriftlichen Fixierung der Lex Mercatoria-Regeln einen 830 Siehe dazu auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“, BT-Drucks. 17/971 vom 9.3.2010; vgl. allgemein auch Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 21 ff., die zusätzlich auf eine noch junge Entwicklung aufmerksam macht, wonach Schiedsverfahren zum Teil sogar nur noch online stattfinden (S. 23 f.). 831 Zur Bedeutung des staatlichen Rechts bei der Durchsetzung der Lex Mercatoria siehe insb. Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 100 ff., 207 ff. 832 Aus rechtsdogmatischer Perspektive noch immer grundlegend Stein, Lex Mercatoria, 1995, passim; vgl. aber auch Berger, Formalisierte oder „schleichende“ Kodifizierung des transnationalen Wirtschaftsrechts. Zu den methodischen und praktischen Grundlagen der lex mercatoria, 1996, passim. 833 Damit wird noch einmal das Verständnis von Rechtsdogmatik im Sinne Winfried Brohms aufgenommen. Siehe dazu ders., Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), 245, 246. 834 Siehe im Einzelnen Schwab/Walter, Schiedsgerichtsbarkeit, Kommentar, 7. Aufl., 2005, S. 382 ff., 406 ff., 423 ff., 441 ff., 455 ff.; vgl. auch Lachmann, Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 3. Aufl., 2008, passim.

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wichtigen Beitrag zur Standardisierung der Vertragsgestaltung im internationalen Wirtschaftsverkehr, weil ihre Kodifikationswerke in weiten Bereichen der internationalen Praxis der Vertragsgestaltung zugrunde gelegt werden. Aus der Vielzahl von sog. Formulating Agencies835 seien hier nur die United Nations Commission on International Trade Law (UNCITRAL) und das International Institute for the Unification of Private Law (UNIDROIT) herausgegriffen. UNCITRAL wurde im Jahre 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegründet, um zur Harmonisierung des Handelsrechts beizutragen; UNIDROIT widmet sich bereits seit 1926 als eigenständige internationale Organisation der Harmonisierung des internationalen Privatrechts. Gemeinsam mit den schon erwähnten Incoterms der ICC – einem Klauselwerk, das wichtige und gängige Handelsbräuche festschreibt – ist das UNCITRAL Model Law, das sich speziell auf die Harmonisierung der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit bezieht, in die sog. UNIDROIT-Prinzipien eingeflossen, die das führende Kodifikationswerk weltweiter Vertragsregeln darstellen und praktisch das gesamte Spektrum internationaler Wirtschafts- und Handelsverträge umfassen. Aber auch im Verhältnis von Recht und Wirtschaft werden diese Beobachtungen und Beschreibungen der Rechtspraxis und der Rechtsdogmatik in ganz unterschiedlicher Weise durch die Rechtsphilosophie/Rechtstheorie überformt. Angesichts der insoweit zu verzeichnenden Vielfalt an Beobachtungs- und Beschreibungsansätzen erfolgt nachfolgend erneut – wie im Verhältnis von Recht und Politik – eine Beschränkung auf die besonders richtungweisenden Erklärungsansätze im rechtsphilosophischen/rechtstheoretischen Schrifttum. Damit wird der Versuch unternommen, zumindest die zentralen Leitideen der theoretischen Reflexion über die Identität des Rechtssystems herauszuarbeiten. Und hier begegnen uns – wer hätte es gedacht? – alte Bekannte. Allen voran die Vertreter eines globalen Rechtspluralismus, die schon die Debatte um das Verhältnis von Recht und Politik nachhaltig bestimmt haben. Die wesentlichen Grundannahmen des globalen Rechtspluralismus müssen deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal nachgezeichnet werden.836 Wir beschränken uns hier vielmehr auf die Erinnerung an den „Realtrend“ einer globalen Konstitutionalisierung ohne Staat, wonach sich die Positivierung konstitutioneller Normen im globalen Maßstab auf unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren ausdehne, die parallel zu politischen Verfassungsnormen zivilgesellschaftliche Verfassungsnormen erzeugen.837 Allerdings besteht mit Blick auf das hier interessierende Verhältnis von Recht und Wirtschaft durchaus Anlass, die Konkretisierung der Grundannahmen

835

Siehe dazu nur Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, S. 257 ff. Siehe dazu oben S. 145 f. 837 Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), 1 ff. 836

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

des globalen Rechtspluralismus am Beispiel der Lex Mercatoria zumindest überblicksartig nachzuzeichnen.838 Dabei ist der Blick auf die dynamischen Wechselwirkungen einer Vielzahl von Normenordnungen innerhalb eines gesellschaftlichen Systems, vorliegend der Wirtschaft, zu richten. Private Ordnungsleistungen und gesellschaftliche Selbstorganisation sollen dazu beitragen, dass sich das globale Recht „von den gesellschaftlichen Peripherien, also von den Kontaktzonen zu anderen Sozialsystemen, her und nicht im Zentrum nationalstaatlicher oder internationaler Institutionen“ entwickelt.839 Besondere Bedeutung komme dabei der Rechtsentstehung durch private Verfügung (insb. durch Vertrag), sodann der vertraglichen Konstituierung quasi-legislativer Organisationen (insb. durch Formulating Agencies), und schließlich der Institutionalisierung von Prozessen sekundärer Normierung (insb. durch Schiedsgerichte) zu.840 Mit diesem Reflexionsdreieck erweise sich das autonome Rechtsregime der Lex Mercatoria als eindrucksvolles Anwendungsparadigma transnationalen Rechts, das wie folgt definiert sei: „Transnationales Recht bezeichnet eine dritte Kategorie von autonomen Rechtssystemen jenseits der traditionellen Kategorien des staatlichen nationalen und internationalen Rechts. Transnationales Recht wird durch die Rechtsschöpfungskräfte einer globalen Zivilgesellschaft geschaffen und entwickelt, es ist auf allgemeine Rechtsprinzipien und deren Konkretisierung in gesellschaftlicher Praxis (Übung) gegründet, seine Anwendung, Interpretation und Fortbildung obliegt – jedenfalls vornehmlich – privaten Anbietern alternativer Streitschlichtungsmechanismen, und eine Kodifikation findet – wenn überhaupt – in Form von allgemeinen Prinzipien- und Regelkatalogen, standardisierten Vertragsformularen oder Verhaltenskodizes statt, die von privaten Normierungsinstitutionen aufgestellt werden.“ 841 Einer Anwendung der wesentlichen Grundannahmen des globalen Rechtspluralismus auf das Verhältnis von Recht und Wirtschaft, speziell auf die Lex Mercatoria, treten mit Nachdruck die hier einmal sog. „Etatisten“ entgegen. Sie sind uns übrigens im Rahmen unserer Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Politik auch schon in etwas abgewandelter Form mit dem Konzept der „offenen“ Staatlichkeit begegnet.842 Kurz und prägnant, fast apodiktisch heißt es: 838 Siehe dazu eingehender Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 41 ff.; dort (S. 48 f.) auch Näheres zum allerdings mit Blick auf das Verhältnis von Recht und Wirtschaft nicht wirklich wirkungsmächtig gewordenen Global Governance-Ansatz. 839 Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, RJ 15 (1996), 255, 261; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 53. 840 In diesem Sinne Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 42 ff. 841 Callies, Transnationales Verbrauchervertragsrecht, Rabels Zeitschrift 68 (2004), 244, 254 f. (Hervorhebung i.O.); vgl. auch m.w. N. Fischer-Lescano/Teubner, RegimeKollisionen, S. 43. 842 Siehe dazu oben S. 148 f.

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„Die lex mercatoria wurde als ,Illusion‘ beschworen, um das plötzlich auftretende Bedürfnis nach einem neutralen Wirtschaftsrecht zu befriedigen . . . Private Normenordnungen bilden gegenwärtig kein transnationales Recht. Es existiert somit kein transnationales Recht als eigenständige dritte Art von Recht.“ 843

Das lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig, aber aus welchen Gründen wird der Geltungsanspruch transnationalen Rechts, und speziell der Lex Mercatoria, negiert? Zunächst einmal wird dem Geltungsanspruch der Lex Mercatoria schon aus empirischer Perspektive mit Skepsis begegnet. Es sei nämlich schwierig, empirische Beweise für die Anwendung der Lex Mercatoria in der Schiedspraxis zu finden. Keineswegs werde regelmäßig auf sie als Ganzes Bezug genommen, sondern allenfalls würden einzelne Normen zusammengefügt.844 Darüber lässt sich nun sicherlich mit Fug und Recht streiten, denn nicht wenige Stellungnahmen aus dem rechtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Schrifttum weisen genau in die entgegen gesetzte Richtung.845 Gewichtiger erscheint deshalb schon der Hinweis auf die fehlende Anationalität der Lex Mercatoria. Beispielhaft wird dafür die CENTRAL-Liste des Center for Transnational Law herangezogen, die wohl als bisher umfänglichster Versuch zu werten ist, den Inhalt der Lex Mercatoria zusammenzufassen.846 So finde sich in der Liste keine Regel, bei der ein Verweis auf eine nationale Rechtsordnung fehle. Vielmehr hätten die nationalen Rechtsordnungen bei der Erarbeitung der CENTRAL-Liste offensichtlich Pate gestanden, so dass letztlich sogar von einer starken Verwurzelung in den staatlichen Rechtsordnungen auszugehen sei.847 Des Weiteren würden auch internationale Schiedsgerichte nicht etwa exklusiv nichtstaatliche Rechtsregeln und Handelsbräuche anwenden, sondern in hohem Maße erfolge ein Rückgriff auf staatliche Normen.848 Neben diesen inhaltlichen Aspekten seien internationale Schiedsgerichte aber auch in verfahrensmäßiger Hinsicht nicht völlig unabhängig von staatlichem Recht und staatlicher Gerichtsbarkeit. Dies zeige sich z. B. am sog. New Yorker Übereinkommen, demzufolge Schiedssprüche internationaler Schiedsgerichte zwar grundsätzlich ohne inhaltliche Überprüfung weltweit vollstreckt werden 843 Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 245 f. (Hervorhebung i.O.). Als „dritte Art von Recht“ soll das transnationale Recht neben dem nationalen und dem internationalen Recht angesiedelt sein. 844 Ders., ebd., S. 90 ff. m.w. N. 845 Siehe nur Stein, Lex Mercatoria, S. 8 f.; Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, S. 251 ff.; Sassen, Das Paradox des Nationalen, S. 430 ff. 846 Ein Abdruck der CENTRAL-Liste findet sich bei Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 262 ff. 847 Ders., ebd., S. 99 f. 848 Renner, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes, KJ 43 (2010), 62, 64.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

könnten, aber Art. V Abs. 2 des Übereinkommens eine „Residualkontrolle des (staatlichen) Vollstreckungsgerichts mit Blick auf Belange der ,öffentlichen Ordnung‘“ vorsehe. Außerdem gestatte das Prozessrecht der meisten Staaten unter vergleichbaren Voraussetzungen eine Aufhebung von Schiedssprüchen am Sitz des Schiedsgerichts.849 Alles in allem werde die Durchsetzung von Entscheidungen internationaler Schiedsgerichte deshalb durch die staatlichen Rechtsordnungen garantiert; über eigenständige Normdurchsetzungsmechanismen verfüge die Lex Mercatoria gerade nicht.850 Durchaus vergleichbar mit dem für das Verhältnis von Recht und Politik als Beobachtungs- und Beschreibungsansatz gewählten Konzept der „offenen“ Staatlichkeit geben sich die „Etatisten“ dann aber doch letztlich versöhnlich. So plädieren sie dafür, private Normenordnungen, wie die Lex Mercatoria, in das staatliche Recht zu integrieren oder zumindest beide Bereiche miteinander zu verknüpfen, anstatt sie einander „künstlich und holzschnittartig“ gegenüberzustellen.851 In diese Richtung weise auch der Trend zu hybriden Organisationen, wobei als Beispiel die World Anti Doping Agency (WADA) aus dem Bereich der Lex Sportiva genannt wird. Private Normenordnungen machten dabei durchaus Sinn, wenn etwa staatliche Regulierungen (noch) nicht als Alternativen bereitstünden (z. B. im Bereich der Lex Sportiva). Auch könnten sie zur verbesserten Wirksamkeit staatlichen Rechts und zur Bewältigung von Durchsetzungsproblemen beitragen (z. B. im Bereich der Lex Informatica).852 Allerdings bleibe festzuhalten, dass sie – wie sich gerade an der Lex Mercatoria zeigen lasse – keine Chance besäßen, dauerhaft in Konkurrenz zu staatlichem Recht zu bestehen. Wie im Verhältnis von Recht und Politik stellt sich auch vor dem Hintergrund dieser Selbstbeschreibung des Verhältnisses von Recht und Wirtschaft durch das Rechtssystem, insbesondere durch Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts die Frage, ob die Beziehungen von Recht und Wirtschaft angesichts dessen noch sachadäquat mit der Theoriestelle der strukturellen Kopplung beschrieben werden können. Es geht also ein weiteres Mal darum, ausgehend von der Selbstbeschreibung des Rechtssystems im Wege einer Theoriereflexion die Theoriestellen zu markieren, an denen die Präzision der Beschreibung noch er-

849

Ders., ebd. Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 100 ff. 851 Dazu und zum Folgenden ders., ebd., S. 242 ff.; Renner, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes, KJ 43 (2010), 62, 65 plädiert dafür, Rechtsquellen staatlicher, nichtstaatlicher und überstaatlicher Provenienz durch ein eigenständiges – genuin transnationales – Kollisionsrecht (Hervorhebung i.O.) der internationalen Schiedsgerichsbarkeit zueinander in Beziehung zu setzen. 852 Zur Lex Informatica und zur Lex Sportiva in ihrem Verhältnis zum nationalen und internationalen Recht eingehend Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, S. 104 ff., 129 ff. 850

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höht werden kann, ohne den Boden der Luhmannschen Systemtheorie zu verlassen.853 Wir gehen dabei weiterhin davon aus, dass die Theoriestelle der strukturellen Kopplung für das Verständnis der funktional differenzierten Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Dies gilt auch und gerade für das Verhältnis der Funktionssysteme Recht und Wirtschaft. Für sie erweisen sich die unterschiedlichen Formen struktureller Kopplung als Lösung ihres Selbstreferenzproblems, da sie Verlässlichkeiten in der Umwelt erzeugen, ohne die operative Schließung der Systeme in Frage zu stellen. So entsteht im Verhältnis von Recht und Wirtschaft ein komplexes Beziehungsgeflecht von Autonomie und Abhängigkeit der Funktionssysteme.854 Nach wie vor wird man den Vertrag dabei – neben dem Eigentum855 – als maßgebliche strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft begreifen dürfen. Wie die Verfassung im Verhältnis von Recht und Politik ist er aber auf der Grundlage der Selbstbeschreibung des Rechtssystems im Zeichen der Globalisierung einem beachtlichen Bedeutungswandel unterworfen. Und wie die Verfassung so ist der Vertrag eine der bedeutendsten evolutionären Errungenschaften der Gesellschaftsgeschichte, letztlich das Resultat einer zweitausendjährigen Evolution des römischen Zivilrechts.856 Ihm gelingt es, eine spezifische Differenz auf Zeit unter Indifferenz gegen alles andere (auch die Betroffenheit von am Vertrag nicht beteiligten Personen und Geschäften) zu stabilisieren; der Indifferenzerzeugungseffekt wird dabei von den Gerichten überwacht.857 Für das Rechtssystem stellt sich der Vertrag deshalb als im Zweifel überprüfungsbedürftige Form der Entstehung einer Obligation dar, während das Wirtschaftssystem ihn im Modus der Transaktion beobachtet.858 Die Gleichzei853 Für die Lex Mercatoria in diesem Sinne bereits Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 115 ff.; ferner Eichler, Globalisierung des Wirtschaftsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Lex Mercatoria, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 167, 179 ff. 854 Siehe dazu grundlegend Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92 ff., 776 ff. 855 Zur strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft durch das Eigentum siehe ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 446 ff., 454 ff.; ob die Bedeutung des Eigentums als struktureller Kopplung von Recht und Wirtschaft wirklich zurückgeht, wie Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 44 f. annimmt, mag durchaus bezweifelt werden. Soweit sie davon ausgeht, dass die strukturelle Kopplung über Eigentum „kaum Anlass zu intersystemischer Kommunikation gibt“ (S. 44, 45), könnte der wohl kaum von der Hand zu weisende rechtspraktische und rechtsdogmatische Bedeutungszuwachs des geistigen Eigentums (z. B. verdeutlicht durch das DFG-Graduiertenkolleg „Geistiges Eigentum und Gemeinfreiheit“ in Bayreuth) daran mit Grund zweifeln lassen. 856 Luhmann, ebd., S. 459; mit Blick auf die Verfassung siehe ders., Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, RJ 9 (1990), 176 ff. 857 Ders., Das Recht der Gesellschaft, S. 459. 858 Ders., ebd., S. 464.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

tigkeit von Rechts- und Wirtschaftskommunikation ändert aber nichts daran, dass der Vertrag aus der Perspektive der beteiligten Funktionssysteme Gegenstand unterschiedlicher autonomer Kommunikation bleibt. Letztlich sind Vertrag und Transaktion ohne ihre unterschiedliche Bedeutung im jeweils anderen Funktionssystem nicht denkbar, was als Hinweis auf den Mechanismus struktureller Kopplung von Recht und Wirtschaft verstanden wird.859 Vor diesem Hintergrund wurde der Bedeutungswandel des Vertrages zunächst in seiner „Hybridisierung“ gesehen. Demzufolge liege dem Vertrag die strukturelle Kopplung von „Wirtschaftssystem, Produktivsystem und Rechtssystem“ zugrunde. Die unterschiedliche Bedeutung des Vertrages in den gekoppelten Systemen lasse ihn als „Hybrid“ erscheinen.860 Mit Grund ist diesbezüglich aber gefragt worden, welche Entsprechung der Vertrag, der sich vom Wirtschaftssystem als Transaktion beobachten lässt, eigentlich im „Produktionssystem“ habe.861 Und noch grundsätzlicher: welcher Codierung soll das „Produktivsystem“ eigentlich gehorchen? Heute wird der Bedeutungswandel des Vertrages hingegen in seiner Globalisierung gesehen.862 Der vom Wirtschaftssystem als Transaktion beobachtete Vertrag orientiert sich nicht mehr (allein) an nationalstaatlichen Grenzen, was in den alltäglichen Transaktionen multinationaler Unternehmen und in den immer stärker um sich greifenden Unternehmensfusionen sichtbar wird. Die nötige Erwartungssicherheit für diese Transaktionen im Wirtschaftssystem garantieren vermehrt die Bezugnahme auf die als Lex Mercatoria beschriebenen Regeln und Normen in Vertragsverhandlung und -gestaltung sowie diverse Schiedsvereinbarungen. Das hat sogar dazu verleitet, diese als selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft oder als frei im Raum schwebende positive Rechtsordnung zu bezeichnen.863 Geht man jedoch davon aus, dass jede Transaktion als Vertrag und damit als Operation des Rechtssystems beobachtet wird, so bedeutet dies, dass das Rechtssystem autonom, d.h. nach Maßgabe seiner eigenen Kriterien, auf diesen Normbedarf reagiert. Globalisierung des Vertrages meint, dass der Vertrag zu einem global gültigen Konditionalprogramm wird. Das Rechtssystem vermag damit auf weltgesell859 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 46, 48; siehe dazu auch Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 784, der als Ergebnis der „structural drift“ beider Funktionssysteme eine Zunahme der Irritation des Rechts durch die Wirtschaft annimmt. 860 Teubner, Im blinden Fleck der Systeme: Die Hybridisierung des Vertrages, Soziale Systeme 3 (1997), 313, 314; ders., Vertragswelten: Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes, RJ 17 (1998), 234 ff. 861 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 48. 862 Siehe dazu und zum Folgenden dies., ebd., S. 49 ff. 863 Vgl. etwa Renner, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechtsregimes, KJ 43 (2010), 62 ff.; Stein, Lex Mercatoria, S. 87.

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schaftlicher Ebene zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und so für andere Funktionssysteme Erwartungssicherheit und Konfliktlösungspotential zu produzieren. Dies geschieht vor allem durch die Bezugnahme auf die als Lex Mercatoria bezeichneten Regeln und Normen in Vertragsverhandlungen und Schiedsverfahren. Die bereits erwähnten sog. Formulating Agencies unterstützen mit ihrer schriftlichen Fixierung der „Principles“ diesen Prozess. In weiteren Vertragsverhandlungen besteht nun die Möglichkeit, diese über den konkreten Einzelfall hinausreichenden Normen zu bemühen, die dadurch wiederum aufgrund ihrer kontinuierlichen Anwendung im Rahmen globaler Wirtschaftskommunikation und ihrer schriftlichen Fixierung durch weltweit anerkannte Organisationen (z. B. UNIDROIT) globale Gültigkeit erlangen. Insoweit wird ein zirkulärer Rechtserzeugungsprozess in Gang gesetzt, der seinen Ausgangspunkt in Normen mit unbekannter Rechtsgrundlage nimmt, über die Anwendung dieser Normen in Verträgen und vor Schiedsgerichten führt und schließlich in die erneute Normfixierung durch sog. Formulating Agencies mündet. Ohne den soeben beschriebenen Bedeutungswandel des Vertrages zu verkennen, soll dennoch der Versuch unternommen werden, die Funktion des Vertrages als strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber der Selbstbeschreibung des Rechtssystems im Zeichen von Globalisierung und Privatisierung Rechnung zu tragen. Sie liefert in vielfacher Hinsicht Anlass, der Bedeutung von Organisation im Rahmen struktureller Kopplung auch für das Verhältnis von Recht und Wirtschaft nachzugehen. Insoweit sei nur noch einmal in Erinnerung gerufen, dass es im Gefolge der Globalisierung mittlerweile kaum noch einen Regelungsbereich gibt, der nicht von internationalen Organisationen nachhaltig beeinflusst würde. Für das transnationale Wirtschaftsrecht im Besonderen sind vor allem die bereits erwähnten multinational operierenden Unternehmen, die sog. Formulating Agencies und zahlreiche internationale Schiedsorganisationen zu nennen. Und auch die Privatisierung hat in der Form der Organisationsprivatisierung dazu geführt, dass zunehmend private Unternehmen und Organisationen in die Implementation kollektiv-verbindlicher Entscheidungen einbezogen werden. Organisation und Organisationsrecht erleben angesichts weitreichender Privatisierungsanstrengungen des Staates, der damit verbundenen Entwicklung einer Dogmatik der Gewährleistungs- und Regulierungsverwaltung sowie einer diese überformenden Neuen Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft geradezu eine „Neuvermessung“ im Rechtssystem.864

864 Siehe dazu nur Trute, Funktionen der Organisation und ihre Abbildung im Recht, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 249 ff.; Wahl, Privatorganisationsrecht als Steuerungsinstrument bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, ebd., S. 301 ff., 318 ff. „Zur Neuvermessung der Organisationslandschaft“.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

Unsere Vermutung geht deshalb dahin, dass auch für die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft gerade der Organisation eine besondere Bedeutung zukommen könnte. Dabei müssen an dieser Stelle die bereits für das Verhältnis von Recht und Politik angestellten allgemeinen Überlegungen zum Zusammenhang der Systemebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft (insb. zu den Beziehungen zwischen Funktionssystemen, zwischen Organisationen und Funktionssystemen sowie zwischen Organisationen)865 nicht wiederholt, sondern können vielmehr in Bezug genommen werden. Nehmen wir deshalb an, dass Organisationen nicht nur an der Interdependenzunterbrechung, sondern auch an der Interdependenzherstellung gesellschaftlicher Funktionssysteme beteiligt sind, so wirken sie im Sinne strukturierter Interdependenz daran mit, dass trotz operativer Geschlossenheit und klarer Systemgrenzen kommunikative Zusammenhänge in und zwischen Funktionssystemen möglich werden und bleiben.866 Konkret ist damit ihre Beteiligung und Funktion an der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen angesprochen. Über die Feststellung hinaus, dass die gesellschaftliche Funktion von Organisationen in der „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ 867 zu sehen ist, könnte sich die Trennschärfe der Beobachtung auch im Verhältnis von Recht und Wirtschaft möglicherweise dadurch optimieren lassen, dass zwischen Organisation als Voraussetzung für strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung unterschieden wird.868 Als relevante Organisationen, die in dieser Hinsicht näherer Betrachtung bedürfen, sind für den Bereich der Lex Mercatoria die multinationalen Unternehmen, die sog. Formulating Agencies und die internationalen Schiedsgerichte zu nennen. Sie alle beziehen sich auf die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft durch den Vertrag. Kennzeichnend für multinationale Unternehmen sind dabei ihre globalen Transaktionen. Diese lassen erst den Bedarf für global gültige Verträge entstehen. Die sog. Formulating Agencies reagieren auf die Defizite nationalen Rechts bei der Steuerung globaler Wirtschaftskommunikation. Sie übernehmen die Aufgabe, die globalen Regeln der Lex Mercatoria festzuschreiben und fortzuentwickeln. Die internationalen Schiedsgerichte schließlich erweisen sich als globale Konfliktlösungsorganisationen für globale Transaktionsbeziehungen.869 Damit sind unter weltgesellschaftlichen Bedingungen im Verhältnis 865

Siehe dazu oben S. 153 ff. Drepper, Organisationen der Gesellschaft, S. 237. 867 So Luhmann, Die Gesellschaft und ihre Organisationen, in: Derlien/Gerhardt/ Scharpf (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse. FS Renate Mayntz, 1994, S. 189, 195. 868 In diesem Sinne der Vorschlag von Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 275 ff. 869 Dies., Das Recht der Weltgesellschaft, S. 56 f. 866

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von Recht und Wirtschaft neue Player an der strukturellen Kopplung durch den Vertrag beteiligt.870 Multinationale Unternehmen können als Vehikel der Globalisierung der Wirtschaft und als Quelle der Globalisierung des Rechts verstanden werden.871 Ihre globalen Strukturen und ihre besonderen Operationsbedingungen, die jede Bindung an einen geographischen Ort vermissen lassen, verdeutlichen, dass Wirtschaftskommunikation nicht an nationalstaatlichen Grenzen halt macht, sondern sich in einem globalen Kontext bewegt. Mit ihren globalen Transaktionen – vom Rechtssystem als Vertrag beobachtet – produzieren sie Anlässe, die die nationalen Rechtsordnungen stets aufs Neue herausfordern, zumeist wohl auch überfordern. Sie irritieren damit das Rechtssystem und rufen den Bedarf für globale Regelungen hervor. Unter Ausnutzung ihrer Vertragsfreiheit schreiben sie in ihren Verträgen globale, über das nationale Recht hinausgehende Normen fest. Diese werden wiederum von den Vertragspartnern und Schiedsgerichten akzeptiert und führen so zur globalen Normbildung, weil in nachfolgenden Verträgen auf diese Regelungen zurückgegriffen wird. Multinationale Unternehmen erweisen sich damit als Vermittler der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft über Vertrag bzw. Transaktion.872 Sie beziehen sich nämlich auf eine ganz bestimmte strukturelle Kopplung von Funktionssystemen und ihre spezifische Umsetzung – vorliegend den Vertrag – und lassen sich als Träger bzw. Adressat dieser konkreten strukturellen Kopplung identifizieren.873 Auch die sog. Formulating Agencies können als Quelle der Globalisierung des Rechts beschrieben werden. Wichtiger erscheint uns im hier interessierenden Zusammenhang allerdings der Umstand, dass sie sich mit ihrer Arbeit, Verträge des internationalen Wirtschaftsverkehrs zu beobachten und Vorschläge für weitere globale Verträge zu formulieren, als Vermittler der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft direkt auf den Vertrag beziehen. Ihre Empfehlungen und Kodifikationen gestatten es nämlich, global auf sie zuzugreifen, wodurch die Bedeutung von Verträgen nachhaltig gestärkt wird. Die schriftliche Fixierung ihrer 870

Vgl. insoweit allgemein schon Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 396 ff. Dazu und zum Folgenden Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 65 ff.; vgl. im Ansatz schon dies., Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 285 f. 872 Sie lassen sich allerdings nicht als strukturelle Kopplung begreifen, weil dies verlangen würde, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt“. Außerdem müssen Organisationen, die selbst strukturelle Kopplung von Funktionssystemen sein sollen, die Lösung für die Selbstreferenzprobleme der gekoppelten Systeme darstellen. Das bedeutet, dass sie kein „Zwischen“ den Funktionssystemen sein dürfen; vielmehr müssen sie von den gekoppelten Systemen gleichermaßen, aber in ganz spezifischer Weise beansprucht werden. Dies dürfte für multinationale Unternehmen – im Gegensatz etwa zu Universitäten im Verhältnis von Erziehungs- und Wissenschaftssystem – nicht in Betracht kommen. 873 Lieckweg, Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 278, 286. 871

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Regelwerke gewährleistet für die beteiligten Vertragsparteien zudem – auch im Streitfall vor den Schiedsgerichten – ein besonderes Maß an Erwartungssicherheit.874 Indem sie schließlich dafür Sorge tragen, dass die internationale Vertragsgestaltung und Vertragsanwendung mit der Entwicklung des globalen Rechts Schritt hält, erweisen sich die sog. Formulating Agencies auch als wichtige Voraussetzung für die Rechtsgeltung unter weltgesellschaftlichen Bedingungen und damit zugleich als Voraussetzung der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft durch den Vertrag.875 Die Regelwerke der sog. Formulating Agencies mögen noch so gründlich erarbeitet und noch so umfassend angelegt sein und trotzdem ist nicht auszuschließen, dass die beteiligten Vertragsparteien darüber in Streit geraten. In diesem Fall werden im globalen Wirtschaftsverkehr regelmäßig internationale Schiedsgerichte angerufen. Sie sind gleichsam die organisierte Adresse für den Fall des Vertragsbruchs und dienen der Stabilisierung enttäuschter normativer Erwartungen im Kontext von Transaktionen. Entscheidungsgrundlage schiedsgerichtlicher Verfahren ist der Vertrag, der eben festlegt, dass im Konfliktfall das Schiedsgericht anzurufen ist. Durch seine Entscheidungen wiederum bestätigt dieses den Vertrag und seine darin enthaltenen Regeln unter weltgesellschaftlichen Bedingungen. Darin wird unmittelbar ersichtlich, dass sich internationale Schiedsgerichte mit ihren Entscheidungen – wie multinationale Unternehmen und die sog. Formulating Agencies – ebenfalls auf die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft beziehen. Sie erweisen sich im Zeichen der Globalisierung als Voraussetzung und Realisierung der strukturellen Kopplung durch den Vertrag. Denn erst die Existenz von internationalen Schiedsgerichten gestattet es, Konflikte in der globalen Wirtschaftskommunikation rechtsverbindlich zu bewältigen. Nur wenn ein Konfliktlösungsmechanismus überhaupt vorhanden ist, machen Verträge Sinn, weil ansonsten offen bliebe, was im Falle der Enttäuschung normativer Erwartungen zu geschehen hätte.876 Resümierend lässt sich deshalb auch für das Verhältnis von Recht und Wirtschaft feststellen: Die bereits erwähnten, häufiger auftauchenden Formulierungen Niklas Luhmanns, strukturelle Kopplung erfolge „über“ Organisation, ihre Funktion lasse sich als „Verdichtung von strukturellen Kopplungen zwischen Funktionssystemen“ beschreiben bzw. Organisation biete einen „Treffraum“ für die unterschiedlichsten Funktionssysteme, besitzen zusammenfassenden Charakter. 874 Zur Bedeutung von Erwartungssicherheit im Rechtssystem siehe Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 156 ff. 875 Zum Ganzen siehe ausführlich Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 68 ff.; Näheres zu der Annahme, dass sog. Formulating Agencies ebenso wenig wie multinationale Unternehmen als strukturelle Kopplung zu verstehen sind, bei dies., Strukturelle Kopplung von Funktionssystemen „über“ Organisation, Soziale Systeme 7 (2001), 267, 278, 286 f. 876 Dies., Das Recht der Weltgesellschaft, S. 70 ff.

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Über die Unterscheidung von Organisation als Voraussetzung für strukturelle Kopplung, Organisation als strukturelle Kopplung und Organisation als Vermittler struktureller Kopplung lässt sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Überlegungen die Trennschärfe der Beobachtung und Beschreibung signifikant erhöhen. Als Leistungsbeschreibung darf festgehalten werden, dass multinationale Unternehmen, sog. Formulating Agencies und Schiedsgerichte „die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft durch den Vertrag stets kommunikativ erneuern (multinational operierende Unternehmen), sie vermitteln und verstärken (sog. Formulating Agencies) und die Voraussetzung für die strukturelle Kopplung durch den Vertrag unter Globalisierungsbedingungen sind (Schiedsgerichte).“ 877 Dem einen oder anderen scheint dies immer noch zu wenig zu sein. Deshalb wird in der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie dafür plädiert, die Beobachtung und Beschreibung der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen, speziell auch derjenigen von Recht und Wirtschaft, durch die Theoriestellen der sog. private governance regimes,878 der globalen Intersystemregime879 und der Interorganisationsnetzwerke880 zu ergänzen.881 Ob diese Vorschläge aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts weiterführenden Erkenntnisgewinn versprechen, soll abschließend untersucht werden. Gemeinsamer Ausgangspunkt aller Vorschläge ist die Frage, „wie der globale Normbildungsprozess – als Beispiel für koordinierte Strukturentwicklungen zwischen Funktionssystemen – angemessen beschrieben werden kann“,882 wenn sich die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die Zirkularität globaler Normerzeugung883 als unhintergehbar darstellen. Besonderer Beliebtheit erfreut sich insoweit der Vorschlag globales Recht (insb. die Lex Mercatoria) als Produkt von private governance regimes zu verstehen. Diesen wird ein rapides Wachstum nachgesagt, was darin begründet sein soll, dass sich die staatlich-politische Regulierung im Zuge der Globalisierung immer mehr zurückziehe und deshalb gleichsam den Freiraum für ein „global law without the state“ eröffne. Darin werde die „Multidimensionalität des globalen Rechtspluralismus“ sichtbar.884 Die Annahme eines globalen Rechtspluralis877

Dies., ebd., S. 72. Siehe vor allem Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, passim. 879 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 87 ff. 880 Dies., ebd., S. 117 ff. 881 Speziell mit Blick auf das Verhältnis von Recht und Wirtschaft siehe auch Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft. Netzwerke als Rechtsproblem, 2004, passim. 882 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 88. 883 Beispielhaft demonstriert am Verhältnis von Vertrag und Organisation bei der strukturellen Kopplung von Recht und Wirtschaft durch die Lex Mercatoria. 884 Zum Ganzen Teubner, Global Law without a state, 1997, passim, ders., Vertragswelten: Das Recht in der Fragmentierung von Private Governance Regimes (Hervorhebung i.O.), RJ 17 (1998), 234, 241 ff.; ders., Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und 878

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

mus wirft natürlich die Frage auf, welche Zusammenhänge eigentlich – jenseits eines für inakzeptabel gehaltenen hierarchischen Einheitsverständnisses – zwischen fragmentierten Rechtsregimen bestehen. Hier wird Zuflucht in einer „normativen Netzwerktheorie globaler Rechtsregime“ gesucht, die sich als Ausdruck eines gesellschaftlichen Großtrends zur „Netzwerkgesellschaft“ versteht.885 Die wesentliche Leistung einer solchen Vernetzung unterschiedlicher Rechtsregime soll darin bestehen, „dass sie einen unauflöslichen Widerspruch, der sich in Normenkollisionen manifestiert, in ein tragbares Gegeneinander von verschiedenen Ebenen und Subsystemen, von Netzwerkknoten, Knotenrelationen und Gesamtvernetzung übersetzt.“ 886 Bei allem Zuspruch hat der Ansatz, über private governance regimes zu einem vertieften Verständnis der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen zu gelangen, aber mindestens ebenso viel Kritik auf sich gezogen. So wird ihm vorgeworfen, dass er zu sehr den privaten Charakter der Normen betone, das intersystemische Moment der Normerzeugung nicht ausreichend einfange, die Zirkularität von Vertrag und Organisation nicht abbilde und den globalen Charakter der Regimestrukturen nicht berücksichtige.887 Auch das Regulierungsverständnis des private governance regime-Ansatzes wird kritisch hinterfragt. Ohne den Begriff der Regulierung für „unpassend“ zu halten,888 lässt sich vielmehr – empirisch gestützt – die Annahme in Zweifel ziehen, dass sich die staatlich-politische Regulierung im Zuge der Globalisierung zurückziehe. Das Bemühen um die Regulierung der internationalen Finanzmärkte und die Bedeutung, die Regulierungsfragen z. B. in den Bereichen Energie, Telekommunikation und Verkehr besitzen, scheinen nämlich eine dezidiert andere Sprache zu sprechen.889 Und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft?, in Simon/Weiss (Hrsg.), Zur Autonomie des Individuums. Liber Amicorum Spiros Simitis, 2000, S. 437 ff.; Fischer-Lescano/Teubner, Regime-Kollisionen, S. 41 ff.; aus soziologischer Perspektive ähnlich Sassen, Das Paradox des Nationalen, S. 430 ff. „Auf dem Weg zu globalen Rechtssystemen: Die Entkleidung des Rechts von seiner nationalen Umhüllung“ (Hervorhebung i.O.), 435 f. 885 Eingehend dazu Fischer-Lescano/Teubner, ebd., S. 57 ff.; zu den Konsequenzen einer solchen Sichtweise für Fragen der Hierarchie des Rechts siehe bereits oben S. 112 f. 886 Dies., ebd., S. 60; vgl. ferner allgemein Teubner, Paradoxien der Netzwerke in der Sicht der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik, in: Bäuerle/Hanebeck/Hausotter/ Mayer/Mohr/Preedy/Wallrabenstein (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit. Beiträge zum Kolloquium anlässlich des 60. Geburtstages von Brun-Otto Bryde, 2004, S. 9 ff.; speziell mit Blick auf das Verhältnis von Recht und Wirtschaft ders., Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation, in: Amstutz (Hrsg.), Die vernetzte Wirtschaft, 2004, S. 11 ff. 887 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 89 f., 90. 888 So aber dies., ebd., S. 90. 889 Mittlerweile hat auch die Rechtsdogmatik auf diese Entwicklung reagiert. Siehe dazu nur Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, 1251 Seiten!

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schließlich wird man nicht ohne Grund fragen dürfen, ob „Netzwerkknoten“ und „Knotenrelationen“ als neue Theoriestellen wirklich weiterhelfen, um zu einem vertieften Verständnis der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen zu gelangen. Dies alles wird zum Anlass genommen, die dargestellten Kritikpunkte positiv zu wenden und nach einem „Hilfsbegriff“ zu suchen, der geeignet sei, eine systemtheoretische Betrachtungsweise auf bestimmte soziale Phänomene aufmerksam zu machen, die sie mit ihrem Theorieinstrumentarium so nicht erfassen könne. Erneut wird dafür der Regimebegriff bemüht. Er sei nämlich in der Lage, soziale Phänomene zu beschreiben, die sich nicht eindeutig der Ebene von Organisationen oder derjenigen von Funktionssystemen zuordnen ließen. Der gesuchte „Hilfsbegriff“ sollen einerseits globale Intersystemregime sein.890 Er wird vor dem Hintergrund entwickelt, dass die Theoriestelle der strukturellen Kopplung nicht geeignet sei, die globale Normerzeugung als Ergebnis des spezifischen Zusammenwirkens von Vertrag und Organisation zu beschreiben. Kommunikationsprozesse, die nämlich weder allein der Organisationsebene noch allein der Ebene der Funktionssysteme zugerechnet werden könnten, überforderten die klassische systemtheoretische Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Genau an dieser Stelle setze deshalb der „Hilfsbegriff“ der globalen Intersystemregime an, der gleichsam auf der strukturellen Kopplung der Funktionssysteme, auch derjenigen von Recht und Wirtschaft, „aufsattele“. Zwar sei schon die strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft durch den Vertrag als eine besondere Form der Intersystembeziehung zu verstehen, doch könne sie ihrer Funktion im Rahmen der globalen Normerzeugung erst gerecht werden, wenn sich wiederum Organisationen, die selbst der strukturellen Kopplung dienen, auf sie beziehen. Diese globalen Intersystembeziehungen sollen die Triebkräfte für die Globalisierung der als solche autonomen, aber doch miteinander im Zusammenhang stehenden Funktionssysteme darstellen, so dass die Frage, wie sich koordinierte Strukturentwicklungen zwischen den Funktionssystemen angemessen erfassen lassen, mit dem Hinweis auf globale Intersystemregime beantwortet werden könne.891 Andererseits seien globale Intersystemregime aber nur eine Antwort darauf, wie in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft unter weltgesellschaftlichen Bedingungen Kommunikationsbeziehungen hergestellt und aufrechterhalten werden könnten. Eine andere – notwendigerweise hinzutretende – Antwort seien Interorganisationsnetzwerke als spezifische Form von Intersystembeziehungen. Als Beziehungen von Systemen zu anderen Systemen dürften nämlich nicht nur solche zwischen Funktionssystemen, sondern auch und gerade solche zwischen Organisationen und Funktionssystemen sowie solche zwischen Organisationen 890 891

In diesem Sinne Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 90 ff. m.w. N. Dies., ebd., S. 92 f.

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3. Kap.: Strukturelle Kopplungen des Rechtssystems

verstanden werden. Dies lasse es insgesamt naheliegend erscheinen, strukturelle Kopplungen der Funktionssysteme und globale Intersystemregime aus der Perspektive des Netzwerks zu beschreiben.892 Zusammenfassend lässt sich feststellen: alle Ansätze, die sich um eine noch weiter vertiefte Beobachtung und Beschreibung der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen bemühen – sei es über private governance regimes, globale Intersystemregime oder Interorganisationsnetzwerke – laufen letztlich mittelbar oder unmittelbar auf den Netzwerkgedanken zu. Das ist nicht unbedingt verwunderlich, hat doch der Netzwerkbegriff einerseits gerade in jüngster Zeit in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen eine nur als beispiellos zu bezeichnende Karriere durchlaufen.893 Andererseits ist ihm aber gleichsam im selben Atemzuge – ob mit oder ohne Grund sei hier ausdrücklich dahingestellt – vorgeworfen worden, durch ein ebenso beispielloses Maß an begrifflicher und inhaltlicher Unschärfe gekennzeichnet zu sein. Dazu ist aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie Niklas Luhmanns verpflichtet weiß, Folgendes zu erinnern:894 Der Begriff des Netzwerks gehört zweifellos nicht zu den tragenden und unverzichtbaren Theorieelementen der Systemtheorie. Dennoch taucht er häufiger in den Arbeiten Niklas Luhmanns auf.895 Allerdings ist dabei die Dualität seines Netzwerkkonzepts zu beachten. Danach sind ein konnexionistischer und ein im engeren Sinne „sozialer“ Netzwerkbegriff zu unterscheiden.896 Ersterer, der im vorliegend Zusammenhang allein von Bedeutung sein kann, stellt auf die Operation der Kommunikation ab und unterstreicht damit ein Merkmal der Selbsterzeugung sozialer Systeme.897 Soziale Systeme sind demzufolge nicht selbst Netz892

Dies., ebd., S. 117 ff. Siehe dazu auch oben S. 112 f., 180. 894 Allgemein zum Netzwerkgedanken aus systemtheoretischer Perspektive siehe insb. Luhmann, Organisation und Entscheidung, S. 407 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 846 f.; Bommes/Tacke, Netzwerke in der Gesellschaft der Gesellschaft (Hervorhebung i.O.), Soziale Systeme 13 (2007), 9 ff.; Holzer/Schmidt (Hrsg.), Theorie der Netzwerke oder Netzwerk-Theorie, Soziale Systeme 15 (2009), Heft 2, passim; Tacke, Differenzierung und/oder Vernetzung? Über Spannungen, Annäherungspotentiale und systemtheoretische Fortsetzungsmöglichkeiten der Netzwerkdiskussion, Soziale Systeme 15 (2009), 243 ff.; Bommes/Tacke (Hrsg.), Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft, 2011, passim. 895 Siehe etwa Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 806, 846 f.; ders., Organisation und Entscheidung, S. 407 ff. 896 Zur Dualität des Netzwerkbegriffs bei Niklas Luhmann siehe insb. Bommes/ Tacke, Netzwerke in der Gesellschaft der Gesellschaft (Hervorhebung i.O.), Soziale Systeme 13 (2007), 9 ff.; Tacke, Differenzierung und/oder Vernetzung? Über Spannungen, Annäherungspotentiale und systemtheoretische Fortsetzungsmöglichkeiten der Netzwerkdiskussion, Soziale Systeme 15 (2009), 243, 248 f. 897 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65: „Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.“ 893

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werke, sondern lediglich der operative Modus der Verknüpfung von Kommunikation wird als netzwerkartig beschrieben.898 Mit der Bezugnahme auf die Operation von Kommunikation wird im Hinblick auf den Netzwerkgedanken ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt thematisiert. Netzwerktheorie und Systemtheorie unterscheiden sich nämlich darin, dass der Systembegriff – im Gegensatz zum Netzwerkbegriff – nicht als Letztbegriff herhalten muss. Elementar ist in diesem Sinne aus der Sicht der Systemtheorie Niklas Luhmanns genau derjenige der Kommunikation. Zudem muss der Systembegriff – erneut im Gegensatz zum Netzwerkbegriff – auch nicht allein die Last tragen, als Strukturbegriff zu fungieren.899 Und schließlich führen uns die kommunikationstheoretischen Grundannahmen der Luhmannschen Systemtheorie zu einem letzten, möglicherweise aber besonders bedeutsamen und für die weiteren Forschungen zur strukturellen Kopplung von Funktionssystemen vielleicht sogar richtungweisenden Einwand. Vereinzelt wird nämlich selbst von den Vertretern des Netzwerkansatzes eingeräumt, dass es bei der Frage nach der Umsetzung der strukturellen Kopplung von Funktionssystemen eigentlich um die „Spezifizierung unspezifischer Irritationen“ gehe. Ungeklärt bleibe, wie die strukturelle Kopplung in den gekoppelten Funktionssystemen umgesetzt, wie folglich der Kommunikationsanschluss für den Fall der Irritation gewährleistet werde.900 Mit der Theoriefigur der Irritation könnte – zumindest im Hinblick auf die strukturelle Kopplung von Funktionssystemen – eine offene Flanke der Luhmannschen Systemtheorie berührt sein. Dabei soll nicht übersehen werden, dass sich Niklas Luhmann in seinen Arbeiten durchaus eingehender dem Gedanken der Irritation gewidmet hat.901 Woran es aber möglicherweise fehlt, sind Untersuchungen, die sich der Problematik zuwenden, detailliert zu beobachten und zu beschreiben, wie Irritationen in den gekoppelten Funktionssystemen umgesetzt werden. Und dabei wird man sich vermutlich nicht einmal auf strukturell gekoppelte Funktionssysteme beschränken dürfen, sondern den Blick auch auf operativ gekoppelte Funktionssysteme richten müssen. Aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts hieße dies nicht nur Recht und Politik sowie Recht und Wirtschaft, sondern eben auch Recht und Wissenschaft sowie Recht und Religion.

898 So ausdrücklich Bommes/Tacke, Netzwerke in der Gesellschaft der Gesellschaft (Hervorhebung i. O.), Soziale Systeme 13 (2007), 9. 899 Tacke, Differenzierung und/oder Vernetzung? Über Spannungen, Annäherungspotentiale und systemtheoretische Fortsetzungsmöglichkeiten der Netzwerkdiskussion, Soziale Systeme 15 (2009), 243, 266. 900 Lieckweg, Das Recht der Weltgesellschaft, S. 123. 901 Siehe z. B. nur Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 442 ff.; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 789 ff.; ders., Organisation und Entscheidung, S. 219 f.

Ausblick: Weltrecht in der Weltgesellschaft Ein Gedanke hat unsere Überlegungen zur strukturellen Kopplung des Rechtssystems, und zwar sowohl im Verhältnis von Recht und Politik als auch im Verhältnis von Recht und Wirtschaft, maßgeblich vorangetrieben: die Globalisierung des Rechts. Aber lässt sich Gesellschaft deshalb nur noch weltgesellschaftlich denken?902 Müssen wir folglich von einem Weltrecht in der Weltgesellschaft ausgehen?903 Alles scheint darauf hinzudeuten. Dass die Wissenschaft von Rovaniemi bis Buenos Aires und San Francisco bis Tokio weltumspannend dem Code wahr/unwahr folgt, versteht sich von selbst. Dass die Wirtschaft unter den Bedingungen der Moderne zwangsläufig weltgesellschaftlich gedacht werden muss, bedarf keiner näheren Begründung. Weltkunst und Weltreligionen sind ebenso wie der Weltfußball – um ein profaneres Beispiel zu bemühen – seit Langem gelebte Realität. Dass der Gedanke der Weltgesellschaft auch das Erziehungssystem erreicht hat, wird manchen vielleicht überraschen. Und dennoch dürfte es sich kaum um einen „Scherz am Rande“ handeln, wenn von soziologischer Seite dem Phänomen „Pokémon und die Globalisierung der Kinderzimmer“ nachgegangen wird.904 Dabei wird die Bedeutung des Pokémon-Phänomens und seiner Apologeten in der „treffenden Repräsentation der Widersprüche“ gesehen, „in die unsere Kultur der Totalkontrolle, der Digitalisierung, des Klonens von Lebewesen geraten wird“. Gerade die Verbindung der bürgerlichen Botschaft des autonomen, pflichtbewussten, an sich arbeitenden Subjekts mit stabiler Identität mit der phantastischen beliebigen Welt der Konstruktionen, der instabilen Identitäten, der postmodernen Dekonstruktion sei das Charakteristische. Diese „Digitalisierung von Traditionen, die Entbettung des zuvor Selbstverständlichen und die Konstruktion neuer Welten, die sich immer weniger der kulturellen Hegemonie des europäischen Bildungsbürgertums fügen“, soll den Grundzug und zugleich die Herausforderung der globalmodernen Kultur darstellen.905

902 So dezidiert Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 145 ff.; Stichweh, Die Weltgesellschaft, 2000. 903 Siehe nur plakativ Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, 2007, passim und insb. S. 188 ff., 459 ff., 686 ff. 904 Nassehi, Pokémon und die Globalisierung der Kinderzimmer. Das Geheimnis ihres Erfolges, FAZ v. 1.9.2001, Nr. 203, S. 8. 905 Ders., ebd.

Ausblick

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Andererseits wird dem Konzept der Weltgesellschaft zumindest in der Rechtswissenschaft als alternativer Ansatz das Konzept der Regionalgesellschaften gegenüber gestellt: „Wer die alltäglichen, stets regelgeleiteten Lebensformen zwischenmenschlicher Rechtskommunikation auf die in ihnen wirksamen normativen Strukturvorgaben hin beobachtet und analysiert, indem er – anders als Luhmann – von der sozialen Wirklichkeit des Rechts und den staatlich organisierten Rechtssystemen in der modernen Gesellschaft sowie den in ihr wirksamen zwischen- und überstaatlichen Intersystembeziehungen ausgeht, hat es in erster Linie gar nicht mit der Gesamtgesellschaft zu tun, auf die Luhmann von vornherein seine Erkenntnisinteressen konzentriert, sondern jeweils nur mit bestimmten Regionalgesellschaften, in denen unter Umständen mehrere staatliche Großorganisationen tätig sind.“ 906

Oder es heißt: „Rein technologisch gesehen, kann sich sogar der Eindruck aufdrängen, dass wir – global betrachtet – in einer Gesellschaft leben und nur in einer. Eine Glühbirne ist eine Glühbirne, TV ist TV – und das überall auf der Welt! . . . Aber trifft es wirklich zu, dass wir alle in einer Weltgesellschaft leben, die global sämtliche Lebensformen und sozialen Lebensverhältnisse umgreift? . . . Einmal unterstellt, aber nicht zugestanden, dass wir in einer derartigen Weltgesellschaft lebten, so ist es doch ein durch unser aller Erfahrung vielfach bestätigtes, normativ-institutionelles Faktum, dass wir tatsächlich – zugleich! – in einer und in vielen Gesellschaften leben. Dies wird deutlich, wenn wir . . . zwischen Weltgesellschaft und Regionalgesellschaften unterscheiden.“ 907

Diesbezüglich bleibt allerdings festzuhalten: Wenn wir darin übereinstimmen, dass es Kommunikation ist, welche die Gesellschaft als umfassendes soziales System konstituiert, und zugleich von ihrer Umwelt abgrenzt, dann kann es für alle anschlussfähige Kommunikation nur ein einziges Gesellschaftssystem geben, eben die Weltgesellschaft. Sie ist das „Sich-ereignen von Welt in der Kommunikation.“ 908 Das gilt auch für normative Kommunikation im Rechtssystem, d. h.

906 Krawietz, Staatliches oder gesellschaftliches Recht? Systemabhängigkeiten normativer Strukturbildung im Funktionssystem Recht, in: ders./Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, 1992, S. 247, 274. 907 Ders. Editorial: Konflikt verschiedenartiger Rechtskulturen oder universales Rechtssystem – Auf dem Wege zu einem Kerneuropa?, in: ders./Varga (Hrsg.), On Different Legal Cultures, Premodern and Modern States, and the Transition to the Rule of Law in Western and Eastern Europe, Rechtstheorie 33 (2002), S. VII, XIII; vgl. in diesem Zusammenhang auch Krawietz, Weltrechtssystem oder Globalisierung des Rechts? Konstruktion und Rekonstruktion der modernen Welt des Rechts in kommunikationsund systemtheoretischer Perspektive, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 419 ff.; Ziegert, Weltrecht und regionale Differenzierung, ebd., 453 ff. 908 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 150.

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Kommunikation am Maßstab der Codierung Recht/Unrecht. Sie kennt funktional keine regionalen Unterschiede.909 Aber lässt sich deshalb schon mit Grund von Weltrecht reden? Ist es gar der Kitt, der die Welt(gesellschaft) im innersten zusammenhält? 910 Oder bleibt es doch dabei: „Das Reich des Rechts ist, wenn überhaupt, ein System von Rechtssystemen.“ 911 Zu fragen ist nach den Grundlagen und Grenzen eines Weltrechtssystems. Niklas Luhmanns Annahme, dass die Gesellschaft angesichts ihrer weitgehenden funktionalen Ausdifferenzierung grundsätzlich als Weltgesellschaft gedacht werden muss, teilen wir. Unsere Aufmerksamkeit wecken sollte allerdings, dass er – sicherlich nicht ohne Grund – Besonderheiten für das Rechtssystem und das politische System geltend macht. Zwar sei auch hier – im Gegensatz zur h. M. unter den Juristen – ein weltweites Funktionssystem etabliert, indem man nämlich in allen Regionen Rechtsfragen von anderen Fragen unterscheiden könne, doch seien enorme Unterschiede in den einzelnen Regionen der Welt nicht zu verkennen. Niklas Luhmann verbindet damit ausdrücklich den Forschungsauftrag für die Rechtssoziologie, diese Unterschiede regionaler Differenzierung zu beschreiben und zu begreifen.912 Darin muss ein notwendiges Durchgangsstadium gesehen werden, wenn man – was noch keineswegs ausgemacht ist – von einem Weltrechtssystem ausgehen will. So wird etwa geltend gemacht, dass die funktionale Spezifizierung des Rechtssystems, „vom Erwartungsinhalt her betrachtet, sehr weitgehend mit staatlichen und suprastaatlichen Organisationssystemen verknüpft“ sei und deshalb „in engeren Bezugssystemen“ als der Weltgesellschaft stattfinde.913 Vor uns eröffnet sich also, was die Frage nach den Grundlagen und Grenzen eines Weltrechtssystems anbelangt, ein noch weitgehend unbestelltes Feld. Dieses soll vor dem Hintergrund der Überlegungen zur strukturellen Kopplung der Funktionssysteme Recht und Politik sowie Recht und Wirtschaft mit Blick auf die sie prägenden Rechtsgebiete des Völkerrechts, des Staatsrechts und des Wirtschaftsrechts jedenfalls ein wenig vorgespurt werden. Es mag dabei mehr oder weniger überraschen, dass gerade im Völkerrecht Weltrechtsbeobachtungen und Weltrechtsbeschreibungen deutlich sichtbar wer909 Funktionale Differenzierung dieser Art schließt aber segmentäre Differenzierung nicht aus, vielmehr ist interne Differenzierung eine Folge funktionaler Differenzierung. So für das politische System ders., Die Politik der Gesellschaft, S. 222. 910 Siehe dazu auch Kaube, Weltzement, FAZ v. 11.12.2002, Nr. 288, S. N 3. 911 Krawietz, Editorial: Konflikt verschiedenartiger Rechtskulturen oder universales Rechtssystem – Auf dem Wege zu einem Kerneuropa?, in: ders./Varga (Hrsg.), On Different Legal Cultures, Premodern and Modern States, and the Transition to the Rule of Law in Western and Eastern Europe, Rechtstheorie 33 (2002), S. VII. 912 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 573 f. 913 Schröder, Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers. Kritik eines institutionalistischen Rechtspositivismus, S. 60.

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den. So diskutiert die Völkerrechtsdogmatik unter dem Stichwort „Recht ohne Rechtsquellen?“ 914 in jüngster Zeit vermehrt Phänomene der Globalisierung und Entstaatlichung bzw. der Entstehung eines transnationalen Rechts im Völkerrecht.915 Mit dem „universal international law“ 916 wird die immer stärkere Abkehr von staatszentrierten Vorstellungen im Völkerrecht beschrieben. Beispielhaft dafür steht etwa das veränderte Verständnis des Art. 38 Abs. 1 lit. b) IGH-Statut, das lange Zeit für die Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht auf das einzelstaatliche Verhalten fokussiert war, nunmehr aber zunehmend auf die Praxis der Staatengemeinschaft insgesamt abstellt. Internationale Konferenzen, z. B. die „Weltkonferenzen“ der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und die Praxis innerhalb der Organe einer internationalen Organisation gewinnen im Verhältnis zum einzelnen Staat immer größere Bedeutung. Neben dem Völkergewohnheitsrecht lassen sich solche Weltrechtsbeobachtungen und Weltrechtsbeschreibungen aber auch in anderen Bereichen der internationalen Rechtsordnung ausmachen. Hier wären beispielhaft die Ausarbeitung sog. Rahmenkonventionen und Rahmenabkommen,917 vereinfachte Vertragsänderungs- bzw. Vertragsergänzungsverfahren, autoritative Interpretationen einzelner Vertragsbestimmungen durch Exekutivorgane eines Vertragsregimes und die verstärkt praktizierte Inkorporation rechtlich unverbindlicher Entscheidungen staatlicher oder privater Gremien in ein vor-

914 Tietje, Recht ohne Rechtsquellen? Entstehung und Wandel von Völkerrechtsnormen im Interesse des Schutzes globaler Rechtsgüter im Spannungsverhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsdynamik, ZRSoz 24 (2003), 27 ff. 915 von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme, ZaöRV 63 (2003), 853 ff.; Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, passim; ders., Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, AVR 37 (1999), 253 ff.; vgl. auch das Schwerpunktheft „Transnationales Recht“ der ZRSoz 23 (2002), 159 ff.; vgl. ferner Brütsch, Verrechtlichung der Weltpolitik oder Politisierung des Rechts? Die Debatte über transnationales Recht in den Internationalen Beziehungen, ZRSoz 23 (2002), 165 ff., Kotzur, Wechselwirkungen zwischen Europäischer Verfassungs- und Völkerrechtslehre. Eine Skizze zu den Methoden und Inhalten, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt. Liber amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 289, 291 ff.; Slaughter, A New World Order, 2004; EmmerichFritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, 2007. 916 Charney, Universal International Law, AJIL 87 (1993), 529 ff.; vgl. in diesem Zusammenhang auch Berman, Integrative Jurisprudence and World Law, in: Atienza/Pattaro/Schulte/Topornin/Wyduckel (Hrsg.), Theorie des Rechts und der Gesellschaft. FS Werner Krawietz zum 70. Geburtstag, 2003, 3 ff.; von Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht, 2001. 917 Beispiele: Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht, Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung, Rahmenkonvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten.

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handenes Vertragswerk918 zu nennen.919 Zu den Gründen dieser Weltrechtsbeobachtungen befragt, wird in der Völkerrechtsdogmatik vermutet, dass die klassische Rechtsquellenlehre des Völkerrechts der existentiellen Bedeutung des Schutzes globaler Güter (Umwelt, Kultur- und Naturerbe, Common Heritage of Mankind) zeitlich und inhaltlich nicht mehr gerecht wird, so dass sich als Reaktion darauf zumindest erste Ansätze eines „Rechts ohne Rechtsquellen“ herausarbeiten lassen.920 Solchen Weltrechtsbeobachtungen, die ihren Ausgangspunkt in einem „Recht ohne Rechtsquellen“ finden, stehen in der Völkerrechtsdogmatik interessanterweise Beobachtungs- und Beschreibungsansätze gegenüber, die gerade nicht von einer Entstaatlichung im Völkerrecht, sondern von einer nationalen Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft ausgehen. Im Sinne einer „interkonstitutionellen Völkerrechtskonzeption“ 921 versuchen sie herauszuarbeiten, „was die je nationalen Verfassungstexte in ihren weltweiten Rezeptionszusammenhängen für die Entstehung von Weltrecht leisten können“. Weltrecht wird dabei als Erscheinungsform „kooperativer Normerzeugung und Normverwirklichung zwischen nationalstaatlich verfasster und internationaler Gemeinschaft“ oder kurz und prägnant als „Verfassungsrecht der Weltgemeinschaft“ verstanden.922 Im Gegensatz zum Weltrecht als „Recht ohne Rechtsquellen“, das sich angesichts zeitlich-inhaltlicher Defizite in deutlicher Distanz zur klassischen Rechtsquellenlehre des Völkerrechts bewegt, kommt es hier gleich im doppelten Sinne zu einer Konstitutionalisierung des Weltrechtsbegriffs. Weltrecht konstitutionalisiert sich demnach aus den nationalen Verfassungen und leistet selbst einen unverzichtbaren Teilbeitrag zur fortschreitenden Konstitutionalisierung der Völkerrechtsgemeinschaft. Entwürfe autonomen transnationalen Rechts übersähen insoweit, dass es einen Bedingungszusammenhang zwischen zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und verfassungsrechtlicher Steuerung bzw. einer behaupteten rechtset918 Beispiele: Art. 2.4 des WTO-Übereinkommens über Technische Handelshemmnisse (TBT-Übereinkommen), Art. 3.2 des Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen der WTO (SPS-Übereinkommen), Seerechtskonvention der Vereinten Nationen (UNCLOS). 919 Tietje, Recht ohne Rechtsquellen?, ZRSoz 24 (2003), 27, 34 ff. 920 Ders., ebd., 41; vgl. insoweit auch Weltrechtsbeobachtungen im Bereich des Völkerstrafrechts, dort unter ausdrücklichem Bezug auf ein „Weltrechtsprinzip“, Jescheck/ Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl., 1996, S. 170; Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, S. 519 („Weltrechtspflegeprinzip“); Maierhöfer, Weltrechtsprinzip und Immunität: das Völkerstrafrecht vor den Haager Gerichten, EuGRZ 2003, 545 ff.; Weiß, Völkerstrafrecht zwischen Weltprinzip und Immunität, JZ 2002, 696 ff. 921 Dazu und zum Folgenden Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten. Die Rezeption verfassungsstaatlicher Normen durch das Völkerrecht, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 191 ff.; grundlegend dazu schon Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923; ders., Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926. 922 Kotzur, ebd., 194 f.

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zenden Autorität nichtstaatlicher Akteure und der ihnen durch nationales Verfassungsrecht eingeräumten Gestaltungsfreiheit gebe.923 Methodisch gründet sich ein solches „interkonstitutionelles Weltrecht“ auf einem weltweiten Rechtsvergleich, der ein vermeintliches „Kerneuropa“ ebenso wie Kleinstaaten und Übergangsgesellschaften jedweder Art in den Blick nimmt, und zwar ohne politische Systemunterschiede sowie sozioökonomische Entwicklungsasymetrien auszublenden.924 In der Fremdbeobachtung dieser Weltrechtsbeobachtungen des Rechtssystems, insb. der gerichtlichen Völkerrechtspraxis925 und der Völkerrechtsdogmatik,926 wird zunächst sichtbar: Niklas Luhmann dürfte Recht behalten mit seiner These, dass die zunehmende Aufmerksamkeit für das Thema der Menschenrechte zu den wichtigsten Indikatoren eines weltgesellschaftlichen Rechtssystems gehört.927 Möglicherweise gilt dies aber darüber hinaus auch für seine weitergehende These, dass in der Weltgesellschaft die Differenz von Inklusion und Exklusion als eine Art Metacode dient, der alle anderen Codes mediatisiert. Zwar gebe es die Differenz von Recht und Unrecht noch, doch sei diese für exkludierte Bevölkerungsgruppen im Verhältnis zu dem, was Exklusion ihnen auferlege, von vergleichsweise geringer Bedeutung.928 Natürlich setzt dies eine Ausdehnung des ursprünglichen Anwendungsbereichs der Differenz von Inklusion und Exklusion (Personen, Individuen) auf Organisationen in Funktionssystemen voraus.929 Hält man dies aber für denkbar, dann muss die Exklusion eines Staates aus dem Rechtssystem, z. B. durch seine Weigerung, sich der internationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen,930 nicht zwangs923

Ders., ebd., 194. Zur Weltrechtsbeobachtung der Rechtspraxis am Beispiel der „Weltrechtspflege“ siehe insb. BVerfG, NStZ 2001, 240 ff.; zur Beobachtung der Rechtspraxis durch die Völkerrechtsdogmatik siehe wiederum Kotzur, Weltrecht ohne Weltstaat – die nationale (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit als Motor völkerrechtlicher Konstitutionalisierungsprozesse?, DÖV 2002, 195 ff.; vgl. ferner ders., Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001. 925 Beispielhaft BVerfG, NStZ 2001, 240 ff. 926 Siehe beispielsweise Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001. 927 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 574 ff.; siehe u. a. auch Fischer-Lescano, Globalverfassung: Los desaparecidos und das Paradox der Menschenrechte, ZRSoz 23 (2002), 217 ff.; Bonacker, Inklusion und Integration durch Menschenrechte. Zur Evolution der Weltgesellschaft, ZRSoz 24 (2003), 121 ff. m.w. N.; vgl. auch Nolte/ Schreiber (Hrsg.), Der Mensch und seine Rechte. Grundlagen und Brennpunkte der Menschenrechte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, 2004. 928 Luhmann, ebd., S. 583. 929 So dezidiert Solte, Völkerrecht und Weltgesellschaft aus systemtheoretischer Sicht, ARSP 89 (2003), 519, 527; soweit ersichtlich wird das Thema bei Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2000, S. 390 ff. noch unter Bezugnahme auf den ursprünglichen Anwendungsbereich der Differenz thematisiert. 930 Zu Beispielen dafür siehe Solte, ebd. 924

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läufig den „Kompaktausschluss“ aus der Weltgesellschaft bedeuten.931 Vielmehr bleibt seine Inklusion, beispielsweise in das Wirtschaftssystem der Weltgesellschaft, nach wie vor möglich, doch darf nicht übersehen werden, dass diese unter Umständen durch die Exklusion aus einem anderen Funktionssystem nicht unerheblich erschwert wird.932 Letztlich mag dies dann sogar einen erneuten Inklusionsprozess einzuleiten.933 Mit Blick auf das Völkerrecht der Weltgesellschaft fördert eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems damit eine ganz grundlegende gesellschaftstheoretische Fragestellung, nämlich diejenige der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion, zu Tage.934 An der Zeitenwende vom 20. zum 21. Jahrhundert ist auch der „Staat“ wieder zum Thema geworden.935 Für das Völkerrecht verbindet sich diese Diskussion, wie soeben erläutert, mit den Schlagworten der „Entstaatlichung“ einerseits und der „nationalen Konstitutionalisierung“ andererseits. Aber auch die Staatsrechtsdogmatik lässt sich von der Wiederentdeckung des Staates und seiner Staatlichkeit im Zeichen der Globalisierung mitreißen.936 Von „tektonischen Verschiebungen kaum überschätzbaren Ausmaßes“ 937 ist die Rede, bisweilen gar von einer 931 Stichweh, Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, Soziale Systeme 3 (1997), 123, 127. 932 Solte, Völkerrecht und Weltgesellschaft aus systemtheoretischer Sicht, ARSP 89 (2003), 519, 527 m.w. N. 933 Ders., ebd., 528. 934 Siehe dazu neuerdings Stäheli/Stichweh (Hrsg.), Exclusion and Socio-Cultural Identities. Systems Theoretical and Poststructural Perspectives, Soziale Systeme 8 (2002), 3–144 mit Beiträgen von Baecker, Balke, Bohn, Elmer, Hahn, Marchart, Nassehi, Rasch, Stäheli, Stichweh u. Vogl; vgl. insoweit auch Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit, 2003, S. 100 ff. 935 Siehe nur aus politikwissenschaftlicher Sicht umfassend Roth, Genealogie des Staates, 2003. 936 Siehe z. B. neuerdings Schuppert, Ist Verwaltungs(Staats-)wissenschaft möglich? Überlegungen am Beispiel des Werkes von Klaus König, in: Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003, S. 15 ff.; Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2, 6 f., der für die Entwicklung einer „Neuen Staatswissenschaft“ plädiert. Sie konzentriere sich auf die „Bestands- und Alternativen- sowie auf die Begründungsanalyse, ohne freilich die anderen Argumentationsebenen völlig aus dem Blick zu verlieren“. Ihre besondere Funktion bestehe in der „rechtsbezogenen Bündelung verschiedener Perspektiven auf das Gemeinwesen“; vgl. ferner den Beratungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 2003 „Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung“ mit Vorträgen von Kokott und Vesting, VVDStRL 63 (2004), 7 ff.; 41 ff.; zum Thema siehe auch Tietje, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, DVBl. 2003, 1081 ff.; für die Entwicklung in der Verwaltungsrechtsdogmatik siehe ders., Internationalisiertes Verwaltungshandeln, 2001; Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, passim. 937 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 2.

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„kopernikanischen Wende.“ 938 Flankierend treten dem Stichworte wie der „integrierte Verfassungsstaat“,939 Modelle „offener Staaten“ 940 oder „kooperationsoffener Verfassungsstaaten“,941 aber auch eine „Welt jenseits des Staates“ 942 bis hin zum „Abschied vom Nationalstaat“ 943 zur Seite.944 Uns sind diese Stichworte in etwas abgewandelter Form als Konzepte transnationaler Staatenbildung, eines neuen Konstitutionalismus, des Rechtspluralismus, der „Good Governance“ und der offenen Staatlichkeit bereits im Rahmen der Überlegungen zur strukturellen Kopplung von Recht und Politik im Detail begegnet.945 Liegt es da nicht nahe, gleichsam in entgegengesetzter Richtung vom „Weltstaat“ 946 und der „Weltrepublik“ 947 zu träumen? Das Rechtssystem und das politische System der Weltgesellschaft differenzieren sich segmentär948 in Territorialstaaten aus. Dies wird man angesichts der Tatsache, dass sich auf der Welt etwa 200 Staaten politisch und rechtlich selbst als Staaten beschreiben, nicht ernsthaft bestreiten können. Nach wie vor lassen sich

938 Wahl, Die zweite Phase des öffentlichen Rechts in Deutschland. Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999), 495, 496; von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, 1996, 1 spricht von einem „kopernikanischen Perspektivenwechsel“. 939 Grawert, Der integrierte Verfassungsstaat, in: Lhotta/Oebbecke/Reh (Hrsg.), Deutsche und Europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge. Symposium zum 65. Geburtstag von Hans Boldt, 1997, S. 133 ff. 940 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998; Wahl, Der offene Staat und seine Rechtsgrundlagen, JuS 2003, 1145 ff. 941 Hobe, Der kooperationsoffene Verfassungsstaat, Der Staat 37 (1998), 521 ff. 942 Wahl, Der einzelne in der Welt jenseits des Staates, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 53 ff. 943 Albrow, Abschied vom Nationalstaat, 1998. 944 Zu weiteren Schlagworten in der Diskussion um die Wiederentdeckung des Staates siehe neuerdings Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), 511, 512 ff. 945 Siehe dazu oben S. 144 ff. 946 Dezidiert ablehnend insoweit Krawietz, Editorial: Konflikt verschiedenartiger Rechtskulturen oder universales Rechtssystem – Auf dem Wege zu einem Kerneuropa?, in: ders./Varga (Hrsg.), On Different Legal Cultures, Premodern and Modern States, and the Transition to the Rule of Law in Western and Eastern Europe, Rechtstheorie 33 (2002), VII, XIV„Es gibt keinen Weltstaat und kein Weltrecht!“; kritisch auch Zumbansen, Spiegelungen von „Staat und Gesellschaft“. Governance-Erfahrungen in der Globalisierungsdebatte, in: Anderheiden/Huster/Kirste (Hrsg.), Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts, ARSP-Beiheft Nr. 79 (2001), 13 ff. 947 Gosepath/Merle (Hrsg.), Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie, 2002; vgl. auch Müller, Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht, 2003; Steiger, Brauchen wir eine Weltrepublik?, Der Staat 42 (2003), 249 ff. 948 Einem allgemeinen systemtheoretischen Theorem zufolge ist Ausdifferenzierung durch interne Differenzierung bedingt, in diesem Sinne Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 222.

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deshalb auch Staat und Staatlichkeit als Einheit der internen Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft beschreiben. Etwas anderes gilt nur für all diejenigen, die sich zu sehr den Sirenenklängen apokalyptischer Abgesänge auf den Staat nähern. Übrigens zumeist unter verfehlter, weil höchst oberflächlicher Bezugnahme auf das Vorwort des Plettenberger Weltgeistes zu seiner Schrift über den „Begriff des Politischen“: „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren . . . Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück europäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront.“ 949

Nichts anderes als die Unhaltbarkeit der Prätention, dass vom Staat auch weiterhin erwartet werden könne, die Einheit der Sozialordnung gegenüber der Vielfalt individueller Interessen zu gewährleisten, hat Carl Schmitt zum Ausdruck bringen wollen.950 Eine solche funktionale Betrachtung von Staat und Staatlichkeit bewahrt uns vor unbedarfter Rede vom Untergang des Staates oder gar einer Welt ohne Staaten. Im übrigen wird man in diesem Zusammenhang mit Michael Stolleis darauf hinweisen dürfen, dass „apokalyptische Szenarien vom ,Ende der Staatlichkeit‘, vom Dahinschwinden des Rechts und von der Überwältigung der individuellen Freiheit durch anonyme Makrostrukturen für wissenschaftliche Schriftsteller attraktiver sind als eine entschiedene Umstellung auf neue Problemlagen. Wer eine ,Verfallstheorie‘ zu bieten hat, darf auf höhere Aufmerksamkeitsquoten hoffen. Wer angstgesteuerte Projektionen benutzt, findet mehr Gehör als der gelassene Pragmatiker.“ 951

Mit der Beschreibung von Staat und Staatlichkeit als Einheit der internen Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft verbindet sich vielmehr die Ausdifferenzierung der Weltpolitik als eigenes Funktionssystem.952 Ohne die Eigenständigkeit dieses Differenzierungsmusters des politischen Systems und ohne seine Indifferenz gegenüber anderen Funktionssystemen der Gesellschaft gäbe es Weltpolitik nämlich nicht. Zwei Überlegungen mögen dies verdeutlichen. Die Neugründung von Staaten, denken wir beispielhaft nur an die „Geburt“ von tschechischer und slowakischer Republik aus der ehemaligen Tschechoslowakei, ist eben nur mit einiger Indiffferenz gegenüber den Funktions- und Leistungsanforderungen anderer Funktionssysteme, etwa Wirtschaft und Wissenschaft, zu erklären.953 Vor allem aber findet die These in historisch949 Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corrollarien, 1987, S. 10. 950 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 217. 951 Stolleis, Erwartungen an das Recht, FAZ v. 30.12.2003, Nr. 302, S. 7. 952 Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 222. 953 Stichweh, Politik und Weltgesellschaft, in: Hellmann/Schmalz-Bruns (Hrsg.), Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, 2002, S. 287, 291.

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genetischer Perspektive ihre Bestätigung. Wir sind nämlich weit davon entfernt, Weltpolitik als postnationale oder postterritorialstaatliche Erscheinung zu deuten. Sie verknüpft sich vielmehr gerade mit der Entstehung des modernen Staates, d.h. mit der Durchsetzung territorialstaatlicher Herrschaft. Staatlichkeit für Zwecke politischer Kommunikation ist abhängig von internationaler Anerkennung; diese wiederum ist nicht an „Souveränität“ oder „Wahrung der Menschenrechte“ gebunden, sondern noch immer an die Jellineksche Trias von Staatsgewalt, Staatsvolk und Staatsgebiet.954 Das politische System der Weltgesellschaft ist demnach ein „System von Staaten“, in dem die Abhängigkeit einzelner Staaten von einem anderen stetig abnimmt, korrespondierend damit aber die Abhängigkeit aller Staaten vom politischen System der Weltgesellschaft kontinuierlich zunimmt.955 Die politische Evolution hat dabei ganz unterschiedliche Formen von Staatlichkeit sichtbar werden lassen.956 So finden sich etwa für das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Europa neben feudal-patrimonialer Herrschaft und republikanischer Stadtherrschaft auch kirchlich-politische Herrschaftsformen, z. B. die Erzbistümer, sowie Adelsrepubliken, etwa das Polen des 17. und 18. Jahrhunderts. Zudem sind diese Formen von Staatlichkeit bisweilen sogar noch vielfältig miteinander verwoben. Angesichts dessen wird man Rudolf Stichweh in seiner Einschätzung nur zustimmen können, dass es sich beim Territorialstaat, wie er sich im 19. und 20. Jahrhundert zur weltweit einzigen Form von Staatlichkeit entwickelt hat, letztlich um eine „extrem unwahrscheinliche Emergenz“ des politischen Systems der Weltgesellschaft handelt. Nicht auszuschließen ist aber, dass wir es auch dabei am Ende nur mit einer vergleichsweise kurzen Episode in der Geschichte der Weltpolitik zu tun haben. So wird an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert erneut eine Pluralität politischer Herrschaftsformen deutlich, die sich – unabhängig von den Kommunikationszusammenhängen der Territorialstaaten – für ganz unterschiedliche Politikfelder, z. B. Verkehr, Wissenschaft, Klimaschutz oder Finanzpolitik, ausdifferenziert. Damit einher geht der „Bedeutungsgewinn substaatlicher, suprastaatlicher und transstaatlicher Ebenen“ politischer Kommunikation, in der der Territorialstaat zwar weiterhin eine signifikante Erscheinung bleibt, sich aber in komplexere Systembildungen einfügt. Damit ist die Antwort auf die Frage nach dem (Welt-)Staat vorgezeichnet: Der Staat ist in der Selbstbeschreibung des politischen Systems der Weltgesellschaft 954 Siehe dazu insb. Göbel, Paradigmatische Erschöpfung. Wissenssoziologische Bemerkungen zum Fall Carl Schmitts, in: ders./van Laak/Villinger, Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den 20er Jahren, 1995, S. 267 ff.; vgl. auch Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 224 f. 955 Luhmann, ebd., S. 221 m.w. N. 956 Zum Folgenden ausführlich Stichweh, Politik und Weltgesellschaft, in: Hellmann/ Schmalz-Bruns (Hrsg.), Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie, 2002, S. 287, 294 f.

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nicht untergegangen, aber genauso wenig lässt sich eine Selbstbeschreibung als Weltstaat auch nur am Horizont ausmachen! Das wichtigste und zugleich umstrittenste Beispiel für die Entstehung und Entwicklung eines Weltrechtssystems stellt schließlich ganz zweifellos das Wirtschaftsrecht und dort die Lex Mercatoria dar. Bei ihr handelt es sich – wie ausführlich dargestellt957 – um einen sich über multinationale Unternehmen, sog. Formulating Agencies und die internationale Schiedsspruchpraxis selbst herausbildenden materiellen Rechtskorpus im internationalen Wirtschaftsverkehr.958 Obwohl bei der Lex Mercatoria zumindest noch nicht die Rede von einem konsistenten Gebäude von Rechtsnormen sein kann, vielmehr gegenwärtig erst eine Systematisierung kasuistischer Schiedssprüche und einiger Modellgesetze für den internationalen Wirtschaftsverkehr vorliegen, kann – wie gesagt – kein Zweifel daran bestehen, dass wir es mit Kommunikation am Maßstab des Codes Recht/ Unrecht und das heißt mit normativer Kommunikation im Rechtssystem der Weltgesellschaft zu tun haben.959 Und die Bedeutung der Lex Mercatoria wächst weiterhin. Ein Blick auf die „virtuelle Gesellschaft“ der internationalen Finanzmärkte mag dies verdeutlichen.960 Dabei geht es nicht um den breit gestreuten internationalen Börsenmarkt, sondern um den sich einzig und allein an drei Standorten, nämlich London, New York, Tokyo, in drei Zeitzonen und drei Währungen ausschließlich im Netz ereignenden internationalen Finanzhandel. Der tägliche Umsatz dieses Finanzmarktes liegt bei ca 1,2 Trillionen Dollar, seine Händler agieren in Echtzeit, ihre elektronischen Geschäftsbücher reichen sie, wenn die Konten am Abend nicht geschlossen werden, dem Lauf der Sonne folgend von Zeitzone zu Zeitzone weiter. Die „virtuelle Gesellschaft“ dieses Finanzmarktes kennt weder Anfang noch Ende, weder Tag noch Nacht. Ihre Diskontinuitäten sind der Übergang von der Netzwerk- zur Flussarchitektur und von der Raum- zur Zeitwelt. Die Materialität dieser Welt ist nur noch Kommunikation.

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Siehe oben S. 164 f. Siehe dazu aus zivilrechtsdogmatischer Perspektive grundlegend Stein, Lex Mercatoria. Realität und Theorie, 1995; aus politikwissenschaftlicher Sicht siehe insb. Albert, Zur Politik der Weltgesellschaft, 2002, S. 235 ff.; aus systemtheoretischer Perspektive siehe auch Eichler, Globalisierung des Wirtschaftsrechts unter besonderer Berücksichtigung der Lex Mercatoria, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 167 ff. 959 Deshalb bedarf es der Umsetzung der Empfehlung von Stein, ebd., S. 179 ff., angesichts der sich weiterentwickelnden Rechtspraxis eher die Rechtstheorie zu modifizieren denn die Lex Mercatoria als Nicht-Recht einzuordnen, gar nicht. 960 Eindrucksvoll dazu und zum Folgenden Knorr Cetina, Global Microstructures: The Virtual Societies of Financial Markets, AJS 107 (2002), 905 ff.; dies., How are Global Markets Global? The Architecture of a Flow World, in: dies./Preda (Hrsg.), The Sociology of Financial Markets, 2006, S. 38 ff. 958

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Vor allem aber: auch in dieser „virtuellen Welt“ lässt sich normative Kommunikation beobachten und beschreiben. Neben den „rules of conduct“, gleichsam dem Ehrenkodex des internationalen Finanzmarkthandels, ist es erneut die Lex Mercatoria, die auch in dieser „Spezialwelt“ als transnationales Recht gewohnheitsrechtliche Anerkennung findet.961 Eines ist allerdings offensichtlich: in einem Markt, der täglich etwa 1,2 Trillionen Dollar bewegt, verengt sich das Spektrum der Sanktionsmöglichkeiten im Falle eines Normverstoßes deutlich. Geldstrafen degenerieren zur Bedeutungslosigkeit, nur der Ausschluss vom Handel, das heißt zumeist Verhaftung an Ort und Stelle, wird als wirkliche Sanktion begriffen. Damit wird übrigens nicht nur die direkte Verbindungslinie zur Sozialtheorie Michel Foucaults gezogen, in der der Theorie des Gefängnisses als Ort des Ausschlusses aus der Gesellschaft strategische Bedeutung zukommt, vielmehr könnte erneut aus der Perspektive einer soziologischen Theorie des Rechts, die sich der Systemtheorie verpflichtet weiß, Anlass dazu bestehen, Niklas Luhmanns These nachzugehen, „dass die Differenz von Inklusion und Exklusion als eine Art Metacode dient, der alle anderen Codes mediatisiert.“ 962 Damit dürfte zugleich bereits ein Stück weit der Weg vorgezeichnet sein, den eine künftige Befassung mit dem Weltrecht in der Weltgesellschaft, und zwar in der Form einer Selbst- und Fremdbeschreibung des Rechtssystems als Weltrechtssystem, beschreiten müsste. Das Wirtschaftsrecht und das Völkerrecht haben es schon deutlich werden lassen, aber auch das Staatsrecht fördert es über die Behandlung der Menschenrechtsproblematik963 unverkennbar zu Tage und vielleicht lässt sogar die Beobachtung des Internetrechts964 durchaus Vergleichbares sichtbar werden: ganz maßgeblich könnte es zukünftig darauf ankommen, zu beobachten und zu beschreiben, in welchem Verhältnis die Benutzung der Recht/ Unrecht-Differenz einerseits und der Inklusion/Exklusion-Differenz andererseits zueinander stehen. Anders und allgemeiner ausgedrückt: müssen wir davon ausgehen, dass die spezifischen Differenzen der einzelnen Funktionssysteme der Weltgesellschaft tatsächlich durch einen „Metacode“ von Inklusion und Exklusion gleichsam überschrieben werden? Für das Rechtssystem der Weltgesellschaft hat diese Frage vor dem Hintergrund der rechtlichen und politischen Situation Lateinamerikas, speziell Brasiliens, in jüngerer Zeit positive Beantwortung gefunden.965 Und zwar hänge der 961

Dies., ebd., AJS 107 (2002), 905, 936 f. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 583. 963 Dazu ders., ebd., S. 574 ff. 964 Siehe dazu Schröder, Globalisierung des Internetrechts?, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 231 ff. 965 Siehe dazu und zum Folgenden Neves, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts„ Rechtstheorie 34 (2003), 245, 264 ff.; siehe zuvor schon ders., Verfassung und Positivität des Rechts in der peripheren Moderne. Eine theoretische Betrachtung und eine Interpretation des Falls Brasilien, 1992. 962

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„Mangel an Verfassung, . . ., besonders im Fall der semantischen Verzerrung des Verfassungstextes im Laufe des Konkretisierungsprozesses“ mit einer sich von „unten“ wie von „oben“ vollziehenden „sozialen Exklusion“ zusammen, die „destruktive Folgen für die Geltung eines ausdifferenzierten Rechtscodes und einer rechtsstaatlichen Verfassung als struktureller Kopplung von Recht und Politik“ zeitige. Dabei bestehe das besondere Problem in der „Generalisierung von Beziehungen von Überintegration und Subintegration in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche“. Für solche „Über- und Unterbürger“ stelle die Verfassung „keinen Horizont ihres rechtlichen und politischen Handelns und Erlebens“ dar. Konsequenz dessen sei die „Implosion der Verfassung als Grund(teil)ordnung der rechtlichen und politischen Kommunikation“ und die Unterdrückung der Rechtsproduktion durch Kommunikationszurechnungen, die von „oben“ oder „unten“ nach anderen Präferenz-Codes bestimmt würden. So werde beispielsweise in Brasilien „die auf Inklusion ausgerichtete Verallgemeinerung des Codes Recht/Unrecht verunmöglicht und der direkte (nicht decodierte), partikularistische und blockierende Eingriff verschiedenster sozialer Faktoren in die Reproduktion des Rechts, vor allem die heteronomisierende Einmischung der ökonomischen und politischen Interessen, gefördert“. Dass damit auf ein zentrales Problem der Fremdbeobachtung und -beschreibung des Weltrechts in der Weltgesellschaft aufmerksam gemacht wird, ist als solches zunächst grundsätzlich verdienstvoll. Im Einzelnen begegnet eine solche stark normativ geprägte Sichtweise jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht durchgreifenden Bedenken. Schon die Annahme, dass die behauptete Unterordnung des Rechtscodes unter die Codierungen des wirtschaftlichen und politischen Systems der Weltgesellschaft „in der überwiegenden Mehrheit der Regionen des Erdballs dominierend“ sei,966 lässt über Brasilien hinaus jeden empirischen Beleg vermissen. Genauso „gut“ ließe sich unter Hinweis auf die singuläre Situation Brasiliens geradewegs das Gegenteil behaupten. Schwerer wiegt hingegen, dass durch den dargestellten Argumentationsansatz ein aus systemtheoretischer Perspektive mit der Betonung der Zeitdimension967 längst überwundenes Vorstellungsbild von der sozialintegrativen Funktion des Rechts durchschimmert968. Außerdem kann man sich jedenfalls nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass die notwendige Unterscheidung von Funktion und Leistung des Rechts969 nicht hin-

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Ders., ebd., Rechtstheorie 34 (2003), 268. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S.125 ff. 968 In diesem Sinne allerdings noch immer Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 90 ff.; dazu kritisch Schulte, Begriff und Funktion des Rechts der Gesellschaft, in: Atienza/ Pattaro/Schulte/Topornin/Wyduckel (Hrsg.), Theorie des Rechts und der Gesellschaft. FS Werner Krawietz zum 70. Geburtstag, 2003, S. 767, 782 f. m.w. N. 969 Siehe dazu Schulte, ebd., S. 788; vgl. aber auch Japp, Risikoreflexion – Beobachtung der Gesellschaft im Recht, in: Bora (Hrsg.), Rechtliches Risikomanagement. Form, 967

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reichend realisiert wird. Es sei hier gar nicht bestritten, dass die Verfassung in Brasilien vielleicht teilweise gesellschaftliche Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung nicht (oder nicht umfassend) zu leisten vermag, trotzdem wird man sich auch dort auf bestimmte „Erwartungen als Erwartungen (nicht: als Verhaltensprognosen)“ 970 verlassen können. Angesichts dessen erscheint jedenfalls noch keineswegs ausgemacht, dass es sich bei der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion nicht doch um eine „milde, die Codes der Funktionssysteme mediatisierende, also die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und damit die Ausdifferenzierung des Rechts sowie die Verfassungsordnung durchziehende Meta-Differenz“ 971 handeln könnte. Wie man sich dies hingegen vorzustellen und welche Konsequenzen das für eine Theorie funktionaler Differenzierung der Gesellschaft hätte, muss an dieser Stelle offen bleiben.972 Deshalb kennt unsere Untersuchung, die schon keinen Anfang hatte, auch kein Ende, „weil jede weitere Operation im Hinblick auf weitere Operationen produziert wird.“ 973

Funktion und Leistungsfähigkeit des Rechts in der Risikogesellschaft, 1999, S. 239, 242 f. 970 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 157. 971 Neves, Von der Autopoiesis zur Allopoiesis des Rechts, Rechtstheorie 34 (2003), 245, 265 unter Bezugnahme auf Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 632, dessen dahingehende Deutung der Differenz von Inklusion und Exklusion Neves allerdings in Zweifel zieht. 972 Siehe dazu aber Chanos, Demokratie in der Weltgesellschaft – Inklusion/Exklusion als neuer Metacode?, in: Schulte/Stichweh (Hrsg.), Weltrecht, Rechtstheorie 39 (2008), 383 ff.; vgl. ferner Farzin/Opitz/Stäheli (Hrsg.), Inklusion/Exklusion: Rhetorik – Körper – Macht, Soziale Systeme 14 (2008), 167 ff. 973 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 440 f.

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Sachverzeichnis Amplifikation 80 Anerkennungstheorie 51 ff. Argumentationstheorie 124 f., 133 autonome Determinante 103 Autopoiesis 56, 99, 100, 102, 154 Begründung 125, 128, 132 f., 135 Begründungslehre, juristische 132 f., 135 Bundesverfassungsgericht – als „Ersatzgesetzgeber“ 162 f. – als Vermittler struktureller Kopplung von Recht und Politik 161 ff. – Entparadoxierungsleistung 162 f. – Primärorientierung 162 f. Codierung 57 ff. DDR-Unrecht 47 ff., 69 f., 76 Differenzprinzip 74 Eigentum 173 Eigenverwaltungsrecht 108 Einheit der Rechtsordnung 103 f., 133 Emergenz 99, 100 Entwicklungsbegriff 84 Entwicklungsdenken 98 Entwicklungslinien 47 f., 86 Erkenntnisregeln 51 Erwartung 38 f. Evolutionstheorie 88 Exklusion, soziale 196 Folgenorientierung 66 ff., 68 Formulating Agencies 142 f., 166, 168 f., 176, 177 f. Fortschritt 87 Fortschrittsglaube 98 f.

Gefährdungshaftung 67 f. Gegenstromverfahren 52 Gemeinschaftsverwaltungsrecht 108 Generalisierung 78 Gerechtigkeit – als adäquate Komplexität konsistenten Entscheidens 77 ff., 83 – als Differenzbegriff 78 – als Fairness 52, 70 – als Kontingenzformel 77 ff. – Begriff und Verständnis 70 f., 78 – Formalisierung 79 f. – Grundsätze 73 – juridische 72 – soziale 70 – und Gleichheit 76 f. – und materiale Richtigkeit des Rechts 79 Gerechtigkeitstheorien 61, 62, 72 ff., 77 Gesellschaft – Dezentralisierung der Funktionssysteme 114 – funktionale Differenzierung 88, 113 f., 197 – und Organisation 154 Gesetzgebungslehre 127 f. Gewährleistungsverwaltung 175 Gewährleistungsverwaltungsrecht 142 f. Gewalt 96 f. Gewaltmonopol, staatliches 97 Gleichbehandlung 75 Gleichheitsbegriff 75 Gleichheitspräsumtion 75 Gleichheitsrecht 75 Gleichheitssatz 74 ff., 76, 79 Globalisierungstheorien 111 Governance 147 f.

Sachverzeichnis Grundnorm 56, 103 Grundrechtskollisionsrecht 105 Grundrechtstheorie 105 Hermeneutik, juristische 135 Inklusion 196 – und Exklusion 154, 189 f., 195, 197 Interaktionssysteme 93 Interdependenzunterbrechung 157 f. Interessenabwägung 95 f., 128 Interorganisationsnetzwerke 179 ff., 181 ff. Intersystemregime 179 ff., 181 ff. Intradisziplinarität 28 Irritabilität 81 f. Irritation 66, 68, 100, 117, 121, 155, 158, 183 Iurisdictio 115 Judicial-self-restraint 162 Juristenstreit 35, 37 Juristische Methode 18, 21, 94 – und Rechtsdogmatik 18 – und Rechtspraxis 21 Juristische Methodenlehre 19 ff., 134 f. – und Entscheidungsregeln 21 – und Juristische Methode 19 – und Rechtsphilosophie 22 f. – und Rechtspraxis 21 – und Sozialwissenschaften 19 ff. Justizverweigerungsverbot 116 f., 122 Knotenrelationen 181 Ko-Evolution 87, 96 ff., 155 Kohärenztheorie 52 Komplexität 87, 88, 99 f., 111 f., 117 – adäquate 81 ff. – Reduktion von 99 f., 112 Konditionalprogramme 59 ff., 80 Konsistenzkontrolle 17, 94 Konstitutionalismus 144 f. Krise 42, 43, 104, 112 f. Kulturkreislehre 146

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Latenz 63 Latenzfunktion 93 Legal Transplants 85 Lex Mercatoria 120 f., 141 f., 164 ff., 194 ff. loose coupling 157 f. Mauerschützen-Urteile 50 Mehrebenenmodell – in der Rechtsetzung 108 f. – in der Rechtsprechung 110 f. Mehrebenensystem, europäisches 107 f., 115 Menschenbild 37 f. Menschenrechte 189 Menschenwürde 35 ff., 37 Moorburg-Schiedsgerichtsverfahren 167 f. multinationale Unternehmen 165 f., 176 f. Nationalstaat 152 f., 163 Naturrecht 33, 34, 36 Neo-Kontraktualismus 51 ff., 72, 78 Netzwerk 104 f., 109, 111 f., 145, 182 f. Netzwerkbegriff – konnexionistischer 182 – „sozialer“ 182 – und Systembegriff 183 Netzwerkgesellschaft 180 Netzwerkknoten 180 f. Netzwerkmodell 111 ff. Netzwerktheorie 145, 180 – normative 104 – und Systemtheorie 183 Nichtwissen – spezifisches 130 – unspezifisches 130 Normativität 41, 93, 96 Normerzeugung 179, 181 NS-Unrecht 47 ff., 69, 76 Offenheit, kognitive 82 Organisation 127, 129 – als strukturelle Kopplung 159 f., 176

242

Sachverzeichnis

– als strukturelle Kopplung von Recht und Politik 150 ff. – als strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft 175 ff. – als Vermittler struktureller Kopplung 160 f., 176 ff., 179 – als Voraussetzung für strukturelle Kopplung 159, 176, 178, 179 – Bedeutung und Funktion 154 ff. – funktionale Fremdreferenz 156 – hybride 172 – Multireferenz 156 f. – Primärorientierung 156 – und Funktionssysteme 153 – und Interdependenzherstellung 158 f., 176 – und Interdependenzunterbrechung 158, 176 – und Organisation 153 Organisationssysteme 154 ff. Paradox 30 Pokémon-Phänomen 184 Politik 96 f., 136, 155 Präventionsrecht 129 Private Governance Regimes 179 ff. Programmierung 58 ff. Radbruchsche Formel 32, 34, 50, 69, 76 Rationalität 124 f. – beschränkte 135 – differenztheoretisches Verständnis 126 ff. – formale 128 f. – in der Risikogesellschaft 129 ff. – juridisch-institutionelle 124 – juridische 124 – materielle 128 – wissenschaftlich-philosophische 124 Rationalitätsgefälle 124 Recht 46, 105, 197 – Autopoiese 44 f. – Begriff 30 ff.

– – – – – – –

Erwartungssicherung durch 40 f. Europäisierung 118 ff. Evolution 84 ff. Funktion 38 ff., 59, 117, 136, 196 f. Funktionsverlust 43 Geltung 46 ff. Globalisierung 90 f., 105, 106, 111, 118 ff., 120, 184 ff. – Hierarchie 102 ff. – kirchliches 89 f. – Leistung 136, 196 f. – Medium 136 – Positivität 60, 101 f. – Programme 136 – Prozeduralisierung 61, 131 f. – Rationalität 61 f., 122 ff. – römisches 89, 94, 173 – städtisches 90 – Steuerungsfähigkeit 43 ff. – transnationales 105, 170, 187, 188 f., 195 – und Gerechtigkeit 69 ff. – und Gesetz 32 ff. – und Politik 136 ff. – und Unrecht 56 ff., 88, 91, 117, 121, 136 f., 189, 195 – und Wirtschaft 164 ff. – und Zeit 40 f. – weltliches 89 f. – Wirksamkeit 46 ff. Rechtsdogmatik 15 ff., 92 f., 94 f., 96 – Begriff 15 ff. – und Rechtspraxis 15 Rechtsetzung – jenseits des Nationalstaates 138, 141 ff. – und Rechtsprechung 115 f. – zirkuläre, im Wirtschaftsrecht 175 Rechtsgeltung 50, 56, 101 Rechtsgeltungsbedingungen 55 f. Rechtsgeltungsgründe 53, 55 Rechtsgeltungssymbol 55 f., 56, 99 Rechtsgeltungstheorien 48, 49 f., 50 f., 61

Sachverzeichnis Rechtsgeschichte 84, 87 ff. Rechtsphilosophie – Begriff 23 f. – und Rechtstheorie 24 f. Rechtspluralismus 104, 145 f., 169 f., 179 f. Rechtspositivismus 32, 36, 53, 54 f. Rechtspraxis 13 f. Rechtsprechungskoordination 110, 119 Rechtsprechungslehre 128 Rechtsquelle 54 Rechtsquellenlehre 113 – des Völkerrechts 188 – Neukonzeption der 105 f. Rechtsquellentheorien 54 f. Rechtsregime, globale 104, 180 Rechtsschichten 105 f., 108 f., 109, 112 f. Rechtsschutzmonopol 110, 119 Rechtsstaat 136 f. Rechtssystem 14, 22, 121 – Ausdifferenzierung 84 ff. – Codierung 57 ff., 88, 196 – dynamische Stabilität 56 – Einheit 56, 117 – Fremdbeobachtung und Fremdbeschreibung 11 ff. – Funktion 45 f., 66 f. – Gerichte als Zentrum 119 f., 121 f. – Komplexität 117 – Leistung 45 f. – operative Geschlossenheit 82 – Paradoxiemanagement 117 – Peripherie 121, 122 – Programmierung 88 – Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung 11 ff. – Selbstkontrolle 71 – Selbststeuerung 66 f. – strukturelle Kopplungen 136 ff. – und Organisationssysteme 186 – Zweckprogramme 64 ff. Rechtstheorie 24 ff. Rechtstransfer 85 ff., 97 f.

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Rechtswissenschaftstheorie 27 f. Rechtswissenschaftswissenschaft 28 Redescription 47 f., 165 re-entry 68, 126, 135 Reflexion 22, 23, 25 Reflexivität 14, 17 Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts 19 ff., 61 Regime 181 Regime-Kollisionen 105 Regionalgesellschaften 185 f. Regulierung 180 Regulierungsrecht 143 Regulierungsverwaltung 143, 175 Respezifikation 78 Restabilisierung 87 Rezeption 85 Risiko 130 Risikodogmatik 66 Risikoentscheidungen 66 ff., 68, 130 ff. Risikogesellschaft 66 Risikostaat 66 ff. Risikovorsorge 66 Risikowissen 130 Rom 89, 94 Rules of Conduct 195 Sachgerechtigkeit 81 Schiedsgerichtsbarkeit 110, 142 f., 166 ff., 171 f., 176, 178 Schleier des Nichtwissens 52, 77 Selbstreferenz 14, 22, 25 Selbststeuerung 45 Selektion 87, 91, 92 Souveränität 149 Staat 190 ff. – als strukturelle Kopplung von Recht und Politik 150 ff. – Begriff 136 f., 149 – Globalisierung 139 ff. – Privatisierung 139 ff. – Souveränität 42 f.

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Sachverzeichnis

Staatlichkeit – Ende der 192 – Formen von 193 – im Wandel 43, 138 ff., 190 f. – offene 148 f., 170 ff. – Zerfaserung von 139 f. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft, neue 20, 39, 128, 133 f., 147, 175 Staatsrechtslehre 25 ff. Stabilisierung 91, 92 f. Steuerung 44 f. Steuerungstheorie 147 Steuerungswissenschaft 147 f., 175 strukturelle Kopplung 96, 100, 150 ff. Stufenbau der Rechtsordnung 34, 102 ff. Systemrationalität 124 ff. Teilsystemevolutionen 91 Territorialstaat 191 ff. Transaktion 166, 173 f., 177 Transfer 86 f., 98 Überlegungs-Gleichgewicht 52 Unrechtsargument 33 Variation 87, 91, 92 Verfahren 60 ff., 93, 96, 127, 129 – Latenzfunktion 63 – Richtigkeitsgewähr 60, 61, 62, 132 Verfassung 160, 197 – als Entparadoxierungskonzept 151 f. – als strukturelle Kopplung von Recht und Politik 150 ff., 196 – jenseits des Nationalstaats 146 Verfassungsgerichtsbarkeit 160 ff., 162 Verhaltensregeln 51 Vertrag 177, 178 – als strukturelle Kopplung von Recht und Wirtschaft 173 ff.

– Globalisierung 174 ff. – Hybridisierung 174 – und Organisation 181 Vertragsdenken 51 ff. Verwaltungskooperationsrecht 108 Verwaltungsrecht 95, 106, 108 f. Verwaltungsrechtswissenschaft 19 ff., 43 ff. Völkergewohnheitsrecht 187 Völkerrecht, Konstitutionalisierung 188 Volkssouveränität 97 Vorrangregeln 73 Weltgesellschaft 91, 138, 152, 184 ff. Weltpolitik 163, 192 f. Weltrecht 90, 163, 184 ff. – Konstitutionalisierung 188 – und regionale Differenzierung 186 – und Völkerrecht 186 ff. Weltrechtspflege 90 Weltrepublik 144, 191 Weltstaat 191, 193 f. Wertordnungsdenken 64 f. Widerstandsrecht 97 Willkürformel 79 Wirtschaft, Globalisierung 165 ff. Wissen – und Nichtwissen 129 ff. – und unsicheres Wissen 129 ff. Wohlfahrtsstaat 64 ff. Zeit 56, 63, 196 Zentralsteuerung 45 Zentrum und Peripherie 113 ff., 118 f., 170 Zufall 99, 100 f.