Menschenbeben: Ursachen, Formen und Folgen von Flucht [1 ed.] 9783737007719, 9783847107712, 9783847007715

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Menschenbeben: Ursachen, Formen und Folgen von Flucht [1 ed.]
 9783737007719, 9783847107712, 9783847007715

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Erich Maria Remarque Jahrbuch / Yearbook XXVII/2017 Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums

Carl-Heinrich Bösling / Ursula Führer / Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)

Menschenbeben Ursachen, Formen und Folgen von Flucht

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dbb.de abrufbar. ISSN 0940-9181 ISBN 978-3-8471-0771-2 ISBN 978-3-8470-0771-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0771-9 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlages Osnabrück erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titel: Peter Eickmeyer: Einbruch der Wirklichkeit. © 2016 Peter Eickmeyer Redaktion: Claudia Junk, Thomas F. Schneider Satz: Thomas F. Schneider Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Carl-Heinrich Bösling / Ursula Führer Einleitung

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Miriam Fassbender 2.850 Kilometer

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Jochen Oltmer Gewaltmigration Hintergründe, Bedingungen und Folgen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert

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Eckart Stratenschulte Verflüchtigt sich Europa? Der Einfluss der »Flüchtlingskrise« auf den Zusammenhalt der EU

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Antonio Umberto Riccò Lampedusa – Drei Jahre danach

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Lioba Meyer »Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben« Angst, Verzweiflung und Hoffnung in Erich Maria Remarques Exilromanen als Beispiel von Exilliteratur

91

Reinhold Mokrosch Religion – auch eine Fluchtursache? Die brutale Verfolgung religiöser Minderheiten in Syrien

103

Habib El Mallouki Frieden als kosmische Aufgabe der menschlichen Gemeinschaft

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Beiträge zu Erich Maria Remarque Lena Dust Der Trilogiecharakter von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

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Marc Hieger »Ein Dasein der Freiheit und Gerechtigkeit« Heimkehr als ziviles Scheitern in Erich Maria Remarques Roman Der Weg zurück

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Roman R. Tschaikowskij История переводов романа Э.М. Ремарка Три товарища на русский язык

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Rezension Denis Herold. Formen und Funktionen der Neuen Sachlichkeit in Erich Maria ­Remarques Romanen (Rainer Jeglin)

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BeiträgerInnen und HerausgeberInnen dieses Bandes

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Carl-Heinrich Bösling

Einleitung

Auf der Suche nach einem sicheren Exil werden dem Flüchtling von den Behörden eines Staates, der ihn nicht aufnehmen will, auf dem Globus verschiedene andere Staaten gezeigt, in die er ausreisen könne. In ihnen würde er sicher aufgenommen werden. Nach einer kurzen Pause fragt der Flüchtling die Beamten: »Haben Sie keinen anderen Globus?« Jacob Taubes, Religionsphilosoph (1923–1987)

Der erste Teil der Beiträge dieses Bandes geht zurück auf eine von der Erich Maria Remarque-Gesellschaft und der Volkshochschule Osnabrück durchgeführte gemeinsame Tagung im April 2016. Unbedingt erwähnt werden sollte die großzügige Förderung der Tagung durch die Stiftung Niedersachsen und die Stiftung der Sparkasse Osnabrück. Der Titel der Tagung lautete »Menschenbeben. Ursachen, Formen und Folgen von Flucht«. Bewusst bezog sich diese Formulierung auf das 1983 erschienene Buch des Zukunftsforschers und Friedensaktivisten Robert Jungk Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche, das vor dem Hintergrund fortgesetzter Aufrüstungsbemühungen mit atomaren Vernichtungswaffen in Ost und West während des Kalten Krieges geschrieben worden war. Diese Entwicklung führte weltweit zu Aufrufen für den Frieden und zu Massenprotesten gegen Krieg, Unmenschlichkeit und Gewalt. Wie es scheint, wird heute ein neuer Aufstand gegen das »Unerträgliche« notwendig sein, wie es beispielsweise von dem Sozialethiker Friedhelm Hengsbach in seiner Schrift Teilen, nicht töten als neue gerechtere Weltordnung eingefordert wird. In die gleiche Richtung argumentierte der ehemalige französische Widerstandskämpfer und UN-Diplomat Stéphane Hessel in seiner Schrift Empört Euch!, in der er zu einer friedlichen Revolte und zu zivilem Ungehorsam auffordert. Nach dem vorläufigen Ende der Blockkonfrontation schien zunächst auch die Chance für eine neue Ära friedlichen Zusammenlebens in greifbare Nähe gerückt. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama löste 1992 mit seinen Buch Das Ende der Geschichte international viel Widerspruch und lebhafte Debatten aus. Nach dem Sturz totalitärer Systeme, verursacht durch das Ende 7

Carl-Heinrich Bösling

des Zweiten Weltkriegs und später den Fall der Berliner Mauer, prognostizierte er eine weltweite Durchsetzung demokratischer Staatsmodelle und liberalisierter marktwirtschaftlicher Strukturen. Tatsächlich aber ist in der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs keineswegs keine neue Ära des Friedens angebrochen. In mehreren Fällen müssen wir von »failed states«, gescheiterten Staaten, sprechen und nach wie vor ist die Zahl repressiver undemokratischer Regime hoch – es hat sogar den Anschein, als ob deren Anteil wieder zunimmt. Eingetreten sind dagegen überwiegend Fukuyamas wirtschaftliche Prophezeiungen, denn die Globalisierung der Weltwirtschaft schreitet weiter voran mit all den Gewinnern und Verlierern, die das mit sich bringt. So bot auch die Tagung Anfang 2016 genug aktuelle Anlässe, Blicke zurück zu werfen auf das Jahr 2015, das in Europa von vielen als eine Art Wendepunkt betrachtet wurde, weil der massive Zustrom Schutzsuchender vor allem aus Syrien und den angrenzenden Staaten schlaglichtartig deutlich gemacht hatte, wie sehr Deutschland Teil dieser unruhigen Welt ist. Kaum ein Tag verging ohne Meldungen über das Elend der wachsenden Zahl von Asylsuchenden, die vor Krieg, Verfolgung, Unterdrückung, Hunger und Elend aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Gleichzeitig führten uns brutale Anschläge die Fragilität unserer eigenen Gesellschaften vor Augen. Die Gewalt war, wie die Anschläge in Madrid, Paris, Brüssel, London und anderswo zeigten, mit aller Brutalität auch in den westlichen Metropolen angekommen. Da ließ Goethe im Faust noch einen Bürger sprechen: Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man abends froh nach Haus und segnet Fried und Friedenszeiten.

Die Vergangenheit eine Idylle? Nein! Auch die vergangenen Jahrhunderte waren durchzogen von Gewalt – es gab Flüchtlingsströme und Vertreibungen. Mehr noch, viele der blutigen offenen Kriege und verdeckten Konflikte, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, haben ihre Ursprünge in einer Geschichte von Überwältigung, Eroberung, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Neu dagegen ist, dass uns Korrespondenten live und in Echtzeit über die Dinge auf dem Laufenden halten und sich unsere Wahrnehmung zu verändern begonnen hat. Weit mehr als 65 Millionen Menschen sind auf der Flucht, die meisten von ihnen Binnenflüchtlinge oder Menschen, die in Nachbarländer wie Pakistan, Jordanien oder den Libanon geflohen sind. Mehr als 65 Millionen einzelne Schicksale. Die Flüchtlingsdebatte hat unsere Gesellschaft verändert. Und sie hat gespalten. Eine Welle von Hilfsbereitschaft auf der einen Seite; Fremdenhass, Angst vor Überfremdung, Erstarken rechter nationalistischer Strömungen auf der anderen Seite. 8

Einleitung

Was sind Flüchtlinge? Flüchtlinge sind Menschen, die gehen, obwohl sie lieber bleiben würden. Doch die Verhältnisse machen ihnen dies unmöglich. Und diese Verhältnisse sind vielfältig und schließen nicht nur Krieg, Terror und Gewalt ein, sondern haben vielfältige Ursachen, wie zum Beispiel Cord Jakobeit in einer Studie nachweist, die sich mit den verheerenden Folgen des Klimawandels befasst. Er stellt fest, dass allein 2015 mehr als 20 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten, weil sie von Dürren, Hitzewellen, Stürmen und Überschwemmungen dazu gezwungen waren. Damit flüchten jedes Jahr doppelt so viele Menschen vor Umweltkatastrophen wie vor Terror und Gewalt. Anzumerken ist dabei, dass auch viele Kriegsflüchtlinge ursprünglich Opfer des Klimawandels waren, der sie entwurzelt und in andere Regionen hat fliehen lassen, was dort Verteilungskonflikte ausgelöst hat. Es herrscht noch immer die Illusion, es handele sich bei der »Flüchtlingskrise«, bei der vor allem wir uns als Opfer einer plötzlich auftretenden, ungeplanten und unerwünschten Zuwanderung sehen, um eine Erscheinung, die bald wieder vorbeigeht. Dann nämlich, wenn wir die Krise ›bewältigt‹ und die ursprünglichen Zustände wieder hergestellt haben. Das wird so aber nicht eintreten. Wir müssen davon ausgehen, dass wir erst den Anfang einer umwälzenden Entwicklung erleben, die sich nicht einfach so stoppen lässt. In diesem Sinne sind die Texte dieses Jahrbuchs lediglich der Versuch einer Zwischenbilanz. * Die drei Beiträge zu Remarque beschäftigen sich im Schwerpunkt mit der Entstehung und Rezeption von Remarques Roman Der Weg zurück, der 1930 veröffentlicht wurde. In diesem Text stellt Remarque die Frage nach den Folgen von Konflikten, speziell den Möglichkeiten der nun ehemaligen Frontsoldaten, sich nach Jahren des Tötens, der Bedrohung und des Grauens wieder in eine Zivilgesellschaft zu integrieren – und Remarque beschreibt diesen »Weg zurück« vor allem als Spektrum möglichen und tatsächlichen Scheiterns. Erst die Rückbesinnung auf die menschlichen Grundwerte ermöglicht einen Neuanfang, in dem zivile Verhaltensweisen erst wieder eingeübt werden müssen. Für die Weimarer Republik war die Integration der Millionen an Körper und Geist versehrten Kriegsheimkehrer eine zentrale Herausforderung – nicht nur materiell, sondern vor allem auf dem Gebiet der öffentlichen Auseinandersetzungen, an der sie zu scheitern drohte angesichts der Remilitarisierung der Gesellschaft ab der Mitte der 1920er Jahre. Remarques Texte unter Einschluss von Im Westen nichts Neues lassen sich als Versuch lesen, diese Problematik in den Fokus zu rücken, ihre Gefahren zu verdeutlichen und auf den Prozess direkt einzuwirken. Die Integration der Kriegsheimkehrer und der Umgang mit den vielfältigen Traumata war kein auf Deutschland beschränktes Problem, sondern betraf alle Staaten Europas und darüber hinaus. Und es ist letztlich kein Problem, das sich 9

Carl-Heinrich Bösling

auf die unmittelbaren Nachkriegszeiten des Ersten oder Zweiten Weltkrieges beschränken ließe, sondern sich in der Gegenwart umso dringlicher stellt angesichts von mehr als 300.000 Deutschen mit Erfahrungen in Auslandseinsätzen der Bundeswehr und im Rahmen der »Flüchtlingskrise« mit unzähligen Betroffenen, die vor Krieg, Gewalt und Unterdrückung nach Europa geflohen sind.

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Miriam Fassbender

2.850 Kilometer1

Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird. Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche (1940/41 im finnischen Exil verfasst)

Im Jahr 2016 starben 5.022 Menschen bei ihrem Versuch, über Lybien, Tunesien oder Ägypten nach Italien und damit nach Europa zu gelangen. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Das heißt, jeder 41. Reisende starb bei seiner Flucht vor dem Prekariat, der Perspektivlosigkeit und Korruption, aber auch Krieg, Militärherrschaft, Autokratie, Rebellenkämpfen und dem steigenden Klima, dass die Industrie- und Schwellenländer dieser Welt mit ihrem unbedachten Klimaausschuss, zusätzlich befeuern. 16% der in Italien Angekommenen sind und waren Kinder und Jugendliche. Vornehmlich aus der Militärdiktatur Eritrea, dem Sudan, dessen Präsident Omar Hassan al-Bashir vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag mit Haftbefehl wegen Völkermordes gesucht wird, aus Nigeria und Nordkamerun vor Boko Haram und aus Gambia, dem ein Bürgerkrieg bevorsteht, sollte der autokratische

1 Auszug aus dem Buch 2850 Kilometer. Mohamed, Jerry und ich unterwegs in Afrika. Tagebuch eienr Flucht. Frankfurt/Main: Westend Verlag, 2014.

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Miriam Fassbender

Yahya Jammeh seiner Abwahl nach 22 Jahren an der Macht im Januar 2017 nicht folgen. Nach Rückführungsdeals der EU in ihr sicher erscheinende Drittstaaten, zu denen der Staatenbund mit Sitz in Brüssel sich nicht scheut neuerdings Ägypten und Tunesien und schon seit längerem Algerien und Marokko zu Verbündeten zu erklären, ist im März 2016 die heutige Autokratie Türkei hinzugekommen. Der EU–Türkei Deal ist das Letzte, was die Flüchtenden und die europäische Gesellschaft hinnehmen sollten. Schon denkt die Union über einen ähnlichen Pakt mit dem regierungslosen Lybien nach und scheut sich dabei nicht, über die KZ-ähnlichen Zustände hinwegzusehen, die dem Land angesichts täglicher Vorkomnisse in Intenierungslagern für Subsaharier von europäischen Diplomaten bescheinigt werden. Während Europa den Fliehenden auf der Westbalkanroute und in griechischen Notunterkünften im Januar 2017 beim Erfrieren zusieht, chartert Deutschland sogar eine Maschine und schiebt demonstrativ zwei einzelne Malier ab. Der eine hatte 13 Jahre in Deutschland gelebt und einen festen Arbeitsvertrag. Zwei vorhergegangene Abschiebungen der Beiden in Linienmaschinen waren aufgrund des Protests von Mitreisenden fehlgeschlagen. Um diese ultimative Deportation durchführen zu können, wurden an den beiden Männern Foltermethoden seitens der abschiebenden Beamten angewendet. In Venedig nahm sich am 22. Januar 2017 ein 22-jähriger Gambier mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung das Leben. Nachdem er seine Flucht über das Mittelmeer überlebt hatte, musste er, während seines Untergehens, miterleben, wie ihm jegliche Hilfe verweigert wurde. In seinem Sterben wurde er noch mit rassistischen Kommentaren gedemütigt. Ressentiments und struktureller wie institutioneller Rassismus der Europäer gegenüber den Ankommenden, sind seit 2016 nicht mehr von der Hand zu weisen. Die Zahlen der Übergriffe und Wahlen der Rechtspopulisten, sprechen für sich selbst. Es ist, nicht nur für Menschen afrikanischer Herkunft, mühsamer denn je geworden, auf den europäischen Kontinent zu gelangen. Für jene, die den Fußweg wählen gibt, es kaum mehr Möglichkeiten als über die Ägäis, das Schwarze Meer, das Mittelmeer oder eben den Arm von Gibralatar bzw dort über die, mittlerweile sechs Meter hohen und wieder mit Nato-Draht versehenen Zäune, nach Ceuta und Melilla, zu gelangen. Auf diese Reise nehme ich sie mit. Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus meinem Buch 2850 Kilometer, erschienen 2014 im Westend Verlag, Frankfurt.

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2.850 Kilometer

Europa Im Oktober 2005, als ich für ein Projekt in Marokko war, hatte ich mein Schlüsselerlebnis. Viele Hundert Migranten, die damals teilweise schon jahrelang in Marokko festhingen und dort vor allem aufgrund der europäischen Politik drangsaliert wurden, wagten organisierte Bewegungen über die Grenzzäune der spanischen Enklaven Melilla und Ceuta. Sechzehn Menschen kamen damals ums Leben, als der marokkanische Grenzschutz und die spanische Guardia Civil auf sie schossen. Ich fasste den Entschluss, einen Dokumentarfilm über Geflüchtete zu machen, die den Weg nach Europa suchen. Der Film Fremd ist über fünf Jahre hinweg entstanden, in denen ich mit Migranten und Geflüchteten in Mali, Algerien und Marokko an den Orten ihres Festhängens, ihres teilweise jahrelangen Zirkulierens vor Europa, sprach. Neun Jahre später, im Februar 2014, hat sich das Drama von 2005 wiederholt. An derselben Stelle. Wieder mussten Menschen sterben beim Versuch, auf unserem Kontinent Schutz zu suchen. Diesmal sind jene, die auf sie geschossen haben, Beamte von Frontex, der europäischen »Grenzschutzagentur«, die mit Rücken­ deckung der EU handelt. 
Heute sitze ich in Berlin, und was seit meinem Schlüsselerlebnis 2005 in Ceuta und Melilla, aber auch an anderen Stellen rund um unsere Außengrenzen passiert ist, ist bekannt und brauche ich nicht aufzuzählen. Zur Erinnerung einzig ein paar Ereignisse der letzten Monate: Im Oktober 2013 gab es in zwei aufeinanderfolgenden Wochen über 500 tote »Boatpeople« vor Lampedusa, denen von europäischer Seite Hilfeleistung in Form von Seenotrettung verwehrt wurde; und illegale Push-Back-Operationen in der Ägäis, denen vor allem Syrer zum Opfer gefallen sind. Ganz zu schweigen von den Mauern und Zäunen, die Europa in den vergangenen Jahren an seinen Grenzen erhöht, verlängert und errichtet (hat); den Rücknahmeabkommen, die es mit autoritären Diktatoren schließt; den Kriegen, die es unter dem Vorwand der »Terrorismusbekämpfung« meint legitimieren zu können, die aber in erster Linie Rohstoffinteressen zum Hintergrund haben und Menschen zwingen zu fliehen. Diesen Menschen, seien sie nun aus der Zentralafrikanischen Republik, aus Mali, Syrien oder Libyen, werden dabei nicht einmal legale Möglichkeiten gewährt, auf unserem Kontinent Schutz zu suchen. Chronologisch und aufgeteilt nach Ländern, durch die meine Protagonisten Mohamed und Jerry gezwungen waren zu fliehen, gebe ich ihnen (und den vielen anderen Geflüchteten) den Raum zu erzählen: Was sie bewogen hat zu fliehen, wie sie unterwegs leben und was sie sich von ihrer Zukunft erwarten. Ich erzähle, was an den Orten und in den Momenten ihres Verharren-Müssens passiert, und ich versuche, meine eigene privilegierte Position in Relation zu jener der Geflüchteten zu setzen. Was schon einer der Gründe für meinen Film war, bleibt eines meiner Hauptanliegen für dieses Buch: Es gibt sie nicht, die eine Geschichte der vielen Geflüch13

Miriam Fassbender

teten, die versuchen, es nach Europa zu schaffen. Das widerlegen rational allein schon die Zahlen: Von knapp 60 Millionen Flüchtenden hat nur ein Bruchteil den europäischen Kontinent zum Ziel. Zwei Drittel bleiben Binnenflüchtlinge. Ich möchte daher mindestens eine weitere Geschichte hinzufügen. Zum Glück ist die mediale Resonanz in den vergangenen Jahren etwas differenzierter geworden. Vor allem dank der »Refugee-Proteste« und der zunehmenden und lauter werdenden Stimmen der »People of Colour« gibt es vielschichtigere Erkenntnisse und eine andere Wahrnehmung über Europas Verrat an seinen eigenen Werten. Dennoch wird der Bogen zu den existierenden Machtverhältnissen viel zu selten gespannt. Obwohl Geschichten so definiert werden: Wie und wann sie erzählt werden, wer sie erzählt, vor allem aber wie viele Geschichten erzählt werden, hängt von Macht ab. Deshalb habe ich gezögert, das Angebot des Westend Verlags anzunehmen und über meine Erfahrungen ein Buch zu schreiben. Eine weitere Geschichte einer weißen Europäerin, mit den fragwürdigen Privilegien ausgestattet, im Zusammenleben mit den Geflüchteten, aber immer mit der Gewissheit, bestimmte Situationen in absehbarer Zeit mit dem Flugzeug, dank des Passes oder einer Geldzahlung wieder verlassen zu können? Warum eine Geschichte von mir, wo es mittlerweile vor allem die Geflüchteten selbst sind, die ihre Geschichte am eindrucksvollsten erzählen und damit endlich ein Gleichgewicht der Geschichten zu schaffen vermögen?! Immer noch wird ihnen viel zu wenig zugehört, werden sie viel zu einseitig wahrgenommen, und immer noch ist es mir ein Anliegen, ihnen den Raum zu geben, ihnen zuhören zu können und uns vor Augen zu führen, dass sie uns ähnlicher sind, als wir denken. Dass wir mehr Gemeinsamkeiten teilen, als wir Unterschiede haben, die uns trennen. Dass ihre Lebensvorstellungen den unsrigen gar nicht so fern sind. Es ist notwendig zu realisieren, dass unsere Erfahrungen, Privilegien und Denkstrukturen eurozentrisch (und weiß) sind. Die Betrachtungen aus unserer Perspektive sind nur eine der vielen bestehenden Sichtweisen und nicht universell. Deswegen ist es umso wichtiger, ihnen zuzuhören, auch in ihrem Schweigen. Ich bin keine Fürsprecherin der Geflüchteten, sondern habe meine eigene Motivation, mich gegen die vorhandenen Verhältnisse zu wehren. Schmerzlich sah ich mich während der Dreh- und der Schreibphasen immer wieder damit konfrontiert, dass ich selbst Nutznießerin der vorherrschenden Machtverhältnisse bin. Das ist schwer zu ertragen. Mali Im Air-France-Flug von Paris nach Bamako hätten die Dreharbeiten eigentlich direkt beginnen können. Die Maschine ist schon abflugbereit, da kommen noch vier französische Polizisten und zwei europäische Grenzschutzbeamte an Bord. 14

2.850 Kilometer

Zwischen ihnen ein Mann mit afrikanischen Wurzeln. Als sie an mir vorbeilaufen, fällt mir die Handschelle auf, die dessen Handgelenk mit dem hinter ihm laufenden Zivilbeamten verbindet. Ich traue meinen Augen nicht. Ein Abschiebeflug in der bis auf den letzten Platz belegten Maschine? Vor aller Augen? Und alle schweigen. Die Gruppe entfernt sich bis in die vorletzte Sitzreihe. Dort wird der Mann auf den Mittelsitz gelotst. Zwei der Polizisten nehmen links und rechts von ihm Platz. Ich packe meine Kamera aus und beginne, zwischen den Sitzreihen hindurch zu filmen. Kons, unserem Tonmann, ist es unangenehm. Unsere Sitznachbarn beginnen zu raunen und sich umzudrehen. Unvermittelt schreit der Abgeschobene auf einmal laut um Hilfe. Hat er als Einziger die Kamera wahrgenommen, seine Chance erkannt, sie als Waffe gegen die systematische Ungerechtigkeit zu nutzen? Nein, denn plötzlich stürmt einer der Polizisten auf mich zu, greift grob an das Objektiv und befiehlt mir, die Kamera umgehend auszuschalten. »Geben Sie mir sofort das Band«, herrscht er mich an. Sonst müsse ich das Flugzeug auf der Stelle mit ihnen verlassen. Ich bin perplex und gebe ihm zu verstehen, dass die Kamera noch gar nicht gelaufen sei. Er glaubt mir nicht und macht mir klar: Entweder gebe ich ihm sofort die Kassette, oder er konfisziert sie mitsamt der Kamera und wirft mich aus dem Flugzeug, da ich einen Polizeieinsatz störe. Um Zeit zu gewinnen, frage ich ihn, warum der Grenzschutz sich an Abschiebungen beteiligen würde? Sei der Pilot mit der Abschiebung an Bord einverstanden? Widerwillig gebe ich ihm dann doch das Band, in der Angst, sonst das bevorstehende Projekt zu gefährden. Das Flugzeug hebt ab. Als ich Stunden nach dem Abflug die hintere Toilette an Bord aufsuche, um nach dem auf einmal erstaunlich ruhigen Abgeschobenen zu schauen, verharrt dieser mit apathischem Blick in sich zusammengesackt auf seinem Platz. Die Handschellen sind an seinem Sitz befestigt. Sicherlich wurde er mit einem Beruhigungsmittel in diesen Zustand versetzt. Das Schweigen der Reisenden in den Nachbarreihen beschäftigt mich bis heute genauso wie die Frage, was passiert wäre, wenn ich mich geweigert hätte, ihnen die Kassette zu geben. Ich habe mich im Nachhinein oft über dieses egoistische Verhalten von mir geärgert. Wäre es nicht bei dem Vorhaben, einen Film über transkontinental Flüchtende zu drehen, das Mindeste gewesen, einem von ihnen durch couragiertes Verhalten die Abschiebung zu ersparen? Mich lautstark dafür einzusetzen, diese Abschiebung zu verhindern? Mich nicht einschüchtern zu lassen von dem Verhalten der Polizei? So wie der Kanadier, der im Juni 2013 in einer Air-Berlin-Maschine die Abschiebung eines pakistanischen Asylbewerbers nach Ungarn verhinderte. Er zeigte Zivilcourage, indem er es ablehnte, in einer Maschine nach Budapest zu fliegen, an deren Bord jemand abgeschoben wird. Der Pilot, der von der geplanten Abschiebung des Mannes angeblich nichts wusste, schloss sich dem Kanadier an und verbot, den Schutzsuchenden noch einmal mit an Bord zu nehmen. Der 15

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kanadische Künstler folgte dem Aufruf von Protestierenden, die mithilfe eines Flugblattes darauf hinwiesen, wie man als Fluggast eine Abschiebung verhindern kann: »Beobachten Sie aufmerksam, ob sich auf Ihrem Flug Abzuschiebende an Bord befinden, vor allem auf hinteren Sitzen und eventuell hinter einem Vorhang. Gehen Sie nach vorne zum Cockpit oder fordern Sie das Flugpersonal auf, den Kapitän sofort zu holen. Bei ihm liegt die letztendliche Entscheidung über die Mitnahme von Passagieren. Wenn dies vor dem Start geschieht: Solange Sie sich nicht setzen und anschnallen, kann nicht gestartet werden.« Nach unserer Landung in Bamako wird der Mann als Erstes, unter den Augen der Reisenden, an das malische Militär übergeben. Als ihm an der Bordtür die staubig-verkohlte Luft und die Dunkelheit Bamakos entgegenschlagen, stößt er klagende Laute aus und bricht in den Armen der Militärs wimmernd zusammen.[...] Im Café-Restaurant erkenne ich als Erstes die Kapuze wieder, die dem Mann in der hintersten Ecke des Raums tief ins Gesicht fällt, wie gestern. Erst als ich an seinem Tisch angekommen bin, ändert er seine Haltung. Er blickt auf die Tür, während er aufsteht und mir die Hand gibt. Und bedankt sich auf Französisch dafür, dass ich gekommen bin. Mohamed Ali Sanougo Keita heiße er, geboren am 19. Februar 1977 in Markala, südwestlich von Bamako. Er stamme aus einer Reisbauernfamilie und habe sieben jüngere Geschwister. Sein Vater sei gestorben, bevor er die Schule beenden konnte. Da habe seine Mutter beschlossen, er als ältester Sohn müsse nun die Verantwortung für die Familie übernehmen. Sie verkaufte die wenigen Rinder, mit denen sie ihre Felder bewirtschafteten, und schickte ihn auf Reisen. Geld verdienen solle er und es umgehend nach Hause schicken, damit zumindest seine Geschwister die Schule beenden könnten, die Brüder gute Ehefrauen fänden und die Familie überleben könne. Mohamed bricht notgedrungen auf. Gegen seinen Willen. Er selbst hätte auch lieber die Schule abgeschlossen und weiterhin als Reisbauer gearbeitet, nahe seiner Freundin und seiner Kumpels. Zuerst versuchte er, nach Angola zu gelangen und Gold zu schürfen. Gold sei gefragter denn je, das hätte ihm Geld einbringen können, und zumindest wäre er so auf seinem Kontinent geblieben, dessen Landschaft und Vielfalt er so liebt. Unterwegs habe er gehört, wie schwierig es mit dem Goldabbau geworden sei, und von den Wegen Richtung Europa erfahren. Er errechnete, dass seine Mutter ihm gerade genug Geld gegeben hatte, um eines der Boote auf der afrikanischen Seite der Straße von Gibraltar zu nehmen und überzusetzen. Gerade im Spätsommer würden diese ungehindert nach Spanien ablegen können, weil dort Erntehelfer benötigt würden – zu Bedingungen, die Europäer selten akzeptieren würden. 2001 sei das gewesen, und er habe sich gewundert, warum diese Europäer, die er bisher nur als Touristen oder NGO-Mitarbeiter in Afrika kannte, sich so wenig um ihre eigenen Böden scherten und sie nicht selber bewirtschaften wollten. Es reizte ihn auch die Vorstellung, mehr als die Ausbeute einer Ernte mit dieser Arbeit verdienen zu können. Bei der Ernte zu helfen und damit seine Familie zu Hause, womöglich noch inklusive all der Onkels und Tanten ernähren zu kön16

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nen – zumal die, seit sie von seinem Reiseziel wussten, ihm ständig aufrechneten, was sie ihm bisher alles Gutes getan hätten. So habe er sich auf den Weg gemacht, und als der Bus ein knappes Jahr später in Algerien die Straße am Meer entlanggefahren sei, sei ihm angst und bange geworden bei der Vorstellung, bald ein Boot betreten zu müssen. Er, der in einem Land ohne Küste groß geworden ist, könne doch nicht schwimmen. In seiner Heimat Markala habe er nahe des Staudamms im Niger zwar gebadet und in Gao würde er dieses Ritual mit dem wöchentlichen Waschen seiner Kleider verbinden, wie die meisten der hiesigen Bewohner. Aber schwimmen, das brauche er dazu nicht. Er unterbricht und schaut mich erwartungsvoll an. Ob mich das interessieren würde? Er sei bereit zu erzählen, denn mein Anliegen und meine Neugier seien ihm wichtig. Aber wir müssten aufpassen. [...] Ehe ich mich bedanken kann, ist er verschwunden. Bevor er durch die Tür hinaustritt, zieht er sich seine Kapuze wieder über den Kopf. Als ich das Café mit seinen Plastiktischen und -stühlen verlasse, ruft draußen schon der Muezzin zum Sonnenuntergang. An jeder Straßenecke und auf den kleineren und größeren Plätzen verneigen sich die Einwohner Gaos vor ihrem Gott. Am nächsten Morgen klagt der Tonmann über starke Magenschmerzen. Er ist grün im Gesicht, und wir beschließen, einen Arzt aufzusuchen. Wir werden an das örtliche Krankenhaus verwiesen, das einer Militärkaserne ähnelt. Zur Notaufnahme muss man von Ventilatoren gekühlte Zimmer durchqueren und Freiluftgänge nehmen. Trotz der Schlange vor dem Notaufnahmezimmer werden wir von einem Mann um die dreißig Jahre ins Zimmer gewunken. Während er sein Telefongespräch beendet und sein Handy, begleitet von einem geräuschvollen Rasseln der daran befestigten Anhänger, zuklappt, bleibt Zeit, sich umzusehen. Die Fensterläden sind geschlossen, es ist angenehm kühl. Im Zimmer befinden sich eine Liege, ein Garderobenständer, ein Tisch mit einer Schüssel voller Arztutensilien und ein Stuhl. Der Arzt bittet seinen Patienten, sich hinzulegen und seinen Oberkörper freizumachen. Er fragt nach seinem Befinden, hört sein Herz ab und tastet keine zwei Minuten dessen Bauch ab. Dann kommt er zu mir und flüstert mir leise zu, er denke, die Schmerzen kämen vom Blinddarm, er würde meinen Kollegen hier behalten und gegebenenfalls notoperieren. Der Tonmann hat es trotz Schmerzen und Flüstern gehört und springt, mit sorgenvollem Blick auf die einzige Schale mit Ärztebesteck, erschrocken auf. Ungläubig beschließt er, entgegen des Ärzterats zu gehen. Und bestätigt seinen Entschluss mit einer Unterschrift unter dem Diagnosebericht. Abends ruft er bei seiner Versicherung in Europa an, bei der der Produzent vor Drehbeginn eine Auslandskrankenversicherung für uns abgeschlossen hatte. Diese verlangt nach einem Fax des Krankenberichts und rät ihm, sich schnellstmöglich operieren zu lassen. Direkt nach Eintreffen des Diagnosefaxes würden sie ihm eine Maschine chartern. Er könne sich aussuchen, ob er in einem europäi17

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schen Krankenhaus auf den Kanaren oder in einem Krankenhaus für gut situierte Afrikaner und europäische Diplomaten in Bamako behandelt werden wolle. Sie empfehlen Letzteres, da man bei vermutetem Blinddarmdurchbruchsrisiko lange Flüge vermeiden solle. Noch in der Nacht bekommt er einen Rückruf mit der Nachricht, eine Maschine würde ihn am folgenden Morgen gegen zehn Uhr auf dem Flugplatz von Gao abholen, den die Amerikaner als Basis für ihre Expansion des Afrikakommandos Africom kofinanzieren. Die kleine Maschine landet am nächsten Morgen pünktlich und der hellhäutige Pilot und sein Co-Pilot freuen sich über ihren Krankentransportflug. Es sei eine nette Abwechslung, in die Hauptstadt zu fliegen. Normalerweise würden sie mit dieser Maschine im Norden Malis, im Niger und Tschad nach Goldvorkommen suchen. Mir ist ganz schwindelig, als ich mich verabschiede. Nicht der Beweis einer weiteren neokolonialen ausbeuterischen Tätigkeit macht mir zu schaffen, sondern diese schreiende Ungerechtigkeit. Wir sind hierhergekommen, um einen Dokumentarfilm über Menschen zu machen, die, um ihrer Armut zu entfliehen, die Wüste zu Fuß durchqueren müssen und dabei massenweise sterben. Und wir Europäer bekommen eine Diagnose, wollen uns unter bestimmten Umständen nicht behandeln lassen und benötigen nur einen einzigen Anruf, um mit einer aus dem Nachbarland gecharterten Maschine binnen weniger Stunden ausgeflogen zu werden. Mein Privileg, in Europa geboren zu sein, wird mir einmal mehr schmerzhaft bewusst. Da wundere sich noch jemand, warum sich das Trugbild Europas so standhaft hält.[...] Am nächsten Morgen trinke ich auf dem Markt einen Kaffee, angerührt mit holländischer Pulvermilch, und sitze auf einer der Bänke rund um die Tische mit Kaffeegeschirr, wo sich morgens die halbe Stadt zu treffen scheint. Dazu bekomme ich ein traditionelles Fladenbrot gereicht. Ich traue meinen Augen nicht: Eine Karre voller Melonen vor sich her schiebend kommt plötzlich Mohamed auf mich zu und bietet mir »eine Melone für 100 CFA« an. Als ich ihm die Münzen in die Hand drücke, verabredet er sich mit mir bei Einbruch der Dunkelheit im Innenhof des Hotels. Er erscheint pünktlich mit einer ihm vorauseilenden Whiskeyfahne und sagt, ich solle meine Kamera auspacken. Als sie läuft, rückt er seinen Stuhl zurecht und beginnt, von seiner ersten Abschiebung zu erzählen. Mohamed hatte im Jahr 2005 neun Monate in Marokko verbracht. Im Süden des Landes, in El Ayoun, sei er mit einer Gruppe Malier knapp zwei Wochen lang in einem Wüstenverschlag versteckt gehalten worden, den sie nur zum Pinkeln hätten verlassen dürfen. In einer Vollmondnacht, wenn das Meer leichter zu überblicken und normalerweise ruhiger ist, hätten sie dann die Überfahrt zu den Kanarischen Inseln gewagt. Sie seien festgebunden worden, um bei eventuell aufkommender Panik das Boot nicht zum Kentern zu bringen. An die Passage habe er nur noch vage Erinnerungen. Einer der Männer sei, als sie nach 48 Stunden die 18

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ersten Lichter gesehen hätten, plötzlich aufgesprungen und habe gesagt, er wolle sich eine Zigarette anzünden. Irgendwie habe er es geschafft, sich aus den Seilen zu winden und habe gerufen: »Mutter, ich komme. Lass uns eine rauchen.« Dann habe er das spiegelglatte Wasser betreten und sei kurz darauf in aufrechter Position vom Meer verschluckt worden. Panik habe sie ergriffen und hätte ihr Boot beinahe zum Kentern gebracht. Der Steuermann, ein senegalesischer Flüchtender, habe sie mit vorgehaltenem Messer zurechtgewiesen. Seine Reise bis Marokko war von den Schleppern vorfinanziert worden, da er als Fischer mit den Gezeiten und Gepflogenheiten des Meeres umzugehen wusste, ein Boot zu steuern vermochte und schwimmen konnte. Er würde jeden Einzelnen zusammenschlagen, der sich nicht sofort beruhige! »Geduld! Mut! Gleich haben wir es geschafft!«, schrie er. Sie hätten leise Gebete gemurmelt und rituelle Lieder gesungen, während der Gestank von Urin und Erbrochenem, das sich auf dem Bootsboden befand, ihnen den Atem raubte. Das Salz des Meeres juckte in ihren Augen.[...] Schweigen. Weder seine Mutter noch seine Geschwister stellten ihm Fragen. Sie hatten ihn herzlich umarmt. Seine jüngste Schwester hatte ihm einen Kaffee gemacht und sagte: »Du siehst müde aus.« Später hatte er mit seinen Brüdern zusammen eine Runde Tee getrunken und sich von der Schule und Neuigkeiten aus dem Dorf und vom Nigerstaudamm erzählen lassen. Der Nachbarssohn, der seine Schule erfolgreich beendet hatte, sei aufgebrochen Richtung Europa. Er hätte keine Geduld mehr gehabt mit den Mühen des Landlebens. Der Brunnen hätte täglich weniger Wasser, Strom gäbe es immer noch keinen. Der Regen hätte trotz Regenzeitsaison Monate auf sich warten lassen, und so sei der Großteil des eingesetzten Saatguts erst vertrocknet und später weggeschwemmt worden. Mohamed war erstaunt zu sehen, dass die dünnen Matten, auf denen sie immer geschlafen hatten, gegen einfache Betten und dickere Matratzen ausgetauscht worden waren. Ihren drei Schafen hatte seine Familie sogar einen Stall gebaut. Es war sein Freund aus Kindertagen, der ihn am nächsten Morgen in aller Frühe besuchte und der Einzige war, der erleichtert schien, ihn gesund wiederzusehen. Sein Freund klärte ihn auf, woher seine Mutter das Geld für ihre Investitionen nahm. Sie hatte ein Darlehen bei der bestsituierten Frau der Region bekommen, die mit einer Mischung aus Mystik und düsteren Unheilsverkündungen ihren Reichtum, der auf illegalem Handel basierte, geschickt zu vermehren wusste. Mohamed galt als Garant für die Kreditvergabe. Seine Familie war nun noch verschuldeter als vor seiner Abreise. Er fühlte sich unwohl unter dieser Last und versuchte, die Bürde zu vergessen, indem er seinen Schwestern bei der Feldarbeit half. Er stand jeden Morgen vor Sonnenaufgang mit ihnen auf, holte Wasser in den Kalebassen und arbeitete auf den Feldern der Familie, obwohl er sich wie erschlagen fühlte und am liebsten nur geschlafen hätte. Nach und nach kamen immer mehr Nachbarn, die von seiner Rückkehr gehört hatten, und suchten ihn während der Feldbestellung auf. Alle hatten das gleiche 19

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Anliegen: Was hatte er ihnen nach all dieser Zeit der Abwesenheit mitgebracht? Hatte er sie etwa vergessen? Hatte er ihnen überhaupt nichts zu geben, wo sie der Familie in seiner Abwesenheit doch so viel geholfen hatten? Seine Schwester hätte Schulden, und er müsste sie zurückzahlen. Mohamed war sprachlos. Er vermied die Felder und zog sich eine Woche lang in den Innenhof des Hauses zurück, ohne vor die Tür zu gehen. Einzig sein alter Freund kam ihn täglich besuchen, informierte ihn über Neuigkeiten und teilte ihm mit, die Kreditgeberin seiner Mutter wolle ihn sprechen. Bei seinen Abschieden vergaß er nie, Mohamed darauf hinzuweisen, dass er ihm für seine Besuche einiges schulde. Mohamed versuchte mit seiner Mutter zu sprechen, doch diese schien ihm nicht zuhören zu wollen. Eines Abends, als sie sein Lieblingsgericht, Reis mit Erdnusssoße, für alle gekocht hatte, ließ sie ihn wissen: »Ich bin so glücklich, dass du wohlbehalten heimgekehrt bist. Nun hast du dich genügend ausgeruht, und den richtigen Weg kennst du jetzt doch.« [...] Hope wurde 1980 in Lagos im Bezirk Iwaya Makoko geboren. Als zweitjüngste von neun Geschwistern ist sie mit 22 Jahren von zu Hause aufgebrochen. Ihre erste Reise Richtung Europa hat sie mit ihrer besten Freundin und dem Mofa ihres ältesten Bruders unternommen. Sie hatte als Designerin für Kleider und als Friseurin ein bisschen Geld gespart und wollte nach London, wo einige ihrer Schwestern für die gleiche Arbeit ein Vielfaches verdienen und sie einluden, bei ihnen unterzukommen. Eines Morgens nahmen die jungen Frauen das Mofa von Hopes Bruder und fuhren einfach los. Die beiden schafften es alleine durch die Westsahara, sogar bis an die marokkanische Küste. Dort zahlten sie zwei Hotel­ angestellten Geld und ließen sich auf zwei Jet-Skis über die Meerenge von Gibraltar bringen. Den spanischen Boden hatten sie schon unter ihren Füßen, als sie von Polizisten gestoppt wurden, die sie per Boot direkt zurück nach Marokko brachten. Auch ihnen wurde ihr Recht auf Asyl verwehrt. Sie wurden weder nach den Gründen ihrer Flucht gefragt, noch nach dem Erlebtem unterwegs. In Marokko verbrachten sie ungezählte Tage im Gefängnis von Nador, wo sie von Wärtern abwechselnd beleidigt und angemacht wurden. Das Gefängnis füllte sich zunehmend mit anglophonen Afrikanern, und eines Tages mussten sie in einen Bus steigen, wurden nach Rabat gebracht und von dort aus in ihr vermutetes Heimatland abgeschoben. Hope verbrachte eine einzige Nacht am Busbahnhof in Lagos, dann verließ sie ihr Land erneut. Ihre Familie hat sie nach ihrer Abschiebung nicht aufgesucht. Zum zweiten Mal unterwegs, führt sie nun seit drei Jahren eine Zweckbeziehung und ein Restaurant mit Charles, für Gaos nigerianische »Community«. Sie haben die Hoffnung irgendwann geenügend Geld zu verdienen, um sich eine »sichere Reise nach Europa« leisten zu können. Denn, so raunt Hope mir zu: »Dreimal zu Fuß durch die Wüste, das schaffst du nicht.« [...] Etwa 10 % der flüchtenden Subsaharis sind Frauen. Sie kommen vorwiegend aus christlich geprägten Ländern, also Kamerun, Nigeria, Ghana und dem Kongo. 20

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Meines Erachtens bieten sich flüchtenden Frauen drei Möglichkeiten des Reisens. Entweder sie werden von Europa aus bestellt: das heisst sie werden nach Schönheit und Intelligenz ausgewählt und dann über die »Chairmen« der Communitys, die meist in etwas besser ausgestatteten Foyers leben, nach Europa »geshuttelt«. In Europa selbst müssen sie Ihre Reise dann oft als Prosttuierte oder schlechtbezahlte, illegalisierte Arbeitskraft abbezahlen. Sie reisen alleine und finanzieren ihre Reise durch den Verkauf ihres Körpers an die lokale Bevölkerung des jeweiligen Transitlandes und an ihre männlichen Mitreisenden. Diese Frauen sind oft schneller unterwegs als die männlichen Flüchtenden, die sich als Billiglohnarbeiter ausnutzen lassen müssen. Sie verdienen mit Ihrer Prostitution ein Vielfaches des Tageslohns der männlichen Flüchtenden. Aber sie sind die ersten Opfer, bei Überällen der Konvois in der Wüste, während Abschiebungen, an Grenzübergängen oder an Polizeiposten. Und es gibt Frauen wie Hope, die sich auf eine Zweckbeziehung mit einem ihrer Leidensgenossen einlassen. In diesen Beziehungen spiegelt sich ein stereotypes Frauenbild wieder: Die Frauen putzen, kochen und kümmern sich um Hygiene im Alltag, und die Männer nehmen eine Beschützerrolle ein. Trotz, dass diese auch teilweise wieder genutzt wird, um die Frauen »unter Aufsicht« an andere Mitreisende zu verkaufen und sich so Geld für die Reise hinzu zu verdienen, erschienen mir die Flüchtenden, die ich kennengelernt habe, in diesen Beziehungen am würdevollsten. Algerien Mohamed und ich laufen eine Weile schweigend nebeneinander her. In der Nähe hackt ein gut fünfzigjähriger Algerier bei einer Scheune Erde auf. Mohamed läuft auf ihn zu und grüßt ihn höflich: »Salem Aleikum!« Der Algerier dreht ihm seinen Rücken zu und fährt unbekümmert mit seiner Arbeit fort. Mohamed beginnt, einige Verse aus dem Koran zu rezitieren, da hält der Mann bei seiner Arbeit inne und dreht sich um. Ich verstehe weder, was Mohamed auf Arabisch zu ihm sagt, noch was er antwortet. Sehr wohl aber nehme ich den sich verdüsternden Gesichtsausdruck des Angesprochenen wahr. Er guckt auf einmal ganz grimmig und wendet sich unwirsch von Mohamed ab. Seine Antwort fällt kurz angebunden aus. Mohamed wechselt ins Französische: »Sie haben kein Zimmer anzubieten, aber haben Sie vielleicht eine Arbeit für mich?« Der Mann ignoriert ihn, legt seine Hacke beiseite und verschwindet ins Innere des Schuppens. Wir laufen das »Oued«, das Wadi, entlang. Soweit mein Auge reicht Ödnis, das Trockental ist kaum bewachsen und führt kein Wasser. Oberhalb des Flussbetts beginnen die Felder, aber unten, wo es breiter und ebener ist als auf der anderen Seite, wo die Kameruner beinahe im Müll zu ersticken scheinen, liegt ein einziges Brachland. Mohamed zeigt in den Osten: »Hier zieht sich das Flussbett bis nach 21

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Maghnia. Und hier«, er hält kurz inne, bevor er mit seiner Hand Richtung Westen deutet, »hier verläuft es bis Marokko. Wenn wir uns auf dem Weg über die poröse Grenze nach Marokko verirren, folgen wir immer entweder den parallel verlaufenden Gleisen, oder wir orientieren uns an den Lichtern der Siedlungen und Städte. Denn die Lichter Algeriens sind weiß und die von Marokko leuchten nachts rot.« Ich komme mir vor wie bei einer Freiluftmuseumsführung. Während wir über Gestrüpp, Minzblätter und vereinzelte Calendulablüten hinwegsteigen, erzählt Mohamed, was er bereits in Gao über Maghnia angedeutet hat. Hier hätte sich lange Zeit ein »Afrique en miniature« auf nur wenigen Kilometern befunden: Die Nigerianer hätten ihr Ghetto auf halber Höhe des Wadis neben den Plastikkonstruktionen der Kameruner gehabt, diese seien die Nachbarn der Kongolesen gewesen. Ein paar Kilometer weiter Richtung Marokko hätten irgendwo im Flussbett die Malier ihr Ghetto zwischen dem der Ivorer und jenem der Senegalesen gehabt. »Man kennt seine Marotten und Verhaltensweisen. Deswegen ist es am besten, man ordnet die Unterkünfte unterwegs genauso an, wie die Länder Afrikas liegen.« Bis 2001 eine überraschende Flut das Flussbett ereilte, nahezu sämtliche Plastikkonstruktionen mit sich riss und sogar acht Menschenleben unter den »Sans-Papiers« forderte, hätten alle in einer großen Gemeinschaft mit­einander gelebt. Nebeneinander zwar, aber doch miteinander. Nach der Flut hätten sie erneut ihre Ghettos ins Wadi gebaut, allerdings an die Hänge. Eines Tages aber seien Polizei und Grenzschützer gekommen und hätten die Lager der Migranten gestürmt, alles Wertvolle in ihre Taschen gesteckt und die Plastikkonstruktionen aller Nationalitäten abgebrannt. Ständig würden sie mittlerweile mit ihren Hubschraubern die Grenzgebiete überfliegen und die Polizei und Gendarmerie informieren, sobald sie eine kleine Ansammlung von Subsahariern unter den Wacholderbäumen, nahe der Weinreben oder im Wadi sähen. Diese würden dann unvermittelt kommen und alle Subsaharier, die sie erwischen, mitnehmen, um sie in die Westsahara abzuschieben oder vorübergehend ins Gefängnis zu stecken. Sobald sie Hubschrauberlärm wahrnehmen, würden sie sich daher in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Heute hätten sie ihre Ghettos weiter nördlich wieder aufgebaut. In dem Ausläufer des Flussbetts auf der anderen Seite der Gleise, wo die Kameruner sich befänden. Andere hätten es vorgezogen, alte Bunker zu besetzen oder im Schutz der höher wachsenden Bäume ihre Zelte aufzuschlagen. Manche seien schon auf die marokkanische Seite weitergezogen, um dort unweit von Oujda ihre Behausungen hoch auf den Hügeln, mitten im Wald aufzuschlagen. Alle seien heutzutage so verstreut auf den siebzehn Kilometern zwischen den beiden Grenzstädten, dass es mühsamer geworden sei, sich spontan zu treffen. Jegliches Gemeinschaftsgefühl sei dahin. Einzig die Chairmen der Communitys mit ihren Handlangern träfen sich nach wie vor regelmäßig, um ihre berüchtigten »ECOWAS-Treffen« abzuhalten. Jede Community wähle hier regelmäßig ihren Anführer, der arbeite mit einem Kommissar und Polizisten zusammen. 22

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Ich tue mich schwer damit zu verstehen, was Mohamed mir erzählt. Außer, dass genau diese Anordnungen einer der Gründe waren, warum ich unbedingt mit ihm in Maghnia drehen, warum ich Maghnia sehen und verstehen wollte. Da glaubte ich noch, ein Verstehen könne möglich sein. Sprach er etwa von realen Polizisten aus Subsahara? Was machte die Westafrikanische Wirtschaftsunion ECOWAS auf den Routen der Migration? Aber ich schweige und genieße diesen Rundgang. Es ist beinahe 17 Uhr, und ich höre das Tuten, das die Ankunft eines vorbeituckernden Güterzugs ankündigt. Die Grenze ist seit 2001 offiziell geschlossen, trotzdem gibt es einen Güterzug, der zweimal täglich zwischen den beiden Grenzstädten verkehrt. Welche Waren hier wohl transportiert werden? Wir erreichen das »Ghetto Ghana«, das auf halber Höhe des Trockenbetts gelegen aus vier Zelten und einem Gebetsplatz für Muslime besteht. Die Ghanaer Muslime? Die fünf anwesenden Einwohner müssen über meine Frage lachen. Das sei nur zum Schutz. So würden die Algerier, die ihre Felder am Rande des Wadis hätten und auf sie herunterschauen würden, denken, es handle sich bei ihrer Community um mehrheitlich muslimische Gläubige. Deren Zelte würden seltener abgebrannt. Aus einigen Ästen und Plastikfolie haben sie sogar ein Plumpsklo mit Sichtschutz gebaut. Stolz zeigen sie mir ihre stabilen Zelte. Auf dem Plastikuntergrund, mit Steinen am Rand glatt gehalten, sind mehrere Schichten Pappkarton ausgelegt. Die beiden größeren Zelte sind innen durch Vorhänge aus grüner Plastikplane zweigeteilt. Das Zelt in der Platzmitte, ohne Seitenwände, aber mit Dach, dient als Küche. Baumstümpfe und umgedrehte leere Ölfässer wurden zu Tisch und Sitzgelegenheiten umfunktioniert, ein alter Gummireifen zur Bank. Flaschen mit abgetrennten Hälsen dienen als Trinkgefäße. Die Kochstelle findet sich vor dem Zelt. Sie machen einen Tee aus frischem Rosmarin aus dem Wadi und bitten uns, Platz zu nehmen. Einer der Ghanaer erzählt, dass er seit vier Jahren hier sei und zwischen dem rund 220 Kilometer entfernten marokkanischen Nador und hier unfreiwillig pendle. Zwölfmal sei er schon abgeschoben worden beim Versuch, nach Europa zu gelangen. Überklettern und Umschwimmen des Zauns vor Melilla sowie eine Schlauchbootfahrt, all das habe er bereits hinter sich. Wenn man sich fit für einen Angriff auf den Zaun fühle, warte man eher im marokkanischen Teil des Grenzgebiets auf den Zeitpunkt der »Attacke«, weit oberhalb der Stadt, versteckt in den dichten Pinienwäldern um Oujda. Nach Abschiebungen aber ziehe man sich auf die algerische Seite zurück, um zu verschnaufen oder um Geld zu verdienen für einen erneuten Versuch und einen Guide zu finden bis an die Grenzzäune der europäischen Enklaven, in die Wälder nahe Ceuta oder Melilla. Hier sei es weniger gefährlich. Außerdem regiere im Niemandsland um Maghnia gerade ein frankophoner Chairman, während um Oujda die Nigerianer derzeit Vorsitzende der selbsternannten ECOWAS, sozusagen der (Wirtschafts-) Union der afrikanischen Geflüchteten seien. Und das sei selbst für Ghanaer anstrengend. Hier sei er allerdings guter Dinge, vor allem im Augenblick, denn ein Ghanaer, mit dem er noch vor gut einer Woche hier zusammen gesessen habe, 23

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habe es soeben bis aufs spanische Festland geschafft. Er sei Arzt und versuche, in einem spanischen Krankenhaus eine Anstellung zu finden. Von diesem Arzt erzählt mein algerischer Gastgeber, ein Bauer, der die Subsaharis als günstige Tagelöhner zur Oliven- oder Clementinenernte gerne einstellt, mir abends, er sei ein Wunderheiler. Seine kleine Tochter Souad habe jahrelang unter einer unerklärlichen Hautkrankheit gelitten. Der Ausschlag sei in Schüben gekommen, und sie hätte sich am ganzen Körper blutig gekratzt. Keiner der ortsansässigen Ärzte habe Rat gewusst. Als der besagte Ghanaer von ihrem Leiden erfuhr und sie nur sah, habe er ihm die Paste einer Pflanze zu besorgen empfohlen. Als Djamel in der Apotheke nach dieser verlangte, hätte ihn die alte BerberAngestellte ungläubig gefragt, wer ihm diese Salbe verschrieben habe? Kein Arzt der Stadt, Spezialist hin oder her, sei erfahren genug, diese zu verschreiben. Es handle sich um ein uraltes Sufi-Heilgewächs. Drei Tage habe Souad die Wunderpaste benutzt, und ihr Ausschlag sei für immer verschwunden. Bei seinem letzten Western-Union-Botengang für die Subsaharis habe er auch fünfzig Euro für die Community der Ghanaer abgeholt, geschickt aus Madrid, von dem Arzt. Als Verwendungszweck war vermerkt: »Ich habe eine Festanstellung. Binnen einer Woche im gelobten Spanien. Gebt nicht auf, meine Brüder!« [...] Vormittags besuche ich Mohamed auf der Plantage, und er stellt mir einen Algerier vor, der ebenfalls ein ehemaliger harraga ist, einer, der ohne Dokumente nach Europa gereist war (der sie gegebenenfalls verbrannt hat, um seine Herkunft nicht preisgeben zu müssen). Der Mann brabbelt während der ganzen Zeit konfus vor sich hin und scheint in seiner eigenen Welt zu leben. Die Subsaharier, die auf der Plantage arbeiten, schauen anteilnehmend zu ihm herüber. Die wenigen Algerier, die dieser unterbezahlten Arbeit nachgehen, machen sich über ihn lustig. »Sein anderthalbjähriger Aufenthalt in Spanien hat ihn verrückt gemacht.« Als die Sonne im Zenit steht, macht Mohamed eine kurze Rast an einem der Clementinenbüsche und erzählt mir, dass der alte Algerier, der die Plantage besitze, für den ersten Arbeitstag noch keinen Lohn bezahlt habe. Gestern früh sei er mit einem Glas Pulverkaffee und einem Marmeladenbaguette gekommen, was er ihnen abends dann von ihrem Lohn abgezogen habe. So habe sich der Tageslohn auf willkürliche 3,50 Euro reduziert. »Ich habe protestiert, aber was ändert das?« Der Plantagenbesitzer habe ihm angedroht, ihn seiner Arbeit zu entbinden, seinen ausstehenden Lohn hätte er so auch niemals bekommen. Also hat er den reduzierten Lohn akzeptiert. Hamza ruft an und Mohameds Mine wird plötzlich ausdruckslos. »Wir sind gleich da«, sagt er, als er auflegt. Während wir einen Feldweg entlangeilen, erzählt er von einem zurückgelassenen, winzigen Tranquillo, das er entdeckt habe. Dort würde er seit drei Nächten schlafen, nachdem er es mit einer Matte und einer Decke, die er von einer Wäscheleine in einem Hof der Siedlung stibitzt habe, ausgestattet habe. Es würde gerade abgebrannt ... Ich traue meinen Ohren nicht. Von weitem sehen wir das Lodern der Flammen neben einer hochgewachsenen 24

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Zypresse. Mohamed bleibt stehen und stößt einen wutschnaubenden Laut aus. Hamza eilt uns entgegen. Der »Alte« habe das Zelt mit Benzin übergossen und angezündet. Er habe die »Camarades« satt, habe er Hamza erklärt, während diese auf seinen Feldern unterbezahlt schufteten. Mohamed versucht noch, seine Decke aus den Flammen zu retten, aber durch den hohen Synthetikanteil brennt sie lichterloh. Er ziehe es vor, alleine zu leben, offenbart mir Mohamed. Ohne die Querelen der malischen Gemeinschaft. Immer würden sich die anderen in private Angelegenheiten einmischen. [...] Eine Woche nach meiner Ankunft werden frühmorgens, noch bevor der Muezzin das erste Mal zum Fajr-Gebet ruft, die Ghettos der Malier, der Guineer und der Burkiner abgebrannt. Als ich vormittags in der Straße zur Uni erscheine, kommen mir wütende Einwohner entgegen. Sie tragen keine Schuhe, nicht einmal Flipflops, nur dicke Wintermäntel auf ihrer nackten Haut. Ob ich mit der Polizei zusammenarbeite? Ob sie mich nicht gewarnt hätten, der NGO-Chef verrate sie an die lokalen Behörden? Heute früh um vier seien sie geweckt worden, die Polizei habe sich an ihre Ghettos herangeschlichen und sie niedergebrannt. Dank eines ihrer Polizisten, des Wächters aus ihrer Community, habe ein Großteil flüchten können, aber manche von ihnen hätten ihr gesamtes Hab und Gut verloren, hätten keine Zeit gehabt, es mitzunehmen. Nun sähe ich, wie es ihnen täglich ergehe! Ob ich mich nicht schuldig fühle? »Hilf uns wenigstens, neue Plastikplanen zu finden. Sonst haben wir kein Dach mehr über dem Kopf.« Die NGO gehe schon wieder nicht ans Telefon, ein eindeutiges Zeichen ihrer Komplizenschaft mit den Autoritäten Oujdas. Ich übergebe ihnen die Tüten Obst, Gemüse und Brot, die ich in der Medina für sie gekauft habe. Zusammen setzen wir uns auf die Bank in einem Gärtchen an der Zufahrtsstraße zur Uni, das sie für schützend genug halten. Das schlechte Gewissen, ich könne Schuld sein, weil ich die behördliche Aufmerksamkeit auf die ohnehin polizeigeplagten Wälder gelenkt haben könnte, legt sich wie ein bleierner Schleier über mich. Einmal mehr zweifle ich an meinem Vorhaben: Habe ich nichtsahnend eine ihrer Regeln missachtet? War ich zu auffällig? Angehörige der kongolesischen Gemeinschaft, die ich aus den Wäldern kenne, kommen vorbei und erkundigen sich nach dem Grund unseres Sit-ins. Sie beschimpfen die Malier als undankbar, hätte ich ihnen beim Dreh bisher nicht ihr Essen und ihre Zigaretten gezahlt? Die Malier und Senegalesen schieben ab, nicht ohne sich vorher von mir versprechen zu lassen, ihnen noch vor heute Abend Planen zu besorgen. Die Kongolesen reden auf mich ein, ich könne ja wohl wegen eines Zwischenfalls wie diesem nicht mein Vorhaben aufgeben. Ihnen gefalle die Idee meines Films. Opfer müssten gebracht werden, Polizeirazzien gebe es mehrmals im Monat. »Glaub ihnen nicht, sie wollen nur von dir profitieren und sich mit deiner Hilfe neue Tranquillos errichten.« Sie schlagen mir vor, mit ihrer Community zu drehen, dort einen weiteren Protagonisten zu suchen. Schließlich suche 25

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ich doch noch nach jemandem aus dem »zentraleren« Afrika. Ich danke ihnen für die Aufmunterung, trotzdem nagen weiter Zweifel an mir. Den Nachmittag verbringe ich mit Jajah, einem Taxifahrer, der tagsüber die Einwohner und Touristen Marokkos, in den frühen Morgen- und späten Abendstunden aber die Durchreisenden fährt. Auf Abruf kann man mit ihm, sofern er einen kennt, auch die Ränder der Wälder Richtung Grenze erreichen. Er bringt mich zu einem seiner Bekannten in der Medina, der in seiner Boutique Meterware Plastikplane vom Ballen verkauft. In einem Second-Hand-Shop am Stadtrand, an dessen Eingang ein handgeschriebenes Pappschild den Verkauf von »Markenartikeln aus Europa, zweiter Hand« verspricht, erstehe ich den kompletten Lagerbestand an alten Militärdecken. Am Fenster klebt ein Humana-Aufkleber, und ich ärgere mich, diesen Laden auch noch zu unterstützen; Europäer werfen ihre Klamotten von Chiemsee, Diesel oder Benetton nichtsahnend in einen Altkleidercontainer, und die hiesige Bevölkerung muss für die alten Kleider dann nicht wenig Geld bezahlen. Ausgerechnet an ihnen bleiben die Zollkosten, um die Ware auf ihren Kontinent zu importieren, hängen. Anschließend nimmt Jajah mich mit in ein Café. Allzu groß ist meine Überraschung nicht, als ich Mustapha, den schmierigen Automafiafahrer aus Algerien, an einem der Tische sitzen sehe. Das Café ähnelt einem Wiener Kaffeehaus. Es hat zwei Etagen, eine Empore und eine üppige Deckenleuchte. Neben riesigen Spiegeln befinden sich orientalische Ornamente an den Wänden, der einzige Hinweis auf den Ort des Cafés. Der sandfarbene Samt an den Stühlen ist schon abgewetzt, die Holzfassungen der Marmortische und der Parkettboden abgeblättert. Es befinden sich ausschließlich Männer hier. Die meisten scheinen sich untereinander zu kennen. An der Bar sitzen zwei Gendarmen in Uniform, auf dem Balkon eine saudische Großfamilie, deren betuchter Vater vor der Tür im Schutz der Sonnenschirme eine Zigarette raucht. Wir trinken einen Orangensaft, und während die Orangenpresse lärmt, flüstert Jajah mir zu, dies sei das Café der Taxifahrer. Egal, ob mit oder ohne Papiere, hier würden Fahrten für jedermann besprochen. Mein Atem stockt, als ich vor mir ein anderes mir bekanntes Gesicht sehe. William, der Korpulenteste des kleinen Ghettos der Igbo, die sich bereit erklärt hatten, sich drehen zu lassen. Er hatte mir erzählt, dass er aus seiner Heimat, Cross River State im Südosten Nigerias, nicht wegen ethnischer oder religiöser Unruhen flüchte, sondern weil seine Familie enteignet worden war. Ihr Stückchen Regenwald, von dessen Kautschuk- und Obstbäumen sie lebten, sei von der Regierung an eine Firma aus Singapur verkauft worden, die dort nach Rodung des Waldes eine Palmölplantage hochziehen will. Nun steht er neben dem Saudi, und ich bin wie erstarrt. Unweigerlich drehe ich mich zur Bar um, um zu schauen, ob die Gendarmen schon auf ihn aufmerksam geworden sind. Und ich? Was könnte passieren, wenn er bemerkt, dass ich mich hier befinde? Könnte es von Nutzen sein, oder wäre es eher schädlich, wenn er mich hier im Café der Automafiachauffeure sehen würde? Doch William ist so 26

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beschäftigt mit seinem Anliegen, dass er gar nicht ins Innere des Cafés blickt. Ich bin fassungslos, dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen, und ich begreife endlich, was ihn mitten am Tag dort vor die Tür, mitten in die Sichtbarkeit der Stadt treibt: sein Hunger. Unterwürfig verneigt er sich vor dem Saudi, dankt ihm für seine Münzen. Dann ist er schon wieder weg. [...] Vier Tage später befinde ich mich mit Mohamed und Jerry im Grenzgebiet, geschützt von Pinienwäldern, in einem Tranquillo wieder. Jerry hat seinen »Kleinen«, einen Jungen aus dem Südwesten Kameruns, mitgebracht, einen Bakossi. Bonheur heißt er. Bonheur kommt aus einer Akademikerfamilie und wurde mitten in Zeiten der Wirtschaftskrise seines Landes, Ende der achtziger Jahre, geboren. Sein Großvater habe aber »au brousse«, auf dem Land, Schafe gehabt. Durch Pfeiftöne habe er sie gewarnt, wenn das Gelände, durch das er sie trieb, für sie gefährlich wurde. Während unseres sechsstündigen Fußmarsches in die Wälder ist er häufig voraus oder parallel zu uns gelaufen und hat uns vor steinigem Gefälle oder tiefen Kratern mit einem Pfeifen gewarnt. Unterwegs haben wir einige Male gehalten, und die Jungs haben die Pausen zum Rauchen genutzt, während Bonheur mir seine Vergangenheit anvertraute. Seine Eltern, beide Professoren im öffentlichen Dienst, verloren während der Krise nicht nur ihr staatlich subventioniertes Heim, auch ihre Lohnfortzahlungen blieben von einem auf den anderen Tag einfach aus. Da beschloss die Familie, in dem Dorf der Vorfahren eine Kakaoplantage zu bewirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft der Eltern ernährte die ganze Familie, mit dem Verkauf der Bohnen wurde das Schulgeld für die Kinder bezahlt. Als Bonheur dreizehn Jahre alt war, kam es aufgrund einer Überproduktion an Kakao aus Kamerun, der Elfenbeinküste und Nigeria zu einer Inflation der Kakaopreise. Die Exportpreise sanken um ein Drittel. Dazu machten sich erste Ernteausfälle aufgrund von überlangen Trockenzeiten und Desertifikation in seiner Heimat, eigentlich Kameruns regenreichster Region, bemerkbar: »In meiner Kindheit konnte man die Regenzeit auf den Tag genau voraussagen. Doch in meiner Jugend erinnere ich mich an Jahre ohne Regenzeit. In der Trockenzeit verbrannte die Sonne die Setzlinge, der Boden wurde immer unfruchtbarer. Dabei brauchen Kakaobohnen dringend eine regelmäßige und starke Wasserzufuhr. Wenn der Regen endlich kam, spülte er all unsere mühsam erhaltenen Jungpflanzen weg, oder die Keimlinge und Bäume wurden durch Schimmelkrankheiten zerstört. Wir schafften es irgendwann nicht mehr, unsere Jungbäume großzuziehen. Manchmal haben wir uns monatelang nur von Kokosnüssen und Maisbrei ernährt.« Bonheur machte sein Abitur und schrieb sich für Geologie und Bewässerungstechnik an der Uni in Douala ein. Nach seinem ersten Studienjahr musste er jedoch abgehen, da seine Eltern das Geld, trotz gestiegener Kakaopreise, für Pestizide brauchten, um die Familie über Wasser zu halten. Bonheur fühlte sich nicht mehr wohl bei dem Gedanken, an der Uni zu sitzen, während seine Familie in 27

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den Plantagen »mit bloßen Händen« um ihre Existenz kämpfte. Da brach er auf, um sein Studium in Nordafrika weiterzuführen. Da er dort jedoch als Subsaharier ohne Geld nicht studieren kann, hat er nach ein paar Monaten in Algerien zusammen mit anderen Kamerunern beschlossen, seinen Traum in Europa zu verwirklichen. Seine Studienbestätigung trägt er in seiner Umhängetasche immer bei sich. Sie ist, neben seinem abgelaufenen Ausweis, seit fünf Jahren sein kostbarstes Gut. Während ich langsam außer Atem geraten bin, war ihnen keine Anstrengung anzumerken. Sie lachten, als sie es bemerkten, und erzählten, dass sie selbst an improvisierten Orten ständig trainieren würden: »Jeden Morgen Sit-ups, wir joggen durch den Wald oder boxen, wenn wir nicht zwischen den Bäumen Fußball spielen. Du weißt, wir können uns keinen müden Körper erlauben. Wir müssen im Maghreb sprungbereit sein, jeden Moment bereit sein, aufzubrechen und zu fliehen.« [...] Marokko »Du wagst es noch, mit versteckter Kamera zu drehen? Miriam, wir haben nichts gegen dein Vorhaben, sonst hätten wir dich längst schon alleine irgendwo abgepasst, an einen Baum gebunden und vergewaltigt, so wie wir das mit Verrätern hier machen. Aber das geht eindeutig zu weit!« Schweigend löse ich den Knoten meines Tops und es fällt unter meinem Pullover auf meine Hüften. Ich ziehe es aus und gebe es ihnen. Sie sind zufrieden, dass es sich nicht um die von ihnen vermutete Halterung einer versteckten Kamera handelt. »Glück gehabt! Und was hast du uns zu bieten?« Ich halte ihnen den Briefumschlag mit 250 Euro unter die Nase und verhalte mich, wie Jerry es mir geraten hat. Die Kassette bekomme ich als Letztes, als der Rucksack schon wieder über meinen Schultern hängt. Einzig der abgetrennte Gurt, der gegen meine Beine schlackert, als ich den Trampelpfad innerlich jubelnd heruntereile und dabei versuche, mein Tempo nicht meiner Freude anzupassen, erinnert mich heute noch an das Grauen dieser letzten Tage. Getrübt ist diese Freude einzig vom Unwissen über Mohameds Verbleib und vom Schmerz darüber, ihn zum Abschied nicht mehr gedreht haben zu können. [...] Noch am selben Abend bricht auch Jerry auf. Armstrong wird ihn bis an den Strand begleiten, wo ein Bangladeshi einen Neoprenanzug und Flossen für ihn versteckt hat. Zum Abschied offenbart Jerry mir eine weitere seiner Lebensweisheiten seines Abenteuers: Nachtrauern würde er seiner verlorenen Zeit nicht. Denn sie sei eine einzige Überraschung für ihn gewesen. Niemals habe er sich bei seinem einstigen Aufbruch vorgestellt, länger als zwei, drei Monate bis zu seiner Ankunft in Europa zu benötigen. Zu seiner großen Überraschung seien daraus vier Jahre geworden. Jahre voller Hoffnung, die einen davon abhielte, die Zeit ver28

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streichen zu sehen. Allerdings wisse man unterwegs auch nie, was der nächste Morgen bringe. Man verspüre den Wunsch, umzudrehen, aber wenn man kehrtmache, vielleicht verpasse man dann die Chance, die sich morgen schon ergeben könnte. Und so bliebe man und so vergingen die Monate und Jahre. Die Zeit verflöge so schnell, aber bedauern? »Nein, ich kann nicht sagen, dass ich irgendetwas bedauere von meinem Abenteuer. Die Zeit vergeht von ganz allein, und ich atme nur.«
 Ich bin ihm unendlich dankbar für diesen Abschied und freue mich, dass auch er es nun versuchen wird. Aber Mohameds ausstehender Anruf drückt mir auf den Magen, und diesmal bin ich diejenige, die entmutigt ist. So sehr habe ich die ganze Zeit an Jerrys Variante des Versuchs geglaubt, habe ihn gar im Meer nahe Saïdia trainieren sehen, und bin überzeugt, dass er es schafft. Aber nun habe ich Angst, dass dem nicht so sein könnte, dass auch Mohameds Schweigen nichts Gutes zu bedeuten hat. Ich fühle mich miserabel, weil ich nicht mutspendender wirke. Ich weiß aber auch, dass sie mich zu gut kennen, als dass ich meine Sorgen überspielen könnte. Dabei bin ich ihnen so unendlich dankbar für den sprühenden Optimismus, den sie mich gelehrt haben. Für ihren Glauben an die Unmöglichkeit, den ich ihnen jetzt nicht zurückgeben kann. Auf dem Trampelpfad teilt sich unser Weg. Zeitgleich beginnen wir zu reden »Wir telefonieren!«, raunt Jerry. Ich reagiere synchron: »Halt mich auf dem Laufenden, du hast ja meine Nummer ...« Wir müssen lachen. Und mit einem lachenden und einem weinenden Auge schaue ich ihm und Armstrong hinterher, wie sie über den Berg von Gourougou Richtung Meer verschwinden. Ohne Verabschiedungszeremonie, ohne Umarmung, als ob wir uns morgen schon wiedersehen werden. Lange noch verharre ich an der Stelle unseres Abschieds, ehe ich in die Stadt zurückkehre. Ich bin zurück in der Pension, in der ich schon meine erste Nacht in Nador verbracht habe. Die Fensterläden sind sperrangelweit offen, und am Himmel leuchten die Sterne. Angezogen liege ich auf der durchgelegenen Matratze und bekomme die ganze Nacht kein Auge zu. Der Autolärm erscheint mir unerträglich laut. Ich bilde mir ein, es sei das Rauschen des Meeres ... Ich denke an die Regenwälder Kameruns, die im Auftrag europäischer Unternehmen gerodet werden, an das Gold und die Ölvorkommen in Mali, deren Schürfkonzessionen und Ausbeutungsrechte außerafrikanische Investoren innehaben. An die zunehmende Desertifikation der Sahelzone und der Sahara, die sie nun hinter sich haben, und an die subventionierte Pulvermilch, die sich in den Instantkaffees nicht auflöste, die ich mir mit ihnen in den letzten Jahren geteilt habe. Die Waffentransporte durch die Wüste kommen mir in den Sinn, von denen sie mir berichtet haben – Waffen mit europäischem Label in Afrika –, und ihre Erzählungen von einem nordafrikanischen Fischer, der statt Fischen abgetrennte menschliche Gliedmaßen in der Straße von Gibraltar aus seinen Netzen fischte ... 29

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Und immer wieder gucke ich auf die Uhr. Stelle mir vor, wie Jerry sich vorbereitet, wie er den richtigen Moment abwartet. Schwimmt. Und sich auf spanischem Boden wiederfindet. Ich denke an Mohamed, gequetscht unter den Kofferraumboden des Taxis. Eine Kontrolle und trotzdem wird der Wagen durchgewunken. Mohamed in den Straßen Melillas ... Ich versuche krampfhaft, meine Gedanken an ihre Worte aus einer unserer letzten gemeinsamen Nächte festzuklammern: »Wenn sie uns einen Weg verbarrikadieren, werden wir immer einen neuen finden. Die Zäune Europas können noch so hoch sein, die Schlupflöcher noch so klein. Nichts und niemand wird uns stoppen können, solange sich unsere Perspektiven en bàs, unten, nicht ändern!« Jeder Fluchtentscheidung liegt ein ausgiebiger Entscheidungsprozess zu Grunde. Jeder Mensch, der bei uns Asyl ersucht, hat eine Vergangenheit, die nicht auf der Flucht anfängt. Voller Enthusiasmus kommen die wenigen Geflüchteten, die es hierher schaffen, an. Und werden in diesem Enthusiasmus durch institutionellen Rassismus und unsere Bürokratie ausgebremst und verdonnert, zu jenem Zustand, unter dem sie, auf ihrer teilweise jahrelangen Flucht, am meisten leiden: Das Warten. Ich wünsche mir für jeden Europäer, dass er die Menschen, die bei uns ankommen, als Bereicherung sieht, so wie ich jede Minute empfunden habe, die ich sie an Ihren Orten des Festhängens und Ausharren-Müssens, habe besuchen können. Nur, indem wir, unsere Privilegien erkennend, aufstehen und uns solidarisieren, können wir etwas ändern. Können wir, vielleicht noch verhindern, dass unsere europäische Union demnächst einen Bund schliessen wird mit Lybien. Nur so können wir verhindern, dass 2017 voraussichtlich noch mehr Menschen im Mittelmeer sterben werden als die vergangenen Jahre. Nur so können wir verhindern, dass Jugendliche wie Theo in Paris unter Polizeigewalt sterben und Menschen sich in Berlin in manchen Vierteln nicht aufzuhalten trauen.

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Gewaltmigration Hintergründe, Bedingungen und Folgen im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert

Räumliche Bewegungen von Menschen, die durch Androhung oder Anwendung von offener Gewalt bedingt waren, sind kein Spezifikum des 20. und frühen 21. Jahrhunderts – ebenso wenig wie Krieg, Staatszerfall und Bürgerkrieg als wesentliche Hintergründe von Gewaltmigration. Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen finden sich vielmehr weltweit in allen Epochen. Dennoch lässt sich Gewaltmigration schon aufgrund des Umfangs der Bewegungen als Signatur des ›langen‹ 20. Jahrhunderts beschreiben: Allein die Zahl der Flüchtlinge, Vertriebenen und Deportierten im Europa des Zweiten Weltkriegs wird auf 60 Millionen geschätzt und damit auf mehr als 10 Prozent der Bevölkerung des Kontinents.1 Die Nachkriegszeit beider Weltkriege war zudem durch millionenfache Folgewanderungen gekennzeichnet. Dazu zählten zum einen Rückwanderungen von Flüchtlingen, Evakuierten, Vertriebenen, Deportierten oder Kriegsgefangenen sowie zum andern Ausweisungen, Vertreibungen oder Fluchtbewegungen von Minderheiten aufgrund der Bestrebungen von Siegerstaaten, die Bevölkerung ihres (zum Teil neu gewonnenen) Territoriums zu homogenisieren. Auch der »Kalte Krieg« als auf den Zweiten Weltkrieg folgender globaler Systemkonflikt, der Europa und Deutschland teilte, hinterließ tiefe Spuren im europäischen Gewaltmigrationsgeschehen des 20. Jahrhunderts. Neben Krieg und Bürgerkrieg tritt das Handeln autoritärer politischer Systeme als Hintergrund von Gewaltmigration. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägten nationalistische, faschistische und kommunistische Systeme, die ihre Herrschaft zu sichern suchten durch die Homogenisierung ihrer Bevölkerungen: um

1 Eugene M. Kulischer. Europe on the Move. War and Population Changes, 1917–47. New York: Columbia University Press, 1948, 264. Die Literaturangaben in den Anmerkungen beschränken sich auf ein Mindestmaß und verweisen vornehmlich auf überblickende Perspektiven.

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politische Homogenität durch die Marginalisierung oder Austreibung politischer Gegner zu erreichen (sowohl im Kontext nationalistischer, als auch faschistischer und kommunistischer Herrschaft); um soziale Homogenität durch gewaltsame Nivellierung von Lebensverhältnissen und Lebensentwürfen durchzusetzen (etwa als Ausgrenzung und Druck zur Anpassung von »Klassenfeinden« in kommunistischen Herrschaften); um ›ethnische‹ oder ›rassische‹ Homogenität zu erzwingen (wie insbesondere im nationalsozialistischen Machtbereich). Als Gefahr für Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur verstandene und als distinkt konstruierte politische, nationale, soziale, ethnische oder ›rassische‹ Kollektive innerhalb der eigenen Grenzen wurden zum Teil derart ihrer politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Handlungsmacht beraubt, dass ein Ausweichen alternativlos zu sein schien oder Vertreibungen und Umsiedlungen möglich wurden. Ziel des Beitrags ist es, Muster des globalen Gewaltmigrationsgeschehens in Zeitgeschichte und Gegenwart herauszuarbeiten und auf diese Weise eine Epoche der Gewaltmigration zu vermessen, die mit dem Einsetzen des »Kalten Krieges« beginnt und sich bis in das frühe 21. Jahrhundert fortsetzt. Dazu definiert ein erster Abschnitt zunächst den Begriff Gewaltmigration und verweist auf wesentliche Erscheinungsformen. Im Folgenden sollen im Aufriss zentrale Prozesse der Initiierung und Durchsetzung von räumlichen Bevölkerungsbewegungen durch Gewalt diskutiert werden. Zugleich wird nach Politik und Praxis der Aufnahme von Menschen gefragt, die andernorts um Schutz nachsuchten. Dabei erfolgt eine Orientierung an Sequenzen, die entlang der großen politischen Umbrüche seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden. Der Beitrag schließt mit dem Bemühen, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Europa und die Bundesrepublik Deutschland 2015/16 zum Ziel umfangreicher Bewegungen von Schutzsuchenden von anderen Kontinenten geworden sind. Was ist Gewaltmigration? Migrantinnen und Migranten streben in der Regel danach, ihre Handlungsmacht durch einen dauerhaften oder temporären Aufenthalt andernorts zu vergrößern. Das gilt für die Suche nach Erwerbs- oder Bildungschancen ebenso wie für das Streben nach Autonomie, Sicherheit oder die Wahrung bzw. Umsetzung spezifischer Selbstkonzepte. Formen von Gewaltmigration lassen sich dann ausmachen, wenn staatliche oder quasi-staatliche, zum Teil auch nicht-staatliche Akteure (Über-)Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte, Freiheit und politische Partizipationschancen von Einzelnen oder Kollektiven so weitreichend beschränken, dass diese sich zum Verlassen ihres Lebensmittelpunkts gezwungen sehen. Gewaltmigration kann dann als eine Nötigung zur räumlichen Bewegung verstanden werden, die keine realistische Handlungsalternative zuzulassen scheint. Der Begriff der Flucht verweist auf das Ausweichen vor Makro32

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gewalt,2 die zumeist aus politischen, ethno-nationalen, rassistischen, genderspezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Im Falle von Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen organisieren und legitimieren (staatliche, halb-, quasi-, z.T. auch nicht-staatliche) Institutionen unter Androhung und Anwendung von Gewalt räumliche Bewegungen. Ziel ist es zumeist, (Teile von) Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen bzw. zur Sicherung oder Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen, nicht selten aus eroberten oder durch Gewalt erworbenen Territorien.3 Ziel kann es auch sein, Zwangsarbeitskräfte zu gewinnen. Fluchtbewegungen sind selten lineare Prozesse, vielmehr bewegen sich Schutzsuchende meist in Etappen: Häufig lässt sich zunächst ein überstürztes Ausweichen in einen anderen, als sicher erscheinenden Zufluchtsort in der Nähe ausmachen, dann das Weiterwandern zu Verwandten und Bekannten in einer benachbarten Region bzw. einem Nachbarstaat oder das Aufsuchen eines informellen oder regulären Lagers. Muster von (mehrfacher) Rückkehr und erneuter Flucht finden sich ebenfalls häufig. Hintergründe können dabei nicht nur die Dynamik der sich stets verändernden und verschiebenden Konfliktlinien sein, sondern auch die Schwierigkeit, an einem Fluchtort Sicherheit oder Erwerbs- bzw. Versorgungsmöglichkeiten zu finden. Häufig müssen sich Menschen auf Dauer oder auf längere Sicht auf die (prekäre) Existenz als Schutzsuchende einrichten. Flucht ist vor dem Hintergrund nicht selten extrem beschränkter Handlungsmacht der Betroffenen oft durch Immobilisierung gekennzeichnet: vor Grenzen oder unüberwindlichen natürlichen Hindernissen, infolge des Mangels an (finanziellen) Ressourcen, aufgrund von migrationspolitischen Maßnahmen oder wegen fehlender Netzwerke. Daher rührt auch beispielsweise das Phänomen der Verstetigung von Lagern mit der Folge einer »Camp-Urbanisierung« und der Entwicklung von »Camp-Cities« mit zum Teil Großstadtcharakter. Ein Großteil der vom Hochkommissar für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) weltweit als »Flüchtlinge« identifizierten Personen ist immobilisiert, unterliegt in sogenannten »protracted refugee situations« einem meist nur sehr prekären Schutz, hat durch die Unterbindung von Bewegung Handlungsmacht eingebüßt und ist sozial extrem verletzlich.4 Geschichte und Gegenwart von Gewaltmigration lässt sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit den Hintergründen, Bedingungen und Formen der Nö-

2 Zum Begriff der Makrogewalt: Ekkart Zimmermann. »Makrogewalt: Rebellion, Revolution, Krieg, Genozid«. Günther Albrecht/Axel Groenemeyer (Hg.). Handbuch soziale Probleme. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft, 2012, 861–885. 3 Hierzu und zum Folgenden: Jochen Oltmer. Globale Migration. Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. München: C.H. Beck, 2016, Kap. 1. 4 Jochen Oltmer. »Kleine Globalgeschichte der Flucht im 20. Jahrhundert«. Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016), 26/27, 18–25.

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tigung zur räumlichen Bewegung beschränken. Vielmehr gilt es auch nach den Mustern der Aufnahme von Schutzsuchenden zu fragen, die der Gewalt in ihren Herkunftsländern und -regionen entkommen waren bzw. ausgewiesen oder vertrieben wurden. Die Vergabe eines Schutzstatus verweist auf die Akzeptanz von Menschenrechten und der Verpflichtung zur Hilfeleistung unabhängig von nationaler, politischer und sozialer Herkunft. Erst im ›langen‹ 20. Jahrhundert der Massengewaltmigrationen haben sich ausdifferenzierte internationale, regionale, nationale und lokale Schutzregime etabliert.5 Als zentrale Wegmarke im überstaatlich vereinbarten Recht gilt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, in die vielfältige migrationspolitische und asylrechtliche Debatten der Zwischenkriegszeit eingingen. 147 Staaten haben die Konvention seither unterzeichnet und sich verpflichtet, Menschen dann als Flüchtlinge anzuerkennen, wenn diese eine Verfolgung wegen »ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung« nachweisen können. Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde entwickelt, um einen Rechtsrahmen für den Umgang mit der europäischen Gewaltmigration während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu finden. Sie war deshalb zunächst weder auf globale Fluchtbewegungen ausgerichtet noch auf die Zukunft. Eine Erweiterung der Konvention über europäische Gewaltmigrationen und über das Jahr 1949 hinaus erfolgte erst 1967 im Kontext der weitreichenden Kämpfe um die Ablösung der europäischen Kolonialherrschaft, die ein millionenfaches Ausweichen vor Gewalt produzierten. Das heißt: Europa bildete im 20. Jahrhundert lange das Hauptproblem der globalen Flüchtlingsfrage – Europa als Kriegsschauplatz und Europa als Träger eines weltumspannenden Kolonialismus.6 Übersehen werden darf aber nicht, dass trotz der Genfer Flüchtlingskonven­ tion, zahlreicher weiterer internationaler Abkommen und regionaler Schutz­ regime (wie etwa der Europäischen Union) weiterhin Staaten mit großen Ermessensspielräumen über die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten und den Status jener entscheiden, die als Schutzberechtigte anerkannt werden. Die Bereitschaft, Schutz zu gewähren, war und ist stets ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse des gesellschaftlichen Aushandelns zwischen Individuen, kollektiven Akteuren und (staatlichen) Institutionen, die je spezifische Interessen und Argumente vorbringen. Die Frage, wer unter welchen Umständen als »Flüchtling« oder »Vertriebener« verstanden wurde und wem in welchem Ausmaß Schutz oder Asyl zuge-

5 Jochen Oltmer. »Flucht, Vertreibung und Asyl im 19. und 20. Jahrhundert«. Klaus J. Bade (Hg.). Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. Osnabrück: IMIS, 2002 (IMIS-Beiträge 20), 107–134. 6 Im Detail Andreas Zimmermann. The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol. Oxford: Oxford University Press, 2011.

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billigt werden sollte, ist mithin immer wieder neu diskutiert worden – und wird weiter diskutiert (werden).7 Migratorische Folgen des »Kalten Krieges« Für die globale Migrationssituation war die (ideologische) Teilung der Welt nach 1945 von hohem Gewicht. Migratorisch wurde die Welt in zwei Blöcke geteilt, Arbeits- oder Bildungsmigration fand zwischen Ost und West nicht mehr statt. Die Bewegungen beschränkten sich meist auf Flucht oder Ausweisung von Dissidenten aus dem Osten in den Westen oder auf Phasen, in denen die Destabilisierung eines Staatswesens im Osten den kurzzeitigen Zusammenbruch der restriktiven Grenzregime zur Folge hatte und zur Abwanderung Zehn- oder Hunderttausender führte. Das galt vor allem für die Aufstände in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich für die Auflösung des »Ostblocks« in den späten 1980er Jahren. Einen Sonderfall bildete bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 die DDR. Zwar wurde die innerdeutsche Grenze bereits Anfang der 1950er Jahre unüberwindbar armiert, die besondere Stellung Berlins aber ließ Grenzsicherungsmaßnahmen zwischen den alliierten Sektoren der ehemaligen Reichshauptstadt lange nicht zu, sodass DDR und UdSSR die Abwanderung kaum kontrollieren konnten: Wahrscheinlich wanderten von der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 bis zum Bau der Mauer 1961 über 3 Millionen Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik (aber auch mehr als 500.000 in die umgekehrte Richtung).8 Für die Geschichte der Gewaltmigration im »Kalten Krieg« besonders relevant waren die »Stellvertreterkriege«, die millionenfache Fluchtbewegungen hervorbrachten: Korea, Indochina, Afghanistan. Der Umfang der Gewaltmigration war vor allem in Vietnam sehr hoch. Hilfsorganisationen zufolge handelte es sich auf

7 Jochen Oltmer. »Das Aushandeln von Migration. Historische und historiographische Perspektiven«. Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften/Journal for Comparative Government and European Policy (ZSE) 14 (2016), 3, 333–350. 8 Helge Heidemeyer. Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer. Düsseldorf: Droste, 1994; Volker Ackermann. Der »echte« Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1995; Damian van Melis, Henrik Bispinck (Hgg.). »Republikflucht«. Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961. München: Oldenbourg, 2006; Frank Wolff. »Deutsch-deutsche Migrationsverhältnisse. Strategien staatlicher Regulierung 1945–1989«. Jochen Oltmer (Hg.). Handbuch Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, 773–814.

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dem Höhepunkt der Kampfhandlungen Ende der 1960er Jahre bei der Hälfte der südvietnamesischen Bevölkerung (ca. zehn Millionen Menschen) um »Binnenvertriebene«, also um im eigenen Land in mehr oder minder sicher scheinende Zonen Geflohene. Das Ende des Vietnam-Krieges führte schließlich zur Abwanderung Hunderttausender aus dem zerstörten Land. Als die Armee des kommunistischen Nordvietnam das US-gestützte Südvietnam im Frühjahr 1975 endgültig überrollte und im April die südvietnamesische Hauptstadt Saigon eroberte, evakuierten die abziehenden US-Truppen rund 140.000 Vietnamesinnen und Vietnamesen, die überwiegend in die Vereinigten Staaten weiterreisen konnten. Mehr als die Hälfte der Schutzsuchenden des Jahres 1975 soll für die besiegte südvietnamesische Regierung oder die US-Amerikaner gearbeitet haben. Viele derjenigen, die sich dieser ersten Fluchtbewegung anschlossen, stammten ursprünglich aus Nordvietnam – entweder sie selbst oder ihre Eltern waren vor 1954, dem Jahr der Beendigung der französischen Herrschaft, für die Kolonialmacht tätig gewesen.9 Nicht selten handelte es sich folglich Mitte der 1970er Jahre um eine Flucht nach der Flucht: vom Norden in den Süden Mitte der 1950er Jahre, vom Süden in die USA Mitte der 1970er Jahre. Tatsächlich hatte bereits das Ende der französischen Kolonialherrschaft und die Teilung des Landes aufgrund der Regelungen der Genfer Konferenz 1954 erhebliche Migrationen zur Folge gehabt: Wahrscheinlich eine Million Menschen waren vom kommunistischen Norden in den Süden zwischen 1954 und 1956 gewechselt. Darunter dominierten Katholiken mit einer Zahl von wohl 800.000, die rund zwei Drittel der gesamten katholischen Bevölkerung des Nordens ausmachten. Die Gegenbewegung aus dem Süden blieb kleiner: 130.000 Menschen reisten nach Nordvietnam aus. Die Durchsetzung der kommunistischen Herrschaft auch im Süden führte ab 1975 zu politischen Verfolgungen. Mehr als eine Million Menschen sollen in »Umerziehungslagern« interniert worden sein. Auch die Kollektivierung der Wirtschaft und eine schwere ökonomische Krise aufgrund der Folgen des langen Krieges trugen dazu bei, dass die Abwanderung bald anstieg. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den Jahren 1979 bis 1982. Auf dem Landweg wichen vornehmlich Menschen aus der chinesischen Minderheit des Landes aus, mehr als 250.000 Personen passierten die Grenze zur Volksrepublik China. Größer war die Zahl der Vietnamesinnen und Vietnamesen, die über das Meer ihr Heimatland verließen.

9 Hierzu und zum Folgenden Louis A. Wiesner. Victims and Survivors. Displaced Persons and Other War Victims in Viet-Nam, 1954–1975. New York: Greenwood Press, 1988; William Courtland Robinson. Terms of Refuge. The Indochinese Exodus and the International Response. 2. Aufl. London: Zed Books, 2000; Aristide R. Zolberg, Astri Suhrke, Sergio Aguayo. Escape from Violence: Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World. Oxford: Oxford University Press, 1989, 160–170; Luise Druke. Innovations in Refugee Protection. A Compendium of UNHCR’s 60 Years. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2013, 159–170.

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Im Sommer 1979 hatten bereits 200.000 Menschen aus Vietnam die Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres mit Hilfe von Booten unter katastrophalen Bedingungen und bei hohen Todesraten erreicht. Vor allem Malaysia und Hongkong wurden Ziel dieser »boat people«. Ihre rechtliche Stellung war prekär: In den späten 1970er Jahren hatte noch keiner der Staaten in dieser Region die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und das ergänzende Protokoll von 1967 unterzeichnet. Die Flüchtenden wurden in der Regel höchstens auf Zeit geduldet. Sie erhielten keinen Aufenthalts- oder Schutzstatus. Singapur beispielsweise wies Vietnamesinnen und Vietnamesen aus, die nicht innerhalb von 90 Tagen eine Aufnahme in einem anderen Staat finden konnten. Die Situation verschärfte sich insbesondere im Frühling 1979, als Malaysia 53.000 »boat people« das Anlanden verwehrte und die Boote zurück aufs Meer schickte. Im Juni 1979 erreichte die Migration ihren Höhepunkt; knapp 55.000 Menschen verließen Vietnam mit Hilfe von Booten. Insgesamt zählte der UNHCR zwischen 1975 und 1979 575.000 »Indochinaflüchtlinge«, von denen rund 204.000 »boat people« waren. Ende Juni 1979 gaben die Mitgliedstaaten der Organisation südostasiatischer Staaten bekannt, keine weiteren »boat people« mehr aufnehmen zu wollen10: Thailand, Malaysia, Indonesien, die Philippinen und Hongkong seien nicht in der Lage, die Herausforderung der Aufnahme von 350.000 Schutzsuchenden allein zu bewältigen. Am 20. und 21. Juli 1979 kamen Abgesandte von 65 Regierungen aus aller Welt in Genf auf Einladung des UNHCR zusammen, um Antworten auf die Verweigerung zur Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Anrainerländer des Südchinesischen Meeres zu finden. Staaten des globalen Nordens versprachen, eine deutlich größere Zahl von Schutzsuchenden aufzunehmen. Vietnam wurde im Sinne des internationalen Strebens nach einer verstärkten Kontrolle und Kanalisierung der Gewaltmigration aufgefordert, legale Ausreisen zu gewähren und zugleich die Abwanderung per Boot zu stoppen. In Indonesien und auf den Philippinen sollten Zentren zur Verteilung von Vietnamesinnen und Vietnamesen eingerichtet werden. Das in Genf vereinbarte »Orderly Departure Program« sicherte monatlich 10.000 Schutzsuchenden Ausreise und Aufnahme zu. Hilfsorganisationen übten Kritik an dem Programm, weil es auf die Kooperation Vietnams angewiesen war, das die Bedingungen der Ausreise bestimmte und im Sinne des vereinbarten Programms sehr restriktiv ›illegale‹ Migration verhinderte. Die Maßnahmen

10 Ramses Amer. »The Boat People Crisis of 1978–79 and the Hong Kong Experience Examined through the Ethnic Chinese Dimension«. Yuk Wah Chan (Hg.). The Chinese/Vietnamese Diaspora. Revisiting the Boat People. London: Routledge, 2011, 36–48, hier 37; Larry Clinton Thompson. Refugee Workers in the Indochina Exodus, 1975–1982. Jefferson: McFarland, 2010, 151, 160–169.

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erreichten ihr Ziel: Die Zahl der Bootsflüchtlinge sank von Juni 1979 weit über 50.000 auf nur noch 2.600 pro Monat am Ende des Jahres. Zwischen Juli 1979 und Juli 1982 erfolgte die Aufnahme von 623.800 südostasiatischen Flüchtlingen in mehr als 20 Staaten, darunter Australien, Frankreich und Kanada. Hauptziel aber waren die USA: Bis zum Auslaufen des Ausreiseprogramms 1994 kamen mehr als 400.000 Schutzsuchende hierher. Insgesamt ermöglichten die Vereinigten Staaten seit Mitte der 1970er Jahre mehr als einer Million Evakuierten und Flüchtlingen aus Indochina auf der Basis spezifischer Hilfsprogramme und des Familiennachzugs die Einreise.11 Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich während der Genfer Verhandlungen im Juni 1979 als Motor einer auch über den dort diskutierten Fall der »boat people« hinausgehenden intensivierten internationalen Abstimmung über den Umgang mit globalen Fluchtbewegungen hervorgetan und Initiativen zur »Bekämpfung von Fluchtursachen« gefordert.12 Obgleich seit Mitte der 1970er Jahre Maßnahmen zur Schließung des Zugangs zum Asyl in Westdeutschland vor dem Hintergrund einer vermehrten Zuwanderung von Asylsuchenden entwickelt wurden, sah die Bundesregierung in der Betonung der Rolle der Bundesrepublik als humanitärer Führungsmacht eine Chance, ihre internationale Position zu stärken – in Reaktion auf den in den 1970er Jahren auszumachenden Bedeutungsgewinn von Menschenrechtspolitik und Menschenrechtsrhetorik in der internationalen Politik.13 In diesem Kontext forcierte die Bundesregierung auch die Verabschiedung der UN-Resolutionen 35/124 (Dezember 1980) und 36/148 (Dezember 1981), die einer internationalen »co-operation to avert new flows of refugees« dienen sollten. Um die im Rahmen der Genfer Verhandlungen eingegangenen Verpflichtungen umzusetzen, entwickelte die Bundesregierung ein Programm zur Aufnahme von Kontingenten von Schutzsuchenden, das sie am 29. August 1979 veröffentlichte. Das bereits bestehende Aufnahmekontingent von 13.000 »boat people« wurde auf 28.500 aufgestockt. Das Programm mündete 1980 in das Kontingentflüchtlingsgesetz, das einen bereits seit langem bestehenden Weg der Aufnahme von Schutzsuchenden institutionalisierte: Übernahmeerklärungen des Bundesinnenministeriums, die die Rechtsstellung als Flüchtlinge gewährten und eine

11 Nghia M. Vo. The Vietnamese Boat People, 1954 and 1975–1992. Jefferson: McFarland, 2006, 168. 12 Renate Finke-Osiander. »Die Initiative der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen zur Vermeidung von weiteren Flüchtlingsströmen«. Otto Benecke Stiftung (Hg.). Flüchtlinge in Europa. Baden-Baden: Nomos, 1984, 19–25. 13 Luise Drüke. Preventive Action for Refugee Producing Situations. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1990, 50–70, 78–106; Jan Eckel. »Humanitarisierung der internationalen Beziehungen? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren«. Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), 603–635.

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unbefristete Aufenthaltserlaubnis versprachen, ersetzten das Asylverfahren. Über die Kontingente des Bundes hinaus traten weitere Aufnahmeerklärungen durch einzelne Bundesländer sowie die Aufnahme im Rahmen von Asylverfahren.14 Mehr als 10.000 vietnamesische »boat people« rettete das vom privaten Hilfskomitee »Ein Schiff für Vietnam« (seit 1982: »Cap Anamur/Deutsche Not-Ärzte e.V.«) mit Hilfe zahlloser Spenden gecharterte Hospitalschiff »Cap Anamur«, das seit Sommer 1979 im Südchinesischen Meer kreuzte.15 Im Sommer 1982 unterbrach der Stopp der Aufnahme weiterer vietnamesischer Kontingentflüchtlinge durch die Bundesregierung die Arbeit der »Cap Anamur«. Proteste gegen den Aufnahmestopp und eine breite Unterstützung für die Hilfsaktionen führten zu einer Rücknahme des Stopps. Das Rettungsschiff war noch bis 1986 im Südchinesischen Meer tätig.16 Der Fall der »boat people« verweist auf einen spezifischen Prozess des Aushandelns von Gewaltmigration und der Aufnahme von Schutzsuchenden auf unterschiedlichen (lokalen, nationalen und internationalen) Ebenen: Zum einen war im globalen Norden eine hohe Hilfs- und Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung auszumachen, die in eine weitreichende Unterstützung für Schutzsuchende im Alltag und eine ausgeprägte Handlungsmacht zivilgesellschaftlicher Organisationen mündete. Aber auch Regierungen diverser Staaten erwiesen sich zu humanitären Maßnahmen und zur Kooperation bereit. Dieser Sachverhalt bedarf einer Erklärung: Vielen im globalen Norden galten die »boat people« als besonders unterstützungs- und schutzbedürftig. Vor dem Hintergrund der langjährigen kontroversen Debatten um das westliche und insbesondere US-amerikanische Engagement im Vietnamkrieg waren zahlreiche Menschen, politische und zivilgesellschaftliche Akteure in den USA und in Westeuropa der Auffassung, die Intervention der USA in Indochina habe die Fluchtbewegung hervorgerufen. Anderen hingegen erschienen die »boat ­people« als Beweis für die Notwendigkeit des langjährigen militärischen Engagements der USA in Vietnam, zeige doch die massive Abwanderung die Skrupellosigkeit

14 Alfred Jensen. Integration einer privilegierten Ausländergruppe. Kontingentflüchtlinge aus Südostasien in der Bundesrepublik Deutschland. Diss. Bochum, 1983; Julia Kleinschmidt. »Die Aufnahme der ersten ›boat people‹ in die Bundesrepublik«. Deutschland Archiv Online, 26.11.2013, http://www.bpb.de/170611; Peter Widmann. »Gerettet und geduldet. Berliner Vietnamesen und die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik«. Wolfgang Benz (Hg.). Umgang mit Flüchtlingen. Ein humanitäres Problem. München: C.H. Beck, 2006, 111–131. 15 Rupert Neudeck (Hg.). Wie helfen wir Asien? oder »Ein Schiff für Vietnam«. Reinbek: Rowohlt, 1980. 16 Olaf Beuchling. Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger. Migration, Integration und schulischer Erfolg in einer vietnamesischen Exilgemeinschaft. Münster: Waxmann, 2003; Kien Nghi Ha. Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and beyond. Berlin: Assoziation A, 2012.

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der kommunistischen Regierenden. Die Debatten um den Vietnamkrieg hatte in Nordamerika und Westeuropa zu einer breiten Politisierung und damit einhergehend zu einer überaus großen Aufmerksamkeit den Geschehnissen in Vietnam gegenüber geführt:17 Trotz großer räumlicher Distanz und obgleich nur ausgesprochen wenig persönliche Kontakte zu Menschen in Südostasien bestanden, führte die intensive Auseinandersetzung mit dem jahrzehntelangen Konflikt in Vietnam zu einer Produktion von Vorstellungen der Zugehörigkeit der »boat people« im Westen, die als Opfer weltpolitischer Auseinandersetzung und darum als schutzbedürftig und schutzberechtigt verstanden wurden. Der Bedeutungsgewinn menschenrechtlicher Argumentation und menschenrechtlicher Rhetorik, der insbesondere auch vor dem Hintergrund der Verhandlungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) verstanden werden muss, trug zur Produktion von Vorstellungen über die Unabweisbarkeit einer Forderung nach Aufnahme von »boat people« bei. Die Genfer Verhandlungen im Juli 1979 bildeten wegen der Konferenzlösung unter Beteiligung des Herkunftsstaates der Schutzsuchenden einen bedeutenden Einschnitt im zwischenstaatlichen Umgang mit Gewaltmigrationen. Sie können als drittes Ereignis mit Zäsurcharakter seit Beginn des »Kalten Krieges« gesehen werden: Die UN-Sonderkonferenz in Genf vom 2. bis 25. Juli 1951 hatte zunächst zum Abschluss des »Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« geführt und eine international abgestimmte Antwort auf die Frage des Umgangs mit der europäischen Gewaltmigration im Umfeld des Zweiten Weltkriegs formuliert. Im Kontext der Erweiterung dieser »Genfer Flüchtlingskonvention« im »Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge« vom 31. Januar 1967 erkannten dann die zwischenzeitlich wegen der Dekolonisierung erheblich zugenommenen Mitglieder der Vereinten Nationen in New York an, »dass seit der Annahme des Abkommens [von 1951] neue Kategorien von Flüchtlingen entstanden sind«, weshalb eine räumliche und zeitliche Erweiterung des Geltungsbereichs der Konvention nötig sei. Die migratorischen Folgen der beiden anderen großen »Stellvertreterkriege« im »Kalten Krieg«, des Korea-Krieges und des Afghanistan-Krieges, dauern bis heute an. In den verfeindeten Staaten Süd- und Nordkorea leben gegenwärtig Millionen Menschen, die während des Krieges ihre Herkunftsorte verlassen mussten und seit mehr als einem halben Jahrhundert keinen Kontakt mehr zu Familienmitgliedern im jeweils anderen Teil der Halbinsel haben.18 In Afghanistan sollen während der sowjetischen Besatzung fünf bis sechs Millionen Menschen zu einem

17 Marc Frey. Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. 4. Aufl. München: C.H. Beck, 1999, 150–159. 18 Dong-Choon Kim. Der Korea-Krieg und die Gesellschaft, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2007, 52–109.

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großen Teil nach Pakistan und zu einem geringeren Teil in den Iran ausgewichen sein – das entspricht rund einem Drittel der damaligen Bevölkerung. Seit 2002 haben internationale Organisationen die Rückkehr von über vier Millionen Afghaninnen und Afghanen in ihr Herkunftsland betrieben. Neue Gewaltmigrationen im Zuge der internationalen Intervention in Afghanistan seit 2001 trugen dazu bei, dass gegenwärtig 2,6 Millionen Flüchtlinge gezählt werden, von denen fast zwei Drittel in Pakistan leben und ein weiteres Drittel im Iran. Die wesentlich höhere Zahl jener Menschen, die innerhalb des Landes vor der Gewalt auszuweichen versuchten, bleibt ungezählt.19 Dekolonisation als Motor von Gewaltmigration »Kalter Krieg« und Dekolonisation waren eng verbunden – die beiden Supermächte konkurrierten nicht nur im nordatlantischen Raum und in Mitteleuropa um Einfluss, sondern auch in jenen Teilen der Welt, die 1945 noch Kolonien gewesen waren. Die Kolonialherrschaft lief zwar in vielen Gebieten Asiens, Afrikas und des pazifischen Raumes zwischen den späten 1940er und den frühen 1970er relativ friedlich aus. In einigen Fällen aber kam es zu langen und blutigen Konflikten. Vor allem das Ende der globalen Imperien der Niederlande (in den späten 1940er Jahren), Frankreichs (in den 1950er und frühen 1960er Jahren) sowie Portugals (Anfang der 1970er Jahre) brachte umfangreiche Fluchtbewegungen und Vertreibungen mit sich. Während der Kämpfe selbst flüchteten zahlreiche Bewohner der Kolonien in nicht-betroffene Gebiete oder wurden evakuiert und kehrten meist nach dem Ende der Konflikte wieder in ihre Heimatorte zurück. Europäische Siedler allerdings sowie koloniale Eliten oder Kolonisierte, die als Verwaltungsbeamte, Soldaten oder Polizisten die koloniale Herrschaft mitgetragen hatten oder den Einheimischen als Symbole extremer Ungleichheit in der kolonialen Gesellschaft galten, mussten nicht selten auf Dauer die ehemaligen Kolonien verlassen. Es kann davon ausgegangen werden, dass zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1980 insgesamt 5 bis 7 Millionen ›Europäer‹ im Kontext der Dekolonisation aus den (ehemaligen) Kolonialgebieten auf den europäischen Kontinent ›zurückkehrten‹ – darunter viele, die weder in Europa geboren waren noch je in Europa gelebt hatten. Daraus, und wegen der hunderttausendfachen Abwanderungen von Afrikanern oder Asiaten aus den (post-)kolonialen Konfliktgebieten ergab sich ein Paradoxon der Geschichte der europäischen Expansion: Wegen der migratorischen Folgen der Auflösung des Kolonialbesitzes waren

19 Conrad Schetter. »Flüchtling – Arbeitsmigrant – Dschihadist. Zur Rolle von Translokalität in Afghanistan«. Geographische Rundschau (2011), 11, 18–24.

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die europäischen Kolonialreiche in der Bevölkerung in Europa nie präsenter als mit und nach der Dekolonisation.20 Aus Niederländisch-Ostindien bzw. dem seit 1949 unabhängigen Indonesien zogen zwischen 1945, dem Beginn des Befreiungskrieges, und den späten 1960er Jahren insgesamt ca. 330.000 Menschen in die Niederlande.21 Wesentlich größere Dimensionen nahmen solche migratorischen Folgen der Dekolonisation in Frankreich an. Nach dem Ende der Kolonialherrschaft in Indochina und dem Beginn des Unabhängigkeitskrieges in Algerien 1954 nahm Frankreich innerhalb eines Jahrzehnts 1,8 Millionen im Zuge der Dekolonisationskonflikte entwurzelte Menschen auf. Mit rund einer Million stammte der größte Teil aus Algerien, von wo allein 1962, dem Jahr der Beendigung des Algerienkrieges und der Unabhängigkeit, rund 800.000 Menschen zuwanderten.22 In diesem Jahr herrschte im Süden Frankreichs angesichts der Aufnahme von »Repatriierten« der Ausnahmezustand.23 In den kommenden Jahrzehnten fokussierten Diskussionen über die Integration der Zuwanderer vor allem zwei Gruppen: Die »Pieds-Noirs«, Europäer, die sich seit 1848 in den drei Départements entlang der algerischen Mittelmeerküste angesiedelt hatten, sowie die muslimischen »Harkis«, die sich den abziehenden Franzosen verbunden fühlten oder der algerischen Unabhängigkeitsbewegung als Kollaborateure galten. 1968 zählten zu den nun offiziell »repatriierte muslimische Franzosen« genannten Gruppe an die 140.000 Menschen, von denen 88.000 in Algerien geboren waren. Anerkannten »Repatriierten« gewährte der französische Staat umfangreiche Hilfen zur Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt. Dabei lassen sich allerdings große Unterschiede zwischen den »Pieds-Noirs« und den »Harkis« ausmachen: Obwohl die ehemaligen Algerierinnen und Al-

20 Andrea L. Smith. »Europe’s Invisible Migrants«. Andrea L. Smith (Hg.). Europe’s Invisible Migrants. Consequences of the Colonists’ Return. Amsterdam: Amsterdam University Press, 2002, 9–32. 21 Henk Smeets, Fridus Steijlen. In Nederland gebleven. De geschiedenis van de Molukkers 1951– 2006. Amsterdam: Bakker, 2006; Wim Willems. De uittocht uit Indië 1945–1995. Amsterdam: Bakker, 2001; Ulbe Bosma, Remco Raben, Wim Willems. De geschiedenis van Indische Nederlanders. Amsterdam: Bakker, 2006. 22 Benjamin Stora. Ils venaient d’Algérie: L’immigration algérienne en France (1912–1992). Paris: Fayard, 1992; Ian Talbot. »The End of European Colonial Empires and Forced Migration: Some Comparative Case Studies«. Panikos Panayi, Pippa Virdee (Hg.). Refugees and the End of Empire. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2011, 28–50, hier 35. 23 Jean-Jacques Jordi. 1962. L’arrivée des Pieds-Noirs. Paris: Editions Autrement, 2002; SungEun Choi. Decolonization and the French of Algeria. Bringing the Settler Colony Home. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2016; Manuel Borutta, Jan C. Jansen (Hg.). Vertriebene and Pieds-Noirs in Postwar Germany and France. Comparative Perspectives. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2016.

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gerier europäischer Herkunft lange als unbeirrbare Kolonialisten galten, denen nachgesagt wurde, sie hätten die Konflikte in Nordafrika massiv verschärft, akzeptierte die französische Gesellschaft sie bedingungslos als gleichberechtigte und vollwertige Staatsbürger, die weitreichende Entschädigungen beanspruchen konnten und in der Situation der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ergänzung des expandierenden Arbeitsmarkts darstellten. Die Formierung starker Interessenorganisationen, die erfolgreich Einfluss auf Regierung und Administration nehmen konnten, bildete dabei ein zentrales Element der Inklusion der »Pieds-Noirs« in die französische Gesellschaft. Darauf konnten die »Harkis« nicht zurückgreifen: Die Übersiedlung muslimischer Helfer der Kolonialmacht in Algerien hatten die französischen Behörden verboten, die Aufnahme jener, die sich dennoch auf den Weg nach Frankreich machten, wurde stark reglementiert. Der auf die Zuwanderung ausgesprochen schlecht vorbereitete französische Staat errichtete in aller Eile große Sammellager im Süden. Manche der dort insgesamt aufgenommenen 55.000 »Harkis« blieben für mehrere Jahre, zum Teil sogar auf Dauer in den nur für den temporären Aufenthalt konzipierten Barackenlagern. Diejenigen, die die Lager verließen, erhielten häufig Wohnungen in Dörfern oder städtischen Quartieren, die ausschließlich den »Harkis« vorbehalten waren. Die isolierte Lage der Lager und Wohnquartiere machte es ihren Bewohnern schwer, neue Netzwerke im Einwanderungsland aufzubauen. Vorstellungen der französischen Administration traten hinzu, viele der »Harkis« seien ohne intensive Betreuung nicht in der Lage, sich in der französischen Gesellschaft zurechtzufinden. Die Erwartung der »Harkis«, als französische Patrioten anerkannt und entschädigt zu werden, blieb lange unerfüllt. Schwere, zum Teil gewalttätige Konflikte zwischen »Harkis« und französischen Ordnungshütern vor allem Mitte der 1970er und Anfang der 1990er Jahre waren ein Ausdruck von Enttäuschung und Verbitterung. Bis in die Gegenwart ist die Akzeptanz der muslimischen Zuwanderer gering: Manchen gelten sie als Mittäter in den schweren Konflikten der Dekolonisation in Nordafrika, anderen wiederum als ein bedrohliches, weil nicht als zugehörig verstandenes Element einer segregierten Bevölkerung algerischer Herkunft in den französischen Vorstädten.24 Noch umfänglicher war – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl des ›Mutterlandes‹ – die Zuwanderung im Prozess der Dekolonisation nach Portugal: Beginnend im Herbst 1973 kamen innerhalb nur eines Jahres fast eine halbe Million »Retornados« aus den ehemaligen portugiesischen Besitzungen in Afrika (Mosambik, Angola, Kap Verde, Guinea-Bissau, São Tomé und Príncipe). Angola dominierte als Herkunftsland. Mitte der 1970er Jahre stellten die »Retornados« fast 6 Prozent

24 Jean-Jacques Jordi, Mohand Hamoumou. Les harkis, une mémoire enfouie. 2. Aufl. Paris: Editions Autrement, 2002.

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der portugiesischen Bevölkerung. Kontrovers diskutiert wird, ob die Integration der »Retornados« weniger konflikthaft verlief als jene der »Rückwanderer« in Frankreich, den Niederlanden oder auch in Italien, wo in den 1950er Jahren eine postkoloniale Rückwanderung von rund 600.000 Menschen zu erheblichen politischen und sozialen Spannungen führte. Festgehalten werden kann, dass sich ein Großteil der Portugiesen, die mit dem Zusammenbruch des Kolonialreiches zurückkehrten, erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den afrikanischen Besitzungen angesiedelt hatte. Zwei Drittel aller erwachsenen »Retornados« waren in Portugal geboren worden, sie pflegten meist enge Verbindungen in ihr Herkunftsland. Überwiegend waren sie männlich, überdurchschnittlich gut qualifiziert und im erwerbsfähigen Alter. Die Re-Integration in den portugiesischen Arbeitsmarkt gelang deshalb relativ reibungslos. Spannungen blieben dennoch nicht aus, da die »Retornados« als soziale, wirtschaftliche und politische Belastung markiert wurden, als Eindringlinge, die für Erwerbslosigkeit, Wohnungsnot und eine Überforderung der Sozialsysteme verantwortlich seien. Viele »Retornados« beklagen bis in die Gegenwart, weiterhin nicht als Teil der portugiesischen Gesellschaft akzeptiert zu sein.25 Asylgrundrecht und Aufnahmepraxis in der »alten« Bundesrepublik Deutschland 1948 schrieb die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen erstmals ein individuelles Asylrecht fest. Artikel 14, Absatz 1 lautet: »Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.« Nur selten allerdings wurde diese Formel in nationales Recht überführt. Eine Ausnahme bildete die Bundesrepublik Deutschland. Der 1948/49 geschaffene Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes bot mit der (den Wortlaut der Menschenrechtserklärung aufnehmenden) Formulierung »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« ein im internationalen Vergleich weitreichendes Grundrecht auf dauerhaften Schutz: Darauf habe jeder politisch Verfolgte, der nach Westdeutschland komme, ohne Einschränkungen einen verfassungsrechtlich einklagbaren Anspruch.26

25 Isabel dos Santos Lourenço, Alexander Keese. »Die blockierte Erinnerung. Portugals koloniales Gedächtnis und das Ausbleiben kritischer Diskurse 1974–2010«. Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), 220–243, hier 232–238. 26 Simone Klausmeier. Vom Asylbewerber zum ›Scheinasylant‹. Asylrecht und Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland seit 1973. Berlin: Express Edition, 1984; Simone Wolken. Das Grundrecht auf Asyl als Gegenstand der Innen- und Rechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1988; Ursula Münch. Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. Wiesladen: Verlag für Sozialwissenschaften, 1998.

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Das in den Diskussionen des Parlamentarischen Rates 1948/49 entwickelte Asylgrundrecht bildete eine Reaktion auf die vor allem rassistisch motivierten Austreibungen aus dem Deutschland des »Dritten Reichs« und markierte damit eine symbolische Distanzierung von der nationalsozialistischen Vergangenheit. Darüber hinaus demonstrierte es gegenüber den drei westlichen Besatzungsmächten die Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem bei der Gründung der Vereinten Nationen festgeschriebenen menschenrechtlichen Regelungen. Im Vordergrund aber stand ein weiterer Aspekt: Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gingen davon aus, dass die weit überwiegende Mehrheit derjenigen, die das Asylrecht im Westen in Anspruch nähme, aus der Sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands käme. Jede Präzisierung des Asylartikels aber müsse zu unerwünschten Beschränkungen der Möglichkeit ihrer Aufnahme führen. Die Konkurrenz der politischen Systeme in Ost und West im Kontext des »Kalten Krieges« und die bevorstehende Teilung Deutschlands bildeten mithin die wesentliche Perspektive für die Formulierung eines offenen Grundrechts auf Asyl.27 Weil das Grundgesetz nicht klärt, was »politische Verfolgung« sei, ergab sich in den folgenden Jahrzehnten und bis heute ein konfliktreicher Prozess des dauernden Neudefinierens dessen, was das Politische ist und welche Form und Reichweite die Verfolgung zu gewärtigen hat. In den 1950er Jahren vertrat die Bundesregierung auch international die Auffassung, der junge westdeutsche Staat könne insbesondere angesichts der Millionen deutscher Vertriebener aus dem Osten und der Massenzuwanderung aus der DDR nicht auch noch Schutzsuchende aus dem Ausland aufnehmen.28 Tendenzen der Öffnung ergaben sich erst mit den Ereignissen in Ungarn 1956. In der westdeutschen Bevölkerung und in den Medien wurden die dortigen revolutionären Ereignisse mit großer Sympathie verfolgt. Nach der Niederschlagung durch die sowjetische Rote Armee wichen rund 225.000 Ungarn über die österreichische und zu einem kleineren Teil über die jugoslawische Grenze aus. Allenthalben gab es Solidaritätsbekundungen für die im Westen als Freiheitskämpfer verstandenen Ungarn im Kontext einer sich verschärfenden Blockkonfrontation im »Kalten Krieg«. Die ungarischen Zuwanderer galten Vielen als Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus, denen jede Unterstützung zuteilwerden müsse.

27 Protokoll der Debatte: Eberhard Pikart, Wolfram Werner (Bearb.). Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/I: Ausschuß für Grundsatzfragen. Boppard am Rhein: Boldt, 1993, 83–87. 28 Hierzu und zum Folgenden Patrice G. Poutrus. »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland. Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er bis zu den 1970er Jahren«. Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), 135–175.

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Drei Wochen nach dem Beginn der militärischen Operationen der sowjetischen Roten Armee beschloss das Bundeskabinett die Aufnahme von 10.000 Ungarn.29 Die asylpolitische Öffnung erstreckte sich darüber hinaus auf Hilfen zur Integration: Dazu zählte nicht nur die Unterstützung bei der Suche nach Wohnungen sowie Sprachkurse, sondern auch Kredite zur Existenzgründung und Leistungen für jene, die nicht erwerbsfähig waren. Dass die Hilfen relativ großzügig ausfielen, lag auch an der günstigen Situation des westdeutschen Arbeitsmarkts, der sich rasch der Vollbeschäftigung näherte und auf zusätzliche Arbeitskräfte angewiesen war. Insgesamt übertraf die Zahl der aufgenommenen Ungarn noch die Ende November 1956 vom Bundeskabinett beschlossenen 10.000 und erreichte schließlich rund 16.000. Nach den USA (80.000), Kanada (37.000), Großbritannien (22.000) und Österreich (18.000) zählte damit die Bundesrepublik zu den wichtigsten Aufnahmestaaten. Dennoch sollte das Gewicht der Bundesrepublik als Asylland nicht überschätzt werden, denn in den zwanzig Jahren von der Staatsgründung 1949 bis 1968 beantragten nur knapp über 70.000 Menschen Asyl. In den ersten dreißig Jahren der Existenz der Bundesrepublik schwankten die Asylbewerberzahlen zwischen dem Minimum von rund 2.000 im Jahre 1953 und dem Maximum von ca. 51.000 im Jahre 1979. Bis in die 1960er Jahre kamen Asylsuchende weit überwiegend von jenseits des ›Eisernen Vorhangs‹ aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa: Die jährlichen Anteile von Asylsuchenden aus dem »Ostblock« an der Gesamtzahl schwankten zwischen 72 und 94 Prozent. Diese Phase kennzeichnete neben der Aufnahme von Ungarn die Asylgewährung für rund 4.000 Tschechoslowaken nach dem »Prager Frühling« 1968, die als ein erneuter Ausdruck der antikommunistisch motivierten Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik verstanden werden kann. Die Bereitwilligkeit, mit der tschechische und slowakische Zuwanderer aufgenommen wurden, resultierte erneut auch aus Nützlichkeitserwägungen – der hohe Arbeitskräftebedarf wurde ebenso ins Feld geführt wie die Tatsache, dass die Asylsuchenden in aller Regel jung waren sowie über fachliche und akademische Ausbildungen verfügten. Deutlich kontroverser als im Falle der Gewährung von Asyl für Ungarn und Tschechoslowaken fielen die Debatten über die Aufnahme von Flüchtlingen nach dem Militärputsch in Griechenland 1967 und in Chi-

29 Jan Willem ten Doesschate. »Ungarische Flüchtlinge seit 1956«. Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen, Jochen Oltmer (Hgg.). Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Aufl. Paderborn: Schöningh, 2010, 1065–1067; Patrice G. Poutrus. »Zuflucht im Nachkriegsdeutschland. Politik und Praxis der Flüchtlingsaufnahme in Bundesrepublik und DDR von den späten 1940er Jahren bis zur Grundgesetzänderung im vereinten Deutschland von 1993«. Jochen Oltmer (Hg.). Handbuch Staat und Migration in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, 853–893, hier 874–879.

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le 1973 aus, die sich nicht in das Muster einer antikommunistisch konnotierten Flüchtlingsaufnahme fügen ließen. Dass schließlich trotz der heftigen Kritik weiter Kreise linksgerichteten bzw. kommunistischen griechischen und chilenischen Flüchtlingen in der Bundesrepublik Schutz gewährt wurde, spricht für eine verbreitete Akzeptanz der Vorstellung, Asyl sei ein universales Menschenrecht und dürfe nicht entlang politischer Einstellungen verhandelt werden. Vor allem das große Engagement zahlreicher Hilfsorganisationen und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure trug dazu bei, dass die (beschränkte) Aufnahme von Griechen und Chilenen überhaupt möglich wurde. Neben sicherheitspolitische und ideologische Bedenken konnten bei der Diskussion um die Flüchtlingsaufnahme auch außenpolitische Rücksichtnahmen treten. Das zeigte sich etwa in den innenpolitischen Konflikten um die Aufnahme von Algeriern im Kontext des Algerienkrieges, der 1962 zur Unabhängigkeit vom französischen ›Mutterland‹ führte. Algeriern einen Flüchtlingsstatus zuzubilligen, glich einem Affront gegenüber dem französischen Verbündeten. Zugleich war die Bundesrepublik aber zu verhindern bemüht, wegen einer strikten Abwehr algerischer Asylgesuche und eines allzu scharfen Vorgehens gegen Algerier in Westdeutschland in den Ruf zu geraten, die umstrittene französische Kolonialpolitik zu unterstützen. Als innenpolitisch konfliktreich erwies sich in den 1960er Jahren auch die Diskussion um die Aufnahme jugoslawischer Staatsbürger. Zwischen 1963 und 1966 stellten sie mehr als die Hälfte aller Asylbewerber. Insbesondere wegen der Kämpfe verschiedener Nationalitätenorganisationen untereinander und gegen den jugoslawischen Staat galt die Aufnahme von Jugoslawen als sicherheitspolitisch bedenklich und als außenpolitisch riskant. Die asylrechtlichen Bestandteile des neuen Ausländergesetzes von 1965 lösten zwar nicht das Problem der Definition dessen, was »politische Verfolgung« ausmachte, brachten aber eine Vereinheitlichung des Verfahrens zur Anerkennung von Schutzsuchenden aus dem Ausland: Als Zentralstelle zuständig war nun das »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« in Nürnberg-Zirndorf. Als für die Zukunft von hohem Gewicht erwies sich die Einführung der »Duldung« in den Fällen, in denen der Antrag von Asylbewerbern abgelehnt worden war. Mit der Duldung verbindet sich bis heute zwar nicht das Recht auf einen Aufenthalt, sie bildet aber einen zeitweiligen Schutz vor einer Abschiebung in das Herkunftsland aus politischen oder humanitären Erwägungen der bundesdeutschen Behörden bzw. Gerichte.30

30 Karen Schönwälder. »›Ist nur Liberalisierung Fortschritt?‹ Zur Entstehung des ersten Ausländergesetzes der Bundesrepublik«. Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald (Hgg.). 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt a.M.: Campus 1999, 127–144.

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Auch wenn bereits seit den späten 1960er Jahren Teile der bundesdeutschen Administration auf eine Beschränkung des Zugangs zum Asyl drängten und in der medialen sowie politischen Debatte die Stimmen lauter wurden, die von einer zunehmend missbräuchlichen Nutzung des Rechtsinstruments ausgingen, blieb das Grundrecht auf Asyl zunächst noch unangetastet. Mehrere höchstrichterliche Urteile führten vielmehr in den 1970er Jahren zu einer Beseitigung von Barrieren, die die Behörden aufgerichtet hatten. Sie hatten verhindern sollen, dass Zuwanderer das Asylrecht in Anspruch nehmen konnten. Die erwähnte Aufnahme der »boat people« Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre bildete ein Kennzeichen des Bedeutungsgewinns der Flüchtlingszuwanderung von außerhalb Europas. Seit Anfang der 1970er Jahre war die Zahl der nicht-europäischen Asylsuchenden deutlich angestiegen. Zu Beginn der 1980erJahre kamen insbesondere vor dem Hintergrund des Militärputsches in der Türkei, des Systemwechsels im Iran mit der Einrichtung der »Islamischen Republik« sowie der innenpolitischen Konflikte in Polen angesichts des Aufstiegs der Gewerkschaftsbewegung »Solidarność« neue umfangreiche Zuwanderungen hinzu. 1980 überschritt deshalb die Zahl der Asylsuchenden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Marke von 100.000. Zwar ging der Umfang der Asylzuwanderung zunächst noch wieder zurück, stieg aber ab Mitte der 1980er Jahre wieder an. Hintergrund war nun insbesondere die politische und wirtschaftliche Krise in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Zunächst wuchs die Zahl jener Polen, Ungarn und Tschechoslowaken rasch, die Asyl in Mittel- und Westeuropa beantragten. Bald folgten Rumänen, Bulgaren und Albaner. Die Zahl der Asylantragssteller in der Bundesrepublik wuchs 1988 erneut auf einen Wert von über 100.000, erreichte 1990 rund 190.000 und 1992 schließlich den Höchststand von fast 440.000. Zugleich änderte sich die Zusammensetzung der Gruppe der Asylbewerberinnen und Asylbewerber wiederum grundlegend: 1986 waren noch rund 75 Prozent aus der »Dritten Welt« gekommen. 1993 hingegen stammten 72 Prozent aus Europa.31 Das Ende des »Kalten Krieges« und die Flüchtlingssituation in Europa Der Zusammenbruch des Ostblocks bildete ein Konglomerat vielfältiger politischer Spannungen und Konflikte, die zum Teil in Bürgerkriegssituationen mündeten. Krisenbedingte Migration war eine der Folgen. In West- und Mitteleuropa bildeten weitreichende politische Diskussionen um die Grenzen der Aufnahme-

31 Hierzu und zum Folgenden: Klaus J. Bade, Jochen Oltmer. Normalfall Migration. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2004, 86–88, 106–117.

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bereitschaft und um den Missbrauch von Asylrechtsregelungen eine erste Reaktion, auf die bald Einschränkungen des Grenzübertritts und des Zugangs zu den Asylverfahren folgten. Millionenfache Fluchtbewegungen folgten in den 1990er Jahren vor allem aus dem Zerbrechen Jugoslawiens, das in die Kriege in und um Slowenien im Sommer 1991, Kroatien in der zweiten Jahreshälfte 1991 bzw. im Frühjahr und Sommer 1995, Bosnien-Herzegowina 1992 bis 1995 sowie den Kosovo 1998/99 mündete. Nach Angaben des Flüchtlingshochkommissars der Vereinten Nationen gab es 1995 nicht weniger als 3,7 Millionen Flüchtlinge im Kontext des JugoslawienKonflikts, die innerhalb der Region ausgewichen waren. Hinzu traten mehrere hunderttausend Flüchtlinge, die andere Staaten Europas für unterschiedlich lange Zeiträume aufnahmen.32 Vor allem im Krieg um Bosnien-Herzegowina stieg die Zahl der Flüchtlinge in West- und Mitteleuropa stark an, während diese im Falle der anderen Konflikte vornehmlich in der Region blieben. Schätzungen gehen davon aus, dass wegen der kriegerischen Auseinandersetzung in und um Bosnien-Herzegowina rund 2,5 Millionen Menschen flohen. Etwa 600.000 von ihnen wichen innerhalb BosnienHerzegowinas aus, eine ähnlich hohe Zahl blieb in den Staaten der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien. Etwa 1,3 Millionen Menschen flohen in andere Staaten, von denen wahrscheinlich rund die Hälfte EU-Staaten erreichte. 1997, also bereits nach dem Ende des Krieges, hielten sich noch rund 580.000 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina in EU-Staaten auf – darunter mit 340.000 der größte Teil in der Bundesrepublik Deutschland. Die massiven Zerstörungen – insbesondere von Wohnraum und Infrastruktur – behinderten die Rückwanderungen, die in den späten 1990er Jahren allerdings rasch zunahmen. Vor allem Deutschland setzte dabei auf eine Politik des erhöhten Drucks zur Rückkehr: Ein prekärer Aufenthaltsstatus und Abschiebungen wirkten zusammen, weshalb sich die Zahl der Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina in Deutschland bis 2003 auf ein Zehntel des Wertes von 1997 verringerte. Im letzten Staatenbildungskonflikt in Südosteuropa – dem Krieg im und um den Kosovo – blieben Menschen, die Schutz suchten, demgegenüber vornehmlich in der Region selbst: Sie überschritten die Grenzen der Nachbarstaaten, um nach dem Ende des Konflikts sogleich wieder zurückzukehren – erreichten aber nur selten Mittel- und Westeuropa: Von den rund 900.000 Flüchtlingen, die den

32 Joanne van Selm (Hg.). Kosovo’s Refugees in the European Union. London: Pinter 2000; Michael Barutciski, Astrid Suhrke. »Lessons from the Kosovo Refugee Crisis. Innovations in Protection and Burden-sharing«. Journal of Refugee Studies 14 (2001), 95–134; MarieJanine Calic. »Die ›ethnischen Säuberungen‹ im ehemaligen Jugoslawien«. Ulf Brunnbauer (Hg.). Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. ›ethnische Säuberungen‹ im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts, Berlin: Lit 2006, 125–143.

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Kosovo im Frühling und Sommer 1999 verließen, gingen allein 500.000 in den Nachbarstaat Albanien, weitere über 200.000 nach Mazedonien, wahrscheinlich 70.000 nach Montenegro. Demgegenüber nahm sich die Zahl von ca. 43.000 Asylanträgen in West- und Mitteleuropa zwischen April und Juni 1999 gering aus. Die Rückkehr des größten Teils der Kosovo-Flüchtlinge dauerte nur einige Wochen. Bereits einen Monat nach dem Ende der Kampfhandlungen sollen 80 Prozent aller Flüchtlinge in den Kosovo zurückgekehrt sein. In West- und Mitteleuropa bildeten weitreichende und scharf geführte politische und mediale Diskussionen um mögliche Grenzen der Aufnahmebereitschaft (»Asylantenflut«, »Das Boot ist voll«) und um den vorgeblichen Missbrauch von Asylrechtsregelungen eine erste Reaktion auf den Anstieg der Zahl von Asylanträgen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, auf die bald Einschränkungen des Grenzübertritts und des Zugangs zu den Asylverfahren folgten: Die Maßnahmen reichten von der Sperre der Einreisewege über die DDR und OstBerlin durch die Einführung von Anschlussvisa seit Oktober 1986 bis zur Asylrechtsnovelle vom Januar 1987, die unter anderem restriktive Visavorschriften für Reisende aus neun afrikanischen und asiatischen Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden umfasste. Diese Reaktionen auf den scharfen Anstieg der Asylantragszahlen entsprachen einem längerfristigen Trend; denn je häufiger seit den späten 1970er Jahren das bundesdeutsche Asylrecht in Anspruch genommen worden war, desto stärker wurde es mit Hilfe gesetzlicher Maßnahmen und Verordnungen eingeschränkt. Zu diesem Zeitpunkt galt die Bundesrepublik längst als ein anerkanntes Mitglied der westlichen Staatenwelt. Sie glaubte nun, nicht mehr stets belegen zu müssen, stets höchsten menschenrechtlichen Standards zu folgen. Die nationalsozialistische Vergangenheit galt zudem, anders als 1948/49, als so weit »bewältigt«, dass kaum mehr Veranlassung bestand, mit einem offenen Asylrecht symbolische Distanzierung zu demonstrieren. Und die anfangs grundlegende innerdeutsche Zielrichtung der Aufnahme von Flüchtlingen aus der SBZ bzw. DDR spielte ohnehin schon lange keine Rolle mehr: Bereits 1951 waren die deutlich ansteigenden Zuwanderungen aus der DDR durch die Einführung des asylähnlichen »Notaufnahmeverfahrens« aus dem Asylrecht herausgenommen worden. Mit der deutschen Vereinigung 1990 verloren die genannten Hintergründe für die Schaffung eines weitreichenden Asylrechts 1948/49 endgültig ihre Bedeutung; der Weg zu der lange umstrittenen Grundgesetzänderung, die 1993 schließlich erfolgte, stand damit offen. Der »Kalte Krieg« war beendet – und die Aufnahme von Schutzsuchenden zählte nicht mehr als Erfolgsnachweis in der globalen Systemkonkurrenz, sondern erschien als Zusatzbelastung für den Sozialstaat, zumal Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahren nicht nur die Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik wuchs: 1987 bereits waren zudem die Aussiedlerzahlen massiv angestiegen. Sie übersprangen 1988 knapp die Marke von 200.000 und erreichten 1990 schließlich fast 400.000. Hinzu kam in Westdeutschland die Zuwande50

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rung aus der späten DDR bzw. aus den neuen Bundesländern: 1989 erreichten fast 390.000 und 1990 rund 395.000 Menschen das Gebiet der alten Bundesrepublik. Außerdem wurden, wie erwähnt, zeitweilig Hunderttausende Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Raum Ex-Jugoslawiens aufgenommen, denen zwar Schutz gewährt wurde, die aber nicht zum Asylverfahren zugelassen wurden. Die nicht selten scharf polemisch geführte politische und publizistische Debatte um die Reform des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre wurde seit Herbst 1991 begleitet von zunehmender Gewalt gegen Zuwanderer durch vornehmlich jugendliche Täter und die Akzeptanz von Gewalt gegen »Fremde« durch größerer Teile der Gesellschaft, zunächst in den Neuen Bundesländern, dann auch im Westen der Republik. Opfer waren anfangs meist Asylsuchende: In Hoyerswerda wurden sie im September 1991 angegriffen, verletzt und schließlich aus ihren Unterkünften vertrieben, in Hünxe im Oktober 1991 zwei Flüchtlingskinder bei einem Brandanschlag schwer verletzt, in Rostock-Lichtenhagen Asylbewerber im August 1992 in ihren schließlich brennenden Unterkünften belagert und angegriffen. In Mölln im November 1992 und in Solingen im Mai 1993 schließlich verbrannten seit langem in Deutschland lebende bzw. hier geborene und aufgewachsene Mitglieder türkischer Familien in ihren Häusern nach Anschlägen. Die Änderung des Grundrechts auf Asyl auf der Basis des im Dezember 1992 vereinbarten »Asylkompromisses« der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP mit der oppositionellen SPD wurde am 1. Juli 1993 rechtskräftig. Nach dem seither gültigen Artikel 16a des Grundgesetzes hat in aller Regel keine Chance mehr auf Asyl, wer aus »verfolgungsfreien« Ländern stammt oder über sogenannte »sichere Drittstaaten« einreist, mit denen Deutschland lückenlos umgeben ist. Asylrechtsreform und verschärfte Grenzkontrollen drückten die Zahl der Asylsuchenden 1993 auf ca. 320.000. 1998 unterschritten sie schließlich wieder die Schwelle von 100.000 und sanken in der Folge weiter. Während Asylsuchende in den 1990er Jahren vorwiegend aus Europa kamen, stammte im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Mehrzahl wieder von anderen Kontinenten und insbesondere aus dem asiatischen Raum (Syrien, Irak, Afghanistan). Schluss: Deutschland und Europa im globalen Gewaltmigrationsgeschehen der Gegenwart Millionen von Schutzsuchenden waren im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert Ergebnis der Szenarien von Krieg, Bürgerkrieg und Staatszerfall in vielen Teilen der Welt – in Europa (Jugoslawien), im Nahen Osten (Libanon, Iran, Irak, Syrien, Jemen), in Ostafrika (Äthiopien, Somalia, Sudan/Südsudan), in Westafrika (Kongo, Elfenbeinküste, Mali, Nigeria), in Südasien (Afghanistan, Sri Lanka) oder auch in Lateinamerika (Kolumbien). Die Zahl der vom UNHCR für die vergangenen Jahrzehnte ermittelten Flüchtlinge schwankt. Ausmachen lassen sich für die Zeit 51

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nach dem Ende des »Kalten Krieges« zwei Hochphasen im globalen Fluchtgeschehen: die frühen 1990er Jahre und die Mitte der 2010er Jahre. Zwischen 1990 und 1994 lagen die Flüchtlingszahlen zwischen dem Höchststand von 20,5 Millionen 1992 und 18,7 Millionen 1994. Ähnlich hohe Werte wurden Mitte der 2010er Jahre wieder erreicht: 19,5 Millionen 2014 und 21,3 Millionen 2016. Zwischen diesen beiden Hochphasen lagen die Flüchtlingszahlen niedriger und erreichten im Zeitraum 1997–2012 einen Höchstwert von 15,9 Millionen 2007 und die niedrigste Zahl mit 13,5 Millionen 2004. Wesentlich stärker als die Zahl der Flüchtlinge veränderte sich die Zahl der Binnenvertriebenen. Weil die dieser Kategorie zugewiesenen Menschen keine Staatsgrenzen überschritten haben, fallen sie nicht in den Regelungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und auch nicht unter das Mandat des UNHCR. Auch bei den Binnenvertriebenen lässt sich ein Schwerpunkt Anfang der 1990er Jahre ausmachen, 1994 zählte der UNHCR 28 Millionen. Während die Zahl der Flüchtlinge seit Anfang der 2000er Jahre allerdings ein Tief erreichte, steigt jene der Binnenvertriebenen seither mehr oder minder kontinuierlich an, von 21,2 Millionen im Jahr 2000 bis auf 40,8 Millionen 2015. Dass europäische Staaten im vergangenen Vierteljahrhundert relativ selten Ziel von Gewaltmigrationen von außerhalb des Kontinents wurden, resultiert aus spezifischen Mustern im Kontext des Ausweichens vor Gewalt in den verschiedensten Kriegs- und Krisenzonen der Welt: Größere Fluchtdistanzen sind selten, weil finanzielle Mittel dafür fehlen und Transit- bzw. Zielländer die Migration behindern. Schutzsuchende streben außerdem überwiegend nach einer möglichst raschen Rückkehr. Sie finden sich vor diesem Hintergrund in aller Regel in der Nähe der vornehmlich im globalen Süden liegenden Herkunftsregionen. 95 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge (2015: 2,6 Millionen) leben in den Nachbarländern Pakistan oder Iran. Ähnliches gilt für Syrien, das sich seit 2011 im Bürgerkrieg befindet: Der Großteil der syrischen Flüchtlinge, 2016 rund 4,8 Millionen, sind in die Nachbarländer Türkei (2016: 2,7 Millionen), Jordanien (640.000), Irak (246.000) und Libanon (1,1 Millionen) ausgewichen. Mit 7,6 Millionen lag dabei die Zahl der Menschen, die vor Gewalt innerhalb Syriens flohen und zu Binnenvertriebenen wurden, sogar noch deutlich höher. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass Staaten des globalen Südens 2015 nicht weniger als 86 Prozent aller weltweit registrierten Flüchtlinge beherbergten – mit seit Jahren steigender Tendenz im Vergleich zum Anteil des globalen Nordens, hatte doch der Anteil der ärmeren Länder weltweit 2003 lediglich bei 70 Prozent gelegen.33 Vornehmlich der globale Süden ist also von der Zunahme der weltweiten Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen seit Anfang der 2010er Jahre betroffen. Dennoch lässt

33 Permanent aktualisierte statistische Angaben zur globalen Flüchtlingsfrage: https:\\www.un hcr.org/cgi-bin/texis/vtx/search%5C?page=&comid=4148094d4&cid=49aea93aba.

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sich zugleich beobachten, dass insbesondere die Bundesrepublik Deutschland seit 2012 und vor allem im Jahr 2015 deutlich vermehrt Ziel globaler Fluchtbewegungen geworden ist. Warum? Sechs Elemente eines komplexen Zusammenhangs seien hier skizziert.34 Die Reihenfolge der Argumente repräsentiert keine Hierarchie, alle genannten Faktoren stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander und verstärken sich gegenseitig: 1. Finanzielle Mittel: Unzählige Studien belegen, dass Armut die Bewegungsfähigkeit massiv einschränkt, ein Großteil der Menschheit kann sich eine Migration über weite Distanzen nicht leisten.35 2015 aber lagen wichtige Herkunftsländer von Asylsuchenden in der EU in relativer geographischer Nähe (Syrien, Irak, Südosteuropa). Die Kosten für das Unternehmen Migration von dort hielten sich mithin in Grenzen – zumindest im Vergleich zu Bewegungen aus anderen globalen Konfliktherden etwa in West- oder Ostafrika, Südasien oder Lateinamerika, die kaum jemals Europa erreichen. Hinzu trat, dass mit der Türkei auch das wichtigste Erstziel des Großteils syrischer Flüchtlinge unmittelbar an EU-Länder grenzt – und zugleich vor dem Hintergrund der hohen Zahl von Schutzsuchenden im Land, eines prekären Aufenthaltsstatus und sehr beschränkter Möglichkeiten des Zugangs zu Bildung und zum regulären Arbeitsmarkt nur geringe Zukunftsperspektiven bot. 2. Netzwerke: Migration findet vornehmlich in Netzwerken statt, die durch Verwandtschaft und Bekanntschaft konstituiert sind. Deutschland war 2015 auch deshalb zum wichtigsten europäischen Ziel von Asylsuchenden geworden, weil es hier seit längerem (und verstärkt seit Anfang der 2010er Jahre) recht umfangreiche Herkunftskollektive gab, die für Menschen, die vor Krieg, Bürgerkrieg und Maßnahmen autoritärer Systeme auswichen, eine zentrale Anlaufstation bildeten. Das galt nicht nur für Syrer, sondern auch für Iraker, Afghanen, Eritreer und Südosteuropäer. Und weil migrantische Netzwerke die Wahrscheinlichkeit für weitere Migration erhöhen, hat die Zuwanderung von Asylsuchenden in die Bundesrepublik die 2015 zu beobachtende Dynamik gewonnen. 3. Aufnahmeperspektiven: In den frühen 2010er Jahren und bis weit in das Jahr 2015 hinein ließ sich eine (im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten) relativ große Bereitschaft zur Aufnahme von Schutzsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland beobachten. Verantwortlich dafür war eine vor dem Hintergrund der günstigen Situation von Wirtschaft und Arbeitsmarkt

34 Jochen Oltmer. »Fluchtursachen, Fluchtwege und die neue Rolle Deutschlands«. Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 2015, 12, 19–21. 35 Für Afrika Hein de Haas. »The Myth of Invasion. The Inconvenient Realities of African Migration to Europe«. Third World Quarterly 29 (2008), 1305–1322.

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positive Zukunftserwartung in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Die seit Jahren laufende breite und wirkungsmächtige Diskussion um Fachkräftemangel und demographische Veränderungen führte ebenso zu einer Öffnung wie die Akzeptanz menschenrechtlicher Standards und die Anerkennung des Erfordernisses des Schutzes vornehmlich syrischer Flüchtlinge, aus der auch eine große Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement resultierte. 4. Aufhebung von Migrationsbarrieren: Seit den 1990er Jahren hat die EU und haben einzelne Mitgliedsländer ein System zur Abwehr von Fluchtbewegungen aufgebaut. Eine vielgestaltige europäische migrationspolitische Zusammenarbeit mit Staaten wie Libyen, Ägypten, Algerien, Tunesien, Marokko, Albanien oder der Ukraine verhinderte seither weitgehend, dass Schutzsuchende die Grenzen der EU erreichen und um Asyl nachsuchen konnten.36 Diese meist als »Europäische Nachbarschaftspolitik« und als »Mobilitätspartnerschaften« ausgewiesene EU-Vorfeldsicherung ist aufgrund der Destabilisierung diverser Staaten am Rand der EU (unter anderem im Kontext des »Arabischen Frühlings«, aber auch des Ukraine-Konflikts) zusammengebrochen. Der Zerfall der politischen Systeme war eng verbunden mit den tiefgreifenden Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007/08, die die gesellschaftlichen Konflikte in zahlreichen EU-Anrainerstaaten verschärfte, die staatlichen Handlungsmöglichkeiten beschnitt sowie die Bereitschaft und die Reichweite einer Zusammenarbeit mit der EU minimierte. 5. Auflösung des »Dublin-Systems«: Die Weltwirtschaftskrise wirkte nicht nur auf den äußeren Ring der Vorfeldsicherung gegen die Zuwanderung von Schutzsuchenden jenseits der Grenzen der EU, sondern auch in den inneren Ring hinein. Das seit den frühen 1990er Jahren entwickelte »Dublin-System« diente der bewussten Abschließung der EU-Kernstaaten und insbesondere Deutschlands gegen weltweite Fluchtbewegungen, indem es die Verantwortung für die Durchführung eines Asylverfahrens jenen Staaten überließ, in die Flüchtlinge einreisten.37 Das konnten nur Staaten an der EU-Außengrenze sein. Lange funktionierte das System, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Zahl der Flüchtlinge, die europäische Grenzen erreichten, seit Mitte der 1990er Jahre relativ niedrig lag. Aufgrund der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise

36 Instruktive Beiträge bieten Martin Geiger, Antoine Pécoud (Hgg.). The Politics of International Migration Management. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012; Margaret WaltonRoberts, Jenna Hennebry (Hgg.). Territoriality and Migration in the E.U. Neighbourhood. Dordrecht: Springer, 2014; Thomas Gammeltoft-Hansen. Access to Asylum. International Refugee Law and the Globalisation of Migration Control. Cambridge: Cambridge University Press 2011. 37 Sandra Lavenex. The Europeanisation of Refugee Policies. Between Human Rights and Internal Security. Aldershot: Ashgate, 2001.

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und im Kontext des Anstiegs der Zahl der Asylsuchenden aber waren diverse europäische Grenzstaaten, vornehmlich Griechenland und Italien, in den vergangenen Jahren immer weniger bereit und in der Lage, die ungleich verteilten Lasten des Dublin-Systems zu tragen, die Schutzsuchenden zu registrieren und in das jeweilige nationale Asylverfahren zu fügen. 6. Die Bundesrepublik als »Ersatz-Zufluchtsland«: Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise führte innerhalb der EU dazu, dass die Bereitschaft in traditionsreichen und sehr gewichtigen Asylländern wie z.B. Frankreich oder Großbritannien im Kontext weitreichender gesellschaftlicher Aushandlungen erheblich sank, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. In diesem Zusammenhang wurde die Bundesrepublik 2015 gewissermaßen ein Ersatz-Zufluchtsland und damit zu einem neuen Ziel im globalen Fluchtgeschehen. Die globale Flüchtlingsfrage ist erst mit der deutlich vermehrten Zahl von Schutzsuchenden 2015 Gegenstand intensiver Diskussionen in Deutschland und Europa geworden – zuvor war das auch deshalb selten der Fall, weil das System des Fernhaltens der Zuwanderung von potentiellen Schutzsuchenden der EU über viele Jahre zu funktionieren schien. In ihrer Asylpolitik haben sich die EU-Staaten seit den frühen 1990er Jahren vor allem auf Abwehrinstrumente einigen können. Die Vergemeinschaftung einer Schutzpolitik ist zwar bereits seit Jahren Teil der EU-Agenda. Einige wesentliche Vereinbarungen (vornehmlich im Rahmen der Qualifikationsrichtlinie) konnten 2004/05 getroffen werden – just in einer Phase geringer Zugangszahlen: Mindeststandards für Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden sowie Verfahrensgarantien und Regelungen zum subsidiären Schutz. Der Rahmen aber muss als fragmentiert bezeichnet werden, gewissermaßen ein in den Anfängen steckengebliebenes Projekt.38 Bereits seit dem Ersten Weltkrieg wird die Flüchtlingsfrage als internationale Herausforderung verstanden. Ein Flüchtlingshochkommissar, damals des Völkerbundes, amtiert seit 1921.39 Aber auch nach beinahe 100 Jahren ist das internationale Schutzregime weiterhin nicht durch Regeleinrichtungen geprägt, die über ausreichende Etats und Mitarbeiterstäbe verfügen und nicht ausschließlich in einem Notfallmodus agieren.40 2015 wurde zwar ein großer Teil der von den Vereinten Nationen für Nothilfe verausgabten 28 Milliarden US-Dollar für Flüchtlinge

38 Petra Bendel. Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Bonn. Friedrich Ebert-Stiftung, 2015. 39 Volker Türk. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR). Berlin: Duncker & Humblot, 1992, 3–13.

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verwendet, allerdings blieben die zur Verfügung stehenden Mittel deutlich hinter den benötigten Summen zurück, weil Krisenaufrufe nicht genügend Spenden und Beihilfen einbrachten. 28 Milliarden US-Dollar mag als viel erscheinen, bleibt aber doch ein geringer Betrag angesichts von 13,6 Billionen US-Dollar, die im Jahr 2015 weltweit für das Führen von Kriegen und Bürgerkriegen aufgewendet worden sind. Zu diskutieren ist, ob nicht insbesondere eine deutlich bessere Ausstattung des UNHCR einen zentralen Beitrag dazu leisten könnte, die Möglichkeiten zur Durchsetzung der Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention zu verbessern, Fluchtkonstellationen im Kontext von Kriegen, Bürgerkriegen und Maßnahmen autoritärer Systeme bereits im Ansatz zu erkennen und frühzeitig, d.h. präventiv und proaktiv, Schutzmaßnahmen für Flüchtlinge zu ergreifen, um humanitäre Katastrophen verhindern, mindestens aber in ihrem Ausmaß erheblich reduzieren zu können.

40 Alexander Betts, Gil Loescher, James Milner: UNHCR. The Politics and Practice of Refugee Protection. 2. Aufl. London: Routledge, 2012; Anne Hammerstad: The Rise and Decline of a Global Security Actor. UNHCR, Refugee Protection and Security, Oxford: Oxford University Press, 2014.

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Verflüchtigt sich Europa? Der Einfluss der »Flüchtlingskrise« auf den Zusammenhalt der EU1

Von Familienunternehmen wird oft gesagt: Die erste Generation baut auf, die zweite baut aus – und die dritte verprasst das Vorhandene. Geht es uns mit der Europäischen Union genauso? Mit ein bisschen Phantasie ... Stellen wir uns einmal vor, im Jahr 2015 wäre es nach folgendem Szenario gelaufen: Über 1 Million Menschen, die den Krieg in Syrien sowie dem Terror im Irak und in Afghanistan entfliehen, suchen Schutz in der Europäischen Union. Der Europäische Rat sowie die Räte für Innen-, Außen- und Sozialpolitik treten zusammen und beschließen, auf die Situation zu reagieren. Die Katastrophenschutzbehörden der Mitgliedsländer, bei uns das Technische Hilfswerk, bauen Regis­ trierzentren und provisorische Unterkünfte in Griechenland auf, die Innenbehörden der Länder bündeln ihre Kräfte und sorgen für eine schnelle Erstaufnahme der Flüchtlinge, die dann auf die gesamte Europäische Union verteilt werden. 1,1 Million Flüchtlinge in eine Bevölkerung von 508 Millionen Menschen, das sind zwei Promille. Die Europäische Union meistert diese Herausforderung, die gleichzeitig die Mitgliedstaaten und ihre Bürger in der gemeinsamen Aufgabe zusammenführt. »Wir schaffen das!« wird zu einem europäischen Ausruf und zeigt der Welt die Kraft einer zusammenstehenden Europäischen Union. Gleichzeitig nutzt die EU ihre Macht als internationaler Akteur, um auf die Regionalstaaten einzu-

1 Dieser Beitrag fußt auf dem Schlusskapitel des Buches des Verfassers: Europa. Fakten und Zusammenhänge. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2016, 184–197, ist aber zum Zwecke der vorliegenden Publikation aktualisiert und erweitert worden.

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wirken, damit diese den Syrienkrieg nicht weiter befeuern. So kommt – lange bevor Aleppo völlig in Schutt und Asche gelegt werden sein wird und Russland und die Türkei sich die Beute geteilt haben werden – zwar noch kein stabiler Frieden, aber dennoch ein tragfähiger Waffenstillstand zustande. Anamnese So hätte es sein können, aber wir wissen alle, dass es nicht so war. Warum ist das so? Die Europäische Union hat doch das Zeug zur Supermacht: Sie verfügt über den wertmäßig größten Binnenmarkt der Welt, sie hat mehr Bürger als die USA und Russland zusammen, sie hat mehr Soldaten als die USA unter Waffen, sie besetzt (derzeit noch) zwei von fünf Ständigen Sitzen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, sie ist gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten der größte Geber von Entwicklungshilfe, sie ist vielen Menschen ein Vorbild in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch Wohlstand und Kultur. Wo also liegt das Problem? Die Antwort ist einfach und niederschmetternd zugleich: Es fehlt der Wille zur Gemeinsamkeit. Das kann man bei dem Machttheoretiker Joseph Nye lernen: Um die internationalen Beziehungen mitzugestalten, benötigt man Macht, am besten »hard power« (Militär, wirtschaftliche Stärke) und »soft power« (materielle Unterstützung anderer, Ansehen, kulturelle Ausstrahlung), die man zur »smart power« zusammenführt.2 Aber, auch darauf weist Nye hin, es genügt nicht, über diese Machtressourcen zu verfügen, man benötigt auch den Willen, sie einzusetzen. Und im Falle der Europäischen Union geht das nur gemeinschaftlich. Allerdings stehen die europäischen Zeichen auch zu Beginn des Jahres 2017 nicht auf Gemeinsamkeit. Dass es Streit und Ärger gibt, ist nichts Neues, das hat die EU von Anfang an begleitet. Man darf nicht vergessen: Die EU, damals die Europäische Gemeinschaft, ist nicht auf Liebe und Vertrauen gegründet, sondern auf Hass und Misstrauen. 1950, fünf Jahre nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg, begannen die Verhandlungen, die 1952 zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) führten. Die Wunden des Krieges, der deutschen Aggression, der fabrikmäßigen Vernichtung von Millionen Menschen in Konzentrationslagern – das alles war frisch in den Köpfen und Herzen der Akteure. Für Sympathie war da wenig Platz. Aber Deutschland und Frankreich rüttelten sich zusammen, um eine solche Katastrophe, wie die beiden Weltkriege, nicht noch einmal entstehen zu lassen, und einige andere Staaten (Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg) taten mit. Eine in diesem Zusammenhang gerne erinnerte Anek-

2 Joseph Nye. Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. München: Siedler Verlag, 2011.

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dote: Als die Römischen Verträge am 25. März 1957 unterzeichnet werden sollten, waren sie noch nicht ausgefertigt, weil man bis zum letzten Moment gestritten hatte und eine Fertigstellung technisch damals noch nicht so schnell möglich war wie heute im Zeitalter der Computer und Superkopierer. Da man die Zeremonie aber nicht verschieben wollte, legte man jedem der Unterzeichner einen Packen leeren Papiers hin. Vorbereitet war nur das Unterschriftenblatt.3 Nicht die Freundschaft hat zur Europäischen Gemeinschaft geführt, sondern die Europäische Gemeinschaft zur Freundschaft. Das oberste Ziel dieses Zusammenschlusses, aus dem die heutige EU entstanden ist, war die Sicherung des Friedens, und zwar des Friedens voreinander. Die Wirtschaft, erst die Kohle- und Stahlunion, dann die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich der Binnenmarkt, waren und sind lediglich das Instrument, mit dem das grundlegende Ziel erreicht werden soll(te). Darüber gab es auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland heftige Auseinandersetzungen. Als die Römischen Verträge geschlossen werden und damit die monosektorale Integration des Kohle- und Stahlbereichs auf die ganze Wirtschaft ausgedehnt werden sollte, opponierte der damalige Wirtschaftsminister und »Vater des Wirtschaftswunders« Ludwig Erhard heftig dagegen und kritisierte die Konstruktion mit scharfen Worten. Er sah in ihr eine Einschränkung des freien Handels, dessen die Bundesrepublik so dringend bedürfe. Bundeskanzler Adenauer wies ihn am Ende eines Briefwechsels schriftlich in scharfen Worten zurecht: Sie schlagen in Ihrem Antwortbrief zuweilen einen Ton an, den ich nicht mehr von Ihnen angeschlagen sehen möchte. [...] Ihre Ausführung liegen neben der Sache. Die europäische Integration war das notwendige Sprungbrett für uns, um überhaupt wieder in die Außenpolitik zu kommen. Europäische Integration ist auch um Europas willen und damit unseretwillen notwendig. Europäische Integration ist aber vor allem notwendig, weil die Vereinigten Staaten sie als Ausgangspunkt ihrer ganzen Europapolitik betrachten und weil ich genau wie Sie die Hilfe der Vereinigten Staaten als absolut notwendig für uns betrachte. Ich bin der Auffassung, daß wir einen »gemeinsamen Markt« haben müssen. Er wird in Etappen und stückweise kommen müssen. Aber die Richtung dieses Ziels muß uns immer vor Augen bleiben.4

3 Vgl. Hanns Jürgen Küsters. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. BadenBaden, 1982, 432. 4 Brief Adenauers an Erhard, 13.04.1956, zitiert nach Tim Geiger. »Ludwig Erhard und die Anfänge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft«. Rudolf Hrbek (Hg.). 40 Jahre Römische Verträge: der deutsche Beitrag. Dokumentation der Konferenz anlässlich des 90. Geburtstages von Dr. h.c. Hans von der Groeben. Baden-Baden: Nomos, 1998, 50-64, hier: 53.

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Das Ziel, den Frieden untereinander und voreinander zu sichern, hat die EU mittlerweile so vollständig erreicht, dass es in Vergessenheit geraten ist. Das ist eigentlich eine gute Nachricht, aber sie führt auch zu der Konsequenz, dass das Friedensmotiv nicht mehr als Kitt dient, um die Union trotz Streits um Mittel und Maßnahmen zusammenzuhalten. Die Europäische Union ist äußerst kompliziert, dennoch kann man sie mit einem einzigen Begriff erklären, der sie von anderen internationalen Institutionen unterscheidet: Supranationalität. Das war von Beginn an das Konstruktionsprinzip der Europäischen Gemeinschaften. Supranationalität heißt: Wir geben nationale Souveränität an die europäische Ebene ab und üben sie dort gemeinsam und gemeinschaftlich aus. Einfach gesagt: Die Franzosen reden bei uns mit, aber sie zahlen dafür den Preis, dass wir bei ihnen mitreden. Zu dieser Supranationalität gehört die Bereitschaft, sich an die gemeinsam getroffenen Beschlüsse dann auch zu halten, notfalls, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Auslegung geurteilt hat. Letztendlich basiert die gesamte Europäische Union also auf dem Willen, zusammen sein zu wollen. Und dieser Wille scheint sich zu verflüchtigen. Das Versagen der EU-Staaten, 2015 auf den Zustrom einer großen Zahl von Schutzsuchenden gemeinschaftlich zu reagieren, hat diesen Zustand nicht geschaffen, aber es hat ihn für jedermann sichtbar gemacht. Die Unlust auf die EU zeigt sich auch an einem anderen Beispiel – dem »Brexit«. In Großbritannien fand im Juni 2016 ein Referendum statt, in dem die Mehrheit der Abstimmenden sich dafür aussprach, die EU zu verlassen. »Brexit« (aus Britannien und Exit) ist mittlerweile ein geläufiger Teil unseres Sprachschatzes. Damit geht ein langer Entfremdungsprozess zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu Ende. Allerdings weiß noch niemand, wie dieser »Brexit« schlussendlich aussehen wird und die »Brexiteers« haben uns damit überrascht, dass sie nicht den Ansatz eines Planes für ihr Vorhaben besitzen, weshalb es bis zur Einreichung des Scheidungsantrags durch Großbritannien fast ein Jahr gedauert haben wird. Der britische Premierminister David Cameron, der mit diesem Referendumsversprechen die letzte Wahl gewonnen hatte, knüpfte seine Bereitschaft, für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU zu werben, an Veränderungen der europäischen Verträge. Tatsächlich kamen die Partner ihm entgegen. Neben Forderungen, auf die man sich in allgemeinen Formulierungen schnell einigen konnte, wie Bürokratieabbau und Ausbau des Binnenmarktes, hatte Cameron erreicht, die Freizügigkeit von Arbeitskräften innerhalb der EU dahingehend einzuschränken, dass diese in Großbritannien für einen längeren Zeitraum nicht mehr dieselben sozialen Rechte in Anspruch hätten nehmen dürfen wie Inländer. Damit wäre das Prinzip des Binnenmarktes – alle sind gleich und werden gleich behandelt – ausgehebelt worden. Außerdem hatte Cameron für Großbritannien eine Formel aus den europäischen Verträgen außer Kraft gesetzt, der zufolge die 60

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EU eine »ever closer Union«, eine sich immer weiter integrierende Union sein will. Letzteres war reine Symbolpolitik, da aus dieser Formel keinerlei rechtliche Folgen erwachsen. Aber die Aussage war klar: Wir wollen nicht mehr Integration, sondern weniger. So bejubelte Cameron auch seinen Verhandlungserfolg mit dem Satz, das Ergebnis gebe »Britain a ›special status‹ in the European Union«.5 Camerons Plan, mit dem Referendum die EU zu erpressen und seine eigenen Bürger ruhigzustellen, hat im Ergebnis nicht funktioniert und seine Wachsfigur dürfte bei Madame Tussaud wohl in der Abteilung für historische Versager Platz finden. Das britische Referendum ist der (vorläufige) Schlusspunkt eines langen Entfremdungsprozesses. Im Grunde genommen war die britische Mitgliedschaft in der EU immer ein Missverständnis. Zwar hatte der britische Politiker Winston Churchill in einer heute noch in allen Schulbüchern nachzulesenden Rede6 schon 1946 die »Vereinigten Staaten von Europa« gefordert – aber er sagte in derselben Rede auch: ohne Großbritannien. Als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Anfang der 1950er Jahre entstand und dann durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1957/58 vertieft wurde, taten die Briten nicht mit. Der Gedanke, Souveränität abgeben zu sollen, war ihnen zu fremd. Erst als ihr paralleler Zusammenschluss, die Europäische Freihandelszone EFTA, die darin gesetzten Herausforderungen nicht erfüllte, wandte sich Großbritannien der Europäischen Gemeinschaft zu. Aber die Briten dachten, die Kontinentaleuropäer würden das mit der immer engeren Europäischen Union schon nicht so ernst meinen – und sahen sich getäuscht. Die bisherigen Mitglieder der EG nahmen hingegen an, die Briten würden an der Vertiefung der Integration schon Gefallen finden, sobald sie einmal dazu gehörten. Auch sie haben sich geirrt. Das Referendum vom Juni 2016 war übrigens schon die zweite Volksabstimmung. Die erste fand 1975, also recht kurz nach dem Beitritt von 1973 statt. 67 Prozent der Abstimmenden sprachen sich dabei für die EG aus, die damals jedoch ein viel weniger verpflichtender Integrationsverbund war als sie es heute ist. Und dennoch sind und waren die Briten nicht das Problem der EU, denn – »typisch britisch« könnte man sagen – sie spielen fair. Ihnen passen die Regeln der EU nicht und sie wollen sie ändern oder aber gehen. Was die EU gefährdet, ist ein anderes Verhalten, nämlich die Regeln einfach zu ignorieren. Die Probleme der letzten Jahre haben genau damit zu tun: Wir beschließen etwas gemeinsam, aber dann halten wir uns nicht daran.

5 »Cameron hails EU deal to give Britain ›special status‹, battle looms«. Reuters, 20.02.2016, http://www.reuters.com/article/us-britain-eu-idUSKCN0VS153, letzter Zugriff: 20.03.2016. 6 Winston Churchill. »Europa-Rede in der Universität Zürich am 19. September 1946«. http:// www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/bis1950/Pdf/Churchill_ Rede_Zuerich.pdf; letzter Zugriff: 20.03.2016.

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Dieses Verhalten hat auch zu der ersten von zwei großen Krisen geführt, die die EU zurzeit lähmen, nämlich der sogenannten Eurokrise. Im Zusammenhang mit der entstehenden deutschen Einheit drängte vor allem Frankreich darauf, Deutschland stärker in die Integration einzubinden, was am besten über die Währung geschehen konnte. Dass es sich bei der damaligen Europäischen Gemeinschaft nicht um einen sogenannten optimalen Währungsraum7 handelte, war allen Beteiligten klar. Man beschloss also Eintrittskriterien für die Währungsunion und einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, um sicherzustellen, dass die Währungsunion dennoch funktionieren könnte und die Volkswirtschaften sich Stück für Stück einander annäherten. Tatsächlich geschah Folgendes: Fast alle Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft wollten mitmachen (die Ausnahmen waren Großbritannien und Dänemark, Schweden gehörte damals noch nicht zur EU) und schönten zum Teil ihre Haushaltszahlen so, dass der Eintritt möglich war. Einmal Mitglied der Währungsunion, sahen sie jedoch keine Notwendigkeit, sich an die Vereinbarungen zu halten. Die Verschuldung wurde nicht etwa abgebaut, wie das beschlossen war, sondern munter hochgefahren. Zum Eklat kam es im Jahr 2010, als Griechenland offenbaren musste, so viel Geld aufgenommen zu haben, dass es seine Schulden nicht mehr bedienen konnte. Schlimmer noch als die finanzielle Notlage der Hellenischen Republik war jedoch die »Ansteckungsgefahr«, die von der griechischen Krise ausging. Auch andere Staaten hatten – zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen durch die globale Finanzkrise – ihre Stabilität verspielt und mussten befürchten, dass die internationalen Finanzmärkte ihnen kein Geld mehr zur Verfügung stellten. Geschichte kennt keinen Konjunktiv und kann die Frage, »was wäre gewesen, wenn …« nicht seriös beantworten. Aber vieles spricht für die Annahme: Hätten alle Eurostaaten sich an die gemeinsam beschlossenen Verpflichtungen gehalten, hätte es die Eurokrise, die ja eigentlich eine Schulden- und Produktivitätskrise ist, nicht gegeben. Diese Krise macht zu Beginn des Jahres 2017 keine Schlagzeilen – aber sie ist deshalb nicht verschwunden. Immerhin lässt sich sagen: Die EU hat die aktuellen Herausforderungen nicht schlecht gemeistert, sie hat einen Rettungsschirm, den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, geschaffen, das internationale Vertrauen in den Euro erhalten und die Großbanken unter straffere Aufsicht gestellt. Irland und Portugal konnten den ESM bereits wieder verlassen und sich an den internationalen Kreditmärkten refinanzieren. Darüber hinaus hat die EU die Regeln verschärft, nach denen die Mitgliedstaaten ihre Haushalte aufstellen,

7 Eine kurze Beschreibung der Theorie des optimalen Währungsraums findet man im Glossar des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): http://www.diw.de/de/diw_01.c.412104. de/presse/diw_glossar/optimaler_w_hrungsraum.html; letzter Aufruf: 31.12.2016.

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indem sie einen Kontrollmechanismus, das sogenannte Europäische Semester, einführte. Aber zu einer wirklichen Konsolidierung hat das nicht geführt, wie in jüngster Zeit auch das Beispiel Italien zeigt. Auch ein stärkerer Zusammenhalt innerhalb der EU ist nicht entstanden. Vor allem das politische Ziel, das stärkere Deutschland fester einzubinden, hat sich nicht erfüllt. Als größte und recht stabile Volkswirtschaft bestimmt Deutschland jetzt den Kurs, womit das Gegenteil dessen erreicht wurde, weshalb die Gemeinschaftswährung in den 1990er Jahren eingeführt wurde. Berücksichtigt man, dass die gesamte Europäische Union nicht zuletzt ein Projekt ist, um deutsche Dominanz, mit der man in Europa keine guten Erfahrungen gemacht hat, zu verhindern, ist das mehr als eine Petitesse. »Scheitert der Euro, scheitert Europa«, verkündete Bundeskanzlerin Merkel im Zusammenhang mit der Eurokrise im Jahr 2010.8 Sie wollte darauf hinweisen, dass der Euro, mittlerweile die Währung von 19 EU-Staaten, ein zentraler Bestandteil der europäischen Integrationsstruktur sei. Aber man kann den Satz auch umdrehen: Wenn Europa scheitert, brauchen wir auch keinen Euro mehr. Darauf wies Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, Anfang 2016 hin. Mittlerweile ist nämlich ein anderes Herzstück des europäischen Zusammenhalts in Gefahr: das grenzenlose Reisen in Europa, zumindest im Schengen-Raum, dem 23 der 28 EU-Mitglieder und einige weitere Länder angehören. Fällt »Schengen«, ist auch der Binnenmarkt schwer beschädigt, wenn nicht gar funktionsunfähig. Die europäische Integration wird aufgeribbelt wie ein kaputter Pullover. Die größte Herausforderung für die EU war 2015 der starke Zustrom von Schutzsuchenden, gemeinhin »Flüchtlingskrise« genannt. Weit über eine Million Menschen kam über das Mittelmeer nach Italien oder nach Griechenland und zog von dort weiter in die nördlichen Staaten der Europäischen Union. Alleine Deutschland zählte 2015 fast 900.000 Flüchtlinge.9 Eigentlich hätte das alles gar nicht geschehen dürfen. Die Vereinbarungen der EU (das Dubliner Übereinkommen und seine verschiedenen Verordnungen)10 sahen und sehen nämlich vor, dass Flüchtlinge dort Asyl beantragen müssen, wo sie den Fuß auf EU-Boden setzen, und dass dort ihr Verfahren auch durchgeführt wird. Aber die Staaten an der

8 So in der Regierungserklärung vom 19. Mai 2010, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 42. Sitzung, 19. Mai 2010, 4126. http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17042.pdf; letzter Aufruf: 31.12.2016. 9 Pressemitteilung des Bundesministerium des Innern vom 30.09.2016. http://www.bmi.bund. de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015.html; letzter Aufruf: 30.12.2016. 10 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prü­fung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags – Dubliner Übereinkommen, Amtsblatt Nr. C 254 vom 19/08/1997, 0001– 0012.

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Außengrenze, vor allem Italien, Griechenland und Malta waren überfordert und konnten des Andrangs nicht Herr werden. Die anderen EU-Länder, darunter auch Deutschland, schauten dem lange zu – es betraf sie ja nicht. In einer Pressekonferenz am 19. September 2016, nach der für die CDU desaströsen Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, bekannte Bundeskanzlerin Merkel das offen. Man habe sich, so die Kanzlerin, zu lange auf das Dublin-Abkommen verlassen, das Deutschland das Problem abgenommen habe. Die Kanzlerin weiter: »Das war nicht gut.«11 Erst als buchstäblich hunderttausende Flüchtlinge sich auf den (Fuß)Weg in den Norden machten und plötzlich an der französischen, der österreichischen, der deutschen, der dänischen oder der schwedischen Grenze standen, wurde von diesen Staaten eine »europäische Lösung« des Problems gefordert. Und das gleiche Spiel setzte sich fort: Die Länder, die vermeintlich nicht betroffen waren, verweigerten sich. Stattdessen suchte jeder Heil in einer nationalen Lösung. Am deutlichsten geschah das in Ungarn, das seine Grenze nach Serbien und später nach Slowenien mit einem hohen Metallgitterzaun schloss. Die Europäische Kommission forderte einen europäischen Schlüssel zur Aufnahme der Flüchtlinge, aber vor allem die Staaten Mittelosteuropas lehnten einen solchen Verteilmechanismus oder überhaupt die Aufnahme von Schutzsuchenden ab. Man habe selbst genug Probleme, hieß es, man wolle keine Muslime, darauf seien die eigenen Gesellschaften nicht vorbereitet.12 Die Kölner Silvesternacht 2015/2016, terroristische Anschläge, wie die Ermordung von 12 Menschen auf einem Berliner Weihnachtsmarkt Ende 2016, werden als zusätzliche Rechtfertigung für diese Haltung genutzt. Und bei aller Betroffenheit war anlässlich dieser Ereignisse eine gewisse Häme nicht zu überhören. In Deutschland und auch in anderen Staaten schlugen die Wogen ob der Verweigerungshaltung der Mittelosteuropäer hoch. Jahrelang, hieß es, hätten sie Solidarität erfahren und Milliarden aus den EU-Töpfen bekommen, und nun, wo ihre Solidarität gefordert sei, verweigerten sie sich. Da müsse man doch überlegen, so der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, ob man ihnen nicht die Mittel kürze.13 Mittlerweile verzehrt dieser Bundeskanzler seine Pension, angereichtert durch Einkünfte aus Lobbyistentätigkeit, und sein Nachfolger

11 Eine Aufzeichnung der Pressekonferenz der Bundeskanzlerin findet sich auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=hbUWP7iyhac; letzter Zugriff: 30.12.2016. 12 So zum Beispiel der slowakische Ministerpräsident Fico, vgl. »Slowakei will muslimische Flüchtlinge nicht ins Land lassen«. ZEIT online, 07.01.2016. http://www.zeit.de/politik/ ausland/2016-01/fluechtlingspolitik-ueberfaelle-koeln-slowakei-polen; letzter Aufruf: 30.12.2016. 13 »Faymann droht Osteuropäern mit Kürzung der EU-Beiträge«. Die Presse, Online-Ausgabe, 17.12.2015. http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4889233/Faymann-droht-Ost europaeern-mit-Kuerzung-der-EUBeitraege; letzter Zugriff: 31.12.2016.

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fährt einen ganz anderen Kurs, indem der die Staaten der »Balkan-Route« gegen Deutschland organisiert. Das Zauberwort zur Flüchtlingskrise lautete »Schutz der Außengrenzen«. Dabei war und ist völlig klar, dass ein solcher nur möglich ist, wenn das Haupttransitland Türkei, die aber selbst fast drei Millionen Flüchtlinge aus ihrem Nachbarland Syrien beherbergt, dafür sorgt, dass die Asylbewerber und ihre Schleuser nicht mit Schlauchbooten die nahen griechischen Inseln ansteuern. Um die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern, versprach die EU dem Partnerland 2015 drei Milliarden Euro – aber gezahlt hat sie sehr zögerlich. Italien legte sich quer, weil es sich von der Europäischen Kommission (und von Deutschland) in der Eurokrise falsch, das heißt: zu scharf, behandelt fühlte. Wieder einmal war die EU über eine Ankündigung nicht hinausgekommen. Mittlerweile haben sich die innenpolitischen Bedingungen in der Türkei erheblich verschlechtert. Das Land ist von einer Reihe von verheerenden Terroranschlägen betroffen und ein Putschversuch hat zu einer staatlichen Repression geführt, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geringschätzt. Politisch und deklaratorisch vergrößert sich der Abstand zwischen der EU und der Türkei in einem atemberaubenden Tempo, bis hin zur Forderung des Europäischen Parlaments, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die sowieso längst festgefahren sind, vorübergehend auszusetzen.14 Dennoch hält die EU an dem »Türkei-Deal« fest – und damit an der Hoffnung, dass die Türken die Probleme mit der Zuwanderung für die Europäische Union lösen werden. In dieses Bild passt auch eine andere Meldung vom Jahresende 2016: Über 15 Monate nach dem Beschluss, 160.000 Flüchtlinge, die in Italien und in Griechenland aufgenommen wurden, auf andere EU-Staaten zu verteilen, waren erst weniger als 10.000 Personen wirklich umgesiedelt worden.15 Man könnte die Reihe der Beispiele fortsetzen, aber auch so ist klar: Die Europäer, oder zumindest viele von ihnen, scheinen keine Lust mehr auf Europa zu haben. Sie denken, dass Lösungen im nationalen Maßstab für sie vorteilhafter wären – und dass nur der unmittelbare Vorteil zähle. Aus dieser Überlegung speisen sich auch die wieder eingeführten Grenzkontrollen zwischen den Ländern, die eigentlich über das Schengener Abkommen einen

14 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. November 2016 zu den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, P8_TA(2016)0450. http://www.europarl.europa. eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2016-0450+0+DOC+XML+V0// DE&language=DE; letzter Zugriff: 31.12.2016. 15 Stand: 16. Dezember 2016. Die aktuelle Zahl lässt sich auf der Internetseite der Europäischen Kommission ermitteln: http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/ european-agenda-migration/press-material/docs/state_of_play_-_relocation_en.pdf; letzter Zugriff: 29.12.2016.

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kontrollfreien Reiseverkehr vereinbart hatten. Zurzeit, Anfang 2017, ist Schengen klinisch tot. An der deutsch-österreichischen und der dänisch-deutschen, an der schwedisch-dänischen und an der österreichisch-ungarischen Grenze wird wieder kontrolliert. Was für den Gelegenheitstouristen nicht so schlimm ist, wenn er bei einer Reise seinen Ausweis zeigen muss, trifft die grenzüberschreitende Zusammenarbeit schwer. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gab im Januar 2016 ein Gutachten über die Folgen der Grenzkontrollen an der Öresundbrücke zwischen Dänemark und Schweden in Auftrag. Das Ergebnis: Wenn die Kon­trollen ein Jahr lang beibehalten werden, entsteht daraus ein volkswirtschaftlicher Schaden in Höhe von 300 Millionen Euro16 – und zwar ohne die direkten Kontrollkosten für Personal und Technik. Im Januar 2016 machte der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, seinem Unmut öffentlich Luft. Aber er schimpfte nicht nur auf die Mitgliedstaaten, die sich aus ihren rechtlichen und moralischen Verpflichtungen herausstehlen, er zeigte auch einen Zusammenhang auf: Ohne Schengen wird der Binnenmarkt nicht funktionieren, ohne Binnenmarkt ergibt der Euro keinen Sinn. Am Ende könnte die EU all ihrer Erfolge beraubt sein: kein gemeinsamer Markt, keine Reisefreiheit, keine gemeinsame Währung, keine gemeinsamen Entscheidungen. »Alles auf Anfang« könnte man sagen, zurück in den Zustand, in dem Europa 1950 war. Die Notwendigkeit, Flüchtlingen Schutz zu gewähren, wäre damit übrigens für die Mitgliedstaaten nicht vom Tisch. Sie ist nämlich eine Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen, die von über 140 Staaten dieser Welt, darunter allen EU-Staaten, ratifiziert worden ist. Als wäre das alles nicht düster genug: Zunehmend pfeifen einige EU-Mitglieder auf die politischen Grundlagen der europäischen Demokratie. Der ungarische Ministerpräsident Orbán gängelt seit Jahren die Medien und manipuliert die Justiz. Ermahnungen aus Brüssel sind ihm da ziemlich egal, allerdings vermeidet er den offenen Bruch. Die Ende 2015 ins Amt gekommene polnische Regierung vollzog das, wofür Orbán Jahre brauchte, in wenigen Wochen. Die Funktion und Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts wurde eingeschränkt, die öffentlichrechtlichen Medien unter staatliche Kontrolle gestellt. Die Europäische Kommission hat ein Verfahren in Gang gesetzt, mit dem die Rechtsstaatlichkeit in Polen überprüft werden soll. Das Verfahren sieht mehrere Stufen vor: Analyse, was wirklich vor sich geht, Empfehlungen an den Partnerstaat, notfalls Sanktionen bis hin zum Entzug des Stimmrechts. Bislang haben die Empfehlungen der Kommission kein besonderes Gehör bei der polnischen Regierung gefunden.17 Zudem:

16 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.2016, 15. 17 Europäische Kommission. Empfehlung der Kommission vom 27.07.2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen. Brüssel 27.07.2016, C(2016) 5703 final. http://ec.europa.eu/justice/

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Entscheiden über die Sanktionen kann nicht die Kommission, das müssen die Mitgliedstaaten tun, und zwar einstimmig. Der ungarische Ministerpräsident teilte schon mit, er werde Sanktionen gegen Polen nicht mittragen.18 Damit wäre das gesamte Verfahren zu Ende und außer öffentlicher Kritik wäre nichts geschehen. Und wie um sicherzustellen, dass nichts dabei herauskommt, hat auch der (polnische) Präsident des Europäischen Rates die Europäische Kommission öffentlich dafür kritisiert, dass sie die Untersuchung überhaupt eingeleitet hat.19 Diagnose Die EU steht zurzeit schlecht da, weil sie so erfolgreich war. Sie hat die Ziele, die ihr bei ihrer Gründung, die 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begann, gesetzt wurden, erreicht. Der Frieden zwischen den Mitgliedstaaten, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, ist nicht in Gefahr, der Wiederaufbau des Kontinents nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist längst vollzogen, die EU hat im Kalten Krieg standgehalten, und Europa ist (zumindest weitgehend) vereint. Daraus entstehen allerdings auch Fragen, mit denen wir uns in der EU jetzt beschäftigen müssen: Hat sich die EU in den letzten Jahren und vielleicht Jahrzehnten um die falschen Dinge gekümmert? War gar die Erweiterung um die mittelosteuropäischen Staaten ein Fehler oder zumindest vorschnell? Benötigen wir überhaupt einen Integrationsverbund wie die EU noch, wo doch das ursprüngliche Ziel, nämlich die Sicherung des Friedens voreinander, längst erreicht ist? Haben wir zuviel Europa – oder funktioniert es deshalb schlecht, weil wir zu wenig Europa haben? Und falls wir mehr Europa wollen: Wofür eigentlich, wohin soll die Reise gehen? Und vor allem: Was hat die Europäische Union der jungen Generation zu bieten? Jedes Schlechte, so sagt ein jüdisches Sprichwort, hat auch sein Gutes. Wenn es etwas Gutes an der derzeitigen Krise der EU gibt, dann dass die Bürgerinnen und Bürger sich Gedanken um die Europäische Union, die jahrelang im Schatten der Aufmerksamkeit stand, machen. Der Zustrom von Schutzsuchenden, die sogenannte Flüchtlingskrise, hat den derzeitigen fragilen Zustand der EU, wie er-

effective-justice/files/recommendation-rule-of-law-poland-20160727_de.pdf; letzter Zugriff: 29.12.2016. 18 »Orbán stellt sich gegen EU-Sanktionen für Polen«. Spiegel online, 08.01.2016. http://www. spiegel.de/politik/ausland/polen-viktor-orban-warnt-eu-vor-sanktionen-a-1071018.html; letzter Zugriff: 31.12.2016. 19 »Tusk kritisiert EU-Verfahren gegen Polen«. Süddeutsche Zeitung online, 18.01.2016. http://www.sueddeutsche.de/politik/kritik-an-polen-tusk-kritisiert-eu-verfahren-gegenpolen-1.2823458; letzter Zugriff: 31.12.2016.

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wähnt, nicht geschaffen, er hat ihn vielmehr – und deutlicher als der Sonderfall Brexit – unübersehbar deutlich gemacht. Ausgangspunkt für Antworten auf die vielen Fragen ist nicht die Rückschau, sondern die Vorausschau. Die Europäische Union ist fraglos die Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts – aber wir leben im 21. Jahrhundert. Brauchen wir die Europäische Union in diesem recht neuen Jahrhundert noch? Vergessen wir einen Augenblick lang alle politischen Strukturen und Institutionen und überlegen wir uns, wie wir in diesem Jahrhundert leben wollen: natürlich im Frieden, aber auch in einer sozialen Sicherheit, die es uns ermöglicht, ein menschenwürdiges Dasein zu führen und in Lebenskrisen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit abgesichert zu sein, in einer Umwelt, die uns nicht krank macht, sondern gesund erhält, in einer toleranten Demokratie, die es uns den Rahmen schafft, unseren persönlichen Lebensentwurf zu realisieren. Bei einer Weltbevölkerung von annähernd 7,5 Milliarden Menschen, die in ungefähr 200 Staaten leben, in einer vernetzten und globalisierten Welt, in der ein Börsencrash in China Arbeitsplätze in Deutschland kostet, in einer fragilen Welt, in der Terrorgruppen und organisierte Kriminelle grenzüberschreitend sind und das Klima sich global verändert – wie groß ist da die Regelungskompetenz eines einzelnen Staates, auch wenn er 82 Millionen Einwohner zählt? Die Frage klingt suggestiv, weil die Antwort so klar ist. Alleine werden wir, selbst die vergleichsweise starken Deutschen, keines der großen Probleme anpacken und keine Lösung mitentscheidend gestalten können. Wir benötigen dafür den Verbund mit anderen, gemeinsam sind wir stark – oder können es zumindest sein. Wie könnte man sich einen solchen Verbund vorstellen? Er müsste die geografischen Nachbarn einbeziehen, die wirtschaftlich wichtige Partner sind und mit denen wir nur gemeinsam Frieden und regionale Sicherheit garantieren können, man müsste sich in diesem Verbund aufeinander verlassen können, man müsste einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bilden, man müsste füreinander einstehen und das heißt auch, dass man eine gemeinsame Wertebasis benötigte. Einen solchen Verbund könnte man schaffen – wenn man ihn mit der Europäischen Union nicht schon hätte. Wir brauchen die EU nicht, weil sie im letzten Jahrhundert erfolgreich war, sondern weil wir in diesem Jahrhundert nur entweder gemeinsam vorankommen werden oder gar nicht. Wer klagt, er wolle nicht von »Brüssel« regiert werden (wo wir alle mitreden), muss sich darüber im Klaren sein, dass die Alternative ist, von »Peking« oder einer anderen außereuropäischen Hauptstadt regiert zu werden (wo wir nichts zu sagen haben). Das ist es, was die EU der jungen Generation zu bieten hat: die Chance, über die Rahmenbedingungen des eigenen Lebens mitentscheiden zu können. Wenn das aber so klar ist, wie es hier klingt, wo liegt dann das Problem? Hierzu einige Überlegungen. Die Osterweiterung ist offensichtlich noch nicht verarbeitet. Das Gründungsziel der Europäischen Gemeinschaft Anfang der 1950er Jahre war völlig klar: Man 68

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wollte den Frieden (nicht zu vergessen: voreinander) sichern und nach den Erfahrungen mit zwei Diktaturen in Europa auch Freiheit und Demokratie. Die Gründer luden mit den Römischen Verträgen, die 1957 unterzeichnet wurden, alle anderen Staaten ein, diesem Unternehmen beizutreten,20 und 22 Länder Europas haben das auch getan. Aber ihre Motive unterschieden sich. Sicherlich ist Ungarn nicht Mitglied der EU geworden, um den Frieden zwischen Deutschland und Frankreich zu stabilisieren (was glücklicherweise auch nicht nötig ist). Ihr Motiv war, nach den Jahren sowjetischer Vorherrschaft, gegen die die Ungarn 1956 mutig aufbegehrt hatten, politisch und wirtschaftlich Anschluss an den Westen zu finden. »Rückkehr nach Europa« nannte der letzte tschechoslowakische und erste tschechische Präsident Vaclav Havel die damals proeuropäische Politik seines Landes. Die Völker Mittelosteuropas haben für dieses Ziel große Opfer gebracht, um Wirtschaft und Gesellschaft umzustrukturieren. Aber die erste Generation der in Mittelosteuropa demokratisch Gewählten, die diesen Geist in sich trug, ist nicht mehr im Amt, so weit sie überhaupt noch lebt. Die Nachfolger fragen pragmatisch: Was – oder genauer: wie viel – bringt uns die Mitgliedschaft jetzt und sofort? Nach Jahren schwieriger Transformation ziehen sie sich in nationale Heilswelten zurück. Was man hat und bekommt, gilt als gesichert. Schön wäre, so die Überlegung, wenn man das nun für sich alleine haben könnte. Wir brauchen, so die Auffassung, europäische Strukturmittel, aber keine gemeinsamen Werte wie etwa die Gleichberechtigung sexueller Orientierungen. Auch in Westeuropa ist eine Entfremdung eingetreten. Die Niederländer, die Belgier, die (1995 hingekommenen) Österreicher haben oftmals das Gefühl, wegen der Erweiterung nicht mehr genug Gewicht in der EU zu haben. Zugespitzt gesagt: Den Osteuropäern ist die EU zu westlich, den Westeuropäern ist sie zu östlich. Zwischen Nord- und Südeuropa besteht eine ähnliche Spaltung, allerdings aus anderen Gründen. Der Euro, der Europa stärker zusammenführen sollte, hat den Kontinent auch gespalten. Zwar zahlen die Bürger von immerhin 19 Staaten der EU mit der gemeinsamen Währung, aber viele empfinden sie als Last. Die Südländer fühlen sich von den Nordeuropäern, den Deutschen, den Niederländern, den Österreichern, den Finnen, bevormundet. Es ist der Eindruck entstanden, dass die harschen sozialen Einschnitte, die die Menschen in Griechenland, in Portugal und Spanien, in Italien und auf Zypern hinnehmen mussten, um aus ihrer Schuldenfalle herauszukommen, das Ergebnis einer nördlich dominierten Geldpolitik

20 Sie zeigten sich in der Präambel des EWG-Vertrags »entschlossen, durch diesen Zusammenschluss ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sie zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen, [...].« Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957. http://www.europarl.europa.eu/brussels/web site/media/Basis/Vertraege/Pdf/EWG-Vertrag.pdf; letzter Aufruf: 31.12.2016.

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s­eien. »Austerität« ist das Schimpfwort des Jahrzehnts. Die Nordländer fühlen sich in dieser Situation allerdings keineswegs wohl, sondern befürchten ihrerseits, dass die südeuropäische Schuldenpolitik und eine nicht ausreichende Produktivität der südeuropäischen Volkswirtschaften sie mit in den Abgrund ziehen könnten. In allen nordeuropäischen Staaten, auch in Deutschland, haben sich in den letzten Jahren Parteien gebildet, die die gemeinsame Währungspolitik und die Mitgliedschaft der Südeuropäer in Frage gestellt haben. Die deutsche »Alternative für Deutschland« (AfD) profiliert sich mit Parolen gegen Flüchtlinge und Angehörige nicht-christlicher Religionen, entstanden ist sie aber als Anti-Euro-Partei. Es ist offensichtlich, dass die EU-Staaten und -Bürger keine gemeinsame Zielvorstellung mehr haben – und dass sie sich auch nicht mehr vertrauen, zumindest immer weniger. Die EU basiert auf Freiwilligkeit und auf Verbindlichkeit gleichermaßen, das heißt, die Mitglieder verpflichten sich freiwillig zu verbindlichem Handeln. Die Voraussetzung, dass so etwas funktionieren kann, ist eine gemeinsame Zielbestimmung. Auf die muss man sich allerdings neu verständigen. Der ehemalige britische Premier David Cameron machte die Auffassungsunterschiede ganz deutlich, indem er die Absichtserklärung der »ever closer Union« am liebsten ganz aus den Verträgen getilgt hätte, sie aber auf jeden Fall für Großbritannien außer Kraft setzen wollte. Der Brite war der lauteste, aber er ist nicht der einzige. Auch manche seiner Kollegen gehen zum Projekt »Europäische Integration« auf Distanz, geräuschvoll wie der ungarische Ministerpräsident, halblaut wie der slowakische Regierungschef und seine polnische Kollegin oder leise, aber effizient wie beispielsweise der dänische Ministerpräsident. Die Bevölkerung drückt die Distanzierung auf ihre Weise aus: Die nationalpopulistischen und sogar extremen Parteien werden in fast allen Ländern der EU stark und stärker, seien es »Die Finnen« (früher: »Die wahren Finnen«), »der Front National« in Frankreich, »Syriza« in Griechenland oder »Jobbik« in Ungarn. Der Berliner Tagesspiegel berichtete Ende Dezember über eine Umfrage, die er in Auftrag gegeben hat: Nach dem europäischen Krisenjahr 2016 wird nach Ansicht der meisten Deutschen auch 2017 kein einfaches Jahr für die EU. 58 Prozent der Bundesbürger sind der Ansicht, dass der Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten im kommenden Jahr geringer wird. Das ergibt sich aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag des Tagesspiegels. 15 Prozent der Deutschen glauben der Umfrage zufolge, dass der Zusammenhalt größer wird. Jüngere Menschen sehen indes optimistischer in die europäische Zukunft: Unter den 18- bis 29-Jährigen zeigt eine Mehrheit von 56,9 Prozent eher großes oder sogar sehr großes Vertrauen in die Europäische Union21 21 »Viele Deutsche fürchten Zuwanderung und Populismus«. Der Tagesspiegel online, 29.12.2016. http://www.tagesspiegel.de/politik/europa-2017-viele-deutsche-fuerchten-zuwanderungund-populismus/19189418.html; letzter Zugriff: 30.12.2016.

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Viele – auch die Partner in der Welt – nehmen die EU nicht mehr ernst. Man kennt das aus dem privaten Bereich: Da gibt es Leute, die jede Woche verkünden, sie wollten nun abnehmen – und die doch immer dicker werden. Nach einiger Zeit nimmt man deren entsprechenden Erklärungen nicht mehr für bare Münze. Ähnlich geht es der EU auch. Sie beschließt Dinge, verkündet sie lauthals – setzt sie aber nicht um. Wer sich aber selbst nicht ernst nimmt, wird auch von anderen nicht für voll genommen. Dadurch kann die EU insgesamt wenig Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen, was wiederum zu einer Frustration bei ihren Bürgern führt, die, wie die Eurobarometer-Umfragen zeigen, bei aller Unterschiedlichkeit der Auffassungen mit großer Mehrheit eine stärkere Außenpolitik der EU wünschen.22 Therapie Bei allem, was man an der EU kritisieren kann: Sie hat sehr viel erreicht und die Gründerväter würden sich die Augen reiben, wenn sie die Europäische Union von heute sehen würden. Die Union hat daher eine gute Basis, auch im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein. Voraussetzung ist jedoch, dass wir uns darauf einigen, was wir in den nächsten Jahrzehnten miteinander anfangen wollen. Möchten wir eine »ever closer Union«, die vielleicht eines Tages sogar in die Vereinigten Staaten von Europa mündet? Möchten wir den jetzigen Stand der Integration beibehalten, ihn nicht ausbauen, aber auch nicht zurückfahren? Oder möchten wir die Integration zurückdrehen, unsere Grenzen und unsere nationale Währung wieder selbst kontrollieren und in einer großen Freihandelszone freundschaftlich miteinander verbunden bleiben? Diese Frage müssen wir in einer breiten gesellschaftlichen Debatte in allen Mitgliedstaaten diskutieren. Vielleicht sollten die außer Großbritannien anderen 27 Mitgliedstaaten auch ein Referendum durchführen, in dem die Frage gestellt wird: »Soll Ihr Land Mitglied der EU bleiben oder die EU verlassen?« (Das ist die Frage, die den Briten vorgelegt wurde.) Es mag durchaus sein, dass nicht in allen 27 Staaten die Mehrheit der Bevölkerung für die EU stimmen würde. Aber ist eine einvernehmliche Trennung nicht besser als eine »Zwangsehe«? Der Vertrag von Lissabon sieht in Artikel 50 die Möglichkeit eines Austritts aus der EU vor, warum sollte man ihn nicht diskutieren?

22 75 Prozent der EU-Bürger befürworten eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Vgl. Europäische Kommission. Standard-Eurobarometer 85. Herbst 2016. Erste Ergebnisse. Brüssel 2016, 24; http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/ publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2137; letzter Zugriff: 30.12.2016.

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Im Laufe einer solchen Referendumsdebatte würde dann auch die nächste Frage aufgeworfen: Wenn wir die EU weiterhin wollen, wie viel Integration möchten wir? Auch hier gilt: Lieber ein kleinerer Integrationsverbund, in dem alle mitspielen, als ein größerer, der nicht handlungsfähig ist, weil einige bremsen. Am Ende dieser Debatte und Abstimmungen wird die EU vermutlich verändert dastehen. Es wird zwei oder drei Integrationskreise geben – was seit den 1990-er Jahre schon als »Kerneuropa« diskutiert wird. 1994 traten die CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl Lamers mit einem entsprechenden Papier an die Öffentlichkeit. Die Einleitung liest sich erschreckend aktuell: Der europäische Einigungsprozeß ist an einen kritischen Punkt seiner Entwicklung gelangt. Wenn es nicht gelingt, in den nächsten zwei bis vier Jahren eine Lösung für die Ursachen dieser gefährlichen Entwicklung zu finden, dann wird die Union sich entgegen der im Maastrichter Vertrag beschworenen Zielsetzung eines immer engeren Zusammenwachsens unaufhaltsam zu einer lockeren, im wesentlichen auf einige wirtschaftliche Aspekte beschränkten Formation mit verschiedenen Untergruppierungen entwickeln. Mit einer solchen »gehobenen« Freihandelszone wären die existentiellen Probleme der europäischen Gesellschaften und ihre äußeren Herausforderungen nicht zu bewältigen.23

Die Überlegungen der beiden Politiker fanden damals eine überschaubare Resonanz. Niemand wollte Kerneuropa, sondern eine EU, in der alle in gleicher Weise mitziehen. Nachdem sich mittlerweile jedoch gezeigt hat, dass dies immer weniger der Fall ist, sollen wir nicht länger davor zurückschrecken, diese Fragen offen zu diskutieren und zu überlegen, wie ein solches Kerneuropa institutionell aufgestellt sein könnte. Verfügt es über ein eigenes Parlament (das der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer schon im Jahr 2000 vorgeschlagen hat),24 eine eigene Kommission? Diese Fragen sind nicht einfach zu klären, aber alles weiterlaufen zu lassen wie bisher, weil man sich scheut, neue Überlegungen auszubuchstabieren, führt nicht weiter. Wie viele Staaten am Ende in diesem Kerneuropa sein werden, ist nachrangig. Wirklich wichtig ist, dass die, die sich da zusammenschließen, verlässlich sind, dass sie Gemeinsames gemeinsam erreichen wollen. Das ist auch die Grundlage für Solidarität. Solidarität ist keine Wohlfahrt, sondern ein Vertrag: Jeder erfüllt seine Verpflichtungen und auf dieser Basis stehen wir füreinander ein.

23 Wolfgang Schäuble, Karl Lamers. Überlegungen zur europäischen Politik, 01.09.1994. https:// www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf; letzter Aufruf: 30.12.2016. 24 Joschka Fischer. Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.05.2000. http:// whi-berlin.de/documents/fischer.pdf; letzter Aufruf: 30.12.2016.

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Eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der Europäischen Union und unsere Zukunft in der Europäischen Union, muss auch die Strukturen der EU in den Blick nehmen, um ihre Besonderheit zu verstehen. Das mag anstrengend sein, aber »mündiger Bürger« ist nicht nur ein Etikett, sondern beinhaltet auch eine Verpflichtung. Es geht dabei im Wesentlichen um die Funktionen, die die verschiedenen Institutionen der EU ausüben und die vorschnell oftmals 1:1 mit nationalen Institutionen verglichen werden. Die EU ist kein Staat und ist deshalb auch anders aufgebaut. Das Parlament entscheidet nicht alleine, sondern gemeinsam mit dem Rat, also der Vertretung der Mitgliedstaaten. Daraus entsteht der falsche Eindruck, das Europäische Parlament habe nichts zu sagen, was zu der Absurdität führt, dass die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament im gleichen Maße zurückgegangen ist, in dem das Parlament Kompetenzen und Einfluss gewonnen hat. Die Menschen fühlen sich durch dieses Parlament nicht hinreichend vertreten. Dass die Europa-Parlamentarier auch wegen der 40 Sitzungswochen, die sie jährlich absolvieren (Bundestag: 22) kaum in der nationalen Öffentlichkeit präsent sind, macht die Sache nicht besser. Richtig ist: Das Parlament kann alleine nichts entscheiden, ohne das Parlament kann jedoch (fast) nichts entschieden werden. Aber seine Transmissionsfunktion, nicht nur Impulse der Bürger aufzunehmen, sondern den Entscheidungsprozess auch transparent zu machen, erfüllt das Europäische Parlament bislang nicht. Es wird auch seine eigene Organisationsform und seine personelle Ausstattung verändern müssen. Ein Parlament, mit dem die Menschen, die es vertritt, nicht erreicht werden, kann noch so gute Beschlüsse fassen, es erfüllt seine Aufgabe nicht vollständig. Während man den obengenannten Punkt noch als Missverständnis abtun könnte, dem durch Bildungsmaßnahmen zu begegnen ist, gibt es innerhalb der EU eine Besonderheit, die sich nicht aufheben lässt und die die Bezeichnung »degressive Proportionalität« trägt. Einfach gesagt heißt das: Die kleinen Mitgliedstaaten werden beim Stimmrecht relativ gesehen bevorzugt. Während auf rund 80.000 Malteser ein Europa-Abgeordneter aus diesem Land kommt, vertritt ein deutscher Europa-Parlamentarier 800.000 Menschen. Das Bundesverfassungsgericht sieht durch diese degressive Proportionalität die Gleichheit der Wahl gefährdet und sagt, das Europäische Parlament sei eine Vertretung der europäischen Völker, aber nicht des europäischen Volkes. In der Tat produziert das Wahlsystem eine Ungerechtigkeit, die aber nicht aufhebbar ist, wenn man das Parlament nicht entweder so aufblähen will, dass es nicht mehr arbeitsfähig ist, oder die kleinen Staaten überhaupt nicht vertreten sind. (Bei einem Verhältnis 800.000 Bürger pro Abgeordnetem würden Malta, Luxemburg und Zypern völlig herausfallen, da sie alle drei weniger als 800.000 Einwohner haben). Das deutsche Verfassungsgericht zieht aus der degressiven Proportionalität den Schluss, dass die wesentlichen Entscheidungen weiterhin von den nationalen 73

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Parlamenten getroffen werden müssten.25 Zukunftsweisend ist eine solche Maßgabe nicht. Wir müssen vielmehr überlegen, wie der »Mangel« der degressiven Proportionalität, die gleichzeitig die Voraussetzung dafür ist, dass ein solcher Zusammenschluss zwischen sehr kleinen, kleinen, mittelgroßen und großen Staaten überhaupt funktioniert, durch andere Elemente ausgependelt werden kann. An Anhörungen ist hier zu denken, an Bürgerforen, an mehr regionale Verantwortung. Europa braucht ein neues Demokratiemodell, aber eines, mit dem das 21. Jahrhundert gestaltet werden kann, und keines, das in die Denkstrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts zurückfällt. Ein nicht zu unterschätzender Punkt ist, dass »Europa« für die Menschen weit weg ist. Seine Vertreter sitzen nicht allabendlich in den Fernseh-Talkshows, und Entscheidungen kommen erst in der nationalen Öffentlichkeit an, wenn sie getroffen sind, nicht wenn sie vorbereitet werden. Da die Regelungen der EU dann immer vermeintlich überraschend über die Bürger kommen und die nationalen Politiker in Deckung gehen, wenn es Kritik an einer Maßnahme hagelt, entsteht der Eindruck der Fremdbestimmung. In Wirklichkeit fällt keine wichtige Entscheidung in Brüssel ohne deutsche Beteiligung – in den Komitees, im Rat, in der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament. Das aber wird öffentlich kaum wahrgenommen. Zusammengefasst: Wir, Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union, benötigen eine intensive Diskussion über die Frage, wie viel Politikgestaltung wir wie miteinander durchführen wollen. Diese Debatte hätte längst geführt werden müssen. Jetzt wird sie unter dem Eindruck von vier Krisen, die die EU gleichzeitig beeinträchtigen, nämlich der Flüchtlingskrise, der Schuldenkrise, dem Austritt Großbritanniens (und vielleicht auch weiterer Mitgliedstaaten) und des Anwachsens des Nationalpopulismus, nachgeholt. Auch der Druck von außen lässt uns keine Atempause. Die Politik des neuen US-Präsidenten Donald Trump ist Anfang 2017 noch nicht klar erkennbar. Nach allen Ankündigungen des Kandidaten Trump im Wahlkampf und anschließend als »President Elect« verheißt sie nichts Gutes. Europa spielt für ihn offensichtlich eine geringe Rolle, und auch die NATO, das wichtigste Bindeglied zwischen Europa und den USA, sieht er kritisch. Trump scheint sich in seinem Politikansatz eher darauf zu konzentrieren, dass ein paar starke Jungs wie er selbst sowie der russische und der chinesische Präsident die Weltangelegenheiten in einem freundschaftlichen Armdrücken regeln können. George W. Bush ging einst mit

25 Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juni 2009. 2 BvE 2/08 - Rn. (1-421). http://www.bverfg.de/e/ es20090630_2bve000208.html; letzter Aufruf: 30.12.2016.

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Verflüchtigt sich Europa?

ähnlichen Illusionen hinaus in die Welt. Unvergessen sein Ausspruch über Wladimir Putin: »Ich habe dem Mann in die Augen gesehen. Ich halte ihn für direkt und vertrauenswürdig. Ich war in der Lage, einen Eindruck von seiner Seele zu gewinnen.«26 Vermutlich gibt Wladimir Putin diese Geschichte heute noch bei geselligen Abenden zum Besten. Er wird sie wohl bald mit ähnlichen auf Unverständnis von Machtpolitik basierenden Lobhudeleien von Donald Trump ergänzen können. Derweil ist der russische Präsident sehr intensiv dabei, die Europäische Union zu destabilisieren. Anders als im postsowjetischen Raum, in dem er vor allem mit Drohungen arbeitet, versucht er es in der EU mit Propaganda und der Unterstützung nationalistischer Parteien und Bewegungen. Der scheidende bulgarische Präsident Rossen Plewneliew wies in einem Gespräch mit der FAZ darauf hin. Die Zeitung zitierte ihn mit den Worten, die russische Unterstützung für antieuropäische Kräfte sei »keine Einzelerscheinung«, sondern eine »klare Tendenz in einer Reihe europäischer Staaten«.27 Wie das auch in gefestigten demokratischen Staaten wie Deutschland wirkt, kann man daran sehen, wie die Powerfrauen des Extremismus, Frauke Petry (AfD) und Sarah Wagenknecht (Die Linke), unisono Putin gegen politische Angriffe in Schutz nehmen. Die Europäische Union wird sich neu strukturieren müssen. Wir waren es gewohnt, dass die EU immer größer wird, vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt zu akzeptieren, dass sie auch kleiner werden kann. Wir müssen gegebenenfalls akzeptieren, dass wir nicht alle dieselben Ziele verfolgen, dass es eine Europäische Union der konzentrischen Kreise geben wird, in der einige viele Politikbereiche vergemeinschaften und andere wenige. Damit verliert auch die Frage künftiger Erweiterungen an Brisanz. Ein neues Mitglied könnte sich – je nach politischem Wunsch – aus dem äußeren in den inneren Kreis bewegen oder im äußeren Kreis bleiben. Ein »Europa à la carte«, wo der eine mal hier und der andere lieber dort mitmacht, wird es jedoch nicht geben können, sondern stattdessen verschiedene Kreise abgestufter Solidarität. Europäische Beschlüsse kommen nämlich immer als Kompromiss zustande. Die bisherige Stärke der EU liegt ja gerade darin, dass sie nicht monothematisch ist, sondern dass sie verschiedene Bereiche miteinander kombinieren und so zu einem Interessenausgleich gelangen kann. Da können dann (in einem gegriffenen Beispiel) Strukturmittel für den Ausbau des

26 »Prima Kerle – anständige Männer. Zitate zweier Präsidenten übereinander«. Spiegel online, 06.04.2008. http://www.spiegel.de/politik/ausland/bush-putin-prima-kerle-anstaen dige-maenner-zitate-zweier-praesidenten-uebereinander-a-545683.html; letzter Aufruf: 30.12.2016. 27 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2016, 5.

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Flughafens in Lissabon verbunden werden mit der Subvention von italienischem Olivenöl, mit einer Lockerung der Klimaschutzvorschriften für große deutsche Automobile und der Ansiedlung einer neuen EU-Behörde in Estland. Nur wenn viele »bargaining chips« auf dem Tisch liegen, ist es möglich, im positiven Sinne über die Bande zu spielen und einem Mitglied Nachteile eines Beschlusses durch Vorteile eines anderen auszugleichen. Heilung? Vieles ist denkbar, eines allerdings nicht, nämlich dass wir so weitermachen wie bisher, dass wir regeln, welche Arbeitsschuhe griechische Friseurinnen tragen dürfen, aber nicht in der Lage sind, einen Beschluss umzusetzen, den wir gemeinsam getroffen haben. Misserfolg macht hässlich, kostet das Ansehen der globalen Partner und die Akzeptanz der eigenen Bürgerinnen und Bürger. Die »Flüchtlingskrise« hat uns vor Augen geführt, dass wir die Hausaufgaben, die wir uns nach dem kläglichen Scheitern der EU im Jugoslawienkonflikt ins Heft geschrieben haben, zwar verstanden, aber nicht gemacht haben. Für unsere eigene Zukunftsgestaltung ist von großer Bedeutung, wie wir jetzt die Entscheidungen treffen. Für die Europäische Union beginnt vielleicht die spannendste Dekade ihrer Geschichte – Europas Bürgerinnen und Bürger müssen dabei die Akteure sein, nicht die Zuschauer.

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Lampedusa – Drei Jahre danach

Am Tor Europas Es ist noch dunkel, als ich Vitos Haus verlasse. Um mich herum eine kahle und steinige Landschaft. Zwanzig Minuten später, pünktlich um 6.30 Uhr, erreiche ich das »Tor von Lampedusa – Tor zu Europa« vom Künstler Mimmo Palladino, das seit 2008 an die verstorbenen und vermissten Flüchtlinge erinnert. Auf dem Weg zu diesem Denkmal ist mir kein Mensch begegnet, nur zwei streunende Hunde. Auch hier ganz nah am Meer ist niemand zu sehen. Nur einige Fischerboote ziehen in Richtung Osten an der Küste entlang. Graue Wolken, die sich im Laufe der nächsten Stunden auflösen werden, verstecken die ersten Sonnenstrahlen. Nur die Brandung und einige Möwen sind zu hören, begleiten mich und meine Gedanken. Vor genau drei Jahren, gegen 4 Uhr morgens, kenterte vor Lampedusa ein Fischerboot mit fast 550 Flüchtlingen an Bord. Dieser dritte Jahrestag der Katastrophe ist der Anlass meiner Reise nach Lampedusa, die ich mit ein paar Freunden und meiner Frau unternommen habe.1 Am Abend werden wir uns noch einmal mit dieser Tragödie auseinandersetzen, zusammen mit Einwohnern der Insel und Touristen. Lampedusa in Hannover Am Morgen der Tragödie war ich nicht auf Lampedusa. Ich saß zu Hause in Hannover und ahnte nichts von dem, was sich vor der südlichsten Insel Italiens abspielte. Ein paar Stunden später erfuhr ich aus den Medien, was dort geschehen

1 Hartwig Heine, Marcella Heine und Lisa Palm waren mit mir und meiner Frau, Anja BuckRiccò, auf Lampedusa.

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Das Tor von Lampedusa – Tor zu Europa.

war. Als Deutsch-Italiener war ich traurig und entsetzt. Als italo-tedesco schämte ich mich, weil bald klar war, dass diese Katastrophe kein Naturereignis war. Sie hätte verhindert werden können. Nachrichten von Flüchtlingsbooten, die nicht ankommen, das Sterben von meist jungen Menschen waren leider alltäglich geworden. Aber diese Unglücke passierten immer weit weg von den Inseln oder dem Kontinent, nie in unmittelbarer Nähe eines Hafens, wo Küstenwache, Guar­ dia di Finanza, Polizei, Carabinieri und Militär seit Jahren ihre Posten haben. Wo Radaranlagen die »Straße von Sizilien« akribisch kontrollieren. Wie konnte so etwas passieren? Warum war das Boot der Flüchtlinge nicht rechtzeitig entdeckt worden, schon als es sich der Insel näherte? Oder mindestens in den Stunden vor dem Unfall, als die Flüchtlinge andere Boote gesehen hatten und hofften, selbst gesehen zu werden? Zunächst kam die Nachricht vom Kentern. Dann meldeten die Agenturen die Anzahl der Toten, erst »mehrere« später »hunderte«. Die richtige Zahl ist bis heute unklar. Was wir mit Sicherheit wissen ist, dass 155 Menschen gerettet und 368 Leichen geborgen wurden. Was wir vermuten können: Noch weitere 20 bis 25 Flüchtlinge befanden sich an Bord, sie wurden jedoch nie gefunden. Drei Jahre danach stand ich nun nicht am genauen Ort der Tragödie, der eine halbe Seemeile südlich der Kanincheninsel liegt, sondern am östlich gelegenen Denkmal. Ich schaute auf das Meer und das Licht, das die Wolken mühsam durchdrang. »Jetzt wäre es hell genug«, dachte ich, »um Menschen zu sehen, die im Wasser um ihr Leben kämpfen. Auch wenn sie hundert oder zweihundert Meter 78

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von meinem Standort entfernt gewesen wären.« Noch vor wenigen Minuten wäre es unmöglich gewesen die Wellen von den Köpfen zu unterscheiden. Vito und seine Freunde hatten also recht: Am 3. Oktober ab 6.30 Uhr ist das Tageslicht hell genug, um im Wasser Menschen zu erkennen. Die Sonne ist zu dieser Zeit noch hinter dem Horizont, aber die Morgenröte erlaubt schon eine gute Sicht. Erst um 7.05 Uhr gab es den Sonnenaufgang am 3. Oktober 2013. Damals war die Sicht sogar besser, weil es kaum Wolken gab. An diesem symbolischen Ort fühlte ich mich sehr mit den Opfern, den Überlebenden und ihren Rettern verbunden. Gegen das Vergessen Drei Jahre lang hatte ich mich intensiv mit der Tragödie von Lampedusa auseinandergesetzt. Mit einer Gruppe von Freunden und der Unterstützung zahlreicher Helfer hatte ich das Projekt um die szenische Lesung Ein Morgen vor Lampedusa initiiert.2 Sie wurde inzwischen 230 Mal an verschiedenen Orten, bundesweit und in Italien, vorgetragen. Durch die Lesung, die auf Zeugenaussagen von Flüchtlingen und Rettern beruht, haben inzwischen über 20.000 Menschen erfahren, was vor der Küste Lampedusas geschah. Ein paar Tage nach dem Unglück brachte mich diese seltsame Mischung von Gefühlen – Empathie, Trauer aber auch Zorn und Scham – zu dem Entschluss, etwas zu tun, damit diese Katastrophe nicht in Vergessenheit gerät. Die Berichte in den Medien wurden immer weniger und kürzer: Nach zehn Tage hatten die italienischen Zeitungen das Unglück schon auf die hinteren Seiten verbannt. In Deutschland war diese Tragödie kein Thema mehr. Andere wichtige Ereignisse standen im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit, vom Krieg in Syrien bis zur Bildung der Großen Koalition. Hatten die Medien schon »zu viel« darüber berichtet? Hatten die Bilder der aufgereihten Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa sich »abgenutzt«? Oder im Gegenteil sich so eingeprägt, dass neue Meldungen dieser Art als überflüssig betrachtet wurden? Wollte man diese Art von Nachrichten nicht mehr der Öffentlichkeit zumuten? Jedenfalls, als am 11. Oktober erneut 268 Flüchtlinge zwischen Malta und Lampedusa ertranken, wurde diese neue Katastrophe kaum

2 Das Projekt wurde von der ehrenamtlich tätigen Arbeitsgruppe »Unser Herz schlägt auf Lampedusa« durchgeführt. Die Premiere der Lesung fand in Hannover (Cumberlandsche Galerie des Schauspielhauses Hannover) am 30.03.2014 statt. Mehr als 20.000 Zuschauer haben insgesamt an den Veranstaltungen teilgenommen, die von unserer AG und bundesweit von 361 Schulen, Vereinen, Kirchengemeinden, Städten und Gemeinden, Gewerkschaften, Parteien usw. veranstaltet wurden. 888 Sprecherinnen und Sprecher und 205 Technikerinnen und Techniker haben bei den Lesungen mitgewirkt. (Stand: 31.12.2016)

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von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Obwohl auch diese Toten nicht Opfer des Schicksals, sondern der mangelnden Koordinierung zwischen italienischen und maltesischen Rettungsbehörden waren und den Interpretationen von Vorschriften über Zuständigkeiten. Fabrizio Gatti berichtete sehr detailliert einige Wochen später darüber in der Wochenzeitung L’Espresso.3 Mit dem Ziel, gemeinsam etwas gegen das Vergessen zu tun, lud ich eine Gruppe von Freunden ein. 2010 war eine Erzählung von mir im Rahmen eines Jugendtheaterprojekts in Szene gesetzt worden.4 Tariqs Auftrag erzählt die Geschichte von einem 15-jährigen Afghanen, der in Italien ums Leben gekommen ist. Als Versteck hatte er sich auf der Fähre Patras-Ancona eine Art Hängematte unter einem spanischen Lkw gebaut. Diese Konstruktion wurde ihm zum Verhängnis: Sein lebloser Körper wurde in der Nähe von Bologna gefunden, als sich eine rote Spur hinter dem Lastwagen gebildet hatte. Das damalige Theaterstück mit dem »boat people projekt« aus Göttingen war erfolgreich verlaufen. Die kleine Produktion, mit einer Schauspielerin und einem jungen Afghanen als Hauptdarsteller, wurde 27 Mal aufgeführt, vor allem an Schulen. Auch die Presse hatte das Projekt mit positiven Berichten begleitet. Es lag also nahe, nochmal etwas Ähnliches zu produzieren. Aber ich hatte bei Tariqs Auftrag gelernt, dass auch die schönste Idee mühsam umgesetzt werden muss. Ein Skript zu verfassen reicht nicht aus, es gibt tausend Kleinigkeiten zu bedenken, bevor das Stück präsentiert werden kann. Zeit, Geld und viel Arbeit sind nötig. Nach der Premiere würde sich dann eine zweite wichtige Frage stellen: Wie oft kann das Stück noch präsentiert werden? Und wo? Das sind Fragen, die mit der Organisation des Projekts zu tun haben, aber auch mit seiner Finanzierung. Andererseits war ich mir bewusst, dass durch die Sprache des Theaters viele Menschen erreicht werden können, dass man sie emotional berühren und gleichzeitig zum Nachdenken bringen kann.

3 Drei Artikel von Fabrizio Gatti sind auch auf Englisch im Netz verfügbar: 30.10.2013, »The children who drowned on October 11th lie under the sea. Forgotten. While Europe post­ pones the issue« (http://bit.ly/2jqYkC1); 07.11.2013, »Lampedusa shipwreak: those 268 deads could have been avoided« (http://bit.ly/2jr1zJJ); 28.11.2013, »Lampedusa, passing the buck of responsabilities: this is how they left the Syrian children drown« (http://bit.ly/2jqYlWf). 4 Antonio Umberto Riccò. »La Missione di Tariq«. Biscotti al cardamomo. Bozen: edizioni alpha beta, 2009, 215–236. Das Theaterprojekt war eine Produktion vom »boat people projekt«. Bühnenfassung und Inszenierung: Luise Rist und Nina de la Chevallerie. Darsteller: Franziska Aeschlimann (Erzählerin) und Elijah (Tariq).

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Die Lösung: eine szenische Lesung Der Ausweg aus diesem Dilemma war schnell gefunden. Als die Gruppe sich am 24. Oktober traf, schlug ich vor, eine szenische Lesung zu veranstalten. Die Vorbereitung einer solchen Lesung, bei der der Text eben von mehreren Sprecherinnen und Sprechern vorgelesen wird, bot einige Vorteile gegenüber einer Theaterinszenierung, vor allem war sie einfacher zu realisieren. Der Plan sah vor, die Lesung zunächst im Raum Hannover durch den »Spielkreis-Theater« der Matthias-Kirche anzubieten. Sollten dann auch andere Veranstalter Interesse am Projekt zeigen, wollten wir ihnen die Materialien der Lesung liefern, jedoch unter einigen Bedingungen: Wir wünschten uns, dass mit der Lesung Spenden zu Gunsten einer Flüchtlingsinitiative vor Ort gesammelt würden,5 und dass nach der Lesung ein offenes Gespräch mit geladenen Gästen stattfinden würde. Dieser Plan wurde mit vier Flüchtlingsorganisationen umgesetzt: dem Flüchtlingsrat Niedersachsen und drei kleineren Vereinen (Medinetz, Kargah und Janusz-Korczak-Verein) aus Hannover. Medinetz übernahm auch die Verwaltung des Projekts. In den folgenden Jahren bekamen wir die nötige finanzielle Unterstützung vom Nds. Landesamt für Soziales, dem Nds. Kultusministerium, der Nds. Lotto-Sport-Stiftung, der Caritas in Niedersachsen, der Stadt und der Region Hannover und anderen Förderern. Diese Mittel deckten unvermeidbare Kosten (zum Beispiel den Druck vom Heft Notausgänge,6 das wir an Schulen verteilt haben, Plakate, Folder etc.), aber das Projekt stützte sich vor allem auf die Arbeit von einer kleinen Gruppe von Ehrenamtlichen, die Renate Blanke und ich koordiniert haben. Skript, Musik und Bilderpräsentation wurden ehrenamtlich erstellt. Die Fotos bekamen wir von Antonino Taranto, der das »Archivio Storico Lampedusa« leitet, ein Verein, der zum Ziel hat, die Geschichte der Insel zu dokumentieren. Die Musik komponierte Francesco Impastato, ein in Hannover lebender Sizilianer, und sie wurde mit Hilfe von Christoph Isermann und anderen Musikern aufgenommen.7 Die Integration von Musik aus Eritrea, die ich mir sehr gewünscht hätte, da die meisten Opfer aus diesem Land stammten, ließ sich leider nicht realisieren.

5 Bei den Veranstaltungen wurden 64.237,38 € von den Zuschauern gespendet, die unmittelbar 164 Flüchtlingsorganisationen und Projekte unterstützt haben (Stand: 31.12.2016). In diesem Betrag sind auch 2.867,30 € aus dem Verkauf von 541 CDs enthalten, die von der Firma Girafe Music & Publishing aus Hannover gespendet wurden. 6 Brigitte Bialkowski, Hartwig Heine, Marcella Heine, Georg Mesch. Notausgänge – Ein Materialheft für Schulen zur szenischen Lesung »Ein Morgen vor Lampedusa«. Hannover: Medinetz Hannover e.V., 2015, 56. 7 Francesco Impastato. Lampedusa, 3. Oktober 2013. Hannover: Girafe Music& Publishing, 2014.

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Für das Skript habe ich zunächst sämtliche Aussagen gesammelt, die in den italienischen und internationalen Medien zu finden waren. Die Reporter hatten die Zeugen vor allem in den ersten Stunden nach der Tragödie befragt. Viele von den Flüchtlingen und den Rettern wurden auch in den Wochen danach interviewt. Diese Aussagen habe ich miteinander verglichen, um festzustellen, wer die Zeugen genau waren, und um inhaltliche Ungereimten zu klären. Mit einigen Zeugen habe ich später Kontakt aufgenommen. Die nächste Aufgabe war, die Aussagen in einen dramaturgisch sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Zunächst sollten die überlebenden Flüchtlinge zu Wort kommen, danach ihre Retter. Die Beschreibung der Rettung sollte die Dramatik der Lage beider Gruppen wiedergeben und auf die tiefe emotionale Beziehung hinweisen, die sich zwischen ihnen gebildet hatte. Der Text sollte auch die Kritik der Retter (und später der Überlebenden) gegenüber den institutionellen Rettungskräften beinhalten. Eine einseitige Rekonstruktion der Ereignisse wollte ich jedoch vermeiden, deswegen bemühte ich mich, die Zeugenaussagen der Küstenwache und von anderen Quellen in den Text einzubeziehen. Zuletzt wollte ich einen weiteren Aspekt der Tragödie erwähnen, der mir sehr am Herzen lag, nämlich die europäische Mitverantwortung für diese und andere Tragödien. Einer der Erzähler, der die Zeugenaussagen miteinander verbindet, stellt deswegen während der Lesung diese Fragen: Wo war Europa? Wo war das Europa der Menschenrechte, das Europa der vielen Kulturen, das Europa aus dem Millionen von Menschen selbst die Erfahrung als Auswanderer gemacht haben? Wo war dieses Europa in jenen Stunden? Und wo ist es jetzt? Was soll aus Europa werden? Eine Festung in einem Meer voller Leichen?

Auch die politisch geprägten Statements von der Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa, Giusi Nicolini, und des Präsidenten der Region Sizilien, Rosario Crocetta, dienten demselben Zweck. Beide habe ich frühzeitig über das Projekt informiert. Der Bürgermeisterin habe ich mehrmals mein Skript gesandt und auch telefonisch bei ihrem Sekretariat gebeten, mir Änderungen oder Ergänzungen mitzuteilen, die die Zeugenaussagen vervollständigen könnten. Das Fehlen jeglicher Antwort habe ich bedauert, auch wenn ich es zunächst nicht nachvollziehen konnte. Heute weiß ich, dass es Gründe gab, die nichts mit dem Arbeitspensum der Bürgermeisterin zu tun haben. Dazu später mehr. Eine der Motivationen der Lesung war, die mutige Haltung der Retter hervorzuheben, die ihr Leben riskierten, um anderen zu helfen. Mehrere von ihnen werden in der Lesung zitiert: die Fischer Domenico, Raffaele und Francesco der »Angela C.«, der Tauchlehrer Simone, die Taucher der Guardia di Finanza Antonio, Riccardo und Salvo, die die Leichen aus dem versunkenen Wrack bergen mussten. Auch der Arzt Pietro Bartolo, inzwischen bekannt als Darsteller vom prämierten Dokumentar-Film Fuocammare (Seefeuer), der sich auf Lampedusa seit Jahrzehnten unermüdlich für die medizinische Erstversorgung der Flüchtlinge engagiert, wird 82

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zitiert. Vor allem aber die Menschen, die sich auf der »Gamar« befanden, jenem Boot, das als erstes am Ort der Tragödie war. Sie haben Zivilcourage gezeigt, und zwar nicht nur in den Stunden der Rettung, sondern auch danach. Sie haben detailliert beschrieben, was sie erlebt haben und was geschehen war. Dabei haben sie sich den Opfern, den Überlebenden und insbesondere der Wahrheit verpflichtet gefühlt. Geehrt wurden sie dafür manchmal im Ausland, selten in Italien. Unverständlicherweise nie auf Lampedusa. Im Gegenteil: Einige von ihnen wurden öffentlich als Nestbeschmutzer für ihre mutige und kritische Haltung angeprangert. Es ist nicht einfach zu erläutern, was auf Lampedusa in diesem Zusammenhang passiert ist und warum. Umso wichtiger ist es, an die Fakten der Tragödie zu erinnern. Was damals geschah Am späten Abend des 2. Oktober 2013 hatten sich acht Freunde verabredet, um an einem der schönsten Orte der Insel zu übernachten, der Tabaccarabucht. Ihre Namen: Linda Barrocci, Anna (Sharani) Bonaccorso, Vito Fiorino , Alessandro Marino, Carmine Menna, Grazia Migliosini , Marcello Nizza, Rosaria Racioppi. Einige von ihnen waren Touristen, andere arbeiteten auf der Insel. Die Idee war, mit der »Gamar«, einem neun Meter langen Fischerboot in die Nähe der Kanincheninsel zu fahren. Das Boot gehörte Vito, der eine kleine Eisdiele auf Lampedusa betreibt. In der Nähe der Küste wollten sie essen, einige Stunden schlafen, um dann gegen sechs Uhr zum Fischen rauszufahren, bevor der neue Arbeitstag beginnen würde. Kurz nach sechs Uhr hörten sie ungewöhnliche Laute, Vito vermutete Möwengeschrei. Sein Freund Alessandro, der das Boot steuerte, glaubte jedoch menschliche Schreie wahrzunehmen. Schnell starteten sie, um zu klären, was los war. Grazia, Marcello, Carmine und Vito haben es so beschrieben, was sie damals erlebten: Es war noch dunkel, als wir zum Fischen rausfuhren. (Grazia) Im ersten Morgenlicht sahen wir, wie Hunderte von Menschen um unser Boot trieben, die Arme aus dem Wasser hoben und um Hilfe flehten. Überall waren sie, sie klammerten sich an Wasserflaschen, an treibende Holzstücke. (Marcello) Als wir aus der Tabaccara-Bucht rausgefahren sind, sahen wir sie gleich. Sie näherten sich dem Ufer. Es waren viele, unzählig viele. Einige zu dritt oder viert, andere allein. (Carmine) Zwischen Öllachen, treibenden Holzstücken, Schwimmwesten, Leichen, sahen wir Frauen und Kinder. Sie tauchten auf und verschwanden wieder… (Vito)

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Es nahm kein Ende. Wir schafften es, 47 von ihnen zu retten. Wir gaben ihnen Decken und Wasser. Sie weinten, während wir sie hochzogen. Ich weinte. Sie weinten. Mit Händen und Füßen gaben sie uns zu verstehen, dass es noch andere zu retten gab, aber unser Boot konnte nicht noch mehr aufnehmen… (Grazia)

Das Boot der Flüchtlige war in der Nacht gekentert. 47 Menschen wurden allein von der Gamar gerettet. Insgesamt wurden von den fast 30 Fischerbooten und von der Küstenwache 155 Flüchtlinge lebend geborgen. In den Stunden und Tagen nach der Tragödie sparten die acht Freunde nicht mit Kritik an der Haltung der Küstenwache. Die Sonne ging gerade auf, als wir die Flüchtlinge sahen. Erst haben wir den Motor abgeschaltet, um Unfälle zu vermeiden. Danach haben wir Hilfe angefordert. Ein Freund von mir hat die Hafenkommandantur angerufen: Sie kamen erst nach dreißig, vielleicht fünfundvierzig Minuten oder mehr sogar, denke ich. Jedenfalls nicht gerade schnell. (Carmine) Dreimal hat unser Freund Alessandro, der am Steuer war, die Hafenkommandantur angerufen, um sie zu alarmieren. (Marcello) Es war 6 Uhr 30, vielleicht 6 Uhr 40, als ich den Befehl gab, die Küstenwache zu alarmieren, aber die kamen erst um 7 Uhr 30. (Vito)

Alle, die an Bord der Gamar waren, haben in Interviews unabhängig voneinander ihre Darstellung der Ereignisse wiederholt und auf die Verspätung des Eintreffens der Küstenwache hingewiesen. Genau diese Verspätung wird jedoch von der Küstenwache vehement bestritten. Wir haben die Alarmmeldung über Funk um sieben Uhr erhalten und haben sofort interveniert. Unsere Einheiten kamen am Ort des Schiffbruchs vor 7 Uhr 20 an. (Pressemitteilung der Küstenwache) Die erste Meldung kam um 7 Uhr morgens, und die Patrouillenboote waren um 7 Uhr 13 vor Ort. (Felicio Angrisano, Admiral, oberster Befehlshaber der italienischen Küstenwache)

Sicherlich standen die Retter unter einer außergewöhnlichen Stressbelastung, die eine korrekte Wahrnehmung der Zeit erschwerte. Aber ihre Aussagen sind in sich schlüssig, kohärent und glaubwürdig. Unabhängig von dieser spezifischen Auseinandersetzung, bleibt jedoch bis heute eine zweite Frage ungeklärt: Warum hat die Küstenwache das Boot der Flüchtlinge nicht geortet? Zur Erinnerung: Das havarierte libysche Fischerboot lag stundenlang eine halbe Seemeile vor Lampedusa, bevor es wegen des Feuers an Bord und der dadurch entstandenen Panik kenter84

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te. Es gibt außerdem einen dritten Kritikpunkt gegenüber der Küstenwache, der nicht nur von den Rettern an Bord der »Gamar« vertreten wird, sondern auch von anderen Fischern, die herbei geeilt waren und mithalfen. Es geht um die Einhaltung des sogenannten »Protokolls«, das heißt der Vorschriften, die in solchen Notsituationen zu beachten sind. Wir liefen Gefahr, selber zu kentern. Ich habe sie [die Küstenwache] gebeten, Flüchtlinge aus unserem Boot an Bord ihres Patrouillenbootes zu nehmen, damit wir noch weitere aus dem Wasser ziehen konnten. Die Antwort, die ich bekam, machte mich sprachlos: »Das dürfen wir nicht, erst müssen wir weitere Weisungen abwarten. Kehrt ihr zum Hafen zurück und ladet sie dort aus.« Es blieb uns keine andere Wahl, unser Boot musste wenden und zurückfahren. Trotz all der Anderen, die nach Hilfe riefen. (Marcello) Wir sahen im Wasser Köpfe. Überall. Verzweiflung. Leben, die zu retten waren. Menschen ertranken vor unseren Augen und wir hatten neben uns die Küstenwache, die uns sagte: »Wir müssen in Rom anrufen um zu erfahren, was zu tun ist. Da gibt es strikte Vorschriften.« Aber was für Vorschriften? Wenn Du auf einem Boot bist und schon Dutzende »hochgezogen« hast, die zwischen Tränen, Schock, Lunge und Bauch voller Benzin schon mehr als drei Stunden lang im Wasser getrieben sind und um Hilfe bitten, wie kannst Du da an Weisungen denken? (Linda)

Rechtlich mögen die Verantwortlichen der Küstenwache korrekt gehandelt haben. Die Vorschriften sehen in der Tat vor, dass im Normalfall Übertragungen von Geretteten von Boot zu Boot vermieden werden sollten, vor allem, wenn die Boote unterschiedliche Höhen haben. Und trotzdem: Die Umstände verlangten eine schnelle Hilfe: – Viele Überlebende befanden sich seit Stunden im Wasser, rangen um ihr Leben, waren am Ende ihrer Kräfte. – Die »Gamar« hatte 47 Flüchtlinge gerettet. Insgesamt waren also 55 Menschen an Bord, und das kleine Boot drohte selbst zu kentern. – Die Rettungstechnik, die die Küstenwache verwendete, war sehr sicher, verlangte aber viel Zeit: Ein Matrose warf sich mit einem Rettungsring ins Wasser, schwamm bis zum Flüchtling, den er retten wollte und brachte ihn bis zum Schiff, wo er mit viel Mühe an Bord gezogen wurde. Eines der wenigen Videos, das die Küstenwache freigegeben hat (obwohl sie sehr viel fotografiert und gefilmt hat, was auch Gegenstand von Kritik war) zeigt, wie aufwendig es ist, eine einzige Person auf diese Weise zu retten.8

8 Das Video ist auf der Website youreporter.it verfügbar (http://bit.ly/2i3etNH).

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– Dagegen hatten die »Gamar« und andere kleine Boote einen entscheidenden Vorteil: Sie verfügten über eine kleine Plattform auf dem Niveau des Wassers. Von dort aus war es viel einfacher und schneller, Menschen an Bord zu ziehen. Die Frage ist, ob eine andere Auslegung der Vorschriften sinnvoller gewesen wäre, um noch mehr Ertrinkenden helfen zu können. Eine Ausnahme ließ übrigens die Küstenwache zu. Nach einer heftigen, verbalen Auseinandersetzung akzeptierte sie, dass einige Flüchtlinge, die von Costantino Baratta gerettet worden waren, an Bord des Patrouillenbootes steigen durften, so dass er weiteren Flüchtlingen helfen konnte. Wenn die Küstenwache einverstanden gewesen wäre, dass die Flüchtlinge, die sich schon auf der »Gamar« befanden, an Bord der Patrouillenboote hätten kommen dürften, hätte die »Gamar« vor Ort bleiben können, um weitere Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Es wird vermutlich schwer sein, eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Die Staatsanwaltschaft von Agrigent ist noch bis heute mit den Ermittlungen beschäftigt. Jetzt, nach drei Jahren hat sie zwar Erfolge zu verzeichnen (einer der Schlepper wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, der ›Kapitän‹ zu 17 Jahren), aber viele Umstände sind noch nicht aufgeklärt worden. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass vor dem Unglück mindestens zwei kleine Schiffe ganz in der Nähe des Flüchtlingsbootes gesehen wurden. Einige Flüchtlinge berichten, dass diese Boote starke Scheinwerfer hatten, mit denen ihr Boot angestrahlt wurde. Aber niemand hat Alarm geschlagen. Warum? Ist das »Bossi-Fini-Gesetz«9 schuld? In der Tat ist es durch dieses Gesetz in einigen Fällen bei Fischern zur Anklage gekommen, da sie verdächtigt wurden, Hilfe zur illegalen Einreise geleistet zu haben. Eine Straftat, die gravierende Folgen haben kann. Bis heute ist jedoch nicht aufgeklärt worden, um welche Art von Booten es sich handelte. Nachdem man lange Zeit offiziell verneint hatte, dass überhaupt Boote vorbei gefahren seien, wird es jetzt nicht mehr ausgeschlossen, dass Fischerboote tatsächlich vor Ort waren. Diese unterlassene Hilfeleistung führte dazu, dass die Flüchtlinge nach ca. zwei Stunden eine Decke in Brand setzten, um auf sich aufmerksam zu machen. Das war der Anfang der Katastrophe. Nach Aussagen einiger Flüchtlinge gibt es jedoch auch eine zweite Hypothese, sie meinen, militärische Patrouillenboote erkannt zu haben. Ob diese Aussagen einer juristischen Überprüfung standhalten, kann nur die Staatsanwaltschaft entscheiden. Niemand bestreitet, dass vor und nach dem 3. Oktober 2013 die italienische Küstenwache – auf Lampedusa und anderswo – exzellente Arbeit geleistet hat und das Leben vieler Menschen rettete. Auch am späten Abend des 2. Oktobers waren die Boote der Küstenwache mit über 450 Flüchtlingen an Bord zum Hafen

9 Gesetz 30. Juli 2002, Nr. 189 »Veränderungen der Rechtsvorschriften über Einwanderung und Asyl«.

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Die Lesung in der Kirche von Lampedusa.

zurückgekehrt. Sie waren meilenweit von der Insel entfernt gerettet worden. Das verdient Anerkennung. Aber zum Respekt vor der wertvollen Arbeit der Küstenwache gehört auch, dass schonungslos aufgeklärt wird, warum am folgenden Tag diese Tragödie geschah. Das schulden wir den Opfern und den Überlebenden. Diese Forderung wurde immer wieder insbesondere von den acht Freunden auf der »Gamar« erhoben. In der Kirche von Lampedusa Bei der Lesung am 3. Oktober 2016 saßen Vito und seine Freunde vorne in der Kirche. Mit ihnen war eine Gruppe von Überlebenden gekommen, die den Text auf Englisch verfolgen konnten. Darunter Aregai – einer der in der Lesung zitierten Flüchtlinge – und Ambesagr, beide aus Eritrea. Auch sie nahmen am Gespräch nach der Lesung teil. Langsam füllte sich die Kirche mit fast 300 Menschen. Die Musik ertönte und zehn Einwohner der Insel begannen den Text vorzutragen.10

10 Sprecherinnen und Sprecher waren: Costantino Baratta, Andrea Barraco, Maria Costa, Antonino Maggiore, Bartolomeo (Lillo) Maggiore, Giacomo Mercurio, Suor Paola Angheorghiesei, Giuseppe Partinico, Grazia Raffaele und Anna Sardone.

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Antonio Umberto Riccò

Ein Flüchtling bedankt sich bei einigen Rettern.

Darunter war auch der Maurer Costantino Baratta, einer der Retter, der 2013 auf dem Cover von L’Espresso erschien und als »Mensch des Jahres« geehrt wurde. Mit großer Anteilnahme verfolgte das Publikum die Erzählung. Die unglaublich emotionale Stimmung spürte jeder. Es war ergreifend zu sehen, wie am Ende der Lesung sich Flüchtlinge und Retter in den Armen lagen. Es war Vitos Idee gewesen, die Lesung auf der Insel zu veranstalten. Anders als seine Freunde kannte er den Text schon, weil er als Ehrengast unserer 100. Lesung in Hannover gewesen war. Für alle anderen Zeugen war unsere Erzählung neu. Ich hatte mich oft gefragt, wie sie und die Lampedusaner die Lesung aufnehmen würden. Zwar wusste ich, dass ich mich strikt an ihre Erzählungen gehalten hatte. Aber ein Ereignis wie dieses kann man kaum in Worte fassen. Als ich hörte, dass einer der Zeugen sagte: »Endlich wird die Tragödie so erzählt, wie wir sie erlebt haben«, war ich sehr erleichtert. Die Bürgermeisterin war nicht da Der Priester der San Gerlando-Gemeinde hatte zuvor die Anwesenden begrüßt. Die Vertreter der Mitveranstalter – Caritas Agrigent, Archivio Storico Lampedusa, Associazione Giovani Lampedusa und Radio Delta – nahmen am Gespräch nach der Lesung teil. Nur die Bürgermeisterin der Insel war nicht anwesend. Niemand von uns hat sich darüber gewundert: Frau Nicolini hat sich den Standpunkt der 88

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Küstenwache früh zu Eigen gemacht. Schon Ende Oktober 2013 hatte sie vehement mit einem Facebook-Beitrag die Helfer angeprangert, ohne sie je persönlich angehört zu haben. Dieser Post – den ich von Dritten erhalten und getreu dem italienischen Original übersetzt habe – macht ihre Haltung deutlich: Der Angriff auf die Küstenwache ist per Zufall entstanden und wurde später künstlich hoch gespielt, auch mit der unbewussten Hilfe (jedenfalls hoffe ich das) einiger Journalisten. Er wurde aufgebläht, um der Küstenwache die Koordinierung der Rettungen im Meer zu entziehen, in der Perspektive einer wachsenden Militarisierung des Mittelmeers und den Beziehungen mit den angrenzenden Ländern. Jedem sollte klar sein, was die Küstenwache von der Marine unterscheidet. Der Angriff auf die Küstenwache bezüglich der Rettungen vom 3. Oktober hat natürlich weder ein sachliches noch ein logisches Fundament. In diesem Zusammenhang scheint mir ein Leitartikel vom »Fatto« [gemeint ist hier die Tageszeitung Il Fatto Quotidiano aus Rom] Licht ins Dunkel zu bringen. Als Beweis für die vermeintliche »Schuld« der Küstenwache erwähnt die Zeitung, dass der Kommandant des ersten vor Ort eintreffenden Patrouillenboots der Küstenwache (und ich füge selbstverständlich hinzu in bewundernswerter Weise und auf dem schnellsten Weg) sich geweigert hätte, Überlebende an Bord zu nehmen, die von einem Ausflugsschiff gerettet worden waren. Diese Episode wurde vom Besitzer des erwähnten Schiffs heftig »angeklagt«. Er war gewiss in Panik geraten und emotional aufgewühlt (denn [sic!] wer zur See fährt, sollte gut die Regeln der Rettung im Meer kennen) und er verlangte, man sollte sofort die Geretteten an Bord des Patrouillenboots übernehmen (ich würde hinzufügen: unglücklicherweise). In jenem Leitartikel wurde der eifrige und aufrechte Kommandant der Küstenwache angegriffen, weil er brüsk befohlen hatte, die Geretteten zum Hafen zu bringen, und weil er die Auseinandersetzung mit den Worten »Das sieht das Protokoll so vor« beendet hatte. Chapeau dem Kommandant, der seine Pflicht mit Intelligenz, Schnelligkeit und eisernen Nerven erledigt hat! Die Geretteten sind gerettet und die anderen gingen weiter unter. Alle, die sich auf dem Meer befinden, haben die Pflicht zu helfen und Alarm zu schlagen. Beim Eintreffen der Küstenwache sollen sie den Befehlen von Menschen folgen, deren Aufgabe es ist zu retten. Alle. (Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa)

Wer Vito Fiorino und seine Freunde kennt, weiß, dass es einfach absurd ist, ihnen vorzuwerfen, die Koordinierung der Rettungen im Meer der Küstenwache entziehen zu wollen, um damit die Militarisierung des Mittelmeers voranzutreiben. Dasselbe gilt übrigens auch für die linksgerichtete Tageszeitung Il Fatto Quotidiano. Die Bürgermeisterin hat sich oft auf sinnvolle Weise für die Flüchtlinge eingesetzt. Wir zitieren sie in der Lesung, eben weil wir ihr Plädoyer für eine men89

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schenfreundliche italienische und europäische Flüchtlingspolitik teilen. Trotzdem ist ihre Haltung gegenüber den Rettern inakzeptabel. Brauchen wir Helden? Wie man sich vorstellen kann, war die Lesung auf Lampedusa die schwierigste, die wir veranstaltet haben. Organisatorisch, aber vor allem emotional, aus naheliegenden Gründen. Ende September war außerdem die mediale Vereinnahmung der Insel sehr präsent: Die RAI hatte Journalisten aus der ganzen Welt eingeladen, an dem »Prix Italia«11 teilzunehmen. Der damalige Außenminister Gentiloni besuchte die Veranstaltung, unzählige Berichte über Lampedusa und ihre »Helden« wurden geschrieben. Die Abneigung der Einwohner für diese Art der oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Insel war spürbar. Unser Ziel war natürlich nicht, ein Teil von diesem Medienzirkus zu werden. Vielmehr wollten wir die Einwohner der Insel ansprechen. Die Lesung auf Lampedusa zu präsentieren, empfanden wir als besonders wichtig als ein Zeichen der Verbundenheit mit den Opfern und ihren Rettern. Die Rhetorik des Heldentums beschreibt die Retter, gar alle Lampedusaner, als außergewöhnliche Menschen, die etwas »Unmögliches« getan haben. Lernt man sie kennen, stellt man jedoch fest, dass Vito und seine Freunde ganz normale Menschen sind, mit Stärken und Schwächen. Es ist gerade diese »Normalität«, die uns von Anfang an fasziniert hat. Und die wir brauchen, nicht nur auf Lampedusa. Die acht der »Gamar« und alle anderen Retter wollten nicht als Helden wahrgenommen werden. Carmine, der Optiker der Insel, hat schlicht die Sache auf den Punkt gebracht: »Wir haben einfach getan, was zu tun war.« Sie haben sich der Situation gestellt, sie waren einfach da, vor Ort. Und sie haben geholfen, so gut wie sie konnten. Mehr nicht. Theoretisch hätten sie nicht klären brauchen, ob es wirklich das Möwengeschrei war, was sie alarmiert hatte. Man sagt, dass andere Boote diese Hilferufe ignoriert hätten. Diese Option kam für sie nicht in Frage. Sie waren da und taten, was jeder von uns tun sollte und wahrscheinlich auch getan hätte. Sie hätten später auch vermeiden können, die Küstenwache zu kritisieren. Ihr Leben auf der Insel wäre dadurch deutlich einfacher gewesen, aber für sie gab es hier keine Alternative, als zu erzählen was passiert war. Wir haben ihnen ein bisschen geholfen, die Geschichte von jenem Morgen zu erzählen. Es war uns eine Ehre.

11 Der Prix Italia ist ein europäischer Fernseh-, Hörfunk- und seit einigen Jahren Internetwettbewerb. Der Preis wird seit 1948 vergeben.

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»Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben« Angst, Verzweiflung und Hoffnung in Erich Maria Remarques Exilromanen als Beispiel von Exilliteratur

Wer vom Boulevard Unter den Linden in Berlin zum Be­bel-Platz schlendert, stößt nicht selten auf Men­schen, die gemeinsam auf eine Stelle am Boden gucken, eine Glasplatte, eingelassen zwischen den Pflastersteinen, die den Blick in einen großen unterirdischen Raum lenkt. Einen Raum mit hohen Regalen, Platz für 20.000 Bücher. Eine nor­male Biblio­ thek also. Mit einem Unterschied: Die Regale sind leer. Auf die­sem Platz brannten am 10. Mai 1933 die Werke aller deutschen Schriftsteller, Philosophen, Pu­blizisten und Wissenschaftler von Rang und Namen: Sigmund Freud, Thomas und Heinrich Mann, Erich Kästner, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Heinrich Heine und Erich Maria Remarque. Von Heinrich Heine stammt die Warnung, dass dort, wo Bücher brennen, bald auch Menschen verbrannt werden. Und seitdem hat es die Schriftsteller als Emigran­ten umher getrieben. Fremd­heit, Entwurze­lung, Vereinsamung, Verzweiflung: Das war das, was fort­an ihr Le­ben prägte. Die Schriftsteller, die ins Exil gehen mussten, sie haben aufge­schrieben und aufbewahrt, was den Nachgeborenen übermit­telt werden musste: Anna Seghers Roman Transit und Ar­nold Zweigs Beil von Wandsbek, Klaus Manns Mephisto und Thomas Manns Dr. Faustus ebenso wie Erich Maria Re­marques Exilromane. Ihre Werke sind das Gedächtnis des Exils. »Man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzel zu leben« – so lautet das Motto, das Erich Maria Remarque seinem ersten Exilroman Liebe deinen Nächsten voranstellt. Ein Wort, dass nichts an Aktualität verloren hat. Der Exodus von Millionen Menschen auf der Flucht, jenen Entwurzelten, die ihre Heimat verlassen müssen, er ist inzwischen das zentrale Thema unse­rer Zeit geworden. Was Entwurzelung für die bedeutet, die vor Folter, Verfolgung und Krieg aus ihrer Heimat fliehen müssen, hat Han­nah Arendt 1943 so formuliert: »Wir haben unsere Spra­che verloren, die Einfachheit unserer Gebärden und den unge­ 91

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zwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wech­selt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigent­lich sind.«1 Das meint auch wohl Erich Maria Remarques junger Emigrant Ludwig Kern in dem Roman Liebe deinen Nächsten, wenn er sagt: »Ich bin ein Schatten, ein Gespenst, ein bürgerlicher Toter.«2 Flucht und Exil: 32 Jahre lang, bis zu seinem Tod, war das Erich Maria Remarques Thema. In vier Exilromanen setzte er sich mit seinem Schicksal als Emigrant auseinander. Ich möchte versuchen, mich Remarques Exilro­manen zu nähern, indem ich sie im Kontext der aktuellen Flucht vorstelle, dies vor allem in Bildern von der modernen Flucht – ein Versuch, Erich Maria Remarques Romane nicht im Bücherregal verstauben zu lassen, sondern sein Lebensmotto ernst zu nehmen: »Mein Thema ist der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts – die Frage der Humanität.« Denn Remarque hätte sich, da bin ich sicher, engagiert in die aktuelle Diskussion zu Flüchtlingen eingemischt. Ich werde die vier Exilromane vorstellen und mich dabei auf deren leitende Motive beschränken. Sie spiegeln die Erfahrun­gen, Ängste und Hoffnungen von Menschen auf der Flucht wi­der – damals wie heute. Folgende Schwerpunkte will ich anhand der vier Exilromane vorstellen: – – – – – – –

Die Erfahrungen mit Grenzen und Einreiseverboten, die Willkür und Langatmigkeit der Transitbürokratie, die ewige Frage nach Visum und Pass, Verachtung der Flüchtling und Hass, Exilerfahrungen: Verlust der Identität und Armut, die Ursachen der Flucht: Verfolgung und Krieg und schließlich die Frage nach der Zukunft .

Der 1. Exilroman von 1938: Liebe Deinen Nächsten – »Die Grenzen sind ja unsere Heimat«3 Die Grenzen und Grenzübergänge, an denen die Flüchtlinge hin und her geschoben werden, sie sind das zentrale Motiv die­ses Romans über jene Entwurzelten, die ein starkes Herz brauchen. Von ihnen heißt es: »Die Grenzen sind unsere Heimat.« Ein Thema von höchster Aktualität.

1 Hannah Arendt. »We Refugees«. Menorah Journal, 1943. 2 Erich Maria Remarque. Liebe deinen Nächsten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2004, 209. Im Folgenden zitiert als LdN. 3 LdN, 150.

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Angst, Verzweiflung und Hoffnung in Erich Maria Remarques Exilromanen

Baut sich Europa doch längst zur Festung aus, mit Natodraht – mein Rechtschreibprogramm am Computer verweigert übrigens dies Wort – mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen Kinder und Frauen, wenn gerade keine Kameras da sind, nur zufällige Handys. Zum Inhalt Ludwig Kern, ein 19jähriger jüdischer Student, der aus Deutschland fliehen musste, wird 1935 in Wien verhaftet. Wäh­rend er auf seine Abschiebung wartet, lernt er Josef Steiner kennen, einen politisch Verfolgten, der aus einem Konzentrati­ onslager nach Österreich hat fliehen können. An der Grenze zur Tschechoslowakei trennen sich Kern und Steiner: Kern geht nach Prag, um nach sei­nem Vater zu suchen. In Prag verliebt sich Ludwig Kern in Ruth Holland, eine ebenfalls aus Deutschland geflüchtete Jüdin. Das Paar wird noch in Tschechien getrennt, findet aber in Wien erneut zueinander. Gemeinsam flüchten sie weiter in die Schweiz, wo man gegen die Emigranten jedoch besonders hart vorgeht. Erst in Paris, wo sie Steiner und andere Emigranten treffen, scheint sich ihre Lage etwas zu entspannen. Mit einem gefälschten Pass geht Steiner schließlich nach Deutschland zurück, um sich von seiner sterbenden Frau zu verabschieden. Dort wird Steiner von seinem ehemaligen Peiniger Steinbren­ner verhaftet, darf jedoch seine Frau in ihren letzten Lebensta­gen täglich besuchen. Nach ihrem Tod stürzt sich Steiner aus dem Fenster des Krankenhauses und reißt Steinbrenner mit in den Tod. Ruth und Ludwig Kern haben in Paris Pässe und Fahrkarten eines anderen Emigranten nach Mexiko erhalten. Auf den Champs-Elysées nehmen sie Abschied von Europa. Dieser erste Exilroman Erich Maria Remarques von 1938 be­schreibt die frühen Stationen deutscher Emigranten in den Jah­ren 1936–37: Wien, Prag, die Schweiz und Paris, jene Pha­se, von der Bertolt Brecht schreibt: Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung jenseits der Grenze beobachtend.4

4 Bertolt Brecht. Gesammelte Werke. Bd. 9. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967, 718.

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Es ist die willkürliche Transitbürokratie, die Menschen auf der Flucht rechtlos macht, sie ihrer Menschenwürde beraubt und sie an den Grenzübergängen wie Strandgut hin und her treibt, damals wie heute – Flotsam, »Strandgut«, war übrigens 1939 der amerikanische Titel dieses Romans. Von dem Grenzer heißt es: Der Mann las rasch das Protokoll herunter [...]. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen [...]. Um die selbe Zeit würde die Dunkelheit [...] an der Grenze liegen, die Fremde, die Angst und verlo­ren darin [...] das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Pass ge­nannt.5

Und an einer anderen Stelle fragt ein Richter Ludwig Kern: »Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet, als Sie illegal über die Grenze kamen?« [...] »Weil ich sofort wieder ausgewiesen worden wäre«, erwiderte Kern müde. »Ja natürlich, das wären Sie.« »Und drüben auf der anderen Seite hätte ich mich sofort [...] mel­den müssen [...]. Von dort wäre ich dann in der nächsten Nacht zu­rück in die Schweiz gebracht worden. Und von der Schweiz wieder nach drüben. Und von drüben wieder zurück.« Der Richter hob die Schultern [...]. »Es ist das Gesetz. Wir müs­sen unser Land vor der Überschwemmung durch Flüchtlinge schützen.«6

Wie bekannt das auch heute klingt. So postet ein Pegida-Anhänger auf Facebook: »Ich glaube, unsere abendländische Kultur ist bedroht«, und Pegida-Anhänger warnen bei Demonstrationen auf ihren Plakaten gern vor einer »Überfremdung« Deutsch­ands. Ein Wort, das der Propaganda des Nationalsozialismus entlie­hen ist und »zu starkes Eindringen von Nichtdeutschen oder ›Artfrem­den‹ in das deutsche Volk«7 meinte. Wer Angst schürt – und das tun vor allem die Schreibtischtäter mit Schlips und Kragen – der ermutigt die Täter mit Stiefeln und Fäusten, damals wie heute.

5 LdN, 23f. 6 LdN, 208f. 7 Vgl. Karl-Heinz Brackmann, Renate Birkenauer. »NS-Deutsch«. Straelener Manuskripte 1988.

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»Schlagt das Emigrantenpack tot! [...] Dann spart ihr das Futter!«,8 schreit bei Remarque ein Mann Ludwig Kern hinterher. Heute brennen Flüchtlingsheime, und ein Bus mit Flüchtlingen wird von einem brüllenden Mob bedroht. Ja, »man braucht ein starkes Herz, um ohne Wurzeln zu leben«. Das Leben der Flüchtlinge auf der Grenzlinie, fremdbestimmt, ohne jede Sicherheit erinnert an Kafkas absurde Welt in seinem Roman Der Prozess und an den Mann vom Land, der in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz hilflos der Willkür ausgeliefert ist. Der 2. Exilroman von 1945: Arc de Triomphe – »Das riesige Tor des Hades« Zum Inhalt Der Arzt Ravic, der in Wirklichkeit Ludwig Fresenburg heißt, konnte aus dem KZ fliehen und in Paris untertauchen. In Paris erlebt er die Zeitspanne von November 1938 bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges im September 1939. Seine Erlebnisse als Soldat im Ersten Weltkrieg und seine un­menschlichen KZErfahrungen haben Ravic gelehrt, welche zerstörerische Kraft der Faschismus hat. Ravic versucht in Paris zu überleben: Ohne Pass, ohne Identität und ohne Rechte. Er schottet sich von der Welt ab, trinkt und ver­drängt seine Vergangenheit. Ravics Leben ist geprägt durch die Liebe zu zwei Frauen. Sybil, seine große Liebe, wurde im KZ durch grausame Folter in den Selbstmord getrieben. Ravic wird von dem Schuldgefühl verfolgt,dass er ihr nicht mehr helfen konnte. In einem Pariser Café, es könnte vielleicht das Cafe Le Tournon, Treffpunkt vieler berühmter Emigranten gewesen sein, trifft Ravic Sybils Peiniger, den Gestapo­mann Haake wieder, der Sybil in den Tod getrieben hat. Ravic lockt ihn in einen Hinterhalt, ermordet ihn und besei­tigt die Leiche, ohne entdeckt zu werden. Obwohl Ravic nicht mehr daran glaubt, nach Sybils Tod noch einmal eine Frau lieben zu können, verliebt er sich in die Sängerin Joan Madou, die aus dem faschistischen Italien geflohen ist. Beide begegnen sich am Ufer der Seine, als Ravic Joans Selbstmordversuch verhindert. Doch da Ravic Joan als Emi­grant kein bürgerliches Leben bieten kann, verliert er sie. Kurz darauf marschieren die Deutschen in Polen ein und lösen damit den Zweiten Weltkrieg aus. Ravic lässt sich widerstands­los von der französischen Polizei festnehmen und wird in ein Internierungslager für Deutsche gebracht. Ravic weiß, dass er im Falle einer Niederlage Frankreichs von den Nazis ermordet werden wird, aber er akzeptiert sein Schicksal.

8 LdN, 11.

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Vor dem Abtransport verabredet er sich jedoch für das Kriegs­ende mit seinem Freund Morosow in ihrem gemeinsamen Lieb­lingsrestaurant, dem Restaurant Fouquet’s. Dieser Zukunftsausblick auf ein Leben nach dem Krieg zeugt von einem Rest Hoffnung und von neuer Kraft zum Widerstand. Diesen Widerstand leistet Ravic, indem er den Gestapomann und Peiniger seiner Geliebten Sybil ermordet – für Ravic die »Pflicht der Notwehr des einzelnen gegen die Barbarei«,9 wie Tilman Westphalen im Nachwort zu dem Roman schreibt. Der Mord an Haake befreit Ravic nicht nur von dem Trauma der Schuld am Tod seiner Geliebten Sybil. Der Mord ist auch der Protest Ravics gegen die Apathie der Menschen, jene Gleichgültigkeit, die nach sei­ner Überzeugung überhaupt erst den Nazis den Weg zur Macht eröffnet hat. Haakes Tod ist für Ravic der Beginn einer humaneren Ge­sellschaft. An der Figur des Ravic zeigt Remarque das gesamte Spektrum des Emigrantenschicksals: Den Verlust der Heimat und die Einsamkeit in einem fremden Land, die Erinnerungen an das Grauen des Ersten Weltkriegs und der Konzentrationslager, den Hass auf die Nationalsozialisten und den Wunsch nach Rache. Und Resignation beim Beobachten der gegenwärtigen Zustände, die Ravic so kommentiert: »Das Abendrot der Zivilisation. Müde, gestaltlose Götterdämme­ rung [...]. Völker, wieder einmal langsam auf die Schlachtbank getrieben.«10 Und immer wieder die bange Frage: Wie wird die Zukunft sein? Diesen zweiten Exilroman Arc de Triomphe schrieb Remar­que 1945. Der Arc de Triomphe, das 1836 errichtete National­denkmal Frankreichs mit dem Grab des unbekannten Soldaten, ist in diesem Roman die zentrale Metapher für das sinnlose Sterben im Krieg. Ravic sagt dazu: »Es war immer dasselbe, und immer wieder waren geduldige Völker da, gegeneinander getrieben in sinnlosem Töten für Kaiser, Religionen und Wahnsinnige – es hatte kein Ende.«11 Und resigniert bemerkt Ravic an einer anderen Stelle: »Jeder wusste, dass die Welt apathisch in einen neuen Krieg hinein trieb. Niemand hatte etwas dagegen – Aufschub, noch ein Jahr Aufschub, das war alles, worum man sich aufraffte zu kämpfen.«12

9 Tilman Westphalen. »Nachwort«. Erich Maria Remarque. Arc de Triomphe. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, 493. Im Folgenden zitiert als AdT. 10 AdT, 111. 11 AdT, 276. 12 AdT, 108.

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Deshalb nennt Remarque den Arc de Triomphe, das Denkmal des unbekannten Soldaten »das riesige Tor des Hades«.13 Das Tor zum Tod, die Menschheit auf dem Weg in einen Zweiten Weltkrieg. Der 3. Exilroman von 1961:Die Nacht von Lissabon – »Der Mensch war nichts mehr; ein gültiger Pass alles« Zum Inhalt Lissabon im Jahre 1942: Ein Mann steht am Kai des Tejo und starrt verzweifelt auf ein Schiff. Der Mann ist deutscher Emi­grant. Er will nach Amerika. Das Schiff da vor ihm fährt nach Amerika, aber der Mann hat kein Visum und keine Schiffskarte. Plötzlich taucht vor ihm ein Mann aus der Dunkelheit auf und bietet ihm seine Schiffskarten an. Er will kein Geld. Er hat nur eine Bedin­gung: Er will in dieser Nacht nicht allein bleiben. Er will dem Frem­den seine Geschichte erzählen, die Geschichte seiner Flucht quer durch Europa bis nach Lissabon, der letzten Zuflucht aller Flüchtlin­ge. Das Schiff draußen am Kai des Tejo, das für ihn die Freiheit ist, bedeutet ihm nichts mehr. Denn die Frau, die er geliebt hat, um de­rentwillen er unter Lebensgefahr nach Deutschland zurückgekehrt ist, mit der er diese Flucht gewagt hat und mit der er nach Amerika fahren wollte, lebt nicht mehr. In 5 Abschnitten beschreibt Remarque die Beziehung zwischen Schwarz und seiner Frau Helen und ihren Fluchtweg durch Eu­ropa bis nach Lissabon. Und er verschlingt mehrere Geschich­ten mitein­ander: Da ist zunächst die Geschichte einer großen Liebe, die sich entwi­ckelt unter den Bedingungen der Exils. Dann ist da aber auch eine Geschichte von Krankheit und Tod. Denn Helen, Schwarz’ Frau, ist unheilbar krank und nimmt sich am Ende des Romans aus Verzweiflung das Leben. Vor allem aber ist der Roman die Geschichte des Schicksals der Emigranten, die aus Deutschland fliehen mussten, die Ge­schichte ihrer Angst, Ohnmacht und Verzweiflung. Eine Exilge­schichte also, die sich anhört wie »die Geschichte einer Liebe«, wie der Ich-Er­zähler zu Schwarz sagt. Remarque hat in seinem Roman 2 Erzähl-Ebenen gewählt: die des Ich-Erzählers und die der Hauptfigur Josef Schwarz. Beide Erzähl-Ebenen ergänzen sich, wobei der Ich-Erzähler vor allem Kommen­tator ist. Er bricht die Unmittelbarkeit

13 AdT, 19.

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der Geschichte von Schwarz, ein literarische Kunstgriff, der dem Leser die notwendige Distanz ermöglicht. In diesem dritten Exilroman beschreibt Remarque die Emigration zwischen 1939 und 1942 mit den Stationen der Flucht: Den französischen Internie­rungslagern und der »Via Dolorosa«, dem Fluchtweg von Paris über Bor­deaux, Marseille und Spanien bis nach Lissabon, die mit der Flucht aus Europa und der Ankunft in den USA endet. Jene Phase, von der es im oben erwähnten Brecht-Gedicht heißt: »Öfter die Länder als die Schuhe wechselnd«. Marseille, Lissabon, Casablanca: Diese drei Orte stehen für die letzte Zuflucht aller Exilanten. Orte, von denen die letzten Schiffe abgingen zum Ort der Hoffnung auf Überleben: Amerika. Die »Via Dolorosa« unserer Tage, auch sie zeugt von der Verzweiflung von Menschen, die tage-, ja wochenlange Odys­seen auf sich nehmen, um dem Schrecken von Hunger und Krieg zu entkommen. Einem Krieg wie dem Assads, der, wie die aktuelle Enthüllung der Panama Pa­ pers beweist, nur möglich ist, weil skrupellosen Geschäftema­chern Geldgeschäfte wichtiger sind als Men­schenrechte. Geschäftemacher, denen das Leid von Millionen Menschen egal ist, wenn nur die Kasse stimmt. Die Verzweifelten von heute: Auch hoffen auf das Gelobte Land: Für sie heißt es Europa. Und mit einem Bild der Hoffnung beginnt der Roman: Ich starrte auf das Schiff. Es lag ein Stück vom Quai entfernt, grell beleuchtet, im Tejo. Obschon ich seit einer Woche in Lissabon war, hatte ich mich noch immer nicht an das sorglose Licht dieser Stadt gewöhnt. In den Ländern, aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben [...]. Das Schiff war ein Passagierdampfer...Im harten Licht der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven, Brot und Gemüse verstaut...Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche.Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich... Wer von hier das gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren.14

Remarque verwendet hier zwei alttestamentliche Bilder der Hoffnung: Einmal die Arche Noah. Aber sie erscheint nicht im sanften Licht, sondern grell beleuchtet im harten Schein der nackten elektrischen Birnen.

14 Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2002, 5f. Im Folgenden zitiert als NvL.

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Und dann das gelobte Land, Rettung des Volkes Israel, das Moses nur schauen, aber nie betreten durfte. Die beiden Bilder fassen die Situation des Flüchtlings zusammen: Todesangst und Hoffnung auf Rettung wider alle Vernunft. Sie verweisen uns heute auf die Bilder von Flüchtlingen, die ihre letzte Hoffnung auf die Rettung übers Mittelmeer setzen. Die Nussschalen, die dem Meer trotzen sollen: Sie sind die modernen Archen Noahs. Angst und Hoffnung finden sich auch im Hauptmotiv des Romans wieder: Im Pass. Hier das berühmteste Bild Nussbaums: Selbstbildnis mit Judenpass Remarques Beschreibung der Pass- und Visum-Probleme, der lega­len und illegalen Grenzübertritte, sie ist Thema auch anderer Exilromane. Lion Feucht­wangers Roman Exil, Klaus Manns Roman Tanz auf dem Vulkan und in Anna Seghers Roman Transit: Sie alle beschreiben die Ohnmacht der Flüchtlinge angesichts der willkürlichen Transitbürokratie. Der Pass wechselt drei Mal seinen Besitzer und trägt bezeichnenderweise das Ge­burtsdatum Remarques, den 22. Juni 1898. Er steht für die Entwürdigung des Emigranten durch Staat und Bürokratie, wenn es heißt: Der [Flüchtling] musste verbluten im Gestrüpp der verweiger­ten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokra­tie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemei­nen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles.15

Visa und Pässe: Auch heute ist ein Flüchtling nichts wert, der seine Papiere auf der Flucht verloren hat. Der Roman Die Nacht von Lissabon ist ein Roman wider das Verdrängen und Vergessen, ein Roman, der die Erinnerung festhalten will. Davon zeugt am Ende des Romans das Bild von der kleinen Mücke, vor tausenden von Jahren in ihrem Todeskampf in Bernstein einge­schlossen wie in einem »Käfig aus goldenen Tränen, in dem sie er­halten geblieben war, während die anderen ihresgleichen gefressen und erfrieren und verschwunden waren«.16

15 NvL, 6. 16 NvL, 310.

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»Unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen«, sagt Schwarz zu seinem Zuhörer. »Es versucht das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens.« Diese Textstelle verweist auf das Jahr der Veröffentlichung des Romans 1961/62. Sie beschreibt den Anfang der 60er Jahre: Die Zeit des Mauerbaus, des Wirt­schaftswunders und des Kalten Krieges, die Zeit des Verdrän­gens und Vergessens. Man hörte lieber Schlager wie Weiße Rosen aus Athen mit Nana Mouskouri, Hit des Jahres 1961, als die mahnende Stimme Erich Maria Remarques, der als Nestbeschmutzer beschimpft wurde. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit fand nicht statt. Der Nationalsozialismus als Naturkatastrophe, das Abschieben der Verantwortung auf einige wenige – das war der allgemeine Konsens der 60er Jahre. Dieser öffentlichen Verdrängung setzt Remarque seinen Roman Die Nacht von Lissabon entgegen. In einem Zeitungsinterview von 1962 spitzt Remarque selbst die Absicht seines Romans so zu: »Man kann alten Dreck nicht vergraben – er fängt immer wieder an zu stinken.«17 Der vierte und letzte Exilroman: Das gelobte Land – »Die Stadt quälte, lockte, höhnte, versprach und hielt nichts«18 Der Roman Das gelobte Land, an dem Remarque bis zu sei­nem Tod im September 1970 arbeitete, bietet ein schillerndes Bild des New York der Vierzigerjahre, der Weltmetropole, Kunststadt und Emigrantenhochburg. New York ist die zentrale Metapher dieses Romans, mit dem »wilden Geruch der Freiheit, [...] laut, fremd und unbeteiligt, [...] eine strahlende gewalt­tätige Monstranz.«19 Und gleichzeitig beschreibt der Roman die traumatischen Erinnerungen an die Flucht und stellt die Frage, ob ein Leben angesichts des Holocaust moralisch überhaupt möglich sei, wenn der Ich-Erzähler Ludwig Sommer fragt: »Gab es das: Noch einmal neu anfangen...ohne dass es Verrat würde und doppelter Mord an den Toten?«20

17 »Erich Maria Remarque, So denk’ ich an Deutschland«. Zürcher Woche, 30.11.1962. 18 Erich Maria Remarque. Das gelobte Land. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010, 11. Im Folgenden zitiert als GL. 19 GL, 36. 20 GL, 37.

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Angst, Verzweiflung und Hoffnung in Erich Maria Remarques Exilromanen

»Wenn man die vier Exilromane in der Zusammenschau be­trachtet, schwindet die Hoffnung auf ein neues Leben der Emi­granten nach ihrer Entwurzelung von Roman zu Roman«, schreibt Tilman Westphalen in seinem Nachwort zu Das gelobte Land.21 Und damit auch die Hoffnung auf das »starke Herz«, das man braucht, »um ohne Wurzel zu leben«, wie Re­marque es im Motto des ersten Romans noch formuliert hat. Denn was ist, fragt Remarque in einem Interview von 1962 »ein Schriftsteller ohne Vaterland? Worüber soll er denn schreiben? Woher seine Nahrung nehmen?«22 Und in einem Interview zu seinem 70. Geburtstag 1968 sagt Erich Maria Remarque: Es gibt keine Rückkehr aus dem Exil. Übrigens sind wir eine Emigrantengeneration – ob wir weggegangen oder zu Hause geblieben sind. Die Füße der einen trugen sie aus Deutschland hinaus, unter den Füßen der anderen ist Deutschland wegge­ gangen.23

Ich möchte schließen mit dem Gedicht von einem, der ein starkes Herz bewahrt hat, obwohl er Flucht und Verlust der Heimat kannte. Es ist Mahmud Darwisch, der große palästinensische Dichter, der wie kaum ein anderer Trauer, Sehnsucht und Hoffnung derer, die ohne Wurzel leben müssen, in Worte gefasst hat: Deine Worte waren wie Schwalben Deine Worte waren wie Schwalben, die aus meinem Hause flogen. Auch die Tür wanderte aus, zurück blieb die herbstliche Schwelle, nach der ich mich sehne. Unsere Spiegel sind zerbrochen, unsere Traurigkeit wurde so groß. Wir trugen die Töne zusammen verstreut in alle Winde und gedachten der Heimat nur in Klageliedern. 21 Tilman Westphalen. »Nachwort«. Erich Maria Remarque. Das gelobte Land. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019, 435. 22 »So denk’ ich über Deutschland«. Zürcher Woche, 30.11.1962. 23 »Umstellt, umlagert und umdroht. Ein Geburtstagsgespräch mit Erich Maria Remarque«. Erich Maria Remarque zum 70. Geburtstag. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1968, 7.

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Lioba Meyer

Lasst uns ihren Namen gemeinsam in das Herz der Gitarre pflanzen. Auf den Dächern unseres Unglücks wollen wir ihn spielen dem zerstörten Mond und den Steinen. Doch ich vergaß, vergaß, ihr Name ist unbekannt.

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Reinhold Mokrosch

Religion – auch eine Fluchtursache? Die brutale Verfolgung religiöser Minderheiten in Syrien

Drei Vorbemerkungen 1. Mit dem Titel »Religion – auch eine Fluchtursache?« beziehe ich mich auf Opfer und Täter. Opfer sind Minderheitsreligionen, – in Syrien Christen, Jesiden, Mandäer und Schiiten –, die brutal verfolgt werden. Und Täter sind diejenigen, die dieser Verbrechen wegen ihrerseits verfolgt werden. 2. Ich möchte mich im Folgenden auf Syrien konzentrieren, weil die religiösen Verfolgungen in dem seit 2011 andauernden grauenhaften syrischen Bürgerkrieg besonders eklatant und prototypisch für andere Staaten und Religionen sind. Und die Daten zu religiösen Verfolgungen in Syrien sind besonders präzis und zuverlässig recherchiert. 3. Ich stütze mich dabei auf den Weltverfolgungsindex (WVI), der zu Syrien regelmäßig Daten auflistet. Andere Quellen stehen mir z.Zt. nicht zur Verfügung. Warum verfolgen Religionsgemeinschaften Religionsgemeinschaften? Erstaunlicherweise verüben gewalttätige Religionsangehörige weitaus mehr Terroranschläge gegen Religionsgemeinschaften als gegen gesellschaftspolitische Einrichtungen. Und noch erstaunlicher ist es, dass die meisten dieser Terrorakte innerhalb ein und derselben Religion, z.B. zwischen Schiiten und Sunniten, wie früher zwischen Katholiken und Protestanten, ausgeübt werden. Was sind die Gründe für solche Gewaltakte? Ich nenne drei mögliche Motive: Eine große Rolle spielen zum ersten die Offenbarungsschriften, die angeblich zur Gewalt besonders gegen Andersgläubige aufrufen. Radikale Muslime berufen sich gerne auf Medina-Suren, z.B. auf Sure 9,29: »Bekämpft diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben…und die nicht die wahre Religion befolgen unter denen, denen die Schrift gegeben worden ist – bis sie den Tribut 103

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bezahlen.« Radikale Juden beziehen sich gerne auf die Amalekiter-Passage, in der Gott einen Völkermord an den Amalekitern befiehlt 1. Sam 15, 2f: »So spricht der Herr Zebaoth: Ich habe bedacht, was Amalek Israel angetan und wie es ihm den Weg verlegt hat, als Israel aus Ägypten zog. So zieh nun hin und schlag Amalek und vollstrecke den Bann an ihm und an allem, was es hat. Verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel.« Und Christen zitieren gern Mt 10 34: Christus spricht: »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen auf der Erde…, sondern das Schwert.« Alle Zitate werden ohne Kontext und ohne Einsicht in die religiöse Symbolsprache der Antike wortwörtlich übernommen und bruchlos vom 8. Jahrhundert vor Christus in das 21. Jahrhundert nach Christus transferiert. Und die Menge der zum Friedenstiften aufrufenden Offenbarungspassagen werden verleugnet. Ein zweiter Grund sind die gewaltausübenden Machtinteressen der Religionsangehörigen und evtl. bereits der Autoren der Offenbarungsschriften. Eine bessere Legitimation für kriminelle Gewalttaten als religiöse Offenbarungstexte kann es ja nicht geben. Um andere als die zitierten Beispiele zu nennen: Z.B. Der Gott des Moses hat uns das gelobte Land vom Hermes bis zum Sinai verheißen. Das müssen wir durchsetzen, argumentieren radikale Juden! Oder: Allah hat uns aufgetragen, ein theokratisches Kalifat allein mit Rechtgläubigen, d.h. Sunniten, zu gründen. Das setzen wir mit Gewalt durch, kündigen gewaltbereite Sunniten an. Oder: Jesus hat uns aufgetragen, alle Menschen zu taufen. Deshalb führen wir Kreuzzüge, verkünden radikale Christen. Bessere Begründungen für territoriale Machtansprüche kann es kaum geben. Die angeblich religiös begründeten Machtansprüche von Religionsangehörigen legitimieren brutalste Gewalt. Und ein dritter Grund: Wenn eine Religion zur Ideologie depraviert wird, dann wird sie gewalttätig; bzw. umgekehrt: Wenn eine Religion gewalttätig wird, dann ist sie zur Ideologie depraviert worden. Ideologie ist das falsche Bewusstsein, dass eine Religion nur aus einer einzigen, zudem falsch interpretierten Idee besteht, – eben wie gesagt: der Idee, ein Groß-Israel als Gottes Reich zu gründen; ein sunnitisches Kalifat zu errichten; oder Kreuzzüge durchzuführen. Dabei wird der Religion jegliche Transzendenz genommen. Und der Symbolcharakter dieser religiösen Vorstellungen wird geleugnet zugunsten einer realen Errichtung von sog. Reich-Gottes-Einrichtungen auf Erden. Diese drei Gründe – angebliche Offenbarungsstellen, die Gewaltbereitschaft von Religionsangehörigen und die Ideologisierung von Religionen – sind Hauptmotive, warum Religionsgemeinschaften Religionsgemeinschaften verfolgen. In Syrien lässt sich das täglich mit Händen greifen.

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Ein Einblick in religiöse Gewalt und Verfolgung weltweit Bevor ich aber auf Syrien komme, möchte ich auf religiöse Verfolgungen weltweit blicken, um Syrien einordnen zu können. Noch niemals ist die Verfolgung von Christen weltweit so radikal und so brutal gewesen wie in unserer Gegenwart. Noch niemals sind Jesiden so gewaltsam und brutal verfolgt worden wie z.Zt im Irak und in Syrien. Noch niemals sind Mandäer so grausam verfolgt worden wie z.Zt. besonders in Syrien, in Afghanistan und im Irak. Und seit Jahrhunderten schwelten niemals so grauenhafte Kriege zwischen Sunniten und Schiiten wie in unserer Gegenwart. Konkret: Der WVI schätzt, dass im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert über 100 Millionen Christen in 133 Ländern verfolgt und vernichtet wurden und werden. Damit gehen 75% aller religiösen Verfolgungen durch (meistens) Religionsangehörige auf Verfolgungen gegen Christen. Das resultiert auch daraus, dass das Christentum die weltweit verbreitetste Religion ist, auch wenn Christen in den muslimisch geprägten Ländern jeweils in der Minderheit sind. Unter den ersten sechs der erwähnten 133 Ländern befinden sich in der Reihenfolge der Radikalität der Christenverfolgung: 1. Nordkorea, wo Christen aus kommunistisch-ideologischen Gründen verfolgt werden; 2. Irak, wo Christen aus pseudo-religiösen Gründen verfolgt werden; 3. Eritrea, wo Christen aus politischen Gründen sowohl vom Staat als auch vom Islam vernichtet werden; 4. Afghanistan, wo Stammesdenken die Verfolgung prägt; 5. Syrien, wo angebliche staatliche Bevorzugung der Christen (und Aleviten) zu deren Verfolgung durch Islamisten führt; und 6. Pakistan, wo die Machtpolitik des Tribalismus das entscheidende Motiv für Christenverfolgung ist. Christenverfolgung in Syrien steht also an 5. Stelle. Aber das wird sich während des grauenhaften Bürgerkrieges noch erhöhen! Unter den nächstfolgenden, Christen verfolgenden Staaten befinden sich Ägypten, Indien (besonders der Staat Orissa), Malaysia und Indonesien und etwas später auch die Türkei. Überall wird das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit mit Füßen getreten zugunsten von Religions- und Weltanschauungszwang. Die Verfolgung von Jesiden und Mandäern (besonders in Syrien) machen weltweit eine kleine Prozentzahl aus, weil sie Minderheits-Religionen sind. Gleiches gilt für Bahai-Angehörige, die im Iran schwerste Diskriminierung und Gefängnis zu erleiden haben, und auch für Aleviten und Ahmadyyas, die weltweit ebenfalls in der Minderheit sind. Und die Konfessionskriege zwischen Sunniten und Schiiten, besonders in Syrien, Afghanistan und Irak, sind, wie schon erwähnt, seit Jahrhunderten nicht mehr so grausam gewesen, wie in unserer Gegenwart. Dabei spielt der Islamismus auf beiden Seiten eine neuartige große Rolle. Das Sunnitentum oder das Schiitentum wird zu einer Gewalt-Ideologie mit dem Ziel der Errichtung eines Kalifats in Syrien und im Irak (ISIS) depraviert, was es in dieser Gewaltorgien-Radikalität bisher noch nie gegeben hat. 105

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Ein Einblick in die religiöse Gewalt in Syrien Seit der Ausrufung eines sunnitischen Kalifats unter dem Kalifen Al Baghdhadi in Syrien im August 2014 werden Christen, Jesiden, Mandäer, Aleviten und Schiiten systematisch gejagt, enteignet, exiliert und hingerichtet. Entsprechend der oben zitierten Sure 9,29 (»Bekämpft diejenigen, die nicht an Gott und den Jüngsten Tag glauben…«) werden sie aufgefordert, zum Islam überzutreten und ein Lösebzw. Schutzgeld in beträchtlicher Höhe zu zahlen. Verweigern sie das, werden sie geköpft. Der Koranvers »Bekämpft sie« wird also radikalisiert zu »Ermordet sie!« bzw. »Köpft sie!« Die Islamisten halten sich nicht einmal wörtlich an den Koran, sondern übertrumpfen Allahs Gebote. Die Täter dieser Gewalttaten in Syrien entstammen folgenden Gruppierungen: 1. Es sind sunnitisch-islamistische Extremisten aus dem sog. IS bzw. ISIS und aus der al-Nusra-Front. Sie gehören zu den Oppositionsgruppen, die gegen das Assad-Regime Krieg führen. Sie haben den Islam in eine Ideologie verwandelt. Allerdings beziehen sie sich nur selten auf den Koran, – weil sie ihn in der Regel meist gar nicht kennen. Ihr machtpolitischer Geltungsdrang bestimmt ihr Handeln. Sie machen 80% der religiösen Gewaltextremisten aus. 2. Eine andere Gruppierung sind exklusive Stammesideologen, welche diejenigen Stämme bekämpfen, in denen sich Christen, Jesiden, Mandäer, Aleviten oder Schiiten befinden. Ihnen ist nicht nur die sunnitische Konfession, sondern auch der jeweilige Stamm, der rein erhalten bleiben soll, wichtig. Sie verfolgen und morden also nicht allein aus (pseudo-)religiösen, sondern auch aus stammesideologischen Gründen. Sie machen – laut WVI – 10% der religiösen Gewalttäter aus. 3. Eine weitere Gruppe sind organisierte Kriminelle, welche Christen entführen und immense Lösegeldsummen fordern, weil sie Christen in Syrien für reich und wohlhabend halten – was vor dem Bürgerkrieg auch zutraf. Sie handeln nicht aus religiösen oder (stammes-)politischen, sondern allein aus korruptions-kriminellen Motiven. Sie machen wiederum 10% der Verbrechen aus. 80% fallen also auf sunnitische Islamisten. Warum vernichten diese Andersgläubige, besonders Christen? Reichen die von mir bisher genannten sechs Gründe, nämlich Berufung auf angebliche Offenbarungsstellen, Machtfanatismus der Religionsangehörigen, Ideologisierung von Religionen, Verpflichtung zur Errichtung eines Kalifats, weitere machtpolitische Interessen und Neid auf angebliche Bevorzugungen der Christen durch das Assad-Regime, aus? Ich stelle fest, dass Christen auch dann verfolgt werden, wenn sie dem Islam nahestehen und ihn voll anerkennen: Es ist doch z.B. offenbar, dass viele Christen sich keineswegs vom Assad-Regime haben schützen lassen, sondern dass sie in der Opposition gegen Assads Diktatur mitgekämpft haben. Trotzdem werden sie verfolgt. Es ist ebenso 106

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offenbar, dass besonders evangelikale und pfingstlerische Christen, welche den Muslimen ihres wörtlichen Glaubens wegen eigentlich nahestehen sollten, besonders verfolgt werden, weil man ihnen unterstellt, mit dem verhassten Westen besonders verbunden zu sein. Es ist ebenso offenbar, dass vom Islam zum Christentum konvertierte Gläubige besonders verstoßen und verfolgt werden, z.T. sogar von ihren eigenen Familien. Und es ist offenbar, dass nicht nur extremistische Islamisten, sondern auch normale muslimische Bürgerinnen und Bürger Christen gerne unterdrücken. Sie verbieten ihnen den Gesang in ihren Gotteshäusern. Sie verbieten ihnen jeglichen Alkohol, – auch beim Abendmahl. Sie zwingen sie, islamische Speisevorschriften zu beachten. Sie zwingen sie, islamische Kleidungsvorschriften, besonders Kopftuch oder Burka für christliche Frauen, zu beachten. Sie akzeptieren, dass christliche Frauen vergewaltigt werden, weil sie das – horribile dictu – angeblich »reinige«. Und sie akzeptieren, dass in Syrien bereits 400 Kirchen und Kapellen zerstört worden sind. Und es ist schließlich offenbar, dass besonders solche Christen – z.B. aus der syrisch-orthodoxen Kirche Antiochiens – verfolgt werden, welche den islamisch-christlichen Dialog suchen und damit den Islam voll anerkennen. Warum werden auch solche Christen verfolgt, die dem Islam nahestehen und ihn voll anerkennen? Weil, wie ich überzeugt bin, überall Rassismus mit im Spiel ist. Christen und andere Andersgläubige sind eben Feinde des Islam, mögen sie den Islam noch so sehr schätzen und anerkennen. Rassismus ist m.E. die Wurzel aller oben genannten sechs Gründe für islamistischen Terror und Verfolgung. Ein anthropologischer Rassismus ist die Urquelle (pseudo-)religiöser, politischer und korruptions-krimineller Gewalt. Warum werden Muslime von Christen verfolgt? Dafür spricht auch, dass weltweit (weniger in Syrien) auch Muslime von Christen verfolgt werden. In Deutschland z.B. zündeten getaufte Christen aus Pegida und AfD in 2014–2016 über 400 (!!) Flüchtlingsheime mit muslimischen Zuwanderern an. Sie jagten und jagen Muslime und forderten und fordern – so die »Christliche Mitte« – dass alle Muslime aus Deutschland ausgewiesen werden. Hier spielen weder religiöse noch machtpolitische, sondern rassistische Motive eine Rolle. Eine Reinhaltung deutscher Rasse und Kultur ist das Leitmotiv für solchen Terror. Deshalb wiederhole ich, dass Rassismus, der sich in fast allen Religionen, Ethnien und politischen Bereichen finden lässt, die primäre Quelle für religiös motivierten Gewalt-Terrorismus ist. Die genannten sechs weiteren Motive entspringen dieser Hauptquelle als sekundäre Quellen. Freilich spielt Rassismus in arabischen, europäischen, US-amerikanischen, süd-amerikanischen u.a. Kulturen und in muslimisch, christlich, jüdisch, buddhistisch oder hinduistisch geprägten Ländern eine je unterschiedliche Rolle. Aber er spielt eben eine entscheidende Rolle. 107

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Kann christlicher Glaube die (rassistisch motivierte) pseudo-religiöse Gewalt mindern oder gar stoppen? Das ist eine entscheidende Frage. Der gläubige Christ hofft, dass seit der Geburt Jesu Christi eine vermehrte Friedensstiftung durch Christen u.a. in der Welt möglich wird. Dietrich Bonhoeffer z.B. glaubte, dass Frieden möglich sei, seitdem Gott Mensch geworden ist. Er glaubte, »dass Frieden möglich« sei. Ob Frieden wirklich werde, hinge vom Widerstandsengagement, Pazifismus, Friedens- und Versöhnungseinsatz der Christen ab. Er selbst hat das in einer Zeit praktiziert, in der Mord, Diskriminierung, Denunziation, Hass und Selbstjustiz vom Staat geforderte und geförderte Tugenden waren. Er hatte Frieden mitten im Vernichtungskrieg gestiftet, weil er glaubte, dass Frieden möglich sei. Das hat bis heute Vorbildcharakter. Nicht auf der großen Weltbühne, sondern im überschaubaren Alltag in überschaubaren Regionen ist der Kampf gegen rassistische Gewalt zu führen. Bonhoeffer lebte aus dem Frieden des Mensch gewordenen Gottes Jesus Christus als er formulierte: »Jesus hat am Kreuz Frieden geschaffen mit allen unseren Feinden. Diesen Frieden wollen auch wir weitergeben.«

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Frieden als kosmische Aufgabe der menschlichen Gemeinschaft

Einleitung Der Islam stellt seine Lehre als Botschaft an alle Menschen und als eine Fortführung aller göttlichen Offenbarungen, der Thora, der Psalmen und des Evangeliums, dar. Er betont somit den einheitlichen Ursprung aller monotheistischen Religionen. Neben dem Glauben an den einen Gott liegt eine weitere signifikante Gemeinsamkeit in der Vorstellung von der Erschaffung des Menschen, sowie darin, dass alle Menschen von Adam und Eva abstammen.1 Dieser Gedanke ist die Basis für die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen, aus dem auch die Bedeutung der menschlichen Würde resultiert. Der Gleichheitsgedanke als zentraler Bestandteil der islamischen Ethik spiegelt sich auch in einem Sozialsystem wieder, dessen erklärtes Ziel es ist, »alle Unterscheidungen von Kaste, Rang und Rasse zu beseitigen; und das bei sorgfältiger Betrachtung der Angelegenheiten dieser Welt doch einen Geist der Nicht-Weltlichkeit befördert, der so absolut wichtig für den Menschen in seinen Beziehungen mit seinen Nachbarn ist.«2 So lässt sich generell feststellen, dass die islamischen Quellen stark vom Gedanken der Gleichheit aller Menschen und von deren Einheit inspiriert sind. Dieser Einheitsgedanke wird dabei von der Universalität der Lehre des Islam unterstützt. Beide Aspekte finden sich etwa in der Erinnerung an die Traditionslinie der Propheten, von denen Muhammad der letzte Gesandte war, wie in Vers 92 der Sure al-anbiyā’ (21): »Diese eure Gemeinschaft ist eine einheitliche Gemeinschaft; und Ich bin euer Erhalter, darum betet mich an.«3 1 »O Menschen! Siehe, Wir haben euch alle aus einem Männlichen und einem Weiblichen erschaffen«. Sure al-Huğurāt (49), Vers 13. 2 Mohammad Iqbal. Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Übers. von Axel Monte und Thomas Stemmer. Berlin 2006, 19. 3 Sure al-anbiyā’ (21), Vers 92.

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Auch im berühmten Prophetenwort, das durch Abū Dāwūd (gest. 888 n.Chr.)4 überliefert wurde, wird betont, dass die Menschen als eine Gemeinschaft gesehen werden sollen. Der Prophet kritisiert darin deutlich die Absicht, sich aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe Vorteile zu verschaffen: »Der gehört nicht zu uns, der die Sache der Stammesparteilichkeit [arab. aşabīya] vertritt; und der gehört nicht zu uns, der für die Sache der Stammesparteilichkeit kämpft; und der gehört nicht zu uns, der für die Sache der Stammesparteilichkeit stirbt.«5 Aus dieser universalen Humanität, die der islamischen Lehre eigen ist, muss doch ein effektives Ideal im tatsächlichen Leben ausgearbeitet werden, indem der Handel und die Zusammenarbeit der Völkergemeinschaft an Ziele und Arbeitsfelder gebunden werden, die Gleichheit und Einheit aller Menschen erfahrbar werden lassen. Förderung der gegenseitigen Verständigung innerhalb der Völkergemeinschaft O Menschen! Siehe, Wir haben euch alle aus einem Männlichen und einem Weiblichen erschaffen, und haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander kennen lernen möget. Wahrlich, der Edelste von euch in der Sicht Gottes ist der, der sich Seiner am tiefsten bewusst ist. Siehe, Gott ist allwissend und allkundig.6

Dieser Vers lehrt die Gleichheit der Menschheit, die in der einen Wesenheit und ihrem gleichen Ursprung begründet ist. Dieser Geist der Gleichheit trachtet nach einer menschlichen Einheit, die über jegliche äußerliche Unterscheidung erhaben ist, so dass diese Entwicklung zu Nationen und Stämmen den gemeinsamen Wunsch der Menschen nach Einheit und Gemeinsamkeit stärkt und nicht abschwächt.7 Dementsprechend wird im Koran jede rassistische, völkische oder tribalistische Gesinnung (arab. aşabīya) missbilligt. Die wirkliche Unterscheidung zwischen den Menschen ergibt sich, nach dem Vers 21/92, einzig und allein durch den Maßstab der Integrität und Sittlichkeit. Ähnlich verurteilt der Prophet jedwede Verherrlichung nationaler Angehörigkeit oder einer Stammeszugehörigkeit, er sagt: »Siehe, Gott hat den Hochmut der heidnischen Unwissenheit [al-ğāhilīya]

4 Vgl. Muhammad Ibn Ahmad Ibn Šamsuddīn. Utmān ad-Dahabī: sīyar alām an-nubalā. Band 13. Beirut 1991, 204ff. 5 Berichtet von Abū Dāwūd, Kitāb al-adab, Bāb fi l-aşabīya (Hadīt-Nr.: 5123). 6 Sure al-Huğurāt (49), Vers 13. 7 Vgl. Leopold Weiss. Die Botschaft des Koran, 980.

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Frieden als kosmische Aufgabe

mit ihrer Prahlerei mit dem Ruhm der Vorfahren von euch hinweg genommen […]. Alle Menschen sind Kinder Adams, und Adam wurde aus Staub erschaffen.«8 Zudem enthält der obige Vers, im Einklang mit dem Allgemeingeist des Koran, eine normative Aussage, nach der Annäherung und Verständigung durch gegenseitiges Kennenlernen (arab. at-ta’āruf) Ziel und Zweck der menschlichen Vielfalt seien. In diesem Kontext kommt der Zusammenarbeit der verschiedenen Nationen und der Kooperation der Völker eine entscheidende Bedeutung zu. Die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen und auch der Völker voneinander ist demnach nicht als bloße Notwendigkeit der Natur zu verstehen, sondern hierin liegt eine Absicht der Schöpfung. Denn diese Vielfalt und Verschiedenartigkeit finden sich in verschiedenen Bereichen dieser Welt. Auch sind die natürlichen Ressourcen, von denen alle Menschen abhängig sind, dergestalt auf der Erde verteilt, dass eine Kooperation der Menschen untereinander notwendig ist. In dieser Tatsache sind im Übrigen auch die Spezialisierung und Arbeitsteilung, die ja als Grundprinzipien der modernen Wirtschaftsordnung gelten, begründet. Diese Gegebenheiten befördern etliche Interaktionsprozesse durch den Austausch von Informationen, Waren und Dienstleistungen zwischen Nationen, die auch einen kulturellen Austausch mit sich bringen, was eine Bereicherung jedweder Kultur darstellt. Das wachsende Verständnis der Menschen füreinander trotz unterschiedlicher Herkunft und Zugehörigkeit trägt unmittelbar zu einer dauerhaften Befriedung des Globus bei. Die islamischen Quellen, indem sie die Zwecke der menschlichen Vielfalt und der Diversität der Völker nur allgemein umreißen, ohne jedoch detailliert alle Möglichkeiten zu benennen, mit denen diese Zwecke zu erfüllen seien, stecken den Handlungsrahmen ab, ohne auf die Flexibilität zu verzichten, die nötig ist, um Belange in einer Welt mit geographischer Weite und historischer Tiefe zu berücksichtigen. Zugleich betont der Koran die Bedeutung der Gerechtigkeit als wichtigen moralischen Standard, den die Gläubigen stets zu erfüllen versuchen, da selbst unter Menschen, die gewillt sind zu kooperieren, aufgrund divergierender Interessen und menschlicher Unzulänglichkeit, Konkurrenzgefühle, Streit oder sogar Feindseligkeiten entstehen könnten. Der Koran sagt: »O ihr, die ihr glaubt! […] Der Hass gegen eine Gruppe soll euch nicht [dazu] verleiten, anders als gerecht zu handeln. Seid gerecht: dies ist dem am nächsten, gottesbewusst zu sein.«9

8 Berichtet von at-Tirmidī, Kitāb at-tafsīr, Bāb sūrat al-Huğurāt (Hadīt-Nr.: 3270). 9 Sure al-Mā’ida (5), Vers 8.

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Die menschliche Gemeinverantwortung versus das Konzept des Gottesvolkes Die einzigartige Stellung des Menschen unter den Geschöpfen Gottes wird im Koran an vielen Stellen betont. Sie erklärt sich daraus, dass der Mensch als Statthalter Gottes angesehen wird.10 Gott hat den Menschen die Erde anvertraut und ihnen das hohe Gut der Vernunft und des Willens vermacht.11 Daraus ergibt sich die Verantwortung der Menschen für die Schöpfung, was der arabische Begriff Hilāfa abbildet. Durch die Fähigkeit des Menschen zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse und zur freien Wahl seiner Handlungen ergibt sich die Verpflichtung zu moralischem Handeln. Im Koran heißt es dazu: »Sprich: Wirkt! Gott wird euer Wirken sehen, und so [auch] Sein Gesandter und die Gläubigen.«12 Auch wenn über die genaue Ausgestaltung der Verantwortung des Menschen in den verschiedenen theologischen Strömungen Uneinigkeit herrscht, stellt dieses Konzept für die Gläubigen eine tragfähige Deutung der kosmologischen Gesamtheit der Wirklichkeit des Universums und der Stellung des Menschen in ihm dar.13 Solch ein Verständnis impliziert keine Abwertung des Menschen, im Gegenteil, es gewährt ihm Ehre und Würde. Außerdem wird ihm die Fähigkeit prädiziert seine Handlungen sowohl im Guten als auch im Schlechten selbst zu bestimmen: Im tiefsten Sinn ist die Fähigkeit des Menschen, unrecht zu handeln, eine Begleiterscheinung seiner Fähigkeit, recht handeln zu können: Mit anderen Worten, es ist diese innewohnende Polarität von Neigungen, die jeder »rechten« Entscheidung einen Wert verleiht und damit den Menschen mit einem moralischen freien Willen versieht.14

Im Koran heißt es über diesen Dualismus, der den menschlichen Handlungsoptionen innewohnt:

10 »Und als dein Erhalter zu den Engeln sprach: Wahrlich, Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen.« Sure al-Baqara (2), Vers 30; und: »Er ist es, Der euch zu Statthaltern auf Erden gemacht hat. Wer nun ungläubig ist, dessen Unglaube lastet auf ihm.« Sure Fātir (35), Vers 39. 11 »Wahrlich, Wir hatten das anvertraute Gut [Vernunft und Wille] den Himmeln und der Erde und den Bergen dargeboten, aber sie weigerten sich, es zu tragen, sie scheuten sich davor. Doch der Mensch trug es.« Sure al-Ahzāb (33), Vers 72. 12 Sure at-Tauba (9), Vers 105. 13 Vgl. Atīya, Ğamāluddīn: Nahwa taf ‘īl maqāşid aš-šarī‘a, 167. 14 Vgl. Leopold Weiss. Die Botschaft des Koran, 1166.

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Frieden als kosmische Aufgabe

»Und bei einer [jeden menschlichen] Seele und bei dem, der sie gebildet; und ihr den Sinn für ihre Sündhaftigkeit und für ihre Gottesfurcht eingegeben hat! Wahrlich, erfolgreich ist derjenige, der sie rein hält; und wahrlich, versagt hat derjenige, der sie verkommen lässt.«15

Gott selbst, so überliefert der Koran, weist immer wieder darauf hin, etwa wenn er fragt: »Haben wir ihm nicht zwei Augen gegeben, und eine Zunge und zwei Lippen? Und ihm haben wir die beiden Höhenwege [von Gut und Übel] gezeigt.«16 Mit dem Konzept der Statthalterschaft auf Erden (arab. Hilāfa), so die islamischen Gelehrten, biete der Islam allen Menschen, gleich welcher religiösen Überzeugung oder Gesinnung, eine gemeinsame Grundlage für die Zusammenarbeit und die Realisierung der gemeinsamen Verantwortung in dieser Welt. Er biete somit ein Korrektiv zum theologischen Konstrukt eines »auserwählten Gottesvolkes«, das in zahlreichen religiösen Lehren und Anschauungen verbreitet ist, und stelle somit eine humane Alternative dar.17 Die Wirksamkeit und die Möglichkeiten des völkerübergreifenden Miteinanders stellen Tag für Tag solche Unternehmen, Regierungs- und auch Nichtregierungsorganisationen unter Beweis, die Einigungen über gemeinsame Ziele und Aktionsprogramme erzielen und damit eine übernationale Kooperation erleben. Schließlich gibt es bestimmte natürliche Interessen und Bedürfnisse, die allen Menschen gemeinsam sind.18 Zu den Bereichen der Zusammenarbeit zwischen den Menschen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe der kosmischen Statthalterschaft (Hilāfa) beitragen, gehören zum Beispiel die Bewahrung der Umwelt, die fruchtbare Besiedlung der Erde und eine dementsprechende nachhaltige Zivilisation. Im Koran heißt es: »Er hat euch aus der Erde hervorgebracht und ließ euch darauf gedeihen.«19 Die Tatsache, dass Gott in diesem und vielen anderen Koranversen die Menschen als Kollektiv anspricht, zeigt, dass die meisten Aufgaben und Lasten des Lebens nur in der Gemeinschaft zu bewältigen sind. Daher müssen die gemeinschaftliche Übernahme von Verantwortung und die Zusammenarbeit zwischen den Völkern die Antwort auf die voranschreitende Gefährdung der Lebenszusammenhänge dieser Welt sein. Sie sind die einzig angemessene Reaktion auf Phänomene und globale Probleme, die unsere Existenz bedrohen und daher unser kollektives Handeln herausfordern.

15 Sure aš-Šams (91), Vers 7–10. 16 Al-Balad (90), Vers 8–10. 17 Ahmad, ar-Rifāy’a: Ahammīyat maqāşid aš-šarī’a fī l-iğtihād. Amman 1992, 74. 18 Vgl. Ibn Abdissalām al-‘Izz. Qawā’id al-ahkām fī maşālih al-anām. Band 1. Kairo 1988, 5ff. 19 Sure Hūd (11), Vers 61.

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Habib El Mallouki

In einer defizitären Welt wie unsere, die in vielerlei Hinsicht nicht mehr im Gleichgewicht steht, muss der Mensch nach der islamischen Lehre der Schöpfung mit Liebe begegnen und durch sie einen Geist der Verantwortung erwecken, der sich in einer Verpflichtung zu gemeinsamem lebenserhaltendem Handeln und einer liebenden Sorge für eine gerechte, menschenwürdige und lebensfähige Mitwelt äußert.20

20 Der Prophet Muhammad sagt: »Kein Muslim sät etwas aus oder pflanzt etwas an, wovon Mensch oder Tier zehren, ohne dass es ihm als Sadaqa [Wohltätigkeit] gutgeschrieben wird.« Berichtet von al-Buhārī, Kitāb al-hart wa l-muzāra‘a, Bāb i‘tā‘ al-Fay‘ ’ala ad-diwān (Hadīt-Nr.: 2320); und »Wer einen Vogel oder irgend-etwas anderes ohne Recht tötet, der wird im jüngsten Tag darüber befragt werden.« Berichtet von an-Nasā‘ī, Bāb man qatala ’uşfūran biġairi haqqihā (Hadīt-Nr.: 4457); Ahmad Ibn Muhammad Ibn Hanbal. Musnad Imām Ahmad. Band 32. Kairo 1999, 220 (Hadīt-Nr.: 19470)].

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Der Trilogiecharakter von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Einleitung Die folgenden Überlegungen zu den Romanen Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden von Erich Maria Remarque beschäftigen sich mit den Inhalten der Romane und analysieren diese im Hinblick auf ihren Trilogiecharakter. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf einer Überprüfung der Gültigkeit einer Trilogie-Bezeichnung in Bezug auf alle drei Romane. Auch die in den Romanen thematisierte Nachkriegszeit und die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf diese Zeit werden berücksichtigt, kurz erläutert und miteinander verglichen. Zu Beginn erfolgt die Klärung der Frage nach den Charakteristika eines Trilogiebegriffs. Diese Einordnung ist für die spätere Analyse der Romane im Hinblick auf ihren Trilogiecharakter von besonderer Relevanz. Anschließend stehen besonders die Merkmale der Romane und ihre Eignung für eine Zuordnung zum Trilogiebegriff im Mittelpunkt des Interesses. Hier werden die Aspekte, die gegen eine Trilogie sprechen, ebenfalls thematisiert. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, warum gerade der dritte Roman mit einer zeitlichen Verzögerung erschienen ist. Im Anschluss daran sollen die Auswirkungen des Krieges auf die Nachkriegszeit thematisiert werden, die einen Großteil des Inhaltes der drei Werke bildet. Hierfür wird zunächst auf die Vorstellungen der Soldaten von der Nachkriegsgeneration in Im Westen nichts Neues eingegangen. Nachdem diese auch in den anderen beiden Romanen untersucht worden ist, werden die Situationen untereinander verglichen. Abschließend soll ein Fazit aus der Analyse gezogen und die Eingangsfrage beantwortet werden, ob es sich bei den drei Werken um eine Trilogie handelt.

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Lena Dust

Die Trilogie Der Begriff Trilogie kommt aus dem Griechischen und setzt sich aus den Wörtern tri für drei und lógos für Wort, Rede oder Geschehnis sowie Handlung zusammen. Bei einer Trilogie handelt es sich um »drei dramatische, epische oder lyrische Texte, die zusammen eine größere Einheit bilden«1. Trotz dieser Einheit und einiger Verknüpfungen, sind sie dennoch weitestgehend selbstständig.2 Gründe dafür, eine Trilogie zu verfassen, sind vielfältig. Sie können beispielsweise entstehungsgeschichtlicher oder inhaltlicher Natur sein. Ein Autor kann die Trilogie von Anfang an planen oder nachträglich entwickeln.3 Auch wenn drei Werke als Trilogie benannt werden, müssen sie nicht alle trilogische Strukturen aufweisen. Obwohl alle Teile meist unabhängig voneinander verständlich sind, ergeben sie als Ganzes eine Einheit aus drei gleichwertigen Werken.4 Oft werden die drei Teile durch einen gemeinsamen Haupthelden miteinander verbunden. Typisch für eine Trilogie ist meist auch, dass ihre drei Werke in relativ kurzer Zeit geschrieben worden sind und eine chronologische Reihenfolge besitzen.5 Was spricht für eine Trilogie? Wenn man die literaturwissenschaftlichen Diskussionen über die drei Werke Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden betrachtet, dann kann schnell festgestellt werden, dass es konträre Meinungen dazu gibt, ob die Romane eine Trilogie bilden oder nicht. Es sprechen einige Aspekte für eine Trilogie der Romane Remarques. Zunächst äußert sich der Autor selbst zu einem geplanten mehrteiligen Werk über den Ersten Weltkrieg. Dabei legt er Wert darauf, dass der Krieg nicht als isoliertes Ereignis beschrieben wird, sondern im Zusammenhang mit der Nachkriegszeit und seinen Folgen. Eine der wichtigsten Fragen, die er mit seinen Texten beantworten möchte, ist die, wie die Menschen nach einem Krieg, der ihr Denken und Handeln und damit auch alle menschlichen Werte verändert, leben und ob sie sich erneut

1 Christoph Fasbender, Dieter Burdorf, Burkhard Moenninghoff. »Trilogie«. Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung, Carl Ernst Poeschel, 2007, 780f. 2 Vgl. ebd., 780. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Horst Steinmetz. Die Trilogie. Entstehung und Struktur einer Großform des deutschen Dramas nach 1800. Heidelber: Carl Winter Universitätsverlag, 1968, 17, 27, 132. 5 Vgl. ebd., 51ff.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

in das zivile Leben integrieren können.6 Bereits in Im Westen nichts Neues klagen die Soldaten über den Krieg: »Weshalb ist denn überhaupt Krieg?« […] »Es muß Leute geben, denen der Krieg nützt.« […] »Keiner will es eigentlich und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt, die anderen behaupten dasselbe – und trotzdem ist die halbe Welt feste dabei.«7,

denn er bringt Folgen mit sich, die die zivile Gesellschaft zu tragen hat. Zahlreiche Soldaten lassen ihr Leben im Krieg oder kehren seelisch und körperlich verletzt zurück in die Heimat. Der Weg zurück setzt bei den Anklagen des Krieges aus dem ersten Roman ein und führt sie fort. Der Leser erfährt durch den Roman von den Folgejahren nach Kriegsende.8 Drei Kameraden beginnt nach Ende des zweiten Werkes und behandelt ebenfalls die Folgen des Krieges aus Sicht des Protagonisten Robert Lohkamp. Zwischen dieser Erzählung und dem Krieg liegen bereits einige Jahre; dadurch bekommt der Leser einen Einblick in die Langzeitfolgen des Krieges. Remarque möchte den Krieg nicht isoliert betrachten, hierdurch legitimiert er die beiden nachfolgenden Werke. Sie behandeln das gleiche Thema, den Krieg, auch wenn sie nicht identisch sind und befassen sich mit dessen Folgen für die Nachkriegszeit, sodass man die Romane als Teil einer Reihe verstehen kann. Auf diesen Aspekt geht die Arbeit im weiteren Verlauf detaillierter ein. Aus einem Notizblatt von 1927 geht hervor, dass Remarques ursprüngliche Konzeption auf eine Trilogie ausgerichtet ist. Den ersten Teil soll Im Westen nichts Neues bilden, während er für den zweiten und dritten Roman noch einen anderen Plan hat.9 Vor der Verwirklichung dieses Plans kommt es jedoch zu weitreichenden Änderungen, wodurch der zweite und dritte Roman durch Der Weg zurück ersetzt und somit »entstehungsgeschichtlich und konzeptionell untrennbar«10 mit Im Westen nichts Neues verknüpft werden.11 Drei Kameraden zeigt in Anknüpfung an die anderen beiden Werke das Einzelschicksal eines Heimkehrers12 und somit die länger andauernden Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen13. Einen

6 Vgl. Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 395. 7 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 182f. 8 Vgl. Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester: Camden House, 2006, 50. 9 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 395. 10 Ebd., 396. 11 Vgl. ebd. 12 Vgl. Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 575. 13 Vgl. Rikke Christoffersen. »Three Comrades – One Perspektive, Contextualizing Remarque’s Drei Kameraden with the two early war novels«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 15 (2005), 57.

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zusätzlichen Hinweis auf eine geplante Trilogie gibt der Prolog in Im Westen nichts Neues, in dem der Autor ein Ziel formuliert, welches erst mit Abschluss des dritten Romans erfüllt ist:14 Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.15

In diesen Zeilen wird deutlich, dass Remarque nicht die Absicht hat, eine isolierte Betrachtung des Ersten Weltkriegs zu verfassen. Die Erzählungen rund um den Krieg sollen an die daran anschließende Nachkriegszeit gebunden werden.16 Das aus dem Prolog von Im Westen nichts Neues entstandene Motto stellt eine Legitimation für die Werke Der Weg zurück und Drei Kameraden dar. Die Ziele des Prologs aus Im Westen nichts Neues sind für zahlreiche Kritiker nicht vor dem letzten Roman erfüllt, denn Drei Kameraden beschreibt die länger andauernde Zerstörtheit durch den Krieg und eine Möglichkeit, wie die überlebenden Soldaten nach dem Krieg leben.17 Nachdem Im Westen nichts Neues den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen thematisiert, besinnt sich Der Weg zurück auf grundlegende Werte im Leben und auf einen damit verbundenen Neuanfang nach dem Krieg. Drei Kameraden stellt die Haltbarkeit dieses Lebens in Frage.18 Es lässt sich demnach erkennen, dass sich durch alle drei Werke ein roter Faden zieht, sodass die Werke zwar in sich abgeschlossen sind, aber dennoch aufeinander aufbauen. Remarques Im Westen nichts Neues spielt in den Jahren 1917 und 1918. Der Weg zurück beginnt im Prolog genau nach dem Tod von Paul Bäumer im Jahr 1918, wodurch eine zeitliche Verknüpfung der beiden Werke entsteht.19 Die Tatsache, dass der zweite Roman zeitlich direkt an die Handlung des ersten anknüpft, kann ebenfalls dafür sprechen, dass die beiden Werke zusammengehören. Obwohl das dritte Werk diesen genauen Anschluss nicht besitzt, deutet die geringe Zeitspanne dennoch auf eine Trilogie hin. Zudem werden zu Beginn des dritten Romans die Jahre 1917 bis 1923 thematisiert und stellen so eine Verbindung zu den vorherigen Romanen her.20 Auch in einer ersten Fassung des dritten Romans wird der direkte Anschluss an den zweiten deutlich: 14 Vgl. ebd., S. 57. 15 Remarque, Im Westen nichts Neues, 5. 16 Vgl. Thomas F. Schneider. »Die Revolution in der Provinz, Erich Maria Remarque: Der Weg zurück (1930/31)«. Ulrich Kittstein, Regine Zeller (eds.). »Friede, Freiheit, Brot!«. Romane zur deutschen Novemberrevolution. Amsterdam, New York: Rodopi, 2009, 256. 17 Vgl. Christoffersen, 57. 18 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 575. 19 Vgl. Murdoch, The Novels, 32. 20 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 10f.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Das vorliegende Buch ist das dritte und letzte einer Reihe, zu der »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« gehören. Es hat im Grunde das gleiche Thema; die Frage, die in den ersten beiden Büchern für Hunderttausende gestellt wurde, kehrt hier wieder für einen einzigen Menschen. Es ist die Frage des Lebens und des Todes; die Frage: Warum?21,

dieser Abschnitt wird in der Endfassung gestrichen.22 Der Autor wählt jedoch den Titel Drei Kameraden, mit dem der Leser den Krieg assoziiert; damit schafft Remarque feine Verbindungen.23 Mit dem Titel wird eine Brücke zu den beiden anderen Werken geschlagen, indem sie die Kameradschaft thematisiert, die Remarque bereits in seinem ersten Roman aufgegriffen hat.24 Durch die Titel, die alle eine ähnliche Intention verfolgen, kann man eine weitere Gemeinsamkeit herausfinden. In allen drei Romanen weisen die Titel eine Doppeldeutigkeit auf.25 Vermutlich soll diese Tatsache die Leser zum Nachdenken anregen und dafür sorgen, dass das Gelesene nicht als gegeben hingenommen wird. Der Titel des ersten Romans lautet Im Westen nichts Neues und wird tatsächlich innerhalb des Werkes genannt. An Paul Bäumers Todestag ist es an der Westfront so ruhig, dass im Heeresbericht geschrieben wird, es sei im Westen nichts Neues zu berichten.26 Zum einen kann man diese Zeilen wörtlich nehmen. Zum anderen kann der Titel auch darauf hinweisen, dass die vielen Toten bereits zur täglichen Routine gehören. Auch Der Weg zurück kann unterschiedlich gesehen werden. Die früheren Frontsoldaten müssen nach Kriegsende zurück in ihr altes Leben finden. Obwohl sie physisch bereits in der Heimat angekommen sind, müssen sie sich mental erst in das Zivilleben einfinden. Am Ende des Romans erkennt Ernst Birkholz jedoch, dass der Weg zurück ins Leben, ein Weg vorwärts ist.27 Er muss die Sachen, die passiert sind, wiedergutmachen, um zu leben, ohne von der Vergangenheit verfolgt zu werden.28 Anhand des Romantitels Drei Kameraden kann eine direkte Verbindung zwischen den drei Werken gezogen werden. Es ist möglich, die drei Kameraden aus dem Roman als Gottfried Lenz, Otto Köster und Robert Lohkamp zu interpretieren, es kann jedoch auch möglich sein, dass

21 22 23 24

25 26 27 28

Ebd., 555. Vgl. ebd. Vgl. Christoffersen, 38. Vgl. Rainer Jeglin, Irmgard Pickerodt. »Weiche Kerle in harter Schale. Zu Drei Kameraden«. Thomas F. Schneider (ed). Erich Maria Remarque Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998, 223. Vgl. Murdoch, The Novels, 49. Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 259. Vgl. Murdoch, The Novels, 49. Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 373.

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mit den drei Kameraden die drei Protagonisten der unterschiedlichen Romane gemeint sind. So können Robert Lohkamp, Ernst Birkholz und Paul Bäumer als Kameraden einer Generation dargestellt werden, die alle Opfer des Krieges sind.29 Ebenso wie durch die bereits erwähnten formalen Kriterien weist auch der Schreibstil der einzelnen Werke Gemeinsamkeiten auf. So werden alle Romane durch einen Ich-Erzähler geschildert.30 Remarque legt bei der Darstellung seiner Protagonisten Wert darauf, keine Charaktere zu beschreiben und unterlässt daher die Individualisierung und soziale Differenzierung, indem er lediglich belanglose Eigenschaften und äußere Merkmale aufführt. Auch die Reflexion in der WirForm von Paul Bäumer und Ernst Birkholz trägt ihren Teil dazu bei.31 Genau so unbedeutend wie die Identität der Protagonisten der ersten beiden Romane, ist auch die von Robert Lohkamp, denn die Charaktere dienen der Abbildung von drei verschiedenen historischen Zeiten, dem Krieg, der Nachkriegszeit und der späten Weimarer Republik, die durch eine »verlorene Generation«32 erlebt werden.33 Genau aus diesem Anlass begründet Remarque auch die Wahl der verschiedenen Personen in den drei Romanen, die ihre Individualität bedeutungslos machen.34 Indem der Autor durch seine drei Protagonisten eine Generation beschreibt, nämlich die Generation, die als junge Soldaten im Krieg gekämpft haben und sich im Anschluss daran mit den Folgen im zivilen Leben herumschlagen müssen, wirken die Ich-Erzähler identisch. Diese starke Ähnlichkeit ist ein weiterer Grund, weshalb man die drei Werke als Trilogie einordnen kann, denn ein Merkmal einer Trilogie ist, dass die einzelnen Werke in der Regel durch einen Haupthelden miteinander verknüpft sind.35 In den drei Romanen gibt es zwar keinen identischen Protagonisten, stattdessen gibt es aber eine identische Generation, die die drei Werke verbindet. Ein weiteres Indiz, welches für ein dreiteiliges Werk spricht, sind die Erscheinungsjahre. Bei einer Trilogie werden die einzelnen Romane in der Regel in kurzen Abständen voneinander geschrieben und veröffentlicht.36 An Im Westen nichts Neues arbeitet Erich Maria Remarque bereits im Herbst 1927, bevor er den Roman im Januar 1929 als Buchausgabe veröffentlicht.37 Im selben Jahr beginnt der Au-

29 Vgl. Christoffersen, 57. 30 Vgl. ebd., S. 40. 31 Vgl. Tilman Westphalen (ed.). Erich Maria Remarque 1898 – 1970. Bramsche: Rasch Verlag, 1988, 14. 32 Christoffersen, 57. 33 Vgl. Westphalen (ed.), 49. 34 Vgl. Christoffersen, 57. 35 Vgl. Steinmetz, 51. 36 Vgl. ebd., 53. 37 Vgl. John W. Chambers II, Thomas F. Schneider. »›Im Westen nichts Neues‹ und das Bild des ›modernen‹ Krieges«. Text + Kritik 149: Erich Maria Remarque (2001), 81.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

tor mit seinem Folgewerk Der Weg zurück, welches er schließlich im April 1931 im Propyläen-Verlag in Buchform fertigstellt.38 Ebenso wie bei den ersten beiden Erzählungen fängt er mit der Arbeit an Drei Kameraden, welches zu diesem Zeitpunkt noch Pat genannt werden soll, bereits im darauffolgenden Jahr 1932 an.39 Es lässt sich demnach festhalten, dass Remarque das Konzept der drei Romane in kurzen Abständen erstellt hat. Was jedoch sofort auffällt, ist die große Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung des ersten Buches 1929 und der des letzten Buches 1936, in Deutschland sogar erst 1938. Auch wenn der Verfasser spätestens im Sommer 1931 mit seinem neuen Roman, der zu diesem Zeitpunkt noch Staub im Winde heißen soll, beginnt, gelingt ihm die Veröffentlichung erst Jahre später, denn seine persönliche Situation ändert sich Ende 1931. Aufgrund von Spannungen mit dem Regime40 um Adolf Hitler ist Remarques politische Zukunft ungewiss, wodurch er sich zunächst nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren kann und sich dieser erst 1934 wieder widmet. Der Roman soll nun den Titel Drei Kameraden tragen.41 Es ist also zu erkennen, dass ohne diese Zwischenfälle schnellere Erscheinungstermine realisiert worden wären. Eine solche Konzeption entspräche der einer Trilogie. Wenn man sich ansieht, wie die drei Romane jeweils enden, dann fallen weitere Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede auf, die man bei der Analyse bezüglich einer Trilogie beachten muss. Sobald man an den Krieg denkt, kommen viele negative Erinnerungen und Gedanken. Dementsprechend vermittelt das Ende von Im Westen nichts Neues ebenfalls einen pessimistischen Eindruck. Die Soldaten haben keine Möglichkeiten, sich an ein Leben nach dem Krieg anzupassen, da sie alle sterben. Paul Bäumer ist der letzte seiner Kompanie und reflektiert kurz vor seinem Tod über die Zeit nach dem Krieg: Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung. Wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können. Man wird uns auch nicht verstehen […] Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen, und viele werden ratlos sein; - die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.42

38 Vgl. ebd., 81f. 39 Vgl. ebd., 82. 40 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 579. 41 Vgl. Chambers/Schneider, 82f. 42 Remarque, Im Westen nichts Neues, 258.

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Bäumer bemerkt, dass das Kriegsende zu spät kommt, und schließt durch sein »Credo der ›verlorenen Generation‹«43 eine Revolution ihrerseits aus.44 Für den Ich-Erzähler ist dieses Ende nochmals pessimistischer, denn er erlebt keine Zeit nach dem Krieg, nimmt aber gleichzeitig denen, die den Krieg überleben, ihre Hoffnung. Sein Lebensende erlebt der Protagonist alleine. Auch in Der Weg zurück bleibt der Protagonist am Ende allein. Die Kameradschaft zerfällt und Ernst Birkholz ist auf sich allein gestellt.45 Im Gegensatz dazu, fällt die Reflektion des Ich-Erzählers in Remarques zweitem Werk jedoch positiver aus, indem er sich auf einen »lebensphilosophisch motivierten Neuanfang«46 und damit auf die Grundwerte des Lebens besinnt. Er kann die Ereignisse nicht vergessen und verdrängen, er kann sie lediglich aufarbeiten und so verarbeiten.47 Das dritte Werk Drei Kameraden beginnt mit seiner Handlung dort, wo das zweite endet. Dadurch, dass Der Weg zurück mit der Besinnung auf ein neues Leben endet, bekommt der Leser keinen Einblick darin, wie das Leben für Birkholz weitergeht. Diesen Neuanfang spiegelt Lohkamp in Drei Kameraden wider und lebt das Leben von Birkholz weiter.48 Durch den Tod von Lenz und Pat bleibt Robert Lohkamp zuletzt allein zurück. Remarque möchte dadurch vermutlich zeigen, dass der Krieg auch nach seinem Ende noch Folgen für die Gesellschaft hat.49 Obwohl die emotionalen Ausrichtungen der drei Schlussszenen nicht identisch sind, wollen sie doch dasselbe aussagen. Man kann den Folgen des Krieges nicht entkommen und auch wenn man versucht, damit umzugehen, werden sie einen trotzdem erfassen. Es ist möglich, dass nicht alle daran scheitern werden, doch wird jeder etwas davon mitbekommen. Dazu passt, dass es in allen drei Erzählungen Opfer des Krieges gibt. Bäumer stirbt unmittelbar durch den Krieg, indem er auf dem Schlachtfeld umkommt.50 Birkholz stirbt nicht, aber einige seiner Kameraden sterben bereits auf dem Schlachtfeld,51 an den Folgen des Krieges oder bringen sich um, da sie sich an ein ziviles Leben nicht mehr gewöhnen können. Auch der Tod von Pat in Drei Kameraden ist dem Krieg geschuldet, sie stirbt an einer Krankheit, die in Folge einer Mangelernährung während des Krieges entsteht und ist somit ebenfalls Opfer des Krieges.52

43 Schneider, Die Revolution in der Provinz, 255. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. Chambers/Schneider, 27. 46 Remarque, Der Weg zurück, 404. 47 Vgl. ebd., 404f. 48 Vgl. Christoffersen, 39. 49 Vgl. ebd., 55. 50 Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 259. 51 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 382. 52 Vgl. Christoffersen, 39.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Während es im dritten Kapitel des vierten Teils im Vorabdruck eine Rückblende zu Himmelstoß gibt, wird diese in der Endfassung von Der Weg zurück gestrichen. Diese Szene beschreibt das Schicksal des ehemaligen Unteroffiziers und verbindet den zweiten Roman auf diese Weise mit dem ersten.53 Auch in Im Westen nichts Neues klingen die nachfolgenden Werke bereits an, als festgestellt wird: Und wenn dieser Krieg zu Ende ist, können wir nichts anderes tun, als die Welt in Stücke schlagen. Einfügen können wir uns nicht mehr. Glauben auch nicht mehr. Wir können flüchten oder zuschlagen – oder – die Menschheit ist ja anpassungsfähig, das sieht man an uns, – auf eine bittere Weise resignieren. –54

Durch diese Zeilen wird legitimiert, dass Remarque weitere Werke schreibt, die sich mit den Folgen des Krieges auseinandersetzen, sie sind mit dem Krieg maßgeblich verbunden und gehören dazu, denn ein Krieg lässt sich nicht isoliert betrachten. Während Paul Bäumer mit seinen Kameraden über einen möglichen Neuanfang nach dem Krieg redet, wird dieser in den beiden folgenden Werken behandelt. Die Soldaten rund um Ernst Birkholz beginnen einen Neuanfang. Einige zerbrechen daran, andere resignieren und passen sich an. Das Werk thematisiert unterschiedliche Wege, mit dem Krieg umzugehen, die sich die Soldaten bereits in Im Westen nichts Neues ausgemalt haben. Eine Revolution ist nur eine Reaktion, die besprochen wird und so im ersten Roman bereits vorhergesagt wird.55/56 Im dritten Roman starten die drei Kameraden, zu denen auch Robert Lohkamp gehört, ein neues Leben nach dem Krieg, indem sie eine Autowerkstatt eröffnen. Auch die Liebe Lohkamps zu Pat trägt ihren Teil dazu bei. Obwohl das Ende des Werks den Neuanfang ins Wanken bringt, gelingt es den drei Männern kurzzeitig, den Krieg hinter sich zu lassen. Ebenfalls Parallelen weisen die drei Romane durch das Motiv der individuellen Rache auf.57 In Im Westen nichts Neues rächen sich die Soldaten am Unteroffizier Himmelstoß, der sie zu Beginn ihres Soldatendaseins gequält und schikaniert hat.58 An dem ehemaligen Vorgesetzten Seelig rächen sich die Soldaten aus Der Weg zurück, weil sie ihn für den Tod des früheren Kameraden Schröder verantwortlich machen.59 Auch Lohkamp rächt sich in Drei Kameraden an jemandem.

53 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 382f. 54 Remarque, Im Westen nichts Neues, 283. 55 Vgl. ebd., 257. 56 Vgl. Schneider, Die Revolution in der Provinz, 1. 57 Vgl. Murdoch, The Novels, 50. 58 Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 26. 59 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 109.

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Nach einer Taxifahrt gibt es mit dem Portier eines Tanzlokals Streitigkeiten.60 Der Ich-Erzähler fährt zunächst davon, kommt jedoch später wieder und rächt sich an dem Schläger.61 Außerdem möchten sich Lohkamp und Köster an dem Mörder von Lenz rächen. In Situationen, in denen scheinbar ein Schuldiger gefunden ist, werden alle Protagonisten der drei Werke aktiv, um Gerechtigkeit auszuüben.62 Allgemein ist zu erkennen, dass alle Ich-Erzähler der drei Romane eine nicht unerhebliche Menge an Gewaltbereitschaft aufweisen.63 Alles in allem kreisen die Gedanken sowohl in Im Westen nichts Neues, als auch in Der Weg zurück und Drei Kameraden immer wieder um den Krieg und die Soldaten, obwohl der Krieg nur im ersten Roman noch stattfindet. Als Lenz im dritten Werk beispielsweise beerdigt wird, haben die beiden Freunde Soldatenlieder im Kopf.64 Auch Ernst Birkholz beschreibt seinen Hund als alten Soldaten.65 In jedem der drei Romane finden sich individual- und kollektivpsychologische Probleme wieder. Als individualpsychologisches Problem wird die Krise junger Erwachsener nach und während des Krieges gesehen. Bäumer erlebt den Krieg mit all seinen traumatischen Situationen, denen er sich jedoch nicht mehr stellen muss, da er noch auf dem Schlachtfeld stirbt. Birkholz, der sein Leben als vermeintlich lebendig gebliebener Bäumer weiterlebt, hat Probleme, sich in das zivile Leben einzufinden und eine Existenz zu gründen. Auch bei der Berufswahl durchläuft er viele Gelegenheitsjobs, da er sich nicht binden kann. Das gleiche Problem hat auch Robert Lohkamp. Ebenso fällt es ihm schwer, seine große Liebe zu schützen und zu bewahren.66 Zu den kollektivpsychologischen Problemen wird die verlorene Generation gezählt. Alle Protagonisten der drei Werke sind in ihrer Jugend im Krieg gewesen und haben diese dadurch verloren. Schon während des Krieges spricht Bäumer davon, nach dem Krieg überflüssig67 zu sein, diesem Gefühl entgeht er jedoch durch den Kriegstod.68 Ähnlich fühlt sich auch Birkholz, der feststellt, dass er immer etwas abwesend und nirgendwo komplett zu Hause sein wird.69 Er löst die Lage jedoch durch Hinwendung zu einem vitalistischen

60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 318. Vgl. ebd., 320f. Vgl. Westphalen (ed.), 51. Vgl. Murdoch, The Novels, 90. Vgl. ebd. Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 259. Vgl. Jeglin/Pickerodt, 218. Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 258. Vgl. Jeglin/Pickerodt, 218. Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 374.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Naturverständnis.70 Auch Lohkamp gefällt der Gedanke nicht, über sein Leben nachzudenken und wirkt dem durch übermäßigen Alkoholgenuss entgegen.71 Allgemein verbinden Naturbeschreibungen die drei Romane Remarques. In jedem der Werke werden die Natur und die Umgebung ausführlicher beschrieben. Beispielsweise sind die Pappelallee und die Stichlinge ein wiederkehrendes Motiv. Es wird überlegt, ob es sich bei der Heimatstadt von Bäumer und Birkholz um Remarques Geburtsstadt handelt, sie scheinen sogar im gleichen Haus zu wohnen.72 Auch in Drei Kameraden gibt es Orte, die an Osnabrück erinnern.73 Die Beschreibung der Umgebung bindet die Romane aneinander und lässt sie dem Leser gegenüber als Einheit erscheinen. Ebenso stellt der Krieg in allen Werken eine permanente Verunsicherung für die ehemaligen Frontsoldaten dar.74 Dieses Thema lässt die Romane als Trilogie erscheinen. Unterschiedliche Geräusche und Situationen werden immer wieder mit dem Krieg in Verbindung gebracht. Während es sich in Im Westen nichts Neues noch um akute Bedrohungen handelt, hören die Protagonisten der anderen beiden Romane lediglich harmlose Geräusche oder erleben Situationen, die sie an den Krieg erinnern. So erinnern die Scheinwerfer eines Fords Robert Lohkamp an Suchscheinwerfer aus dem Krieg.75 Als Ernst Birkholz auf offenem Feld steht, fühlt er sich plötzlich ungeschützt und bedroht und malt sich mögliche Unterstände oder Deckungen aus.76 Beim Lesen der Romane fällt auf, dass sich die Ich-Erzähler in allen drei Werken als unpolitisch darstellen und sich keiner klaren Seite zuordnen lassen. In Im Westen nichts Neues kommt es in der Endfassung zu zahlreichen Streichungen gegenüber der Typoskript-Fassung. Diese Streichungen lassen den Roman unpolitischer erscheinen.77 Betrachtet man Der Weg zurück, dann fällt beispielsweise auf, dass der soziale Zusammenbruch und der Zerfall der Kameradschaft durch Birkholz dargestellt wird, indem er die politische Revolution objektiv beschreibt.78 Gleichermaßen verhält es sich auch mit Drei Kameraden. Während Gottfried Lenz und Otto Köster 1920 aufgrund der Teilnahme an politischen Unruhen inhaftiert werden, nimmt Lohkamp davon Abstand.79 Auch der Mord an Gottfried Lenz ist politisch motiviert. Das Auftreten der Männer, die Lenz umbringen, erinnert an

70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

Vgl. Jeglin/Pickerodt, 218. Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 12. Vgl. Murdoch, The Novels, 49. Vgl. ebd., 80. Vgl. ebd., 83. Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 68. Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 162f. Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 287. Vgl. Chambers/Schneider, 23. Vgl. Murdoch, The Novels, 81.

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Soldaten und auch der Polizist fragt später nach der Partei, der der Mörder angehören könnte oder ob dieser Abzeichen getragen habe.80 Der Protagonist erwähnt an dieser Stelle ganz deutlich, dass er keiner Partei angehört und distanziert sich so von dem Geschehen.81 Der Umstand, dass alle drei Ich-Erzähler unpolitisch dargestellt werden, ist nicht der einzige Hinweis auf eine mögliche Trilogie. Allgemein ist zu erkennen, dass Bäumer, Birkholz und Lohkamp sich stark ähneln. Sie scheinen gleiche gesellschaftliche Hintergründe zu haben sowie eine ähnliche Einstellung und Haltung zum Leben. So weisen alle drei Protagonisten eine gewisse Gewaltbereitschaft auf und scheuen nicht davor zurück, ihre Rechte durchzusetzen, wenn sie meinen, ungerecht behandelt worden zu sein.82 Auch die Elternhäuser wirken durch die Beschreibungen ähnlich, so lässt sich erkennen, dass sie dem gleichen Milieu angehören.83 Sie sind nicht nur aus einer Generation, sie sind sogar im gleichen Jahr, 1898, geboren. Zudem stammen sie aus (klein-)bürgerlichen Verhältnissen und stehen am Ende des Krieges als Jugendliche da, die den Anschluss an das wahre Leben verloren haben, da sie von den politischen Verantwortlichen für deren Zwecke benutzt worden sind.84 Sie sind alle lediglich Beobachter der Ereignisse und bewerten diese nicht.85 Paul Bäumer wirkt dem Charakter von Ernst Birkholz so ähnlich, dass man Birkholz als überlebende Person sehen kann, die die Nachkriegszeit so erlebt, wie Bäumer sie erlebt hätte, und auch, wenn er letztlich nicht Bäumer ist, so repräsentieren beide doch eine Generation, was sie ähnlich erscheinen lässt.86 Am offensichtlichsten ist die Tatsache, dass Bäumer und Birkholz gemeinsame Namenselemente aufweisen: Baum/Birke/Holz87, darüber hinaus scheinen sie ebenfalls am gleichen Ort zu kämpfen,88 an der Westfront. Auch Robert Lohkamp und seine Kompanie sind in Flandern und somit an der Westfront stationiert.89 Neben dem gemeinsamen Ort fällt auf, dass auch eine gemeinsame Situation beschrieben wird. Robert Lohkamp reflektiert den Juli 1917, als seine Kompanie auf 32 Soldaten reduziert worden ist und auch Bäumer und Birkholz beschreiben eine ähnliche Situation.90

80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 466. Vgl. ebd. Vgl. Murdoch, The Novels, 50. Vgl. ebd., 32. Vgl. Jeglin/Pickerodt, 217. Vgl. Schneider, Die Revolution in der Provinz, 255. Vgl. Murdoch, The Novels, 49. Vgl. Chambers/Schneider, 20. Vgl. ebd. Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 9. Vgl. Christoffersen, 39f.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Bäumer und Birkholz haben den gleichen Mord an einem Franzosen begangen,91 und alles in allem bekommt man den Eindruck, dass Birkholz ein ehemaliger Kamerad von Paul Bäumer ist.92 Bei einem Essen denkt der Protagonist aus Der Weg zurück direkt an eine Szene aus Im Westen nichts Neues: Endlos lange ist es her, daß ich frische Koteletts gegessen habe. In Flandern war das zum letztenmal […] damals lebte Katczinsky noch, ach Kat, und Haie Westhus, das waren andere Kerle, als die hier in der Heimat […].93

Remarque verknüpft die Werke miteinander, indem er die Charaktere und die Ereignisse aus dem ersten Roman aufgreift.94 Sogar die Namen Bäumer und Katczinsky werden in den Erinnerungen von Ernst Birkholz genannt.95 Im Ganzen weist der erste Roman auf das Thema des zweiten und dritten Romans hin, indem die Soldaten sich immer wieder Gedanken darüber machen, wie es ihnen nach dem Krieg ergehen wird. Genau diese Gedanken werden in den darauffolgenden Werken verarbeitet, wenn die Heimkehrer sich im zivilen Leben zurechtfinden müssen. Natürlich sind die Gedanken der Soldaten aus Im Westen nichts Neues nicht exakt in Der Weg zurück aufgegriffen, sie weisen jedoch Parallelen auf. Auch das dritte Werk passt in diese Reihe. Er erfüllt, indem es Langzeitfolgen darstellt, seinen Zweck und vervollständigt das Bild des Krieges und der Nachkriegszeit. Genau wie im zweiten Roman wird auch im dritten der Tod von Katczinsky und Kemmerich nach einem Gespräch Lohkamps mit einem Pfarrer aufgegriffen.96 Auch Karl Börger, ein Schulfreund von Birkholz,97 wird ebenfalls in Drei Kameraden als derjenige erwähnt, der 1920 bei einem Putsch erschossen98 wird.99 Es besteht eine Verbindung in der Wahrnehmung des ersten und zweiten Erzählers, sie beschreiben die Kameradschaft, die Schule und ihre Eltern in ähnlicher Form und auch die Gegebenheit, nicht über den Krieg sprechen zu können, eint sie. Mit Lohkamp verhält es sich ähnlich. Sowohl Bäumer, als auch Birkholz führen den Leser durch ein Lazarett und auch Robert Lohkamp wird von einem Arzt durch das Krankenhaus geführt. Im zweiten Roman werden die Verwundeten des ersten Romans nochmals herausgestellt, indem Remarque sie als Teilneh-

91 Vgl. Chambers/Schneider, 20. 92 Vgl. ebd. 93 Remarque, Der Weg zurück, 128. 94 Chambers/Schneider, 20. 95 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 328. 96 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 372f. 97 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 320. 98 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 11. 99 Vgl. Christoffersen, 39.

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mer einer Demonstration darstellt.100 Eine ausgedehnte Szene des anfänglichen Werks, in der Bäumer Duval tötet, kehrt bei Birkholz und Mückenhaupt wieder. Im Angesicht des Todes wirkt Pat zerbrechlich und kindlich.101 Diese kindliche Beschreibung ist Bestandteil aller drei Romane und eint sie, denn ebenso wie die Freundin von Robert Lohkamp werden auch die jungen Rekruten aus Im Westen nichts Neues dargestellt und auch der ehemalige Schulfreund Giesecke wird von Birkholz als kindlich beschrieben.102 Das wohl wichtigste Merkmal, welches für eine Trilogie spricht, ist der inhaltliche Zusammenhang der drei Romane. Die Kernthemen sind der Erste Weltkrieg in Verbindung mit der Nachkriegszeit und die Kameradschaft. Während Im Westen nichts Neues die Erfahrungen der Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg beschreibt, macht sich die Gruppe um Paul Bäumer bereits Gedanken über die Zeit danach. Das zweite Werk beginnt seine Erzählung in den letzten Tagen vor dem Frieden und behandelt anschließend die Zeit nach Kriegsende, die sich Paul Bäumer und seine Kameraden vorgestellt haben. Ernst Birkholz lebt das Leben, das Bäumer erleben würde, wenn er nicht gestorben wäre.103 Im Anschluss an die Erzählung rund um Birkholz knüpfen die Erfahrungen von Robert Lohkamp an. Zwar setzt die Handlung nicht genau nach Ende des zweiten Romans an, aber man kann dennoch gut erkennen, dass Lohkamp die direkte Linie von Bäumer und Birkholz fortsetzt.104 Er stellt somit die Langzeitfolgen des Krieges dar und prüft die Haltbarkeit des Lebens, auf welches sich Birkholz im vorherigen Roman besinnt.105 Der Krieg ist demnach ein ständiges Thema in allen drei Werken und wird als einschneidendes Ereignis dargestellt.106 Ebenfalls wird in allen drei Arbeiten aus der Sicht eines einfachen Soldaten erzählt.107 Diese Erzählperspektive bestimmt die Darstellung des Geschehenen in allen drei Romanen108 und scheint neben anderen formalen Elementen eine der Hauptparallelen zwischen den drei Romanen zu sein109. Zudem fällt auf, dass sowohl am Ende von Im Westen nichts

100 Vgl. Chambers/Schneider, 21. 101 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 269f. 102 Vgl. Christoffersen, 52f. 103 Vgl. Murdoch, The Novels, 32. 104 Vgl. ebd., 68. 105 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 575. 106 Vgl. Thomas F. SchneiderF. »Von Pat zu Drei Kameraden. Zur Entstehung des ersten Romans der Exil-Zeit Remarques«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 2 (1992), 71. 107 Vgl. Chambers/Schneider, 9. 108 Vgl. Mark G. Ward. »The structure of Der Weg zurück«. Remarque against War. A collection of essays for the centenary of Erich Maria Remarque. Glasgow, 1998 (Scottish Papers in Germanic Studies 11), 85. 109 Vgl. Christoffersen, 38.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Neues110 als auch beim Tod Georg Rahes111 ein auktorialer Erzähler auftritt, der den Eindruck erweckt, als ziehe er ein Resümee. In allen drei Romanen gibt es während des Krieges eine Kameradschaft, die danach nicht weiter bestehen kann. Kameradschaft bedeutet für die Soldaten in Im Westen nichts Neues einen Bezugspunkt und Solidarität im Angesicht des Todes.112 Während Bäumer schließlich jedoch alleine stirbt, da seine Kameraden bereits gefallen sind, zerfällt die Kameradschaft in Der Weg zurück ebenfalls, sodass Birkholz am Ende allein bleibt.113 Auch der Protagonist des dritten Romans ist am Ende der Erzählungen alleine. Im zweiten Werk geht es so weit, dass Heel, der frühere Kompanieführer, einen seiner früheren Soldaten erschießen lässt und sich so offensichtlich gegen die Kameradschaft wendet.114 Diese Szene kann als Ende der Kameradschaft gesehen werden.115 Sie stellt eine Begrenztheit dar, die in Im Westen nichts Neues angedeutet und in den anderen beiden Romanen vollendet wird.116 Trotz des Scheiterns ist das Motiv der Kameradschaft überall immanent. Bäumer und Birkholz beginnen mit ihrer Erzählung inmitten der Kameraden.117 Bei Lohkamp ist die Situation zunächst eine andere. Er steht am Anfang getrennt von seinen Kameraden und signalisiert das durch das Pronomen Ich.118 Die Situation ändert sich dann aber und auch Lohkamp führt seine Erzählung innerhalb seiner Gruppe fort.119 Insgesamt befassen sich alle drei Werke mit dem Thema der verlorenen Generation, das in einem separaten Abschnitt noch genauer thematisiert wird. Allgemein werden in diesem Zusammenhang die Kriegsheimkehrer als solche bezeichnet, die sich neu in das zivile Leben integrieren müssen. Die Soldaten haben ihre Probleme, einige scheitern und andere passen sich langsam an. Die verlorene Generation bildet eines der Hauptthemen in allen drei Romanen und verbindet sie so inhaltlich miteinander. In den Kritiken zu den drei Werken heißt es, dass der Abschluss von Drei Kameraden ein Ende einer Schaffenszeit ist, die die Trilogie über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen beendet. Sie ist von Remarque bereits 1927 geplant.120

110 Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 259. 111 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 357–361. 112 Vgl. Chambers/Schneider, 24. 113 Ebd., 27. 114 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 296ff. 115 Vgl. Murdoch, The Novels, 54. 116 Vgl. Christoffersen, 40. 117 Vgl. ebd., 40f. 118 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 7. 119 Vgl. Christoffersen, 40ff. 120 Vgl. ebd., 58.

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Was spricht gegen eine Trilogie? Ebenso, wie es Befürworter der These gibt, gibt es auch diejenigen Kritiker, die die drei Werke nicht als Trilogie sehen. Auch hierfür gibt es zahlreiche Belege und fundierte Aussagen. Es wird zunächst einmal gesagt, dass eine Fokussierung auf den Krieg Im Westen nichts Neues zu einer Art Kriegsbericht werden lässt. Daraus ergibt sich, dass die Verbindung zwischen diesem Roman und Der Weg zurück und somit auch Drei Kameraden erlischt. Obwohl in Der Weg zurück die von Bäumer in Im Westen nichts Neues geschilderten Handlungen in ähnlicher chronologischer Reihenfolge vorliegen, wird nicht genau das behandelt, was sich der Frontsoldat aus dem ersten Roman für eine Zukunft nach dem Krieg vorstellt. Hierfür ist auch die Handlung in Drei Kameraden heranzuziehen, denn Bäumer bezieht sich in seinen Vorstellungen über die Nachkriegszeit auch auf einen längeren Zeitraum von zehn Jahren nach Kriegsende, die Zeit, in der auch Drei Kameraden einzuordnen ist.121 Ein Beispiel für eine solche Handlung ist die Revolution. Bäumer sagt, dass eine Revolution in der aktuellen Situation nicht möglich ist.122 In Der Weg zurück kommt es jedoch zu einer Revolution.123 Die Prophezeiungen Bäumers bewahrheiten sich demnach nicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es einige Gemeinsamkeiten in den drei Werken Remarques gibt. Trotzdem ist das kein eindeutiger Beweis, denn auch in anderen Romanen Remarques, wie Der Himmel kennt keine Günstlinge gibt es Gemeinsamkeiten, denn auch Lillian Dunkerque stirbt an Tuberkulose und erinnert an den Tod von Paul Bäumer aus Im Westen nichts Neues.124 Möglicherweise ist es einfach sein Schreibstil, oder er verarbeitet dadurch seine eigene Vergangenheit, denn eine seiner Frauen, Ilse Jutta Zambona, litt ebenfalls an Tuberkulose.125 Das Ende in Der Weg zurück bekommt optimistischere Tendenzen, indem Birkholz sich darauf beruft, sein Leben ändern und positiv in die Zukunft blicken zu wollen.126 Die Enden der anderen beiden Romane sind dagegen negativ. Zusammenfassend ist also zu sagen, dass sich die Schicksale der Protagonisten der drei Werke unterscheiden und so einer Einheit entgegenwirken.

121 Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 312. 122 Vgl. ebd., 257. 123 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 294f. 124 Vgl. Murdoch, The Novels, 10 (Preface). 125 Vgl. Anne Eunike Röhrig. »Ilse Jutta Zambona – eine biographische Skizze. Erich Maria Remarques zweimalige Ehefrau stammte aus Hildesheim«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/ Yearbook 15 (2006), 92. 126 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 404.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Remarques ursprünglicher Plan ist gewesen, eine Trilogie zu veröffentlichen. Durch einige Ereignisse ist der Autor jedoch gezwungen worden, seine Werke zu verändern, sodass man nicht mehr von einer klaren Trilogie sprechen kann. Auch Drei Kameraden ist von diesen Änderungen betroffen; spielt nun zur Zeit der Weimarer Republik und zeigt dem Leser das Schicksal der einfachen Menschen in dieser Zeit in Verbindung mit einer Liebesgeschichte.127 Remarque verzichtet auch auf das Motto, das er ursprünglich zu Drei Kameraden verfasst hat. Dieses Motto hätte das Werk zeitlich und inhaltlich direkt an die beiden anderen Werke geknüpft: Das vorliegende Buch ist das dritte und letzte einer Reihe, zu der »Im Westen nichts Neues« und »Der Weg zurück« gehören. Es hat im Grunde das gleiche Thema; die Frage, die in den ersten beiden Büchern für Hunderttausende gestellt wurde, kehrt hier wieder für einen einzigen Menschen. Es ist die Frage des Lebens und des Todes; die Frage: Warum?128/129

Da der Autor dieses Motto in der Endfassung weglässt, kann darauf geschlossen werden, dass er seinen ursprünglichen Plan ändert. Auch das erste Kapitel lässt Remarque in Drei Kameraden weg. Dieses ist ebenfalls als Anschluss an die beiden anderen Romane zu sehen, denn es behandelt das Thema Tod und zeigt eine Verbindung zum Ersten Weltkrieg.130 Ein weiteres Indiz, welches gegen eine Trilogie sprechen könnte, ist, dass Remarque in Drei Kameraden neben einer anderen Zeit auch einen anderen Handlungsort gewählt zu haben scheint. Einige Untersuchungen gehen davon aus, dass die Erzählung auf Osnabrück und Berlin hinweist, während die beiden anderen Werke auf Osnabrück hindeuten.131 Drei Kameraden wäre somit in Zeit und Raum von Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück getrennt.132 Ebenso zu untersuchen gilt die Tatsache, dass die Kameradschaft in den einzelnen Romanen anders dargestellt wird. Während sie in Im Westen nichts Neues als etwas beschrieben wird, das den Soldaten Hoffnung und Kraft gibt, zerbricht diese Kameradschaft in Der Weg zurück.133 In Drei Kameraden ist diese zerbrochene Kameradschaft zunächst wieder intakt. Irgendwann zerbricht auch diese. Diese Tatsache spricht gegen eine Trilogie und stellt einen Bruch zwischen den Romanen dar. 127 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 586f. 128 Ebd., 555. 129 Vgl. ebd. 130 Vgl. ebd., 556. 131 Vgl. Murdoch, The Novels, 80. 132 Vgl. ebd., 67. 133 Vgl. ebd., 48.

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Das Thema Liebe trennt den Roman Drei Kameraden von den beiden anderen Romanen. Während die Liebe im dritten Roman eine zentrale Rolle134 einnimmt, spielt sie in den anderen beiden Romanen keine große Rolle. Einen weiteren Unterschied kann der Leser in der Erzählweise feststellen. Während Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück sich auf die Gegenwart beziehen und der Leser unmittelbar am Geschehen beteiligt zu sein scheint, geht diese Unmittelbarkeit in Drei Kameraden verloren, indem das Geschehen in der Vergangenheit erzählt wird. Hierbei stellt sich die Frage, ob Remarque eine andere Erzählweise benutzen und somit einen Bruch im Stil begehen würde, wenn er die drei Romane doch als Trilogie und somit Einheit präsentieren will. Anzumerken ist, dass die drei Protagonisten in einigen Aspekten zwar identisch erscheinen, es letztlich aber nicht sind. Die starke Ähnlichkeit kommt nur dadurch zustande, dass sie eine gleiche Generation darstellen sollen. Des Weiteren können Birkholz und Lohkamp nicht Bäumer sein, denn dieser ist am Ende von Im Westen nichts Neues gefallen. Die unterschiedlichen Protagonisten sprechen am ehesten dafür, dass es sich bei den drei Romanen eher um keine Trilogie handelt. Bei einer Trilogie eines Dramas beispielsweise handelt es sich bei dem Protagonisten um einen Haupthelden, der alle drei Dramen miteinander verknüpft.135 Auswirkungen des Krieges auf die Nachkriegsgeneration Wie bereits der vorherige Analysepunkt zum Ausdruck bringt, können die drei Romane Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden hauptsächlich aufgrund ihres Inhalts als Trilogie verstanden werden. Es sind beispielsweise die Ereignisse, welche die drei Romane in einen Zusammenhang bringen. Ein weiteres wesentliches Merkmal, das alle Romane vereint, ist das Thema der Nachkriegsgeneration. Jener Nachkriegsgeneration gehören besonders die Menschen an, die den Krieg überlebt haben und sich nun als »Kriegsheimkehrer«136 wieder in das zivile Leben integrieren müssen. Diese Eingliederung bringt einige Schwierigkeiten mit sich, die im Folgenden erläutert werden. Die Nachkriegsgeneration in Im Westen nichts Neues Auch wenn die Erzählung von Im Westen nichts Neues während des Krieges spielt und die Protagonisten die Nachkriegszeit nicht mehr erleben, machen sie sich

134 Vgl. ebd., 91. 135 Vgl. Steinmetz, 51. 136 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 384.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

bereits im Krieg Gedanken darüber, wie ihr Leben verlaufen wird, wenn sie nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren. Die Soldaten führen ein längeres Gespräch über ihre Zukunft. Zunächst lassen sie diesen Gedanken nicht zu, fangen dann jedoch an, darüber nachzudenken. Zu Beginn äußern sie den Wunsch, sich zu betrinken oder zur Mutter zu fahren. Die Soldaten beneiden diejenigen, die eine Familie haben. Ein mögliches Kriegsendes ist immer noch unvorstellbar. Der Gedanke an Frauen spielt eine große Rolle bei den Kameraden, denn an der Front gibt es fast ausschließlich Männer und sie müssen längere Zeit abstinent leben.137 Einige wollen auch nach Kriegsende beim Militär bleiben, da sie sich dort ein gutes Leben erträumen. Diese Illusion wird ihnen jedoch direkt genommen.138 Auch an Rache gegenüber ehemaligen Vorgesetzten wird gedacht. Ein Kamerad macht sich Sorgen, ob seine Frau mit dem Hof allein zurecht kommt und würde ihr gerne bei der Ernte helfen.139 Nachdem auch Albert länger darüber nachgedacht hat, stellt er fest, dass sie in ihrer ehemaligen Klasse vermutlich nicht mehr vollständig sind. Dabei bemerken sie, dass die Schule für sie nicht mehr das ist, was sie einmal gewesen ist. Trotzdem werden sie wieder zur Schule müssen und hoffen auf ein Notexamen. An diese Überlegungen schließen sich die Gedanken über den Werdegang der Soldaten nach Abschluss der Schule an. Aus der Notwendigkeit, einen Beruf zu erlernen, ergibt sich die größte Sorge für die Nachkriegsgeneration, die ihre Jugend im Krieg verbracht hat: »Das ist es ja. Kat und Detering und Haie werden wieder in ihren Beruf gehen, weil sie ihn schon vorher gehabt haben. Himmelstoß auch. Wir haben keinen gehabt. Wie sollen wir uns da nach diesem hier […] an einen gewöhnen.«140,

denn sie fürchten, dass sie sich im zivilen Leben nicht zurecht finden werden, nachdem sie das Elend des Krieges gesehen haben; sie können die Vergangenheit nicht einfach vergessen, der Krieg hat sie verdorben.141 Den Soldaten ist auch bewusst, dass sie das Elend während des Krieges verdrängen und sich damit aber nach dem Krieg auseinandersetzen müssen. Sie werden Zeit finden, an ihre toten Kameraden zu denken und sie verfolgen ein Ziel.142 Bei diesem Ziel kann es sich

137 Vgl. Remarque, Im Westen nichts Neues, 71f. 138 Vgl. ebd., 72f. 139 Vgl. ebd., 74f. 140 Ebd., 79. 141 Vgl. ebd., 79f. 142 Vgl. ebd., 126f.

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darum handeln, sich gegen diejenigen zu stellen, die den Krieg zu verantworten haben und sie somit zur Rechenschaft zu ziehen. Genauso, wie sie sich über eine Zukunft nach dem Krieg Gedanken machen, überlegen sie auch, dass es eventuell keine Zukunft geben wird und sie den Krieg nicht überleben oder dass sie verwundet zurückkehren könnten.143 Die Wünsche der Soldaten für die Nachkriegszeit werden immer bescheidener und sie erhoffen sich für die Nachkriegszeit nur, in die Heimat zurückzukehren. Daran schließt sich der Gedanke an, dass die Frontsoldaten zu ausgelaugt und erschöpft sind, um eine Revolution zu beginnen, obwohl sie gerne ihrem Ärger denjenigen gegenüber Luft machen wollen, die den Krieg zu ihrem Gewinn nutzen und in dessen Maschinerie sie als einfache Soldaten gefangen sind.144 Die Nachkriegsgeneration in Der Weg zurück Der Roman Der Weg zurück beginnt in den letzten Tagen des Krieges und begleitet die Kriegsheimkehrer im Anschluss daran bei ihren Eingliederungsversuchen in ihr altes Leben nach Kriegsende. Als Nachkriegsgeneration wird ihr Weg beschrieben, den sie gehen, um sich erneut in die zivile Gesellschaft zu integrieren. Kurze Zeit, nachdem die Nachricht des Friedens zu den Soldaten durchgedrungen ist, erfahren sie von der Revolution in Berlin.145 Auch die ehemaligen Soldaten beteiligen sich, nach ihrer Heimkehr an den Aufständen.146 Nur langsam realisieren die Kameraden den Frieden. Die Begeisterung der Bevölkerung über die Heimkehrer ist schon nach kurzer Zeit verebbt.147 Nach langer Zeit der Abstinenz sehnen sich die Soldaten nach Frauen und Nähe. Um etwas Alltag zu erhalten, gehen die Männer abends in eine Kneipe und trinken Alkohol, um sich zu betäuben. Danach haben sie auch Erfolg bei den Frauen und die Soldaten vergnügen sich mit ihnen.148 Auch Besuche in Bordellen sind für viele eine willkommene Abwechslung.149 Einige der Soldaten sind im Krieg verwundet worden oder bringen andere Krankheiten mit nach Hause. Diese müssen in den ersten Tagen und Wochen abheilen.150 Es gibt nicht nur zahlreiche Verwundete, sondern auch viele Tote. Der

143 Vgl. ebd., 163. 144 Vgl. ebd., 257. 145 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 41. 146 Vgl. ebd., 295. 147 Vgl. ebd., 45. 148 Vgl. ebd., 47ff. 149 Vgl. ebd., 69. 150 Vgl. ebd., 52.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Abschied von den Kameraden ist eine weitere Handlung, die ihnen den Frieden bewusst werden lässt. Einige der Soldaten versprechen sich, in Kontakt zu bleiben. Obwohl manche zu ihren Frauen zurückkehren, haben sie es oft nicht eilig, sich von ihren Kameraden zu trennen.151 Dass die Soldaten das Ende des Krieges noch nicht vollständig verinnerlicht haben, ist daran zu erkennen, dass sie viele Geräusche und Geschehnisse mit dem Krieg vergleichen.152 Diese Vergleiche ziehen sich durch den gesamten Roman, denn der Krieg ist für die Soldaten ein einschneidendes Erlebnis gewesen, welches nur schwer und manchmal gar nicht zu vergessen ist. Zurück bei den Eltern, weiß Ernst Birkholz nicht, was er ihnen über seine Zeit an der Front erzählen soll, denn er sagt, dass man mit Zivilisten darüber nicht reden kann. Allgemein ist es schwer, nach allen Vorkommnissen wieder zu Hause zu sein. Zudem vermissen viele der Soldaten ihre ehemaligen Kameraden, mit denen sie sonst den ganzen Tag verbracht haben.153 Ein weiteres Problem ist die Arbeitslosigkeit, einige Soldaten, darunter auch Jupp, haben ihre alten Arbeitsstellen verloren. Die Soldaten freuen sich über die Möglichkeit, sich nach Kriegsende an ihrem ehemaligen Kompaniefeldwebel zu rächen.154 Um sich nicht überflüssig zu fühlen, gehen die Männer Dingen nach, die sie bereits vor dem Krieg gemacht haben. Obwohl sie sich noch nicht an ihr altes Leben gewöhnt haben, versuchen sie das Beste daraus zu machen.155 Ungewohnt sind für sie die vielen Menschen und vor allem die Frauen, an die sich die Soldaten erst wieder gewöhnen müssen. In Sicherheit gedenken sie ihrer gefallenen Freunde und Kameraden, um damit abzuschließen.156 Ebenfalls ungewohnt ist für die Frontkämpfer die Schule, da einige von ihnen jedoch als Jugendliche in den Krieg ziehen mussten und deshalb keinen Schulabschluss haben, müssen sie diesen nachholen. Für die ehemaligen Kämpfer an der Front ist es undenkbar, die Anweisungen des Lehrers auszuführen, da sie den Lehrstoff im Krieg vergessen haben und sich nach den zermürbenden Jahren nicht vorstellen können, lange zur Schule zu gehen. Während der Zählung in der Schule fällt nochmals auf, wie viele der früheren Schulfreunde gefallen sind.157 Obwohl die älteren Soldaten nicht mehr in die Schule gehen müssen, da sie bereits vor Kriegsausbruch einen Beruf gehabt haben, werden sie mit Problemen konfrontiert. Auch die Frauen mussten ohne ihre Männer und damit in ständiger Ungewissheit leben, ob sie ihren Mann oder auch ihre Kinder nochmals sehen

151 Vgl. ebd., 55–63. 152 Vgl. ebd., 65. 153 Vgl. ebd., 78–83. 154 Vgl. ebd., 101f. 155 Vgl. ebd., 120f. 156 Vgl. ebd., 125–128. 157 Vgl. ebd., 131–144.

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können. Das Gefühl allein zu sein, lässt die Soldaten sich nach ihren Kindern und Frauen sehnen und auch die Kameradschaft ist nach ihrer Rückkehr nicht mehr wie vor dem Krieg.158 Einige Soldaten können sich gut in ihr neues Leben einfinden. Andere haben ihre Probleme und manche bringen sich um. Auch Ernst möchte sein Leben in die Hand nehmen und arbeiten gehen. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.159 Zudem hat der Krieg der Wirtschaft geschadet, Lebensmittel sind knapp und teuer, sodass Lebensmittelkarten verteilt werden. Das Problem dabei ist, dass von den Rationen, die jedem Bürger zustehen, keiner satt werden kann und deshalb gehamstert wird.160 Schlussendlich besinnt sich Ernst Birkholz und möchte etwas gegen die bestehende Situation tun. Er will Dinge wiedergutmachen und an sich arbeiten, da er versteht, dass man die Vergangenheit abschließen muss, um sie hinter sich zu lassen und den Blick in die Zukunft richten zu können.161 Die Nachkriegszeit in Drei Kameraden Der Roman Drei Kameraden spielt Ende der 1920er Jahre und hat somit einen größeren Abstand zum Krieg als sein Vorgänger. Dennoch haben die Menschen rund um den Protagonisten Robert Lohkamp, der ehemaliger Frontsoldat ist, noch mit den Folgen des Krieges zu kämpfen. Für den Protagonisten ist sein 30. Geburtstag ein komisches Gefühl, denn im Krieg haben die Soldaten teilweise nicht einmal gewusst, ob sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben.162 Die Erinnerungen an die Jahre im Krieg sind für ihn nur verschwommen und durcheinander.163 In der Zeit nach Kriegsende schlägt sich Robert Lohkamp mit Gelegenheitsjobs durch und trifft irgendwann zwei alte Kameraden wieder, mit denen er eine Auto-Reparatur-Werkstatt betreibt.164 Die Kameradschaft, die in der Schule beginnt und sich im Krieg fortsetzt, hat auch teilweise in Friedenszeiten Bestand. Über ihr Befinden denken die Soldaten nur wenig nach, zum Vergessen wird viel Alkohol konsumiert,165 doch auch der

158 Vgl. ebd., 177–183. 159 Vgl. ebd., 283. 160 Vgl. ebd., 185. 161 Vgl. ebd., 373. 162 Vgl. Remarque, Drei Kameraden, 10. 163 Vgl. ebd., 11. 164 Vgl. ebd., 12. 165 Vgl. ebd., 12f.

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Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Alkoholkonsum lässt einige nicht vergessen.166 Nach den Strapazen der Kriegsjahre sind viele von ihnen froh, wenn sie etwas Ruhe bekommen.167 Auch den Umgang mit Frauen sind manche Frontsoldaten nicht gewohnt und wissen nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollen.168 Der Roman spielt zur Zeit der Wirtschaftskrise, die ehemaligen Frontkämpfer, aber auch die übrige Bevölkerung haben Geldsorgen. Die Männer haben Angst, ihre Stellungen zu verlieren und in Arbeitslosigkeit zu leben.169 Um solchen und ähnlichen Gedanken zu entkommen, ist das Kino eine willkommene Abwechslung vieler Bürger, denn auch die Frauen haben in der Nachkriegszeit ihre Probleme. Einige von ihnen haben ihren Mann im Krieg verloren und auch ihre Kinder sind teilweise an Unterernährung gestorben. Das Thema Geld spielt eine wichtige Rolle, zahlreiche Menschen sind gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen, um ihr Leben zu sichern.170 Ebenfalls beliebt sind sogenannte Wettbüros, in denen Arbeitslose ihr letztes Geld, in der Hoffnung auf den großen Gewinn, verwetten.171 Sie versuchen den Krieg zu vergessen und diejenigen, die ihn nicht vergessen können, leben im Elend und in Erinnerungen an die zerstörenden Kriegsjahre.172 Um diesem Elend zumindest für einige Stunden zu entkommen, besuchen viele Bürger die örtlichen Museen und gerade im Winter erhoffen sie sich durch den freien Eintritt eine kostenlose Heizung.173 Allgemein schweben die Erinnerungen des Krieges immer in ihren Gedanken mit. Nicht nur Erinnerungen haben die Menschen aus dem Krieg mitgenommen. Einige von ihnen leiden auch noch Jahre nach Kriegsende an Krankheiten, hervorgerufen durch den Krieg.174 Vergleich der drei Werke im Hinblick auf die Nachkriegsgeneration Schaut man sich die Vorstellungen der Soldaten aus Im Westen nichts Neues, sowie die Erlebnisse der Heimkehrer und der zivilen Gesellschaft aus Der Weg zurück und Drei Kameraden an, dann fallen Gemeinsamkeiten auf. Die Gedanken, die sich die Soldaten rund um Paul Bäumer machen, werden durch Ernst Birkholz und Robert Lohkamp teilweise Wirklichkeit. Im Folgenden werden die bereits aufgeführten Aspekte miteinander in Beziehung gesetzt. 166 Vgl. ebd., 49f. 167 Vgl. ebd., 29. 168 Vgl. ebd., 22. 169 Vgl. ebd., 380 + 395f. 170 Vgl. ebd., 162. 171 Vgl. ebd., 350. 172 Vgl. ebd., 69ff. 173 Vgl. ebd., 385. 174 Vgl. ebd., 552.

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Ein gemeinsames Thema der Nachkriegsgeneration ist der Alkoholismus, der in den drei Werken immanent ist. Was in Im Westen nichts Neues noch Vorstellung ist, wird in Der Weg zurück und Drei Kameraden Realität. Auch das Vergessen wollen wird durch Robert Lohkamp und Ernst Birkholz benannt. Während Paul Bäumers Kameraden nicht über die Zukunft nachdenken wollen, um sich keine Hoffnungen zu machen, wollen die Personen um Lohkamp und Birkholz nicht zu intensiv an die Vergangenheit denken. Obwohl die ehemaligen Soldaten vergessen wollen, führen zahlreiche Situationen und Geräusche sie zurück auf das Schlachtfeld und erinnern sie an die Strapazen des Krieges. Die Sorge, den Krieg nicht zu überleben, ist nicht unbegründet; stellen sich die Soldaten in Im Westen nichts Neues noch vor, dass von ihnen nicht mehr viele übrig bleiben, so erfährt man, wie bereits aufgezeigt, dass diese in den beiden anderen Romanen Wirklichkeit geworden ist. Allgemein sind die Wünsche der Soldaten in Im Westen nichts Neues eher bescheiden. Viele von ihnen wollen einfach nur in die Heimat zurück. Und auch die Männer in Der Weg zurück und Drei Kameraden kehren in ihre Heimat zurück. Dort denken die Protagonisten der drei Werke an Frauen. Einige kehren zu ihren Frauen und Kindern zurück, die sie schon vor dem Krieg hatten, andere sehnen sich nach Nähe und Sex. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Schule. Die Männer an der Front sind sich in Im Westen nichts Neues einig, dass sich die Schule für sie stark verändern wird, sie ihren Abschluss aber trotzdem machen müssen. Ernst Birkholz und seine Freunde machen ein Notexamen, um für das Berufsleben vorbereitet zu sein. Die Soldaten wissen nach der Schule oft nicht, welcher Beruf für sie der richtige ist, und sowohl Birkholz, als auch Lohkamp halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Genau über diese Situation haben auch schon Bäumer und seine Freunde nachgedacht. In allen drei Romanen empfinden die Männer ein Leben ohne Krieg ungewohnt und finden sich nur schwer damit zurecht. Während in Im Westen nichts Neues nur darüber gesprochen wird, ist die Fremdheit in Der Weg zurück und Drei Kameraden real, und die Soldaten wissen nicht, was sie mit den Zurückgebliebenen reden sollen. Wie bereits oben erwähnt, müssen sich die Soldaten mit dem Elend auseinandersetzen und finden erst nach Kriegsende Zeit, an die gefallenen Kameraden zu denken und um sie zu trauern. Ebenfalls ist bei Bäumer von einer Revolution die Rede, doch obwohl die Soldaten hier eine Auflehnung ausschließen, wird in Der Weg zurück eine solche Revolution gestartet und auch in Drei Kameraden erfährt der Leser von einer vergangenen Revolution. Schon an der Front in Im Westen nichts Neues wird eine Lebensmittelknappheit erwähnt, die in den anderen beiden Romanen fortgesetzt wird. Paul Bäumer und seine Kameraden wollen nach Kriegsende in Kontakt bleiben, dieses deckt sich mit dem Wunsch von Ernst Birkholz Kameraden. Auch Lohkamp und zwei Freunde stehen durch eine gemeinsame Werkstatt in Kontakt. Es lässt sich erkennen, dass viele Dinge, die im Krieg vorherrschen, nicht auf die Nachkriegsgeneration zu übertragen sind, sich viele Wünsche und Vorstellungen für die Zukunft aber erfüllt haben. 138

Der Trilogiecharakter von Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden

Fazit Der Roman Im Westen nichts Neues kann durch seine Fokussierung auf den Ersten Weltkrieg als eine Art Kriegsbericht gelesen werden, der jedoch eine Verbindung zu den anderen Werken aufweist. Auch in Der Weg zurück und Drei Kameraden bildet das Thema Krieg, neben dem der Nachkriegszeit und dem der verlorenen Generation, ein Kernthema. Die Gedanken der Soldaten kreisen auch nach Kriegsende um den Krieg und die gefallenen Soldaten. Zudem führt der Krieg auch in Friedenszeiten zu einer permanenten Verunsicherung der ehemaligen Frontkämpfer. Ein weiterer Grund, die drei Romane als Trilogie anzusehen, ist die zeitliche Anknüpfung der Werke. Obwohl das dritte Werk nicht genau nach Ende der zweiten Erzählung einsetzt, wird durch die kurze Zusammenfassung Lohkamps zu Beginn eine lose Verbindung geschaffen. Die Vorstellung Bäumers, wie die Nachkriegszeit aussehen wird, wird durch Birkholz und Lohkamp zwar nicht genau erfüllt, jedoch werden trotzdem zahlreiche Aspekte und Überlegungen aufgegriffen, die einen Zusammenhang erkennen lassen. Der Neuanfang, den Birkholz am Ende seiner Erzählung machen möchte, wird durch Robert Lohkamp in Drei Kameraden verwirklicht. Kritisieren kann man, dass der Tuberkulosetod von Pat, der an den Tod Bäumers erinnert, auch in anderen Werken, die nicht Thema meiner Untersuchung gewesen sind, von dem Autor thematisiert wird. Dieses ist ein Aspekt, den manche Kritiker aufführen, wenn sie die Vermutung äußern, dass die Ähnlichkeiten der Werke nur dadurch zustande kommen, dass Remarque mit dem Schreiben seine eigene Vergangenheit bewältigen wollte. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die drei Romane auch in einer anderen Weise inhaltlich miteinander verknüpft sind. Die zahlreichen Vor- und Rückblenden nehmen immer wieder Bezug auf die anderen Erzählungen; ebenso erinnern auch gleiche Erlebnisse der Protagonisten immer wieder an die anderen Soldaten. Außerdem wird das Motto aus Im Westen nichts Neues, über eine Generation zu schreiben, die der Krieg zerstört hat, erst mit Abschluss des dritten Werkes erfüllt. Obschon Robert Lohkamp einen anderen Blickwinkel und Umgang mit der Nachkriegszeit beschreibt, heißt das nicht, dass es keine Verbindung zwischen den Werken gibt, denn er beschreibt lediglich eine andere Art, mit dem Krieg umzugehen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen, als die, die Ernst Birkholz und seine ehemaligen Kameraden bereits geschildert haben. Gemeinsam haben alle drei Erzählungen, dass sie sowohl kollektiv- als auch individualpsychologische Probleme behandeln. Obwohl die einzelnen Schlussszenen der Erzählungen unterschiedliche Tendenzen haben, lässt sich ein roter Faden durch die Werke ziehen. In Drei Kameraden hat Remarque das Motto und das erste Kapitel in der Endfassung gestrichen; diese hätten eine direkte Verbindung geschaffen. Und trotzdem knüpfen die 139

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Handlungen aneinander an. Ungeachtet der unterschiedlichen Schicksale, die den Romanen negative und positive Tendenzen verleihen, eint die Protagonisten Paul Bäumer, Ernst Birkholz und Robert Lohkamp, dass sie am Ende alleine sind. Wenngleich Drei Kameraden die Zeit der Weimarer Republik behandelt und vor dem Hintergrund einer Liebesgeschichte geschrieben ist, stellt der Roman zusätzlich das Schicksal eines einfachen Mannes einige Zeit nach dem Krieg dar. Die Tatsache, dass alle drei Romane unterschiedliche historische Zeiten beinhalten, bedeutet jedoch nicht, dass sie keine Trilogie bilden, denn es ist die Intention des Autors, den Krieg nicht als isoliertes Ereignis zu betrachten, sondern auch die Folgen für die Nachkriegsgeneration zu veranschaulichen. Neben verschiedenen Zeiten werden teilweise auch andere Handlungsorte beschrieben. Meiner Meinung nach ist das jedoch kein Ausschlusskriterium einer Trilogie, da der Autor die Absicht verfolgt, von einer Generation zu erzählen und nicht das Schicksal eines einzelnen Frontkämpfers. Auch wenn Bäumer, Birkholz und Lohkamp sich stark ähneln, bedeutet das nicht, dass sie identisch sind. Bei ihnen handelt es sich um unpolitische Protagonisten, die für Remarque ein gemeinsames Ziel verfolgen. Sie sollen eine gesamte Generation, die verlorene Generation darstellen, die vom Krieg zerstört worden ist. Als Angehöriger einer solchen Generation legt der Autor sogar Wert darauf, keine Charaktere zu beschreiben. Er geht sogar noch weiter und lässt die Erzähler die Geschehnisse in der Wir-Form reflektieren, um genau dieses Wir hervorzuheben. Ein weiterer Grund, der die drei Werke als Trilogie erscheinen lässt, ist, dass mehrere Namen unterschiedlicher Soldaten in allen drei Romanen vorkommen. In Der Weg zurück ist sogar die Rede von Bäumer. Das Auftreten der gleichen Namen in allen Romanen spricht dafür, dass alle drei Protagonisten in der gleichen Kompanie an der Westfront stationiert gewesen sind. In diesem Fall spricht die Intention des Autors, von einer Generation zu berichten, für die Form der Trilogie, denn die drei Erzählungen schildern das Schicksal eines bestimmten Personenkreises, der verlorenen Generation. Gerade weil Erich Maria Remarque sich selbst zu einem mehrteiligen Werk äußert, spricht das für eine Trilogie, die auch nach einigen Änderungen innerhalb der Romane, noch zu erkennen ist. Abschließend lässt sich sagen, dass die drei Romane Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden vermutlich eine klassische und damit offensichtliche Trilogie gebildet hätten, wäre Remarque durch verschiedene Vorkommnisse nicht dazu gezwungen worden, seinen ursprünglichen Plan zu ändern. Doch es lassen sich trotzdem noch klare Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Werken erkennen, die sein früheres Vorhaben deutlich machen. Zudem ist selten eine genaue Einordnung nach klaren Kriterien zu treffen und es lassen sich manchmal nur Tendenzen erkennen. Aus diesem Grund bilden die drei Werke eine Trilogie – jedoch keine klassische im Sinne der bereits genannten Definition. 140

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»Ein Dasein der Freiheit und Gerechtigkeit...« Heimkehr als ziviles Scheitern in Erich Maria Remarques Roman Der Weg zurück

»Der Weg Remarques ist ein Weg rückwärts, der Weg eines Klassenfeindes«,1 so endet eine Rezension zu Erich Maria Remarques Der Weg zurück (1930/31) in der Linkskurve, dem Organ des BPRS,2 welches der KPD nahestand. Sein zweiter Roman nach Im Westen nichts Neues (1928/29) (der heute noch als »Goldstandard der Kriegsliteratur«3 bezeichnet wird) sollte an dessen kommerziellen Erfolg anknüpfen,4 wurde aber konsequent von der kommunistischen Linken mit einem Verriss bedacht. Wie der Vorgänger sei es ein arbeiterfeindliches Buch, nicht politische Aufklärung und Aufarbeitung der Weltkriegskatastrophe, die zu Gebote stünden, erreichten den Leser, sondern ein süßliches Gift, ein »neu-patriotischer Nebel«. Es wird behauptet, dass der Autor den Kriegsalltag und seine Folgen verschleiere, verfälsche, verharmlose; er lediglich »die höheren Ideale der kapitalistischen Gesellschaftsordnung« predige (sinnfällig, indem er »zu den Fleischtöpfen

1 Bi. »Wirklich zurück (E. M. Remarque Der Weg zurück)«. Die Linkskurve 3 (1931), 8, 25. 2 Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 3 Erhard Schütz. »Heimatfront. Der Krieg der alten, unbrauchbaren und zu jungen Männer. Romane von Georg Hermann, Siegfried Kracauer, Ernst Glaeser und Georg Fink«. Zeitschrift für Germanistik 24 (2014), 3, 554. 4 Der »Weltbestseller« Im Westen nichts Neues weckte große Begeisterung beim Publikum, das einen weiteren Roman gespannt erwartete und dessen finanzieller Erfolg sozusagen prädisponiert war. Die realisierte Verfilmung war ebenfalls ein kommerzieller Erfolg in den USA, konnte sich aber in Qualität und Umsetzung mit der von Im Westen nichts Neues nicht messen. Der komödien- und klamaukhafte Charakter des Films wirkt deplatziert. The road back (Der Weg zurück) (1937), USA, Regie: James Whale, 97 Min. Vgl. dazu Harley U. Taylor, Harley. Erich Maria Remarque: a literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt am Main, Paris, 1989 (American university studies 1: Germanic languages and literature. 65), 90–91. 5 Bi. (1931) 25.

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des Ullsteinhauses« zurückkehrt sei).5 Aus dem kommunistischen Blickwinkel war vor allem der falsche politische Standpunkt des Autors in seinen Romanen verwerflich. Darüber hinaus gehend wurde Remarque auch das Fehlen politischer Standpunkte in Gänze bescheinigt, ein grundsätzlicher »Vorwurf«, dem er sich von Beginn an ausgesetzt sah; er akzeptierte ihn aber provokativ, bewusst, verteidigte ihn gar.6 Im Westen nichts Neues gilt, ungeachtet seines unpolitischen Charakters, als das pazifistische Symbol der Weimarer Republik.7 Bis heute ist es in der deutschen und der Weltliteratur eine eindringliche Anklage8 gegen jegliche Form kriegerischer Auseinandersetzungen. Remarque sieht im Ersten Weltkrieg nicht wie Bertolt Brecht einen »große[n] praktische[n] Anschauungsunterricht für das neue [dialektische] Sehen der Dinge«,9 sondern er übt unideologisch, politisch indifferent Kritik. Diese ist grundsätzlich pazifistisch, ob sie sich nun auf das Kriegsgeschehen direkt oder die Nachkriegszeit bezieht. Anfang der 1930er Jahre werden von der marxistischen Linken vor allem deshalb vernichtende Urteile über die beiden ersten Romane Remarques gefällt, da es sich ihrer Ansicht nach um durchgängig unglaubwürdige, verharmlosende Darstellungen des Krieges und der Kriegsfolgen handele, deren Ursache eben die Profitgier und der Opportunismus ihres Autors sei. Kurt Tucholsky hält dem entgegen, dass die kommunistische Kritik, die politisch-radikale Stellungnahme jeder Art, per se dogmatische Linientreue voraussetze, was ihre Aussagekraft relativiere: Brüllt auf so ein Buch [Der Weg zurück]10 die heulende Scylla der Rechten ein, so pfeift die Carybdis der Linken: »Wie hältst dus denn mit der Partei? Hast du dein

6 Vgl. das Interview mit dem französischen Journalisten Frédéric Lefèvre vom Dezember 1930, in dem Remarque äußert: »I never occupy myself with political questions. Through honesty. For I believe that politics is such a vast, complicated, and difficult domain that one has to be a politician alone to start adventuring in that direction. For my part, I am trying to be only a writer.« Frédéric Lefèvre. »An interview with Erich Maria Remarque: ›How writing All quiet changed my life‹«. Terry O’Neill (ed.). Readings on ›All quiet on the Western Front‹. San Diego, CA 1999, 87. 7 Hans Harld Müller. »Politics and the war novel: the political conception and reception of novels about the First World War«. Richard Dove, Stephen Lamb (ed.). German writers and politics 1918-39. Basingstoke [u.a.] 1992, 113. 8 In dem vorangestellten Motto des Romans gelobt der Autor zwar keine »Anklage« erheben, sondern nur »berichten« zu wollen, dennoch ist das Werk eine einzige Anklage gegen Krieg, Gewalt, Grausamkeit sowie die alten Autoritäten in Militär und Zivilleben (»gegen die Vätergeneration, das Establishment des Wilhelminismus«), vgl. Holger M. Klein. »Weltkrieg und Bürgerkrieg in der Literatur«. Thomas Koebner (ed.). Zwischen den Weltkriegen. Wiesbaden 1983 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 20), 206. 9 Bertolt Brecht. »Anschauungsunterricht für ein neues Sehen der Dinge«. Bertolt Brecht. Über Realismus. Leipzig 1968 (Universal-Bibliothek 442), 42. 10 Anm. d. d. Verf.

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Parteibuch dabei?« Der Dichter hat es nicht leicht – und die Meistersinger von Moskau prüfen ihn auf Haut und Knochen, Fleisch braucht er gar nicht zu haben, wenn es nur mit der Dogmatik stimmt.

Dem entsprechend spielt »Fleisch«, also literarische Qualität, Aussagekraft und auch ästhetischer Anspruch keine Rolle. Tucholsky äußert zu Remarques zweiten Roman weiter sehr lapidar: »Das neue Buch ist eine saubere und anständige Arbeit, nicht mehr und weniger.« Diese Aussage lässt sich sowohl auf dessen literarische Qualität als auch – aus heutiger Sicht – auf die Schreib- und Marketingstrategie des Autors und seines Verlags beziehen. Bereits in Im Westen nichts Neues wurden schärfere kriegskritische bzw. politische Passagen gestrichen: Autor und UllsteinVerlag kamen hier den Erwartungen und damit der Sichtwiese des (durchaus in Teilen national-konservativ gesinnten) Publikums nach.11 Dieser Prämisse folgte man auch im Nachfolgeroman. Gerade sein Umgangs- und »Kommisston« rief außerhalb Deutschlands die Zensoren auf den Plan; beispielsweise wurde das Buch im Irischen Freistaat, dem Vorgänger der heutigen Republik Irland, 1931 verboten.12 Kurz vor Abschluss der Arbeiten an Im Westen nichts Neues im Herbst 1927 entwarf der Autor einen Plan zu einer Trilogie, hier sollte sein erster Roman als Teil 1 mit Teil 2 »Heimkehr der Korporalschaft V« und ein noch unbetitelter dritter Teil das Scheitern heimkehrender Soldaten in der Zivilgesellschaft thematisieren. Noch vor dem Abdruck von Im Westen nichts Neues in der Vossischen Zeitung begann Remarque, an der Fortsetzung im Oktober 1928 zu arbeiten, die geplanten Teile 2 und 3 gingen so schließlich in Der Weg zurück auf. Nahezu parallel erfolgten die Vorabdrucke in der Vossischen Zeitung (ab 7. Dezember bis 29. Januar 1931) und im nordamerikanischen Magazin Collier’s (ab 30. Dezember 1930)13 sowie in anderen ausländischen Zeitschriften und Zeitungen.14 Die Buchveröffentlichung

11 Ignaz Wrobel (d. i. Kurt Tucholsky). »Der neue Remarque«. Die Weltbühne 27 (1931), 19, 732. 12 Vgl. dazu: Thomas F. Schneider. »›Krieg ist Krieg schließlich‹ – Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues (1928)«. Thomas F. Schneider, Hans Wagener (ed.). Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York 2003 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53), 219. Z. B. wurde eine Passage mit eindeutigeren politischen Bezügen und Positionen (Verrat und Niederlage der Revolution, Korruption der Nachkriegszeit u.a.) gestrichen, vgl. Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Köln 2014, 384–386. 13 Taylor, 90. 14 Thomas F. Schneider. »Die Revolution in der Provinz. Erich Maria Remarque: Der Weg zurück (1930/31)«. Ulrich Kittstein, Regine Zeller (ed.): »Friede, Freiheit, Brot!« Romane zur deutschen Novemberrevolution. Amsterdam 2009, 256, und Thomas F. Schneider. »›Das

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war das Ergebnis einer umfangreichen Überarbeitung dieses Vorabdrucks durch den Autor selbst;15 veröffentlicht wurde in Deutschland, Großbritannien und den USA zeitgleich, nämlich am 30. April 1931.16 Der Roman ist als zweiter Teil eines Werkes zu sehen, wenn man die beiden ersten Romane als Einheit betrachtet.17 Die beabsichtigte Trilogiekonzeption wird durch das auf einem Notizblatt vorformulierte Motto zu Drei Kameraden (1938) deutlich.18 Auch wird in den drei Romanen Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Der schwarze Obelisk (1956) eine Trilogie gesehen. Hier ist natürlich bedeutsam, dass die Darstellung der Weimarer Nachkriegsgesellschaft im Der schwarze Obelisk nachhaltig durch Remarques Erfahrung des II. Weltkriegs (und seiner Exilierung) beeinflusst wurde.19 Der für den Autor komplizierte, langwierige Schreib- und redaktionelle Prozess von Der Weg zurück, die Verhandlungen mit seinem Verlag (Ullstein) zeigen »den Wandel des Journalisten Erich Maria Remarque zum Weltschriftsteller als auch die Geburt des mit Bedacht und Konzeption agierenden Autors«.20 Wie Erich Maria Remarque rekurrierten Arnold Zweig, Ludwig Renn, Leonard Frank, Ernst Glaeser, Edlef Köppen und andere, zumeist selbst Weltkriegsteilnehmer, Kriegsopfer oder -täter, auf ihre Fronterfahrungen und –erlebnisse, um die eigenen Traumata

Leben wiedergewinnen oder zugrundegehen‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Der Weg zurück«. Remarque, 2014, 395f. Vgl. auch das Verzeichnis vorhandener Notizen und Arbeitsmanuskripte zum Roman: Thomas F. Schneider. Erich Maria Remarque. Der Nachlass in der Fales Library, New York University. Ein Verzeichnis. Bd. 1. Osnabrück 1991, 14–22. 15 Schneider, 2014, 402. 16 So werden politisch eindeutigere Passagen entschärft bzw. gestrichen; z.B. wird das Schicksal von Unteroffizier Himmelstoß nicht mehr erwähnt, vgl. Schneider, 2014, 379–394. Der pessimistische Schluss der Zeitungsversion (in Vossische Zeitung, später auch in Collier’s Magazine) fehlt in der Buchausgabe, Georg Rahes Anklage ist gestrichen, andere Teile unterschiedlich angeordnet, vgl. Tilman Westphalen. »Nachwort. Kameradschaft zum Tode«. Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Köln 1990, 327. 17 Schneider, 2009, 257, und Schneider, 2014, 408. 18 Brian Murdoch. »Innocent killing: Erich Maria Remarque and the Weimar anti-war-novels«. Brian Murdoch. German literature and the First World War: the anti-war tradition. Dorchester, Farnham, Burlington 2015, 166. 19 »Das vorliegende Buch ist das dritte und letzte einer Reihe, zu der Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück gehören. Es hat im Grunde das gleiche Thema, die Frage, die in den ersten beiden Büchern für Hunderttausende gestellt wurde, kehrt hier wieder für einen einzigen Menschen. Es ist die Frage des Lebens und des Todes, die Frage: Warum?« Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. Köln 2014, 555. S. dazu auch die umfangreiche Untersuchung von Lena Dust. Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«, »Der Weg zurück« und »Drei Kameraden« – eine Analyse im Hinblick auf den Trilogiecharakter mit einem Ausblick auf die Darstellung der Nachkriegsgeneration. BA-Arbeit, Universität Osnabrück 2016. 20 Murdoch, 2015, 19.

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zu verarbeiten, um (demokratisch motivierte) politische Einflussnahme zu üben und auch ökonomischen Nutzen daraus zu ziehen. Aber es war ein schwieriger Weg und ob er tatsächlich erfolgreich verlaufen würde, war ungewiss. Remarque äußert sich dazu in einem Interview mit Cyrus Brooks im September 1929: Coming back to Germany after the war was a terrible experience for everyone of us. After the strain and hardship of horror of the war we returned to find the country in a state of disintegration, everywhere hunger, depression and bereavement. [...] I had entered the army as a mere boy and was not one of the few lucky ones with a job to come back to, so I had to turn my hand to whatever offered – school teacher, handworker, journalist. I could not settle down to anything, there was a continual restlessness and dissatisfaction that drove me from one job to another. [...] The truth was, there was something on my mind – the weight of horror and suffering I had seen during the war years. It was still there, unexpressed and chaotic, robbing one of peace of mind, making it impossible to settle down to the ordinary avocations of civilian life.22

Remarques privater und beruflicher Weg zurück (in die Nachkriegsgesellschaft) war erfolgreich, da er zunächst in journalistischer Arbeit Bestätigung und Halt fand und schließlich ein weltbekannter Schriftsteller wurde. Er konnte die Kriegserlebnisse, die er als Infanteriesoldat selbst erlebt hatte, schreibend aufarbeiten und damit auch hinter sich lassen. Sein Versuch in der niedersächsischen Provinz als Lehrer tätig zu werden war letztendlich nur eine kurze Episode des »Scheiterns« im zivilen Leben. Remarques Roman Im Westen nichts Neues ist, wie auch andere seiner Werke, nicht allein pazifistischem Gedankengut verpflichtet, sondern auch einem »auf mehreren Ebenen nachweisbaren Individualismus sowie [...] [einem] Misstrauen gegenüber Problemlösungen im Rahmen einer übergreifenden Ideologie«.23 Dass diese Prämisse in einem unauflösbaren Widerspruch zu dem politischen Denken marxistischer Provenienz steht, liegt auf der Hand und die, zumindest öffentliche, Verneinung jeglicher (also auch rechter) politischer Positionen plausibel erscheinen lässt. Remarque richtet sich in seinen ersten beiden Romanen nach den Kriterien neusachlichen Erzählens. Der Schriftsteller und Literaturhistoriker E. E. Noth äußert, dass

21 Schneider, 2014, 402. 22 Cyrus Brooks. »Interview mit E. M. Remarque«. New York Times, 22.09.1929, 7; zitiert nach Taylor, 62. 23 Kai Bleifuß. Demokratie im Roman der Weimarer Republik. Annäherung und Verteidigung durch Ästhetik. Würzburg 2012 (Klassische Moderne 18), 137.

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das moderne Schrifttum der »Neuen Sachlichkeit« [...] viel[e] aufklärerische und materialistische Züge [trägt]. [...] [Seine] illusionszerstörende Haltung stellt den Versuch dar, eine im Grunde ethoslose und unverantwortliche – weil gesellschaftlich und praktisch unverpflichtende – Haltung des Expressionismus durch eine gegenwartsbezogene, gegenwartsgläubige und der Gegenwart verpflichtete aufzuheben. Dies neue Schrifttum stellt sich die Erforschung der Gegenwart zur Aufgabe, es will dahinter kommen, »was los ist«, die realen Hintergründe überkommener Ideale und Ideologien »entlarven«.

Weiter benennt Noth den gesellschaftlichen Allgemeingültigkeitscharakter, der für die berichteten Ereignisse und Tatsachen nun gelte, dass »das Ich des Erzählers sich fast immer mit der Rolle eines ›Berichterstatters‹« begnüge, »alles Private und Gefühlsmäßige weitgehend [zu Recht] in den Hintergrund gedrängt und [...] inferiorisiert [werde].«24 Sowohl anhand eigener wissenschaftlicher Betrachtungen als auch im eigenen Schreiben (man beachte hier seinen Roman Die Mietskaserne von 1931) bekennt sich Noth zum »modernen Schrifttum« seiner Zeit, der Neuen Sachlichkeit, welche »die vorgefundene Wirklichkeit in allen Details … erfassen und … verarbeiten [will]«.25 Die Darstellung des beruflichen Alltags von Arbeitern und Angestellten, ihrer sozialen Nöte und ihrem alltäglichen Überlebenskampf kennzeichnete »das Sicheinlassen auf die vorgefundene Wirklichkeit und ihre Verarbeitung in neuen Darstellungsformen« als auch die beabsichtigte Überwindung »expressionistischer Verstiegenheiten und des bürgerlichen Zivilisationspessimismus«.26 Neben der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Arbeitern und Angestellten, der Industrie(-arbeit) oder des urbanen Lebens, wurde auch die Existenz des Menschen nach dem Weltkrieg thematisiert. Um dem Anliegen eines aktuellen Realitätsbezugs (d.h. »Verständlichkeit, Aktualität und damit Anwendbarkeit auf die vorgefundene Wirklichkeit, der ›Gebrauchswert‹ [...] eines Kunstwerks«27) zu entsprechen, wählten die Autoren soziale Problemfelder, »die im öffentlichen Diskurs der deutschen Gesellschaft mit einiger Brisanz erörtert

24 Ernst Erich Noth [d.i. Paul Krantz]. Die Gestalt des jungen Menschen im deutschen Roman der Nachkriegszeit. Frankfurt a. M. 2001, 43–45; E. E. Noths Dissertationsschrift wurde 1933 fertiggestellt, aber aufgrund der Flucht ihres Autors blieb sie unveröffentlicht. Er wurde schließlich durch das NS-Regime ausgebürgert, seine Schriften, u.a. auch sein Roman Die Mietskaserne, verboten. Erst 1971 konnte Noth das Promotionsverfahren wieder aufnehmen und auch abschließen. 25 Dieter Mayer. »Neue Sachlichkeit«. Dieter Bochmeyer, Viktor Žmegač (eds.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994, 319. 26 Mayer, 1994, 321. 27 Ebd., 323.

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[wurden]«.28 Der »Mensch«, wie Alfred Kantorowicz sagt, müsse im Mittelpunkt schriftstellerischer Ambitionen stehen, »die Gestaltung des Einzelmenschen, oder: einer Anzahl von Einzelmenschen, die exemplarisch für eine Epoche sind«. Und weiter: »Ein guter Reporter sein, daß heißt allenfalls eine Vorstufe zum guten Chronisten erklommen haben; aber erst jenseits des Chronisten beginnt der Epiker.« Es geht um die schöpferische Gestaltung eines realistischen Stoffes und damit um eine »neue Realität der Romanhandlung«.29 Zu betonen ist, dass die Neue Sachlichkeit »als eine in die literarische Moderne eingebundene Ästhetik [...] an die soziokulturellen Verhältnisse und Rahmenbedingungen einer industrialisierten Massengesellschaft gebunden«30 bleibt. Die öffentlichen Diskurse, die angestoßen wurden, sollten einer »demokratischen Öffentlichkeit«31 dienlich sein und diese befördern. Neusachliche Literatur war also demokratischem Gedankengut verpflichtet, folgerichtig auch massenorientiert und -wirksam. Dennoch ist sie aus heutiger Sicht von bloßer Unterhaltungs- oder gar Trivialliteratur klar abzugrenzen.32 Die große Debatte um die authentische und »wahrhaftige« Darstellung des Soldaten im Ersten Weltkrieg in Im Westen nichts Neues zeigte, dass Remarque den neusachlichen Ideen und Forderungen in der Romangestaltung entsprach. Er entwirft in Der Weg zurück ebenfalls ein glaubwürdiges Zeitbild, schreibt einen Zeitroman,33 obwohl substantielle politische Einlassungen fehlen. Ebenso werden detaillierte Ortsbeschreibungen vermieden. Schon in seinem Roman Im Westen nichts Neues glaubt man bereits ein gelungenes Beispiel von Reportageliteratur in den Händen zu halten.34 Der Weg zurück stellt episodenhaft die (Kriegs-)Gegenwart von November 1918 bis zum März 1920 – im neusachlichen Sinne – authentisch, distanziert und nachvollziehbar dar, ist »beobachtend« und

28 Thorsten Unger. Diskontinuitäten im Erwerbsleben. Vergleichende Untersuchungen zu Arbeit und Erwerbslosigkeit in der Literatur der Weimarer Republik. Tübingen 2004 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 103), 534. 29 Alfred Kantorowicz. »Zeitromane«. Die neue Rundschau 40 (1929), 12, 844. 30 Sabina Becker. Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln, Weimar, Wien 2000, 1, 23. 31 Mayer, 1994, 324. 32 Becker, 2000, 231. 33 Der Zeitroman will ein »geistig und kulturell, politisch und ökonomisch stimmiges Panorama [seiner] Zeit geben«. Vgl. Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur. 7. Aufl. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe 231), 1044. Er wird als »ein Schlüsselgenre der Neuen Sachlichkeit« charakterisiert (Unger, 2004, 537) bzw. mit dem Reportageroman zusammen genannt. Beide seien die »gattungspoetologische Konsequenz der programmatischen Forderung nach einem Reportagestil«, der zum einen Realitätsbezug, Aktualität sowie Funktionalität verspricht und zum anderen auf die Entfiktionalisierung und Entidealisierung der Literatur abhebt, vgl. Becker, 2000, 158 (beachte insges. das Kapitel »Reportagestil«, 154–170). 34 Becker, 2000, Bd. 1, 167.

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geht daher konform mit »der Forderung nach einer Reportageliteratur und einem Reportagestil«.35 Als Zeitroman schlägt er den Bogen von der frühen Nachkriegszeit zur aktuellen politisch-wirtschaftlichen Krise der 1930er Jahre, worauf unten noch genauer eingegangen werden soll. Remarque bedient sich einer einfachen, leicht verständlichen, eben »sachlichen« Sprache,36 um »die Teilnahme des Massenpublikums [zu erreichen]« und so auch »zur Demokratisierung der Kunst« beizutragen.37 Es ging auch um die Verarbeitung der Vergangenheit, letztendlich um eine pazifistische Erinnerungskultur: »Like the major writers of the Great War themselves, post-memory literature and film have either searched for a ›true‹ antimythical and anti-heroic (post-)memory of the World War I, or have thematized the contested nature of memory as such.«38 Schon in seinem Auftaktroman ist eine klare, parataktische Sprache (die Umgangssprache und Soldatenjargon einbezieht) vorherrschend, abgesehen von sensualistischen Passagen, wenn zum Beispiel Natureindrücke geschildert werden: Die Wiesen sind naß, und von den Wegen rinnt glucksend das Wasser. Ich [Ernst Birkholz] trage ein kleines Einmacheglas in der Manteltasche und gehe dem Pappelgraben entlang. [...] Im Frühjahre hing der Graben voll Froschlaich und Algen. Helle, grüne Stauden von Wasserpest schwankten in den kleinen, klaren Wellen, langbeinige Schlittschuhläufer zickzackten zwischen den Stengeln der Schilfrohre, und Schwärme von Stichlingen warfen in der Sonne ihre eiligen, schmalen Schatten auf goldgefleckten Sand.39

Zum Teil gelangt Remarque zu einer sehr bildhaften, fast synästhetischen Darstellung menschlicher Sinne:

35 Ebd., 173. 36 Vgl. dazu Gérard Dandjinou Hugues. »Die Forderung nach Nüchternheit innerhalb der neusachlichen Debatte soll nicht nur mehr Realitätsnähe und Gegenwarts- und Aktualitätsbezug der Literatur erzeugen, sie erscheint als Kontrapunkt für die Vergeistigungstendenzen des Expressionismus, der spätestens nach dem Ersten Weltkrieg auf allgemeine Ablehnung nicht nur im gesellschaftlichen Bereich, sondern auch in der Kunst und Literatur der Epoche stößt. Nüchternheit wird zusammen mit Einfachheit und Klarheit Anfang der zwanziger Jahre zum allgemeinen Bedürfnis in der Gesellschaft«. Modernistische Erzähltechniken im Roman der Weimarer Republik. Studien zur Ästhetik des neusachlichen Romans. Aachen 2007, 35. 37 Ebd., 2007, 37. 38 Martin Löschnigg, Marzena Sokołowska-Paryż (eds.). The Great War in post-memory literature and film. Berlin, Boston 2014 (media and cultural memory/Medien und kulturelle Erinnerung 18), 9. 39 Remarque, Weg zurück, 2014, 161.

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Die Wiesen leuchten im Glanz des Spätsommers. In Wiesen liegen – die Halme sind höher als das Gesicht, sie biegen sich, sie sind die Welt, nichts ist mehr da als sanftes Schwanken im Rhythmus des Windes. An den Stellen, wo das Gras allein wächst, hat der Wind einen leise sirrenden Ton, wie eine Sense von weither, da, wo der Sauerampfer steht, ist sein Ton dunkler und tiefer. Man muß lange ruhig sein und lauschen, um es zu hören.40

In einem sachlichen Ton wird in vielen Passagen dem eigentlich unaussprechlichen, nicht auszudrückendem Horror des Krieges Gestalt verliehen, auch um einen teils sarkastisch-fatalistischen Blick darauf zu richten. Der Protagonist Ernst Birkholz besucht einen ehemaligen Kameraden und Scharfschützen, Bruno Mückenhaupt, dessen begeisterte, aber vollständig mitleidlose Erinnerungen an den Krieg besonders grausam und abstoßend erscheinen, als er seine persönliche Trefferstatistik präsentiert: Er holt sie aus der Kommode und blättert genießerisch darin herum. »Im Sommer war natürlich immer meine beste Zeit, weil man da abends besser sehen konnte. Hier – warte mal – Juni 18. vier Kopfschüsse, 19. drei, 20. einer, 21. zwei, 22. einer, 23. keiner, Fehlanzeige. [...] Es war komisch, ich weiß nicht, ob es davon kam, daß ich sie vielleicht von unten, vom Kinn aus anblies, jedenfalls flogen sie nacheinander wie die Ziegenböcke bis zur Brust aus dem Graben hoch«.41

Zuvor hat er mit seiner fünfjährigen Tochter ganz väterlich und liebevoll auf dem Fußboden gespielt. Ernst wird »in die gute Stube« geführt, in der ein plüschiges Sofa und ebensolche Stühle stehen.42 Diese Charakterzeichnung nimmt ganz nüchtern eine Mentalität vorweg, welche später den NS-Vernichtungskrieg und industriellen Massenmord durch tausende von Deutschen ermöglichen wird: Mückenhaupt, ist ein kleines, aber optimal funktionierendes Rädchen im modernindustriellen Krieg gewesen, ohne Skrupel und ethische Grundsätze. Im Zivilleben ist diese Figur national eingestellt, lebt kleinbürgerlich, sehr angepasst und ohne rückblickende Reue, weshalb sie treffend als der »Inbegriff des häßlichen Deutschen«43 bezeichnet werden kann. In Im Westen nichts Neues findet sich bereits dieser Typus des kaltblütigen Mörders: Paul Bäumer bekommt ebenfalls von Sergeant Oellrich eine Schussliste präsentiert, Bäumer selbst wird am Ende von

40 Ebd., 333. 41 Ebd., 344. 42 Ebd., 344. 43 Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal« – Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Köln 2000, 209.

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einem feindlichen Scharfschützen getötet werden. In Der Weg zurück sieht sich der Leser mit der Kriegsbrutalität in Form von rohen, unverdauten Bildern und Eindrücken wie im Vorgängerroman konfrontiert, die ihm quasi in sein Gesicht gespien werden.44 Ernst Birkholz träumt eines Nachts von der Front und dem englischen Soldaten, den er dort massakriert hat: Der Krach der Explosion zerreißt die Luft, Splitter schwirren, ein Schrei steigt auf, lang gedehnt, rasend vor Entsetzen. Ich habe die zweite Granate in der Hand und luge über die Deckung. Der Engländer liegt jetzt frei auf dem Boden, die Unterschenkel sind weggefetzt, das Blut strömt heraus. Lang aufgerollt hängen die Streifen der Wickelgamaschen hinter ihm wie lose Bänder, er liegt auf dem Bauch, mit den Armen rudert er durch das Gras, Mund ist weit offen und schreit.45

Der berichtartige Stil bleibt auch in dieser Szenerie eines Alptraums erhalten, dessen Bilder dadurch umso monströser wirken. Birkholz erleidet wenig später einen Nervenzusammenbruch und wird seinen weiteren Lebensweg reflektieren und seinen Berufsweg nicht fortsetzen, da er das verinnerlichte Töten von Menschen nicht mit den Idealen und humanen Absichten eines Lehrers vereinbaren kann, Bildung und Kultur an sich als inhaltslos oder verlogen ansieht: Was soll ich euch [den Kindern] lehren? [...] Soll ich euch erzählen, daß alle Bildung, alle Kultur und alle Wissenschaft nichts ist als grauenhafter Hohn, solange sich Menschen noch mit Gas, Eisen, Pulver und Feuer im Namen Gottes und der Menschlichkeit bekriegen? [...] Soll ich euch sagen, wie man Handgranaten abreißt und gegen Menschen wirft? Soll ich euch zeigen, wie man jemand mit einem Seitengewehr ersticht, mit einem Kolben erschlägt, mit einem Spaten abschlachtet? [...] Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt! [...] Hinter mir jagen noch die blutigen Schatten der Vergangenheit – wie kann ich mich da zwischen euch wagen? Muß ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?46

Gegen Ende der 1920er Jahre an zwei Romanen zu arbeiten, die den Krieg und Nachkrieg zum Thema haben, war Remarques Weg, um seine persönlichen »Schatten der Vergangenheit«, die eigene gesellschaftliche Orientierungslosigkeit und Entwurzelung »in einer Zeit [...] der allgemeinen Auflösung«47 zu überwin44 Stefan L. Brandt. »A farewell to the senses? Hemingway, Remarque and the aesthetics of World War I«. Martin Löschnigg, Karin Kraus (eds.). North America, Europe and the cultural memory oft he First World War. Heidelberg 2015 (Anglistische Forschungen 453), 223. 45 Remarque, Weg zurück, 2014, 271. 46 Ebd., 275f. 47 Hanns-Gert Rabe. »Remarque und Osnabrück. Ein Beitrag zu seiner Biographie«. Osnabrücker Mitteilungen 77 (1970), 234.

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den. Der sprunghafte Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise 1929–193348 befeuerte die Romanproduktion enorm. Ab 1924 setzte zunächst eine, beginnend mit der Währungsreform, wirtschaftliche Erholung und auch scheinbare politische Stabilisierung ein, die bis 1929 anhielt. In den Jahren 1927– 1929 erschienen nur fünf Romane, die die Massenarbeitslosigkeit behandelten; aber von 1930–1932 waren bereits fünfzig Romane dazu publiziert worden.49 Die Tatsache, dass ab 1930 der Niedergang der Weimarer Demokratie einsetzte, der sich zum einen wirtschaftlich, aber auch in einer zunehmenden politischen Radikalisierung und dem Verfall des Parlamentarismus unter der Regierung Brüning zeigte, nahmen Schriftsteller zum Anlass, um auf den Weltkrieg zurückzublicken, ihn als »referenziellen Erfahrungsraum«,50 somit als Grund der politisch-ökonomischen Krise auszumachen. So ist auch das große Interesse an der in dieser Zeit erschienenen (Anti-)Kriegsliteratur nachvollziehbar.51 Heinrich Brünings Kanzlerschaft hatte »dem demokratischen Staat in Deutschland bereits vor dem Abrutschen in die Weltwirtschaftskrise ein[en] schweren Schlag«52 versetzt, da er mit Hilfe präsidialer Notverordnungen regierte. Am 14. September 1930 errang die NSDAP einen erdrutschartigen Sieg in den Reichstagswahlen, an denen sie das erste Mal teilnahm und sogleich zur zweitstärksten Partei wurde. Die politische Polarisierung erreichte ihren Höhepunkt wie auch die literarische Verarbeitung, ideologische Ausbeutung des Ersten Weltkrieges und seiner Nachkriegszeit: »Der Antikriegshaltung der deutschen Linken stand ein ungebremster Militarismus, die Verherrlichung des Krieges durch die extreme Rechte gegenüber.«53 Die lite-

48 Zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik vgl. die statistische Darstellung von Unger, 2004, 294ff. Zur ökonomischen Entwicklung der Weimarer Republik vgl. u.a. Fritz Hieber. Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der Regierungen von Brüning bis Hitler. Eine zeithistorische und interdisziplinäre Analyse der Weltwirtschaftskrise in den 1920er und 1930er Jahren. Sternenfels 2015. 49 Erhard Schütz. »›Du bist nichts‹ oder der Krieg der Arbeitslosigkeit: Darstellungs- und Deutungsmuster von Arbeitslosigkeit in Zeitromanen der Weimarer Republik«. Franz-Josef Deiters, Axel Fliethmann, Birgit Lang, Alison Lewis, Christiane Weller (eds.). Narrative der Arbeit – narratives of work. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2009 (Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft 2) 190. 50 Schütz, 2009, 190. 51 Vgl. dazu: Thomas F. Schneider. »Endlich die ›Wahrheit‹ über den Krieg. Zu deutscher Kriegsliteratur. Text+Kritik 124 (Literaten und Krieg), 47–48. Die in diesem Beitrag aufgeführte Statistik (Publikationen der Jahre 1917–1932) basiert auf der Studie von Helmut Müssener. Deutschsprachige Kriegs- und Antikriegsliteratur in Deutschland und Schweden 19141939. Stockholm 1987, 18–19. Es werden hier lediglich vier kriegskritische bzw. pazifistische Veröffentlichungen genannt. 52 Ian Kershaw. Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. München 2015, 277. 53 Ebd., 349.

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rarische Bewältigung der Vergangenheit sollte die Ursprünge der gesamtgesellschaftlichen Krise in breiteren Kreisen der Bevölkerung bewusst machen, diese Idee verfolgte Remarque in seinem Roman auch. Die leidenschaftliche öffentliche Diskussion wirkte zum Teil so, »als ob der Krieg nochmals im Nacherleben durchgekämpft würde«.54 Im Hinblick auf die Gegenwart war sicherlich auch beabsichtigt, die Leser aufzurütteln, ihnen Hoffnung zu geben und vor den immer stärker werdenden rechten Populisten und Rattenfängern zu warnen.55 Das häufig eine bestimmte, im neusachlichen Roman in den Fokus gerückte Arbeitnehmergruppe, z.B. die der Angestellten, die Situation einer anderen, z.B. die der Akademiker verdeckte, ist auch mit Blick auf die ehemaligen Soldaten interessant, die wieder in ihre Berufe und damit in ihr Zivilleben zurück wollten. Denn »beide [die Angestellten- und Akademiker-Arbeitslosigkeit] überdeckten [...] die Arbeitslosigkeit der Kriegsteilnehmer«56. Auch in diesem Punkt greift Remarques Roman Der Weg zurück die Gruppe der Kriegsheimkehrer auf, die im beruflichen Feld scheitern. Auf dem Höhepunkt der politisch-wirtschaftlichen Krise sicherte er sich erneut einen großen Leserkreis und damit kommerziellen Erfolg, musste sich aber zugleich auf harte Auseinandersetzungen mit der politischen Rechten einstellen, die zügellose Geschichtsklitterung (im Sinne der zunächst von der OHL57 nach Kriegsende propagierten »Dolchstoßlegende«) betrieb, den Weltkrieg heroisierte und ihn ideologisch für ihre Zwecke einspannte. Remarque stellt sich mit seinem Roman gegen die »Dogmen reaktionärer Irrationalität«58 der Rechten, da er die Mechanismen des Krieges, die seine Protagonisten verinnerlicht habe, ungeschminkt zeigt. Dabei verdeutlicht er auch, welche Folgen diese für das zivile Umfeld haben. Nicht nur die Kriegsheimkehrer leiden unter ihren Erlebnissen, sondern auch ihre Umgebung an ihnen. In Der Weg zurück verfolgt der Leser nicht nur die Rückkehr des Protagonisten Ernst Birkholz von der Front zurück in seine Heimatstadt, somit auch die Rückkehr zu seinen sozialen und beruflichen Lebensbereichen. Remarque versucht, dem Leser die Zusammenhänge zwischen Kriegserfahrungen und denen, die seine Figur Birkholz während ihrer Re-Integrationsversuche in die Zivilgesellschaft sammelt, aufzuzeigen (revolutionärer Aus- und Aufbruch und dessen Scheitern, Auseinandersetzungen mit dem zivilen Umfeld (Familie, Nachbarschaft etc.), (missglücktes) Anknüpfen an berufliche Tätigkeiten, Umgang mit einem verinnerlichten Soldatenimage/Identitätssuche, Kriegstraumata und pathologisches Verhalten u.a.). In erster Linie ist es

54 Klein, 1983, 207. 55 Von Sternburg, 2000, 211. 56 Schütz, 2009, 202. 57 Oberste Heeresleitung. 58 David Midgley. Writing Weimar: Critical realism in German literature 1918–1933. Oxford 2000, 55.

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eher ein sozialkritisches, denn politisches Buch.59 Die Novemberrevolution wird nur ansatzweise dargestellt, ihre politischen Absichten nur sehr allgemein formuliert.60 Viele Betroffene wurden zu Rezipienten des Romans, also Leser, die selbst Soldaten gewesen waren. Sie erlebten den »Zusammenbruch der moralischen wie gesellschaftlichen Vorkriegsordnung im Krieg und in den Nachkriegsjahren«, »den Verlust von Autoritäten« (die Familie/Väter, Schule etc.) und den »Ausbruch ›elementarer Triebe‹ [exzessive bzw. beeinträchtigte Sexualität, Gewalt], die die Oberfläche des zivilisierten Bewusstseins durchbrachen«.61 In den Heimkehrern konnten auch »tickende Zeitbomben« vermutet werden, die es zu entschärfen galt: »The veteran, with his dangerous powers and his penchant for violence, was a threat to the society of his origins. He was someone who had to be reintegrated, reculturated, reeducated.«62 Auch dies musste durch Stoff und Erzählform, so sah es auch Remarque, angesprochen werden. Die Aussage »Die Krisengesellschaft der Arbeitslosigkeit re-inszeniert das Trauma des Krieges«63 trifft insofern auf den Roman Der Weg zurück zu, da die Figuren in Lebens- und Sinnkrisen geraten, die durch Orientierungslosigkeit, Depressionen, Hoffnungslosigkeit und Fatalismus im Arbeits- und Privatleben gekennzeichnet sind. Scheinbar gefestigte menschliche Beziehungen zerbrechen, wie die Ehe Adolf Bethkes. Albert Troßke erschießt einen Nebenbuhler und wird vor Gericht gestellt und verurteilt. Zwei enge Freunde und ehemalige Kameraden von Birkholz, Ludwig Breyer und Georg Rahe, begehen schließlich Selbstmord, da sie im Zivilleben nicht mehr Fuß fassen können. Der Krieg findet weiterhin in den Charakteren selbst statt, sie ringen mit sich und ihrer Umwelt, in die sie sich nicht mehr einfügen können oder wollen. Treffend kann ihre Rückkehr als »twisted road across a no-man’s land into the trenches of peacetime living« beschrieben werden.64 Dies betrifft zu allererst ihren beruflichen »Neustart«, der vielfach als gründliches Scheitern dargestellt wird.

59 Brian O. Murdoch. Remarque. Im Westen nichts Neues. Glasgow 1995 (University of Glasgow French and German publications), 55. 60 Vgl. z.B. die Diskussion zwischen Georg Rahe, Ludwig Breyer und Ernst Birkholz; Remarque, Weg zurück, 2014, 232–235. 61 Lindner beschreibt die »neusachliche Psyche« und »neusachlichen Charakterzüge« der jungen Nachkriegsgeneration; Martin Lindner. Leben in der Krise: Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart, Weimar 1994, 170. 62 Eric J. Leed. No man’s land: Combat and identity in World War I. Cambridge, London, New York, Melbourne 1979, 196. 63 Schütz, 2009, 202. Schütz bezieht sich mit seiner Aussage auf die innerdeutschen Konflikte, die in bürgerkriegsähnlichen Zuständen mündeten (Ruhrkampf, französische Ruhrbesetzung). 64 Richard A. Firda. All quiet on the western front. Literary analysis and cultural context. New York (Twayne’s masterwork studies 129) 1993, 66.

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Am Ende des Romans gibt es einen kleinen Lichtblick, da die Hauptfigur Birkholz ihren beschwerlichen (Lebens-)Weg weitergehen will. Die Romanhandlung liefert auch ein aktuelles Zeitbild der Jahre 1930/31 und spiegelt nicht nur die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Schlussphase der Weimarer Republik wider, sondern auch das absehbare Scheitern demokratischen Denkens und Handelns in Deutschland. Am Ende des Romans wird eine Gruppe ehemaliger Wandervögel im Stil der kommenden Hitlerjugend militärisch gedrillt. Bei den Anführern der Gruppe handelt es sich wahrscheinlich um Freikorpsmitglieder, die die Jugendlichen indoktriniert haben (»Front Heil!«). Birkholz und seine Begleiter werden als »Drückeberger! Vaterlandsfeinde! Schlappes Verräterpack!« und »Pazifisten« beschimpft. Kosole stellt resigniert fest: »Ja, so geht es wieder los.«65 Der Titel Der Weg zurück legt zunächst nahe, dass eine glückliche Heimkehr zum Thema gemacht wird. Jeder Weg führt normalerweise an ein Ziel, welches erreicht wird, wenn man es unbeirrt und standhaft verfolgt. Dieses besteht darin, dass die bis vor kurzem noch aktiven Frontsoldaten in ihr altes Zivilleben zurückfinden. Am Ende des Romans erkennt der Ich-Erzähler Ernst Birkholz, dass das wiedergewonnene Leben »eine Aufgabe und ein Weg« ist: Ein Teil meines Daseins hat im Dienste der Zerstörung gestanden; es hat dem Haß, der Feindschaft gehört. Aber das Leben ist mir geblieben. Das ist beinahe eine Aufgabe und ein Weg. Ich will an mir arbeiten und bereit sein, ich will meine Hände rühren und meine Gedanken, ich will mich nicht wichtig nehmen und weitergehen, auch wenn ich manchmal bleiben möchte. Es gibt vieles aufzubauen und fast alles wiedergutzumachen, es gibt zu arbeiten und auszugraben, was verschüttet worden ist in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre. [...] Dann werden die Toten schweigen, und die Vergangenheit wird mich nicht mehr verfolgen, sondern mir helfen.66

Die Rückkehr in die Heimat muss also in seinen Augen ein Weg vorwärts in ein neues Leben sein. Die Wiederaufnahme von vorhergegangenen Lebenszusammenhängen, Lebensplänen und Zielen scheitert letzten Endes für die meisten Kriegsrückkehrer: »Although the troops have physically made their way back to Germany, the road back into life cannot lead them back to their pre-military existence.«67 Remarque macht dies zum Grundmotiv seines Romans und dennoch lässt er Birkholz nach vorne schauen, gibt so einen positiven Ausblick in die Zu-

65 Remarque, Weg zurück, 2014, 369f. 66 Ebd., 373. 67 Brian Murdoch. The novels of Erich Maria Remarque. Sparks of life. Rochester 2006 (Studies in German literature, linguistics, and culture), 49.

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kunft. Nicht nur er, sondern auch sein Kamerad Willy Homeyer erkennen die Notwendigkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, es im Rahmen individueller Möglichkeiten zu gestalten. Homeyer versucht einen existentiell sicheren, bürgerlichen Lebensweg zu beschreiten, indem er Lehrer wird, was Birkholz für sich ausschließt. Es wird »ein Roman über die Weimarer Jahre [...], über die Überlebenden des Krieges in der Scheinwelt des Friedens«.68 Die Handlung erstreckt sich vom Ende des Ersten Weltkrieges 1918 (Kap. »Eingang«) bis zum März 1920 (Kap. »Ausgang«).69 Der geschichtliche Hintergrund wird durchgehend durch explosive und einschneidende Ereignisse gebildet, welche die Haupthandlung, die im Jahre 1919 spielt, quasi einrahmen: z.B. Waffenstillstand und Beginn der Revolution (November 1918); Inkrafttreten des Versailler Vertrages (Januar 1920) bzw. der Kapp-Putsch (März 1920). Allerdings geht die Handlung nicht dezidiert auf diese historischen Ereignisse ein. Der Ich-Erzähler befindet sich zu Beginn im November 1918 in einem Grabensystem irgendwo an der Westfront, bis zum Schluss wird hier gekämpft und gestorben, der ihm nahestehende Heinrich Weßling stirbt noch an einer Bauchverletzung. Erwähnt werden alte, bereits gefallene Kameraden wie Paul Bäumer, Stanislaus Katczinsky, Müller und Haie, die zum Hauptpersonal von Im Westen nichts Neues gehören.70 Einziger Überlebender der Kompanie Paul Bäumers ist Tjaden. Gegen Romanende erleidet Ernst Birkholz einen Nervenzusammenbruch, er wird schwer krank, alle gefallenen Kameraden erscheinen ihm wie »eine Schar von Schatten«, unter ihnen auch Katczinsky (Kat) und Bäumer.71 Auch erwähnt er rückblickend das (Ferkel-)Festmahl in Flandern mit Kat und anderen alten Kameraden: »Das waren andere Kerle als hier in der Heimat [...]. Leer war dabei und Paul Bäumer – ja, Paul – [...] ich verliere mich ganz in Erinnerungen.«72 Remarque wählte nicht zufällig zwei Namen für seine Hauptfiguren (Baum/Holz), die sich quasi auf einen »Stamm« zurückführen lassen.73 Dazu verweist der Vorname »Ernst« unübersehbar auf den Vornamen seines Schöpfers. Wie Remarques Vater ist der von Birkholz von Beruf Buchbinder.74 In beiden Romanen fallen zahlreiche biografische Anklänge und Details auf, und der Autor selbst bestätigt, dass Bäumer und Birkholz ihm ähnlich seien.75 Somit

68 Von Sternburg, 2000, 202. 69 Schneider, 2009, 257. 70 Remarque, Weg zurück, 2014, 25. 71 Ebd., 328. 72 Ebd., 128. Vgl. Kap. 10 in Im Westen nichts Neues; Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Roman. Köln 1992, 210f. 73 Brian Murdoch. »Vorwärts auf dem Weg zurück. Kriegsende und Nachkriegszeit bei Erich Maria Remarque«. Text+Kritik (2001), 149 [Erich Maria Remarque], 20. 74 Remarque, Weg zurück, 2014, 215; vgl. dazu: Rabe, 1970, 234. 75 In einem Interview mit Wythe Williams im Oktober 1929 sagt Remarque: »I describe the way back to life, how a young man like myself – and Paul Bäumer – experienced war as a

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kann man auch folgender Aussage zustimmen: »This moving novel again bears the hallmark of autobiographical authority.«76 Obwohl der Name des Handlungsortes nicht genannt wird, erinnern zahlreiche Straßennamen und Ortsbeschreibungen an die Geburtsstadt des Autors: Osnabrück (genannt werden Heinrich-, Hakenund Große Straße, Rathausplatz, Marienkirche, Dom, das damalige Schweizerhaus Feldmann (im Roman Lokal Waldmann), das noch vor dem Zweiten Weltkrieg existierende Restaurant Altstädter Hof (heute Große Gildewart) usw.).77 Ein Jugendfreund, Hanns-Gert Rabe, äußert: »Nur flüchtig, mit sehr durchsichtigen Schleiern, sind Personen und Orte verhüllt und ohne Schwierigkeiten deutbar.« So setze Remarque dem verstorbenen Lehrer und eigenem Freund Willi Niemeyer in der Figur Willy Homeyers ein sehr bildhaftes Denkmal.78 Am Romanende schlägt dieser ebenfalls die Lehrerlaufbahn ein. Da die Handlung in Osnabrück und seiner Umgebung verortet ist, haftet dem Roman »der Geruch des Lokalen« an.79 Wie für seine Figuren war die Neuorientierung im Zivilleben für Remarque selbst schmerzvoll und durch berufliche Rückschläge gekennzeichnet.80 So wird sein Alter Ego Birkholz ebenfalls kein Lehrer werden.81 Das Werk insgesamt aber als autobiographisch zu bezeichnen, ist dennoch problematisch.82 Der stetige Wechsel der Erzählperspektiven, d.h. vom Ich-Erzähler zum kollektiven »Wir«, ist für die beiden Romane charakteristisch. In Im Westen nichts Neues sind mit dieser Kollektivansprache die Jugendlichen, ehemaligen Schüler, älteren Kameraden, eigentlich alle einfachen Frontsoldaten und somit auch viele Leser des Ro-

youth, who still carries its scars and who was then grabbed up by the chaos of the postwar period, [and] finally finds his way into life’s harmonies.« Wythe Williams. »Interview mit E. M. Remarque«. New York Times (13.10.1929), 8. zitiert nach: Taylor, 1989, 297. 76 Taylor, 1989, 89. 77 Vgl. dazu den Beitrag Rabes, der als Zeitzeuge Orte benennt, die heute, aufgrund der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, nicht mehr existieren, Rabe, 1970, 233. 78 Detailliert zeigt Bernhard Stegemann die autobiographischen Bezüge im Roman auf: »Autobiographisches aus der Seminar- und Lehrzeit von Erich Maria Remarque im Roman Der Weg zurück«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque, Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück 1998 (Erich-Maria-Remarque Jahrbuch 8), 57 und 66. 79 Ebd., 233. 80 Taylor, 1989, 88. 81 Vgl. zu Remarques Lehrerausbildung an der »Katholischen Präparande« in Osnabrück Rabe, 1970, 205–210, und auch die Darstellungen von Stegemann, 1998, 57–67, und Bernhard Stegemann. »›Die Welt ist nur von schlechten Schülern vorwärtsgebracht worden‹ – Erich Maria Remarque als Lehrer im Emsland«. Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 55 (2009), 149–160. Remarque schlüpft noch einmal in die Rolle des Lehrers, nun aber als Schauspieler, in der Verfilmung seines Romans Zeit zu leben, Zeit zu sterben (1954); Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1958), USA, Regie: Douglas Sirk, 132 Min. 82 Schneider, 2009, 267.

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mans gemeint, also die Deutschen, die deutsche Armee und die malträtierten, an Geist, Seele und Körper Verstümmelten (eine zerstörte Generation, die im vorangestellten Motto des Romans benannt wird83).84 In Der Weg zurück hat das »wir« dieselbe Funktion und schließt neben Birkholz und seinen ehemaligen Kriegskameraden grundsätzlich den Weltkriegsveteranen (und Leser) ein, der um Verständnis, Anerkennung mit der Zivilgesellschaft ringt und eine Rückkehr in diese wünscht. Dies steigert natürlich das Identifikationspotential der Romanhandlung. Man soll also Birkholz am Ende eines Treffens mit ehemaligen Kameraden, eben »vollkommene[n] Soldat[en]«, zustimmen, wenn er zu dem Schluss kommt, dass sie »zu leben anfangen wollen«, aber der Neuanfang im zivilen, privaten Leben vollständig ungewiss erscheint: »Aber für den Frieden? Taugen wir dazu? Passen wir überhaupt noch zu etwas anderem, als Soldat zu sein?«85 Nur punktuell wird in die personale bzw. auktoriale Erzählperspektive gewechselt, so am Ende des Romans, als sich Georg Rahe (der Züge Hanns-Gerd Rabes trägt86) auf einem ehemaligen Schlachtfeld das Leben nimmt.87 Insbesondere die Versuche der beruflichen Eingliederung werden im Roman Der Weg zurück vorgeführt, da sie doch neben der Rückkehr in einen privaten (bei Birkholz familiären) Zusammenhang relevant für den Wiedereintritt in ein ziviles, geordnetes Leben sind. Am Ende von Im Westen nichts Neues eröffnet der Ich-Erzähler Bäumer dem Leser, dass eine verlorene, zerstörte Generation heimkehren werde, die keiner weiteren Enttäuschung standhalte, die sich so sehr nach Frieden, Ruhe und Lebensglück sehne, ihn erhoffe, aber zugleich ohne Hoffnung und Perspektive sei: Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen, und viele werden ratlos sein; – die Jahre werden zerrinnen, und schließlich werden wir zugrunde gehen. Aber vielleicht ist auch alles dieses, was ich denke, nur Schwermut und Bestürzung, die fortstäubt, wenn ich wieder unter den Pappeln stehe und dem Rauschen ihrer Blätter lausche.88

Ein Hoffnungsschimmer bleibt erhalten, denn Paul Bäumer ist sich seiner Melancholie und dunklen Ahnungen auch bewusst, die sich verflüchtigen werden, wenn er erst einmal wieder in den vertrauten Gassen seiner Heimatstadt steht, sich dort unter der heilenden Kraft der Pappeln sammeln, sich auf sein weiteres Leben besinnen kann. Dieses pessimistische Ende ist zugleich der erzählerische

83 Vgl. das Motto von Im Westen nichts Neues, Remarque, Im Westen, 1992, 5. 84 Vgl. dazu: Murdoch, 2015, 158f. 85 Remarque, Weg zurück, 2014, 144. 86 Rabe, 1970, 233f. 87 Remarque, Weg zurück, 2014, 357–361. 88 Remarque, Im Westen, 1992, 262.

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Anknüpfungspunkt des vorsichtig optimistischen »Eingang«-Kapitels des Folgeromans. Nach seiner Rückkehr fragt Ernst Birkholz seine Mutter, ob sie und sein Vater oft am Pappelgraben (noch heute eine ruhige und baumgesäumte Straße in Osnabrück) spazieren gegangen seien. Sie verneint, denn Spaziergänge hätten den bereits vorhandenen Hunger nur noch verstärkt.89 Positiv besetzte Erinnerungsund Naturmotive werden in Der Weg zurück vielfach relativiert, kündigen von der schweren, gar unmöglichen Rückkehr der Soldaten oder zeigen die beschädigte Welt ihrer Kindheit und Jugend. Beim Abmarsch von der Front hat Birkholz bereits zwiespältige Gedanken, in die Friedenseuphorie mischen sich die Erinnerungen an Grausamkeit und Tod: »Ein Jammer sitzt [...] in den Knochen, daß [man] losheulen könnten.«90 Kolonnen um Kolonnen sind seiner Truppe schon vorausgezogen, nur verwelkte Girlanden und ein verblichenes Willkommen auf einigen verregneten Plakaten »begrüßen« sie, es gibt keine freundlichen Worte und Blicke von wartenden Menschen: Verdrossen ziehen wir weiter. Wir hatten uns den Einzug in die Heimat anders vorgestellt nach den Jahren draußen. Wir hatten geglaubt, man würde uns erwarten; aber jetzt sehen wir, daß jeder hier schon wieder mit sich selbst beschäftigt ist. Alles ist weitergegangen und geht weiter, fast als wären wir überflüssig.91

Birkholz fühlt sich wie Bäumer und die anderen noch lebenden Kameraden »überflüssig«, schon bevor sie eigentlich in der Heimat richtig angekommen sind. Als am Zugfenster die Silhouette der Heimatstadt in Sicht kommt, tobt ein Gewitter über ihr und im Schein der Blitze stechen am Rande der Landschaft die schmalen, dünnen Türme [...] in den Himmel. Donnernd fällt die Dunkelheit jedesmal wieder darüber hin, aber bei jedem Blitz kommen sie näher. [...] Wie ein Riesenbaum wächst mit einem Male zwischen uns, über uns, in uns die Erwartung auf. Kosole greift nach seinen Sachen. »Menschenskinder, wo mögen wir in einem Jahr wohl sitzen«, sagt er und dehnt die Arme. »Auf dem Hintern«, erklärt Jupp nervös. Aber keiner lacht mehr. Die Stadt hat uns angesprungen, sie reißt uns an sich.92

Der Grundzweifel an sich selbst, überhaupt wieder in einem geordneten, friedlichen Leben Fuß fassen zu können, ist ein ständiger Begleiter. Dass die Stadt

89 Remarque, Weg zurück, 2014, 123. Remarque verbrachte seine Kindheit im damals noch kaum erschlossenen Stadtteil »Wüste«, d.h. am »Pappelgraben«, vgl. dazu Rabe, 1970, 203. 90 Remarque, Weg zurück, 2014, 26. 91 Ebd., 45f. 92 Ebd., 65.

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bedrohlich auf die Ankömmlinge wirkt, sie wie ein unberechenbares Tier verschlingen könnte, kündigt von diesem Pessimismus. Die Hoffnung verheißende Metapher eines wachsenden Baumes wird am Romanende erneut eine Rolle spielen. Jemand, der nicht erwartet wird, kann nicht wertgeschätzt werden, er erhält voraussichtlich auch keine Chance; eher tritt man ihm mit Unverständnis oder gar mit Angst und Abneigung entgegen. Denn die junge Generation, »die vom Krieg zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam«,93 hat nur das Töten gelernt, nichts anderes. Albert Kropp, der Freund Bäumers, spricht es aus: »Der Krieg hat uns für alles verdorben.« [Weiter resümiert Bäumer] Er hat recht. Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben.94

Der Neubeginn, die Neuausrichtung der eigenen Existenz ist eine wichtige Verbindungslinie zwischen dem bis heute bekanntesten Antikriegsroman der Weltliteratur und seinem Folgeroman. Bäumer fällt, jedoch werden seine letzten Gedanken quasi auf die Folgefiguren Ludwig Breyer, Georg Rahe und Ernst Birkholz übertragen.95 Auf dem langen Rückweg von der Front in die Heimat reflektiert der Ich-Erzähler Birkholz Naturbilder, sieht »in den klaren Regenpfützen das Bild der hellen, seidenen Bäume« und »eingebettet in den braunen Boden [...] ein Stück Himmel, Bäume, Tiefe und Klarheit«. Zum ersten Mal seit langem fühlt er wieder die Schönheit, die Reinheit der Natur, die sein Herz berührt, es erschauern lässt. Die grauenhafte Vergangenheit fällt für einen Moment von ihm ab und er spürt: »Frieden – sehe es: Frieden – empfinde es ganz: Frieden.«96 Auch Paul Bäumer begleiten schon friedvolle und friedensstiftende Natureindrücke auf dessen Weg von der Front in den Heimaturlaub.97 Diese Naturmotivik lässt beide Protagonisten in die zivile Welt hinübergleiten, gleichsam wie auf einer romantischen, unwirklichen Reise. Auch aus der Perspektive Ernst Birkholz’ korrespondieren heile, reine Naturbilder und -eindrücke mit dem Frieden. So denkt er mit seinem Freund Ludwig Breyer an die spätsommerlichen, nächtlichen Streifzüge in heimischen Wäldern zurück, auf der Suche nach dem »Abenteuer mit Postkutschen, Waldhörnern und Sternen«. Ihre literarischen Begleiter sind Werke von Eichendorff, Hölderlin oder des empfindsamen Goethe.98 Naturmotive sind in der deutschen Romantik bedeutsam, die friedvolle, träumerische und grenzenlose Welten ent-

93 Remarque, Im Westen, 1992 5. 94 Ebd., 84. 95 Murdoch, 2001, 26. 96 Remarque, Weg zurück, 2014, 39. 97 Vgl. Kapitel 7 in Im Westen nichts Neues. Remarque, Im Westen, 1992, 143ff. 98 Remarque, Weg zurück, 2014, 323f.

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wirft, die die Jugendlichen vor ihrem Kriegseinsatz erfüllten. Dass diese romantische Gedanken und ihr Lebensgefühl zerstört worden sind, wird durch Kamerad Karl Bröger nur allzu deutlich, als dieser seine wertvolle Eichendorff-Ausgabe in Leder zu Geld machen will, um einen eigenen Schnapshandel zu eröffnen. Ironische Untertöne finden sich in Der Weg zurück durchgehend, so schlägt Willy Homeyer Bröger vor, das Buchleder am besten einem Schuster anzubieten, da es doch Mangelware sei.99 Literatur, Träume, Phantasie und schöne Gedanken sind in der Nachkriegswelt überflüssig. Sie scheinen für die heimgekehrten und desillusionierten Soldaten eher hinderlich in ihrem neuen Leben zu sein, lediglich unnötiger »Ballast«, den es loszuwerden gilt: »Erst mal leben, das ist besser als lesen. Auf mein Examen pfeife ich auch. Das ist alles Quatsch!«100 Im Gegensatz dazu versucht Ludwig Breyer, der vom häuslichen Bücherschatz Birkholz’ angetan ist, seine Orientierungslosigkeit und Depressivität im Lesen »von morgens bis abends« zu überwinden, indem er sich Literatur von seinem Freund ausborgt: Draußen ist mir so manches durch den Kopf gegangen, Ernst, und ich konnte es nie recht zusammenkriegen. Jetzt aber, wo es nun vorbei ist, möchte ich eine Menge wissen; wie das mit den Menschen ist, weißt du, daß so etwas passieren konnte, und wie das alles kommt. Da gibt es viele Fragen. Auch bei uns selber. Früher haben wir über das Leben doch ganz anderes gedacht. Ich möchte vieles wissen, Ernst.101

Doch Birkholz wird zunehmend die Unmöglichkeit bewusst, die »Landschaft seiner Jugend« wiederzufinden und so an die schöne Zeit des Erwachsenwerdens anzuknüpfen, alles wird von den Erinnerungen des Krieges überlagert und durch sie verdorben: Es ist die Gewohnheit, denke ich, wir können keine Landschaft mehr sehen, nur Gelände – Gelände zum Angreifen und Verteidigen – die alte Mühle auf der Höhe ist keine Mühle – sie ist ein Stützpunkt – der Wald ist kein Wald – er ist Artilleriedeckung – immer spukt das wieder hinein – Ich schüttele es ab und versuche an früher zu denken. Doch es gelingt mir nicht recht. Ich bin auch nicht mehr so froh wie vorhin und habe keine Lust, weiterzugehen. Ich kehre um.102

Der Weg zurück in die Zivilgesellschaft muss also ein Weg vorwärts sein, um psychische Beeinträchtigungen und Verletzungen, gezwungener Maßen auch aus eigener Kraft, zu überwinden. Doch dieses »Muss« beinhaltet auch häufig ein ver-

99 Ebd., 183. 100 Ebd., 184. 101 Ebd., 122. 102 Ebd., 163.

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zweifeltes »Wie?«. Nach neusten Einschätzungen waren ca. 313.000 Menschen in Deutschland durch ihre Kriegserfahrungen traumatisiert, im Vergleich dazu waren es in Großbritannien 400.000. Mitte der 1920er Jahre arbeitete man weiter an Therapien für traumatisierte Soldaten, im Straßenbild sichtbar waren z. B. die sogenannten »Kriegszitterer« oder »Schüttler«,103 wie Remarque sie nennt. Im Verlauf des Krieges begannen Ärzte »Konzepte zur Behandlung der so genannten Kriegsneurotiker«104 zu entwickeln. Sieht man heute verzögerte psychische Reaktionen und Störungen (posttraumatische Belastungsstörungen) in vorausgegangenen Gewalt- oder Kriegshandlungen (d.h. die innerpersonale Flucht vor einer unerträglichen, zerstörerischen Realität105) begründet, die sich nur langsam therapeutisch abbauen lassen, behaupteten viele (politisch extrem national eingestellte) Psychiater in den 1920er Jahren, dass »›Kriegsneurosen‹ [...] psychogen und willensabhängig« seien.106 Damit wurden Kriegstraumata nicht nur bagatellisiert, vielmehr negiert und zum Politikum gemacht. Denn nun hatte man eine Erklärung für die militärische Niederlage, da »Simulanten« und »Drückeberger« schon während des Krieges nicht (mehr) hätten kämpfen wollen. In Der Weg zurück scheut sich Remarque nicht, dem Leser die Realität vor Augen zu führen. Birkholz besucht seinen Freund Giesecke in einer psychiatrischen Klinik (»Irrenanstalt«): Giesecke ist in einem großen Saal mit einigen anderen Kranken untergebracht. Als wir eintreten, schreit einer grell: »Deckung – Deckung!« und kriecht unter den Tisch. Die anderen kümmern sich nicht darum. Giesecke kommt uns sofort entgegen. [...] Bevor wir uns begrüßen können, zieht uns jemand beiseite. »Was Neues draußen?«, fragt er. »Nein, nichts Neues«, erwidere ich.

103 Ebd., 173 und 292f. 104 Petra Preckel. »Krank durch die ›seelischen Einwirkungen des Feldzuges‹? Psychische Erkrankungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre Behandlung«. Livia Prüll, PhilippRauh (eds.). Krieg und mediale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914-1945. Göttingen 2014, 31. Vgl. auch Petra Preckel. »What the patient records reveal: reassessing the treatment of ›war neurotics‹ in Germany (1914–1918)«. Hans-Georg Hofer, Cay-Rüdiger Prüll, Wolfgang U. Eckart (eds.). War, trauma and medicine in Germany and central Europe (1914–1939). Freiburg 2011 (Neuere Medizin und Wissenschaftsgeschichte, Quellen und Studien 26), 139–159. 105 Leed, 1979, 164. 106 Diese Haltung großer Teile der (vormals häufig im Krieg tätigen) Ärzteschaft führte zu Auseinandersetzungen mit dem Weimarer Staat, der psychisch erkrankten Kriegsteilnehmern grundsätzlich Rentenansprüche zuerkannte, die die ärztlichen Gutachter aber vielfach nicht attestieren wollten. Das Reichsversorgungsgesetz wurde 1920 durch das Schwerbeschädigtengesetz ergänzt, das die berufliche Wiedereingliederung sicherstellen sollte, vgl. Prüll, 2014, 131f.

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»Und die Front? Haben wir Verdun nun endlich?« Wir sehen uns an. [...] Giesecke gibt uns die Hand. [...] Er ist bei den Kämpfen um Fleury verschüttet worden und hat stundenlang mit einem anderen zusammengelegen, das Gesicht durch einen Balken gegen dessen Hüfte gepresst, die bis zum Bauch aufgerissen war. Der andere hatte den Kopf frei und schrie. Dann strömte jedesmal eine Welle Blut über Gieseckes Gesicht. Allmählich drückten sich die Därme aus dem Bauch und drohten ihn zu ersticken. Er mußte sie zurückquetschen, um Luft zu kriegen, und hörte dabei immer das dumpfe Aufbrüllen des anderen, wenn er hineingriff. Er erzählt das alles ganz richtig und nacheinander. »Jede Nacht kommt es wieder, ich ersticke dann, und das Zimmer ist voll von schmierigen, weißen Schlangen und Blut.« »Aber wenn du das weißt, kannst du nicht dagegen angehen?« fragt Albert. Giesecke schüttelt den Kopf. »Es nützt nichts, auch wenn ich wach bin. Sie sind da, sowie es dunkel wird.« Er fröstelt. »Zu Hause bin ich aus dem Fenster gesprungen und habe mir ein Bein gebrochen. Da haben sie mich hierher gebracht.«107

Hier wird das Ausmaß eines psychischen Traumas drastisch gezeigt und auch die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, schwer geschädigten Ex-Soldaten zu helfen, suizidale Gedanken durch wirkungsvolle Therapien auszuschließen. Tatsache ist, dass viele Betroffene sich nie erholten, weil sie unter einer unzureichenden psychiatrischer Versorgung litten bzw. ein gesellschaftliches Grundverständnis für ihre Erkrankung fehlte.108 Ihnen wurde auch soziales Schmarotzertum unterstellt, da dass es ehemaligen Soldaten lediglich um eine staatliche Versorgung/Rente ginge.109 In einer psychologischen Studie zum Ersten Weltkrieg wird insbesondere auf die Entfremdung von Infanteriesoldaten hingewiesen, die sich durch ihren Kriegseinsatz gänzlich von ihrer (zivilen) Identität und Lebenswirklichkeit entfernten. Der nervliche Totalkollaps aufgrund nicht therapierter Kriegsneurosen ereignete sich bei vielen Veteranen drei bis vier Jahre nach Kriegsende.110 Die Rückkehr in ein ziviles Leben gelang deshalb nur teilweise bzw. scheiterte häufig. Dabei spielten sowohl wirtschaftliche Not (infolge von Arbeitslosigkeit) als auch soziale Diskriminierung eine wichtige Rolle. Zum einen, weil Kriegsbeschädigte körperlich eingeschränkt waren, zum anderen da Arbeitgeber behinderte Mitarbeiter auch ablehnten, weil sie in ihnen »Hysteriker« oder Simulanten vermuteten, auf die im Arbeitsprozess kein Verlass sei.111 Remarque zeigt auch die körperlich Kriegsversehrten, mit und ohne Arm- und Beinprotesen, Kopfverletzte mit zerschossenen Gesichtern oder auch Blinde.112 Ein ehemaliger Mitseminarist von 107 108 109 110 111 112

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Remarque, Weg zurück, 2014, 172–174. Kershaw, 2015, 146. Ebd., 146. Leed, 1979, 187f. Kershaw, 2015, 146. Remarque, Weg zurück, 2014, 290–293.

Heimkehr als ziviles Scheitern in Der Weg zurück

Birkholz hat ein schwer entstelltes Gesicht mit einem Glasauge und er fragt sich, ob er noch Schulmeister werden könne.113 Bei einem Demonstrationszug werden Schilder gezeigt, auf denen »Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?« und »Die Kriegskrüppel hungern« zu lesen ist. Nicht nur die Massen an schwer traumatisierten und nicht-integrierbaren Soldaten bargen erheblichen sozialen und politischen Sprengstoff, sondern auch die Gruppen derer, die gewalttätig blieben, die in Gewalt weiterhin einen selbstverständlichen Bestandteil ihrer Lebenswelt sahen: »The ex-soldier could [...] act within the image of the man of violence, the individual intolerant of all civilized restraints.«114 Viele blieben nicht nur im Inneren »Soldaten«. Veteranenvereine, oder auch die – langfristig politisch destabilisierend für die Weimarer Demokratie  – entstehenden paramilitärischen Freikorps, fanden großen Zulauf. Diesen von der Regierung bezahlten Söldnertruppen schlossen sich nach Kriegsende schätzungsweise 200.000 bis 400.000 ehemalige Soldaten an, darunter circa ein Viertel der 225.000 deutschen Offiziere (zumeist der unteren Dienstgrade).115 Eine Demilitarisierung der Gesellschaft gab es somit nicht und damit auch keine kritisch-pazifistische Vergangenheitsbewältigung; die kritische Reflexion, Distanzierung von Kriegserlebnissen und Gewalttaten blieb vielfach aus, was auch den breiten Aufbruch in die neue demokratische Zivilgesellschaft unmöglich machte. In Remarques Roman verkörpert die Figur Oberleutnant Heel dieses reaktionäre, militaristische Prinzip. Er wird wieder in einer Reichswehreinheit heimisch und lässt bei einer politischen Demonstration auf Arbeiter und Kriegsversehrte schießen, wobei er einen ehemaligen Kameraden umbringt. Es handelt sich dabei um den pazifistisch und sozialdemokratisch eingestellten Max Weil, der zudem noch Jude ist, also nach Ansicht Heels und der radikal politischen Rechten das zentrale Feindbild darstellt. Mit seinem Tod wird das drohende Scheitern eines friedlichen und demokratischen Neuanfangs im Land thematisiert. In einem Streit, der bei der Entlassung von Birkholz’ Kompanie entbrennt, liefern sich beide ein Wortgefecht über die anbrechende Friedenszeit: [Heel sagt] mit schmalen Lippen: »Nun kommt Ihre Zeit, Weil –« »Sie wird weniger blutig sein«, antwortet Max ruhig. »Und weniger heroisch sein«, gibt Heel zurück. »Das ist nicht das Letzte im Leben«, sagt Weil. »Aber das Beste«, erwidert Heel. »Was sonst?« Weil zögert einen Augenblick. Dann sagt er: »Etwas, das heute schlecht klingt, Herr Oberleutnant: Güte und Liebe. Auch da gibt es einen Heroismus.«

113 Ebd., 132f. 114 Leed, 1979, 196. 115 Kershaw, 2015, 155.

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»Nein«, antwortet Heel rasch, als hätte er schon lange darüber nachgedacht, und seine Stirn zuckt, »da gibt es nur Märtyrertum, das ist etwas ganz anderes. Heroismus beginnt da, wo die Vernunft streikt: bei der Geringschätzung des Lebens. Es hat mit Sinnlosigkeit, mit Rausch, mit Riskieren zu tun, damit Sie es wissen. Aber nur wenig mit Zweck. Zweck, das ist Ihre Welt.«116

Heroismus ist ein leeres Wort, eigentlich eine (Lebens-)Lüge. Weil stellt ihr aufrichtige und humane Lebensprinzipien und ein ethisches Handeln gegenüber. Heel hat dem nur die irrationalen Schlagworte wie »Größe« und den »Ruhm« des Individuums entgegenzusetzen, was nicht nur dem heutigen Leser naiv und abstrus erscheinen mag, aber angesichts der militärischen Niederlage und der folgenden Sinnentleerung nationalen und militanten Gedankengutes eine gewisse Logik birgt. Ernst Jüngers Roman In Stahlgewittern (1920) oder auch seine Kriegslyrik sind literarische Beispiele dieser Mentalität. Heel sieht im vergangenen Gemetzel und Grauen an der Front eine »berauschende Erfahrung«, für die man den eigenen Tod einsetzt; zugleich betone sie aber auch die Lebendigkeit des Individuums, seine ureigensten Instinkte, sein Bedürfnis nach Lebendigkeit und Spontanität. Das eigene Leben solle sich nicht mehr nach sinnentleerten Zweckmäßigkeiten richten. Dieser Gedanke ist für Birkholz ebenfalls zentral, weil er sich einer solchen Existenz schließlich verweigert und unter anderem nicht mehr als Lehrer tätig sein will. Birkholz und Heel fühlen sich beide, wenn auch unter anderen Vorzeichen, um ihre Existenz und Zukunft betrogen. Obwohl Remarque dem Jüngerschen Gedanken, d.h. existentielle Erfahrungen ursprünglicher Lebendigkeit und individueller Gefahr, welche dem zivilisierten Menschen abhanden gekommen sind, zuneigt, ist die Figur Heel doch ein zentrales Beispiel für den durch den Krieg sozial und moralisch deformierten Menschen. Aber anstatt pazifistisch zu denken und ein friedfertiges ziviles Leben anzustreben, sieht Heel nur in der Fortdauer des »anständigen« Soldatentums einen Sinn. Er bleibt dem Zorn, der Wut und Gewalt des Krieges verhaftet. Heel ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Krieg einen Rückschritt im grundlegenden mündigen und zivilisierten Verhalten der Menschen bedeutete, diesen gar erzwang.117 Damit versagt sich Heel wie viele andere der Zivilgesellschaft und unterminiert einen demokratischen, friedlichen Neubeginn. Diese Figur steht damit auch symbolisch für die gescheiterte Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs und dessen Gesinnung, was Remarque in ihrer Unbelehrbarkeit und Unmenschlichkeit betont. Kershaw bemerkt dazu, dass »vie-

116 Remarque, Weg zurück, 2014, 55. 117 Leed. 1979, 201. Leed erwähnt interessanterweise die ausufernde Gewalt durch reguläre britische und kanadische Truppen Anfang 1919, die aufgrund einer schleppenden Demobilisierung ausbrachen. Nach Plänen der britischen Regierung wurden zunächst nur die Truppen entlassen, deren Soldaten Arbeitsangebote bekommen hatten.

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le, die so empfanden, [...] ihren Weg in die rassistische Gewalt paramilitärischer Gruppen«118 nahmen. Der ehemalige Kompanieführer geht bei der Niederschlagung der Demonstration entsprechend kaltblütig und skrupellos vor, zeigt weder Bedauern noch Reue, lediglich der Grad der »Pflichterfüllung« ist ein Maßstab seines Handelns. Birkholz und seine Begleiter fühlen sich sofort an die Front zurückversetzt, als weiter auf den Demonstrationszug geschossen und das Feuer von den Dächern erwidert wird: Wir liegen in Haustüren, Schüsse peitschen, Menschen schreien, wir sind überschwemmt, mitgerissen, verwüstet, rasend vor Haß, Blut spritzt auf das Pflaster, wir sind wieder Soldaten, es hat uns wieder, krachend und tobend rauscht der Krieg über uns, zwischen uns, in uns – aus ist alles, die Kameradschaft durchlöchert mit Maschinengewehren, Soldaten schießen auf Soldaten, Kameraden auf Kameraden, zu Ende, zu Ende –.119

Georg Rahe versucht nur kurz einem Freikorps beizutreten, weil er hofft, dort noch einen »Rest Kameradschaft« zu finden. Schnell erkennt er, dass nur »ein verwildertes Zusammengehörigkeitsgefühl, eine gespenstische Karikatur des Krieges«120 die Truppe beherrscht. Als er noch Zeuge eines Fememords wird, ist dieses Kapitel für ihn abgeschlossen. Im Roman wird deutlich, dass die Hauptfigur ebenfalls zutiefst und lange dem Kameradschaftsgedanken anhängt. Birkholz fühlt sich vor allem den Menschen verpflichtet, mit denen er den Krieg überstanden hat, die seine Kameraden sind oder waren. Der Begriff »Kameradschaft« ist in Remarques Romanen in dem Sinne positiv konnotiert, da sie eine durch den Krieg erzwungene Ersatzgemeinschaft als Ersatzfamilie etabliert, die über ihn hinausreicht. Die Freundschaft und Verbundenheit untereinander wird durch Heels Schießbefehl in Frage gestellt, der allgemeine Kameradschaftsgedanken des Militärs als fragwürdig und obsolet entlarvt. Damit wird auch gezeigt, dass sie eben »nur im Krieg gründete«121 und nicht unbedingt mit gewachsener, »ziviler« Freundschaft gleichzusetzen ist. Birkholz fühlt sich noch lange mit ehemaligen Soldaten (mit denen er bereits vor dem Krieg befreundet war) freundschaftlich verbunden. Hier bleibt die Haltung des Autors also ambivalent: Birkholz trennt sich nicht von seinem alten Umfeld, tritt auf der Stelle und vermeidet auch einen zwischenmenschlichen Neuanfang im Privatleben. Treffend wird der »Kamerad« auch als Mitglied eines Kultes charakterisiert, der Zivilisten (bewusst) ausschließt.122 Allerdings kann er sich

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Kershaw, 2015, 154. Remarque, Weg zurück, 2014, 301. Ebd., 338f. Murdoch, 2001, 24. Firda, 1993, 65.

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auch nicht ohne weiteres von diesem Personenkreis distanzieren, denn alle Bezugspersonen, außer denen in seiner Familie, sind zumeist gleichaltrig und somit ebenfalls Soldaten und »Kameraden« gewesen. Birkholz ist als junger Mann mit diesen Menschen an die Front geschickt und dort mit ihnen sozialisiert worden. Der Schießbefehl von Heel bewirkt, dass »wieder Krieg; aber die Kameradschaft [...] nicht mehr [ist].«123 Somit findet hier ein Überdenken und auch zum Teil ein Ablösen von der eigenen Vergangenheit statt und ab Kap. 6, IV wird der Begriff »Kameradschaft« vom Erzähler auch nicht mehr verwendet. Birkholz resümiert schon in der Mitte des Romans: Mag sein, daß es das Zivilzeug ist, das überall zwischen die Militärbrocken gesprenkelt ist, – mag sein, daß Beruf, Familie, soziale Stellungen sich wie Holzkeile hineingeschoben haben: die richtige Kameradschaft von früher ist es nicht mehr. [...] Das Gemeinsame ist nicht mehr beherrschend. Es ist schon zerfallen in Einzelinteressen. [,,,] Es sind noch unsere Kameraden, und sie sind es doch nicht mehr, das macht gerade so traurig. Alles andere ist kaputtgegangen im Kriege, aber an die Kameradschaft hatten wir geglaubt. Und jetzt sehen wir: Was der Tod nicht fertiggebracht hat, das gelingt dem Leben: es trennt uns.124

Der unbedingte, nicht hinterfragbare Zusammenhalt unter Soldaten wird hier angesichts der neuen Lebensanforderungen und »Interessen« des Individuums (der Autor vermeidet den Begriff »Egoismus«) als illusorisch und überflüssig erkannt. Der Krieg bringe nichts Gutes hervor, außer eben »echter« Kameradschaft, angesichts der ständigen Gefahr getötet zu werden und auf Hilfe, Schutz von anderen angewiesen zu sein. An dieser positiven Konnotation, die im Übrigen konsequent den Vorgängerroman Im Westen nichts Neues durchzieht, hält die Hauptfigur fest, ja, sie unterstellt damit der Zivilgesellschaft, in welcher der Mensch automatisch selbstsüchtig handele, asozial zu sein. Zentrale Bereiche des menschlichen Lebens (Beruf, Familie, soziale Interaktion) sind »Zivilzeug«, das spaltet, trennt, zerstört. Der Kriegskameradschaft per se Aufrichtigkeit und Selbstlosigkeit zu unterstellen, sie gar zu vermissen, ist sehr fragwürdig und nur zum Teil mit der beabsichtigten und erwähnten Rezeptionsintention Remarques erklärbar. Gerade diejenigen Soldaten, die als die besten im Felde galten, haben meist die schwierigste Integration, wenn nicht gar ein Scheitern in der Gesellschaft vor sich. Andere hingegen, die eine traurige Figur in ihrem Soldatendasein abgaben, schlecht anführten und Menschen auf ihrem Gewissen haben, sind nach ihrer Rückkehr schnell erfolgreich.125 So tritt im Roman Feldwebel Seelig auf, der Birkholz’ Mitschüler

123 Remarque, Weg zurück, 2014, 308. 124 Ebd., 217–219. 125 Taylor, 1989, 88.

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Schröder auf dem Gewissen hat, weil er diesem den ihm zustehenden Fronturlaub strich und ihn stattdessen in ein tödliches Gefecht schickte. In der Heimatstadt gibt Seelig den erfolgreichen, »seligen«, eben zufriedenen Gastwirt, der Krieg und Militär scheinbar hinter sich gelassen und ein erfolgreiches Zivil- und Geschäftsleben begonnen hat. Birkholz stattet ihm mit anderen Kameraden einen Besuch ab, und Ferdinand Kosole, der den ehemaligen Vorgesetzen besonders hasst und auf Rache sinnt, betrachtet zunächst einen »dicken dienstfertigen Mann an den Bierhähnen«, der doch nun »ein ganz anderer Mensch« zu sein scheint.126 Dass Seelig mit seinen Annäherungsversuchen gegenüber seinen einstigen Untergebenen scheitert, liegt an seiner unveränderten Einstellung, die er mit militärisch geschnittenen Hosen zur Schau stellt. Der ehemalige Unteroffizier wird schließlich schwer verprügelt.127 Obwohl Seelig materiell und auch finanziell erfolgreich dasteht, zeigt doch Remarque das zivile Scheitern dieser Figur, die doch im Grunde nichts gelernt hat, ebenso unbelehrbar wie die des Offiziers Heel ist. Sein anbiederndes, geschäftstüchtiges Gebaren läßt Seelig zwar harmlos, quasi unschuldig erscheinen, da er »herumdienert« wie ein »Schleimscheißer«, sodass Birkholz und seine Begleiter »doch gar keine Lust mehr« haben, sich an ihm zu rächen.128 Aber Seeligs Charakter ist der gleiche geblieben, seine zivile Existenz deshalb eine Lüge. Der Streit und der exzessive Gewaltausbruch sind in den Augen Birkholz’ und seiner Freunde absolut gerechtfertigt, ja gerecht. Hier findet eine lang angestaute Wut ein passendes Ventil. Aber diese Aggressionen richten sich letztlich nur gegen ein verantwortliches, aber doch kleines Licht in der Befehlshierarchie. Dennoch empfindet Birkholz, genauso wie die Anderen nach der Attacke Genugtuung, da ein Verantwortlicher zur Verantwortung gezogen worden ist. Hier wird die institutionelle Verantwortungslosigkeit offen gelegt, die dem Krieg folgt. In den meisten Fällen mussten Offiziere und Vorgesetzte keine nachträglichen Prozesse und Strafen fürchten, weil sie ihre Autorität missbraucht oder sich an der Front als inkompetent erwiesen hatten. Bereits kurz nach seiner Rückkehr in seine Heimatstadt wird Birkholz von seinem »Renommierverwandten« und Onkel Karl eingeladen, der im Krieg Etappenoffizier gewesen und bei Kriegsende recht wohlhabend ist. Das Abendessen und die dort anwesenden Gäste sind dem Protagonisten zuwider, da hier die ganze Arroganz und Ignoranz des gehobenen Bürgertums zu Tage tritt. Getafelt wird noch in Uniform, den Rang ausweisende Militaria zur Schau gestellt, weshalb Birkholz bemerkt: »Diese Bürohocker sind beim Militär ja oft besonders scharf auf Degen und Sporen.«129 Über den ersten

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Remarque (2014) 113. Ebd., 115f. Ebd., 113. Ebd., 125.

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Reichspräsidenten der neuen Republik wird verächtlich gesprochen, er sei von Beruf nur Sattler. Diese Menschen »benehmen sich, als säßen sie in einem Schaufenster, und sie reden, als wären sie auf dem Theater«,130 den tatsächlichen Krieg und sein Gemetzel haben sie nie zu Gesicht bekommen. Der Erzähler empfindet Scham und Wut »auf alle diese Leute [...], auf diese ganze Welt hier, die so selbstverständlich dahinlebt, als wären die ungeheuren Jahre niemals gewesen, in denen es doch nur eins gab: Tod oder Leben und nichts sonst«. Der »abgestandene, selbstgefällige Geist von früher« wird schmerzhaft wahrgenommen, auch hier hat man nichts aus der Vergangenheit gelernt, im Gegenteil, der Militarismus wird weiterhin hofiert.131 Nach überstandenen grauenvollen Schlachten und bestialischen Grabenkämpfen soll die Rückkehr in das Zivilleben in den Augen des Protagonisten Ernst Birkholz unbedingt in einem ruhigen, erfüllten und friedlichen Dasein münden: »Entronnen der Unterwelt – den Weg zurück ins Leben.«132 Im Kapitel »Eingang« führt ihm sein Kamerad Jupp ein neues, glückliches Leben vor Augen: »Menschenskind, Schaufenster – und Cafés – und Weiber –«.133 Ernst Birkholz hingegen denkt zunächst an seinen zukünftigen Beruf als Lehrer, wenn er denn sein Examen bestanden haben wird: Ich lache. »Ich? Ich werde wohl wieder zur Schule müssen.« [...] »Ach, verflucht! Aber das werdet ihr doch wohl nicht machen?« meint Jupp. »Weiß ich nicht. Werden wir wohl müssen«, antworte ich und werde wütend, ohne zu wissen warum.134

Nach Abschluss des Lehrerseminars fassen Birkholz und Homeyer den Start in ein bürgerliches Leben ins Auge. Der Ich-Erzähler sieht für sich allerdings nur halbherzig eine Option, sich »als Dorfschullehrer an den restaurierten Normen«135 der Vorkriegszeit zu orientieren. Mitte des Romans treibt er unstet und unsicher dahin, »Tage und Wochen zerflattern [ihm] unter [seinen] Händen«, er und seine Freunde »verbringen sie mit belanglosen, oberflächlichen Dingen, und wenn [sie] sich umsehen, ist nichts getan«.136 Es gibt keine langfristigen Ziele, geschweige denn eine motivierende Lebensplanung. »Wenn wir erst einen Beruf haben«,137

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Ebd., 126. Ebd., 129. Ebd., 29. Ebd, 9. Ebd., 10. Erhard Schütz. Romane der Weimarer Republik. München 1986 (Text und Geschichte, Modellanalysen zur deutschen Literatur 19, 1387) 199. 136 Remarque, Weg zurück, 2014, 181. 137 Ebd., 177.

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bemerkt Birkholz, als wenn sich dadurch alle anderen existenzbedingten Fragen und Probleme von selbst lösten. Selbst eine Frau sieht er nicht an seiner Seite, auch eine Freundschaft oder Ehe erscheint ihm genauso unsicher und fragil zu sein wie sein gegenwärtiges Dasein: Diese Leere [in uns] macht uns unruhig, denn wir fühlen, daß man uns nicht versteht und daß selbst Liebe uns nicht helfen kann. Es klafft eine unüberbrückbare Kluft zwischen Soldaten und Nichtsoldaten. Wir müssen uns selber helfen.138

Nicht verstanden zu werden, weil die erlebten Schrecken des Krieges nicht mit den Menschen zuhause geteilt werden können, ist bereits ein wichtiges Thema in Im Westen nichts Neues. Was sich hier (sehr deutlich auch im Romanmotto) tragisch andeutet, wird in Der Weg zurück gänzlich dargestellt: eine zurückgekehrte und verlorene, da entwurzelte Jugendgeneration. Willy Homeyer beginnt als Volksschullehrer zu arbeiten und, wie bereits erwähnt, Birkholz sieht hier keine Möglichkeit verantwortungsvoll zu wirken, es besser als seine Vorgänger zu machen. Über die rasch nach dem Examen zugewiesene Lehrerstelle in einem der umliegenden Dörfer ist er zunächst froh, denn er hat »das ziellose Herumleben« satt, »jetzt will [er] arbeiten«.139 Kann man, wenn man getötet hat, Kinder unterrichten und auf das Leben vorbereiten?140 Die deutschsprachige Literatur hat viele selbstgerechte und rücksichtslose Lehrerfiguren hervorgebracht, wie in Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Turnstunde (1902) oder Hermann Hesses Roman Unterm Rad (1906). Sie denken und agieren im Sinne des autoritätshörigen, leistungsüberzogenen wilhelminischen Bildungssystems, das am Ende häufig feige, skrupel- und rückratlose Absolventen hervorbringt, wie eben jenen »Untertanen« in Heinrich Manns gleichnamigen Roman (1914). Auch Paul Bäumers Lehrer Kantorek, der dessen Klasse dazu verführt, sich freiwillig an die Front zu melden, kann hier eingeordnet werden. Das Gefühl der gesellschaftlichen Entwurzelung, das Birkholz und die Figuren um ihn herum empfinden und zunehmend verinnerlichen, hat einen früheren Ursprung, der vor 1914 liegt. Im Roman ist der Krieg Ursache des gegenwärtigen Übels, der Gefühle des Betrogenseins, der Vergeblichkeit und des Versagens. Aber in ihm wird noch deutlicher, dass der Krieg

138 Ebd., 181. 139 Ebd., 241. 140 Auch in Steven Spielbergs Kriegsfilm Der Soldat James Ryan, der allerdings im Zweiten Weltkrieg spielt, gesteht Captain John H. Miller seinen Soldaten sehr spät, dass er im Zivilleben Collegelehrer gewesen ist. Aus dem Munde des erfahrenen und auch kaltblütigen Offiziers klingt dies unglaubwürdig; Saving Private Ryan (Der Soldat James Ryan) (1998), USA, Regie: Steven Spielberg, 169 Min.

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für eine solche Stimmung nur Katalysator war, eher als Schleier fungiert vor dem wahrhaften Grund, der misslingenden Sozialisation schon zu Friedenszeiten, im Kaiserreich. [...] Mit dem Zerfall der äußeren Ordnung von Schule, Militär, auch Kirche und Staat, [traten] umso deutlicher die Defekte einer misslungenen oder nicht beendeten Individuation hervor.141

Birkholz ist nicht wie sein Freund Homeyer, der sich z.T. arrangiert und als Dorfschullehrer einer gleichförmigen, aber dafür materiell abgesicherten Existenz entgegensieht. Dessen ungeachtet freut er sich auf seine Aufgabe und »seinen Jungens [...] beibringen, was wirklich ihr Vaterland ist. Ihre Heimat nämlich und nicht eine politische Partei«.142 In diesem Sinne findet ein Wechsel in der Vorstellung des Vaterlandes statt: »[it] changed [...] from a public symbol into a personal ideal, one no longer attached to meaningless rhetoric and fine phrase«.143 Das Verhalten ehemaliger Soldaten wird auch in den 1930er Jahren als »kampfbereiter Alarmzustand« bezeichnet, der durch einen übertriebenen Aktionismus bzw. durch »eine Haltung müder und skeptischer Resignation« im Zivilleben gekennzeichnet sei.144 Auch der Protagonist des Romans, desillusioniert und von Selbstzweifeln zerrissen, fühlt immer »das Sprunghafte, Hastige, auf den Augenblick bedachte«. Der allgegenwärtige Tod auf dem Schlachtfeld hat permanent affektgeleitetes Entscheiden und Handeln eingefordert, sodass im Frieden eine große innere Leere verspürt wird. Birkholz spürt auch, dass er nicht zu einem vorbildlichen, menschlichen und optimistischen Lehrer und Erzieher werden kann. Mit dieser Einsicht, ja »Kapitulation« zeigt er aber durchaus persönliche Größe und Verantwortung, da Birkholz in diesem persönlichen Zustand junge Menschen nicht unterrichten will. Sich die Unfähigkeit der eigenen Lebensgestaltung einzugestehen, lieber zu verzichten und eigene Nachteile in Kauf zu nehmen, als erneut Schaden bei Menschen anzurichten, also verantwortungsvoll zu handeln, ist eine der stärksten und glaubwürdigsten Aussagen des Romans Der Weg zurück. Ernst Birkholz fühlt sich nach dieser Entscheidung frei und denkt optimistisch, obwohl sein vor ihm liegendes Leben für den Leser ungewiss bleibt. Das Leben selbst gibt ihm Hoffnung, die Baummetapher fasst seine Gedanken zusammen: Heute weiß ich, daß alles im Leben vielleicht nur ein Vorbereiten ist und Wirken im einzelnen, in vielen Zellen, in vielen Kanälen, jedes für sich – und so wie die Zellen und Kanäle eines Baumes den aufwärts drängenden Saft nur aufnehmen und

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Schütz, 1986, 199. Remarque, Weg zurück, 2014, 370f. Firda, 1993, 68. Noth, 2001, 91, 93.

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weiterzuleiten brauchen, so wird wohl daraus dann einmal Rauschen und besonntes Laub werden, Wipfel und Freiheit. Ich will anfangen.145

Es wird ganz sicher ein Dasein in Freiheit und Gerechtigkeit sein, auch wenn sich Jugendträume nicht erfüllen werden, wie man es sich während des Krieges erträumt und erwartet hat. Dieser Lebensweg wird »mit Steinen und guten Strecken« gekennzeichnet sein, man wird »stolpern und fallen«, doch »wieder aufstehen und nicht liegenbleiben, [...] weitergehen und nicht umkehren«. Birkholz mutmaßt, dass er diesen Weg auch allein, nur zum Teil glücklich und auch unbehaust zurücklegen wird, da der Krieg vieles zerschlagen hat.146 Der Aussage, dass Birkholz zwar den Krieg überlebt und einen Weg vorwärts eingeschlagen habe, dieser aber ohne Ziele und Hoffnung sei,147 kann man also nicht gänzlich zustimmen. Auch Tucholskys ironische Behauptung, Remarque sei nicht in der Lage, die Heim- und Rückkehr in ein bürgerliches Leben darzustellen, lasse er »den Leser völlig ratlos zurück, so ratlos, wie es die Leute seiner Kompagnie« seien, die ihm »eigentlich am besten gefallen, wenn es für sie etwas zu hauen gibt«,148 ist unterhaltsam, aber inhaltlich nicht stimmig. Die empathische und auch differenzierte Sichtweise Remarques, welche für den Leser glaubwürdig die Ängste, Zweifel und Wünsche in seinen Figuren entstehen lässt, zeigt etwas Anderes. Aus dem Roman Der Weg zurück spricht ebenso glaubwürdig »der eindringliche, verzweifelte Appell des Autors, es nicht wieder dazu kommen zu lassen. Aber die tiefe Resignation [Remarques] ist spürbar, die Verzweiflung darüber, dass [vermutlich] ein anderes Deutschland nicht entstehen wird«.149 Es ist ein pazifistisches Werk, das seinen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung des Ersten Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit leisten will,150 aber auch einen Weckruf für alle Demokraten darstellt, sich für die gefährdete Republik einzusetzen. Der Leser heute sollte ihm, angesichts des Erstarkens populistischer Parteien und ihrer Politiker in ganz Europa, ebenfalls Aufmerksamkeit schenken.

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Remarque, Weg zurück, 2014, 373f. Ebd., 374. Murdoch, 2006, 157. Wrobel, 1931, 733. Westfalen, 1990, 320. Murdoch, 1995, 59.

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Roman R. Tschaikowski

История переводов романа Э.М. Ремарка Три товарища на русский язык

Im Beitrag wird die Geschichte der Übersetzungen des Romans von E. M. Remarque Drei Kameraden ins Russische dargestellt. Es werden die Übersetzungen aus den Jahren 1939–1989 betrachtet. In dieser Zeitperiode wurden drei verschiedene Übersetzungen veröffentlicht, darunter eine anonyme in der Tageszeitung Ssjegodnja vetscherom (»Heute am Abend«) (Riga, Lettland). Die Rigaer Version wurde nie als Buch herausgegeben. In der Sowjetunion war der Roman erstmals 1958 in der Übersetzung von I. Schreiber und L. Jakovenko (L. Kopelev) in Moskau erschienen und wurde danach mehrere Male in vielen Städten der UdSSR neu aufgelegt . Im Jahre 1981 wurde diese Übersetzung in leicht abgeänderter Form herausgegeben und als Übersetzer wurde nur I. Schreiber angegeben. 1989 ist eine weitere Übersetzung von Ju. Archipov herausgekommen. Im Artikel werden historische, soziale und literarisch-künstlerische Aspekte der Rezeption des Romans im russischen Sprachbereich untersucht. У каждого романа Э.М. Ремарка своя переводческая судьба. Она зависит от многих факторов – от времени появления оригинала, от исторической обстановки в стране, где осуществляется перевод, от того, кто и в каких условиях выполняет перевод и т. п. Своя история и у переводов романов Ремарка на русский язык. В наших предыдущих работах мы достаточно подробно изложили историю создания русских переводов его первых великих романов – На Западном фронте без перемен и Возвращение (Tschaikowski u. a, 2014, 33–44, Чайковский и др., 2014, 46–52, Чайковский, 2016, 61–71). В этой статье мы проанализируем историю рецепции средствами русского языка третьего великого романа Э.М. Ремарка Три товарища. Как известно, работа над книгой продолжалась с весны 1931 года до весны 1936 года. Роман был сначала переведен на английский язык и напечатан в США и в Великобритании в 1937 году. На немецком языке он впер173

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вые был опубликован в 1938 году амстердамским издательством «Кверидо» («Querido») в Голландии, которая к тому времени еще не была оккупирована немецкими войсками (Schneider, 1992, 67–68). В Германии роман вышел в свет уже после окончания Второй мировой войны в 1951 году. В СССР, как мы писали в наших предыдущих статьях, книги Ремарка с 1936 по 1956 годы не печатались. Однако после разоблачения преступлений сталинизма Н.С. Хрущевым и с началом периода так называемой оттепели романы Ремарка вновь стали переводиться и широко издаваться. В числе переведенных и вышедших в свет на русском языке книг Ремарка был и роман Три товарища. Однако изданный в 1958 году в Москве перевод романа не был первым переводом на русский язык. Первый перевод еще в 1939 году был опубликован на русском языке в столице независимой в те годы Латвии –Риге – в газете «Сегодня вечером» (Ремаркъ, 1939). Газета Сегодня вечером являлась вечерним выпуском газеты Сегодня, которая выходила в Риге с сентября 1919 года. Первый номер газеты Сегодня вечером вышел 1 декабря 1924 года. Обе газеты перестали выходить 27 июня 1940 года (Абызов, 2006, 12–14, 63, 356–357). Перевод печатался в газете с 7 марта по 18 июля 1939 года, но, к сожалению, без указания имени переводчика. Можно высказать осторожное предположение, что автором перевода, опубликованного в газете Сегодня вечером, мог быть кто-нибудь из живших тогда в Риге переводчиков других романов Ремарка – Г. Левин (Die Traumbude), Л. Мейерсон (Im Westen nichts Neues), аноним, выполнивший перевод романа Der Weg zurück, или кто-то другой из переводчиков с немецкого языка, которых в Риге в те годы было много. А. Коссовича, автора одного из переводов романа Im Westen nichts Neues, мы в этот список предполагаемых переводчиков не включаем, поскольку в 1935 году он умер. Рижский перевод романа Drei Kameraden оказался забытым, а имя его переводчика остается неизвестным до сегодняшнего дня. Судя по всему, этот перевод не был известен российским и зарубежным ремарковедам до появления книги Ю. Абызова А издавалось это в Риге… 1918–1944: Историко-библиографический очерк (Абызов, 2006, 351). В газете Сегодня вечером роман печатался под заглавием Три друга. Решение переводчика, опубликовавшего свой перевод в Риге, назвать роман Три друга могло быть связано с тем, что после октябрьского переворота 1917 года из слова товарищ начало вытесняться его основное значение – человек, близкий кому-нибудь по общности взглядов, человек, связанный с кем-либо чувствами дружбы, привязанности, вместо чего слово приобрело официозный характер и стало большей частью означать: человек как член советского общества, как гражданин социалистической страны или как член революционной рабочей партии (Ожегов, 1973, 734). В песне одного из поэтов сталинской эпохи В. Лебедева-Кумача, написанной в 1935 году, 174

Drei Kameraden: История переводов на русский язык

были такие строки: Наше слово гордое «товарищ» нам дороже всех красивых слов. Из-за этого нового значения слово товарищ латвийскому переводчику, вероятно, не подходило. И в то же время можно допустить, что название Три товарища в середине 50-х годов какой-то мере помогло новому переводу быть напечатанным в СССР – речь ведь в романе идет о товарищах, могли думать чиновники от литературы, и, значит, о «своих». Как бы там ни было, именно благодаря роману Ремарка к этому слову вернулось его первоначальное значение. А. Битов добавляет, что это слово вновь приобрело человеческий смысл (Битов, 1989, 3). В Советском Союзе роман Э.М. Ремарка, как мы уже отмечали выше, впервые был напечатан в 1958 году в переводе И. Шрайбера и Л. Яковенко (Л. Копелева) (тиражом в 150.000 экземпляров в серии «Зарубежный роман ХХ века»). С момента публикации романа на языке оригинала прошло двадцать лет. Известный российский литературовед и философ Ю.Ф. Карякин в интервью о спектакле по роману Три товарища в постановке Г. Волчек говорил: У нас его опубликовали через двадцать лет после написания. Еще одна чудовищная несправедливость. Представьте себе, что советские ученые узнали бы о каком-нибудь открытии Эйнштейна через 20 лет. Это самоубийство, и мы этим самоубийством занимались все семь десятилетий. За годы советской власти в мире была создана огромная, фантастически глубокая литература, но мы были от этих родников оторваны (Карякин, 1990, 13).

О времени, когда роман в переводе Л. Копелева и И. Шрайбера вышел в свет, Л. Копелев в книге, написанной в соавторстве с женой Р. Орловой, вспоминал так: Началом «ремарковской волны» стали романы «Три товарища», 1958 (я участвовал в переводе и написал предисловие) и «Триумфальная арка». Переиздали и «На западном фронте без перемен». Книги Ремарка стали спешно переводить, издавать и областные, республиканские издательства. Сотни тысяч экземпляров расходились за несколько дней или даже часов. Кто не успевал купить, записывался в очереди в библиотеки и ждал иногда месяцами. Растерянные литературные чиновники говорили уже о ремарковском наводнении, потопе, массовом психозе. В газетах и журналах о Ремарке писали восторженно или возмущенно, но не равнодушно. Одни его превозносили, другие ругали и все пытались как-то объяснить тайну внезапного успеха. В библиотеках, клубах, институтах, школах, устраивались читательские конференции, посвященные Ремарку. Мы оба вместе и порознь участвовали более чем в сотне таких конференций и не только в Москве – во многих городах. Но

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и после любой нашей лекции о зарубежной литературе в любой аудитории нас неизменно спрашивали о Ремарке (Орлова, Копелев, 1990, 128).

В другом месте своей книги авторы писали о том, что тогда, в пору ранней оттепели, человек, который не хотел читать Ремарка или Хемингуэя или ругал их, уже считался отъявленным ретроградом (Орлова, Копелев, 1990, 143). Другой автор писал о том же: Любители литературы со стажем хорошо помнят, каким ажиотажем сопровождалось появление […] романа Ремарка «Три товарища» в пятидесятые годы. Основной и все дополнительные тиражи сметались с полок и прилавков моментально, и все равно книг не хватало. За ними выстраивалась очередь, брали у знакомых «только на одну ночь». Успех был ошеломляющий (Кулиш, 1990, 3).

В одной из наших статей мы уже цитировали слова В. Шкловского, который в своих знаменитых «Повестях о прозе» писал так: У нас любят Хемингуэя, Ремарка. «Три товарища» Ремарка – одна из любимых книг Москвы. Ее читают в старых деревянных домах города и берут с собой, переезжая в новые дома, читают на стройках. Это книга о товарищах, книга о воле оставаться вместе, помогая друг другу; в ней потерянное поколение пытается защищаться (Шкловский, 1966, 420).

Ремарка читали не только в Москве, Ремарка читала вся огромная страна. И читала не только Трех товарищей. Но здесь В. Шкловский прав – роман Три товарища Ремарка был и остается у читающих его по-русски почти вне конкуренции (Чайковский и др., 2001, 7, Чайковский и др., 2002, 15–16). Д. Стахов вспоминал, что […] для тех, кто читал Ремарка уже в конце шестидесятых – начале семидесятых, его романы были откровением. Так все в них было не похоже на изображаемое в русской прозе! Насколько «На Западном фронте без перемен» отличался от отечественных романов того времени о войне. А «Три товарища»? Это был, с одной стороны, совершенно иной мир, с другой – такой узнаваемый и близкий… (Стахов, 1998, 3).

А. Битов в своем предисловии к новому переводу «Трех товарищей» писал от имени своего поколения так: Нам напечатали «Три товарища». И мы вышли на Невский в новом качестве. Мы были самые современные молодые люди, мы прочитали самую современную книгу, описавшую именно нашу жизнь и ничью другую (Битов, 1989, 3).

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Российские читатели находили в книгах Ремарка ту жизнь, о которой они, сами не догадываясь об этом, мечтали. Они хотели бы, чтобы отношения между солдатами в армии, на фронте были такими же товарищескими, как у героев романа На Западном фронте без перемен, чтобы их отношения с друзьями походили на отношения героев Трех товарищей, чтобы они были такими внутренне сильными как герой Триумфальной арки Равич и такими мужественными и верными, как Штайнер из романа Возлюби ближнего своего. По мнению А. Михалковича, […] Ремарк и другие писатели по-своему участвовали в преодолении сталинистской, официально насаждаемой ксенофобии. Благодаря их творениям четкое деление на радостную советскую реальность и загнивающий капитализм зашаталось, стало рушиться, когда выяснилось, что и тут и там – «совсем неплохие люди», они хотят лучшего, но часто, как и у нас, его не получают (Михалкович, 2002, 115).

Э.М. Ремарк продолжает оставаться популярным в России и в наши дни. По результатам социологического опроса, проведенного в 2012 году, к числу наиболее читаемых в России немецких прозаиков за период с 1953 года относятся Г. Белль, Г. Гессе, Э.М. Ремарк и Т. Манн (Дмитренко, 2012, 13). Имеющиеся данные за 2015 год свидетельствуют о том, что по числу изданий на русском языке Э.М. Ремарк занимает третье место после С. Кинга и Р. Брэдбери (Сухоруков, 2016, 16). Поскольку книги других немецких авторов в списке бестселлеров 2015 года отсутствуют, то можно утверждать, что Ремарк продолжает оставаться самым популярным немецким прозаиком в России. Прав был поэтому Д. Стахов, утверждавший, что «слава Ремарка была и остается подлинной» (Стахов, 1998, 3). Что касается романа Три товарища, то он по-прежнему относится к наиболее любимым книгам российских читателей. Как писали А. Элерт и П. Кёлер-Хэринг, этот роман является одним из наиболее часто используемых в российских университетах на тех факультетах, где готовят германистов и учителей немецкого языка (Ehlert, Köhler-Haering, 1994, 179, Köhler Haering, 1994, 183–190). Об этом свидетельствует также и тот факт, что через двадцать лет, по данным московской городской газеты Мой район, в июне 2014 года в библиотеках Юго-Восточного административного округа Москвы наибольшим спросом читателей пользовался именно роман Э.М. Ремарка Три товарища (Что читает Москва, 2014, 6). О большой популярности этого романа говорит и включение его в перечень ста книг, которые должен прочесть каждый человек. В одном из таких списков, кроме романа Ремарка Три товарища, значатся еще три книги немецких авторов – Фауст Гете, Будденброки Т. Манна и Игра в бисер Г. Гессе (Ляховская, Ляховский, 2012, 5). В вышедшем в свет в 2015 году томе мемуаров Людмилы Черной, переводчи177

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це с немецкого, которая переводила и прозу Ремарка, читаем: «Трудно себе представить сейчас, как любим и популярен у широкой публики в СССР был Ремарк. Особенно, конечно, ‹Три товарища›» (Черная, 2015, 421). Можно также добавить, что спектакль Три товарища, поставленный по роману Ремарка на сцене московского театра «Современник» в 1999 году художественным руководителем театра Г. Волчек, стоит в репертуаре уже семнадцать лет, и сезон 2016–2017 годов вновь открывался этой постановкой (см. выше ссылку на интервью с Ю. Карякиным, а также: Крымова, 1999, 10). (В скобках напомним, что в начале 60-х годов прошлого века спектакль по роману Три товарища шел в московском театре имени Ермоловой (см. об этом (Wolgin, 1960, 18–19, Мотылева, 1960, 110–122, Мотылева, 1966, 343–344)). Эти свидетельства прошлых и последних лет подтверждают выводы Е.В. Заварзиной, сделанные ею на основе репрезентативного опроса, проведенного в 1997–1998 гг., в соответствии с которыми роман Три товарища прочитало самое большое число респондентов (89 %). Кроме того, большинство опрошенных охарактеризовали этот роман как книгу, которая произвела на них наибольшее впечатление (Заварзина, 1998, 19). Поэтому странно было читать в статье П. Кёлер-Хэринг признание в том, что для большинства западных германистов роман Три товарища или неизвестен (unbekannt), или считается устаревшим и незначительным (anachronistisch), (unbedeutend) (Köhler-Haering, 1995, 44). Можно только посочувствовать большинству западных германистов, которые оказались в такой мере эстетически и филологически слепы и глухи и так нищи духом, что мимо них прошел один из величайших романов ХХ века. Почти через восемьдесят лет после создания Э.М. Ремарком своего романа известный русский писатель и философ М. Веллер подчеркивал: «Душевную книгу о невероятно чистых, отчаянных, любовных и дружеских отношениях между людьми, ‹Три товарища›, написал немец» (Веллер, 2016, 2). Остается выразить надежду, что за последние двадцать лет ситуация изменилась, и роман Три товарища, как и другие великие романы Ремарка, уже не является terra incognita для европейских филологов. Научный Центр и Архив Э.М. Ремарка в Оснабрюке, возглавляемый неутомимым исследователем и популяризатором многогранного творчества Ремарка доктором Томасом Ф. Шнайдером, и кельнское издательство «Кипехойер и Витч» за эти два десятилетия много сделали для того, чтобы читательскому (и филологическому) миру во всей полноте открылось величие Э.М. Ремарка как подлинного классика немецкой литературы, как писателя, глубоко чтимого и любимого во всем мире, как автора, книги которого не умирают. Обратимся теперь к фигурам переводчиков первого в СССР перевода романа Три товарища. Лев Копелев (1912–1997) окончил Московский институт иностранных языков. Участвовал в войне с Германией 1941–1945 годов. Перед окончани178

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ем войны на территории Восточной Пруссии уже в звании майора был арестован за резко критические отзывы о насилии над германским гражданским населением и приговорён к десяти годам заключения за пропаганду «буржуазного гуманизма» и за «сочувствие к противнику». Одно время находился в заключении вместе с А. Солженицыным, который вывел его в своем романе «В круге первом» под именем Рубин. Жил в Москве. Автор многих работ о немецкой литературе, в том числе книг о Гете и Брехте и предисловия к русскому изданию романа Ремарка Три товарища. Участвовал в правозащитном движении. В 1968 году был исключен из КПСС, что означало в СССР гражданскую смерть, и уволен с работы. Печатался иногда под псевдонимами. С ноября 1980 года жил в Германии. В январе 1981 года был лишен советского гражданства. Почетный доктор Кельнского университета. В Кельне создан фонд и музей Л. Копелева. Сведений о жизни Исаака (Исидора) Шрайбера (1915–1994) гораздо меньше. Он родился в г. Оргеев (бывшая Бессарабия). И. Шрайбер получил блестящее образование – он окончил Московский педагогический институт иностранных языков и Литературный институт им. А. М. Горького, был музыкально одаренным человеком. Прошел всю войну 1941–1945 годов, которую закончил в звании майора. Переводил с немецкого и французского языков. В его переводе, кроме Трех товарищей, вышли романы Ремарка Триумфальная арка (совместно с Б. Кремневым), Возлюби ближнего своего, а также рассказы Ремарка. О степени участия Л. Копелева и И. Шрайбера в осуществлении перевода имеются противоречивые сведения. Так, в статье о Копелеве известного российского литератора и издателя В. Огрызко читаем: «В 1958 году Копелев, только что блестяще переведший замечательный роман Ремарка ‹Три товарища›, подал заявление о вступлении в Союз писателей» (Огрызко, 2013, 8). В то же время двоюродная сестра И. Шрайбера Р. Равич в своих воспоминаниях пишет: Самая прекрасная его работа: перевод романа Ремарка «Три товарища», который я с самого детства знаю практически наизусть. Я была совсем ребенком. Мы уходили в лес, на Лосиный остров, где он работал, записывая свой перевод, я тихо играла рядом, а потом он читал мне вслух отрывки (Равич, 2011).

Из этих утверждений можно сделать вывод о том, что текст романа Ремарка предположительно был поделен между Л. Копелевым и И. Шрайбером, и каждый переводил свою часть. Такое распределение работы было типичным в СССР при переводе произведений большого объема, которые нужно было перевести в короткие сроки. Практикуется оно и сегодня. Так, роман Ремарка Обетованная земля по этой сомнительной, с нашей точки зрения, «технологии» переведен в 2007 году Д. Трубчаниновым (главы I-XI) и В. Поз179

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няк (главы XII-XXI) (Ремарк, 2007). (В скобках заметим, что в 2000 году этот же роман был издан тем же издательством в переводе, выполненном известным и авторитетным переводчиком немецкой литературы М. Рудницким под названием Земля обетованная. Что побудило издательство через семь лет выпускать новый перевод последнего романа Ремарка, к тому же подготовленный «бригадным методом», остается загадкой (Ремарк, 2000)). Можно также предположить, что Л. Копелев и И. Шрайбер, если они переводили разные части романа, по окончании перевода совместно провели работу по стилевой унификации всего перевода, поскольку стилистический разнобой в тексте перевода не ощущается. В рецензиях на книги зарубежных авторов, изданных на русском языке, очень редко затрагиваются вопросы качества перевода. Однако Е. Елагина в статье о первой публикации романа Э.М. Ремарка в СССР касается и этой важной проблемы. Она подчеркивает, что перед переводчиками И. Шрайбером и Л. Яковенко стояла сложная задача передать стилистическую многоплановость романа, в котором лирические образы чередуются с намеренно огрубленным изображением социального дна, и в котором поэтические описания природы сменяются лексиконом улиц, языком пивных, окопным жаргоном. Перевод этот, – пишет Е. Елагина, – не всегда ровен. Некоторые страницы в нем удались больше, другие – меньше. Разнообразие стилевой манеры Ремарка сглажено. Меньше всего удались диалоги, лучше вскрыт лирический подтекст» Но Ремарк – признанный стилист, и перевод его книг требует особого совершенства (Елагина, 1959, 260).

Впоследствии многие неточности перевода И. Шрайбера и Л. Яковенко разбирал в своих многочисленных пособиях по переводу известный российский переводовед Л.К. Латышев (см., например: Латышев, 2000, passim). Несмотря на отмеченные Е. Елагиной недочеты, перевод И. Шрайбера и Л. Копелева многократно переиздавался во многих городах СССР массовыми тиражами. В 1981 году, т. е. после того как Л. Копелев эмигрировал и был лишен советского гражданства, в Ленинграде выходит в свет перевод романа «Три товарища», в котором переводчиком значится один Исидор Шрайбер (тираж этого издания также составил 100.000 экземпляров). Сопоставление этого варианта перевода с переводом, выполненным совместно И. Шрайбером и Л. Копелевым, показывает, что из 28 глав романа только семь глав даны в новом переводе (1-я, 2-я, 4-я, 5-я, 26-я, 27-я, 28я), а остальные повторяют текст совместного перевода И. Шрайбера и Л. Копелева. Можно высказать несколько предположений по поводу появления такого варианта перевода. Возможно, именно эти главы первоначально 180

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переводил И. Шрайбер, но затем в ходе работы по стилевой унификации всего текста они были обоими переводчиками переработаны так, как они предстали в первом совместном издании, а в 1981году И. Шрайбер решил восстановить их. Может быть, И. Шрайбер решил этими переработанными им начальными и финальными главами «прикрыть» общий с Копелевым перевод и представить его как выполненный им единолично для последующих переизданий, поскольку Л. Копелев находился в эмиграции, надежд на его возвращение не было, а его имя использовать в печати не разрешалось. Не исключено также, что именно эти семь глав показались И. Шрайберу переведенными неудовлетворительно, и он решил заменить их новыми. Но в таком случае требовалось указание на то, что первоначальный вариант, равным образом как и перевод 21 главы «нового» перевода выполнены совместно с Л. Копелевым (Л. Яковенко). Однако подчеркнем, что в 1981 году имена многих невольных эмигрантов из СССР были в Советском Союзе под запретом. Поэтому можно высказать еще одно предположение: И. Шрайбер вынужден был снять имя второго переводчика – Л. Копелева (Л. Яковенко), для того чтобы можно было переиздавать роман. Книги Л. Копелева после лишения его советского гражданства были изъяты из библиотек. Нам удалось найти только один отклик на этот перевод И. Шрайбера. Уже цитировавшийся выше известный прозаик М. Веллер написал в одной из своих книг так: «в старом переводе ‹Трех товарищей› было (Карл – призрак шоссе) – ‹победоносный навозный жук›, в новом – ‹непобедимый замарашка›… спасибо вам за такой перевод» (Веллер, 2008, 224). В оригинале у Ремарка этот образ таков – ein siegreicher Dreckfink. В 1989 году появился еще один перевод романа, выполненный известным германистом и переводчиком Ю.И. Архиповым. Ю.И. Архипов родился в 1943 году. В 1969 году окончил филологический факультет Московского университета. Работал в Институте мировой литературы Академии наук. Переводил разножанровые произведения Г. Белля, Р. Вальзера, Г. Гессе, Г. Грасса, Э. Т. А. Гофмана, Ф. Кафки, Й. Рота, М. Фриша, Ст. Цвейга и других немецких и австрийских писателей. Об этом переводе появился такой отклик: К сожалению, в последнее время переводчик работает не для того, чтобы открыть людям любимого автора, дабы и другие могли наслаждаться дорогим ему произведением, а чтобы себя показать и банально «срубить капусту». Первый звоночек прозвенел еще в перестройку: в 1989 году в новом переводе вышли «Три товарища» Ремарка. В чем принципиальная новизна перевода – так и осталось загадкой. От старого он отличается тем, что кое-какие слова были заменены на синонимы или переставлены местами в предложении (Белякова, 2012, 7).

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Далее автор приходит к заключению, что качество перевода находится в прямой зависимости от времени его создания: чем новее перевод, тем он хуже (Белякова, 2012, 7). Думается, что с таким категоричным выводом вряд ли можно согласиться. История переводной литературы знает немало случаев, когда новые переводы оказывались лучше старых. Однако верно и то, что новый перевод не всегда означает хороший перевод. Заметим попутно, что в переводе Ю. Архипова вариант И. Шрайбера и Л. Яковенко «победоносный навозный жук» повторен дословно. Впоследствии, в 1990–2010 годах, перевод И. Шрайбера и Л. Яковенко и перевод И. Шрайбера неоднократно перепечатывались параллельно разными издательствами. Кроме этих переводов, несколько раз выходил в свет и перевод Ю. Архипова. Однако подавляющее количество раз переиздавался перевод, в котором переводчиком назван И. Шрайбер. История переводов романа Э.М. Ремарка Три товарища на русский язык хранит также данные о некоем переводе-фантоме, созданным якобы совместно Ю. Афонькиным и И. Шрайбером. Доверчивый читатель мог вполне допустить появление такого перевода, поскольку все знали многократно издававшийся перевод романа Ремарка На Западном фронте без перемен, выполненный Ю. Афонькиным. Ю.Н. Афонькин (1923–1985), лингвист (кандидат филологических наук), переводчик с немецкого и английского языков. Переводил произведения Г. Келлера, Т.Манна, Н. Готорна, Г. Джеймса. Участник войны с Германией 1941–1945 гг. Работал доцентом кафедры немецкой филологии филологического факультета Ленинградского университета. Автор книг Разговорные формулы немецкого языка (1976), Русско-немецкий словарь крылатых слов (1985). И книга Э.М. Ремарка Три товарища, в которой в качестве переводчиков указаны именно Ю. Афонькин и И. Шрайбер, существует. Она вышла в Баку в 1990 году в издательстве «Коммунист» ЦК КП Азербайджана тиражом 100.000 экземпляров. На титульном листе значится: «Эрих Мария Ремарк. Три товарища. Баку – 1990.» На обороте титульного листа читаем: Перевод с немецкого. Вступительная статья Б. Зульфугарова. Текст печатается по изданиям: Ремарк Э.М. Три товарища. – Л.: Лениздат, 1981. © Переиздание издательство «Коммунист» ЦК КП Азербайджана и редакционно-издательский кооперативной фирмы «Посейдон» 1990 г.

На последней странице книги дается уже иная информация: вверху приведены другие выходные данные: Ремарк Э.М. Три товарища: Пер с нем. Ю. Афонькина и И. Шрайбера / Вступ. ст. Б. Зульфугарова. – Л.: Лениздат, 1981. – 384 с.

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Таким образом, эти выходные данные свидетельствуют якобы о том, что существует перевод романа Три товарища, выполненный совместно Ю. Афонькиным и И. Шрайбером. Однако, как мы писали выше, такого издания не существует. Здесь необходимо обратить внимание на два момента. Во-первых, в 1981 году ленинградское издательство «Лениздат» роман Ремарка Три товарища отдельной книгой не выпускало (роман был издан под одной обложкой вместе с романом Черный обелиск (см. список переводов в конце статьи)); во-вторых, указывается, что текст печатается по изданиям, но приводится только одно издание. На этом, однако, информация бакинских публикаторов из издательства «Коммунист» ЦК КП Азербайджана и владельцев редакционно-издательский кооперативной фирмы «Посейдон» не закончилась, так как внизу последней страницы напечатано следующее: Переиздание: Э.М. Ремарк. – На Западном фронте без перемен. Три товарища. – Москва, издательство «Правда», 1985 г.

Теперь становится понятным, откуда появилась фамилия Ю. Афонькина как одного из переводчиков романа Три товарища. В распоряжении бакинских «любителей» творчества Ремарка были разные издания его романов, в том числе, вероятно, лениздатовское 1981 года с романами Три товарища (в переводе И. Шрайбера) и Черный обелиск, а также московское издание 1985 года, в котором были напечатаны романы На Западном фронте без перемен (в переводе Ю. Афонькина) и Три товарища (перевод И. Шрайбера). Перепутав разные книги и разные переводы, издательство «Коммунист» ЦК КП Азербайджана выпустило в свет перевод И. Шрайбера, но указав по ошибке два имени переводчиков: Ю. Афонькина и И. Шрайбера. Как это часто бывает, ошибка была растиражирована. О том, что Трех товарищей переводил и Ю. Афонькин, утверждал, в частности, Ю. Архипов (Чайковский, Венславович, 2001, 58); информация о совместном переводе романа Ю. Афонькиным и И. Шрайбером размещена и в интернете (Лаборатория фантастики. Электронный ресурс). Таким образом, мы имеем дело с невольной мистификацией, которая появилась в результате непрофессионализма издателей. Перевода романа Э.М. Ремарка Три товарища, выполненного Ю. Афонькиным и И. Шрайбером, не существует. В качестве приложения мы приводим отрывок из романа Drei Kameraden и его перевод в газете Сегодня вечером (Рига, 1939), а также варианты, содержащиеся в переводах И. Шрайбера и Л. Копелева (1958), И. Шрайбера (1981) и Ю. Архипова (1989). Для сопоставления нами выбран диалог, в котором содержится много бранных фраз и выражений. Перевод подобных текстов предоставляет пе183

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реводчикам больше свободы в поисках соответствий по сравнению с текстами описательного характера: Einen schönen Eindruck mußte das Mädchen von mir bekommen haben! Sie hatte es sicher gemerkt. Sie hatte ja selbst fast nichts getrunken. Beim Abschied hatte sie mich auch so sonderbar angesehen… Herrgott! Ich drehte mich um. Dabei stieß ich mit einem dicken, kleinen Mann zusammen. »Na«, sagte ich wütend. »Sperren Sie doch Ihre Augen auf, Sie bockender Strohwisch!« bellte der Dicke. Ich starrte ihn an. »Wohl noch nicht oft Menschen gesehen, was?« kläffte er weiter. Er kam mir gerade recht. »Menschen wohl«, sagte ich, »aber noch keine Bierfässer, die spazieren gehen.« Der Dicke besann sich keine Sekunde. Er stoppte und schwoll. »Wissen Sie was?« fauchte er. »Gehen Sie in den Zoo! Träumerische Känguruhs haben auf der Straße nichts zu suchen.« Ich merkte, daß ich einen Schimpfer hoher Klasse vor mir hatte. Es galt, trotz aller Depression, die Ehre zu wahren. »Wandere weiter, geisteskrankes Siebenmonatskind«, sagte ich und hob segnend die Hand. Er beachtete meine Aufforderung nicht. »Laß dir Beton ins Gehirn spritzen, runzliger Hundsaffe!« bellte er. Ich gab ihm einen dekadenten Plattfuß zurück. Er mir einen Kakadu in der Mauser; ich ihm einen arbeitslosen Leichenwäscher. Darauf bezeichnete er mich, schon mit Respekt, als krebskranken Kuhkopf; ich ihn, um ein Ende zu machen, als wandelnden Beefsteakfriedhof. Sein Gesicht verklärte sich plötzlich. »Beefsteakfriedhof ist gut!« sagte er. »Kannte ich noch nicht. Kommt in mein Repertoire! Alsdann« … Er lüftete den Hut, und wir trennten uns voll Achtung voneinander. Das Schimpfen hatte mich erfrischt. Aber der Ärger war geblieben. (Remarque, 1998, 39). Хорошенькое впечатление должно было остаться у девушки. Без сомнения, она все заметила, – ведь сама она почти ничего не пила. При расставании она так странно посмотрела на меня… Ах, ты боже мой… Я резко повернулся. При этом я налетел на маленького толстяка. – Ну… – яростно воскликнул я. – Раскройте глаза, бодающееся чучело! – пролаял толстяк. Я уставился на него. – Что, недостаточно еще видели людей? – продолжал он тявкать. Он кстати попался мне под руку. – Людей-то я насмотрелся, – сказал я, – но не видел еще пивных бочек на прогулке.

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Толстяк надулся как индюк. – Знаете что? – фыркнул он. – Отправляйтесь в зоологический сад. Мечтательным кенгуру нечего делать на улице! Я заметил, что наткнулся на первоклассного ругателя. Несмотря на всю депрессию надо было постоять за себя. – Шагай дальше, душевнобольной недоносок! – сказал я, благословляюще поднимая руку. Он не обратил внимания на мое предложение. – Тебе надо бетон в мозги впрыснуть, собачья обезьяна! – продолжал он лаять. В ответ я назвал его плоскостопным декадентом. Он меня – безголовым какаду, я его – безработным гробокопателем. Затем он уже не без почтения сравнил меня с больной раком коровой, а я его обозвал странствующим кладбищем бифштексов. Его лицо внезапно прояснилось. – Кладбище бифштексов – недурно сказано, – произнес он. – Этого я еще не знал. Подойдет в мой репертуар!... Пока… Руготня меня освежила. Но досада осталась. (Ремаркъ, 1939, № 11). Хорошее же впечатление должен был я произвести на эту девушку. Ведь онато, конечно, заметила. Ведь она сама почти ничего не пила. И, прощаясь, она как-то странно посмотрела на меня. – Господи ты боже мой! – Я резко повернулся. При этом я столкнулся с маленьким толстяком. – Ну! – сказал я яростно. – Разуйте глаза, вы, соломенное чучело! – пролаял толстяк. Я уставился на него. – Что, вы людей не видели, что ли? – продолжал он тявкать. Это было мне кстати. – Людей-то видел, – ответил я. – Но вот разгуливающие пивные бочонки не приходилось. Толстяк ненадолго задумался. Он стоял, раздуваясь. – Знаете что, – фыркнул он, – отправляйтесь в зоопарк. Задумчивым кенгуру нечего делать на улице. Я понял, что передо мной ругатель высокого класса. Несмотря на паршивое настроение, нужно было соблюсти достоинство. – Иди своим путем, душевнобольной недоносок, – сказал я и поднял руку благословляющим жестом. Он не последовал моему призыву. – Попроси, чтобы тебе мозги бетоном залили, заплесневелый павиан! – лаял он. Я ответил ему «плоскостопым выродком». Он обозвал меня попугаем, а я

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его безработным мойщиком трупов. Тогда он почти с уважением охарактеризовал меня: «Коровья голова, разъедаемая раком». А я, чтобы уж покончить, кинул: «Бродячее кладбище бифштексов». Его лицо внезапно прояснилось. – Бродячее кладбище бифштексов? Отлично, – сказал он. – Этого я еще не знал, включаю в свой репертуар. Пока!.. – Он приподнял шляпу, и мы расстались, преисполненные уважения друг к другу. Перебранка меня освежила. Но раздражение осталось. (Ремарк, 1958 / Шрайбер, Яковенко (Копелев), 54–55). Хорошее же впечатление произвел я на эту девушку! Уж она-то, конечно, все заметила. Сама почти ничего не пила. А при прощании так странно посмотрела на меня... О, Господи!.. Я круто повернулся и столкнулся с проходившим мимо толстеньким коротышом. – Это еще что! – злобно рявкнул я. – Протри глаза, чучело гороховое! – огрызнулся толстяк. Я вытаращился на него. – Людей ты, что ли, не видел? – тявкнул он. Я словно только этого и ждал. – Людей-то я видел, – сказал я, – но разгуливающую пивную бочку вижу впервые. Толстяк не полез в карман за словом. Остановившись и разбухая на моих глазах, он процедил сквозь зубы: – Знаешь что? Пошел бы ты к себе в зоопарк! Мечтательным кенгуру нечего шляться по улицам! Я понял, что передо мной весьма квалифицированный мастер перебранки. И все-таки, несмотря на всю мою подавленность, я должен был позаботиться о своей чести. – Топай, топай, псих несчастный, недоносок семимесячный, – сказал я и благословил его жестом. Но он не внял моим словам. – Пусть тебе впрыснут бетон в мозги, идиот морщинистый, болван собачий! – продолжал он лаять. Я обозвал его плоскостопым декадентом; он меня – вылинявшим какаду; я его – безработным мойщиком трупов. Тогда, уже с некоторым уважением, он охарактеризовал меня как бычью голову, пораженную раком, я же его – чтобы окончательно доконать – как ходячее кладбище бифштексов. И вот тут он просиял. – «Ходячее кладбище бифштексов» – это здорово! – сказал он. – Такого еще не слышал. Включу в свой репертуар! До встречи... Он вежливо приподнял шляпу, и мы расстались, преисполненные уваже-

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ния друг к другу. Эта перепалка несколько освежила меня. Но чувство досады не прошло. (Ремарк, 1981 / Шрайбер, 41–42). Можно представить, какое впечатление я произвел на девушку! Она наверняка все заметила. Ведь она почти не пила. Прощаясь, она так странно на меня смотрела... О господи! Я круто повернулся. И при этом столкнулся с каким-то низкорослым толстяком. – Ну, – сказал я с яростью. – Раскройте глаза пошире, вы, чучело огородное! – пролаял толстяк. Я уставился на него. – Что, людей не видали, а? – продолжал он тявкать. Его-то мне и недоставало. – Людей видал, – ответил я, – а вот чтобы по улице расхаживали пивные бочки — такое вижу впервые. Толстяк не задержался с ответом ни на секунду. Раздувая щеки, он немедленно фыркнул: – Знаете что? Ступайте в зоопарк! Сонным кенгуру не место на улице. Я понял, что имею дело с бранных дел мастером. Нужно было, вопреки скверному настроению, спасать свою честь. – Не сбейся с пути истинного, слабоумок недоношенный, – сказал я и поднял руку в знак благословения. Он и ухом не повел. – Залей мозги бетоном, горилла плешивая! – пролаял он. Я отпарировал «выродком криволапым». Он – «попугаем занюханным». Тогда я выдал «безработного мойщика трупов». На что он, уже с некоторым респектом, отвесил: «Изъеденный раком бараний рог». Чтобы добить его, я пустил в ход «ходячее кладбище бифштексов». Его лицо внезапно прояснилось. – Ходячее кладбище бифштексов! — воскликнул он. – Этого я еще не знал. Включу в свой репертуар! Пока!.. Он приподнял шляпу, и мы расстались, преисполненные взаимного уважения. Перебранка освежила меня. Однако раздражение не исчезло. (Ремарк, 1989 / Архипов, 42–43).

Как мы видим, даже на таком небольшом текстовом пространстве обнаруживаются как весьма отличные друг от друга переводческие решения, так и полностью совпадающие. В первом переводе 1939 года находим вполне адекватное отражение приведенного фрагмента оригинала. Для него характерно лишь использование 187

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некоторых слов, которые за двадцать лет существования русского языка в Латвии – без каких-либо заметных связей с языковой метрополией – Россией, воспринимаются как несколько устаревшие: ср. зоологический сад – зоопарк, руготня – перебранка, перепалка. Этот перевод отличается от последующих также своей лаконичностью. Перевод И. Шрайбера и Л. Яковенко содержит как удачные, на наш взгляд, соответствия исходным немецким фразам (безработный мойщик трупов, бродячее кладбище бифштексов), так и повторы словосочетаний, использованных анонимным переводчиком (душевнобольной недоносок), а также неудовлетворительные переводческие решения (заплесневелый павиан, плоскостопый выродок). (О переводе этого диалога И. Шрайбером и Л. Копелевым см. также: Латышев, 1981, 146–148) . В переводе И. Шрайбера ощущается стремление сделать его во что бы то ни стало непохожим на перевод, выполненный им в соавторстве с Л. Копелевым. Для этого переводчик трансформирует множественное число оригинала в единственное (Sie – ты), привносит добавления в реплики (топай, топай, псих несчастный,), использует более экспрессивные соответствия (идиот, болван), меняет детали (Kuhkopf – бычья голова) . Подобные переводческие решения свойственны и переводу Ю. Архипова. Так, мы находим в его переводе то же излишне экспрессивное соответствие выродок; словосочетание Wandere weiter заменено удлиненной фразой Не сбейся с пути истинного (хотя она в какой-то мере соответствует ситуации); Kakadu in der Mauser передано как попугай занюханный, а в качестве соответствия для Kuhkopf почему-то использовано словосочетание бараний рог. Если судить по приведенному фрагменту, то можно утверждать, что в переводе И. Шрайбера и Л. Яковенко он передан вполне адекватно, а переводы И. Шрайбера и Ю. Архипова ничего существенно нового в себе не несут. Следовательно, приведенный выше вопрос Е. Беляковой о том, в чем принципиальная новизна «новых» переводов, можно было бы считать обоснованным. И можно было бы согласиться с автором статьи в том, что от старого они отличаются только тем, что кое-какие слова были заменены на синонимы или переставлены местами в предложении. Однако для такого вывода требуется объективный сопоставительный анализ не отдельных фрагментов, а всего текста каждого из переводов. Подытоживая сказанное выше можно выделить следующие особенности переводческой рецепции романа Э. М. Ремарка Drei Kameraden средствами русского языка в 1939–1989 годах:

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1. Первый перевод романа Drei Kameraden на русский язык был напечатан в 1939 году (через год после публикации на языке оригинала) в газете Сегодня вечером (Рига, Латвия) под заглавием Три друга без указания имени переводчика. К сожалению, этот перевод оказался забытым. 2. Второй перевод романа вышел в свет в 1958 году под названием Три товарища в московском Государственном издательстве художественной литературы тиражом в 150.000 экземпляров. Роману было предпослано предисловие, написанное Л. Копелевым. Перевод был осуществлен И. Шрайбером и Л. Копелевым, который представлен в книге под псевдонимом Л. Яковенко. 3. Роман Э.М. Ремарка Три товарища стал наиболее читаемой и наиболее любимой книгой зарубежного автора среди читателей в СССР в начале второй половины ХХ века. 4. В 1981 году впервые был напечатан перевод романа Drei Kameraden, подписанный только одной фамилией – И. Шрайбера. Однако этот перевод новым назвать можно только условно, поскольку из двадцати восьми глав двадцать одна глава полностью повторяет текст перевода И. Шрайбера и Л. Копелева 1958 года и только семь глав перевода переработаны. 5. Появившийся в период перестройки перевод Ю. Архипова (1989 г.) едва ли можно назвать новым словом в рецепции этого романа средствами русского языка. Перевод И. Шрайбера и Л. Яковенко 1958 года, несмотря на все имеющиеся в нем неточности и погрешности, оказалось трудно превзойти. Вероятно, дистанция в тридцать лет не обеспечила русскому языку тех необходимых новых семантико-стилистических возможностей, которые в какой-то мере могли бы гарантировать успех еще одного перевода. Тем не менее, тенденция вновь переводить романы Э.М. Ремарка в России существует, поэтому не исключено появление и нового перевода романа Drei Kameraden на русский язык.

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Liste der Übersetzungen Список первых публикаций переводов романа »Drei Kameraden« на русский язык (1939–1989): Ремаркъ Эрихъ М. Три друга // Сегодня вечером [Рига]. – 1939. – 7 марта – 18 июля (№ 54–160). Ремарк Э.М. Три товарища / пер. с нем. И. Шрайбера и Л. Яковенко. – М.: Гослитиздат, 1958. – 431 с. Ремарк Э.М. Три товарища / пер. с нем. И. Шрайбера // Ремарк Э.М. Три товарища. Черный обелиск. – Л.: Лениздат, 1981. – С. 4–392. Ремарк Э.М. Три товарища / пер. с нем. Ю. Архипова. – М.: Худож. лит., 1989. – 368 с.

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Rezension

Denis Herold. »Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick«. Formen und Funktionen der Neuen Sachlichkeit in Erich Maria ­Remarques Romanen. Marburg: Tectum, 2012. Nach Sabina Beckers, man darf wohl sagen, bahnbrechender Studie über die »Neue Sachlichkeit« von 2000 zeigt sich, dass deren Ergebnisse und Einsichten auch speziell auf Remarques Zeitromane mit Ertrag angewendet werden können. Dies stellt eine neue Dissertation unter Beweis, mit der Denis Herold 2012 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter wissenschaftlicher Betreuung und Begutachtung von Professor Dr. Moritz Baßler promovierte. Der Vf. folgt in seiner Durchsicht der Remarque-Romane Beckers Vorlage dahingehend, dass auch er die Neue Sachlichkeit vor allem als ein Stilmerkmal eines prominenten Teils der Literatur der Weimarer Republik (und späterer Nachklänge) und weniger als Epochenbezeichnung begreift. Infolgedessen treten frühere Bewertungen der Neuen Sachlichkeit unter politisch-ideologischem Blickwinkel (»Weißer Sozialismus«, affirmative Literatur im Zeichen der Weimarer Krisen) in den Hintergrund, vielmehr werden die von Becker einst destillierten stilistischen Elemente als ein Leitfaden verwendet (diese Elemente sind u.a.: Antiexpressionismus, Nüchternheit, Realitätsbezug, Reportagestil, Antipsychologismus, Entsentimentalisierung, Entindividualisierung u. dgl. mehr). Demgemäß stellt sich Herold zwei leitende Fragen: a) »Lassen sich Romane von Remarque der Literatur der Neuen Sachlichkeit zuordnen?« (15) und b) »In welcher Form und mit welcher Funktion setzt Remarque konkret eine neusachliche Schreibweise ein?« (16) Darüber hinaus greift der Vf. unter der Überschrift »Vom Kontext zum Text und wieder zurück« auf Überlegungen und Ansätze des New Historism zurück, der mit seiner Distanzierung »von der Idee der literarischen Autonomie« (20) Texte als Knotenpunkte in einem kulturellen Gewebe auffasst, in denen sich mehrere ›Diskursfäden‹ verknüpfen. Demzufolge werden Remarques Romane unter dem 193

Rezensionen

Gebot einer intertextuellen Betrachtungsweise im literarischen Feld der Weimarer Diskurse (Kriegserfahrung, Topos der ›Verlorenen Generation‹ usw.) verortet, was mittels vergleichender Analysen thematisch tendenziell gleichgerichteter Romane der Neuen Sachlichkeit geleistet wird. Um dieses weite Feld sinnvollerweise einzugrenzen, legt der Vf. einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die Frage, inwiefern die bei Remarque vorrangig problematisierten Lebensentwürfe jüngerer männlicher Protagonisten im Zeichen übermächtiger Umstände (Krieg, Krisen) scheitern oder deformiert werden, inwiefern also das Problem der ›Verlorenen Generation‹ zum Tragen kommt. Die Untersuchung weist außer einem Fazit und dem Literaturverzeichnis vier Kapitel auf. Die Einleitung (Kap. 1) thematisiert u.a. die Diskrepanz zwischen »Ruhm und Forschung« sowie die Relevanz des New Historism. Unter der Überschrift »Neue Sachlichkeit« (Kap. 2) rekapituliert der Vf. die bisherige RemarqueForschung, Remarques eigene, nicht erfolgte Zuordnung im Gefüge der Literatur sowie den Diskurs über die ›Verlorene Generation‹ in der Zwischenkriegszeit. Kernstück (Kap. 4) bildet die über 200 Seiten umfassende »Untersuchung der Romane«. Remarques Entrée in die Riege der neusachlichen Autoren mit Im Westen nichts Neues (das von Décadence und Ästhetizismus geprägte Frühwerk schließt der Vf. richtigerweise als irrelevant für seine Fragestellungen aus) erfährt eine detaillierte Betrachtung, welche zunächst die wesentlichen Ergebnisse aus der Interpretationsgeschichte des Romans zusammenträgt (u.a. Verwendung einfacher Sprache, Soldatenjargon, Überwiegen des Beobachtergestus trotz der IchPerspektive des Protagonisten, Verzicht auf ausgiebige Introspektion, Typisierung der Akteure zu Repräsentanten der ›Verlorenen Generation‹, damit auch Verzicht auf die Entfaltung längerer individueller Entwicklungen, Verzicht schließlich auf tiefere Reflexionen über Kriegsgründe, Abwesenheit von expressionistischen Revolten gegen die Welt der Väter, stattdessen Resignation und Schwermut in der ›Wir-Gruppe‹ als Ensemble von Radartypen in Momenten höchster Gefahr u. dgl. mehr). In Abgrenzung zu Ernst Jüngers In Stahlgewittern, dessen Heroisierung und Ästhetisierung des Kriegsgeschehens aus der Perspektive des Frontoffiziers zwar einer habituellen Sachlichkeit frönt, aber kaum den literarischen Geboten der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen ist, vergleicht Herold Remarques Roman mit den etwa zeitgleich veröffentlichten Texten von Ludwig Renn (Krieg) und Edlef Koeppen (Heeresbericht), die wie Remarque die Kriegsliteratur dahingehend veränderten, dass einfache Soldaten als Handelnde und Leidende im Zentrum der Erzählung stehen, und die im Sinne der neusachlichen Stilprinzipien avancierter sind. Während Renns Roman realistischer und präziser als Remarque die Kriegs­ abläufe und Koeppens Heeresbericht dazu eine dezidiertere Montagetechnik (106 f.) aufweisen, beherzigt – so der Vf. – Im Westen nichts Neues das Gebot der Authentizität mehr und erfolgreicher, weil paradoxerweise eben durch das Auslassen »umfangreicher authentischer Elemente (Details, Orte, militärtechnische und strategische Aspekte)« (114) dieser Frontroman auf eine breitere Leserschicht 194

Reviews

»gerade authentisch« wirken konnte, weil damit für viele eine »fiktive Authentizität« (111) erzeugt wurde und deshalb Im Westen nichts Neues der neusachlichen Forderung nach einem Gebrauchswert von Literatur näher kam. Auch die Untersuchung des Nachfolgeromans Der Weg zurück legt nach ­einer sorgfältigen und dennoch gut gerafften Einordnung des Romans als zweiten Teil der Trilogie und einer ebenso überzeugenden Inhaltsanalyse neusachliche Stilelemente bloß, so dass Der Weg zurück abermals den Ansprüchen an einen neusachlichen Zeitroman (Aktualität der Stoff- und Themenwahl, Fortschreibung in beobachtender Ich-Perspektive mittels eines nochmaligen Vertreter der ›Verlorenen Generation‹) genügt. Der Vf. stellt aber auch eine Zunahme sowohl lyrischer (wenn man so will ›sentimentaler‹) als auch reflexiver Passagen fest, die einerseits zur Klage über die verlorene Jugend und andererseits zur mahnenden Kritik des wachsenden Revanchismus am Ende der Weimarer Republik eingesetzt werden; dies wird damit begründet, dass die Zustände um 1931 für Remarque eine deutlich kritischere und politischere Haltung erforderlich gemacht haben. Zum intertextuellen Vergleich wird als thematisch analoger Heimkehrerroman Döblins Heimkehr der Fronttruppen herangezogen. Diese Wahl überrascht aus zwei Gründen: a) Döblin zweiter Teil aus dem Romankomplex November 1918 entstand in der ersten Fassung 1940 und konnte erst 1949 in der endgültigen Version erscheinen, so dass er kaum mehr zum synchronen Feld der Zeit- und Heimkehrerromane vor 1933 zu zählen ist; b) Döblin setzt darüber hinaus in inhaltlicher Hinsicht einen ganz anderen Schwerpunkt als Remarque, indem er vorrangig den Gründen des Scheiterns der ›halbierten Revolution‹ von 1918 nachgeht, was bei Remarque jedoch lediglich ein Randthema bleibt, weil wiederum die generationelle Auseinandersetzung mit der Väterwelt im Mittelpunkt steht. Für intertextuelle Vergleiche hätten sich Perutz’ Wohin rollst du, Äpfelchen… von 1928 oder Josephs Roths ›Antiromane‹ wie Flucht ohne Ende oder Zipper und sein Vater angeboten, die Remarque 1930/31 bekannt waren, also im literarische Feld der Entstehungszeit präsent waren und das Thema der wurzellos gewordenen Kriegsheimkehrer expliziter ausfabeln. Sehr viel überzeugender gerät der anschließende Vergleich von Drei Kameraden, dem dritten Teil der Trilogie, mit den zeitgleich, jedoch vorher erschienenen Romanen Fabian von Erich Kästner (1931) und Kleiner Mann was nun von Hans Fallada (1932), die das auf die Spitze getriebene Krisenerlebnis und –bewusstsein kurz vor dem Ende der Weimarer Republik mit der Großstadt Berlin als Schauplatz mit den neusachlichen Gestaltungsmitteln entfalten. Angestelltenmisere, Arbeitslosigkeit und die quälende Frage, wie unter diesen Umständen überhaupt eine Liebesbeziehung einzugehen und aufrecht zu erhalten ist, sind die thematischen Vorgaben, die Remarque adaptierte und variierte. Die spezifischen Merkmale der neusachlichen Erzählweise weist der Vf. auch in Drei Kameraden nach: Ein homodiegetischer Erzähler, der sich zumeist – so lange ihn nicht die große Liebe erfasst hat – auf eine Beobachterrolle zurückzieht, führt den Leser durch 195

Rezensionen

das Chaos der Krise; in Graden genügt sogar die Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten Robby Lohkamp und seiner Pat noch den neusachlichen Ansprüchen an Objektivität und Neutralität, weil die desillusionierende Liebesgeschichte nicht in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gesetzt wird, sondern unmittelbar den Leser mit dem letztlichen Unglück konfrontiert. Während aber die Probleme der Paarbildung bei Fallada und Kästner doch mit der Krise verknüpft sind, liegen die Ursachen des Endes der Liebe (der Tuberkulose-Tod ist kein Krisenprodukt) bei Remarque im bloß Schicksalhaftem. Remarque gleicht diesen Mangel an gesellschaftlichem Potenzial mit Hilfe eines ironischen Wortspiels um den Begriff Sachlichkeit aus, was der Vf. in dem Unterkapitel »Sachlichkeit und Romantik« (worauf auch das Titel gebende Zitat der Dissertation zielt) herausarbeitet. Dieses im Roman leitmotivische Wortspiel unterstreicht zwar die Notwendigkeit von habitueller Sachlichkeit in Zeiten der Krise, negiert sie aber im Bereich der Liebe. Demzufolge konstatiert Herold eine weitere Zunahme des Lyrismus in diesem Roman, weil der Ich-Erzähler in seiner Beziehung zu Pat zu tieferen Reflexionen und Introspektionen gezwungen wird. Dennoch weisen das vom Vf. sorgfältig angewandte ›Close-Reading-Verfahren‹ und die intertextuellen Betrachtungen Drei Kameraden als einen aufgrund der politischen Umbrüche verspäteten Zeitromans aus der Weimarer Ära aus, in dem Remarque auf dem Höhe- und Endpunkt seiner neusachlichen Möglichkeiten war. Die Frage, wie ›trivial‹ Remarques Romane sind, traut sich der Vf., obgleich er diesem Problem immerhin ein (Unter-)Kapitel widmet (111–116), nicht zu beantworten, indem er behauptet, ein literaturkritisches Urteil sei in einer literaturwissenschaftlichen Studie fehl am Platze. Dieses Ausweichen bleibt dem Rezensenten unverständlich, weil Herold selbst mit Hilfe seiner konzisen Analysen und intertextuellen Vergleiche eine Fülle von Argumenten bereitstellt, welche etwa das, was der Großkritiker Reich-Ranicki einst zum Besten gab, dass nämlich Remarque sich einem ›epischen Niemandsland‹ zwischen ernsthafter und Trivialliteratur bewege, als obsolet gewordenes Fehlurteil erscheinen lassen müssen. Kürzer und kursorischer gestalten sich die Kapitel über die nachfolgenden Romane, in denen sich Remarque immer mehr vom neusachlichen Muster bei immer größerem Abstand zu dessen Dominanzphase entfernte und andere Großthemen sein Schaffen bestimmten wie Exil und Aufarbeitung deutscher Schuld im Gefolge der NS-Verbrechen. Zwar spürt der Vf. auch in der ›Romankette‹ über das Exil (also Liebe Deinen Nächsten, Die Nacht von Lissabon oder Schatten im Paradies – letzteren, Fragment gebliebenen Roman scheidet der Vf. wegen der unklaren Fassungsfrage aus) Elemente der Neuen Sachlichkeit im Einzelnen auf, denn sie folgt dem dokumentarischen Prinzip insofern, als sie immer wieder zeigt, »wie die bürokratische, unmenschliche Flüchtlingspolitik der Exilländer zu absurd anmutenden Situationen und Problemen« (172) führt, doch das Reportagehafte und Berichtende tritt in erheblichem Maße in den Hintergrund zugunsten anderer Erzählverfahren (z.B. Perspektivwechsel, Kombinationen verschiedener 196

Reviews

Handlungsstränge, die trotz einiger Reminiszenzen an die neusachliche Phase und deren Stileigenheiten, wie etwa blasse Erste-Weltkriegserinnerungen bei den Protagonisten und der nach wie vor anzutreffenden Vorliebe für szenisches Erzählen u. dgl. mehr), die diesen Texten einen fiktionaleren und artifizielleren Charakter verleihen, was Herold u.a. am Beispiel des Romans Die Nacht von Lissabon belegt (hierbei mit intertextuellen Hinweisen auf Anna Seghers’ Transit), in dem sich Remarque unter Rückgriff auf novellistische Strukturen besonders weit von neusachlichen Themen und Verfahren getrennt hat. Dies gilt selbst für diejenigen Romane aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich der Aufarbeitung von Verbrechen und Schuld während der NS-Zeit verschrieben haben, in denen die Texte nicht mehr auf Dokumentation und Bericht, sondern auf Verstehen und Erklären (212) zielen. Ob man allerdings in diesem Zusammenhang, also in dem von Herold herausgestellten Prozess des allmählichen Verschwindens Neuer Sachlichkeit, auch Der schwarz Obelisk mit seinen manifesten stofflich-thematischen Rückgriffen auf die Zwanziger Jahre, auf das abermalige Thematisieren der ›Verlorenen Generation‹ und auf einen homodiegetischen Erzähler pauschal stellen kann, wie es der Vf. tut, bleibt diskussionswürdig. Doch ein solcher kleiner Einwand schmälert keineswegs die Verdienste und Vorzüge von Herolds Arbeit, zumal der Vf. am Ende seines informativen Überblicks über Remarques Romanwerk selbst hervorhebt, dass aufbauend auf seine Vorarbeit »mit dem kulturpoetischen Mikroskop einzelne Romane« noch näher untersucht werden können (203). Für die Remarque-Forschung ist die vorliegende Studie ein großer Gewinn, weil hier Remarques literaturgeschichtlicher Wert im Kontext des literarischen Gefüges seiner Zeit plausibel gemacht wird. Rainer Jeglin, Hannover

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BeiträgerInnen und HerausgeberInnen dieses Bandes Carl-Heinrich Bösling, Dr. rer. pol.; Geschäftsführer der Volkshochschule der Stadt Osna­brück GmbH und Programmbereichsleiter »Gesellschaft und Politik«; [email protected].

Lena Dust, B.A.; Studentin der Germanistik an der Universität Osnabrück; [email protected]. Habib El Mallouki, Prof. Dr. phil.; Professor für Islamische Literatur und Arabistik am Institut für Islamische Therologie der Universität Osnabrück; habib. [email protected]. Miriam Fassbender; Filmemacherin und Autorin; miriamfassbender@google mail.com. Ursula Führer; ehemals Vorsitzende der Erich Maria Remarque-Gesellschaft Osnabrück e.V.; [email protected].

Marc Hieger, OStR; Pommernweg 5, 61118 Bad Vilbel; [email protected]. Claudia Junk, M.A.; Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trum, Universität Osnabrück; [email protected]. Rainer Jeglin, OStR, Hannover; [email protected]. Lioba Meyer; Lehrerin, Kinderbuchautorin, ehemalige Bürgermeisterin der Stadt Osnabrück, ehemals Vorsitzende der Erich Maria Remarque-Gesellschaft, Engagement zur regionalen Förderung von Kunst und Kultur; [email protected].

Reinhold Mokrosch, Prof. emer. Dr.; Institut für Ev. Theologie der Universität Osnabrück; [email protected]. Jochen Oltmer, Dr. phil. habil.; Apl. Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Vorstands des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück; [email protected]. 199

BeiträgerInnen und HerausgeberInnen

Antonio Umberto Riccò; Lehrer und Schulleiter; [email protected]. Eckart Stratenschulte, Prof. Dr.; Leiter der Europäischen Akademie Berlin,; [email protected]. Thomas F. Schneider, Dr. phil. habil.; Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trum, Universität Osnabrück; [email protected]. Roman R. Tschaikowski, Prof. Dr. phil.; Nord-Östliche Staatliche Universität Magadan (Russland); [email protected].

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