Ursachen und Folgen politischer Gewalt in in Kolumbien und Peru 9783964567772

Mit den neuesten Materialiensammlungen und Analysen als Grundlage werden Fragestellungen beleuchtet wie die nach dem Sel

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Ursachen und Folgen politischer Gewalt in in Kolumbien und Peru
 9783964567772

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I . Theoretische Modelle zur Erklärung der politischen Gewalt im südamerikanischen Raum
II. Die Verzahnung von Staats- und Aufstandsgewalt und ihre theoretische Klärung
III. Die Tradition des soziokulturellen Autoritarismus und die Beständigkeit politischer Gewalt in Kolumbien und Peru
IV. Partielle Modernisierung, Anomiephänomene und Protestpotential
V. Selbstverständnis und Ideologie der Aufständischen
VI. Aspekte der institutionellen Gewalt
VII. Zu den Folgen langandauernder politischer Gewalt
Abkürzungsverzeichnis
Ausgewählte Bibliographie
Personen- und Sachregister

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H.C. F. Mansilla Ursachen und Folgen politischer Gewalt in Kolumbien und Peru

Editionen der Iberoamericana Reihe m Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bemecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 36

H. C. F. Mansilla

Ursachen und Folgen politischer Gewalt in Kolumbien und Peru

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1993

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mansilla, Hugo C. F.: Ursachen und Folgen politischer Gewalt in Kolumbien und Peru / H.C.F. Mansilla. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1993 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 36) ISBN 3-89354-836-X NE: Editionen der Iberoamericana / 03

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1993 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

5

Inhaltsverzeichnis Vorwort

I.

Theoretische Modelle zur Explikation der politischen Gewalt im südamerikanischen Raum

n.

7

9

Einige brauchbare Ansätze zur Erklärung der Gewalt

13

Zur Frustrations-Aggressions-Theorie

19

Zum Anomie-Theorem

22

Die Verzahnung von Staats- und Aufstandsgewalt und ihre theoretische Klärung

26

m . Die Tradition des soziokulturellen Autoritarismus und die Beständigkeit politischer Gewalt in Kolumbien und Peru

37

Die Schwäche der Institutionen

43

Das Nebeneinander von zwei Kulturen

49

Die Kontinuität der Gewaltausübung

54

IV. Partielle Modernisierung, Anomiephänomene und Protestpotential

V.

Das jugendliche Aufbegehren in Peru

57

Armut und politische Mobilisierung in Peru

57

Staatlicher Legitimitätsverlust, Anomiephänomene und partielle Modernisierangsschübe in Kolumbien

62 70

Armut und Gewaltausbruch in Kolumbien

74

Schwache gesellschaftliche Kohäsion und Gewaltbereitschaft

79

Selbstverständnis und Ideologie der Aufständischen

90

Der allgemeine Kontext

90

Die Verherrlichung der Gewalt

97

Ideologische Konstanten

101

6

Das Mißverhältnis zwischen der Radikalität der Kampfmethoden und der Bescheidenheit der Zielsetzungen

110

Binnenstrukturen

116

VI. Aspekte der institutionellen Gewalt

123

Staatsgewalt als Ausdruck von Klasseninteressen?

123

Aufassungen innerhalb der Streitkräfte

130

Die Leidtragenden

137

VII. Zu den Konsequenzen langandauernder politischer Gewalt

144

Die Verselbständigung der Gewalt

148

Die Militarisierung der Gesellschaft

150

Guerilla und Drogenhandel

156

Abkürzungsverzeichnis

160

Ausgewählte Bibliographie

162

A. Allgemeines

162

B. Kolumbien

164

C. Peru

166

Personen- und Sachregister

169

7

Vorwort In letzter Zeit haben Phänomene der politischen Gewalt in Kolumbien und Peru eine gewichtige und zugleich bizarre Dimension angenommen. Diese Studie beabsichtigt eine vergleichende und interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dieser sehr komplexen Problematik, deren Mannigfaltigkeit sich gegen eine einfache Interpretation sperrt. In beiden Ländern arbeiten inzwischen zahlreiche Sozialwissenschaftler an der Erhellung der mit der Gewalt verbundenen Entwicklung, welche die Geschichte jener Gesellschaften so tief und nachhaltig geprägt hat. Der vorliegende Text stützt sich auf die vorzüglichen Materialiensammlungen und Analysen, die in den letzten Jahren meist junge Forscher in Peru und Kolumbien veröffentlicht haben. Aus diesem Grund enthält die Arbeit keine geschichtliche Rekonstruktion der politischen Gewaltphänomene und keine (kommentierte) Chronik ihrer bedeutsamsten und dramatischsten Ereignisse; sie versucht vielmehr, einige Gebiete, die von der Forschung bislang nicht genügend beleuchtet wurden, verstärkt ins Zentrum der Untersuchung zu rücken. Dazu gehören zum Beispiel Fragestellungen wie die nach dem Selbstverständnis der Aufständischen, nach den Formen der vom Staat ausgehenden Gewalt und ihrer Verzahnung mit der Aufstandsgewalt, nach den Konsequenzen des langandauernden Bürgerkrieges und überhaupt nach der Vergleichbaikeit der beiden Entwicklungsstränge. Da die mit dem Drogenhandel verbundene Gewalt keinen eindeutig politischen Charakter besitzt, wurde diese Thematik weitgehend ausgeblendet. Kausalanalysen kommt heute nicht mehr die zentrale Bedeutung zu, die ihnen die sozialwissenschaftliche Tätigkeit früher zuschrieb, und dies zurecht, weil ihrem Erklärungsvermögen doch enge Grenzen gesetzt sind. Kein Deutungsversuch kann aber auf die Erforschung der Entstehungsbedingungen der behandelten Gegenstände (wenn dies auch oft auf indirekten Wegen geschieht) gänzlich verzichten. Deswegen beschäftigt sich diese Studie ausdrücklich mit der politischen Kultur und ihren Traditionen in Peru und Kolumbien, in die die Gewaltphänomene eingebettet sind. Damit wird auch die Angemessenheit einiger Erklärungstheorien im Hinblick auf die heutige Wirklichkeit kritisch überprüft. Diese Arbeit wurde durch je zwei Feldaufenthalte in Kolumbien und Peru sowie durch zahlreiche Fachgespräche mit führenden Sozialwissenschaftlern in beiden Ländern bereichert. Viele Konzepte und Hypothesen diskutierte der Verfasser in Augsburg, Bogotá und in Nordkolumbien mit Herrn Professor Dr. Peter Waldmann (Universität Augsburg), der das Forschungsprojekt betreute und das Thema anregte.

8 Folgenden Personen ist der Autor für gewährte Hilfe zu großem Dank verpflichtet: in Lima den Professoren David Sobrevilla (Universidad de San Marcos), Yves Saint-Geours (Institut Français d'Etudes Andines), Carlos Iván Degregori (IEP), Martin S. Scurrah (GREDES) sowie Luis Cueva und dessen Mitarbeitern (CEDEP); in Bogotá den Professoren Eduardo Pizarra Leongómez, Alejandro Reyes Posada, Francisco Leal Buitrago und Rubén Jaramillo (Universidad Nacional de Colombia), María Victoria Uribe und Carlos B.Gutiérrez (Universidad de Los Andes), den RR.PP. Fernán González González und Francisco de Roux (CINEP) sowie Dr. Esther Sánchez und Dr. Yolanda Zuluaga. Der aufrichtige Dank des Verfassers gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Arbeit durch eine großzügige Forschungsbeihilfe ermöglicht hat.

9

I.

Theoretische Modelle zur Erklärung der politischen Gewalt im südamerikanischen Raum Die mannigfaltigen Formen, die die politisch motivierte oder gefärbte Gewaltanwendung in den letzten Jahrzehnten weltweit angenommen hat, lassen ihre Analyse und Deutung mit Hilfe einfacher Erklärungsmodelle und monokausaler Interpretationsschemata nicht mehr zu. Das gilt insbesondere für die diesbezügliche Problematik im südamerikanischen Anden-Raum, die inzwischen einen bemerkenswerten Komplexitätsgrad erreicht hat, so daß sich beinahe alle theoretischen Ansätze als unzureichend erweisen. Wohlgemerkt nicht als falsch: Sie leisten in der Regel einen gar nicht unwichtigen Beitrag zum Verständnis von Teilgebieten der Thematik und führen nur dann zu unzulänglichen Ergebnissen, wenn man ihnen die Funktion eines alleinigen und erschöpfenden Erklärungsversuches zuschreibt. Gewaltphänomene im Anden-Raum haben eine lange Vorgeschichte und weisen eine äußerst verwickelte Evolution auf. Langandauernder Guerilla-Krieg, Terrorismus und die Bildung von Nebenzentren politischer Macht sind die auffallendsten Faktoren dieser Entwicklung in Kolumbien und Peru. Darüber hinaus ist politische Gewalt in diesen Ländern zu einer heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Alltagserscheinung und zu einer fundamentalen Triebkraft der politischen Szene geworden. Die Veralltäglichung der Gewalt geht mit einem für die Gestaltung der politischen Sphäre entscheidenden Entwicklungstrend einher, nämlich mit der Verselbständigung der Gewaltphänomene, die eine eigene Entwicklungsdynamik entfalten. Verlauf und Folgen von Gewalthandlungen stehen in einem immer undurchsichtiger werdenden Verhältnis zu der die Gewaltakte jeweils auslösenden Ausgangslage; die individuellen oder kollektiven Träger der Gewalt können den Sinn ihres Handelns immer weniger angeben (und es schon gar nicht plausibel rechtfertigen). Die schon vorher weitverbreitete, in den letzten Jahren jedoch noch einmal enorm gewachsene Guerilla-Bewegung in Peru (in Kolumbien gab es sie nur bis 1990/1991) hat verschiedene Bestandteile: bäuerliche Selbstschutzverbände, die sich gegen die Willkür von Großgrundbesitzern und Polizisten wehren; ethnisch-kulturelle Protestformen, die unter bestimmten Umständen zu bewaffneten Konflikten ausarten; Auseinandersetzungen innerhalb der Machteliten, die durch Privatarmeen ausgetragen

10

werden; mehr oder minder »klassische« Klassenkämpfe, deren friedliche Schlichtung unmöglich geworden ist; Manifestationen der seit Jahrhunderten tradierten politischen Kultur des Autoritarismus, die in der offenen Gewaltausübung eine Art Ventil findet; und schließlich staik verbreitete Formen des sozialen Banditentums, die langfristig fast immer in Straftaten münden und zur Zeit mit dem illegalen Drogenhandel eng verwachsen sind. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, ist ein multikausaler Erklärungsansatz erforderlich, der aber auch nur vorläufige Antworten und hypothetische Deutungsversuche hervorzubringen vermag. Neben der Tatsache, daß die Situation in Südamerika derzeit sehr komplex und undurchsichtig ist, gibt es weitere Gründe, die schnell die Grenzen einfacherer Analyse- und Interpretationsschemata aufzeigen. Gewalt ist, wie andere gesellschaftliche Phänomene auch, begrifflich schwer zu fassen, inhaltlich mehrschichtig und immer und überall anzutreffen. Dies alles erschwert die vollauf befriedigende Behandlung der Problematik und die restlose Aufklärung aller damit zusammenhängenden Nebenfragen. Andere, allgemeinere Faktoren beeinträchtigen im übrigen jedes Erklärungsmodell, das Gültigkeit auch für ähnlich gelagerte Fälle beansprucht. Mit einiger Sicherheit kann man davon ausgehen, daß den Entstehungs-, Entfaltungs- und Erfolgsbedingungen lateinamerikanischer Guerilla-Bewegungen ein jeweils exzeptioneller Charakter zukommt: Es sind also höchstwahrscheinlich immer andere Gründe, Begleitumstände und Zufälle, die ihr Gedeihen und ihre Perspektiven maßgeblich bestimmen. Verallgemeinerungsfähige Aussagen über die Entstehung und die Erfolgschancen des Guerilla-Krieges bleiben deshalb recht problematisch - vor allem, wenn sie mit dem Anspruch gesetzesartiger Geltung verbunden werden. Der Vergleich der Gewalterscheinungen in den Fällen Peru und Kolumbien zeigt, wie fragwürdig Verallgemeinerungen über die Evolution von Gewaltphänomenen sein können. Umfassende Erklärungsmodelle laufen Gefahr, daß ihre generalisierbaren Annahmen zu unspezifisch geraten: Die Begründungen und Prognosen, die sie enthalten, treffen auf zahlreiche, durchaus vergleichbare Fälle politischer Gewaltausübung in der gesamten Dritten Welt zu und sind kaum in der Lage, die tatsächliche Wiiklichkeit eines konkreten Raumes in einer besonderen Zeitperiode begrifflich zu durchdringen und ihren soziopolitischen Eigenarten auf die Spur zu kommen. Zwei Beispiele mögen diesen Sachverhalt erläutern. Eine vielbeachtete Untersuchung von AIvaro Echeverri Uruburu1 zum kolumbianischen Fall vertritt die in Lateinamerika sehr verbreitete These, daß das gesamte gesellschaftliche und insbesondere das ökonomische Leben des Landes auf den Vorteil einer ausgesprochen kleinen Minderheit von Höchstprivilegierten ausgerichtet sei, deren gesetzlich nicht verankerte Machtbefugnisse sich von Generation zu Generation innerhalb derselben Schicht vererben. Folge 1

Alvaro Echeverri Unibuni: Elites y proceso político en Colombia 1950-1978. Una democracia principesca y endogámica, Bogotá: Fundación Universitaria Autónoma de Colombia 1987, S. 237ff.

11 dieser seit langem bestehenden Konstellation könne nur die Ausübung extremer Gewaltformen seitens des Staates sein, der diese ungerechte Ordnung verteidigt; ihr gegenüber würden die Ausgebeuteten eine verständliche Gegenwehr versuchen, deren Intensität jedoch jener der Herrschaftsgewalt nicht entspreche. Diese Behauptung ist insofern unhaltbar, als die zugrundeliegende Vorstellung von Kolumbien dessen Sozialstruktur und Geschichte überhaupt nicht gerecht wird: Sowohl der gesellschaftliche Aufbau als auch die historische Entwicklung Kolumbiens wiesen von Anfang an eine relativ komplexe Natur auf, die sich nicht auf eine ständige scharfe Gegenüberstellung zweier antagonistischer Klassen reduzieren läßt. Außerdem muß daran erinnert werden, daß selbst eine extreme Klassenpolarisierung - eine im Laufe der Weltgeschichte durchaus verbreitete Erscheinung - selten einen langandauemden und dabei geographisch begrenzten Guerilla-Krieg nach kolumbianischem Muster hervorgebracht hat. Das Nebeneinander von eindeutiger Privilegierung und massenhafter Entbehrung gibt nicht unbedingt eine klare, unverwechselbare Ursache für die spezifischen Formen der Gewaltausübung in der neueren Geschichte Kolumbiens ab. Eine viel anspruchsvollere Studie von Daniel P6caut2 fuhrt Motivstrukturen zur Erklärung der kolumbianischen Gewalt an, die gewiß eine nicht unwichtige Rolle für den Ausbruch und die Beibehaltung gewaltsamer Handlungsmuster gespielt haben, die jedoch auch in den meisten Gesellschaften in der Dritten Welt zu finden sind und die somit die Eigentümlichkeiten kolumbianischer Gewalt nicht präzise genug zu erfassen vermögen. Dazu gehören beispielsweise die ungesicherte Lage des Staates als Anstalt und als Akteur, die Verselbständigung der politischen Sphäre, die mangelnde Gliederung und Integration der kolumbianischen Gesellschaftsstrukturen sowie die Unzulänglichkeiten der praktizierten Sozialpolitik. Pdcaut gebührt andererseits das Verdienst, auf die vielfaltige Herkunft der Gewalt aufmerksam gemacht zu haben; die Gewalthandlungen seien letztlich weder auf soziale oder wirtschaftliche Gründe zurückzuführen noch mittels einer Kosten-Nutzen-Hypothese zu eiklären. Von Anfang an habe es einen dysfunktionalen Gewaltüberschuß gegeben, welcher den langfristigen Interessen der Gewalturheber nicht förderlich gewesen sei. Erklärungsversuche, die ausschließlich auf herkömmlichen Klassenanalysen basieren, würden deshalb bei der Deutung des kolumbianischen Guerilla-Krieges zu kurz greifen.3 Einer globalen Interpretationsskizze der Formen von Gewalt in Peru und Kolumbien steht auch das Fehlen zuverlässiger Untersuchungen über einige wichtige Aspekte entgegen. Es läßt sich beispielsweise ein klarer Mangel an Analysen im Mikrobereich der Guerilla-Bewegungen feststellen: Es fehlen herrschaftssoziologisch orientierte Studien, die die interne Struktur der Guerilla-Verbände (Befehlskanäle, Hierarchien, Bildung von Privilegien und Vorrechten, Finanzlage, Binnendemokratie, Wil2

Daniel Pécaut: Vordre et la violence. Evolution socio-politique de la Colombie entre 1930 et 19S3, Paris: Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales 1987, S. 370-379,384f., 387-391.

3

Ebd., S. 335-338.

12 lensbildungsprozeß usw.) beleuchten. Außerdem gibt es nur wenige - und zudem fragmentarische - Forschungsarbeiten, die sich mit sozialpsychologischen und sozialisationstheoretischen Fragestellungen in bezug auf die Gewaltakteure beschäftigen. Soziale Herkunft, Familienstruktur, Ausbildungsgänge, politische Kultur und Beweggründe der Gewaltakteure in Peru und Kolumbien harren noch einer erschöpfenden Untersuchung. Im sogenannten Makrobereich entbehrt die Gewaltforschung des Anden-Raumes immer noch einer fundierten Studie über die Verflechtung von plebejischer Rebellion und staatlich-institutioneller Repression, d.h. über die Verknüpfung von Strategien zur Infragestellung des bestehenden Herrschafts- und Sozialsystems mit den Mechanismen zu dessen Aufrechterhaltung. Es gibt selbstverständlich zahlreiche politikwissenschaftliche Arbeiten, die sich mit den verschiedenen Formen »institutioneller Gewalt« und deren Rechtfertigungsideologien, Handlungsmustern und public policies deskriptiv auseinandersetzen,4 aber es fehlen noch empirisch-dokumentarisch und zugleich interpretierend ausgerichtete Studien, die zum Beispiel das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein von Aufstandsgewalt und Herrschaftsgewalt kritisch unter die Lupe nehmen. Eine skeptische Haltung hinsichtlich der Erklärungskraft von Gewalttheorien ist durchaus angebracht, insbesondere, wenn solche Theorien monokausal sind oder wenn sie für explikative Hypothesen, die aus räumlich und zeitlich eng begrenzten Perspektiven gewonnen wurden, auch bezüglich andersgearteter Gesellschaftsordnungen und Epochen Geltung beanspruchen. Als Theorien mit allgemeinem Geltungsanspruch sind sie oft nicht in der Lage, »der Komplexität und den Besonderheiten«5 der einzelnen Fälle gerecht zu werden.6 Als partielle Erklärungsversuche, die in einen größeren, verschiedene Ursachen und Faktoren berücksichtigenden Eiklärungsansatz einzugliedern sind, behalten sie jedoch zweifellos ihre Bedeutsamkeit und sind teilweise sogar unentbehrlich. Ein integrativer Ansatz hat die Tendenz, analytische, deskriptive und deutende Bestandteile als Fragmente eines Ganzen aufzufassen, die sich nur in gegenseitiger Verknüpfung und Ergänzung der Wahrheit annähern können. Eine einigermaßen befriedigende Interpretation der politischen Gewalt in Kolumbien 4

Der Begriff der institutionellen Gewalt geht auf Peter Waldmann zurück. Ein Beispiel dafür waren die »Gehorsamsansprüche staatlicher Instanzen gegenüber Borgern und gesellschaftlichen Gruppen«. P. Waldmann: Strategien politischer Gewalt, Stuttgart: Kohlhammer 1977, S. 10.

5

So Peter Waldmann: »Gewaltsamer Separatismus. Am Beispiel der Basken, Franco-Kanadier und Nordiren«, in: Kölner Zeitschrift flr Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 37 (1985), Nr. 2, S. 204.

6

Unter solchen Studien würden sich beispielsweise folgende befinden: Jean Baechlen Le pouvoir pur, Paris: Calmann-Lévy 1978; Ekkart Zimmermann: Political Violence, Crises, and Revolutions. Theories and Research, Cambridge (M.): Schenkman 1983; Stewan Clegg: Power, Rule, and Domination, London: Rouüedge 1975; Hans Werbik: Theorie der Gewalt. Eine neue Grundlage für die Aggressionsforschung, München: Fink 1974; Dieter Senghaas: Gewalt, Konflikt, Frieden, Hamburg: Hoffmann & Campe 1974; Ted Robert Gurr »Psychological Factors in Civil Violence«, in: Francisco José Moreno/Barbara Mitrani (Hg.), Conflict and Violence in Latin America, New York: Cromwell 1971, S.372-407; Ivo K.Feierabend/Rosalind L.Feierabend: »Aggressive Behaviours within Politics, 1948-1962«, in: ebd., S. 341-371.

13 und Peru kann deswegen auf Theoreme nicht verzichten, solange sie nicht als allein gültige Erklärungen festgeschrieben werden. Die Wirklichkeit in den beiden hier betrachteten Ländern, in der politische, institutionelle, soziokulturelle, historische, ethnische und familiäre Faktoren ihren Beitrag zur Gewaltausübung leisten, gleicht einem unentwirrbaren Knäuel, dem nur mittels eines komplizierten Instrumentariums beizukommen ist.

Einige brauchbare Ansätze zur Erklärung der Gewalt Auf eine Definition politischer Gewalt muß hier verzichtet werden. Während Gewaltsamkeit oft als Zuflucht der Unvernunft erscheint, stellt sie eigentlich - seitens der durch den jeweiligen status quo Privilegierten - einen in der Weltgeschichte durchaus bewährten Mechanismus zur Aufrechteihaltung der Ordnung und zur Konsolidierung der gerade bestehenden Herrschaftsstrukturen dar. Diese - im Normalfall legale - statussichernde Funktion von Gewalt kann von den Opfern als kontinuierliche Repressionshandlung wahrgenommen werden; die dann »von unten« einsetzende Gewalt, die als Instrument für ein höheres Ziel, nämlich die Stiftung von Frieden nach Behebung der Unrechtsgriinde und -Situationen, dient, wird von ihren Trägem und Propagandisten als legitimes Widerstandsrecht der sozial Benachteiligten begriffen. Diese grundsätzlich verschiedenen Positionen in bezug auf Wesen und Funktion politischer Gewalt, deren Berechtigung in beiden Fällen außer Zweifel steht, weisen auf die Schwierigkeiten hin, die einer um Ausgewogenheit und Mehrschichtigkeit bemühten Deutung von Gewalt im Wege stehen. Hier sei angemeikt, daß der Berechtigung der progressiven Instrumentalgewalt7 (Anspruch auf Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit und auf Beendigung von Gewalt schlechthin) die der konservierenden Gewalt (Schutz der Gesellschaft vor der Willkür einzelner Gruppen und Interessen aufgrund einer mehrheitlich getragenen oder zumindest akzeptierten Legitimitätsauffassung) ebenbürtig gegenübersteht. Die statussichernde Gewalt geht in den meisten Fällen so vor, daß ein Minimum an gewaltsamer Einschüchterung und ein Maximum an prärationalem, voipolitischem Einverständnis zwischen Herrschern und Beherrschten erzielt werden. Als soziopolitisches Mittel wird Angst derart dosiert, daß sich für gewöhnlich der Gehorsam gegenüber dem status quo und den Machthabern automatisch einstellt. Gewaltpotentiale in Peru und Kolumbien finden sehr unterschiedliche Nährböden vor, was wiederum ein verhältnismäßig einfaches Erklärungsschema als ungenügend erscheinen läßt. Die Bereitschaft zur Gewalt hat mit sehr handfesten gesellschaftspolitischen Gründen (wie Landhunger) zu tun, aber auch mit individueller Perspektivlosigkeit bei den städtischen Mittelschichten, mit Sinndefiziten bei aibeitslosen Aka7

Vgl. hierzu das ausführliche Werk von Sven Papcke: Progressive Gewalt. Studien zum sozialen Widerslandsrecht, Frankfurt/Main: Fischer 1973, S. 30.

14

demikem und mit wiederholten Erfahrungen von Demütigung, Diskriminierung und Erniedrigung. In Peru und Kolumbien leben Gesellschaften, die seit Jahrzehnten einen beträchtlichen Modemisierungsprozeß durchmachen, einen hohen Verstädterungsgrad aufweisen und ausgedehnte Mittelstandssektoren besitzen; die Entfremdungsphänomene der modernen Welt sind ihnen nicht mehr unbekannt. Im begrifflich schwer faßbaren, demographisch jedoch bedeutenden Sektor der Mittelschichten gibt es in beiden Ländern unzählige Gruppen und Individuen, die sich schwer in das soziale Gefüge integrieren lassen und die gleichzeitig über eine mit erheblichen Opfern erkaufte Schul- und Berufsausbildung verfügen; gerade bei ihnen häufen sich bestimmte Alltagserfahrungen, die auf einem nicht immer ganz nachvollziehbaren Weg zur Entstehung von Strategien politischer Gewalt beitragen können. Dazu zählen beispielsweise Ohnmachtsgefühle, Ängste, fehlende Sinnbezüge und die abnehmende Möglichkeit sinnlicher Erfahrung. Diese Tatbestände, die einer städtischen, hochdifferenzierten, modernen Industriezivilisation eigen sind, gehören nunmehr zur zeitgenössischen Realität des Anden-Raumes: In dessen chaotischer, kaum durchschaubarer und hochkomplexer Stadtwelt läßt sich bei vielen jungen Menschen der Wunsch feststellen, diesen Wirrwarr unvermittelt zu entziffern. Üblicherweise geschieht dies durch eine zornige Entdifferenzierung, die nicht selten in der Verdammung der als zerstörungswürdig erscheinenden Ordnung gipfelt. Im Zuge dieser ebenso leidenschaftlichen wie unerbittlichen Komplexitätsreduktion wird der politischen Gewaltausübung die Funktion eines unentbehrlichen und sozusagen natürlichen Mittels zur globalen Sinnstiftung, zur Veränderung der Gesamtgesellschaft und zur Durchsetzung eigener Interessen zugeschrieben. Man muß dazu berücksichtigen, daß diese Gruppen in Peru und Kolumbien durch ihre Herkunft der Gedankenwelt der Unteiprivilegierten sehr nahe stehen, die bekanntlich ein relativ enges Verhältnis zur physischen Gewalt aufrechterhalten. Wenn Gewalt von Anfang an und in vielen Sphären des Alltags als unveränderliche Konstante menschlicher Natur und gar als Deutungsmuster auftritt, fallt die Entscheidung zu tatsächlichen Gewalthandlungen einigermaßen leicht. »Insofern ist Terrorismus«, schrieb Herfried Münkler, »immer auch Komplexitätsreduktion mit der Waffe«.* Ohnmachtsgefühle gehen nicht selten mit Allmachtsphantasien einher; gerade wenn man glaubt, alle praktischen Anstrengungen seien sinnlos und vergeblich, tendiert man zu einem verzweifelten, unvermittelten Handlungsmuster, das auf einen Schlag sowohl die gesellschaftliche Wirrnis erhellen als auch das Ende eines politisch nicht mehr tragbaren Systems herbeiführen soll. Angesichts des sehr wahrscheinlichen Zusammenhangs zwischen Gewaltpotential und (halb-)modernisierter Umwelt wäre es nicht unangemessen, auch im südamerikanischen Fall jenen Forschungsstrang zu verfolgen, der den politischen Pathologien in-

8

Herfried MUnkler: »Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand. Die Faszination des Untergrunds und ihre Demontage durch die Strategie des Tenors«, in: Reiner Steinweg (Hg.), Faszination der Gewali. Politische Strategie und Alitagserfahrwg, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 61 (Hervorhebung im Original).

15

nerhalb modernisierter Gesellschaften nachgeht. Da diese Systeme Sinnstiftung und Identitätssuche in zunehmendem Maße erschweren, streben immer mehr Individuen eine Lebensbewältigung an, die vom Kult der Unmittelbarkeit und der Rückgewinnung einfacher Solidaritätsmodelle geprägt ist. Dazu kommt in der Regel eine Verarmung des moralischen Bewußtseins, die durch eine Reduktion praktischer Probleme auf technisch-instrumentelle Fragestellungen ergänzt wird. Mit anderen Worten: die Opfer der Modernität rebellieren zwar gegen die Zwänge und oft auch gegen die Resultate dieser Ordnung, übernehmen jedoch nicht wenige der Wertorientieningen und - was entscheidend ist - der psychischen und intellektuellen Deformationen, die für die Industriezivilisation kennzeichnend sind. Die Austrocknung des ethischen Vermögens führt dazu, daß die soziale Umwelt und insbesondere die politisch-institutionelle Sphäre als Verblendungszusammenhang und sogar als das absolut Böse wahrgenommen wird; der dann einsetzende Hang zum Aktionismus und zu Militärorganisationen, die Solidarität vortäuschen, besitzt oft alle Merkmale einer irrationalen Praxis und einer irrationalistischen Begründungs- und Rechtfertigungsideologie. Die technisch-instrumentelle Färbung dieses Protestes legt eine Strategie nahe, die auf der Vorstellung der totalen Machbarkeit menschlicher Entwürfe nach Maßstäben technologischer Projekte und der prinzipiellen Modulieibarkeit des menschlichen Willens basiert Eine solche Strategie führt zu Parteiorganisationen, die nach leninistischen Grundsätzen strukturiert und in denen herkömmliche Regeln militärischen Ursprungs maßgeblich sind. Die Sehnsucht nach Spontaneität, Solidarität und Geborgenheit endet nicht selten in Organisationen, die aus der vormodernen Welt nur die Strenge einfacher und klarer Hierarchien übernehmen. Die Suche nach klarer Sinnstiftung und nach der Wärme wenig komplexer Lebensmodelle weist deshalb Momente auf, die einer rationalen Auffassung von Politik zuwiderlaufen und einer - gemessen an ihren Ergebnissen - unmenschlichen Praxis Vorschub leisten. In ganz Lateinamerika ist bei Gruppierungen, die dem Guerilla-Krieg wohlwollend gegenüberstehen, eine »Redogmatisierung des Bewußtseins«9 offenkundig: Es handelt sich um eine Mentalität, die ihre Ausprägung durch das Herausfallen aus der traditionsgebundenen Sicherheit erhalten hat, wie sie letzten Endes durch vormodeme Lebensorientierungen, Weltbilder und Deutungsmuster gegeben war. Sie strebt eine Rückgewinnung der vorindustriellen identitätsveibürgenden Elemente an, vertritt zugleich aber Vorstellungen vom technisch Machbaren, die ihrerseits auf einer instrumentalistisch verkürzten Vorstellung von Modernität beruhen. Das tatsächliche Ergebnis zeigt unter anderem die Züge eines Wahnsystems, was die Wahrnehmung und Auslegung der gesellschaftlichen Umwelt betrifft; die unentwirrbare Mi9

Der Ausdruck geht auf Albrechl Wellmer zurück. Vgl. Albrecht Wellmer »Terrorismus und Gesellschaftskritik«, in: JUrgen Habermas (Hg.), Siichworie zur »Geisligen Situation der ZeitBd. I: Nation und Republik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 285; vgl. auch ebd., S. 271.

16

schung aus realitätsgerechten und wirklichkeitsfernen Aspekten sowie aus nachvollziehbaren Motiven und bloßen Ressentiments hält in der Regel die entsprechenden Gruppen und Individuen davon ab, durch Erfahrung, Kritik und Korrektur ihre Praxis zu bereichern. Einige Forschungsansätze haben verdienstvollerweise darauf aufmerksam gemacht, daß neomarxistische Theorien im Anschluß an die Revolutionstheorie und die Parteikonzeption Lenins eine großzügige Anwendung gewalttätiger Handlungsmuster begünstigt haben, indem sie die entsprechende Handlungsschwelle erheblich herabsetzten. Die Rechtfertigung von Gewalt im Namen eines höheren historischen Rechts10 hat in der Tat ethische Vorbehalte durch den Verweis auf angeblich humanistische Zielsetzungen aufgeweicht und mögliche gewaltfreie Strategien wirkungsvoll bagatellisiert. Diese Theorien sind jahrzehntelang im universitären und intellektuellen Milieu Perus und Kolumbiens eifrig rezipiert und diskutiert worden; es ist anzunehmen, daß diejenigen aus diesem Milieu, die dann die Waffen ergriffen und nicht selten Führungspositionen innerhalb der jeweiligen Guerilla-Bewegung einnahmen, eine vereinfachte und technizistisch verkürzte Version dieser Vorstellungen bevorzugten. Sie gingen beispielsweise davon aus, daß nicht mehr beide Wege des Übergangs zum Sozialismus (der revolutionär-gewaltsame und der friedlich-evolutionäre) zur Wahl stünden, sondern daß in einer von Gewalt völlig durchtränkten Welt nur die nackte Gewaltausübung in Frage komme. Dadurch fiel die konkrete Überprüfung der Gewaltanwendung aus: Die Frage, ob Gewalt im konkreten Einzelfall die revolutionär-humanistischen Ziele ermöglichen würde, wurde von der Überlegung verdrängt, daß das bestehende Gesellschaftssystem Ausdruck der schlimmsten reaktionären Gewalt sei und daß Gegengewalt die notwendige Ausübimg eines übergeordneten Widerstandsrechts gegen die historisch niedrigere Legitimität der bestehenden Ordnung darstelle. Im Rahmen dieser Studie scheint es überflüssig, auf das Problematische an dieser Auffassung näher einzugehen, die in die klassische Kontroverse über das Verhältnis von Zwecken und Mitteln eingebettet ist. Auch auf Fortschritt gerichtete instrumenteile Gewalt kann zur Gewöhnung führen, was offensichtlich in Peru und Kolumbien der Fall ist; immer größere »Gewaltmengen« sind dann nötig, um eine vergleichsweise ähnliche Wirkung erzielen zu können.11 Die jahrzehntelange Tätigkeit der Guerilla-Bewegungen im südamerikanischen Anden-Raum hat inzwischen eine Entwicklung herbeigeführt, die als Eigendynamik der Gewalt bezeichnet werden kann: Ihre Folgen stehen in keiner rational nachvollziehbaren Beziehung zu ihren politisch-theoretischen Postulaten und zu ihrem ursprünglichen Anliegen. Die Verselbständigung der Gewaltausübung wirkt sich auf die Programmatik sowie auf die Akteure inner10

Vgl. hierzu Ulrich Malz: »Das Gewaltproblem im Neomarxismus«, in: Eduard J.M Kroker (Hg.), Die Gewalt in Politik, Religion und Gesellschaft, Stuttgart: Kohlhammer 1976, S. 59-79; Eduard J.M. Kroker »Die Gewalt in der maoistischen Lehre«, in: ebd., S. 95-122.

11

Zur Kritik der beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen der progressiven Gewalt vgl. Sven Papcke, a.a.O. (Anm. 1/7), S. 33ff.

17 halb jener revolutionären Organisationen so aus, daß sowohl ihre anfängliche Plausibilität als Revolutionsprogramm als auch ihre Identität als Träger einer höheren Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit weitgehend untergraben werden.12 Dadurch wird Gewalt zu einem diffusen, aber allgegenwärtigen Alltagsphänomen: Die mühsam erreichte Stufe der Monopolisierung der Gewalt durch den Staat und dessen spezialisierte Organe - was im Anden-Raum keineswegs frei von anderen bedenklichen Begleiterscheinungen gewesen ist - wird nunmehr von einer Gesamtlage verdrängt, in der es keine klare Unterscheidung zwischen gewaltsamen und gewaltlosen Handlungen mehr gibt. Gewalt verliert damit ihren Charakter als Ausnahmehandlung und als besonders wirkungsvolle Kampfmaßnahme, was letztendlich zu einer völlig irrationalen Häufung von Gewaltakten führt, denen gesamtgesellschaftlich eine recht beschränkte Rolle als Veränderungsinstrument zukommt.13 Für einige wichtige Fragestellungen, die von der Forschung im Hinblick auf Peru und Kolumbien nicht gebührend berücksichtigt wurden, wie die Rekrutierung neuer Kämpfer, das Selbstverständnis der Führungselite und überhaupt die Bereitschaft zu gewalttätigen Handlungen, empfiehlt es sich, das komplexe Verhältnis von Identität und Gewalt näher zu untersuchen. Es ist nämlich anzunehmen, daß bestimmte Individuen und Gruppen, die die politisch-gesellschaftliche Diskriminierung besonders intensiv am eigenen Leibe erfahren, zur Waffe greifen, weil sie hoffen, dadurch ihre eigene Identität finden zu können. Vor allem unter den Angehörigen der Mittelschichten, die auch in den sich modernisierenden Gesellschaften Perus und Kolumbiens den Entfremdungsphänomenen einer rasch urbanisierten, industrialisierten, anonym und eindeutig unwirtlich gewordenen Ordnung zunehmend ausgesetzt sind, macht sich seit spätestens 1950 ein starkes Unbehagen breit, das eine Identifikation mit dieser Ordnung beträchtlich erschwert. Dazu gehören Ohnmachtsgefiihle, Mangel an sinnstiftenden Bindungen und die Empfindung, bloßes Objekt undurchschaubarer Mächte zu sein. Aus einem solchen Kontext sprießen bekanntlich Allmachtsphantasien und reduktionistische, vor Zwangsmitteln nicht zurückschreckende Identifikationsstrategien. Mag der soziale Zusammenhang noch so unpolitisch sein: diese Strategien entfalten oft Elemente einer ebenso radikalen wie unkritischen Politisierung, die dann die erhoffte einfache Antwort auf die eigentlich komplexe Ausgangssituation liefert. Die Einbindung in eine Guerilla-Organisation bietet zudem dem Identität suchenden 12 Ted Robert Gurr Why Men Rebel, Princeton: Princeton UJ>. 1970, S. 272: »On the balance, the use of coercion by a regime poses more risks than the use of coercion by dissidents. The extensive use of force by either side is likely to be dysfunctional to their initial goals, nonetheless«. Kritisch hierzu Ulrich Widmaier Politische Gewaltorientierung als Problem der Organisation von Interessen. Eine Querschnittsstudie der soziopolitischen Ursachen gewaltsamer Konfliktaustragung innerhalb von Nationalstaaten, Meisenheim: Hain 1978, S. 40ff. 13 Vgl. u.a. Ute Volmerg: »Gewalt im Alltag oder die Ghettoisierung des Bösen«, in: Reiner Steinweg (Hg.), a.a.O. (Anm. 1/8), S. 19ff.; Pierre Bourdieu: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfun/Main: Suhrkamp 1973, passim; zum Prozeß der Monopolisierung der Gewalt durch den Staat in Westeuropa vgl. Norbert Elias: Ober den Prozeß der Zivilisation, Bd. II: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhricamp 1980, S. 222ff.

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Menschen die Möglichkeit, seine Haßbeziehung zur bestehenden Ordnung als wichtigsten Bestandteil einer neuen Gruppenidentität beizubehalten und auszubauen. Das Mini-Universum der Guerilla nimmt ferner die Züge einer Gegenwelt an, die sich angeblich von der verabscheuten »Normalität« wesentlich abhebt - und zugleich vertraute Aspekte des verhaßten Alltags (Hierarchien, Privilegien, Ge- und Verbote usw.) unter der Hand getreulich reproduziert. Aber auch hinsichtlich der unteren, mehr bäuerlich geprägten Schichten läßt sich die Hypothese postulieren, daß die heutigen Guerilla-Bewegungen deren Erfahrungen und auch Wunschbildern insofern entsprechen, als diese Gruppierungen die gesellschaftliche Realität vorwiegend als gewaltsam und streng hierarchisch, als ungerecht und zugleich unberechenbar wahrnehmen; in den Guerilla-Verbänden finden sie ein Bezugssystem, das organisatorisch-strukturell dem tradierten Lebensmilieu ähnlich ist und zudem über eine Botschaft verfügt, die wegen ihrer Einfachheit und Plausibilität (mit einem Schlag sei die kompliziert-dunkle Ordnung der Bevorrechteten zu entlarven und die neue Heimat der Gerechtigkeit zu schaffen) großen Anklang findet. Ein wenig beachtetes Forschungsfeld ist in der Tatsache zu sehen, daß - soweit man der spärlichen Datenbasis entnehmen kann - Führungselite und Kämpfermasse der Guerilla-Bewegungen in Peru und Kolumbien grundsätzlich zu zwei verschiedenen Gesellschaftsschichten und Kultuibereichen gehören. Erstere entstammt in der Regel dem Urbanen Mittelstand, während letztere aus den Unterschichten meist ländlicher Provenienz kommt. Trotz der noch schwachen empirischen Fundierung darf man in bezug auf Peru und Kolumbien die These wagen, daß Planung und Ausführung von Gewaltakten innerhalb des Guerilla-Universums jeweils von Angehörigen unterschiedlicher Sozialklassen getätigt werden: Während den Kämpfern aus den Unterschichten die schmutzige Arbeit übertragen wird, treffen die feineren Leute aus dem Mittelstand (und gelegentlich aus der Oberschicht) die entsprechenden Entscheidungen. Die Bereitschaft zur unvermittelten Gewaltanwendung bei den »einfachen Kämpfern« der Guerilla-Bewegung hängt höchstwahrscheinlich mit deren unmittelbarer Nähe zu physischen Gewalthandlungen zusammen, in der sie sich während ihrer ganzen Sozialisation befunden haben. Peter Waldmann14 hat daran erinnert, daß »violentes Vorgehen in aller Regel ein Zeichen sozialer Durchsetzungsschwäche« ist. In der Tat manifestieren sich Macht und Einfluß - auch im heutigen Anden-Raum in der Anwendung »subtiler, reibungslos wirkender Durchsetzungsmittel«,^ die den Unterschichtsangehörigen gesellschaftlich wie kulturell nicht verfügbar sind. Letztere eignen sich sozusagen besser für echte Gewaltakte, weil ihre zentralen Orientierungswerte von jeher Furchtlosigkeit, Härte und Tapferkeit sind; als Kinder werden sie 14 Peter Waldmann: »Gewaltsamer Separatismus ...«, in: ¡LÜ.O. (Anm. 1/5), S. 298; Peter Waldmann: Strategien politischer Gewalt, a.a.O. (Anm. 1/4), S. 41 f. 15 Peter Waldmann: »Gewaltsamer Separatismus...«, a.a.O. (Anm. 1/5), S. 209. Zu jenen Mitteln zahlt Waldmann persönliche Autorität, überlegene Fachkenntnis, Beredsamkeit in den interpersonellen Beziehungen sowie wirtschaftliche, institutionelle und ideologische Ressourcen im Konkurrenzkampf zwischen Gruppen.

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eher zur Fremdaggression erzogen, während Mittelschichtkinder zur Selbstaggression angehalten werden.16 Dieses Theorem von der subkulturellen Gewalt kann einiges Licht auf die Motivationsstruktur von Unterschichtangehörigen in bezug auf Gewalthandlungen werfen; die Situation der Mittelschichtangehörigen ist jedoch komplexer. Ihre Beweggründe und Handlungsmuster können am zweckmäßigsten mittels einer Reihe sich ergänzender Ansätze erklärt werden. Gruppierungen aus den Mittelschichten empfinden unter bestimmten Umständen eine rechtlich-institutionelle sowie eine politische und kulturelle Diskriminierung; diese Statusinkonsistenz wird in Peru und Kolumbien angesichts des immer noch bedeutenden Gewichts traditioneller Werte, konventioneller Lebensformen und ziemlich geringer Aufstiegsmöglichkeit sowie in Anbetracht des immer noch erdrückenden Einflusses der alten Eliten verbittert wahrgenommen. Es ist zugleich anzunehmen, daß das Theorem von der Statusinkonsistenz17 zwar einige Gründe für die Auslösung violenter Konflikte benennen kann, sich jedoch bei der Erklärung der Verhärtung und Routinisierung des bewaffneten Kampfes als ungenügend erweist.

Zur Frustrations-Aggressions-Theorie Der bekannte und durchaus umstrittene Ansatz,18 wonach der Aggressionsbereitschaft stets eine (wenn auch als solche nicht empfundene) Frustrationserfahrung zugrunde liege, kann einen partiellen Beitrag zur Erklärung der Prädisposition zu Gewalthandlungen bei Angehörigen städtischer Mittelschichten in Peru und Kolumbien leisten. Ohne auf die ausgedehnte Diskussion über die letzte Herkunft menschlicher Aggressionsneigungen einzugehen19 und ohne die in einem anderen Zusammenhang hochinteressante Unterscheidung zwischen »konstruktiver« und »destruktiver« Aggressivität zu berücksichtigen,20 scheint es jedoch angemessen, Aggressionsakte qua 16 Ebd., mit Angaben über die diesbezügliche Literatur. 17 Ernest A. Duff/John F. McCamant: Violence and Repression in Latin America. A Quantitative and Historical Analysis, New York/London: The Free Press 1976, S. 74: Eine revolutionäre Situation tritt dann ein, wenn sich eine unerträgliche Kluft zwischen den Wünschen und dem tatsächlich Erreichten bei größeren sozialen Sektoren ergibt 18 Vgl. hierzu Ingolf Ahlers u.a.: Aggression, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979; Peter Waldmann: Strategien politischer Gewalt, a.a.O. (Anm. 1/4), S. 29ff., insbesondere S. 31. 19 Zur Problematik der Aggressionsneigung als einer ursprünglichen, selbständigen, permanenten Triebanlage des Menschen (im Sinne Sigmund Freuds) vgl. Ewald H. Englert »Zur Sozialpsychologie der Gewalt«, in: Eduard J.M. Kioker (Hg.), Die Gewalt.... a.a.O. (Anm. 1/10), S. 203ff. 20 Vgl. hierzu Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek: Rowohlt 1981, S. 14, 20, 487; Günter Ammon: Herrschaft und Aggression. Zur Psychoanalyse der Aggression, Berlin: s.e. 1970, S. 3; Christian Graf von Krockow: Soziale Kontrolle und autoritäre Gewalt, München: List 1971, S. 9ff. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen »konstruktiver Aggression« im Dienste der Selbsterhaltung und -entfaltung und »destruktiver Aggression«, die spezifisch menschlich ist, ihr ursprüngliches Objekt verloren bzw. verdrängt hat und sich als unbewußte Abwehr der im Dunkeln verbleibenden Angst entfaltet; die Stärke der Aggression entspricht in der Regel der Intensität der Angst. Kinder und Heranwachsende entwickeln zerstörerische Aggressivität, wenn sie die äußere Realität nicht als ich-abgrenzend und zugleich ich-erweiternd, sondern vorwiegend als ich-negierend erfahren.

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Reaktionsbildungen auf regelmäßige Versagungen, auf den systematischen und dauerhaften Entzug von Anerkennung und Bestätigung sowie auf einen sozial relevanten Mangel vernünftig vermittelter Sinnerfüllung zu begreifen. All diese Phänomene sind in den heutigen halbmodemisierten Gesellschaften Perus und Kolumbiens in Hülle und Fülle anzutreffen. Ständige Aggressionsbereitschaft wird zudem in einem Gesellschaftssystem als geläufiges Handlungsmuster toleriert oder sogar gutgeheißen, in dem seit altersher versteckte oder offene Gewalt stets mit einer Prämie belohnt wurde. Peru und insbesondere Kolumbien stellen unzweideutig Gesellschaftsordnungen dar, in denen eine sowohl vom Staat als auch vom sozialen Rebellentum getragene manifeste Gewalt seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine Alltagserscheinung ist. Insofern kann man die ständige Aggressionsbereitschaft als Folge von Lernprozessen begreifen; destruktive Gewalt geht auf erzieherische und kulturelle Deformationen zurück, die mit einer rigiden Gesellschaftsstruktur, dem Mangel an vertikaler Mobilität und einer politischen Kultur des Autoritarismus in Zusammenhang stehen. Die »Revolution der steigenden Erwartungen« und die durch die modernen Massenmedien sozial wirsam gewordenen Ausstrahlungseffekte der metropolitanischen Zivilisation und Konsumwelt haben genügend Motivationen für Frustrationen aller Art herbeigeführt, die allerdings in den verarmten oder zu kurz gekommenen Sektoren des Mittelstandes auffällig stark empfunden werden. Die damit erzeugte Aggressionsbereitschaft äußert sich oft durch Kanäle und Mechanismen, die der trotz aller Modernisierung beibehaltenen Tradition politischer Gewalt eigen sind. Gewalt nimmt deshalb eine modern-technizistische Färbung (z.B. als Machbarkeitskalkül) an, obwohl sie in ihrer Intensität und in ihren kuriosen Erscheinungsformen nur im Rahmen einer von traditionellen Werten und kulturellen Atavismen geprägten Gesellschaft vormodernen Zuschnitts möglich ist. Aggression tritt dann als Regression auf, die ideologisch gerechtfertigt wird: Weil »normale« politische Anstrengungen innerhalb der bestehenden Institutionen keinen im Sinne der »progressiven« Akteure akzeptablen Erfolg hätten, müsse man zu gewaltsamen Handlungen Zuflucht nehmen. Dadurch übernehmen aber die Träger der Gegengewalt die Argumentationsfoimen und wesentliche Verhaltensmuster der verurteilten institutionellen Gewalt: Im Medium der politischen Kultur des Autoritarismus vollzieht sich eine auch anderweitig zu beobachtende Angleichung des Angegriffenen an den Angreifer. Obwohl die Kategorie der relativen Deprivation21 diffus ist und ihre Festschreibung zum zentralen Faktor im Motivationsgefüge gewalttätiger Akteure recht einseitig ist, vermag sie doch einige Aspekte der komplizierten Beziehung zwischen Erwartungen von unten und Versagungen von oben zu erhellen, d.h. des Geflechts von BeZur These, daß Aggression ein grundsätzlich kulturelles Phänomen sei (der Mensch als Mangelwesen, da sein Verhaltensprogramm entlang dem Transformauonsprozeß von einer Natur- in eine Kullurwelt kaum mehr durch Instinkte gesichert sei) vgl. Ewald H. Englert, »Zur Sozialpsychologie der Gewalt«, a.a.O., S. 211. 21 Ekkart Zimmermann: Political Violence.... a.a.O. (Anm. 1/6). S. 77 (mit ausführlicher Bibliographie S. 609-750); Ted Robert Gurr Why Men Rebtl, a.a.O. (Anm. 1/12). S. 13ff„ 24,36,92ff., 159f.

21 strebungen, Frustrationen und Aggressionsneigungen, das zugleich ein verworrenes Netzwerk traditionaler Einstellungen und modemer Zielsetzungen darstellt. Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß die Ansprüche der peruanischen und kolumbianischen Mittelschichten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungemein gestiegen sind; die Forderungen der Unterschichten folgen mit einem gewissen Zeitabstand dem gleichen Trend. Ihre Erfüllung stößt nicht nur auf einen mehr oder minder organisierten Widerstand der Regierungsstellen, sondern auch auf allerlei Engpässe oft struktureller Natur, die auch auf den Entwicklungsstand des jeweiligen Landes und die Ausstattung mit natürlichen Ressourcen (beispielsweise Verfügbarkeit immer knapper werdender landwirtschaftlicher Anbauflächen) zurückzuführen sind. Bereits die Bilder aus der Ersten Welt und die Konsummuster der heimischen Oberschicht genügen, um eine Atmosphäre ständigen Unbehagens zu schaffen. Je größer die Kluft22 zwischen (unbefriedigten) Ansprüchen und (tatsächlichen) Ergebnissen, desto wahrscheinlicher wird politische Enttäuschung und deren Ummünzung in gewaltsame Unruhe. Politisch-soziale Unzufriedenheit wird bekanntlich nicht in erster Linie durch besonders harte Entbehrungen verursacht, sondern durch subjektiv wahrgenommene Mangelerscheinungen, die je nach den jeweils geltenden Maßstäben räumlich und zeitlich bedeutsamen Veränderungen unterliegen. Der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfts des 20. Jahrhunderts ist das fundamentale Merkmal eigen, daß immer größer werdende Bevölkerungssektoren im Zuge der partiellen Modernisierung und der zunehmenden Verflechtung mit der metropolitanischen Zivilisation des Nordens unterstellen, daß ihnen die wohlverdienten Früchte des materiellen Fortschritts und der soziopolitischen Entwicklung vorenthalten werden. Diese relative Deprivation bringt verbreitete politische Unzufriedenheit hervor, die sich gegen den status quo richtet. Die peruanischen und kolumbianischen Guerilla-Bewegungen haben es hervorragend verstanden, dieses Konfliktpotential mit Hilfe einer modern klingenden, aber traditionell operierenden Ideologie revolutionärer Prägung radikal zu politisieren und für ihre eigenen Zwecke zu kanalisieren. Damit ist ihnen auch eine verhältnismäßig erfolgreiche ethische Legitimierung der Gewaltanwendung gelungen, die gleichzeitig den Orientierungswerten der immer noch stark verbreiteten politischen Kultur des Autoritarismus entgegenkommt. Eine weitere Quelle sozial relevanter Aggression ist schließlich in demographischen Prozessen zu erblicken, die in einem gegebenen Raum zu einer höheren Bevölkerungsdichte fuhren. Bei Überbevölkerung beginnen nachweislich die sozialen Mechanismen der Triebkontrolle zu zerbröckeln, was wiederum die Aggressivität begünstigt.23 Es ist bezeichnend, daß diejenigen Gegenden in Kolumbien, die in den letzten Jahrzehnten ständig vom Guerilla-Krieg einerseits und den Repressionsmaßnahmen 22 Ted Robert Gurr Why Men Rebei, a.a.O. (Anm. 1/12), S. 139: »The greater the intensity and scope of relative deprivation, the stronger the relationship between the intensity and scope of normative and utilitarian justifications for political violence and the magnitude of political violence«. 23

Vgl. Ewald H. Englert, »Zur Sozialpsychologie der Gewalt«, a.a.O. (Anm. 1/10), S. 224.

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des Staates andererseits heimgesucht wurden, eine für kolumbianische Verhältnisse überdurchschnittliche Bevölkerungsdichte aufweisen. Die Konflikte um das knapp gewordene Agrarland, die vielfältigen Migrationsbewegungen und die Auflösung der tradierten Sozial- und Wertestrukturen bereiten den Boden vor, auf dem soziale Anomie und politisch verwertbare Aggressivität üppig gedeihen.

Zum Anomie-Theorem Mit einer gewissen Berechtigung sind in den letzten Jahren marxistisch orientierte Sozialwissenschaftler dazu übergegangen, Dürkheims (und Mertons) Begriff der Anomie zu verwenden, um einer zutreffenderen Rekonstruktion der überaus komplexen Problematik der Gründe für die Gewaltanwendung in Peru und Kolumbien näherzukommen. In den vorindustriellen Gesellschaftsordnungen ist die soziale Kontrolle einfach, aber streng und effektiv; in den sich rasch modernisierenden Gesellschaften Perus und Kolumbiens fällt eindeutig der Verlust allgemein verständlicher und respektierter Kontrollnormen und -instanzen auf, die zugleich einfach und streng wären. Die Zerrüttung tradierter, lange Zeit wirkungsvoll gewesener Ordnungsverhältnisse und Wertvorstellungen trägt dazu bei, daß Individuen und Gruppen in einen Zustand geraten, in dem Normen und Gesetze eine untergeordnete Rolle spielen, wodurch die Neigung zur Gewaltausübung starte zunimmt.24 In Peru und Kolumbien erfolgt derzeit die endgültige Auflösung der traditionellen, meist dörflich geprägten Solidargemeinschaften - ein Vorgang, der um 1920/1930 begann und sich ab etwa 1960 beschleunigte - unter gleichzeitigem Einbruch einer partiellen Modernisierung, die eine größere geographische, soziale und berufliche Mobilität, gesteigerte Konsumund Bildungswünsche, anspruchsvollere Glückserwartungen sowie klarere politische Partizipationsforderungen einschließt. Das Ergebnis ist die bekannte Spannung zwischen den neuen Ansprüchen und den geringen Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung und die daraus entstehende Kette von massenhafter Frustration und politischer Aggressionsneigung. Richard S. Weinert25 hat den Zusammenbruch einer traditionellen, religiös begründeten und geheiligten Wertestruktur im Zuge einer säkularisierenden Modernisierung als den wichtigsten Faktor der bürgerkriegsähnlichen Konflikte ausgemacht, die Kolumbien seit 1948 heimsuchen. Die schlimmste Gewaltphase (1948-1953) sei nicht 24

Vgl. hierzu Christian Graf von Krockow: Soziale Kontrolle.... a.a.O. (Anm. 1/20), S. 12, 16, 19. Krockow weist auf die Leichtigkeit hin, mit der der Mensch, das grundsatzlich labile, gefährdete und deshalb gefährliche Wesen, in anomische Verhaltnisse hincinschlittcm kann, die der offenen GewaltausQbung förderlich sind. Zu dieser Problematik in Verbindung mit gewaltsamem politischem Protestpotential vgl. Peter Waldmann: »Sozioökonomischcr Wandel, zentralistische Unterdrückung und Protestgewalt im Baskenland«, in: Peter Waldmann u.a.: Die geheime Dynamik autoritärer Diktaturen. Vier Studien Ober sozialen Wandel in der Franco-Ära, München: Vögel 1982, S. 231 f.

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Richard S. Weinert »Violence in Pre-Modern Socicties: Rural Colombia«, in: F.J. Moreno/B. Mitrani (Hg.), a.a.O. (Anm. 1/6), S. 323.

23 auf herkömmliche Klassenkämpfe (im marxistischen Sinne) zurückzuführen, sondern auf eine populistisch-traditionelle, von der Konservativen Partei freilich gelenkte und für deren Zwecke instrumentalisierte Verteidigung der alten Ordnung, wobei der Liberalen Partei die Rolle zugeschrieben wurde, den als fremd und entfremdend empfundenen Modemisierungsprozeß in Gang zu setzen.26 J. Marie Ruhl27 hat den hybriden Charakter der kolumbianischen Modernisierung hervorgehoben und ist zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die kolumbianische Gesellschaft für manche Formen von Gewalt reif sei, daß aber ein Zusammenbruch des politisch-institutionellen Systems oder die Etablierung eines reinen Militärregimes nicht zu erwarten sei. Auf die spezifische Gestaltung des Modernisierungsprozesses, mit dem beträchtliche Wanderbewegungen, steigender Erwartungsdruck, zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Forderungen aller Art und ihrer ungenügenden Erfüllung sowie die Erosion traditioneller politischer und sozialer Bindungen und Loyalitäten verbunden seien, gehe aber die Frustration und das enorme Potential an Anomie zurück. Gonzalo Sánchez28 erinnert daran, daß die kaffeeproduzierenden Gegenden, die sich durch ständige umfangreiche Wanderbewegungen, durch das Zerbröckeln des mittleren und kleinen Landbesitzes sowie durch die Auflösung tradierter Lebensformen und Werte des ländlichen Milieus auszeichnen, zugleich die wichtigsten Aufruhrgebiete des Landes darstellen. Um diesem Aggressionspotential adäquat nachzugehen, haben auch peruanische Sozialwissenschaftler in letzter Zeit anomietheoretische Ansätze herangezogen, um die neuen Formen und Umstände der politischen Gewalt in Peru seit 1980 besser beleuchten zu können. Die Bedeutung der sozio-kulturellen Dimension der Gewalt29 steht heute außer Frage. Henri Favre nimmt an, daß es in Peru eine sehr ausgedehnte »freischwebende Bevölkerung« gibt, die aus dem »Doppelprozeß« mißlungener Modernisierung und beschleunigter gesellschaftlicher Zersetzung hervorgegangen sei. Es handele sich um eine riesige, in das formale Gesellschaftsgefüge nicht integrierte Masse wurzelloser Individuen, die einer klaren und dauerhaften Identität ermangeln. Sie besteht aus Provinzlern, die in die Hauptstadt gezogen sind, aus indianischen Bauern, die nun in einer von Weißen geprägten Umwelt leben müssen, aus Mischlingen, die sich in keine ethnisch-kulturelle Gemeinschaft eingliedern lassen, und sie al26

Ebd., S. 324; vgl. auch Robert C. Williamson: »Toward a Theory of Political Violence: the Case of Rural Colombia«, in: F J . Moreno/B. Mitrani (Hg.), ebd., S. 325-338; James L. Payne: Patterns of Conflict in Colombia, New Haven: Yale UP. 1968, S. 25-50, S, 67-73 (vor allem über die politische Kultur des Autoritarismus in Kolumbien). 27 J. Mark Ruhl: »Civil-Military Relations in Colombia. A Societal Explanation«, in: Journal of Interamerican Studies, Bd. 23, Nr. 2, Mai 1981, S. 123-146, insbesondere S. 142ff. 28

Gonzalo Sánchez: »La violencia y sus efectos en el sistema político colombiano«, in: Cuadernos Colombianos, Bd. 3, Nr. 9, Januar/Mära 1976, S. 31, 36ff.; Germán Castro Caycedo: Colombia amarga, Bogotá: Valencia 1977, S. 3f.

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Vgl. Felipe MacGregor/Laura Madalengoitia (Hg.): Violencia y paz en el Perú hoy, Lima: APEP/FEE 1985, passim; Jeffrey Klaiber (Hg.): Violencia y crisis de valores en el Perú, Lima: Pontificia Universidad Católica del Perú 1987, insbesondere den Aufsatz von Hernán Silva-Santiesteban Lateo: »Ties aspectos problemáticos en la violencia: concepto, origen, superación«, in: ebd., S. 123-145.

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le verharren in einem offenkundigen Zustand der Anomie. Ihnen bietet die GuerillaBewegung einen Sinn für ihr individuelles Dasein, einen vermeintlich konstruktiven Ausweg aus ihren Frustrationen sowie ethische Normen und soziale Strukturen zur Füllung ihres moralisch-organisatorischen Vakuums.30 Der früher marxistische Soziologe Hugo Neira gibt heute zu, daß herkömmliche politökonomische Klassenanalysen bei weitem nicht ausreichen, um die Problematik der politischen Gewalt in Peru begrifflich zu durchdringen. Er ist zu der Schlußfolgerung gelangt, daß sowohl die gewöhnliche politische Gewalt als auch die »dezentralisierte« (dJi. die spontane, alltägliche) Gewalt zur Zeit in Peru den gleichen Ursprung haben, nämlich die Zerrüttung der organisch gewachsenen Bauernwelt und der traditionellen Gesellschaftsordnung.31 Dieser Regressionsprozeß, der hauptsächlich die ländliche Lebenswelt, aber auch Teile des städtischen Bereichs (vor allem in den verarmten Provinzstädten) betrifft, gleicht einer Reduktion der sozialen Klassen und setzt in der Tat ein anomisches Protestpotential frei, aus dem die Guerilla-Bewegungen und auch Formen staatlicher Gewalt gespeist werden. Catalina Romero 32 hat zu Recht daraufhingewiesen, daß die Verwendung des Anomie-Begriffes eine bestimmte Interpretation der sozialen Wirklichkeit impliziert, die die davon betroffenen Phänomene als Abweichungen, Entstrukturierungen und chaotische Zustände erscheinen läßt und ihnen dadurch eine negative Färbung verleiht. Aber diese Momente dürften nicht insgesamt als eine entwicklungsfeindliche »Involution« charakterisiert werden, denn aus ihnen könne unter Umständen eine neue, progressive Entwicklung entstehen. • *» Neben diesen Ansätzen, die insgesamt einen brauchbaren Beitrag zum besseren Verständnis einer äußerst komplexen Problematik leisten können, gibt es auch Erklärungsversuche, die monokausal angelegt sind oder die eine Variablenkombination postulieren, deren Erklärungskraft von der neueren historischen Entwicklung widerlegt wurde. Es seien hier nur kursorisch kulturalistische Theorien erwähnt, die in diesem konkreten Fall die Disposition zur Gewalt und die tatsächliche Gewaltausübung auf die Tradition des spanischen Banditentums und auf Praktiken der spanischen Kolonialverwaltung zurückführen.33 Andererseits ist Skepsis gegenüber Kausalmodellen angebracht, die zwar auf quantitativen Indikatoren und Indizes beruhen, die aber zu Ergebnissen führen, die ent30

Henri Favre: »Desexorcizando' a Sendero«, in: Síntesis (Madrid), Nr. 3, Seplember/Dezember 1987, S. 245f.

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Hugo Neira: »Violencia y anomia: reflexiones para intentar comprender«, in: Socialismo y participación (Lima), Nr. 37, Maíz 1987, S. 2. Neira übernimmt auch den Begriff des aez-Indianer, dessen Kern in der Cauca-Provinz ansässig ist, die seit alters her einer intensiven Besiedlung durch die spanischen Kolonisatoren unterworfen war und wo die kolonialspanischen Behörden ein enges Verwaltungsnetz aufgebaut hatten. Die Problematik der Fortsetzung der politischen Kultur des Autoritarismus kommt im Verhalten dieser Guerilla-Organisation klar zutage. Die Fdez-Indianer37 sind bis heute bekannt, ja berühmt wegen der außergewöhnlich strengen sozialen Kontrolle, die in ihren Bauemgemeinschaften vorherrscht; sie vertreten einen unbeschränkten Kollektivismus und bestrafen abweichendes Verhalten und individualistische Einfälle aufs härteste (oft mit dem Tode). Die Ethnie hat eine derart hohe soziale Kohäsion, daß es weder für die Herausbildung irgendwelcher Minderheiten noch für die Entfaltung eines freien (letztlich innovativen) Gedankenaustausches irgendeinen Raum gibt. Die Päez vollführen blutige Riten, um den Zusammenhalt des Stammes zu bewahren und zu heiligen, praktizieren aber zugleich eine erstaunliche Solidarität mit den Bedürftigen und betreiben eine hochentwickelte Demokratie zur Regelung anstehender Probleme mit benachbarten und verwandten Stämmen der Provinz. Die Quintin-Lame-Gruppe übernahm die Verteidigung der Ländereien sowie der Pacht- und Bewässeningsrechte der Päez gegen die vordringenden weißen Großgrundbesitzer, deren Landhunger in ganz Kolumbien kaum zu stillen ist. Zur gleichen Zeit vertrat sie die ethnisch-kulturellen Forderungen einer größeren Gemeinschaft, die eine politisch-institutionelle Renaissance erlebte und ihre Rechte als eine autonome Völkerschaft sichern wollte. Nach einer ersten Periode, in der die Quintin-LameGruppe einige Erfolge im bewaffneten Kampf und einige handfeste Vorteile für die Pdez-Gemeinschaft erzielte, wandelte sie sich zu einer festeren Organisation, die die Angehörigen des eigenen Stammes auszubeuten und zu schikanieren begann sowie eine eiserne, irrationale und undemokratische Disziplin im Inneren einführte. Ähnlich wie Sendero Luminoso in Peru ging Quintin Lame dazu über, Terrorakte höchster und sinnloser - Brutalität zu verüben, deren Opfer unschuldige Bauern waren; die undurchsichtige Bündnispolitik der Organisation mit anderen politischen Gruppierungen und mit Drogenhändlern, eine Politik von Erpressungen, Steuererhebungen und Raubüberfällen gegenüber den /Mez-Indianern sowie die Nachahmung der verhaßten Praktiken der weißen Grundbesitzer (»die Säuberung« des als eigen betrachteten Ter-

37 Die Schreibweise ist umstritten (auch Poes). Über die Quinf/n-tam«-Organisation gibt es so gut wie keine Literatur. Es mag kein Zufall sein, daß die meisten kolumbianischen Sozialwissenschaftler sich kaum mit einem Problem befassen, das eine ihnen fremd gebliebene Ethnie betrifft. Vgl. den verdienstvollen Sammelband Grupos étnicos, derecho y cultura, Bogotá: FUNCOL 1987. Für viele Infoimationen ist der Verfasser Frau Professor Dr. Esther Sánchez (Bogotá) zu großem Dank verpflichtet.

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ritoriums von allen möglichen »Feinden«)38 haben diese Kampforganisation diskreditiert. Dabei ist jedoch bemerkenswert, daß die rigide pyramidale Binnenstruktur, die propagierten Leitwerte autoritärer Prägung und die undemokratisch-antipluralistischen Vorgehensweisen von Quintin Lame zu dem Verlust an Rückhalt bei den indianischen Gemeinschaften nicht wesentlich beigetragen haben dürften.

Die Kontinuität der Gewaltausübung Verbreitung und Beständigkeit der politischen Gewalt in Peru und Kolumbien haben im Verlauf einer jahrhundertelangen Entwicklung ein solches Ausmaß erreicht, daß Gewalt nicht mehr als Ausnahmeerscheinung, als ein ebenso unfaßbares wie unerträgliches Element einer niedrigeren - und deshalb zu überwindenden - Zivilisationsstufe angesehen wird, sondern als ein zwar lästiges, aber durchaus alltägliches und verzeihliches Phänomen der eigenen Tradition, das im übrigen den Gang der Geschäfte nur selten direkt berührt. Diese Einstellung, die bei den Mittelschichten üblich ist, findet ihre Entsprechung in den Vorstellungen linksorientierter Intellektueller, für die Gewalt ein durchaus positiver Faktor der historischen Evolution (und deren Beschleunigung) ist.39 Der Gewaltausübung in Kolumbien liegt höchstwahrscheinlich ein konventioneller Konflikt über Landbesitz und -nutzung aus dem 19. Jahrtiundert zugrunde, als dieser Produktionsfaktor knapp wurde, während eine Expansion der für den Export arbeitenden Agrarwirtschaft (Kaffee, Baumwolle) zu verzeichnen war. Beträchtliche Bevölkerungsanteile wanderten aus den höher gelegenen Regionen in die wärmeren Kaffeeund Baumwollzonen, ohne daß dadurch die zunehmend als ungerecht und ineffizient empfundene Struktur des Landbesitzes - das Nebeneinander von riesigen Latifundien und völlig unwirtschaftlichen Minifundien - emsthaft in Frage gestellt worden wäre-40 Die ungesicherte Rechtslage der Migranten, die unübersehbare Bevölkerungskonzentration in den Kaffeegebieten, die von den Arbeitgebern systematisch praktizierte Mißachtung der Sozialgesetzgebung und Arbeitsschutzmaßnahmen, die den Interessen der Landarbeiter gleichgültig gegenüberstehende Haltung der staatlichen Instanzen und die brutale Repression der ersten Protestaktionen der organisierten Bauern 38

Vgl. die dramatisch klingenden Anklagen der indianischen Gemeinschaften der Cauco-Provinz gegen die QuintínLame-Gruppe, deren Verhalten dem von Banditen und Grundbesitzern gleichgesetzt wird: Movimiento de autoridades indígenas del suroccidente: Pronunciamos [sie] sobre el grupo armado Quintín Lame, Resguardo de Munchique-Tigres, vom 17. August 1989; Cabildo Indígena de Caldono: Offener Brief vom 3. August 1989; Movimiento de Autoridades Indígenas del Suroccidente/Cabildo de La Paila: Manifest vom 21. August 1989. Für die Überlassung dieser Dokumente dankt der Verfasser Herrn Professor Dr. Eduardo Pizarra Leongómez (Universidad Nacionald de Colombia/Bogotá).

39 Zur peruanischen Evolution vgl. den Abschnitt Uber die »historische Gewalt« in Margarita Giesecke/Carola de Luque/Catalina Romero: »La violencia en el Perú. Aproximaciones desde la sociología, la historia y la política«, in: Felipe McGregor u.a. (Hg.), a.a.O. (Anm. 111/14), S. 162 ff. 40

Vgl. hierzu Peter Mossmann, a.a.O. (Anm. ni/3), S. 21 ff., 81 f., 123 ff. Mossmann fuhrt den wichtigen Tatbestand an, daß die großen Kaffee-haciendas »absolute Gewalt« Uber ihre Arbeitskräfte ausübten und der freien Arbeitsplatzwahl entgegenstanden, was Konflikte heraufbeschwor (ebd., S. 23).

55 stellen sämtlich Faktoren dar, die den späteren bewaffneten Kämpfen förderlich gewesen sind, zumal der Guerilla-Krieg die lange Tradition von Aufständen, Revolten und Bürgerkriegen fortsetzt, von denen die Geschichte Kolumbiens voll ist Diese Konflikte wurden sowohl intra-elitär als auch auf der Ebene des Volkes ausgetragen. Die Geschichte der bewaffneten Kämpfe Kolumbiens ist ausführlich dokumentiert und analysiert worden, so daß selbst eine kursorische Rekapitulation überflüssig ist. Das gilt auch für die Periode 1948-1953, die wegen ihrer Grausamkeit und der ungeheuren Anzahl der Todesopfer als die Große Gewalt bezeichnet wird - wobei man behaupten kann, daß diese bis heute nicht vollständig zum Abschluß gekommen ist.41 Bei all diesen Prozessen zeigt sich als konstantes Kennzeichen die Doppelgleisigkeit der politischen Auseinandersetzungen: Die unaufhörliche physische Gewaltausübung erfolgte (und erfolgt) neben einer betont legalistischen Führung der Regierungsgeschäfte; Kolumbien erlebt zwar den überaus blutigen »Bürgerkrieg der Tausend Tage« (Guerra de los Mil Días), aber zugleich ganz wenige Staatsstreiche, und es gibt eine imposante Tradition akademischer Studien zum Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Alle bewaffneten Konflikte Kolumbiens sind Variationen eines Grundmusters: Sie stellen einen horizontalen Streitfall (etwa Bürgeikrieg zwischen gleich starken und ähnlich privilegierten Gruppierungen) dar, aus dem allmählich eine venikale Auseinandersetzung erwächst, die den Charakter eines klassischen Klassenkampfes annehmen kann. Die Klientelverbände42 der intra-elitären Gegner entwickeln eigene Interessen und entgleiten der Kontrolle der Gruppen und Personen, die sie ins Leben gerufen haben. Die Aufstandsgewalt vervielfältigt sich: Verschiedene Kampfverbände verfolgen unterschiedliche Strategien (Schaffung »befreiter Zonen«, Aufstellung von Selbstschutztruppen, Verfolgung radikalsozialistischer Ziele usw.) und bekennen sich zu divergierenden Ideologien. Obwohl die ursprüngliche Verbindung zu den mißhandelten und ausgebeuteten Bauern und deren Vereinigung erhalten bleibt,43 entfalten die rebellischen Verbände eigene Zielsetzungen und machen einen komplexen Umwandlungsprozeß durch, an dessen Ende nicht selten die Aufstellung erpresserischer Räuberbanden steht. Die staatliche Repressionsgewalt erfährt ebenfalls einen Verselbständigungsvorgang: Die wachsende Brutalisiening der 41

Vgl. das Standardwerk von Germán Guzmán Campos u.a.: La violencia en Colombia, 2 Bde., Bogotá '1980. Das großangelegte Werk von Daniel PécauU Vordre el la violence, a.a.O. (Anm. 1/2), versucht eine systematische Durchdringung der gesamten Problematik. Vgl. auch die spatere Stellungnahme von Germán Guzmán Campos, »Reflexión crítica sobre el libro La violencia en Colombia«. in: Sánchez/Peñaranda (Hg.), a.a.O. (Anm. in/1), S. 349-366 (mit Bibliographie); Russell W. Ramsay: Survey and Bibliography of La Violencia in Colombia, Gainesville: Florida UP. 1974; Gonzalo Sánchez: »La Violencia...«, a.a.O. (Anm. m/23); John A. Booch, a.a.O. (Anm. m/21); Paul Oquist, a.a.O. (Anm. 111/24); James D. Henderson, a.a.O. (Anm. IQ/6), passim.

42

Vgl. Steffen W. Schmidt »La violencia Revisited: the Clientelist Bases of Political Violence in Colombia«, in: Journal o¡Latin American Studies VI (Mai 1974) 1,S. 97-111.

43 Zum Verhältnis von Gewalt und bauerlicher Ausbeutung vgl. die gut dokumentierten Studien von Consuelo Corredor Martínez: »Crisis agraria, reforma y paz: de la violencia homicida al genocidio«, in: Controversia, Nr. 151/152, Bogotá: CINEP 1989 (Sonderheft: Un país en construcción: poblamiento, problema agrario y conflicto social), S. 19-77; Fabio Zambrano Pantoja: »Ocupaciones del territorio y conflictos sociales en Colombia«, in: ebd., S. 81-106.

56 Strafaktionen und insbesondere die Militarisierung ausgedehnter Regionen des Landes, in denen dann alle staatlichen Funktionen dem Militär übertragen werden, modifiziert den Gesamtcharakter der Gesellschaft und ändert empfindlich das Gleichgewicht der sozialen Kräfte, indem die traditionellen zivilen Eliten Macht und Einfluß einbüßen und die Streitkräfte eigene, korporativ verfaßte Interessen entfalten. Schließlich muß man darauf hinweisen, daß alle Gewalt-Perioden eine erstaunliche Komplexität besitzen, was nach Paul Oquist44 allein schon eine monokausale Erklärung der Periode 1948-1953 unmöglich macht. Bleibende Faktoren der Disposition zur Gewalt sind in der nicht - oder zumindest nicht gänzlich - institutionalisierten Form zu erblicken, die intra-elitäre Konflikte immer noch annehmen, und somit in der Eigendynamik, die politische Auseinandersetzungen immer noch erzeugen.45 Zu dieser Eigentümlichkeit der politischen Kultur des Autoritarismus ist der Zusammenstoß zwischen prämodernen und bereits modernisierten Verhaltensweisen und Programmen hinzuzufügen, der in einer Zeit starker Binnenwanderungen, beträchtlicher wertmäßiger Umorientierungen und gewichtiger Diversifizierungen in der Produktions- und Distributionsstruktur des ganzen Landes stattfindet. Das erwähnte Beharrungsvermögen soziokultureller und politischer Orientierungswerte gegenüber dem sozialen Wandel bewirkt, daß deren Autoritarismus und Irrationalismus jene Gruppen und Bewegungen ansteckt, die sich der Zerstörung der bestehenden Ordnung und der sozialistischen Erneuerung (d.h. Modernisierung) der soziopolitischen Strukturen verschrieben haben.

44 Paul Oquist, ¡La.O. (Anm. HI/24), S. 21-40 (Kritik anderer Erklärungsmodelle) und S. 41 ff. (Versuch einer multikausalen Erklärung); vgl. auch Gonzalo Sánchez: Los estudios..., a.a.O. (Anm. in/14), S. 11-30; Daniel Pécaut »De las violencias a la violencia«, in: Sánchez/Peflaranda (Hg.), a.a.O. (Anm. ni/1), S. 183-194; vgl. auch die wichtige Kritik der Literatur zur Großen Gewalt in: James D. Henderson, a.a.O. (Anm. III/6), S. 11-27,301-313. 45 Zu diesen Aspekten der kolumbianischen Geschichte vgl. David Bushneil: »Política y partidos en el siglo XIX. Algunos antecedentes históricos«, in: Sánchez/Peflaranda (Hg.), ebd., S. 31-39; Malcolm Deas: »Algunos interrogantes sobre la relación guerras civiles y violencia«, in: ebd., S. 41-44; Carlos Eduardo Jaramillo: »La guerra de los Mil Dias«, in: ebd.. S. 47-110.

57

IV. Partielle Modernisierung, Anomiephänomene und Protestpotential Das jugendliche Aufbegehren in Peru Eine eindeutige Quelle für das gesteigerte Protestpotential in Peru und Kolumbien ist die bereits erwähnte Kombination von Bevölkerungswachstum, höheren Erwartungen in bezug auf Konsumption, Erziehung und Karriere, schlechteren wirtschaftlichen Perspektiven (vor allem in Peru hinsichtlich der Schaffimg neuer Arbeitsplätze) und dem Eindringen theoretisch konfuser, praktisch aber um so erfolgreicherer Ideologien revolutionärer Prägung. Obwohl empirisch fundierte Untersuchungen dazu noch fehlen, kann man mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß die relativ bescheidenen staatlichen Programme zur Gesundheitsfürsorge, zur Anhebung hygienischer Standards und zur Eindämmung der Kindersterblichkeit seit etwa 1930/1940 in Peru und Kolumbien ein ambivalentes Ergebnis zustande gebracht haben: Medizinisch gesehen sind sie zweifellos ein großer Erfolg gewesen, denn die Bevölkerung nahm rapide zu, und die durchschnittliche Lebenserwartung ist viel höher geworden. Was jedoch individuell betrachtet positiv ist (ein besseres und längeres Leben für den einzelnen), kann in kollektiv-gesellschaftlicher Hinsicht eine Katastrophe bedeuten (nämlich eine ungeheure Zunahme der Gesamtbevölkenmg bei nahezu gleichbleibenden Ressourcen und ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten). Eine durchaus beachtenswerte partielle Modernisierung in den Bereichen der öffentlichen Gesundheit, der Erziehung und Bildung sowie auf dem Gebiet von Transport- und Kommunikationsmitteln hat paradoxerweise die Atmosphäre für sozial relevante Frustrationen vorbereitet und durch die Bevölkerungsexplosion die materielle Basis für das Protestpotential erst geschaffen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß Orientiemngswerte in bezug auf Alltag, Familie und politische Kultur einen noch durchweg prämodernen Charakter aufweisen, während der allgemeine Bezugsrahmen - von der Produktionssphäre bis zum genannten sozialmedizinischen Feld - modernisierte Züge trägt, die sich langsam, aber stetig ausbreiten. Diese Vermischung von traditionellen und modernen Elementen hat in der AndenRegion erheblich größere Probleme aufgeworfen als vergleichsweise in Argentinien,

58 Uruguay und Chile, wo der Modernisierungsprozeß beispielsweise auch eine Verwestlichung der Alltags- und Familiennormen mit sich brachte und wo die demographische Wachstumsrate beträchtlich geringer ist als in Peru und Kolumbien. In den Ländern des La-Plata-Beckens ging der Modernisierungsprozeß auch mit einer klaren Homogenisierung der Gesamtgesellschaft einher, während er im Anden-Raum zum Wiedererwachen der alten indianischen Kulturen, zur Stärkung der bedrohten indianischen Identität und somit zur Intensivierung der soziokulturellen Heterogenität beigetragen hat. Andere mit der partiellen Modernisierung verbundene Aspekte sind für das Verständnis des Gewaltpotentials in Peru ebenfalls wichtig. Sowohl der Militärreformismus (1968-1980) als auch die eher konservativen Regierungen bis 1968 und nach 1980 haben eine Wirtschafts- und Sozialpolitik betrieben, die trotz der angestrebten Angleichung der geographischen und kulturellen Bedingungen eigentlich zur Vertiefung des Gegensatzes zwischen der (wohlhabenderen) Küstenregion und dem (ärmeren) Bergland, zur Marginalisierung breiter Bevölkerungssektoren indianischer Herkunft und zur Verfestigung der ethnischen Differenzen geführt hat.l (Seltsamerweise hat die ziemlich radikale Agrarreform ab 1969 diesen Tatbestand nicht verändern können.) Es ist zugleich bemerkenswert, daß die Alphabetisierungskampagnen der verschiedenen Regieningen keineswegs als gescheitert betrachtet werden können: Während 1950 58,0 Prozent der Peruaner weder lesen noch schreiben konnten, betrug 1987 die Analphabetenrate nur noch 13 Prozent. Im selben Zeitraum hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beinahe verdoppelt.2 Zugleich aber wuchs die peruanische Bevölkerung von 7,63 Millionen Einwohnern (1950) auf 20,73 Millionen (1987) an; die städtische Bevölkerung nahm sogar von 3,1 Millionen (1950) auf 14,26 Millionen (1987) Einwohner zu. Der Zuwachs der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung war bescheidener: von 2,58 Millionen (1950) auf nur 6,99 Millionen (1987) Einwohner.3 Für die Gewaltproblematik ist hauptsächlich das Mißverhältnis zwischen der außergewöhnlich schnellen Bevölkerungszunahme und der viel langsameren Vermehrung von Arbeitsplätzen, Ressourcen und Einkommensmöglichkeiten von Belang. Aufschlußreich ist ebenfalls die Steigerung der polizeilich erfaßten Deliktraten: 1963 gab es 3,27 Delikte je 1000 Einwohner, 1988 bereits 8,10.4 Im Jahre 1966 gab es 35 881 Peruaner, die eine Gefängnis- oder Zucht1

Für eine ausgewogene Kritik des Militärreformismus auf diesem Gebiet vgl. Luis Pásara: Perú 1980: cuenta y balance, Washington: The Wilson Center 1980, S. 2f„ 15, 28f., 36f.; José María Caballero: Agricultura, reforma agraria y pobreza campesina, Lima: IEP 1980, passim.

2

Daten aus der ausgezeichneten amtlichen Untersuchung, die ein Ausschuß des peruanischen Parlaments unter der Leitung des linksorientienen Senators Enrique Bemales durchgeführt hat: Comisión Especial del Senado sobre las causas de la violencia y alternativas de pacificación en el Peni: Violencia y pacificación, Lima: DESCO/Comisión Andina de Juristas 1989, S. 180.

3 4

Ebd. Ebd., S. 241 f. Man muß dazu bemerken, daß Erfassung und Registrierung von Delikten in Peru sehr zu wünschen übrig lassen; die tatsächliche Anzahl begangener Straftaten dürfte viel hoher sein. Seit dem Beginn des GuerillaKrieges (1980) und der Ausbreitung der informellen Wirtschaft ist die amtliche Registrierung von Straftaten denkbar ungenau geworden.

59 hausstrafe verbüßten; 1987 waren es schon 68 All.5 Besonders stark ist der Zuwachs der Häftlinge, die jünger sind als 18 Jahre: Von ihnen saßen 1966 2.047 hinter Gittern und 1985 bereits 10 788.6 (Angesichts der desolaten Lage der peruanischen Wirtschaft spätestens seit 1980 fallen die von der politischen Gewalt verursachten Schäden besonders kraß ins Gewicht: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß bezifferte deren Summe für die Periode 1980-1988 auf 9,184 Milliarden US-Dollar selbstverständlich ohne Einbeziehung der menschlichen und sozialen Kosten.7) Um das Verhältnis von Anomie und Protestpotential besser zu verstehen, ist es auch wichtig, die Entwicklung im Hochschulbereich kurz zu streifen. Im Jahre 1960 hatten die peruanischen Universitäten und Hochschulen rund 30 000 Studenten; bis 1975 schwoll ihre Anzahl auf 181 000 und bis 1990 auf 490 0008 an. Ebenso bedeutsam ist die Tatsache, daß 1960 von 14 500 Bewerbern rund 5 500 die Aufnahmeprüfung bestanden, während es 1990 von rund 400 000 Bewerbern nur 80 000 ein Studium beginnen konnten. 1960 erhielten rund 1 700 Studenten einen akademischen Titel nach ordnungsgemäßer Beendigimg des Studiums, während 1990 etwa 13 000 ihr Studium bis zum Ende absolvierten.9 In den Urbanen Mittelschichten, aus denen der weitaus größere Teil der Studenten und Bewerber stammt, hat sich ab 1960 die wichtigste politisch-theoretisch artikulierte Unzufriedenheit angestaut. Aus diesem Umfeld rekrutiert sich vornehmlich die Führungsgamitur der Guerilla. Cynthia McClintock, der wir bedeutsame Arbeiten zur Ideologie und zur internen Struktur des Leuchtenden Pfades verdanken, nimmt als erwiesen an, daß deren Hauptfiguren ehemalige Studenten der Universität Ayacucho sind, die sich politisch ab ungefähr 1970/1975 radikalisierten und zugleich wegen der sich verschärfenden Wirtschaftskrise keine ihrer Ausbildung und ihren Ansprüchen angemessene Beschäftigung fanden.10 Diese Guerilla-Führer stammen oft aus Familien rein bäuerlicher Herkunft, die jedoch in den letzten Generationen eine deutliche Verbesserung ihres gesellschaftlichen Status erreicht hatten; wegen der veränderten ökonomischen Gesamtlage finden nun aber ihre Sprößlinge keine angemessene Beschäftigung mehr. Man muß dazu die zentrale Tatsache berücksichtigen, daß die immer noch nach rassistisch-regionalistischen Prinzipien strukturierte Gesellschaft Perus jungen Akademikern und Hochschulabsolventen indianischer und provinzieller Herkunft (vor allem aus dem Bergland) keine geeigneten Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten bietet; diese nichtweiße und aus dem Hinterland stammende akademische Jugend wird teilweise in die Marginalisierung gedrängt, wo sie für extremisti5

Ebd., S. 252.

6

Ebd.

7

Ebd., S. 378. (Die interne Zusammensetzung dieser Summe ist selbstverständlich umstritten).

8

Ebd., S. 201f.

9 Ebd. 10 Cynthia McClintock: »Sendero Luminoso: la guerrilla maolsta del Peru«, in: Revista occidental, Bd. 3 (1986), Nr.2(=9),S. 133.

60 sehe Slogans und Strategien verständlicherweise anfällig wird. Die seit altersher bestehenden sozialen Unterschiede werden nunmehr als unerträglich empfunden; neben revolutionären Tendenzen läßt sich im gleichen Bezugsrahmen eine anarchistische und eine selbstzerstörerische Richtung feststellen. Eine empirische Befragung 11 unter diesen jungen Menschen ergab 1985/1986 eine starke Vorliebe der Befragten für »bürokratisch-etatistische« Regimes und eine gewisse Sympathie für »populistischreformistische« Experimente; dieselbe Befragung förderte ein klares Desinteresse an »demokratisch-partizipatorischen« und »liberal-demokratischen« Einrichtungen zutage. Aber auch außerhalb des universitären Milieus läßt sich eine Radikalisierung jugendlicher Gruppen konstatieren. Die besseren Bildungsmöglichkeiten und die Demonstrationseffekte der metropolitanischen Kultur über die Massenmedien, zu denen der Zugang für die unteren Schichten inzwischen sehr leicht geworden ist, ließen auch innerhalb der städtischen Arbeiterjugend Status- und Einkommensverbesserungen sowie soziale Aufstiegschancen ganz allgemein in greifbare Nähe rücken (1950-1970). Seit 1970 hat sich aber die Gesamtsituation dahingehend verändert, daß sogar die früher übliche Eingliederung in die formelle Wirtschaft immer unwahrscheinlicher wird.12 Zudem gewinnen Bestrebungen an Gewicht, die den indianischen Ethnien eine eigenständige, auf die vorspanischen Kulturen zunickgehende Kollektividentität zu geben trachten. Bestimmte Formen des bäuerlich-maoistisch gefärbten Marxismus gehen mit einer klaren Renaissance alter andinischer Modelle von Solidarität und Reziprozität einher, die als bessere Alternativen zum städtischen Individualismus und Egoismus gelten. Daraus hat sich freilich eine religiös fundierte Ideologie entwickelt, die bei jungen Leuten wegen ihrer Verklärung des Heldentums und der totalen Hingabe an einen vermeintlich gerechten Zweck sehr beliebt ist. Carlos Iván Degregori13 hat über das jugendliche Aufbegehren die These aufgestellt, daß breite Jugendschichten »einen autoritären Weg zur Modernität« zu bevorzugen scheinen und daß sich aus ihnen dann die Sympathisanten des Leuchtenden Pfades rekrutieren. Es handelt sich um junge Leute provinzieller Herkunft, die in einer historisch sehr kurzen Zeitspanne (höchstens zwei Generationen) in ein soziales Niemandsland geraten sind: Sie gehören nicht mehr der traditionellen Welt ihrer Eltern und noch nicht der modernisierten Gesellschaftsordnung der Küste und Limas an. Die daraus resultierende grundlegende Unsicherheit fördert einfache, schematische und autoritäre Erklärungsansätze, welche ihrerseits die traditionelle, dogmatisch11 Mario Tueros, a.a.0. (Anm. 11/13), S. 19,23, 30f.; vgl. auch Oscar Castillo (Hg.): Juventud, crisis y cambio social en el Perú, Lima: SUM/JPEC 1990; Carlos Ivín Degregori: Ayacucho 1980-1983: jóvenes y campesinos ante la violencia política, in: NUEVA SOCIEDAD, Nr. 114, Juli/August 1991, S. 16-29. 12 Vgl. hierzu Julio Cotler. »La radical ización política de la juventud popular en el Perú«, in: Revista de la CEP AL (Santiago de Chile), Jg. 1986, Nr. 29, S. 109-120; Julio Cotler, a.a.O. (Anm. 11/13), S. 65-67. 13 Vgl. Carlos Iván Degregori: Sendero Luminoso.... a.a.O. (Anm. 111/36), S. 29; ders.: Ayacucho 1969-1979: el surgimiento de Sendero Luminoso, Lima: IEP 1990; ders.: Qué difícil es ser Dios. Ideología y violencia política en Sendero Luminoso, Lima: Zorro de Abajo 1989.

61 manichäistische Identitäts- und Charakterstruktur verfestigt. Es handelt sich um zahlenmäßig umfangreiche Gruppen von Jugendlichen, Studenten und Bauernkindern, die innerhalb einer autoritären Familien- und Alltagskultur heranwachsen, die zumindest keine negative Einstellung zur Anwendung physischer Gewalt haben und die deshalb für die Propaganda einer politischen Bewegung besonders anfällig sind, deren Programm eine schnelle Modernisierung mit den tradierten autoritären Verhaltensmustern und einer entsprechend rigiden, hierarchisch-pyramidalen Organisationsstruktur verbindet. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß der Anteil von Universitätsstudenten (allerdings mit abgebrochenem Studium) unter den gefaßten Terroristen in Peru mit 38,5 Prozent außerordentlich hoch liegt, während der Anteil deijenigen, die nie eine Schule besucht haben, mit 6,3 Prozent sehr niedrig ist.14 Es ist anzunehmen, daß unzählige junge Menschen vor allem in den jetzt trostlosen verarmten Zonen des Berglandes schon während der ersten Jahre des Studiums die bittere Erfahrung einer Frustration in bezug auf Karriere- und Aufstiegschancen machen; sie fühlen sich um die Früchte ihrer Bemühungen betrogen, wenn sie sich ihrer wirklichen Berufs- und Fortkommensmöglichkeiten in einer krisengeschüttelten Gesellschaft bewußt werden. Der immer kleiner werdende Markt für Hochschulabsolventen wie generell für Jugendliche mit einer gehobenen Ausbildung zwingt sie in die soziale Marginalität, wobei sie dies zum Teil auf eine Verschwörung des establishment in Lima und an der Küste gegen die wohlbegriindeten Ansprüche des provinziellen Mittelstandes zurückführen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß bedeutende Segmente der jugendlichen Protestgnippierungen eine Gegenelite15 darstellen, die auch ihren Anteil an der politischen Machtausübung und am Sozialprestige fordern; trotz aller - teilweise revolutionären - Veränderungen seit 1968 bleiben Lima und dessen Mittel- und Oberschicht die einzigen Instanzen, die in Peru Macht, Reichtum, Erfolg und Ansehen verkörpern. Nach Degregori16 entstammt die Führung von Sendero Lwninoso mehrheitlich einer »provinziellen Universitätselite«, die ab 1970 sozial wurzellos wurde und zugleich »verzweifelt nach einer einfachen, geordneten und absoluten« Welterklärung suchte. Diese provinzielle Universitätselite hat wesentliche Elemente der Gesellschaftsordnung beibehalten, die sie vehement bekämpft: Sie reproduziert innerhalb 14 Alberto Flores Galindo, a.a.O. (Anm. m/9), S. 229 (nach einer Statistik der Tageszeitung El comercio vom 7. April 1985). 13 Ebd., S. 229f.; Carlos Iván Degregori: Sendero Luminoso, ajLO. (Anm. m/36), S. 30, Ober das Verhältnis von Sendero Luminoso und Universität vgl. Carlos Iván Degregori: Movimiento....