Mensch und Wirtschaft: Aufsätze und Abhandlungen zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Band I. Hrsg. von Werner Mahr / Franz Paul Schneider [1 ed.] 9783428417513, 9783428017515

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Mensch und Wirtschaft: Aufsätze und Abhandlungen zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Band I. Hrsg. von Werner Mahr / Franz Paul Schneider [1 ed.]
 9783428417513, 9783428017515

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Otto von Zwiedineck-Südenhorst

Mensch und Wirtschaft

Otto von Zwiedineck-Südenhorst

Mensch und Wirtschaft Aufsätze und Abhandlungen zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik

Erster Band

DUNCKER & HUMBLOT/ BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1955 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1955 bei Richard Schröter, Berlin SW 29

Vorwort Es gibt wissenschaftliche Autoren, deren Lebensarbeit einem einzigen Problemkreis .gewidmet ist, von dem sie nicht ablassen und andere, die ihr Fach an vielen Stellen interessant finden und immer "mehrere Eisen im Feuer haben". Beide bereichern, wenn sie schöpferisch sind, ihre Wissenschaft, die einen mehr im Sinne der Konsolidierung der gewonnenen Kenntnisse, die anderen dadurch, daß sie NeuLand erschließen und die Forschung in Bewegung halten. In der Nationalökonomie gehört Otto von Zwiedineck-Südenhorst zur Gruppe jener nicht auf ein oder einige wenige Probleme spezialisierten, sondern von einem universalen Erkenntnisstreben beherrschten Gelehrten. Ihren unmittelbarsten Ausdruck fanden die Gedanken dieses unerschöpflich.en Anregers in Abhandlungen und Beiträgen, die sich in verschiedenen Zeitschriften verstreut finden. Wie das Können mancher Maler sich am überzeugendsten in Skizzen und Entwürfen offenbart, so gibt es Gelehrte, die sich von der essayistischen Form am stärksten angesproch.en fühlen. Auch von Zwiedineck gehört, um mit Ad. Wagner zu reden, mehr zu den "Autoren der ,Aufsätze' als zu denen der ,Bücher'". Er liebt die aphoristische Formulierung, die beziehungsreiche Andeutung und das geistvolle Detail. Nun sind aber Aufsätze an sich nicht leicht ·erreichbar und infolge der Lücken, die der Krieg in privaten und öffentlichen Bibliotheken gerissen hat, sind sie noch schwerer zugänglich geworden. Dieser äußere Umstand veranlaßte die Herausgeber, eine Auswahl aus den Abhandlungen des Meisters als Sammelband erscheinen zu lassen. Sie hätten es nicht getan, wenn die ausgewählten - und ·die nicht ausgewählten - Arbeiten nur oder überwiegend historische, dogmenhistorische Bedeutung hätten. Die tiefere und eigentliche Legitimation unseres Unternehmens liegt darin, daß diese Arbeiten noch genug an Anregungen und Ansätzen enthalten, um die 111ationalökonomische Arbeit auf Jahrzehnte hinaus zu befruchten. Erstaunlich für den Leser ist zunächst wohl schon die thematische Fülle, die in dieser Sammlung, obwohl sie nur einen kleinen Bruchteil der insgesamt vorliegenden Aufsätze und kürzeren oder längeren Abhandlungen umfaßt, zutage tritt. Es gibt kaum ein Spezialgebiet unserer Diszipl.in, das nicht vertreten wäre. Nicht viele Autoren unserer Epoche können sich mit von Zwiedineck in der Bewältigung geistiger Stoffmassen einigermaßen messen. Dieses viels.eitige Engagement beschränkt sich zudem nicht auf das Gebiet der Nationalökonomie, vielmehr war

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von Zwiedineck immer bemüht, auch mit den anderen Wissenschaften in Fühlung zu bleiben. Unvergeßlich für Schüler und Freunde, wie sich der Sdebzigjährige noch mit den umwälzenden Errungenschaften der modernen Mikrophysik, mit den Theorien von Planck, Bohr, Schrödinger u. a. auseinandersetzte, um im Lichte der neuesten Naturwissenschaft Grundlagen, Methoden und Begriffe der Nationalökonomie zu überprüfen. Mit dem gleichen jugendlichen Feuer stürzte er sich in einem Alter, in dem sich andere der wohlverdienten Ruhe hingegeben hätten, in die soziologischen und wirtschaftlichen Probleme der Vorgeschichte, um hier nicht nur der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Neuland zu erschließen, sondern auch, um an den einfacheren Verhältnissen. der Frühzeit die Tragkraft moderner Theorie zu erproben. Die Leistungen von Zwiedinecks auf dem engeren Gebiet der ökonomischen Theorie verraten einen sicheren Instinkt für die Möglichkeiten, Erfordernisse und Grenzen der überkommenen Lehren. Das Interesse des Theoretikers wandte sich von Anfang an vornehmlich den dynamischen und evolutorischen Problemen der kapitalistischen Wirtschaft zu. Es' blieb sein entscheidendes Anliegen, Bausteine zu liefern für den Ausbau einer dynamischen oder - um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen - "empirisch-realistischen" Theorie. Der erste große Wurf in dieser Richtung war der Aufsatz "Die Einkommengestaltung als Geldwertbestimmungsgrund". Von Zwiedineck hat hier noch vor von Wieser die überkommene Quantitätstheorie durch eine genaue Analyse der realen Geldwertbewegung neu interpretiert und damit die geldtheoretische Forschung auf eine Höhe gehoben, die sie mit Cantillon und Hume beinahe sch.on erreicht hatte, von der sie aber in der Folge wieder herabgesunken war. Dieser grundJegenden Untersuchung folgten mehrere bedeutsame preistheoretische Abhandlungen, durch welche die ein wenig vem,achlässigte Preistheorie aufgelockert und der Boden vorbereitet wurde für ·die Verfeinerung dieses Kernstücks der ökonomischen Theorie, an der deutsche Autoren (E. Carell, E. Preiser, E. Schneider, v. Stackelberg u. a.) maßgeblich beteiligt waren und sind. Die Krönung der intensiven Beschäftigung mit dem Geld-Preis-Problem bildet die Abhandlung über das "Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge", einer der scharfsinnigsten Untersuchungen aus den Jahren der in ihren materiellen Auswirkungen so verhänignisvollen, aber für bestimmte Fragestellungen unserer Disziplin anregenden Weltwirtschaftskrise. Von Zwiedineck zeigt in dieser Arbeit, wie die einzelnen Einkommensarten durch einen expansiven oder kontraktorischen Anstoß in ganz verschiedenen Zeitabständen beeinfiußt werden. Das Gesetz der zeitlichen Einkommensfolge ist die exakte Widerlegung Says, der den sozialen Produktions- und Verteilungsprozeß in unzulässiger Weise

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synchronisierte. Nur ein Autor, der zwei - trotz ihrer fehlerhaften Voraussetzungen geniale nationalökonomischen Leistungen: das ta:bleau des Fran~ois Quesnay und das Gesetz der fallenden Profitrate von Kar! Marx bis zum letzten durchgedacht hat, konnte sich an eine so komplizierte und schwiedge Aufgabe wagen. Das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge ist als solches keine Konjunkturtheorie, weil die Frage nach der oder den Ursachen des Zyklus hier nicht gestellt wird, es liefert aber der Konjunkturtheorie ein Reaktionsmodell, das auf jede zyklische Datenkonste11ation anwendbar ist. Das Zwiedinecksche Gesetz ist auch wirtschaftspolitisch von großer Tragweite, weil es gewisse Voraussagen über die Wirkung der einen Nachfrageausfall kompensierenden politischen Maßnahmen in der Depression ermöglicht. Ein anderes großes Anliegen von Zwiedinecks war die Soz~alpolitik. Hier war es vor allem das persönliche Erlebnis des großen englischen Dockarbeiterstreiks (1890), das den jungen Gelehrten zu politischer Einflußnahme aus wissenschaftlich·er Erkenntnis drängte. Seine "Sozialpolitik" {1911) bildet einen Markstein in der Geschichte dieser Disziplin. In diesem Werke hat von Zwiedirneck der Sozialpolitik die für alle Zeiten gültige Zielsetzung gegeben: sie ist die "auf Sicherung fortdauemder Erreichung der Gesellschaftszwecke gerichtete Politik". Vor dem 1. Weltkrieg, als das1 Buch erschien, stand noch die Förderung der Arbeiterklasse im Vordergrund, aber die AnJage des Buches deutet schon darauf hin, daß in anderen Zeiten andere Schichten. des Volkes als der Hilfe bedürftig im Mittelpunkt der sozialpolitischen Problematik stehen werden. So begeistert und begeistemd sich von Zwiedineck in der Öffentlichkeit wie im Hörsaal für die sozialpolitischen Erfordernisse einsetzte, so wenig hat er als echter Gelehrter j·e aufgehört, auch die Grenzen des sozialpolitisch Möglichen zu betonen. Den rein ökonomischen Abhandlungen geld-, preis-, konjunkturtheoretischen, auch methodologischen Inhalts und seinen sozialpolitischen Abhandlungen steht eine Reihe gleichwertiger soziologischer oder doch. soziologisch orientierter Arbeiten gegenüber. Nicht erst auf dem Umweg über die Nationalökonomie gelangte von Zwied:ineck zu spezifisch soziologischen Fragestellungen, vielmehr begleiteten diese von Anfang an seine Forschungsarbeit. Macht sich in den theoretischen Untersuchungen mehr der Einfluß der Wiener Schule geltend, so war das soziologische Interesse vor allem auch durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Zielen und Methoden der jüngeren historischen Schule geweckt wovden. Ähnlich wie Ad. Wagner nahm auch von Zwiedineck im Streit des theoretischen und historischen Lagers eine "mehr mittlere Stellung" ein und er blieb bemüht, der großen Leistung Gustav Schmollers .gerecht zu wwden. Die wirksamste Anregung für die Ver-

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folgung historisch-soziologischer Probleme dürfte von Zwiedineck aber durch Karl Bücher und Richard Hildebrand empfangen haben. Seit dem Abklingen des Methodenstreites hat sich in der Nationalökonomie - nicht nur in Deutschl,and - eine trotz aller Überschneidungen und Unterschiede der Erkenntnisziele, Systemgrundlagen und besonders der Forschevpersönlichkeiten deutlich erkennbare Gruppierung herausgebildet. Neben einer streng theoretischen Richtung, die sich in zunehmendem Maße mathematischer Beweis- und Darstellungsmittel bedient, steht eine soziologisch orientierte Gruppe, die in Deutschland zugleich in gewissem Sinne das Erbe der jüngeren historischen Schule angetreten hat. Schon die rein ökonomischen Arbeiten von Zwiedinecks verraten in Begriffsbildung und Verfahrensweise das unvevkennbare Bestreben, zugleich den Erfordernissen .einer soziologischen Anwendung Rechnung zu tragen. Man denke an den Zwiedineckschen Kapitalbegriff, der - weitgehend im Sinne VO'!l Marx konzipiert - vor allem der Kennzeichnung eines "kapitalistisch·en Zeitalters" ·dienen sollte. Der "volkswirtschaftliche" Kapitalbegriff - Kapital als 3. Produktionsßaktor -'wäre für diesen Zweck völlig ung.eeignet, selbst wenn man die zunehmende Kapitalausstattung des einzelnen Arbeiters zum maßgebenden Kriterium der kapitalistischen Produktionsweise machten wollte. Abgesehen davon, daß in einem modernen sozialistischen Staat der Faktor Kapital keine geringere Rolle spielt, wü~de vor allem die ausschlaggebende subjektiv-psychologische Komponente: das Verwertungsstreben, völlig unberücksichtigt bleiben. Im Rahmen dieser Einführung ist es natürlich nicht möglich, die von von Zwiedineck behandelten soziologischen Themen und Probleme auch nur als solche aufzuzählen. Erwähnt seien die Betrachtungen zum Begriff des Wirtschaftens und der wirtschaftlichen Rationalität, die durch die eingehende Beschäftigung mit den Lebensverhältnissen der Primitiven, der "Wirtschaft" des vor- und frühgeschichtlichen Menschen, eine besondere Vertiefung erfahren haben. Ferner die Untersuchungen über die weltanschaulichen Grundlagen und Hintergründe der nationalökonomischen Lehrsysteme, die Darstellung sozialistischer Strömungen, Richtungen und Programme, nicht zuletzt die geistvollen Beiträge zur Analyse der Voraussetzungen und Entwicklungsbedingungen des Kapitalismus. In .allem, was er lehrte und schrieb, hat von Zwiedineck unbeirrbar daran festgehalten, daß die Wissenschaft allein der Erforschung der W.a•hrheit zu dienen und sich aller Werturteile zu enthalten habe. Er hat es immer abgelehnt, sich für eine Partei oder eine bestimmte Ideologie in Anspruch nehmen zu l~assen. Trotzdem wirkt dieser Autor

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nie unpersönlich und erscheint sein Werk in letzter Konsequenz beinahe ungewollt als ein Bekenntnis zu den in einem entscheidenden Zeitpunkt von Europa selbst preisgegebenen Grundwerten der abendländischen Kultur: zur persönlichen Freiheit und zur ratio als den letzten Endes maßgebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung. Gerade deshalb, weil dieses "Bekenntnis" das Ergebnis einer unvoreingenommenen Analyse der wirtschaftlich·en und sozialen Entwicklung ist, nicht eine bewußte oder unbewußte Apologie zufälliger un:d vergänglicher institutioneller Fixierungen der Freiheit und Rationalität, ist es so wirksam - als nicht ausdrücklich formuliertes Prinzip einer Geschichtsphilosophie, das diejenigen anspricht, die glauben, daß es "kein Scherz" ist, "die Welt zu bessern" (Hö1derlin, Hyperion). Daß diese, die grundlegenden, heute vielfach nur schwer erlangbaren Aufsätze des allseitig verehrten Lehrers und Meisters enthaltende Sammlung erscheinen kann, danken die Herausgeber der Mithilfe und Unterstützung, die sie in der Überwindung mannigfacher dem Plane entgegenstehender Hindernisse in Wissenschaft und Wirtschaft gefunden haben, insbesondere der Deutschen Statistischen Gesellschaft und ihrem Vorstand Herrn Präsidenten Dr. K. Wagner, Herrn Dr. Kurt Bloch, der Münchener Bankenvereinigung, der BayeriS'chen Staatsbank, der Landeszentralbank von Bayern, der Bayerischen Hypotheken- und W echselbank, der Bayerischen Vereinsbank und der Süddeutschen Bank. Mit Rat und Tat standen die Herren Professoren Dr. Bernhard Pfister, Dr. Oskar Anderson, Dr. Wilhelm Britzelmayr und Herr Ministerialdirigent Dr. Otto Barbarino dem Werke zur Seite. Frau Dr. Gerda Schneider, die auch das den zweiten Band abschließende Schriftenverzeichnis verfaßte, und Herr Diplomvolkswirt DipJ.om-Versicherungsverständiger Hermann Schneider stellten die Mehrzahl der Texte aus ihren Sammlung.en zur Verfügung. Werner Mahr

FranzPaulSchneider

Inhalt Gefühltes -

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Theoretisch vernachlässigte Preisbestimmungsgründe (1909) . . . . . .

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Die Einkommengestaltung als Geldwertbestimmungsgrund (1909)

83

Zur Eigentums- und Produktionsverfassung (1925)

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Preislehre und Konjunkturforschung (1927) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge (1931) 194 0

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Was macht ein Zeitalter kapitalistisch? (1931) .................. 221 Rentenprinzip oder Rentenstellung. Grundsätzliches zum Streit über die Singularität der Grundrente (1932) ................ 259 Der Begriff homo oeconomicus und sein Lehrwert (1934) . . . . . . . . 276 Vom Glauben und anderen Irrtumsquellen in der theoretischen Nationalökonomie (1944) .................................. 296 Die Kausalität der Volkswirtschaft (1927) ...................... 362 Subjektivismus in der sozialökonomischen Theorie. Seine Grenzen und Relativität (1953) .................................... 372 Sozialpolitik und ihre Erscheinungsformen. Begriff und Wesen der Sozialpolitik (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Macht oder ökonomisches Gesetz (1925) ........................ 399 Von den Grundiagen der sozialen Bewegungen (1938) . . . . . . . . . . . . 422

Gefühltes- Erstrebtes- Erkanntes I.

Mit den hier folgenden Geleitworten entspreche ich einem Wunsch meiner Schüler, die sich um das Zustandekommen dieses Neudrucks besonders bemüht haben. Es liegt ihnen daran, einige für meine wissenschaftliche Entwicklung wichtigeren Daten aus meinem L·eben vorausgeschickt zu wissen. Wenn ich diese einleitenden Gedanken damit beginne, daß ich am 24. Februar 1871 in· Gmz geboren bin, so hat das seine besonderen Gründe: Einmal ist diese Stadt erst durch die Kriegsläufte so vielen Tausenden Deutschen mehr als ein dtmkler' Grenzstadtname geworden. Graz liegt von den Grenzen des Reiches schon verkehrsmäßig weit ab. Aber wer diese Stadt an freundlichen sonnd.gen Tagen - und diese überwogen weitaus, solange das Azorenhoch noch nicht so weit nach dem Süden geflohen war - kennenlemt, "diese Stadt, die zwischen bewaldeten oder doch baumreichen Hügeln eingebettet beide Ufer der rasch fließenden Mur umsäumt, der wird kaum diesem Zauber entrinnen, daß sich die Natur noch heute so nahe an die Wohnungen, Kanzleien und Werkstätten herandrängt. Hier vermögen ihm keine engen dumpfen Straßlen, keine Häuserblöcke, keine Zinskasernen Trotz zu bieten, über:all hin dringt der goldene Glanz, die leichte erfrischende Luft von den nahen Bergen, vor keinem Auge verhüllt sich der blaue Himmel in Rauchschw.aden. Hier läßt sich :gemütlich wohnen, hier kann man versuchen, gesund zu leben: Hier rbraucht auch der Berufssldlarve nicht ganz auf den Verkehr mit der Natur zu verzichten". So hat mein Vater vor mehr als 50 Jahren den Reiz dieser Stadt gekennzeichnet,. den sie auf Fr.emde wie auf Einheimische ausübt. Und in der Tat kann man auch heute, nachdem die Stadt seit jenen Tagen eine erhebliche Bevölkerungsvermehrung erfahren hat, immer noch ·innel1halb von zehn Minuten aus dem Stadtinnern an ein Hügelgelände gelangen, von dessen Fuß aus lauschige, von Büschen eingesäumte Wege, die verläßlich frci sind von jedem Motor:verkehr, auf die waldreichen Höhen des Rosenberges, Rainerkogels, Ruckerlberges, der Ries usw. führen, deren aussichtsreiche Straßen Ausblicke nach Norden und Westen auf die almenreichen Voralpenzüge, die sich bis in 2000 m erheben, im Süden über das große Grazerfe1d, eine AusI von Zwiedlneck-Südenhorst, I

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weitung des Murtales mit fruchtbarem Ackerboden hinweg auf die weinbergreichen Windischen Büheln, im Osten auf das mehrfach von kleinen Hochebenen unterbrochene, nach Ungarn allmählich abfallende Hügelland, den fruchtbarsten Landstrich des Landes, in dem sich die schönsten Schlösser und ·Edelsitze; des steierischen Adels befinden, der F.amiilien, .von denen manche, wie die Stubenbe11g, Herberstein, Trautmannsdorff ihre Stammsitze seit 700 Jahren innehaben. Sie, wie ihre jüngeren Nachbarn, haben Jahrhunderte hindurch die vorgeschobenen Posten deutschen Besitzes gegen die Ma•gy.aren und Türken verteidigen müssen. In dieser schönen Stadt und in diesem gesegneten Land bin ich aufgewachsen, hier durfte ich in den erinnerungswürdigen und durch ZUIIIleist vortreffliche und auch geliebte Lehrer geradezu erlebnisreichen Gymnasialjahren das erste universelle Wissen gewinnen, hier auch an der heimatlichen Universität zum größten Teil wissenschaftliches Denken und Arbeiten, hier endlich in den .ersten Jahren beruflichen Dienstes das Leben in seiner Wrnklichkeit kennen lernen. So sind mir Stadt und Land in den 28 Jahren nach meinem Eintritt in diese Welt - t:ast ein Drittel meiner Lebenszeit - die geliebte Heimat gewesen und sie ist es geblieben, obwohl im Jahre 1953 mir die Erneuerung meines Österreichischen Passes verweigert und mir damit die Österreichische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Begründet wurde dieses Verdikt damit, daß ich 1902 bei der Annahme der Berufung an die Technische Hochschule Karlsruhe und dem damit zusammenhängenden ganz offiziellen mit einem Dankschreiben des Ministers verbundenen Ausscheiden aus dem Dienste des K.K. Ministeriums des Innern eine nach einem kaiserlichen Patent von 1832 Obeste Polizeista,atszeit) bestehende Meldevorschrift versäumt hatte. Diese Verfügung wurde trotz meiner Bitte nicht zurückgenommen, obwohl ich als österreichischer Offizier a. D. bei Kriegsausbruch 1914 mich zum Dienst in Wien gemddet hatte und über fünf Jahrzehnte völkerrechtlich als Sujet mixte vom Österreichischen Konsulat die Staatsbürgerschaft und zudem vom Grazer Stadtrat das Heimatrecht der Stadt Graz anerkannt und dokumentiert erhalten hatte*. "' Das Entgegenkommen des Verlages macht es möglich, eine während des Druckes mir zugegangene Änderung des Urteils über meine Österreichische Staatsbürgerschaft hier noch festzustellen. Die niederösterreichische Landesregierung hat erkannt, daß ich gemäß einem Staatsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und derösterreichisch-ungarischen Monarchie, abgeschlossen 1877, die Österreichische Staatsbürgerschaft nicht verloren habe. Jener Vertrag sicherte den Lehrkräften der Hochschulen eines der beiden Staatsgebiete bei Berufung auf eine Lehrstelle in dem anderen, mit der die Erwerbung der Staatsbürgerschaft des Berufungslandes verbunden ist, den Fortbestand sei-

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Solches Erleben läßt dem, dem es "just passieret", keinen Zweifel, daß der Buchstabe des Gesetzes, mag er auch durch eine ehrwürdige Zahl von Jahren ve11bLaßt sein, an Souveränität gewonnen hat, jedenfalls an Geltung gegenüber dem spezifisch Menschlichen, gegenüber der Welt der Gefühle und es wird wohl Generationen dauem, bis das Verantwortungsbewußtsein des ·einzelnen Verwaltungsfunktionärs in der Handhabung der Rechtsnormen der demokratischen Gemeinschaft jene Sicherheit gewonnen haben wird, dank der das reine Metall des Menschentums im Recht über die Schlacken des demokr:atischen Erzes und damit über die Schwächen jedes positiven Rechtes wegfiießt. Der Deutsche ist darin jedenfalls weniger günstig daran als der trotz mancher Verschiedenheiten zwischen Nord und Süd in einem gewissen Konservatwismus einheitliebere Engländer. Die Mannigfaltigkeit des innerweltlichen Lebens schon nach der deutschen Stammesart ist zu groß, als daß die Formulierung des Demokratischen so bald eine klare überzeugende !Einheit sein. könnte. Und in dieser Richtung wirkt schon die Verschiedenheit der historisch-politischen Schicksale und das aus dem Schicksal folgende Verpflichtende trennend, und ich muß gerade dabei an meine Heimat denken: es war ihr Schicksal, G r e n z 1 a n d zu sein und es liegt eine so inhaltsschwere Wahrheit in dem Wort Grillparzers an Radetzky: "In D e in e m L a g e r ist Österreich!" Denn es sind allzu viele sehr verschiedene Völk.er-Individualitäten gewesen, die diese Österreichische Staatsgemeinschaft in gleichem Sinne fühlen und leben sollten. Und das gilt nicht nur für die Zeit Radetzkys vor hundert Jahren, sondern auch heute noch gilt es innerhalb des Restösterreichs die Verschiedenheiten der Bevölkerung .der Kronländer wohl zu erkennen: Steiermärker, Kärntner, Tiroler, Vorar1bel'ger sind, obwohl stammlieh überwiegend alle Bayuwaren, sprachlich zu unterscheiden. Sie haben ihre besonderen Dialekte und ihre besondere Mentalität, die damit eben auch ein Element der Heimatszugehörigkeit sind, und zwar ein viel stärkeres, als alle jene me•inen, die die Verpflanzung aus der Heimat he~aus nicht erlebt haben. Von Wien nach Karlsruhe verpflanzt, mußte ich ge~ade die Preis,gabe von spezifischen Eigentümlichkeiten des österr.eichischen Idioms und natürlich gar des steirischen Sprachschatzes als ein Abschiednehmen ·empfinden, als ich während meiner Vorlesungen, besonders aber in den Übungen die Eigenart meiner Terminologie erst an dem Nichtverstandenwerden meiner Hörer inne nes bisherigen Staatsbürgerrechtes. Der Berufene wurde damit sujet mixte im Sinne des Völkerrechtes. Daß die Richtigstellung des irrigen Verwaltungsentscheides erst nach 2 Jahren erfolgt ist, findet seine Erklärung in dem Verblassen des Wissens um die geltenden Rechtsnormen unter dem Einfluß revolutionärer Zeitläufe. 1*

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we~den mußte. Mir ist besonders aus der Vorlesung über die Agrarpolitik in Erinnerung geblieben, daß ich eines Tages von den. Hörern um die Erläuterung des Begriffes "Jause" ersucht wurde, da dieses Wort in der Erörterung über die Naturallöhne und ihre Wandlung in der Agrarwirtschaft mein·em Gefühl nach mit vollem Recht von mir verwendet worden war.

Mein Heimatsgefühl hat aber noch ein anderes Gewicht. Es war im Herbst 1870, als weitere entscheidende Kämpfe nach dem Fall von S€dan noch gekämpft werden mußten, als der zwölf Jahre ältere Bruder meines: Vaters, der später außero~dentliche Gesandte und bevollmächtigte Minister im K. und K. Ministerium des Äußeren, Julius Freiherr von Zwiedinek-Südenhorst, damals Generalkonsul in Trapezunt, an meinen Vater schrieb: "Wußte ich ja doch, daß Dein deutsches Gefühl heftig von den Ereignissen e·rregt sein würde und es dient mir selbst zur Erleichterung, Dir auch meinerseits zu sagen, daß, obgleich dem Schauplatz des Kampfes fernergerückt und als Exilierter gleichsam außer Zusammenhang mit meiner Nation gebracht, ich doch die Wichtigkeit des Momentes für Deutschlands Wiedergeburt als großes einiges Reich in keiner Weise verkenne und deshalb den Sieg der deutschen Waffen auf das innigste herbeisehne." Diese Einstellung meines Onkels zur politischen. Lage, das ist nicht außer Acht zu lassen, wurde geschrieben wenige Wochen nachdem die Deutschen. in Österreich und insbesondere die Bevölkerung der Steierrnax;k durch die Erfolge der deutschen Waffen gegen Napoleon erst von der Sorge befreit worden waren, der Kaiser könnte sich Napoleon im Kampf gegen Preußen anschließen. Es liegt zu weit zurück, als daß\ man der heutigen Generation noch eine Orientiertheit über die Bedeutung der Tatsache zumuten könnte, daß man in dem für die, .auswärtig-e Politik der Monarchie maßgebenden Ministerium in solcher Weise über das Verhältnis zwischen Preußen und Österreich urteilen konnte. Zur Erläuterung ergänze ich diese FeststelLung der politischen Einstellung meines Onkels, daß er ste damals freilich nur als einfacher Generalkonsul vertrat. Später war er die rechte Hand des Grafen Kalnoky im Ministerium des Äußern, in jener für die Außenpolitik der Habsburgischen Monarchie und damit aber auch für den Frieden Europas so entscheidenden Epoche, nach dem Zustandekommen des Dreibundes (1878), als Referent für die Balkanpolitik gerade in jenen 14 Jahren des Ministeriums Kalnoky - seit Metternich hatte kein anderer Mann das Portefeuille dieses Ministeriums solange inne gehabt - das die glücklichste Hand in der ganz besonders heiklen Behandlung Rußlands bewiesen hat. Wenn ich diese Bejahung der deutschen und damit der preußischen Siege durch

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diesen Diplomaten hier besonders hervorhebe, so geschieht es allerdings zunächst, um die politische Denkweise in einer Österreichischen Offiziersfamilie zu kennzeichnen, wie sie vier Jahre nach der Niederlage von Königgrätz, als die Unterstützung Napoleons noch durchaus nicht außerha~b des Bereichs der Möglichkeiten stand, sondern weil es symptomatisch war, in welcher Richtung damals das politische Denken der j'ungen Generation der Deutsch-Österreicher ging. War es doch die Auffassung der politischen Aufgabe, die sich darin bekundete und die wir Jungen damals für das österreichisch·e Staatswesen erkennen zu müssen glaubten, des Staatswesens, dem wir ursprünglich auf Grund einer einfachen Treueerklärung gegenüber der Dynastie verbunden waren, mag auch die staatsrechtliche Entwicklung dieses Treueverhältnis in ein staatsrechtliches Verhältnis herbeigeführt haben.

Es ist die Entwicklung der Politi!k der Deutschen in der hatbsburgischen Monarchie, nach dem Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund durchaus nicht, wie das öfters geschehen ist, als nationaHstische Angriffspolitik zu werten, sondern im Gegenteil nur in dem Sinne, wie es Moritz von Kaiserfeld, ein steirischer Abgeordneter im Frankfurter Parlament, und wohl der geistreichste deutschösterr·eichische Staatsmann der 60er Jahre geäuß,ert hat, als er schrieb "Es war bis jetzt ein Fehler der Deutschen in Österreich, daß sie sich nur als Österreicher und nicht als Deutsche fühlten ... Wir haben keine LuS>t uns einzeln aufspeisen zu lassen, wie wir auch keine Lust haben, auf den Konstitutionalismus zu verzichten, der nun einmal in den Landtagen, und zwar im galizlschen und böhmischen so wenig v.i.e im steirischen seine Stätte aufschlagen kann. Diese Wandlung hat den weiteren Vorteil, daß wir den Wert erkennen gelernt haben, der darin liegt, einer großen Nation anzugehören. Wir werden daher niemlals auf das Band verzichten, das uns und die Länder, die wir beWohnen, an Deutschland knüpft. Würde unsere Stellung in Osterreich unerträglich gemacht, von dort her müßte uns Erlösung kommen." So war das, Denken der Deutschen in Österreich bei aller Treue zur Dynastie durch das Erwachen des slavischen Nationalismus herausgefordert und unvermeidlich geworden. Ihm entsprach es auch, daß zur gleich.en Zeit, im Herbst 1870, meine Mutter, als sie mich unter dem Herzen trug, in einem Brief an die Mutter meines Vaters schrieb: "Ich kenne kein höheres Gefühl, als den Wunsch, daß das Kind ein Junge sei und ein tüchtiger Deutscher, der für das deutsche Volk Wertvolles leisten möge." Es überrascht nicht, daß, als meine Mutter zwei Tage vor dem Einmarsch der deutsch.en Truppen in Paris einen Knaben brachte, die Eltern diesem die Namen Otto Wilhelm Helmut geben ließen. Es war

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e.in Bekenntnis, das freilich auch in der wissenschaftlichen Einstellung meines Vaters seine Grundlage hatte. Wie aus den obigen Briefstellen €indeutig hervorgeht, war mein Vater politisch entschieden deutsch-national. Nicht etwa, weil er 1845 in Frankfurt am Main geboren war. Das war beruflich verursachter Zufall, denn mein Großvater war dorthin auf eine der außerhalb Österreichs liegenden Garnisonen des Österreichischen Bundeskontingentes kommandiert und eine Reihe von Jahren in Frankfurt stationdert. 1849 war er von Frankfurt nach Vernona versetzt worden. Diese politische Einstellung war angesichts der damals in Österreich im Werden begriffenen politischen Parteigestaltungen, worauf hier nicht weiter e·ingegangen wer:den kann, in dem Sinne zu verstehen, daß mein Vater ähnlich wie etwa eben Moritz von Kaiserfeld eine Sicherung des Österreichischen Deutschtums für den Österreichischen Teil der Monarchie- die Verfassung kannte dafür nur den Namen "die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder" - durch eine föderative Verfassung mit voller Selbständigmachung des polnischen Galizien für zweckmäßig, ja notwendig gehalten hat. Es ·entsprach das aber nicht nur dem damaligen nationalen Besitzstand der Deutschen in den .alten Kronländern, es entsprach auch dem Ursprung aller Verfassungen des Landes. "Die Steiermark entstand als Grenzmar:k und besteht durch den Willen der Deutschen und ihrer Fürsten, die Kraft ·dieses Willens allein k•ann sie erhalten." Diese historische Verankerung war freilich durch die Verfassung von 1867 preisgegeben, aber neben dieser juristischen Realität bestand die historisch begründete Denkweise der Bevölkerung als eine innerweltliche Realität gefühlsmäßig weiter. Wenn sie auch nur in einem Bruchteil der politisch wachen Kreise lebendig war - sie stand einer politischen Zerrissenheit in Liberale und Klerikale gegenüber, wobei das Wort "liberal" inhaltlich lange Zeit wesentlich durch die Gegnerschaft gegen die Kirche orientiert war - so war das Gefühl für den nationalen Ursprung der Hauptmasse der Bevölkerung lebendig geblieben und ist bei jeder politischen Wahl, also insbesondere Abgeordnetenwahl, in Erscheinung getreten. Ein solches Wissen um die historische Wurzel wird zur Grundlage der Anerkennung einer Pflicht. Diese Pflicht ist ein·e Verpflichtung für das Land, die lebendig bleibt, wenn auch neue Verfassungen staatsbürgerliche Bindungen oder Lösungen von polizeilichen Meldepflichten abhängig machen. In dieser in gewissem Sinne mittelalterlich .anklingenden Anschauung bin ich in meinem Vaterhaus aufgewachsen: Sicherung des deutschen Besitzstandes muß die politische Richtlinie sein und ward zur zeitgemäßen Formulierung. Es ändert an diesem gefühlsbedingten Tatbestand nichts, daß die Ent-

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wicklung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen in einen anderen neuen Aufgabenkreis führte, aber die Welt der Gefühle ist eben nur eine Komponente in dem soziologischen Kräftepolygon, in dem das Schicksal geschmiedet wird. Und es ist wohl eine Gesetzmäßigkeit biologischer Natur, daß die Geltung dieser Komponente im Lauf des Berufslebens immer mehr gegenüber anderen Komponenten zurücktritt. Und darüber darf man sich keinen Illusionen hingeben: Neigung, Anlage, Fähigkeiten für irgendeine Berufstätigkeit, wirtschaftliche Interessen, persönliche Beziehungen und wieviel Zufälle sind in diesem Polygon zumeist von vornherein stärker als Gefühle, also auch als die Heimatliebe, die uns an Land und Menschen fesselt. So hat auch in meiner Berufswahl eines Tages das sozialwirtschaftliche Interesse sich durchzusetzen vermocht. Nicht als ob die Kräfte, die unseren Werdeprozeß ·bestimmen, eindeutig bestimmte Größen wären. Sie sind variabel. Ich möchte nicht außer Betracht lassen, daß es für mein Denken und Planen nicht ohne Bedeutung war, daß ich mich an dem freiwilligen Sonderunterricht und einer ihn abschließenden Preisprüfung in Heimatkunde mit besonderer Berücksichtigung der steirischen Geschichte beteiligt habe. Dieser Unterricht fiel in die vierte Gymnasialklasse. Nur zwölf von den etwa 120 Schülern der Klasse hatten teilgenommen, und wie mein Vater 1859 halbe ich 25 Jahre später die silberne Medaille in dieser Preisprüfung erkämpft, in der der Landeshauptmann von Steiermark persönlich den Vorsitz geführt hat. Das diesem Unterricht entsprechende Wissen hat nicht nur die Vertrautheit mit der Erscheinungswelt des Landes, sondern auch und besonders mit seiner Geschichte wesentlich gefördert und eine engere Gefühlsverbundenheit mit dem Lande gebracht, so daß ich damals nicht gedacht hatte, ich würde jemals außer Landes gehen. Aber es sollte anders kommen. I I.

Aus dem Gymnasialbericht, der die Liste meines Maturajahrgange!5 mit der Mitteilung des von jedem von uns gewählten Berufsstudiums veröffentlicht hat, ist zu entnehmen, daß ich entschlossen war, Landwirt zu werden. Ich hatte das Landwirtschaftsstudium an der Hochschule für Bodenkultur als Berufsstudium eingetragen. Schon in den ersten Gymnasialjahren hatte ich auf einem Baugmmd hinterdem Miethaus, in dem wir wohnten, unter Anleitung eines älteren Freundes, der später Leiter einer Landwirtschaftsschule wurde, Gemüsebau betrieben. Die Beschaffung von Werkzeug war mir aus dem großväterlichen Eisengeschäft erleichtert gewesen, die Betriebsmittel für Samen

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und Dünger, soweit ich diesen nicht von der Straßle selbst beschaffte, hatte ich von meinem Taschengeld zu beschaffen, zu dessen rationeller Verwendung mein Vater mich schon beim :Eintritt in das Gymnasium dadurch anhielt, daß ich aus meinem Monatseinkommen von zwei Gulden auch meine Beschuhung zu bestreiten hatte. Da mir meine Mutter meine "Bodenprodukte" Spinat, Salat, Rettig, ·Erbsen a~aufte, hatte ich eine •Ertragsrechnung zu führen. ·Eine weitere Veranlassung zu dem Gedanken Landwirt zu werden, wuchs aus einem wiederholten Aufenthalt auf einem etwa 250 ha großen ,Landgut in Ungarn nahe der steirischen Grenze, das einem Freunde meines Vaters, Freiherrn von Tessin, gehörte. Dieser aus einer alten schwedischen, aber seit dem 30jährigen Krieg in Württemberg ansässigen Adelsfamilie stammend, war, wie viele andere vor der Auseinandersetzung Österreichs mit Preußen, in den Österreichischen Militärdienst getreten und nach dem Kriege Landwirt geworden. Er hat mit außeroidentlichem Fleiß und gründlichem Wissen sein Gut bewirtschaftet. Sei i:hm lernte ich die Erfo1gmöglichkeiten, Freud und Leid des tüchtigen deutschen Landwirtes im gesegneten ung.arischen Großgrundbesitz kennen und beobachten, welche Wirkung die menschliche Haltung des deutschen Gutsherrn gegenüber seinen Arbeitskräften in dem A11beitsverhältnis und in seinem Erfolg haben konnte. Mein Vater war mit dem Gedanken, daß ich Landwirt würde, völlig einverstanden. Es entsprach seiner bei aller Fortschrittlichkeit des Denkens doch weitgehenden Sympathie mit der Bodenbewirtschaftung als einem wichtigen Element konservati>Ver Auffassung von den im Staat zu lösenden Aufgaben. Für den landwirtschaftlichen Beruf waren f11eilich meiner Herumnft nach kaum Voraussetzungen gegeben. Wohl war der Vater meines Urgroßvaters Angestellter in einer großen a.grarischen Gutsverwaltung, aber seitdem war die Familie, der ich entstamme, eine Offiziersfamilie geworden. Sie hat in drei Generationen dem Österreichischen Heere Offiziere gestellt. Mein Urgroßvater, 1763 geboren, sol.Ue Geistlicher werden, entzog sich :aber dieser iBestimmung seiner Mutter und folgte der Werbetrommel zum Militär, so daß er den dritten Koalitionskrieg schon als Offizier mitgemacht hat und 1812 als Offizier im Österreichischen Heeresteil der französischen Armee in Rußland schwer verwundet wurde und später mit kümmerlicher Pension in Gr.az lebte, wo er 1844 von seiner zweiten Frau betreut starb. ·Er hatte aus erster Ehe zwei Söhne, die beide in die Kadettenerziehung kamen, der ältere starb im Alter von etwa 20 Jahr.en, der jüngere war mein Großlvater und sowohl durch seine mathematischen Kenntnisse wie auch durch seine o11ganisatorische Begabung in seiner artilleristischen Lauilbahn

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zu einem vortrefflichen Ruf .gelangt. Freilich. hat er sich damit auch Feinde erworben, die 1854, während der Kaiser nach einem Attentat von den Regierungsgeschäften ausgeschaltet war, seine vorzeitige Pensionierung herbeiführten, als er vor der Be~ufung auf eine Artilleriebefehlsstelle zum General stand. Meine Mutter, Anna Adele Dettelbach, stammt allerdings aus dem Wirtschaftsleben. Ihre Vorfahren waren nach archivalischen Quellen Nach·kommen eines .Ende des 16. Jahrhunderts aus Franken in Ungarn eingewanderten deutschen Lehrers, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Evangelisierung. Anfang des 18. Jahrhunderts war ein deutscher Lehrer und Regenschori namens Laurentius Dettelbach Schulleiter in Ungarisch-Altenburg. Nachdem er in zwei glücklichen Ehen 15 Kinder in die Welt gesetzt hatte, starb er 1780. Einer der 15 Sprößlinge, Franz Xaver, war erst Mönch ·geworden, nach der Auflösung seines Klosters durch Kaiser Joseph II. war er zunächst Hofmeister bei einem Fürsten Palffy, dann Beamt·er im ungarischen Finanzdienst Hochmusikalisch, war er in das Fürstlich Eszterhazysche Hausorchester gekommen, das er schulte und leitete. Er war damit auch in freundschaftliche Beziehung zu Hayden gekommen. Seine Versetzung in eine steirische Finanzverwaltung brachte seine Verheiratung mit Maria Rosina Greinitz in Fürstenfeld und hier ist die Beziehung zur Wirtschaft, denn die Greinitz waren ehrsame Meister des Feinzeug- oder Zirkelschmiedehandwerks in Fürstenfeld. Steiermark ist seit Jahrhunderten durch das ausgezeichnete hochwertige Eisenerz seines Erzberges als Sitz einer sehr gediegenen Eisenhammerindustrie bekannt. Namentlich Sensen und Sicheln waren ein berühmter ExportartikeL Kaufleute aus dem Orient kamen regelmäß~g, solche steirische Eisenwaren zu holen, um sie in den agrarischen Gebieten Ungarns, des Balkans, der Tü~kei und auch Rußlands leicht abzusetzen. Der Vater meiner Mutter gründete mit Hilfe eines Onkels - sein Vater war gestorben, als er sieben Jahre alt war, und er mußte früh durch Musikunterricht seiner Mutter zur Bestreitung der ·Erfordernisse der FamHie mit den vier hinterlassenen Kindern behilflich sein - 1828 ein Eisenhandelsgeschäft in Gr.a:z, dessen Ruf durch die 'ausgezeichnete Qualität der Ware auch weit außerhalb des Landes v·erbreitet war. Dieses Geschäft kann geradezu als Beispiel für die Unterscheidung von kapitalwirtschaftlichen und kapitaEstischen Unternehmen gelten. Mein Großvater hat in den 50 Jahren, in denen er das Geschäft führte, Bankkredit so .gut wie gar nicht in Anspruch genommen. Von den Einkäufern aus dem Osten war bekannt, daß sie mit Goldstücken die Ware bar bezahlten und, soweit mit Wechseln bezahlt wurde, hat mein Großvater diese Wechsel bis zum Fälligkeitstag in seinem Porte-

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feuiHe aufbewahrt. Die Diskontierung durch die Bank lag ihm nicht. So lmm es, daß mein Onkel, als er als einziger Sohn das Geschäft übernahm, über eine glänzende Kreditwürdigkeit bei den Banken verfügte und auf dieser Basis in der Lage war, in kurzer Zeit das Unternehmen erheblich zu erweitern, zu einer großen Filiale in Triest zu gelangen und unter anderem durch .Eingliederung von iEisenhämmern, deren Erzeugungskosten dank der billigen Betriebskraft in den wasserreichen Gebirgstälern des Landes eine vortreffliche Wettbewerbslage hatten, zu einer erheblichen Rentabilität zu bringen. War das Unternehmen unter meinem Großvater zwar wohl kapitalwirtschaftlich aufgebaut, so fehlte ihm doch der kapitalistische Zug: alles was an Kaufkl"laft in die Verfügung der Geschäftsführung gelangte. möglichst ohne Zeitverlust wieder in weiteren Kapitalumschlag (Kauf von Ware zum Wiederverkauf) zu bringen. Mein Plan mit der Landwirtschaft stand. also ohne jede Grundlage von meiner Familie her. Nach meinem gut bestandenen .A!bitur galt es die Frage zu entscheiden, wie das Studium für den Landwirt zweckmäßig zu verlaufen hätte. Vermögenslos hatte ich wenig Aussicht, zu einer entsprechenden berufHeben Verwendung mit Selbständigkeit zu gelangen, und wollte ich mit der agrarökonomischen FachbiLdung in eine Anstellung mit der Aussicht auf ein Aufsteigen gelangen, so mußte ich auch ein juristisches Studium nachweisen können. So wurde ich zunächst Jurist. Abgesehen von einem Heidelberger Semester, nach dessen Abschluß ich nach London kam, brachte ich meine juristisch.e Studienzeit an meiner Heimatsuniversität Graz zu und lernte an der Verschiedenartigkeit der akademischen Lehrer, (nicht nur ihrer Methode, sondern auch ihrem Naturell nach verschieden!) welche Bedeutung für die Liebe zum Studium d[e Persönlichkeit der Herren Professoren haben konnte. Mit dankbarer Begeisterung gedenke ich des Deutsch-RechtsHistorikers Richard Schröder, des Romanisten Freiherr von Schey, der mit unvergleichlicher Kunst das Verständnis für den römischen Zivilprozeßl zu wecken wußte, des in seiner positiven Darstellung wie in seiner Kritik hinreißenden Staatsrechtslehrers Bernatzik, wie ich mit Grauen an die wöch·entHch 14stündige Pandektenvorlesung in Heildelber:g zurückdenke, in der jeder Satz dreimal diktiert wurde Die ·ersten zwei Studienjahre waren der Prüfungsordnung entsprechend der rechtshistorischen Schulung zu widmen, neben der man auch naturwissenschaftliche, physikalische Geographie mit Meteorologie, historische, lite11arhistorische, philosophische, mus1kwissensch,aftliche und andere .geisteswissenschaftliche Vorlesungen besuchte. Dann folgte die Unterbrechung der Studien durch den Militärdienst als ,Einjährig-

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freiwilliger (1891/92). Erst die letzten zwei Studienjahre führten in die für eine sozialwirtschaftliche Berufsarbeit wichtigen Wissensgebiete: Staatslehre, Verfassungsgeschichte, Positives Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Volkswirtschaftslehre mit Finanzwissenschaft und Statistik. Ich kann nicht unerwähnt lassen, daß die volkswirtschaftlichen und finanzwissenschaftliehen Vorlesungen, die uns R.ichard Bildebrand (der Sohn des großen Mitbegründers der historischen Richtung der Nationalökonomie Bruno Bildebrand) gab, eine überaus interessante und anregende Singularität im Rahmen dessen. waren, was damals an den Österreichischen Universitäten als Nationalökonomie gegeben wurde. Denn Bildebrand brachte weitausgreifende Exkurse über die Wirtschaft der Menschen auf primitiveren Stufen, wie sie z. B. nach Tacitus Germania von ihm geschildert wurde. Es ist gleichzeitig charakteristisch dafür, wie man damals vielfach Jura zu studieren pflegte: ohne Besuch der Vorlesungen, nur an Hand der von fleißigen Studenten mitgeschriebenen und vervielfältigten Kollegdarb1etungen. Dem entsprach es, daßl in Bildebrands Vorlesungen, zu denen wir etwa 100 Studenten eingeschrieben gewesen sein dürften, regelmäßig acht Hörer saßen. Ich wüvde diesen Entwicklungsg•an.g als Student unvollständig lassen, wenn ich nicht auch des Wertes der Erfahrungen im Militärd1enst gedenken würde. Die AusbiLdung in der Feldartillerie in der österreichisch-ungarischen Armee als Einjähriger brachte mich als Reserveoffizier nach Siebenbürgen. Dort wunde ich im Dienste eines Artillerieregiment, in dem die Mannschaft aus Rumänen (für den Dienst als Reiter, also mit der Pferdewartung betraut), Ungarn (für die Geschützbedienung) und Deutschen (für den Unteroffiziersdienst) bestand, mit den Schwierigkeiten der Verwaltung in Staaten mit national gemischter iBevö1kerung vertraut. Andererseits war es lehrreich, in dem Militävdienste eine Welt zu erkennen, in der die sozialen Verschiedenheiten des bürgerlich-"beruflichen Lebens der Soldaten durch ein kluges Offizierscorps vollständig überbrückt werden können. Nach Abschluß meiner juristischen Studien, mit drei Staatsprüfungen und drei akademischen wissenschaftlichen Prüfungen (Rigorosen), in denen die Staatswirtschaft einen erheblichen Teil des Prüfungsstoffes bildeten, trat ich zunächst in den Finanzdienst des Staates, folgte aber bald einer Berufung in den Dienst der Handels- und Gewevbelmmmer 'Zunächst in Graz und dann in Wien, eine Tätigkeit, in der ich vier Jahre für mein Wissen überaus wertvoUe praktische Arbeit tat, um dann weitere drei Jahre im Versicherungsaufsichts-

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amt des Österreichischen K.K. Ministeriums des Innern auch auf diesem Gebiet die wirtschaftliche Wirklichkeit kennenzuloernen. Dieser Dienstwechsel bedarf freilich noch einer 'Erklärung. Ich war während der letzten Studiensemester und nach dem Eintritt in den Dienst der K.K. Finanzprokuratur in rege Fühlung mit dem 0!1dinarius für S1Jatist1k, Prof. Ernst Mischler, gekommen, ha:be von ihm statistisch-historisches Material zu einer Untersuchung über die Illegitimität in Steiermark erhalten, diese Arbeit dann auch in den Statistisch,en Monatsheften mit soziologisch interessanten Ergebnissen ~ur Veröffentlichung gebracht. Lag diese intensivere Beschäftigung mit Statistik schon in der Richtung, eine breitere Grundlage für wissensch,aftliche und insbesondere induktive Beweisführungen zu gewinnen, so trat dieser Gesichtspunkt noch mehr in den Vorder:grund bei meiner Beurlaubung seitens meiner Dienststelle für eine Studiene:ngänzung in einem Semester in Leipzig. Da meine Bezüge in der Finanzpro~ur.atur nur in einem monatlichen TintengeLd von 40 Kreuzern bestanden, war der Udaub unschwer zu erreichen, und die Möglichkeit, dieses Semester möglichst fruchtbar werden zu lassen, habz ich gründlich ausgewertet. Ich härte Vorlesungen bei Bücher, der mich methodologisch als repräsentative Persönlichkeit der historischen Nationalökonomie besonders interessierte; außle11dem habe ich an den Seminarübungen außer bei Bücher auch bei Prof. v. Miaskowski und dem Statistiker Prof. Hasse als ordentliches Mitglied teilgenommen. Damit hatte ich mir den Ruf als statistisch geschulter Nationalökonom angebahnt und sowohl der Sieg über 140 Konkurrenten be1 der Bewerbung um die Stelle in der Grazer Handelskammer als auch die spätere Einberufung in das Versicherungswfsichtsamt im Ministerium waren die Folge. Daß ich mich nicht auf wissenschaftliche Arbeit beschränken durfte, sondern in die erwähnten praktischen Verwaltungsdienste getreten bin, hatte vor allem zwei Gründe: Erstens: die .geringen Aussichten, in Österreich in der akademischen Laufibalhn bald zu einer Existenzbasis zu gelangen, brachten es mit sich, daß man in der Regel, wenn man sich halbil:itieren wollte, einen wenigstens ein kleines Einkommen sichernden "Erwerbsberuf" ergriff, mit dem man die Tätigk·eit als Pdvatdozent an einer Hochschule verbinden konnte. Es zeigte sich dariru wenigstens in jener noch als normal ZIU bezeichnenden Zeit eine Eig·entümlichkeit der Österreichischen akademischen Nachwuchsverhältnisse, die dadurch begründet war, daß nur in ganz wenigen Fächern die Aussicht für einen Privatdozenten gegeben war, Kolleggelder in solcher Höhe zu vereinnahmen, daß man davon Jeben konnte. Denn dem Kolle.ggeldsatz, wie er z. B. in Bayern

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und Baden mät 5 Mark üblich war, stand in Österreich ein Satz von einem GuLden gegenüber und zudem war die Aussicht auf eine ausgiebig große Zahl von Hörern in Uruversitäten mit insgesamt 1000 bis 1500 Studenten für den Privatdozenten gering. Zweitens w:ußte ich meinen V1ater mit SchuLden von mißiglückten Zeitungsgründungen her bel,astet, sah es also als meine Pflicht an, so rasch .als mögLich auf eigenen Füßen zu stehen. Optimist war ich für mich nie, und so war es für mich nur eine Selbstverständlichkeit, in einen, wenn auch nüchternen, Verwaltungsdienst einzutreten, der aber doch ·einen Aufstieg sicher erwarten ließ und doch, auch wissenschaftliche Arbeit ermöglichte, womöglich auch anregte. Ich mußi .aber bekennen, daß auch ein Erlebnis am An:5ang meiner · Universitätsstudien mich in dem Gedanken an den akademischen Lehrberuf festhielt, obwohl in meinen Bez1ehungen zu meinem Lehrer Hildebrand eine Trübung eingetreten war. Nach wie vor hänge ich mit großer Dankbarkeit in der Erinnerung an ihm, da ich keinen Augenblick ver.kenne, oder verklannt habe, welche weitgehende Förderung ich durch sein Interesse für meine Arbeit erfahren habe. Hildebrand hatte meinen Entschluß, in den Dienst der Handelskiammer zu treten, begrüßt, mich aber lebhaft immer wieder aufgefordert, mich zu habilitieren. Tatsächlich fehlte ja wirklich in der GrCl!Zer Fakultät der Nachwuchs für unser Fach. Meine 1895 bis 1898 veröffentlichten Arbeiten, insbesondere zu den damals vom Verein für Sozialpolitik veranlaßten und von Bücher und Philippovich geleiteten Untersuchungen über die Handwerksverhältnisse und insbesondere die Lebensfähigkeit des Handwerks hatten Hildebrands Zustimmung gefunden. Als ich ihm aber meine in der Wiener Zeitschrift für Volkswirtschaft erschienene Abhandlung über die Bedeutung des Bedarfs für die Entwicklung der gewerblichen Betriebsformen zur Beurteilung ihrer Eignung als Habilitationsschrift brachte, wurde ich überrascht durch die Schroffheit seiner Ablehnung. Hildebrands Anregung folgend, war aber schon mein Leipziger Studiensemester ein Anlauf im Hinblick auf Habilitationsabsichten gewesen.

Nuiliiilehr stand ich vor der Frage, ob ich. diese ~aufgeben sollte. Da empfing ich kurz nach dem negativen Urteil Hildebrands eine Anfrage von\ der Wiener Handelskammer, ob ich gewillt sei, einem Rufe in ihre Dienste zu :ßolgen. Das ver.anlaßte mich, Fühlung mit Philippovich ·zu suchen, um sein Urteil über meine Aussichten für eine Habilitat.ion in WLen zu erhalten. Da dieses Urteil positiv ausfiel, nahm ich die Berufung in die Wiener Handelskammer an und verließ meine eng·ere Heimat.

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In einem Vortr.age auf dem Deutschen Studententag in München 1954 hatte ich zu zeigen, daß, ein scheinbar flüchtiges zufälliges äußer·es Erleben zur entsch.eitdenden Tatsache für die ÜberLeg;ung·en werden kann, deren E~gebnis schließlich die Wahl des Berufs und damit die Lebensaufgabe werden sollte. Ich war im August 1890 als junger Student der Rechte nach jenem sonnigen Heidelberger Semester durch einen Besuch ;in den Slums von Whitechapel zu einem Einblick in die gmuenerregenden Lebens- und insbesondere Wohnverhältnisse der Londoner Dockarbeiter gekommen. Die Notwendigkeit, diese furchtbaren Elendsverhältnisse aus der Welt zu schaffen, hat mich damals erfüllt und die jugendliche Begeisterung war Grundlage des Glaubens, es bedürfe nur des entsprechenden Wollens, um diese menschenunwürdigen Daseinsverhältnisse zu beseitigen. Die englischen Sachverständigen, mit denen ich damals über meine Eindrücke sprechen konnte, wußten mich zu i1berzeUJgen, daß es nur gelte, diese bishin nicht organisierten Dockal'lbeiter ·zu einer einlheitlichen Haltung in der Wtahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen zusammenzufassen, sie gewerkschaftlich (in einer tr.ade union) zu or,ganisieren. Zunächst haben freilich die ·Eindrücke von diesem Weg durch Whitechapel mein Denken nur sehr unsbestimmt auf die Notwendigkeit des Helfenmüssens gelenkt. Immerhin war es für mich eine Selbstverständlichkeit, daß ich mich, in die Heimat zurückgekehrt, in den Dienst der freiwilligen Armenpflege im Rahmen des .Elberf.elder Systems stellte, als dieses baLd .darauf durch den außerordentlich v·erdienten Landtagsabgeordneten und Landesausschuß Dr. Reicher für Steiermark 'ins Leben gerufen wurde. Obwohl die letzten Semester der juristischen Studienzeit der Vorbereitung der Prüfung,en gehörten, habe ich diese sozi,ale Dienstleistung fortgesetzt und nie bereut, und zwar ganz besonders auch deshalb, weil ich dadurch nicht nur mit wil1klicher schuldloser Bedürftigkeit, sondern auch mit schwerverschuldeter Armut bekannt wurde, der gegenüber auch die :vationellste Pflege keinen Erfo1g zu bringen vermochte. Ich hatte da bereits Gelegenheit, sehen zu lernen, daß es durchaus nicht bloß auf die betriebswirtschaftlichen Verhältnisse, die geset·zlich beeinflußt werden können, ankommt, wenn es gilt das Elend zu bekämpfen, sondern weitgehend auf den Menschen, ob diese sozialen Maßnahmen zu Erfolgen fuhren. Waren diese Eindrücke aus der Armenpflege geeignet, mich auch in dem Grauen von Whitechape.l viel Verschuldetes zu sehen, so traten doch diese ·ErinnerungsbiLder mit der vollen Wucht ihres Grauens und maihnten mich, :an den damals gefaßten Gedanken festzuhalten: mit-

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zuwirken bei der Aufgabe der menschlichen Gesellschaft "d e sauver I es m i s er ab I es". So ~am es also zu meiner Habilitation. Zwei Ja:hre schärfster Arbeit 1898 bis 1900, denn auch der Ministerialdienst bracht~ während der Zeit, in der ich an meinem Buche, das als Habilitationsschrift gedacht war, arbeitete, ein gerütteltes Maß von Auilgaben, da im Aufsichtsamt der Entwurf des Gesetzes für eine Angestelltenversicherung ausgearbeitet wurde. Das war außerordentlich interessant und lehrveich, insbesondere auch durch den Verlauf der Sitzungen, in denen die überragende Persönlichkeit meines Chefs, Excellenz Sektionschef Dr. v. Wolf, den riesigen und ungeheuer heiklen Stoff souverän beherrschte, und seine reichen Evfah:mngen aus der erlebten Wirklichkeit bei der F1assung von Normen für zukünftiges Seinsollen zu ·verwerten verstand. Er war ·ein Gutes wollender Weiser, dem ich ,g.ern hier dies Wort dankbaren Erinnerns weihe. Aber manche Woche täglichen Dienstes von 9 Uhr früh mit kurzer Mittagspause bis in die späten Albendstunden, waren oft schwer ,bedrückend. Gegenüber der meist bis über Mitternacht aus1gedehnten Arbeit an der Habilitationsschl'ift bildeten nur die Streichquartette und Triobeziehung:m Stunden allerdings wertvollster Erholung. Die betreffenden Abende waren bei meinen sehr knappen Dienstbezügen - man ihtatte im ersten Dienstjahre einer definitiven Anstellung ein Drittel des Gehaltes als Ernennungsgebühr abzuführen! - auch kulinarisch sehr erholsam, da mein Abendbrot in der Regel nur ein halber Liter saurer Milch. mit einem Stück Brot war. Den Lohn für diese harten Arbeitsjahre erntete ich in der überraschend. baldigen Berufung auf eine deutsche Hochschule. III. Die GrundLage meiner Habilitation in Wien bildete eine Untersuchung über die Probleme des Minimallohns, die einen Band von über 400 Druckseiten umfaßte. Dieses Buch brachte eine breite historische Darstellung des Vorkommens der Minimallöhnung in der Vergangenheit und eine Prüfung der ökonomischen Erfolgsmöglichkeit einer sozialpolitischen gesetzlichen Einführung des Minimallohns in einem modernen Sta,at. Nur im Wintersemester 1901/02 habe ich in Wien als Privatdozent eine Vorlesung (über Ökonomik des Versicherungswesens) gehalten, die überraschend •gut besucht war und meinen Mut zur so sehr problematischen akademischen Lauf.bahn wesentlich belebte. Wohl auch auf Grund des .guten Erfolgs meiner wissenschaftlichen Arbeit, wurde ich

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im Frühj,a hr 1902 1b ereits an die Technische Hochschule in Karlsruhe berufen, an der ich bis 1920 als Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolit:ilk. und Finanz·wissenschaft, im Studienjahr 1912/13 auch als Rektor der Hochschule wirkte. Ich schätze diese Berufung an die T.H. als eine besonders glückloiche Wendung in meiner Berufsentwicklun,g, da ich durch die enge Fühlung mit Kollegen, erstklassigen Männern der Technik, aber auch mit r·eiferen Schülern, die oft auch schon nach praktischem Wirken in ihrem Fach im Ausland noch z;u systematischer Schulung an die Hochschule zurückgekommen waren, zu überaus wertvollen Erkenntnissen über ökonomische Probleme der Unternehmung, aber auch über sozialpolitisch orientierte Aufgaben der Betriebsfüihrung gelangte. Berufungen nach Innsbruck (1910) und Gießen (1913) hatte ich abgelehnt, folgte aber nach Kriegsende 1920 einer Berufung an die Universität Breslau, von der ich jedoch schon im zweHen Semester meines dortigen Wirkens ·als Nachfolger von Max Weber nach München berufen wurde. Von München, wo ich außer der Nationalökonomie auch Finanzwissenschaft, Statistik und Versicherungsökonomik zu lehren hatte, erhielt ich 1925 zum ersten Male, 1926 zum zweiten Male eine Berufung an die Universität Wien. Auch dieser Berufung foLgte ich nicht, weil ich die Überzeugung gewonnen hatte, als deutscher Professor für die Verbesserung der wirtschaftlich.en Beziehungen zwischen dem Restösterreich und Deutschland erfolgreicher wirken zu können. In dem Gefühl, auf diesem Wege dem alten Heimatsta,at dienen zu können, fand ich mich bestärkt durch die Gegnerschaft in bayerischen Industriekreisen, der ich bei einem Vortrag im Frühjahr 1926 begegnete, in dem ich die Wichtigkeit dieser wirtschaftlichen Verbindung der staatlich, aber ganz besonders auch unter dem Gesichtspunkt vo1kswirtschaftlich.en Lebens zu einem Torso gewordenen habsbu11gischen Erblande mit dem deutschen Reich zu beweisen unternommen hatte. Die Wichtigkeit .auch für die deutsche Wirtschaft! Denn die Zerschlagung der eine Zolleinheit bildenden Österreichisch-Ung.arischen Monarchie in neue Zollgebiete mit nationaler und d. h. jedenfalls nicht deutscher Orientierung bedeutete zunächst eine Beeinträchtigung des deutschen Außenhandels, ließ also das Interesse, wenigstens mit den deutschen Kronländern in möglichst intensive Wirtschaftsbeziehungen zu kommen, offenkundig bedeutsam genug erscheinen. Darüber ließen die Arbeiten der Reichswirtschafts-Enquete zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft keinen Zweifel.

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Dem durch ein Reichsgesetz von 1926 ins Leben gerufenen Ausschusse zur Durchiführung dieser Untersuchung,en gehörte ich als ständiger Sachverständiger an. Diese Tätigkeit von 1926 bis 1930 bildete eine erhebliche Belastung, denn sie machte in diesen Jahren viele Monate hindurch neben der Versehung der Lehramtspflichten wöchentlich Fahrten zu den Enquete-Sitz1llligen und Vernehmungen in verschiedenen Teilen des Reiches erforderlich. Gleichwohl freue ich mich heute noch, an diesen Untersuchungen teilgenommen zu haben. In solchen enquetemäßigen Erhebungen, an denen mitzuwir:ken kein Theoretiker sich entgehen l1assen sollte, können Einblicke in Zusammenhänge und Abhängigkeiten gewonnen werden, die nach Wahrscheinlichkeit nicht erwartet werden. Das hat sich ,ganz besonders lehrreich in der Untersuchung über die Wirkung von Lohnerhöhung und Arbeitszeitänderungen bei wachsender Mechanisierung und stärkerer Verwendung von Maschinenarbeit gezeigt. Freilich waren die letzten Jahre dieses ersten Nachkriegsjahrzehntes hoch geladen mit Problematik. Habe ich doch im Frühherbst 1929 auf einer Generalversammlung der Gesellschaft für soziale Reform in Mannheim schlarfe Angriffe auf mich ,gezogen, als ich angesichts der Weltwirtschaftslage glaubte, die deutschen Arbeiter vor einer sehr schro:fif.en Lohnerhöhungspolitik warnen zu müssen. Die Angriffe, die seitens der Gewel1kschaftsvertreter gegen mich, der ich doch 30 Jahre begeisterter Vorkämpfer für die gewerkschaftliche Politik gewesen bin, gerichtet wurden, haben sich kaum ~ein halbes Jahr später als ebenso irrig erwiesen, wie meine Wamung als richtig, als die Entlassungen der Anbeiter in jenen unheimlichen Dimensionen begannen, die zu Millionen Arbeitsloser füthrten. Man edebte in Deutschland damals einen der Fälle, in denen die Menschen aus der Erfahrung lernen konnten, daß die so viel erörterte Frage, ob in der Wirklichkeit der Wirtschaft ökonomische Gesetz,e gelten oder ob sich Macht gegen 'gewisse Gesetzmäßigkeiten durchzusetzen vermag, überhaupt nicht mit solcher Alternative gestellt werden sollte. Zweifellos hatten die Gewerkschaften damals eine starke Machtstellung erreicht Wld es vermag solche gut organisierte wirtschaftliche Interessenvertretung als Macht ihre Forderungen durch:rusetzen, soweit es die ~Elastizität ökonomischer Zusammenhänge g,estattet. Es sind aber überhaupt nicht wirklich Gesetzmäßigkeiten im strengen Sinne des Wortes, gegen die sich jeweils Macht durchsetzen will und oft auch kann, sondern es ist nur die Unzweckmäßigkeit des freien Waltens produktiver Kräfte unter dem Gesichtspunkt ihres Wirkens auf das gemeine Wohl, so d:aß Machtmaßnahmen, die sich über natürliche oder technische Grundlagen der Wirtschaft hinwegsetzen wollen, an diesen GrundLagen zerbrechen. 2 von Zwledineck-Südenhorst, I

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Der Glaube, daß Macht unter allen Umständen ökonomische Gesetzmäßigkeiten zu durchbrechen vermöge, hat den Geist der nationals~tischen Staatsführung beherrscht, hat aber auch das deutsche Volk in den Albgrund geführt. Es war durchaus nicht alles falsch oder schlecht, was die nationalsozialistische Wirtschber ein in Österreich von mir gefälltes Urteil über die Geldpolitik der nationalsozialistischen Regierung genauer zu berichten und, je nach dem Inhalt dieses Urteils, es zu widerrufen. Zur mündlichen Rechtfertigung vorg·eladen, empfing mich der Minister in Gegenwart seines Staatssekretärs laut schreiend mit Beschimpfungen. Gegen diese Ungehörigkeit protestierte ich. energisch mit der Versicherung, daß ich nicht schwerhörig sei, es aber auch nicht zu werden wünsche. Wohl diese nicht mißzuverstehende Bestimmtheit meiner Haltung mit der Verweigerung irgend einer Art von Korrektur oder gar einem Widerruf meines an Gm·zer Kollegen geäußerten Urteils führte schließlich zum Verzicht des Herrn Ministers, "mein Verbvechen" weiter zu verfolgen. Das war mir wichtig, denn ich hatte 1934 mit Professor Albrecht (Marburg) die HerauSigaJbe der J.ah~bücher für Nationlökonomie übernommen, und es galt das Erscheinen dieser Zeitschrift als aufrechtes Organ im Dienste wirklicher wissenschaftlicher Sauberkeit nicht durch die politische Bedenklichkeit eines der Herausgeber zu gefährden. Ich bin heute noch überzeugt, daß diese Erledigung "meines Verbrechens" - dieses war ja auf dem Wege über das deutsche Konsulat in Graz dem Auswärtigen Amt in Berlin gemeldet gewesen - auf das Eingreif·en von Rudolf Hess, den Stellvertreter Hitlers, zurückzuführen war, da Hess eine ZeitLang in meinen Vorlesungen und Übungen sozial·wissenschaftliche Schulung sucht€ und seine persönliche Vevehrung für mich nicht verhehlte. Zwei Jahre später bin ich neuerlich in ausdrücklichsten Geg.ensatz zur Parte1diszipli:n gekommen in meiner Funktion als wissenschaftlicher Präsident der Deutschen Akademie. Ich wollte deren Führung nicht den Organen der nationalsozialistischen Gewalthaber unterstellen lass·en. In diesem durch mehrere Monate sich hinziehendem Kampf, der sich bis zu einer Pistolenforderung zuspitzte, bin ich unterlegen.

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Das Offiziersehrengericht meines Gegners hat mir zwar vollständige WiederherstellWlg meines ehrlichen Namens verschafft, a1ber die Führung der Deutschen Akademie wurde, nachdem ich aus ihrer Führung ausgeschieden war, den Zwecken der nationalsozialistischen Politik unterworfen, sie wurde eine Spionageorganisation. Die Unterdrückung wissenschaftlicher .Aiuffassungen machte auch die Auflösung des Vereins für Sozialpolitik 1936, in dessen Leitung ich auch tätig war, unvermeidlich, da seine wissenschaftlichen Ziele mit den von den nationalsozialistischen Machtträgern verfolgten Wegen der Soz1alpolitik nicht mehr in Einklang zu !bringen waren. Gl.eichzeitig evfolgte meine Emeritierung: Die Entpfiichtung im Lehoomt. Auch das Duldungsverhältnis, in dem sich unsere Zeitscllrift dem Propagandaministerium gegenüber befand, endete im Jahre 1942. Unsere FührWlg dieses altehrwürdigen wissenschaftlichen Organs war den Funktionären des Propagandaministeriums nicht mehr genehm. Hauptsächlich gegen mich richtete sich die DrohWlg dieser Regierungssteile, unsere Zeitschrift der Vorzensur zu unterwerfen. Dieses Verdikt war :bestimmend für Albrecht und mich, von der Herausgeberschaft der Jahrbücher zurück~utreten. Im Jahre 1944 beschloß die Rechts- und Staatswissensch·aftliche Fakultät der Universität Sonn die Verleihtmg des Ehrendoktorates verum politicarum an mich. Am Tage vor der angesetzten Feier, zu der ich geladen war nach Sonn zu kommen, erhi.elt ich die telegraphische Mitteilung, daß der Unterrichtsminister diese EibrWlg untersagt habe. Auch dies war eine Stmfmaßnah.me gegen den politisch unverläßlichen Akademi.k.er. Als sie verfügt wurde, war Rwdolf Hess bereits in englischer Gefangenschaft. Ob er sie damals noch hätte verhindern und für mich die Ehrung zur Verwirklichung bringen können, ist, fraglich. Die Emeritierung im Amt :bedeutete zwar nicht di·e UntersagWlg, weiter zu lehven, aber auf meine Stelle wurde Eduard Lwkas ,als mein Nachfolger berufen und ich selbst hatte angesichts der immer offenkUUidi!ger wemenden Kontrolle jedes von mir geschriebenen und gesprochenen Wortes keine Lust mehr, den Machthabern ein Objekt für ihre Angriffslust z~ bieten. Ich W!ar in meiner die Diktatur des Nationalsozialismus ablehnenden Haltung bekannt genug, um nach dem Zusammenbruch 1945 es der amerikanischen Besatzung mög.lich zu machen, mich im Juli dieses J~ahres zur Leitung und schließlich,en LiquidierWlg der durch Spionagedienste in so üblen Ruf gekommenen Deutschen Akademie zu berufen. Die Wiedel1h.erstellung des .guten Rufes dieses ursprünglich hochvel1dienstlichen Institutes zur v.erbreitung deutscher Kulturwerke 2•

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im Auslande kam nicht mehr in Fra:ge. &ber es galt, das nicht unbeträchtliche Vermögen, das in den letzten Jahren vollständig der nationalsozialistischen Politik dienstbar gemacht worden war, zu verwalten und einer dem amerikanischen Militärkommando zusagenden Verwendung zuzuführen. Trotz dieser offenbaren Vertrauensstellung, in der ich mit v•erschiedenen Kommandostellen der USA-Besatzung zu tun hatte, wuvde ich .am 25. Oktober früh morgens aus meiner Wohnung, eine halbe Stunde Autofahrt außerhalb Münchens, verhaftet und zum CIC bei stürmischen Regenwetter in offenem Lastkraftwagen gebracht. "He is a poor fellow" hörte ich einen der Gensdarrneu zum Wagenführer sagen. Schon hatte man mir Geld, Federmesser und alle Ausweispapiere •abgenommen, als ich energisch wurde und mit sehr laut ·erhobener Stimme Protest g•egen: diese absolut widerspruchsvolle Amtshandlung erhob. Ich. bin auch in diesem Fall überzeugt, meiner energischen Haltung es ve:r.dankt zu haben, daß sich, ein Captain einschaltete, um mich sofort zu vernehmen, da ich andernfalls eine mehrwöchentliche provisorische Haft zu erwarten gehabt hätte. Da ich von einer anderen Stelle der Besatzungsmacht mit dem Vertrauensposten als kommissarischer Präsident der Deutschen Akademie betraut worden war, ließ sich die Verhaftung nicht wohl rechtfert1gen und ich forderte die Mitteilung des Grundes meiner Verhaftung. Der Bescheid des Captain lautete: weil aUe Professoren, die während des nationalsozialistischen Regimes gelehrt haben, mit schuldig seien an allem. was geschah. Nach einem zweistündigen Verhör, in dem ich dem Gaptain keinen Zweifel darüber ließ, daß meiner Überzeugung nach HitZers ErfoLg im deutschen Volk zum großen Teil durch die irrige EinstelJung der Großmächte in den Jahren vor dem Kriegsausbruch mit verschuldet war, verkündete er mir den Bescheid, daß ich wieder nach Hause gehen dür.fte. Meine selbstverständliche Anforderun·g eines Wagens wurde glatt bewi11igt. Der Captain selbst bemühte sich, mir denselben zu besorgen. Die folgende Zeit der Besatzung blieb aber immerhin noch hart genug. Die furchtbare Verwüstung der Universitätsräume schien aufs erste jede Lehrtätigkeit in der Universität unmöglich zu machen. Aber es drängten die nach geistiger Arbeit dürstenden jungen Menschen, namentlich die vielen aus dem Felddienst :zJurückkehrenden, nach Vorlesungen, und so war es eine Selbstverständlichkeit, daß ich mich trotz meiner 75 Jahre zur Lehrarbeit wieder zur Verfügung stellte. Dies war um so1 mehr notwend1g, als nur noch zwei von den volkswirtschaftlichen Lehrkräften zur Lehrtätigkeit von der Besatzungsbehövde zugelassen wurden, davon war einer Minister, der andere war

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ich. Die übrigen waren durch i!hre Beziehungen zur nationalsozialistischen Regierung oder zur Partei als unverläßlich bez;eichnet gewesen und hatten die Erlaubnis zu dozieren zunäcll:st nicht wieder bekommen. So hatte ich wieder regelrechte Vorlesungen und Übungen in nicht zu geringer Zahl zu leisten und erst allmählich kamen auch andere Lehrkräfte wieder zur A11beit zurück. Es war eine unsagbar schwere Zeit und doch war sie schön, sie war schwer, schO!Il weil die Hörsäle fehlten und man unter allerungünstigsten Bedingungen seine Lehvavbeit zu erfüllen hatte. Sie war schwer auch, weil die Jahre hindurch unter dem Druck des Lebensmittelmangels gesteigerte materielle Bedürftigkeit die jungen Mensch.en jedem geordneten systematischen Denken entfremdet hatte. Wohl hatte Unzulänglichkeit der Ernährung schon in den letzten Kriegsjahren sich genügend fühlbar g·emacht, aber die ersten Jahre der Besatzungszeit waren eine Periode wirklichen Hungerns. Die SachLage entspvach den Ideen Morgenthaus. Ich hege stark Zweifel, ob ich heute dieses Vorwort schreiben könnte, wenn mir nicht durch die menschenfreundliche Gesinnung eines Ehepaars in USA geholfen worden wäre. Eines Tages hatte im Herbst 1946 in der New-YorkerTimes ein Bericht über die ElendsLage gestanden, in der sich so viele deutsche Universitätslehr·er befänden. Unter den älteren Lehrern der Universität München war auch mein Name genannt und etwa zwei Wochen danach erhielt ich eine .beglückende Anfrage von Pau.l Boettger und seiner Fmu Elisabeth, ·einem aus Mecklenburg nach USA ausgewanderten ·Ehepaar, aus dem historisch ehrwürdigen Mount Vernon, ob mir nicht die Zusendung von Lebensmitteln verschiedener Art erwünscht wäre. Daß ich diese Frage freud1g bejahte, ist begreiflich genug, denn schon waren aus meinen Schränken die schönsten Wäschestücke in niederbayerischen Bauernbesitz abgewandert, um für die Verpflegung der Mitglieder meines Hauswesens die notwendigen Lebensmittel, insbesondere Fett, gediegenes Bauernbrot u. ä. einzutau•chen. Wir Nationalökonomen hatten Gelegenheit, in die revolutionäre Umwertung von Güterwerten Einblick zu gewinnen, die sich damals unter dem Einfluß des Mangels in den eingel·ebten Bedarfs,gütern vollzog. Ich setz·e diesen hilfsfreudigen und opferbereiten Menschen mit der Nennung ihrer Namen dankerfüllt gern dieses lite!'larische Denkmal, indem ich melde, daß sie in allden Jahren bis Weihnachten 1954 mich reichlich mit oft mehrere Kilogramm schweren Sendungen von Lebensmitteln und Wäsche aUe paar Monate versorgt haben. Unvergeßlich aber .auch der freudige Dank der Frau Elisabeth, die immer die Korrespondenz führte, für die Sendung von Fritz Reuters Werken.

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Nun noch ein Wort zu meiner wissenschaftlichen Arbeit in den 60 Jahren seit der Erreichung des Doktorates 1895, von welchem Datum meine Arbeit in der politischen Ökonomie begonnen hat, rugleich ein Wort über di·e Abweichungen der von mir vertretenen Lehren von älteren Lehrmeinungen. Daß gegenüber den in ihren Wurzeln bis in die klassischen Lehren und auch in physokratisches Gedankengut zurückgreifenden Auffassungen von den ökonomischen Zusammenhängen in meinen Schriften manches anders gesehen wird, hängt mit den Tatsachen zusammen, die in den Jahrzehnten unseres 20. Jahrhunderts die Weltgeschichte geschrieben haben. Und sie haben nicht nur in die politischen Landkarten, sie haben auch in der Wirtsch·aft F11aktur geschrieben. Da ich mit den ersten 30 Jahren meines Lebens und damit meiner Erfahrung dem 19. Jahrhundert angehört habe, .glaube ich wohl mitunter, das richtigere Gefühl für die Bedeutung der gewaltigen Änderung im Lebensstil zu haben, die das Abendland seither erlebt hat, als jene viel Jüngeren, deren Denken schon ganz diesem 20. Jahrhundert ·angehört. Ich erinnere daran, daß die sozialpolitische Ideenwelt am Anfang meines sozialwirtschaftlichen Interesses stand. Und ich muß im Hinblick auf meine spätere Auffassung von dem Wesen der Sozialpolitik feststellen, daß auch ich an jenem Anfang Sozialpolitik im Sinne aller jener Bestimmungen und Maßnahmen verstanden habe, die die Probleme der "A:rlbeiterfragen" bildeten, wobei der immer wieder leitende zentrale Gedanke herrsch·end war, daß1 es gelte, die Masse der unselbständigen Alibeiter, namentlich aus Industrie und Be11gbau, aus menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen zu befreien. Auch das 'I1hema und der Titel meiner Habilitationsschrift über den Minimallohn war aus diesem Interesse heraus gewählt: Lohnpolitik und Lohntheorie. Denn schon die Gegenüberstellung dieser beiden Begriffe in dem Titel sollte erkennen lassen, daß es galt, die ·Frage zu erkennen, db die Ausbeutung der Lohnarbeiter im Arbeitsvertrag durch eine MindestlohngesetZigebUilig überwunden werden kann und es galt eine Antwort zu ·geben, die den bisher ·erarbeiteten Erkenntnissen unserer Wissenschaft .genügt: ist solche Lohnpolitik theoretisch sinnvoll und möglich? Mit dieser Fragestellung war die Aufgabe in i:hrer Doppelnatur vorgezeichnet. Es hat in der Vergangenheit reichlich genug Arbeitsverhältnisse gegeben und damit auch Arbeitsverfassungen, in denen irgendwie eine Mindest-Satzung für die Lohngestaltung zur Geltung gebracht worden ist. Soweit war es eine historische Arbeit, die Voraussetzungen zu erkennen, unter denen solche Normierungen vereinbart wurden und möglich sein konnten. Alber diese historische Auf-

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gabe wafl wieder nicht ohne Vertrautheit mit den in der Wirklichkeit wirksamen Energien zu lösen, die das wirtschaftliche Geschehen maßgebend bestimmen. Jedes .Eindringen in die Wil'klichkeit der Vergangenheit mit v·e rläßlicher historischer Gewissenhaftigkeit belehrt darüber, daß es Voraussetzungen jedes wirtschaftlichen Geschehens gibt, die nicht konstant, sondern Veränderungen unterworfen sind. Daß diese Voraussetzungen und ihre Wandelbarkeit erkannt sein müssen, !'echtfertigt es, daß die historische Schule ihre Methode organisch .genannt hat, weil sie in jeder Zeit das wirtschaftliche Geschehen als das Ergebnis der so vielen dauernd einer Entwicklung unterworfenen Bestimmungsgründe anerkennt, die wie in einem Or;ganismus jeweils zusammenwirken. Weil sich. auch sittliche Sindungen in solchen Bestimmungsgründen immer wirksam erwiesen haben, und zwar sowohl im Guten als auch im Bösen, hat sich die deutsche historische Schule nicht mit Unrecht auch a1s ethische Richtung verstanden wissen wollen. Sie hat damit freilich auch ihre kritische Einstellung gegenüber dem Utilitarismus, also jener Richtung betont, die den Zweck des menschlichen Handeins nur in dem Erzielen von Nutzen, in der Wohlfahrtsföl'derung erkennt. War ich schon durch Richard Bildebrand der historischen Betrachtungs.w eise nahegebrncht gewesen, so hat sich die Überzeugung von der Notwendigkeit historischer Arbeit oder mindestens auch historischer Orientierung der ökonomischen Forschung in •unserer Wissenschaft noch weiter verstärkt, als ich 1895, schon als österreichischer Finanzbeamter, für ein Semester zur Ergänzung meine.r Stud1en beur1aUJbt, dieses Semester in Leipzig bei Karl Bücher, eim~m der führenden Historiker der älteren nationalökonomischen Generation, und bei dem Statistiker Hasse verbrachte. Damals standen sich um die Wende des J.ah!'hunderts die großen Männer der Wien er Grenznutzenschule und die deutschen Historiker, insbesondere Gustav Schmoller noch recht erbittert feindlich .gegenüber. Das konnte mich aber nicht abhalten, mich für die Arbeit heider Richtungen zu interessieren, zumal da mir des BerLiner Theoretikers Adolf Wagner vortreffliche theoretische Grundletg.ung der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, alber auch 'die Arbeiten meines verehrten lieben alten Freundes F. J. Neumann (Tübingen) so reiche Anreglllllg zu seLbständigem Weiterdenken g·e geben hatten. Ich war damit auf dem richtigen Wege. Wie sehr wertvoll habe ich diese theoretische Vorarbeit doch in meinen ersten Semestern in der Lehrtätigkeit in Karlsruhe empfunden! Ich möchte alber auch nicht versäumen, hier ausdrücklich mit wirklich.em Dankesgefühl der weitgehenden wissenschaftlichen Toleranz zu ·g edenken, mit der die doch selbstverständlich .a uf den antihistorischen Charakter

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der Grenznutzenschule eingestellte Wiener Fiakultät meine so stark historisch ori-entierte Habilitationsschrift 'aufgenommen hat. Die historische Perspektive meiner Arbeit w:ar an sich richtig, aber sie trug der im Laufe der Zeit eingetretenen Verschiebung in den Machtverhältnis'S'en zwischen den am Klassenkampf beteiligten Parteien nicht entsprechend Rechnung. iDenn als Wirkung der Klassengegensätze stellt sich die Nichtachtung der Bedeutung der gegnerischen Kl,asse als Gefahr für die gesellschaftliche Gesamtleistung dar. Ja, die Schwächung der Gegenpartei wird im Verlauf des &impfes geradezu ZUllll Ziel. Das kann alber nur eine Durchgangsphase sein. Man mag den Begriff Klassen~ampf in seiner schon von Bernstein treffend gek,ennzeichneten Problematik auffassen, wie man will, unter allen Umständen kostet der Kampf an sich Kraft, die den Zwecken der Vergesellschaftung, der Mehrung der Leistungsfähigkeit schlechthin zuwiderläuft. Und so kann sinnvoll Sozialpolitik im letzten Grunde nur auf A b s c h w ä c h u n ,g de r K I a S· s e n g e .g e n s ä t z e , a 1 s o a u f B e f r i e d u ng a b z i e 1 e n. Leider ist dies nicht communis opinio in der sozialpolitischen Pr:axis. Denn! wäre sie ~es, dann dürfte der Streik als 'ausgesprochene Kampfmethode nicht legalisiert wer:den, ·was unter demokratischen, ja auch unter nur liberalistischen Gesichtspunkten im Albendland verfassungsmäßig geschehen ist. Aber auch. wo Sozialpolitik nur liberalistisch ohne Staatseingriff durchgesetzt werden will, wie in verschiedenen UISiA-Staaten und in vielen ihrer Gewe11kschaften, mit dem System der c o u. n t e r v a i 1 in g p o w e r wird zwar der Kampf zwischen sozialen Partnern als Vorstadium bejaht, als Ziel aber ist die Befriedung gedacht. Nachdem die liberalistische Ära die obrigkeitlichen Ordnungen des Mittelalters überwunden hatte, war von der Mitte des 19. Jahrhunderts die Klassenkampf-Idee wirksam gewo11den und sch·eint nach den Episoden der Kriege und des Nationalsozialismus in Deutschland mit der Kampfankündigung seitens der Gewerkschaften im Frühherbst 1954 wieder vollaktiviert werden zu sollen. Das M a c h t b e w u ß ts e i n scheint das Gesetz des Handeins diktieren ru wollen. Dem gegenüber möchte man das Motiv des englischen LokomotivführerStreiks geraderu als Symptom einer berufsständischen Ordnungsidee deuten, denn dieser Kampf galt der Aufrechterhaltung einer Abstufung des Arbeitsertrages nach Verantwortung und Leistung. Die Lehraufgalbe in Karlsruhe war weit abgesteckt und ich fand an den sehr aufnahmefähigen Hörern in den ersten zwölf Jahren bis rum Ausbruch des ersten Weltkrieges so reichliche Anregung zur Ausgestaltung meiner Vortragsarbeit, daß ich in diesen Jahren zwölf ver-

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schiedene Vorlesungen ausgearbeitet habe, für die ich stets ein stark interessiertes Auditorium hatte . .Aiber in dem Verkehr mit meinen Hörern, insbesondere in den Übungen mit völlig freier Diskussion ward ich deutlich inne, wie wichtig für diese angehenden Männer der Technik, die doch in der Praxis zu allermeist mit der Produktion von Gütern zu tun haben würden, eine möglichst einfache und klare OrienUerung über die Marktvorgänge und insonderheit über das Zustandekommen der Preise all der Erzeugnisse der Technik sein muß,te. Damit trat die Lehre vom Preis in meinen Vorlesungen und damit selbstverständlich auch in meinen wissenschaftlichen A.r.beiten weit in den Vordergrund meines Forschens. Zurückblickend glaUibe ich sagen zu dürfen, daß ich damals im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts die Lehre von dem Zustandekommen der Preise durch die Untersche~dung mehrerer Typen von Preisbildungsvorgängen auf ein der Wirklichkeit näheres Niveau gebracht ha~be, als dies durch die damals im Vordergrund stehenden sowohl die subjektiven (Grenznutzentheorie), als auch durch die objektiven Theorien, unter denen die Kostentheorien .am stärksten verbreitet waren, geschah. Mit Genugtuung vermag ich darauf hinzuweisen, daß ich manche Problemstellung so erkenntnisreif gemacht haibe, daß junge akademische Lehrer der heutigen Gene11ation mit ihnen zu arbeiten als zweckmäßig anerkennen. Das ,Entscheidende in dieser Wandlung ergab sich aus der F r a g es t e ll u n g. Denn .auch die Kosten waren und sind mem Wesen nach Preise. Die Fragestellung mußte also a.us dem Preiszusammenh:ang herausgeführt we!'den, wenn man auf letzte kausale Energien der Dynamik des ganzen sozialökonomischen Prozesses stoßen will. Die reichlich und so sehr oft zu beobachtende Tatsache, daß Preissteigerungen für Güter, deren Angebot innerhalb einer verhältnismäßig .absehbaren Zeit vermehrt we11den kann, alsbald von Preisstürzen albgelöst werden, weil die Zahl der Konkurrenten, die auf die Preis-Hausse reagieren, ihr Angebot an Ware gesteigert haben, zu groß ist, also das Marktangebot um mehr, als dem Bedarf entsprach, gesteigert wird, wie es der Preissteigerung entsprochen haben wül'de. Es ist also ein Q u .a n t e n p r ·o b I e m zu lösen, d. h. die Frage, in welchem Ausmaße das Reagieren der Anbieter einer Ware auf eine Preissteigerung nur folgen darf, damit ein die Übernachfrage, die längere Zeit z;ur Geltung gekommen war, korrigierendes Mehrangebot ein richtiges Preisniveau bewirkt. Die Folge dieser Problematik ist die Erkenntnis, daß freie Konkurrenz an sich noch nicht von Preis z u und -über spitzungen abhält.

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Da jeder Wirtschafter - gleichviel, ob er nach seinem Wirtschaftsplan zu kaufen oder zu verkaufen hat - bei seinen Überlegungen von der letzten Ma~ktlage für das zu kaufende oder anzubietende Gut ausgeht, kommt dem letzten Marktpreis ein erhebliches Gewicht für die P r e i s f o r t s e t z u n g zu, und bei einer im großen Ganzen eine gleichmäßige Entwicklung nehmenden Marktwirtschaft wird so der Marktpreis ein gewisses B e h a r r u n g s v e r m ö g e n , eine T e n den z , sich zu erhalten, erkennen lassen, die man auch als Trägh e i t s ·g es e t z bezeichnen kann. Dieses Beharrungsvermögen wirkt auch auf den Konsumenten, so d:aß von einem Trägheitsgesetz des Konsums gesprochen wird. Auch von der Haltung der Konsumenten her, also subjektiv, hat diese Beharrungstendenz eine Stütze. Man steht nun· freilich hier vor einem Zusammenhang, der durch die Massenhaftigkeit der Nachfrage und die damit zusammenhängende Schematisierung des Konsums nach Einkommensschichten der Konsumenten zu einer Abschwächung der in d i v i du e 11 e n Auswahlfunktion auf dem Markt führt. So .spielt also schon die E i n k o m m e n s v e r s c h i e d e n h e i t in die Erklärung der Preisbildung herein. Aiber das Geldeinkommen, um das es dabei geht, hat überhaupt erst in der nachklassischen Zeit ein besonderes Gewicht bekommen. Wohl ist die Aufteilung des gesamten SoziaLproduktes auf die verschiedenen Einkommensarten (Lohn, Zins, Unternehmergewinn, Bodenrente) von jeher Gegenstand sorgfältigen 'I'heoretisierens gewesen, aber die Wirksamkeit der Geldeinkommenänderungen in den breiten Massen der Bevölkerung und insonderheit die Bildung von sogenannten Preiseinkommen (namentlich Gehalt, Lohn u. dgl.), hat die längste Zeit keine entsprechende Erörterung gefunden. Das ist historisch wohl zu erklären, denn im Laufe der letzten 100 Jahre erst hat in den europäischen Staat.swesen ziemlich allenthalben die Q u o t e d e r n a t u r a 1 w i r t s c h a f t 1 i c h e n E i n k o m m e n erheblich an Bedeutung verloren. Es fehlte auch an solchen Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen, die einer größeren Zahl von Einkommensbeziehern, wie sie heute in Beamtenkategorien, aber auch in Arbeiterschichten, die unter einheitlicher Lohnnorm stehen, gegeben sind, auf einen einheitlichen Termin eine merkliche Erhöhung des ·Einkommens bringen können. iDie Vereinbarung fester Geldeinkommen hat in der Haushaltsführung der breitesten Bevölkerungsschichten die wichtigen, dem Wirtschaftsplan entsprechenden Ausgaben ganz anders als bei Naturaleinkommenbe.zügen zu exakt rechenbaren Ausgabeposten .gemacht. Auch\ die Entwicklung der Lohngesetzgebung hat in dieser Richtung Bedeutung .gehabt. Innerhalb der Geldeinkommen waren es dann

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eben immer mehr auf längere Zeiträume besonders vertragsmäßig vereinbarte Entgelte, die, wie die Gehälter der Beamten, bei gesetzlicher Regulierung auf bestimmte Termine mit solchen Terminen erhebliche Änderungen der Kaufkraft der ·davon betroffenen Bevölkerungsgruppen erfahren ha:ben. Rasche, ausgiebige Erhöhungen gewisser Einkommen (Beamtenbeso1dung! und ihre Reform) konnten aber überhaupt erst mit der Entwicklung des Noten-, insbesondere des Banknotenumlaufs im privaten Verkehr erfolgen. Sie sind in ganz anderen Dimensionen und vJel plötzlicher als Metallgeldvermehrungen möglich geworden. So ist es naheliegend, daß die Tatsache im Verkehr auffallend wirksam wurde, wenn nach Gehaltsregulierungen in süddeutschen Staaten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Mietpreise für Wohnungen in "den Städten mit größerer Beamtenschaft merklich erhöht wurden: Die Nachfrage nach besseren Wohnungen, wenigstens nach mehr Wohnraum, war eine begreifliche Folge der Gehaltsregulierung gewesen, und da diese Mehrnachfrag·e nach Wohnraum nicht so rasch befriedigt werden konnte, konnte sich die Mietenerhöhung leicht durchsetzen. Diese Wirkung der Beamtengehaltserhöhung, die aber natürlich nicht nur auf Wohnungen beschränkt blieb, ließ deutlich erkennen, daß zwischen der Einkommensvermehrung (wenn sie sozusagen in breiter Front, plötzlich um merkliche Quoten vollzogen wurde) und der Kaufkraft des Geldes eine innere .Albhängigkeit bestand, die nicht ohne Wirkung bleiben konnte. Bleibt die Erhöhung der Preise wirksam, weil die Marktversorgung der durch die E~nkommenserhöhung gesteigerten Nachfrage nicht nachkommen kann, dann ist die Verteuerung inflatorisch. Ich vermochte daher 1908 eine Einkomment h e o r i e des Geldwertes nicht nur deduktiv aus gewissen Voraussetzungen in dem Verhalten der an solchen Einkommenerhöhungen beteiligten Bevölkerungsschichten, sondern auch induktiv unmittelbar aus Tatsachen selbst erklären und damit die Abhängigkeit der Preisbewegung von Veränderungen in den Einkommenverhältnissen beweisen. Einkommenbewegungen, die in größerer Masse gleichmäßig beachtenswerte Teile einer Bevölkerung in den Besitz größerer Kaufkraft bringen, also wie Gehaltserhöhungen auch Lohnerhöhungen breiter Arbeiterschichten, führen mit ,großer Wahrscheinlichkeit zu Aufwandssteigerungen der ;betreffenden Haushaltungen und für die damit ausgelöste Nachfragesteigerung für viele Konsumgüter, die nicht rasch vermehrt auf den Markt gebracht werden können, wohnt mit Wahrscheinlichkeit die Tendenz ·zu Preissteigerungen inne. So ist diese Ein-

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kommentheorie des Geldwertes als Erfassung €ines wichtigen dynamischen Zusammenhanges zu verstehen, der unmittelbar in der Wirklichkeit beobachtet werden konnte. Höheres Preisniveau bedeutet geringere Kau.flrnaft der Geld-{Währungs-)einheit. Diese Erkenntnis mußte gewonnen werden auch um den Metallismus in der Geldlehre als eine vorübergehende Entwicklungsphase zu erfassen: Für die Wirtschafts-, insbesondere Geldpolitik eine wichtige Erkenntnis. Sie war durch sorgfältige Beobachtung der Wirklichkeit zu gewinnen. Anders stand es mit der Überwindung einer aus der klassischen Zeit stammenden irrigen Theorie, deren lange Lebensdauer ihre Grundlage darin hatte, daß die ~heoretiker so vieler Generationen hindurch das M o m e n t d e r Z e i t in ihren theoretischen Überlegungen aus der Betrachtung völlig ausgeschaltet hielten. Es betraf u. a. auch J. B. Say& theorie des debouches, die das Produkt stets mit dem bei seiner Herstellung entstehenden Einkommen gekauft annahm und daher .auch als Grenze des Ve!"lbrauch:s nur die Produktion gelten Heß. Voraussetzung für diese These war die Annahme des Synchronismus, der Gleichzeitigkeit des Wirksamwerdens aller Einkommen, die aus einer Produktion entstehen (Lohn, Unternehmergewinn, Bodenrente, Kapitalzins), auf den Märkten. Eine weitere Grundlage für diese Theorie war, daß man nicht gesehen hatte, daß die Güter auf den Märkten mit Teilen eines Einkommens gekauft waren, das in späteren Produktionsvorgängen als jenem der Herstellung der betreffenden Güter verdient wird. Man hat besonders übersehen, daß der Produktwertanteil der Arbeiter an der Produktion von morgen und übermorgen die Nachfrage der A11beiter fundamentieren muß für den Absatz des Produktes von heute. Man hat auch die z e i t I i c h e F o I g e außer acht gelassen, in der die E i n k o m m ·e n f ü r v e r s c h i e d e n e L e i s t u n g aus einer und derselben Produktion entstehen. Ihre Fassung habe ich als G e s e t z d e r z e i t I i c h e n ·E i n k o m m e n f o I g e bezeichnet. Ich möchte diese Betrachtungen abschließ.en mit dem Hinweis darauf, daß sich im Bereich der Sozialpolitik im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts eine gewaltige Änderung in der Auffassung ihres Inhaltes und ihres letzten Zweckes allmählich durchsetzen muß und auch schon durchgesetzt hat. Den Anstoß zu dieser Änderung der Auffassung von dem Wesen der Sozialpolitik habe ich in meinem 1911 erschienenen Handbuch der Sozialpolitik gegeben. Wie ich oben erwähnt habe, war Sozialpolitik nach dem Aufkommen der sozialpolitischen Ideenwelt erfüllt von dem Gedanken, daß es nur um Arbeiterfragen gehe, also um Probleme des Interesses der unselbständigen, abhängigen Arbeiter. Schon mit der Entwicklung der Ge-

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Werkschaftsorganisation ist eine Machtausgleichung für den kollektiven Anbeitsvertrag eingetreten und durch die Demokratisierung hat die Avbeiterschaft als Vertragspartner noch eine weitere Sicherung ihrer Interessenverfolgung erreicht. Gleichzeitig ist aber anderseits auch eine große Anzahl von Mittelstandsberufen mit den Veränderungen im Aufbau der öffentlich·en Verwaltung und mit den durch die Kriege herbeigeführten Wirtschaftskrisen und Finanzmiseren in eine wirtschaftlich ·ungünstigere Lage gekommen, so daß viele solche Berufsgruppen, namentlich akademische Berufe, in die große Masse der Hilfsbedürftigen herabgesunken sind und der Ruf nach Staatshilfe immer vielseitiger aus solchen Bevölkerungsschichten ergeht, die ursprünglich dem gesunden Mittelstand angehörten. Dieser für den Wohlfahrtsstaat so kennzeichnende Ruf nach Staatshilfe bedeutet die Notwendigkeit einer Bedachtnahme auf die Tatsache, daß der soziale Au:llbau der Gesellschaft einen Verlust in den Mittelschichten el'fahren hat, der mit einem Gesellschaftszustand nicht in Einklang zu bringen ist, in dem alle jene Zwecke erreicht werden, zu deren Erfüllung die Vergesellschaftung durch Jahrhund·erte und Jahrtausende ihre Entwick:lung genommen hat. Sozialpolitik in diesem Sinne ist daher nicht nur eine Bewegung gegen irgendwelche Beeinträchtigung der Interessen einer sozialen Schicht, sondern sie ist Politik, also eine Summe von Bestrebungen, die auf 1S i c h er u n g f o r t d a u e r n der Er r e ich u n g d e r G es e 11 s c h a f t s z w e c k e gerichtet ist, wie ich das in meinem Handbuch der Sozialpolitik 1911 vertreten habe und wie das heute in der Praxis der Staatsverwaltung immer deutlicher fühlbar wil'd. Sozialpolitik in diesem erheblich weiteren Sinne ist in technisch höher entwickelten Volkswirtschaften schon zu einer Selbstverständlichkeit geworden und die in diesem Sinne .entwickelten Institutionen, die den Avbeiter gegen Ausartungen des individuellen Unternehmertums schützen, wie Regelung der Arbeitszeit, Schu~ der Lohnvereinbarungen, insbesondere auch Lohnmethoden, auch der Mitbestimmung der Arbeiter bei der Betriebsgestaltung u. ä. begleit·en den Prozeß der Betriebsrationalisierung unausgesetzt. Im Hintergrunde aber steht immer unverkennbarer heute drohend der Gegensatz zwischen zwei polar einander entgegengesetzten Ideenwelten; der Gegensatz von Indivtdualismus und Kollektivismus, und es ist ein Kampf im Gange, in dem die privateigene und die privat geführte Unternehmung, die über die Produktionsmittel sowie darüber entscheidet, was und wie produziert wivd, durch öffentliche Betriebe verdrängt werden soll. Schon die schroffe Einseitigkeit beider polaren Ideologien zwingt zur Einsicht, daß die W i r k 1 i c h k e i t z w i s c h e n d e n P o 1 e n ge-

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sucht werden muß. Unverkennbar sind in der Demokratie Voraussetzungen für die Findung von Kompromißwegen zu erkennen. Ob und wie sie gefunden und .begangen werden, hängt von den Menschen ab. Verfassungsnormen allein machen es nicht. Aufgabe der jüngeren Generation heute ist es, die Synthese aus den wertvollen Zügen des Individualismus wie des Kollektivismus zu erarbeiten. Die Einsicht in die Begrenztheit der Wirkungsmöglichkeit der auf Überwindung des Elends gerichteten Bemühungen, wie sie als Inhalt der verschiedenen Wege der Sozialpolitik nun schon so viele Dezennien Wirklichkeit gewovden sind, diese Einsicht darf keine absoluten Hemmungen, keine grundsätzlichen Gegenargumente aufkommen lassen. Was heute aber im Hinblick auf die Wege der demokratischen Willensbildung von den breiten Schichten der Bevölkerung, wenn sie vor ir.gendeiner .Entscheidung - sei es die Wahl eines Abgeordneten, sei es die Entscheidung über einen Streik o. dgl. - stehen, erwartet und vorausgesetzt wivd, ist nichts Geringeres als das Verstehen, das Durchschauen der Zusammenhänge, die in dem gewaltigen Strom des unablässig fließenden Wirtschaftsgeschehens wirksam sind, Zusammenhänge, die, wie der große Kampf in England zur Zeitl erkennen läßt, eine blühende Sozialwirtschaft in kürzester Zeit in eine Katastrophe treiben kann, deren Tragweite unabsehbar ist, wenn an einer besonders empfindlichen Stelle der Strom eine Hemmung erfährt und die ja alle.rxiings gewollte Störung in überhaupt nicht gesehenen oder mindestens unterschätzten Zusammenhängen Millionen und Millionen Arme lahmlegt. Wie sehr, in welchen Proportionen sich die Dinge mit der Entwicklung der Technik hinsichtlich der Streuung einer Streikwirkung in den letzten Jahrzehnten zum Nachteil der breiten Schichten als Konsumenten geändert haben, müßte aus jedem größeren Streik gelernt und von Streik zu Streik deutlicher erkannt werden. Zu den letzten Endes maßgebendsten Wirkungen gehört die Zahl der als Konsumenten wirtschaftlich durch den Produktionsausfall Geschädigten, so daß doch auch das Wachsen der Quote jener Bevölkerungsschichten, die durch einen Produktionsstillstand hilflos zu ·Entbehrungen gedrängt werden, seine besondere Bedeutung hat. Liegt es da nicht nahe, den Vielen, die demokratisch über das Gemeinschaftsschicksal durch den Weg zur Wahlurne oder durch Handaufheben bei einer Abstimmung entscheiden, vor allem die Möglichkeit zu geben, richtig sehen zu lernen? Wie aber soll von den Vielen solches richtiges Sehen erwartet werden können, wenn diejenigen, die durch ihre Lebensarbeit berufen sind, die Wahrheit wber diese Zusammen1

Anfang Juni 1955.

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hänge zu ergründen, in so schroff sich bekämpfenden "Wissenschafts"Richtungen einander entgegenstehen? Folgt daraus nicht unmittelbar als vordringlich die Aufgabe, in der Richtung zu wirken, daß das Wissen um die Voraussetzungen für den Erfolg sozialpolitischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben gemehrt und. verbreitet wird? In einer Begrüßung der neuen Heimstätte für SoZiialforschung in Dortmund habe ich ausgeführt, daß gar manches, was damals als Sozialpolitik galt und sein wollte, den wahren letzten Zielen der Sozialpolitik überhaupt nicht näherführte, im Gegenteil, den sozialen Frieden störte. Das wichtigste Ziel mußte die Wiedergewinnung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Betriebsleitung und Belegschaft sein, wie es einst auf der Basis des Patriarchalsystems, also eines Ordo von vorgestern, wirklich bestanden hatte, und nunmehr auf dem Boden des neuen Ordo von heute und morgen herzustellen sein wivd und gewonnen werden muß. Es wird heute in: der Vergleichung verschiedener Methoden der Sozialpolitik gestritten, ob sozialer BetriebspoLitik oder betrieblicher Sozialpolitik der Vorzug zu geben sei. Dasjen~ge, worum es unter allen Umständen gehen muß, hat m. E. vor 30 Jahren Bosch damit gekennzeichnet, daß er das Arbeitgeber-Arbeitnehmerverhältnis als eine M e n s c h e n b e z i eh u n g kennzeichnete und er hat es daher als eine ganz wichtige Funktion des Unternehmers in der Industrie seinen Berufsgenossen ans Herz gelegt, den Kampf gegen das doch recht "begreifliche Mißtrauen" der Arbeiter gegen den Unternehmer ernstlich aufzunehmen. Ich möchte es hier ausdrücklich wiederholen: Wir Volkswirte aus dem 19. Jahrhundert, die wir noch jene offene Feindseligkeit der Unternehmerschait gegenüber der Verwirklichung des gesetzlich vera:J.kerten Koalitionsrechtes erlebt ha:ben, wir haben im Hausherrnstandpunkt der Großindustriellen von jeher das schwerste Hemmnis für eine soziale Befriedung des Arbeitsverhältnisses gesehen und es dünkt mich auch heut·e ·ein erstrangiges Aufg.aJbengebiet der Sozialpolitik, diesen Standpunkt aus der Welt zu schaffen. Wir wollen gewiß nicht einseitig die vielen Fälle ignorier·en, in denen die Betriebsleiter erfüllt sind von der Mahnung Boschs und danach handeln. Aber es geht nicht bloß um ihre Haltung, sondern es geht auch um die Stabsoffiziere und Unteroffiziere der Betriebe und hier liegt, worauf eine Reihe von Sozialpolitikern schon hingewiesen hat, eine sozialpädagogische AufgaJbe vor. Es gilt, zweckmäßige Methoden zu erforschen, um ein solches p ä d a g o g i s c h e s Z i e 1 zu erreichen.

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In den vorstehenden Betrachtungen galt es hier mit einem Erinnern an einzelne bemel'kenswertere Wendungen im Verlaufe eines Mensch.enlebens natürlich nur aphoristisch etwas von dem Zusammenhang ahnen zu l.assen, der zwischen a u ß e r w e l t l i c h e m E r l e b e n und innerweltlicher V.emrbeitung sich einstellen kann, und in dem g e is t i g e n W i r k e n des betreffenden Menschen ihren Niederschlag findet. Ich war mir bewußt, daß drei Bereiche des innerweltlichen Lebens wohl zu unterscheiden sind, in denen das äußere Erleben seine besondere T11agweite haben kann. Da nun Ausschnitte aus einem bis in die Mitte des neunten Jahrzehntes gelangten Lebens in Frage kommen konnten, so galt es, eine Auswahl unter den Erinnerungswerten zu tr·effen. Es ist aber das Schicksal aller historisch orientierten Wertungen, daß sich die subjektive Auffassung des Berichtenden, und ,g.ar wenn er sich zu einer ausdrücklichen Wertung bekennt, nie ganz verleugnen läßt, und so haftet auch dieser Auswahl, in der sich die Wertun:g bekundet, die Schwäche an, diaß über das SeLbsterlebte, auch bei ehrlichem Bestreben nach Neutralität, der Berichterstatter schon in der Auswahl parteiisch verfährt. Ich habe bewußt HöhenpUillkte und Tiefen der Lebenskurve nicht hervortreten lassen. Pannen können in •einem akademischen Leben gar leicht eintreten und haben nur allzu oft die Wirkung einer nachhaltigen Abwertung. AlSI ich in einer Fakultät für ein Oooinariat, das durch den Rücktritt des bisherigen Kollegen zur Besetzung stand, von eben dem Zurückgetretenen in Vorschlag gebracht wurde, besuchte eines der Fakultätsmitglieder eine finanzwissenschaftliche Vorlesung, die ich in Karlsruhe damals hielt. Von seiner Anwesenheit erfuhr ich erst Jahre später. Sein Bericht in der Fakultät lautete: Z kann nicht sprechen, er hat kein Pathos. Wegen Fehlens des finanzwissenschaftliehen Pathos fiel ich also durch. Aber es blieb nicht dabei, sondern dieser Durchfall und seine Begründung wurde kurz darauf in einer anderen Fakultät berichtet und führte auch in dieser und nach mehreren Jahren nochmals in einer dritten Fakultät zu demselben Erfolg. Mein KoHe,ge Harms hat mir 20 Jahre später nach einem Vortrag, zu dem er mich wegen des Themas hatte einladen müssen, mit erfreuLicher Offenheit erzählt, daß er an der Weiterleitung des Verdilldes mitschuldig gewesen sei und nun müsse er bekennen, wie gefehlt es sei, wenn eine Fakultät sich auf das Urteil nur eines Mannes verlasse. Zu den Episoden, die in der vorausgegangenen Darstellung wohl vermißt werden mögen, gehört g.ewiß meine m ·i l i t ä r i s c h e D i e n s t l e i s t u n g während des ersten Weltkrieges. Diese Episode b~achte in meinem Leben eine Reihe von Ereignissen und unter an-

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derem eine Körperverletzung, deren Folgen nach zehn Jahren zu einem dauernd schmerzhaften Zustand führten. Nach einem halben Jahr A:djutantendienst, der wirklich militärisch verlief, hatte ich drei Jahre lang die Leitung der Presseabteilung in Lodz und in dieser Stellung also keinen eigentlich militärischen Dienst, sondern vor allem den Dienst der Zensur der polnischen und jüdischen (hebräischen und jiddischen) Zeitungen und sonstigen Literatur. Mit diesem Dienst verband sich allerdings die Mög.lichkeit, die nationalen Minderheitsverhältnisse mit besonderer Rücksicht auf ihre wirtschaftlichen GrUilidlagen zu b-eobachten. In einer langen Reihe von Aufsätzen in der Deutschen Lodzer Zeitung hatte ich das Ergebnis meiner Beobachtungen niedergelegt. Daß viele einzelne Leser dieser Zeitung für diese Informierung Dank wußten, ist mir oft versichert worden. Im übrigen lag der Erfolg wohl nur in der Mehrung meines Wissens um diese Minderheitsverhältnisse und die aus ihnen unvermeidlich sich ergebenden Schwierigkeiten für einen nationalen Frieden in einem polnischen Staatswesen. Es war für mich, der ich über die Strategie und Taktik der Nationalitäten in ihrem Kampfe innerhalb des Österreichischen Staatswesens und insbesondere meiner Heimat Steiermark einige Erfahrungen gewonnen hatte, in den polnischen Verhältnissen eine Bestätigung dieser Erfahrungen zu gewinnen, wobei nur allerdings die Eigenart der polnischen Bevölkerung (bezüglich Naturell und, durch das politische Schicksal gefördert, chauvinistischer Mentalität) die Schwierigkeit der Stellung einer deutschen Minderheit in einem polnischen Nationalstaat erwarten ließ. Mich dünkt, daß die deutsche Art, in wekher Variante auch immer, also gleichviel ob nord-, mittel- oder süddeutsch, sie in die .Erscheinung tritt, für einen Kampf in einem national gemischten Staatswesen immer eine Schwäche bedeuten wird, wenn die andere Nation eine slawische ist. Gewiß ist das Problem des nationalen Friedens noch weit von einer Konsolidierung der Kräfte, die als befriedigender Zustand gelten kann, entfernt. Dennoch dünkt mich, wenn ich auf die letzten sechs Jahrzehnte zurückschaue, als ob doch auch nationalistische Völker Abstand zu gewinnen suchten von dem nationalen Kampf. Es ist nicht weniger wichtig wie so vieles von dem positiven Recht der älteren Sozialpolitik: das krampfhafte Denken in dem allzu tief verwurzelten Du a l i s m u s e n d l i c h zu ü 1b e r wind e n. Die Auffassung stammt aus dem kommunistischen Manifest, daß1 es nur der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit sei, der der Leitstern f,ür alle sozialpolitische Arbeit sein müsse. Es ist längst nicht mehr der nackte Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, um den heute soviel Kraft verbraucht wiro, durch den so viel Leistungsfähigkeit und Leistungs3 von Zwiedlneck-Südenhorst, I

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möglichkeit beeinträchtigt und vergeudet wird. Dieser Dualismus ist heute nicht mehr wirklich. Weder Arbeit noch Kapital sind heute noch jene Einheit, als die sie zur Zeit der Entstehung des kommunistischen Manifestes von Marx wirklich gesehen wer.den konnte. Diesen Begriff in solcher A:bsolutheit .aufrecht zu erhalten ist An ac h r o n i s m u s. Als Marx sein Kapital und das kommunistische Manifest gedanklich konzipierte, bedeutete Kapital allerdings die Verbundenheit des GeLdkapitalbesitzes mit dem, was man als Unternehmerinitiative zu bezeichnen pflegt: das ist das E11kennen einer Marktlage mit einer nicht befriedigten und .doch kaufkräftigen Nachfrage ·und das Erkennen des Weges, auf dem das solcher Nachf11age entsprechende Angebot zu leisten, die nachgefragten Güter auf den Markt gebracht werden können. Kapital sind dem Erwerb von Einkommen gewidmete Vermögensgegenstände, insbesondere in der liquidesten Form des Geldes. Aber nicht durch ihre Existenz, sondern nur durch die richtige Investition dieser Wertbestände werden Erträge, werden Gewinne erzielt und damit .Einkommen. Investition ist Gestaltwandel der Werte. Diesen mit Emolg, d. h. mit Ertragserzielung durch.zuführen, setzt eine Idee und Energie, sie durchzusetzen, voraus. Das Finden der Idee und des Weges, sie zum .Erfolg zu führen, ist aber immer mehr eine geistige Leistung geworden, manchmal freilich von großer Primitivität, in den großen Produktionsaufgaben aber eine Leistung von höchster Genialität. Diese geistige Leistung, diese Kopffunktion, das Erkennen von Produktionsaufgaben, das Kombinieren des Zusammenwil1kens von Sachgütern und Leistungen und damit das Disponieren über diese wesens.verschiedenen kostenden Mittel sind weitgehend nicht mehr Sache des Kapitalisten - man denke an die Masse der Kleinaktionäre! - sondern einer besonderen Kategorie von Arbeitskräften, Technikern, namentlich Ingenieuren, aber auch Kaufleuten und Juristen als Organisatoren, kurz allen jenen, die gewissermaßen als die K a t a l y s a t o r e n d e r t e c h n i s c h e n F o r t e n t w i c k l u n g der Güterproduktion mitverantwortlich wirksam sind. So ist es doch wohl nur eine logische Konsequenz, das gewaltige Wachstum der spezifisch geistigen Aufgabenbereiche in allen Gebieten der Güterproduktion als kaum zu vernachlässigende Grundlage für die Überwindung dieses heute nur noch vermeintlichen Dualismus zur Geltung zu bringen und die Träger dieser ungeheuren Aufgabenmasse, di.e z,wischen dem Kapital und der Faust zu bewältigen ist, als eine besondere und für das Schicksal der Wirtschaft nicht mehr zu entbehrende Kategorie von Leistungen und der sie leistenden Menschen anzuerkennen. Gewiß ist Muskelarbeit, die physische Leistung, gewiß ist

Gefühltes- Erstrebtes -

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die Blutfunktion des Kapitals, die von den Kreditorganen wie vom Herzen aus geleitet wird, für das Zustandekommen irgendwelcher Produktionsleistungen nicht zu entbehren. Beide aber werden zu ihrer Funktion nur durch das Einsetzen der Leistungen der Männer der Technilk, der Wirtschaft und der Rechtsordnung gebracht. Diese sind es, die die geistige Verbindung zwischen den be1den ursprünglich dualistisch einander .gegenüberstehenden Elementen bewirken. Sie innervieren sowohl das Kapital, wie die physische Arbeit ..Es ist nicht abzusehen, weshalb nicht eine solche Dreigliederung der im Wirtschaftsleben wirksamen Energien die Härte des Gegensatzes in dem Produktionsprozell und damit im sozialen Gefüge aufzulockern im Stande sein sollte. Unter dem Gesichtspunkt solcher realistischen Gliederung gewinnt auch das Problem des Mi t b es t immun g s r e c h t es einen anderen Charakter. Man steht bekanntlich vor der "Bewunderung" des Aufstieges der deutschen Wirtschaft in der Zeit von der Währungsreform (1948) bis 1953. Da liegt bei dem Festhalten an dem Dualismus di·e Frage nahe, wem von den beiden, dem Kapital oder der Arbeit, das größere Verdienst zuzuerkennen ist. Die Frage ist müßig im Hinblick auf das Ergebnis der arbeitsteiligen Differenzierung, die man in den gesonderten Rollen der Katalysatoren zu erkennen hat, sie ist sehr unvollkommen, weil unrealistisch, da in ihr die Funktionen des Ingenieurs, des Kaufmann.es und des Juristen als Wegführer in der Technik, in der Geschäftsführung und in der Organisierung des Gefüges einer Unternehmung unberücksichtigt bleiben. Eine immer noch unterschätzte Funktion bleibt auch im T r i a l i s m u s beim Kapitalisten: das ist die Auswahl der Menschen zur Mitar.beit: c u r 'a in e 1 i g e n d o und die Bestimmung von Stil und Ton in der Betriebsführung, des Betriebsklimas, das ist das s u a v i t e r i n m o d o. Nach diesem Rechnungsabsch1uß, in dem es nicht um exakte rechenbare Größen gegangen ist, drängt es mich aber doch, die Schulden, vor denen ich am Albend meine.s Lebens stehe, nicht zu verhehlen. Meine Hauptgläubiger, jene, denen ich am meisten dafür zu danken habe, wenn es mir gelungen ist, auch etwas von dem zu, leisten, was von mir erhofft, erwartet und mir gewünscht worden ist: sie deckt lange schon der kühle Rasen: Vater, Mutter und j·ene meiner Lehrer, die sich um meine Förderung bemüht haben, unter denen einen besonders zu nennen, mir Bedürfnis ist: den Historiker Otto Adamek, der un~ in .den letzten drei Gymnasialjahren Geschichte und deutsche Literatur zu geben hatte. Wie hat es mich beglückt, als er mir die Aufgabe stellte, über Wildenbruchs Quitzows den Geist der Zeit des Stückes und seinen Lehrwert zu schildern.

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Gefühltes- Erstrebtes- Erkanntes

Es ist der mein ganzes Leben .begleitende Wunsch gewesen, meine Eltern nicht zu enttäuschen, ihnen Freude zu machen als selbstverständliches !Entgelt für das Pfund, das sie mir ins Leben mitgegeben haben, um mit dem Pfunde zu wuchern, mitgegeben an Pflichtgefühl, an hoher Dienstauffassung, an Freude zur Avbeit und - was ich viel zu wenig verstanden habe -an Kunst, das Leben leicht zu nehmen und zu genießen. Denn gerade in dieser Kunst habe ich ihren wohlmeinenden Wünschen nicht entsprochen. Ich hatte darin freilich meinen eigenen Sinn und, bin ich auch kein Müller, so hatt' ich doch immer seine Lust, das WC11I1dern, wie es in Schuberts ·Müllerlied heißt, und durfte die Freude erleben, daß mein Vater auf einem Stück meiner Fußwanderung von München nach Innsbruck 1891 nach einem Bayreuther Parsifal, mit mir wandernd, dieses gemeinsame Wandern als lohnendes Erleben gewertet hat. Wie ist diese Lust heute den Menschen verloren! Das Blatt der Freundschaft in meinem "Hauptbuch" trägt nicht wenige Namen, männliche und weibliche, aber es ist eine Gnade des Schicksals, daß von vielen gesagt werden kann, worin der größte deutsche Geist das höchste Glück der Evdenkinder erreicht sah: "wenn man sich nicht selbst vermißt." Man muß die tiefe Beglückung durch die Hingabe in SeLbstlosigkeit erlebt haben, mit dem "Nie an sich selbst Denken" einer wahrhaften ·Freundesseele, wenn es um den Freund geht, aber .auch den Schmerz der Enttäuschung, wenn sie versagt wird, wo man auf sie glaubt bauen zu können. Menschliche Beziehungen, die über ein halbes Saeculum, trotz all des Leben Hemmenden, und des Schweren, das dieses Saeculum gebracht hat, Bestand haben, sind ebenso ein Gnadengeschenk wie das Noch-Verstandenwerden seitens Jüngerer, das die Fortarbeit im Seminar und in den Akademien ermöglicht und zum erfreuend erleichternden Gegengewicht gegen die Schmerzhaftigkeit des Soma geworden ist, solange der Herr die Kraft dazu mir läßt. Es wäre eine Lücke in der Reihe jener meiner Tätigkeiten, die mir das Leben erleichtert haben, würde ich nicht Deiner g.edenken, edle Mus i k , die Du mir die Schönheiten, die das Leben mir brachte, noch zu steigern, aber über schrwere kritische Stunden auch hinwegzukommen geholfen hast. Wieder habe ich meinem Vater vor allem tiefst zu danken, daß er mich mit sieben Jahren Flöte zu blasen lehren, baLd ·aber zur Geige über.gehen ließ, his ich mit zwölf Jahren groß genug geworden war, um auf einem Amati-Cello kleiner Mensur, das als Pfand bei meinem Großvater von einem nicht erfüllenden Schuldner seit Jahren gelagert war, eine gediegene Ausbildung zu beginnen. In einem Konzert nahm

Gefühltes - Erstrebtes -

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ich drei Jahre später mit der "Letzten Rose" von Spohr unter erheblicher Zustimmung des Publiikums Abschied von dem kleinen Amati, um nach verschiedenen Zwischenepochen nunmehr seit 45 J·ahren meinem Gagliano dankibar die ve~diente Treue gehalten zu haben. Ich habe viele Jahre im Orchester gespielt und dabei das interessante Glück gehabt, unter Dirigenten von Ruf, wie Muck, Ernst Schuch, Wilhelm Kienzl, "dressiert" zu werden. Die Hauptsache aber blieb freilich im Kammermusikzusammenspiel das Sonatenspiel mit Klavier und das Zusammenspiel im Trio ·und Quartett. Was hier an Erholung und wie oft auch als Trost gegen das Unerfreulichste, das man im Leben in Kauf nehmen muß, die Enttäuschung an Menschen, zu gewinnen war, kann nur der beurteilen, dem diese Schönheiten sich erschlossen timmungsgriinde

aber nicht nur bei weitem nicht immer, sondern geradezu in der Minderheit der Fälle, in denen Preissteigerungen zu beobachten sind. Der Entschluß, einen höheren Preis zu bieten, braucht durchaus nicht durch ein Steigen ,des Bedürfnisses auf Seite der einz.elnen Käufer ausgelöst zu sein. Er k.ann und muß vielmehr andere letzte Gründe haben, min,destens .aber müssen bestimmte Voraussetzungen zutreffen, damit der Entschluß reifen kann. Die Pr.eisstei.g.erung wird nämlich bei gleich bleibenden Kosten möglich: 1. Durch Hebung der nominellen Gesamt-Kaufkraft der Käufer d. h. unter rein ökonomischen Voraussetzungen durch Vermehrung der zur Beschaffung von Bedarfsbefriedigungsmitteln überhaupt verfügbaren Wertbeträge, vor allem der E'inkommen der Konsumenten; 2. durch Hebung der Kaufkraft nur für das bestimmte Gut, ·dessen Preise sich erhöhen; dies geschieht a) durch Änderung der Wertschätzung anderer Objekte der bisherigen Konsumtionsskala, und zwar et) durch vollständigen F o r t f a ll von in der Bedürfniss~aia w e i t er o b e n stehenden Bedürfnissen oder durch Ab s c h w ä c h u n g derartiger Bedürfnisse durch was immer für äußere Umstände (z. B. Abnahme des Heizungsbedürfnisses dank besonderer Kürze des Winters, sonniger Wohnungslage u. dgl. etwa gegenüber dem Bildungsbedürfnis); ß) durch ebensolche (Wertschätzungsänderungen entspringende) Vorgänge in tiefer- rangi.gen Bedürfniszweigen; b): durch Ersparungen, die (.abgesehen von den unter a eintretenden Aufwandsverminder:ungen) bei der Bedürfnisbefriedigung d.ank dem P r e i s r ü c k g a n g solcher tiefer- oder höherrangiger Bedürfnisbefriedi.gungsobjekte, also durch Freiwerden von Wertbeträgen ohne Änderung der Wertschätzungen erzielt werden. 3. Durch eine Ausdehnung des Bedürfnisses, das durch dieses betreffende Gut selbst befriedigt werden soll; die Ausdehnung kann extens,iv oder intensiv gegeben sein. Dabei ist wieder denkbar als Konsequenz, durch die die Preissteigerung erst wieder zu erklären ist: a) ein Aufrucken dieses Bedürfnisses an eine höhere Stelle der Bedürfnisskala unter Verdrängung bisher höherstehender Bedürfnisbefriedigungen; b) ein Vel'drängen tiefer-rangiger Bedürfnisbefriedigungen eventuell bis zur völligen Nichtbefriedigung dieser Bedürfnisse. 4. Zu gedenk,en ist noch einer Möglichkeit; sie betrifft den Fall, daß die Kaufkraft einer Individualwirtschaft über das Erfol'dernis zur Deckung a 11 er Bedürfnisse, auch des Kapitalbildungs-Verlangens hinausreicht. Wegen der vergleichsweisen Seltenheit kann von der Berucksichtigung dieser Eventualität abgesehen werden.

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Handelt es sich in all diesen Fällen zunächst für die Einzelwirtschaft um die Möglichkeit, eine Preissteigerung zuzugestehen, so läßt sich ähnliches auch für die Gesamtheit der Konsumenten, die einen Markt besuchen, und im weiteren für bestimmte Wirtschaftsklassen behaupten. Aber Hebung der Kaufkraft im allgemeinen (Z. 1) ist dann freilich auch schon durch eine Vermehrung der nachfragenden Einzelwirtschaften bei gleich bleibender Durchschnittskaufkraft dieser gegeben; nur ist zu beachten, daß diese Hebung der Gesamtkaufkraft durch Ausdehnung der Konsumtionsklasse durchaus noch nicht immer eine Preissteigerung ermöglicht, obgleich sie sie veranlassen, die Tendenz dlazu auslösen mag. Die Vol'laussetZ'Ullgen für den Kaufabschluß hat man beim Individuum, als Geschäftsträger der Einzelwirtschaft zu suchen. Und zwar muß der Käufer: 1. kaufen wollen und 2. kaufen können. Das kaufen wollen ist in der Regel gegeben mit jener mehr erwähnten Spannung der Besitzinteressen am Kaufgut und am Preisgut. Das KaufenKönnen, das, was die Kaufkraft ausmacht, die Möglichkeit, einen Preis zuzugestehen, ist bedingt: 1. durch ·die Verfügung über ein Preisgut oder .die Aussicht auf solche Verfügung; 2. durchi das Verhältnis der verfügbaren Preisgutmenge zur ganzen Bedürfnisreihe und dem zu ihrer Deckung erforderlichen W ertbetragsquantuan; 3. durch die Stellung des Kaufgutes in der Bedürfnisreihe. Die erste Bedingung ·V·ersteht sich von selbst, kaufen kann nur, wer über Preisgüter schlechthin verfügt, d. h. über marldgängige Wertbeträge in Form, also heute Geld oder Geldguthaben. Auf eine spezielle oder .spezifische Kaufkraft im Hinblick auf ein bestimmtes Gut weist die dritte Bedingung hin. Da nun diese Rangstellung grundlegend für die Wertphänomene ist, so ist insofern auch eine Beziehung des Kaufen-Könnens zum Kaufen-Wollen hergestellt36 . Aber erst durch den Einfluß der Kaufkraft wird die Bedürfnisreihe zur Konsumtionsskala modifiziert. Der eigenUiche Kern des Preisbildungselementes Kamkr:aft, liegt in der zweiten Bedingung. In der Beziehung der gesamten Zahlungsfähigkeit, bei Konsumtionswirtschaften des Geldeinkommens, zu den damit zu bestreitenden Bedürfnisbefriedigungen ist das Wesen der subjektiven Kaufkraft zu erkennen. 86 Die beiden Reihen sind also durchaus nicht identisch. Z. B. 3000 lVL Einkommen: 2800 M. sind durch die Glieder I bis XX der Bedürfnisskala gebunden, XXI wäre eine Reise nach Italien, da diese aber mehr als 200 M. erfordert, ist dieses Bedürfnis nicht befriedigbar, folglich scheidet es aus und Bedürfnis XXII, etwa ein Theater-Abonnement kann befriedigt werden.

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Theoretisch vernachlässigte Preisbestimmungsgründe

In jeder Lür die vevkehrswirtschaftlichen Erscheinungen in Betracht kommenden Wirtschaftseinheit muß die Verfügungsgewalt über eine gewisse Summe von Wertbeträgen als vorhanden angenommen werden. Dieser Summe von Wertbeträgen kann, soweit sie aus umlauffähigen ZaMungsmitteln besteht, der Krei:s von Bedürfnissen gegenüber gestellt wevden, ·die durch Verkehrsakte, Kauf, Miete u. s. f., also durch Aufwand solcher Wertbeträge befriedigt werden sollen. Den nach Maßgabe der Dringlichkeit geordneten Bedürfnissen werden bestimmte Quoten der im Laufe der Wirtschaftsperiode verfügbar werdenden Zahlungsmittel zugewiesen. In Wirklichkeit vollzieht sich diese Zuweisung mit weH geringerer Bedachtnahme und Planmäßigkeit, bei geringen Einkommen namentlich meist nicht mit der wünschenswerten Bedachtnahme auf den Bedürfniskomplex innerhalb eines größeren Zeitraumes, einer längeren Wirtschaftsperiode. Das hängt ebensowohl mit dem Mangel an Schulung zu ökonomischer Ordnung wie mit der Unsicherheit der Zahlungsmitteleingänge zusammen; gerade bei kleinen Einkommen spielt auch der Konsumtivkredit vielfach störend herein. Soweit aber mehr Planmäßigkeit und Ordnung waltet, soweit das Streben nach Übersichtlichkeit und Schonung der Notdurften zur Geltung kommt, geschieht diese quotenweise Zuweisung und Aufteilung der Zahlungsmittel auf die einzelnen Bedürfnis-Kategorien ganz ausgesprochen stark unter dem Druck der sozialen KLassenschichtung. Je nach der Zugehörigkeit zu den einzelnen Gesellschaftsklassen gestaltet sich mehr oder minder typisch die Lebensführung und damit in unbezweifelbarer Wechselwirkung die Bedürfnisskala. Wir haben demnach, wie immer wieder erinnert werden muß, in dieser eine Grundlage für die Kaufkraft, in der Bedürfnisreihe und in dem Quantitätsverhältnisse, in dem ihren Gliedern Einkommenquoten zugewiesen werden, eine eminent h ist o r i s c h e Kategorie vor uns. Und mit solcher historisch zu erklärenden Gestaltung der BedürfnisskaJa ist ja auch eine verhältnismäßig große Gleichartigkeit im Verhalten großer Massen gegenüber bestimmten Genußgütern gegeben. Dabei ist aber von vornherein eines im Auge zu behalten: Die Bedürfnisskala ragt in aller Regel nicht unerheblich über jenes Maß hinaus, das durch die verfügbaren Zahlungsmittel deckungsfähig erscheint37, und zwar natürlich unter Zugrundelegung der letztzustande 37 Und zwar vor allem hinsichtlich des Verlangens nach Vervielfältigung bekannter Genüsse. So "träumt der polnische Schlachzize davon, a 11 j ä h r1 i c h ein paar Monate an der Riviera weilen zu können, der polnische Bauer vom täglichen Schnapsrausch". Die Grenze zwischen Bedürfnis und Wünschen ist schwer zu erkennen. Im großen und ganzen wird über die Fortsetzung der Bedürfnis- bez. Wunschskala eine zunelunende Unklarheit zu beobachten sein, je beschränkter der befriedigbare TeU der Bedürfnisskala und je weniger entwickelt die Luxusmöglichkeit is.t. Vgl. Hasbach a.a.O.

s.

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gekommenen Preise. Ein gewisser Kreis von Bedürfnissen wird ungemein häufig überhaupt von vornherein bewußt als nicht befriedigbar empfunden. Nun drängt überdies die Preisbewegung der Befriedigungsmittel für in der SkaLa weit oben stehende Bedürfnisse die Befriedigungen weiter unten stehender Bedürfnisse wiederholt aus dem Bereiche der Kaufkraft hinaus. Es besteht also eine gewisse E l a s t i z i t ä t h i n s i c h t l i c h d e r E i n k o m m e n q u o t e n , die für die einzelnen und insbesondere die wichtigeren Bedürfniskategorien zur Verfügung stehen. Diese Elastizität ist nur dann möglich, wenn die Wertschätzung des betreffenden Gutes die Wertbeträge übersteigt, die als Einkommenquote der Beschaffung des Gutes gewidmet wurden. Allein damit ist nicht etwa anzunehmen, daß die Wertschätzung des Gutes, sei es das absolute oder das relative Besitzinteresse für dasselbe (nach dem bishin üblichen und unverändert bedurften Quantum), in dieser Wirtschaft die 0 b er grenze für diese Elastizität der betreffenden Kaufkraftquote darstellt. Die Obergrenze für die Wertbeträge, die der Wirtschaftsleiter gerade noch für die Beschaffung desselben Gutquantums aufwenden kann, wird viel häufiger, ja, in der überwiegenden Mehrheit von Fällen gezogen sein 1. durch die Gesamtsumme der Wertbeträge, die durch Verzicht auf die Befriedigung aller weiter unten in der Bedürfnisskala noch folgenden Bedürfnisse frei werden könnten und damit also 2. durch die Stellung des betreffenden Gutes in der Bedürfnisskala der betreffenden Wirtschaft. D i e s e beiden Momente bestimmen also die Grenze der spezifischen Individual-Kaufkraft dieser Wirts c h a f t f ü r d i e s e s G u t. Ist demnach gleichwohl durchaus nicht in Abrede zu stellen, daß die Obergrenze eines Preises vom Standpunkt der Käufer-Interessen aus durch die Wertschätzung des Gutes gegeben sein oder, richtiger ausgedrückt, bis auf Differentialgröße an diesen absoluten Wert des Gutes heranreichen kann, so läßt sich doch demgegenüber behaupten, daß die spezifische Individual-Kaufkraft der Interessenten einer Aufwärtsbewegun.g der Preise f r ü h e r e i n e G r e n z e z i e h t a 1 s d i e W er t s c h ä t z u n g. Vergegenwärtigen wir uns den Einfluß der Kaufkraft-Beschränkung gegenüber der Preisbewegung. Für viele Wirtschaftseinheiten wird die in einem gegebenen Augenblicke vorhandene Preislage in einer Reihe von Güterkategorien, insbesondere aber in den weniger dringend bedurften, die Grenze der Kaufkraft erreichen. Eine dann eintretende Aufwärtsbewegung eines solchen Preises muß alsbaLd den Verzicht auf dieses Gut bewirken und damit der Reihe nach alle weiteren Konsequenzen, Zurückgehen

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Theoretisch vernachlässigte Preisbestimmungsgründe

der Nachfrage, Überfüllung des Marktes, Nachgeben der Anbieter auslösen. Alles bekannte Tatsachen. Vollziehen sich aber Änderungen in der Preislage der dringender bedurften Konsumgüter, dann bleibt die Wi.r1kung nicht bei dieser Güterkategorie nur zu beobachten, sondern es werden die in der Bedürfnisskala weiter unten stehenden in Mitleidenschaft gezogen. Ist der Ausgangspunkt eine Preiserhöhung z. B. irrfolge abnehmenden Angebots, dann kann gewiß auch eine Abnahme der Nachfr:age in eben dieser dringenden Güterkategorie eintreten, aber diese Wirkung wird sich. bei weitem nicht pro p o r t i o n a 1 der sie auslösenden Ursache äußern, dieses Abflauen der Nachfrage wird in .der betreffenden Güterkategorie selbst weder immer, noch, wenn überhaupt, gerade so rasch, noch so stark eintreten, als es der Preiserhöhung entsprechen würde, weil vorerst der Rückschlag in den in der Bedürfnisskala weiter unten stehenden Gütern fühlbar. werden wird. Diese minder wichtigen, ,gewiß sehr verschiedenen Güterkategorien ("verschieden" je nachdem, welche in den individual-wirtschaftlichen Bedürfnisreihen weiter folgen) erfahren zuerst eine Abschwächung in der Nachfrage, s i e werden alsbald billiger, wenn die Teuerung in den wichtigeren dring.ender bedurften Güterkategorien noch fortdauert. Ist dann nicht aber doch die Preisveränderung als das primäre, das treibende Element gegenüber dem Verhalten der Konsumenten anzusehen? Ist nicht der Konsument mit dieser oder jener Kaufkraft nur der geschobene? Ist nicht doch also die objektive Auffassung die berechtigtere? Zumal da hinter der Preisänderung irgendein objektives Kostenelement, ein rein technisches Verhältnis stecken kann? In der Tat, wenn wir formulieren: Die Lebensmittelpreise, die Wohnungsmieten u. dgl. bestimmen die Nachfrage nach Textil:liabrikaten, nach Bier, bestimmen die Frequenz der Sonntagszüge u. s.f., dann tritt der objektive Zusammenhang scheinbar unwiderlegbar in den Vordergrund. Allein alle diese Zusammenhänge zerfallen in nichts in dem Augenblick, da wir von der durch das Sub j e k t aufgebauten Bedürfnisskala abzusehen versuchen und davon, daß das Subjekt nach Maßgabe dieser von ihm selbst und aus ökonomischen, gewiß auch moralischen Motiven sich selbst gezogenen Richtschnur vorgeht. Und wenn daher eine Verteuerung der Lebensmittel in den Haushaltungen mit knapper Bedarfsdeckung zunächst und unmittelbar eine Verminderung der Nachfrage nach Textilfabrikaten auslöst, wenn a'lso ein objektiver Kausalnexus zu bestehen scheint, so hat das eben die, zwar wohl vielleicht der ganzen wirtschaftlich·en K1asse eigentümliche, aber im Grunde doch ganz individuelle, also rein subjektive Ordnung der Bedürfnisse zur Voraussetzung, der zufolge nach der Kategorie der Nahrungsgüter die Güterkategorie Kleider in erster Linie eine Redu-

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zierung der ihr im großen und ganzen zug·ewiesenen Wertbeträge bzw. Einkommenquote verträgt. Wir verfoLgen nur noch kurz den Einfluß einer Besserung oder Erleichterung in dem Verhältnis zwischen Bedürfniskreis und Einkommen. Eine solche Besesrung, also anders ausgedrückt die Hebung der Kaufkraft, kann ihren Ausgang von drei Seiten nehmen, entweder a) von dem Bedürfnisstand aus, oder b) von dem zur Deckung erforderlichen Wertbetragsquantum oder c) von dem zur Deckung verfügbaren Wertbetragsqoontum, d:as ist von der Einkommenveränderung. Die Fälle decken sich jedoch in ihren Wirkungen. Verringerung des Bedürfniskreises kommt dem Zuwachs an bisher nicht verfügbarer Kaufkraft gleich. Freie Einkommenbestandteile können sowohl den schon bisher, wenn auch schon ausreichend befriedigten Bedürfniskategorien zugute kommen, zu einer quantitativen wie qualitativen Ausgestaltung derselben führen oder zur Eingliederung weiterer Glieder der Bedürfnisskala, die bisher ungedeckt, unbefriedigbar waren, in die Reihe der zu befriedigenden, in die Konsumtionsskala. Mit der Steigerung der für Bedarfsdeckung verfügbaren Wertbeträge wird ein Teil des Zuwachses zur Erhöhung der bereits eingelebten Quoten namentlich dann verwendet, wenn sich bisher schon eine gewisse Beengtheit in der Befriedigung der betreffenden Bedürfnisse bemerkbar gemacht hat, wenn die Preislage in der Richtung zu besonderer Zurückhaltung gezwun.gen hat. Umfangreiche Lohnerhöhungen haben in der Regel Verschiebungen auf dem Lebensmittelmarkt zur Folge. Das merkliche Steigen von Gemüse- und Obstpreisen und vor allem die Fleischverteuerung weisen einen noc!h zu wenig untersuchten Zusammenhang mit der Lage des Arbeitsmarktes auf, sie müssen zum Teil wenigstens auch mit der Vermehrung der Nachfrage seitens der Massen-Konsum-Träger erklärt werden38 • Darüber hinaus aber läßt sich recht wenig über die Wirkung der Kaufkraft-Steigerung wenigstens für diese Haushaltungskategorie behaupten. Nicht selten ist eine auffallende Unbeholfenheit, Unsicherheit und direkt auch Unrichtigkeit in der Wertschätzung und Beurteilung der in den Konsum neu aufzunehmenden Warengattungen zu beobachten, und insbesondere auch, was allerdings nicht überraschen kann, eine ausg·esprochene Unfähigkeit, die Preise, die die Verkäufer fordern, zu beurteilen. Darauf baut das Unternehmen des WarenMassenabsatzes namentlich in Industriegegenden. Zum Prinzip wird gemacht: Waren zum Verkauf aus2rulegen, die dadurch, daß ihr Preis sich in das Haushalts-Revirement leicht einzufügen scheint, zum Ankauf locken. Erst im Verlauf längerer Perioden tritt eine Läuterung in der Richtung ein, daß sich das Interesse nach dem Notwendigen auf das Zweckmäßige, um

38 Zwar immer noch stark in Zweifel gestellt, wird die Steigerung des Fleischwaren- insbesondere Wurstkonsums in den Fabrikarbeiterkreisen von jedermann, der die Arbeiter in den Betrieben zu beobachten selbst Gelegenheit hat, stets bestätigt. Vgl. auch Calwer, Das Wirtschaftsjahr 1906, I. Teil, s. 1.

5 von Zwiedineck-Südenhorst, I

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mit Wagner zu sprechen, auf die Existenzbedürfnisse zweiten Grades konzentriert.

Das weitere Vordringen der Deckungsmöglichkeit in der Bedürfnisskala in der Richtung der minder dringenden Bedürfnisse führt aber vielfach auch zu einer Verminderung der Nachfrage nach dringenderen Genuß.gütern, so daß das Wachsen der Durchschnittskaufkraft in einer GesellschaftskLasse unmittelbar auch zu einer solchen Verschiebung des Quantitätsverhältnisses eines Gutes auf dem Ma11kte führen kann, die Voraussetzung für eine Preisermäßigung ist. Solches ist nicht etwa bloß in der Bedürfniskategorie Nahrungsmittel zu beobachten39 , es gilt ebenso auf anderen Gebieten, der Kleidung, der Beleuchtung u. s. f., überhaupt so oft dank der in umfangreichen Konsumentenkreisen eingetretenen Steigerung der Kaufkraft eine verfeinerte Form der Befriedigung von Bedürfnissen Platz greift4o. An Bedeutung und Tragweite für die Wirtschaft treten diese Wirkungen der Kaufk11aftveränderung wohl zurück, aber symptomatisch behalten sie drum doch ihre Geltung, und es ist ein Fehler, wenn die Theorie achtlos an ihnen vorübergeht. Für unseren Gedankengang sind insbesondere noch folgende Abhängigkeiten im Auge zu behalten. 1. Sofern durch Einkommenhebung Kaufkraft für die Steigerung der Nachfrage in neuen Konsumrichtungen verfügbar oder frei wi11d, gi:bt zwar das Unternehmertum zweifellos von vornherein schon eine gewisse Initiative zur Verwendung des Kaufkraft-Zuwachses; allein die wirkliche Geltendmachung ·der Kaufkraft-Vermehrung gibt der Richtung und Ausdehnung der Produktion und sonstiger Berufstätigkeiten doch erst den inneren Halt; in der Äußerung der Kaufkraft erhält das Unternehmertum jene Stütze, die es braucht, um in der begonnenen Richtung fortzufahren und den Maßstab für die Grenzen rentabler Produktion zu finden. 2. Sofern durch eine Hebung der Kaufkraft eine Steigerung der schon bestehenden Nachfrage nach Gütern dringenden Bedarfs geweckt und infolgedessen in solchen Gütern zunächst eine Preissteigerung ausgelöst wird, hat sie die bedeutungsvolle Wirkung, daß sie den Anbietern ein Maß von spezifischer Kaufkraft für diese Güter bekundet, die für ihr ferneres Verhalten zur Preisgestaltung entscheidend werden muß, auch wenn durch größere Produktion die Angebots-Knappheit wieder beseitigt wevden kann. 3o Besonders herausgearbeitet ist der Kausalnexus, soweit ich sehe, in der Preistheorie noch nicht, darauf hingedeutet hat Neurath, Elemente 3. Aufl. § 46 ff. 4o Auch in den Konsumtionsverhältnissen bäuerlicher Kreise hat die Hebung der Kaufkraft solche Verdrängungen zur Folge gehabt, so z. B. der hausgewebten Leinwand durch Baumwolle, des Loden durch Tuch, der Kerze durch Petroleum.

Theoretisch vernachlässigie Preisbestimmungsgrunde

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Die Tatsache, daß nach einmal bekundeter Aufnahmefähigkeit des Marktes für eine Ware zu höheren Preisen, ·ein Zurückgehen dieser auf das ursprüngliche Niveau auch dann nicht eintritt, wenn die Quantitätsverhältnisse des Marktes dazu Veranlassung bieten würden4t, diese Tatsache steht mit der weiteren im Einklange, daß die vermutbare Kaufkraft des Interessentenkreises für den Verkäufer die Grundlage der Preisbestimmung bildet und daß er danach, d. h. nach Maßgabe des erzielbaren .Erlöses und mit Bedachtnahme auf seine Geschäftsgewinn-Absieht sein Verhalten beim Einkauf der Produktivgüter, bzw. falls er Wiederverkäufer, beim Einkauf des Gutes regelt. Hier liegt der Schlüssel für die spezifische Unternehmer-FUnktion der Verkäufer. Bei jeder Bestellung, jedem Einkauf muß der Geschäftsmann schon den möglichen Preis, zu dem er anbieten will, vor Augen haben; dieser Preis ist aber selbst eine Resultierende aus zwei Komponenten, denn er muß bei der K.alkulierung dessel:t werden, behaupten kann.

Die Arbeitslosigkeit und das· Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge 203

gebend ist nur die Kaufkraftgruppierung in dem späteren Zeitabschnitt, in dem dieses Produkt auf den Markt gelangt, in dem also der Kampf der Parteien sich bereits um das Anteilsverhältnis an einem ganz andern Produktionsertrag abspielt. Daher m u ß das Absatzschicksal eines Produkts auf dem Markt ungünstig werden, wenn die Arbeiterzahl in den Betrieben. also der Beschäftigun.gsgrad in der Zeit zurückgeht, in der das Produkt auf dem Markt angeboten wird, weil sich damit die Nachfrageaussichten verschlechtern. Und nun folgt die lawinenartige Gestaltung der Dinge, wenn diese MarktaussichtenVerschlechterung zu weiterer Betriebseinschränkung Anlaß gibt, die wie die böse Tat fortzeugend immer Böses muß gebären. Diese zeitliche Einkommenfolge bringt es auch mit sich, daßkeine Id·entität besteht zwischen dem Arbeitseinkommen 1 das aus einer Produktion fließt, und dem Arbeitseinkommen, das die Produkte dieser Produktion nachfragend erwirbt. Die Aufrechterhaltung der Nachfrage in einer Volkswirtschaft mit nichtwachsender Bevölkerung ist daher für die .große Masse von Konsumgütern, für die die Arbeitseinkommen als Nachfrage vornehmlich in Frage kommen, nur denkbar bei einigerrnaßen aufrechterhaltener Kontinuität des Beschäftigungsstandes. Eine Volkswirtschaft, der unablässig ein Zuwachs von Arbeitskräften (insbesondere aus dem Überschuß der Schulentlassenen über die durch Tod und Inaktivierung Ausscheidenden) zuströmt, hat unter der Voraussetzung der tatsächlichen Inarbeitstellung auch. nur eines Teiles dieses Zuwachses darin allein eine Sicherung gegen Absatzstauungen, die zu Betriebseinschränkungen und damit zur Steigerung der Arbeitslosigkeit führen. Um so mehr ist diese notwendige Kontinuität des Beschäftigungsverhältnisses schon dann gefährdet, wenn der Jahreszugang an aktiven Arbeitskräften (also Überschuß der Schulentlassenen und allenfalls Zugewanderten über den kbgang) hinter dem der vora.usgegangenen Wirtschaftsperioden zurückbleibt oder, anders ausgedrückt, wenn das dynamische Moment der Kaufkraftvermehrung durch Zurückbleiben der Arbeiter-Neueinstellung abnimmt oder ganz ausfällt. Damit erklärt sich ohne Schwierigkeit auch das ungeheuer rasche Anwachsen der Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Obgleich dort die durch Arbeitslosigkeit bewirkten Lohnkaufkraftausfälle in den gewiß viel regelmäßig.er als in .Europa vorhandenen Sparreserven eine gewisse Ausgleichung fanden, mußte sich doch unter allen Umständen das Ausbleiben der Kaufkraftvermehrung fühlbar machen. Auf die Notwendigkeit der beständigen Erweiterung des Wirtschaftsprozesses hat schon Wilken 7 treffend die Aufmerksamkeit ge7

F. Wilken, Der Kreislauf der Wirtschaft, Jena 1928. -

Derselbe, Die Ar-

204 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge lenkt. Aber er sucht die Ursache der Not, wenn die Expansion ausbleibt, in einer andern Richtung, nämlich in einer Einkommenbildung "aus dem Nichts". Wilkens Beweisführung dagegen, daß der Profit, gleichviel, ob der des Kapitalisten oder des Unternehmers, eine Beraubung in sich schließen müsse, wobei er den Begriff Beraubung des moralisierenden Charakters entkleidet wissen will, verkehrt vollständig die Geldentstehung durch die arbeitsteilige Kooperation mit dem Austausch der Güter. Eine Wirtschaftsgesellschaft aus drei Wirtschaftern, von denen jeder ein bestimmtes Produkt um: je 300 an die beiden andern marktmäßig verkauft, weist ein Gesamteinkommen von 1800 auf (jeder vereinnahmt 2 X 300). Tritt ein vierter Wirtschafter mit einem Ma11ktgut hinzu und steigert jeder der bisherigen Gesellschafter seine Produktion derart, daß er nicht mehr bloß für die zwei alten andern Gesellschaftsmitglieder, sondern auch für den Neuhinzugekommenen für 300 Ware liefert, so ist, ohne daß sich in den Bargeldbeständen irgend etwas geändert h:aben muß, ein Anwachsen des Gesamtgeldeinkommens in dieser erweiterten Wirtschaftsgesellschaft auf 3600 eingetreten: jedes von den vier Mitgliedern der Wirtschaftsgesellschaft verdient 3 X 300 = 900. Wenn nun ein Betrieb, wie Wilken annimmt, eine Million Kapital investiert und 200 000 allein an Profit daraus zieht, so findet Wilken zu Unrecht darin eine Einkommenbildung aus dem "Nichts". Die Voraussetzung für diesen Erfolg ist ja allerdings, daß alle diejenigen, die an dem Absatz der Ware mit 1,2 Millionen beteiligt sind, ihrerseits auch entsprechend Kaufkraft erworben, eventuell mehr als bisher erworben haben. Das ist aber ohne weiteres denkbar durch Steigerung von Leistungen zum Sozialprodukt: also nicht aus dem Nichts ist der Mehrwert oder Profit entstanden, sondern aus der durch den Markt anerkannten Mehrleistung, die sich in Einkommen umsetzt, in Einkommen Ausdruck findet. Wie will wohl Wilken überhaupt das Wachsen der Volksvermögen und der Volkseinkommen erklären, wenn er diese Leistungssteigerung nicht als Grundlage gelten lassen will? Wie, wenn er es nicht wahrhaben will, daß in einen Produktionsprozeß eingesetzte Wertbeträge in den fertigen Produkten auf dem Markt dank _der durch Leistungen gestiegenen Kaufkraft ein Plus an Wert erreichen können? Auch hier begegnen wir freilich wieder Ausstrahlungen einer ganz schroff synchronistischen Auffassung in der Vorstellung, wie die Einkommen, die auf einen Produktionsprozeß ZU11Ückgeführt werden, entstehen sollen. Hier ist es wieder die Vorstellung einer andern Identität, wodurch die Erfassung der tatsächlichen Vorgänge verhindert wird, weil sie die nüchterne Betrachtung mit der Annahme trübt, daß beitslosigkeit und der Alusgang des Kapitalismus. "Soziale Praxis", 38. Jg. (1929), Sp. 105 ff., 129 ff. - Derselbe, Falsche Kapitalbildung und falsche Einkommensbildung, a.a.O.

Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge 205 ganz selbstverständlich die Kaufkraft, die bei Beschaffung der Produktionsmittel eing.esetzt wird, mit jener Kaufkraft, die dann das Produld der betreffenden Produktion auf dem Markt kauft, identisch sei. Den hier vertretenen Gedanken eines für das Verstehen der Wirtschaftsstörungen wesentlichen zeitlichen Auseinanderfallens g.ewisser Einkommensvorgänge hat, soweit ich sehe, treffend Dr. Heinrich Acker in seinen vor einiger Zeit erschienenen Aufsätzen überdie Wirtschaftserweiterungs angedeutet. Er hat ganz richtig darauf aufmerksam gemacht, wie katastrophal es' für eine von ihm aJs, notwendig dar.getane Wirtschaftserweiterung sich auswirken müsse, wenn die Kapitalbildung durch Behinderung des Entstehens .großer Einkommen und Vermögen gehemmt wird9. Der Verfasser konzentriert sich darauf, das unvermeidliche Vorschießen des Lohnes als Kaufkraft durch eine Kreditorg.anisation als möglich nachzuweisen, ohne daß damit die Gefahr inflatoriscller Wirkungen entstehen muß. Er verkennt nicht, daß die fortschreitende Kapitalbi1dung das Mittel ist, "die Kaufkraft der breiten Massen" zu heben; aber da er eine "Sozialentwicklung" will, kann er die Funktionäre der Kapitalbildung, die hohen Einkommen und Vermögen, nicht billigen. Daher sieht er aber auch die Notwendigkeit ein, daß für das Versagen der Kapitalbildung ein Ersatz getroffen werden muß, und erblickt diesen in der Schaffung zusätzlicher Kaufkraft durch planmäßige Or.ganisationen. All das entspringt dem Erkennen des Heterochronismus der Einkommenentstehung. Gegenüber Acker scheint mir Wilken einen Rückfall aufzuweisen. Auch er sieht, daß eine Wirtschaft, die sich nicht genügend erweitert, unaufhaltsam der Arbeitslosigkeit verfallen muß; aber er hängt fest an der Vorstellung, daß von der mit einem bestimmten Produkt entstandenen Kaufkraft ein Teil, nämlich der zur Ersparung gelangende, primär für di,e Aufnahme der Güter nicht in Betracht kommt. Daß doch auch dieser Anteil mittelbar als Kapital mit der Widmung für Lohnzahlungen (v) mitwirken kann beim Absatz der Produkte der Perioden in Geld, also sein Verkauf nicht nur nicht gehemmt, sondern gefördert wil'd durch die Kapitalbildung, die die Mittel für Lohnaufwendungen in den Perioden n + 1, n + 2 usw. schafft, übersieht er. Die Theorie von der störenden Wirksamkeit der Spartätigkeit hat daher höchstens insoweit eine beschränkte Berechtigung, als Produkte, die speziell für den Konsum der sparenden Schicht auf den Markt gebracht werden, im Absatz beeinträchtigt, tatsächlich offenbar langsamer abgesetzt wel'den können, wenn nicht andere Einkommenschichten an Stelle der Sparenden als Käwfer treten. s H. Acker. Das Problem der Wirtschaftserweiterung, "Die Arbeit", Berlin, VII (1930), S. 98 ff. 9

Ebenda S. 106.

~06

Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkonunenfolge

Noch ein Wort darüber, wie weitgehend mit der Vorstellung des Synchronismus seit jeher schon operiert wurde, und wie völlig diese zeitliche Einkommenfolge immer schon übersehen zu werden pfte.gte. Es ist in der Tat am Platz, sich zu erinnern, wie Wilken es getan, wie stark man in der Überzeugung befangen war, daß die Einkommenarten (Lohn, Zins, Rente), die aus einer bestimmten Produktion abzuleiten sind, gleichzeitig entstehen und auf Erwerbung ebendesselben Produktes, aus dem sie stammen, verwendet werden. Seit der klassischen Lehre, vor allem seit Ricardo, MacCulloch, auch Malthus und insbesondere Say, .galt als Grenze des Verbrauchs nur die Produktion. Sismondi 10 war es .h€kanntlich, der dagegen Einspruch erhob, indem er mit aller Kraft h€müht war, seine Gegner davon zu überzeugen, daß nicht die Produktion, sondern das E i n k o m m e n die Grenzen des Verbrauchs bestimmte. Theoretisch zugespitzt, mit weitestgehender Abstraktion von allen zeitlichen Begleitumständen, läß sich aUerdings eine Gleichung konstruieren in dem Sinne, daß Produktion und Konsumtion, daß Warenwerte und Einkommen, oder sagen wir zunächst nur bescheidener Kaufkmft, sich irgendwie decken müssen, daß ein Gleichgewicht zwischen ihnen bestehen muß/. Ja, es läßt sich auch für die in weltwirtschaftliche Beziehungen verflochtenen Volkswirtschaften feststellen, daß alle auf den Inlandmarkt gelangenden Waren, also auch die ausländischen, die mit Inlandgütern erworben worden sind, in ihrem Gesamtwert mit einer ebensolchen Kaufkraft schließlich gekauft werden müssen. Aber hat es irgendeinen Erkenntniswert, hat es auch nur einen heuristischen Wert, eine solche Gleichung aufzustellen, solch ein Gleichgewicht von Produktion und Konsumtion zu behaupten, solange beide Größen zeitlich völlig indefinit sind? Oder wenn man schon gedanklich v-on einer bestimmten Produktgröße als dem Ergebnis irlgendeines abgegrenzten Produktionsvorganges ausgehen sollte: solange nicht auch die andere Größe, Konsumtion oder Kaufkraft oder Einkommen, zeitlich bestimmt wird? Man sollte annehmen, die Sayschen Sätze: daß man die Produkte nur mit Produkten k·aufen k:ann, daß die Produktion den Produkten einen Absatz eröffnet, oder daß sich niemals zu gleicher Zeit ein Überfluß an allen Produkten finden kann 11 to S. de Sismondi, Nouveaux Principes d' economie politique ou de la riebesse dans ses rapports avec la population, 2n ed., Paris 1827, vgl. insbes. die Vorrede. u Insbesondere gegen Says Theorie des deoouchees ist geltend zu machen, daß die Absatzwege, die er als verläßlich für die Verwertung der Produktmasse hinstellt, in einer Zeit ausgefahren werden, in der die Güter noch gar nicht existieren, um deren Absatz es sich handelt. Say sag:t: jede Produktion erzeugt einen Verbrauch, denn die Erzeugung erfordert Rohstoffe und Arbeit und bringt also Nachfrage nach diesen hervor. Das Erfordernis an Rohstoffen und Arbeit und insbesondere der Bedarf an "produzierten Pro-

Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge 207

usf., diese klassischen Erkenntnisse könnten nach all unseren Erfahrungen uns heute nicht mehr genügen. Man sollte also mit der Erkenntnis rechnen dürfen, daß die hinter allen diesen Sätzen schwebende G 1 eich g e wicht s i d e e nur dann sinnvoll sein kann, wenn die Gleichgewichtsgrößen zeitlich entweder identisch gedacht sind, oder wenn sie irgendwie bestimmt sind. Sismondi hat zweifellos einen wichtigen Schritt vorwärts getan, indem er in die Gleichungen der Ricardo, Say usf. statt "Konsumtion" die Kategorie "Einkommen" setzt und damit offenbar die Kaufk~aft, die für den Absatz der Produktion erforderlich, aber auch als sicher vorhanden erachtet worden w:ar, auf einen Zeitraum bezog: die Einkommensperiode. Aber er ist auf halbem Wege stehen geblieben, denn indem er die Forderung enhob, die Einkommen dem Produkt, d. h. den W.arenwerten, entsprechend zu gestalten, dachte er offenbar doch auch an eine solche Höhe der Lohneinkommen. daß sie groß genug sein sollten, um jenes Produkt als· W.are kaufen zu können, bei dessen Herstellung ebendiese Löhne verdient wurden. Nun soll zur· Rechtfertigung der Klassiker nicht unbemerkt bleiben, daß vor mehr als einem Jahrhundert die Zeiträume, in denen ein Produkt hergestellt wurde, einerseits und diejenigen, in denen es auf dem Markt angeboten und gekauft werden konnte, anderseits für verschiedene Konsumgüter mindestens viel näher beisammen lagen, und daßl namentlich auch die hausindustrielle Organisationsform der Industrien mit ihren für unsere heutigen Vorstellungen unmöglichen Lohnzahlungsterminen den Schein der Identität zwischen den eine Produktion kostenden Lohnaufwendungen und den sie kaufenden Lohneinkommen rechtfertigen konnte. Ja, es soll ganz ausdrücklich zugegeben werden, daß auch heute für eine Reihe von Gütern wenigstens ein Teil der Lohnausgaben bei ihrer Bereitstellung zeitlich weitgehend an die. Anlieferung' auf den Markt, also auch an ihren Absatz, heranrückt, so insbesondere die mit Transportleistungen zusammenhängenden Lohnausgaben; man kann auch damit rechnen, daß z. B. Backlöhne der Broterzeugung oder Löhne in der Tabakwarenherstellung für eine Lohnperiode so zur Auszahlung gelangen, daß mit diesem Lohneinkommen das Produkt der betreffenden Lohnperiode noch gekauft werden kann. Aber derartige Synchronismen von Lohnauszahlungsperiode für die Mitwirkung an einem Produkt und Verkaufsduktionsmitteln" ist längst gedeckt und die dafür in Verkehr gelangte Kaufkraft zum weitaus größten Teil für Produkte aus einer vorausgegangenen Produktionsphase verausgabt, wenn das Produkt erst auf den Markt kommt, für das die Rohstoffe, Arbeitsleistungen und sonstigen sachlichen Produktionsmittel aufgewendet wurden. Say hat gewiß an keine statische Wirtschaft gedacht, die, unveränderlich, zeitlos, eine Änderung von Zwecken nicht kennt. Mit Zweckänderungen ist Says Konstruktion unvereinbar.

201:! Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge

periode des Produktes bestehen nur für einen sehr kleinen Ausschnitt der Wirtsrstehen. Es ist für die ausgebiLdete kapitalistische Wirtschaft eine zu weitgehende Abstraktion. Aber es genügt auch die Sismondische Erkenntnis, daß die Einkommen den Warenwerten entsprech·en müssen, nicht mehr, denn es ist unerläßlich, ,die Zeitabschnitte, auf die sich die Daten beziehen, auseinanderzuhalten und den Zeitablauf zu berücksichtigen. Es gilt zu erkennen, daß, wenn für die Warenwerte, die in Konsumgütern in einer Wirtschaftsperiode auf den Markt kommen, die erforderliche Kaufkraft vorhanden sein soll, 1. die Produktion in solchem Umfange lebendig erhalten bleiben muß, daß das Lohneinkommen der beschäftigten Arbeiter jene Erzeugnisse aus voraus12 Für die Produktionsmittel PMm die in n fertiggestellt wurden, und für die die Löhne Ln fällig geworden sind (vgl. oben S. 198 f.), und für die vielleicht in n + 1 das Unternehmereinkommen Un bezogen wurde, fließt also das Zinseinkommen Zn auf vielleicht zwanzig und mehr Jahre verteilt.

14 von Zwiedineck-Südenhorst, I

210 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge Produktionsperioden zu kaufen vermag, und daß 2. damit auch die Grundlage für die Entstehung der andern Einkommenarten (Zins und Profit) gewonnen werden muß. Der Tatbestand dieses an sich empirischen, aber gleichwohl ohne weiteres deduktiv aoozuwertenden Gesetzes ·der zeitlichen Einkommenfolge läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß Dis k r ep a n z e n z w i s c h e n W a r e n a n g e b o t u n d K a u f k r a f t möglich sind. Mag man diese Diskrepanzen U n t e r k o n s u m t i o n o d e r Ü b e r p r o d u k t i o n nennen, sie sind möglich und werden immer möglich sein, solang.e bei der Vorbereitung einer Produktion und insbesonder·e bei Feststellung des Umfanges der Konsumgüterproduktion n nicht auch schon die Einkommen und insbesondere die Arbeitseinkommen der folgenden Wirtschaftsperiode n + 1 und n + 2, in denen der Absatz der Konsumgüter erfolgen soll, annähernd richtig vorausgesehen werden können. Ob also eine Produktion sich als Überpmduktion herausstellt, das hängt nicht nur an der Dimension, in der sie eingeleitet wird, sondern ebensosehr daran, ob und wieweit die Entwicklung der Einkommenverhältnisse in den nächsten Wirtschaftsperioden, in denen der Verkauf des Produktes in Frage steht, richtig eingeschätzt wovden war, hängt also in der Hauptsache, soweit es sich um Güter für den Konsumkreis der Arbeitermassen handelt, an der Produkt i o n s f o r t s e t zu n g , weil nur mit dieser und nach Maßlgabe des Umfanges der Produktion Einkommen entstehen, die für die Nachfrage nach den Erzeugnissen der vorausgegangenen Produktionsphasen entscheidend sind. Bei sorgfältilger Überlegung gewinnt der Inhalt dieser zeitlichen Einkommenfolg·e .eine Bedeutung, die auch für die Beurteilung der Marxschen Theoreme nicht ohne Tragweite ist. Wenn aus der Man{schen Gedankenführung von den marxistischen Imperialismustheoretikern, insbesondere Hilferding und Rosa Luxemburg, abgeleitet wird, daß die imperialistische Politik eine unvermeidliche Konsequenz der kapitalistischen Wirtschaft sei, so gilt das ja nur dem Problem, wie es Sismoodi gesehen und in den Vordergrund seiner Krisenätiologie gestellt hat, nämlich der Frage: wer nimmt den Rest an Konsumgütern ab, der entsteht, wenn die Kapitalisten akkumulieren, indem sie den Mehrwert nicht völlig verzehren, sondern sparen? Die Tatsache der AkkUIIIl.ulation von Kapital, der Nichtverbrauch des Mehrwertes, wird bekanntlich als Krisenursache und daher als Antrieb dazu nachgewiesen, daß die kapitalistische Industrie genötigt sei, für den Absatz ihrer Erzeugnisse Gesellschaftsschichten oder Gesellschaften, die nicht kapitalistisch produzieren. heranzuziehen. Die nachmarxistischen Theoretiker, vor allem Rosa Luxemburg, haben aus MarxenslS Schema gegaD~genen

ta

K. Marx, Das Kapital, 2. Aufl., Harnburg 1893, II, S. 487 ff.

Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge 211

der Reproduiktion den Schluß abgeLeitet, daß der Mehrwert weder durch die Arbeiter noch durch die Kapitalisten "realisiert" werden könne. So ist der Begriff des "für sich allein noch nicht ausreichenden Marktes" für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel verankert worden. Es ist nun ganz evident, daß das erwähnte Schema Marxens von der Voraussetzung ausgeht, daß die Arbeiter mit dem Lohn für die Mitwirkung an einer Produktion das Produkt ebendieser Produktion kaufen, oder anders gefaßt: daß das Produkt nicht nur mit dem Mehrwert, der bei Veräußerung des Produktes erzielt wird, sondern auch mit dem Lohn, der bei seiner Produktion aufgewendet und erwirtschaftet wird, auf dem Markt gekauft wird: also voller Synchronismus der verschiedenen aus einer Produktion entstehenden Einkommen. Vergegenwärtigt man sich das, so muß der Tatbestand der zeitlichen Einkommenfolge den Begriff des nichtausreichenden Marktes in ein ganz anderes Licht rücken. Marx, der dem Zeitelement so eingehende Überlegungen zugewendet hat (Arbeitszeit, Produktionszeit, Umlaufzeit), hat dem zeitlichen Auseinanderfallen von Arbeitszeit und Produktionszeit in der Richtung gar keine Beachtung geschenkt, daß dieses zeitliche Auseinanderfallen die VerLagerung der Wertreproduktion auf einen so viel späteren Zeitraum bewirken kann als jenen, in dem die Arbeitszeit lag, so daß also auch die Wertbildung für ein Produkt gänzlich unabhängig von dem .bei seiner Herstellung entstandenen Arbeitseiiilkommen bleiben muß. Bedenkt man die Tatsache, daß der gesamte Erlös \für ein Produkt nicht aus den Erträgen der an der Produktion beteiligten Produktionsfaktoren (also auch nicht aus den Einkommen an Lohn, Zins usf.) herrührt, sondern daß ganz andere, mit der Entstehung anderer (später erst entstehender) Güter zusammenhängende Erträge den Gelderlös für jenes Produkt erst herbeiführen, der konstitutive Bedeutung für die Größe U, das Unternehmereinkommen, hat: so stellt sich natürlich auch der Mehrwert als eine wesentlich andere Größ'e dar als bei Marx; er läßt sich genetisch gar nicht so konstruieren, wie Marx es getan hat, indem er ihn gleichzeitig mit dem A11beitslohn, der bei dieser selben Produktion zur Auszahlung gelangt, entstehen läßt. Das bekannte 20. Kapitel des 2. Bandes des "Kapitals" ist mit seiner Analyse der Reproduktion vollständig beherrscht von der Vorstellung eines synchronistischen Einkommenbezuges. Der ganze Umschlag vollzieht sich innerhalb der konstanten und variablen Kapitalteile und des Mehrwertes. Zwischen den beiden Abteilungen I (Produktionsrnittelerzeug:ung) und n (Konsumtionsmittelproduktion) geschehen die Austauschbewegungen ohne Zeitverlust. Zeitablauf besteht nicht: das Zustandekommen des Mehrwertes ist für Marx weder hinsichtlich des "ob" noch hinsichtlich des "wieviel" ein Problem. Es ist ihm eben ein Datum, und insoweit ist die ganze Darlegung, unberührt von der Problematik des Nichtverkaufes eines Produktes. Dort,

212 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge wo Marx die Frage aufwirft, woher die Unternehmer der Konsummittelproduktion das Geld beschaffen, mit dem sie Produktionsmittel kaufen (II, S. 485), verfällt er teils auf außerwirtschaftliche Erklärungen (S. 486), teils auf die Feststellung, daß die Arbeiter, die die Konsumgüterproduzenten beschäftigen, die von ihnen selbst produzierten Waren von jenen wieder zu kaufen haben. Teils endlich rechnet er mit der Wirkung der Goldproduktion (S. 499). Marx hat natürlich nicht übersehen, daß das Schrumpfen oder Wachsen des variablen (Lohn-)Kapitals wesentlich bestimmend ist für die Gestaltung des "nichtausreichenden Marktes". Je wenige;r Löhne gezahlt werden, um so mehr sinkt die Absatzaussicht für viele Güter. Aber die Dinge liegen dann eben nicht so, daß das Kapitalinteresse auf Verschiebung des Verhältnisses des konstanten Kapitals (c) zum variablen (v) zugunsten des ersteren bestünde, sondern das Kapital ist vor allem daran interessiert, daß es seine Verzinsung und Reproduktion erreicht, und diese wird nur bei entsprechender Gestaltung des Absatzes zu erwarten sein, also nur, wenn das Lohnkapital (v) nicht kleiner wird. FreiHeb stehen die Kapitalisten vor einer Alternative, aber vor der Alternative: Erhaltung des v - ganz universell, also nicht etwa nur mit Beziehung zu einer bestimmten Produktmenge! - auf entsprechender Mindesthöhe, oder Zusammenbruch! Nicht aber, wie Marx gezeigt hat: Erhaltung des v oder Sinken der Profitrate. Das Sinken der Profitrate nimmt der Kapitalist ja in Kauf, das vollzieht sich so ganz allmählich, und der Gesamtprofit wächst dabei ja doch. Anders der Zusammenbruch der Wirtschaft, wenn die großen Märkte notleidend werden, weil die Kaufkraft der Massen einschrumpft. Es handelt sich also gar nicht bloß um Fallen oder Nichtfallen der Profitrate, sondern darum, ob überhaupt noch Mehrwert (P r o f i t) e n t s t e h e n kann. Schrumpft die Arbeitszeit, gleichviel ob mit Einschränkung der Produktion oder durch "Steigerung des Exploitationsgrad·es", immer wird mit der absoluten Abnahme des variablen Kapitals das Ende der kapitalistischen Wirtschaft unverme1dbar heraufziehen, wenn nicht von anderer Seite her Hilf.e kommt. Von den dem Gesetz der fallenden Profitrate "entgegenwirkenden Ursachen" kommt nur der auswärüge Handel, und zwar der Export in Frage14. Er wirkt zweifellos meist lange genug, um der inländischen Wirtschaft die Möglichkeit zur Wiedergewinnung der .genügenden Eigenkaufkraft zu bieten. Oft genug hat er aus der Depression herausgeführt. Aber nicht wegen der Akkumulierung des Kapitals, die mit dem Einsparen von Mehrwert bewirkt wird, wie Marx nicht müde .geworden ist zu beweisen, tritt eine Stauung im Wirtschaftsverlauf, tritt der Zusammenbruch einer Konjunktur ein, nicht weil der Wert des Produktes sich in Einkommen aufteilt, die das Produkt dann aufnehmen sollen, und weil dieser Gesamtbetrag an Einkommen für diese Aufnahme des Produktes unzureichend wird (der "nicht ausreichende Markt"), wenn nur ein Teil des Unternehmer- oder Kapitalisteneinkommens nicht für dieses Produkt als Kaufkraft verwendet, sondem in die Produktionssphäre übergeleitet wird: sondem t4

Marx a.a.O., III, 1, S. 218.

Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge

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die Unzulänglichkeit des Marktes ist schon mit dem Augenblick gegeben, in dem die an der Produktion beteiligten Arbeiter ihren Produktwertanteil als Lohn erhalten und verausgabt haben, bevor noch das Produkt auf dem Markt angeboten wird. Nicht etwa nur, wenn man eine einzelne Industrie hinsichtlich der Aufteilung ihres Produktes in die verschiedenen Einkommenarten isoliert betrachtet, sondern gerade dann, wenn man die ganze Wirtschaft als eine Einheit erlaßt, wird deutlich, daß das Produkt von heute nicht mit den Produktwertteilen der Arbeiter an diesem HeuteProdukt gekauft wird, sondern daß e r s t d e r P r o d u k t w er t anteil der Arbeiter an der Produktion von morgen und übermorgen die Nachfrage der Arb·eiter fundamentieren: muß für den Absatz des Produktes von heute. Deutlich wird aber auch, daß die Kategorie Mehrwert, die aus dem Produkt von heute entstehen soll, und deren Entstehung bei Marx so gar nicht problematisch scheint, überhaupt erst mit jener Massenkaufkraft entstehen kann, die in der Produktion von morgen und übermorgen als Arbeitseinkommen verdient wird. Daß diese Z·eitliche Folge der Einkommen von Marx, der die ganze Produiktwertaufteilung in diesen Einkommen absolut synchron ,gesehen hat, verkannt wurde, möchte man natürlich mitv.erantwortlich dafür machen, daß er die Abhängigkeit der Mehrwertentstehung von ganz andern Einkommen, nämlich jenen einer späteren Wirtschaftsperiode, verkennen konnte. Anderseits liegt es freilich auch nicht zu fern, anzunehmen, daß er von der Mehrwertidee viel zu sehr gefesselt war, als daß er so "nebensächlichen" Momenten wie den Zeitpunkten des Entstehens der Einkommen hätte Beachtung schenken können. Karl Marx muß t e ja geradezu den Fehler machen, zu übersehen, daß. der Mehrwert überhaupt nicht von den Löhnen für jenes Produkt abgezogen sein kann, ·aUS dessen Wert der Kapitalist den Mehrwert beziehen soll. Abgesehen davon, daß der Kapitalist im Augenblick der Lohnzahlung den wirklichen Gesamterlös nicht kennt, den .ganzen erzielbaren Erlös also als Lohn gar nicht zahlen könnte, würde die An_ erkennung, daß der Mehrwert des Produktes aus der Periode n nur aus der Gestaltun.g des tatsächlichen Absatzes in n + 1 zu erklären, also in seiner Existenz von der Gestaltung der Einkommen in n + 1 abihängig ist, nicht mehr und nicht weniger bedeuten als die i n n er e Unhaltbarkeit und Unwahrheit der Grundgleichung: W = c + v + m. Die mit dieser Gleichung angedeutete Auflösung des Produktwertes in drei synchrone Elemente verliert ihren Sinn, sobald man überlegt, daßl das Lohnkapital sofort unmittelbar in Lohneinkommen verwandelt wird, während alle andern eingesetzten Werte als variables und konstantes Kapital die ganze Metamorphose des Produktionsprozesses durchmachen müssen und erst auf dem Wege

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über die Aufwendung anderer Einkommen, der Einkommen der Periode n + 1, zur Geldform zurückkehren, in der sie zu jenem Produktwert W werden. Ein Bestandteil m kann aus diesem W überhaupt nur abgespalten werden, wenn die den Absatz des Produktes aus n sichernden Einkommen der Periode n + 1 derartig gestaltet sind, daß das ProduJkt aus n zu solchen Preisen abgesetzt werden kann, die auch wirklich alle drei Elemente c, v und m errgeben. Unter allen Umständen: das Lohneinkommen, das bei der Produktion in n verdient und während n ausgezahlt wil'd, entsteht nicht erst infol.ge der Verausgabung der Einkommen während der P-eriode n + 1, sondern es entsteht aus den Einkommen, die in der Periode n - 1 Güter gekauft haben. Der Produktwert W entsteht überhaupt nur in der Höhe, in der Nachfrage für das Produkt in der Zeitphase, in der dieses auf den Ma11kt .gelangt (n + 1), vorhanden ist. Daher entsteht auch m nicht, wenn diese Nachfrage nicht groß genug ausfällt. Da nun diese Nachfrage von all den Einkommen zusammen .gebildet wird, die dann am -dem Markte sind, so ist W auch von einem m aus einer vorausgegangenen Produktion n - 1 abhängig. Die beiden Teile der Gleichung sind also nicht unabhängig voneinander. Und die weitere wichtige Erkenntnis ist die, daß d er M eh r w er t in d e r H a u p tache abhängigist von der Gestaltung der Arbeitseinkommen in den der durch•geführten Produktion o 1 g e n d e n Z e i t p h a s e n. Marxens Schema beweist also gerade das I n t e r e s s e d e s U n t e r n e h m e r s u n d K a p i t 'a 1 i s t e n an der Höhe des Arbeitslohnes, ja an dem Wachsen des v, d. h. die kapitalistische Wirtschaft gedeiht nur, wenn das Arbeitseinkommen, der Soziallohn, eine wachsende Tendenz zeigt; sie ist bedroht, wenn nicht genug Sparkapital gebildet und nicht ,genug davon dem Lohnfonds zugewendet wird. Es ruckt nun nicht nur die Problematik der Mehrwertentstehung, sondern ·auch der Streit um die Q u e 11 e des Lohnes in ein anderes Licht. Bekanntlich haben F. B. W. Hermann 15 und Brentano 16 die Lohnfondstheorie damit vornehmlich bekämpft, daß die Löhne letzten Endes doch nicht vom Arbeitgeber, sondern von den Konsumenten der Ware getragen würden, der Arbeitgeber also nur als ein Vermittler zwischen Konsument und Arbeiter fungiere. Auf die Unzulänglichkeit dieses Einwandes haben schon Dietzez1 7 und Adolf Weber18 15 F. B. W. Hermann, Staatswirtschaftliche Untersuchungen, München 1832, Knt>. 6. 16 L. Brentano, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht, Geschichtliche und ökonomische Studien. Leipzig 1877, 2. Buch. S. 173 ff. 17 H. Dietzel, Vom Lehrwert der Wertlehre und vom Grundfehler der Marxschen Verteilungslehre, Leipzig und Erlangen 1921, S. 20 ff. 18 Adolf Weber, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München und Leipzig 1928, s. 256 f.

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treffend hingewiesen, indem sie hervorgehoben haben, daß ja die Kaufkraft der Konsumenten mit wachsender Produktivität der Volkswirtschaft steige, mit fallender Produktivität sinke. Die Auffassung, daß die Mittel für die Lohnzahlung von den Arbeitgebern zunächst einmal beschafft weiden müssen - gleichviel ob die Basis dieser Mittelbeschaffung auch immerhin Kredit sein mag -, wird durch die Tatsache, daß der Arbeitgeber als Produkteverkäufer von den Konsumenten den Wiederersatz der vorgeschossenen Löhne erhofft, nicht berührt. Zunächst muß der Unternehmerarbeitgeber den Mut zur Aufwendung der Löihne, den Mut zur Einsetzung dieses Lohnkapitals ha,ben. Ob er dann den Wiederersatz erreicht, hängt an der Gestaltung der Nachfrage in der Periode, in der das Erzeugnis auf den Markt kommt. Wenn also Dietzel und Ad. Weber sagen: die Gesamtproduktivität ist der wahre Lohnfonds, so entspricht das dem von dem Gesetz der zeitlich·en Einkommenfolge erfaßten Tatbestand, daß die Entwicklung der Arbeitsverdienste, also ein wachsender, jedenfalls möglichst hoher Beschäftigungsgrad in dieser Verkaufsperiode, die wichtigste Voraussetzung erhöhter oder wenigstens hoher Kaufkraft bildet. Der "Lohnfonds" späterer Perioden wird auch entsprechend dem Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge die Grundlage des Erfolges jenes Lohnfonds19 , der in einer vorausgegangenen Periode eingesetzt worden ist. Der Hermann-Brentanosche Einwand wird also in dem ~alle gegenstandslos, in dem Arbeiter die Hauptkonsumentenmasse stellen. Denn dann ist die Kaufkraft der Konsumenten im wesentlichen doch wieder durch den Lohnfonds der Arbeitgeber einer späteren Wirtschaftsperiode bewirkt, und es kommt daher doch darauf an, daß Kapital gebildet ist, das für Lohnzahlungen zur Verfügung steht. Es gibt wohl noch manche andere Theorie der klassischen Nationalökonomie, deren Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit ihre Erklärung darin findet, daß die Theoretiker, die die betreffenden Lehren aufgestellt haben, das Zeitmoment nicht berücksichtigt haben. Ich greife nur ein\ Beispiel heraus. Was schien selbstverständlicher als die mathematische Logik des ökonomischen Gesetzes, daß je höher der Lohn, c e t e r i s p a r i b u s , um so niedriger der Zins sein müsse. Man braucht aber nur zu überlegen, daß; der Ertra.g an Zins, der aus einer Produktion fließt, sich auf eine ganze Reihe von Wirtschaftsperioden verteilt, bis der Gesamtkapitaleinsatz wieder in die Geldform zurückkehrt, das~ Kapital herausgewirtschaftet und damit wieder frei geworden ist, während der Lohn längst ausbezahlt und verbraucht tv Zur Sicherung einer richtigen Auffassung des Begrlffes Erfolg des Lohnfonds sei bemerkt, daß damit die Zurückführung des auf dem Wege des Arbeitaufwandes im Produkt verkörperten Lohnkapitals in die Geldform gemeint ist, die bei Verkauf des Produktes erreicht wird.

216 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge ist, so erhellt überhaupt schon daraus, wie schief die ganze These ist, sofem sie das Verhältnis der Anteile der beiden Einkommenarten an dem Wert eines bestimmten Produktes zum Gegensand hat. Jene mathematische Logik kommt für diese Gegenüberstellung von Lohnund Zinshöhe schon deshalb nicht in Frage, weil die Einkommen, aus deren Verwendung der Produktwert auf dem Markt zustande kommen soll, aus denen allein letzten Endes daher auch der Zins für das in der Produktion investierte Kapital und der Unternehmel'lgewinn fließen, eine ganz selbständige neue Größe sind und auch, wenn und insofern sie Arbeitslöhne sind, einer ganz andern Zeitperiode angehören als jener Lohn, der für die Herstellung des Produktes aufgewendet wurde. So sehen wir, wie immer wieder die Produktionsgestaltung nachfolgender Wirtschaftsperioden die Voraussetzungen und Grundlagen für den Erfolg der wirtschaftlichen Bestrebungen vorausgegangener Wirtschaftsperioden schafft, und es gilt hier wiederum, sich darüber im klaren zu sein, wieweit gerade in der Verwendung der in den vorausgegangenen Wirtschaftsperioden erzielten Einkommen die Voraussetzung für die Produktionsgestaltung in den folgenden Wirtschaftsperioden mit geschaffen wird. Wie paradox es auch klingt - srpart die Bevölkerung, insbesondere auch die Arbeiterbevölkerung, der Periode n reichlich, so schafft sie mit dieser Kapitalbildung die Grundlage für guten Absatz der Produkte insbesondere aus der Periode n, aber eventuell sogar aus den Perioden n - 1 und n - 2. Es ist offenbar, daß diese Erkenntnis den Bedenken, die gegen die Wirkungen der Spartätigkeit für den Verkauf des Produktes n geltend gemacht werden, schlechthin widerspricht. Diese unsere Betrachtungen haben mit der Arbeitslosigkeit scheinbar nichts mehr zu tun. Dennoch greift das EI'Igebnis aus diesen Betrachtungen tief in die Problematik der Arbeitslosigkeit ein. Das zeitliche Auseinanderfallen des Arbeitsaufwandes bei einer Produktion und der damit verbundenen Entstehung von Lohneinkommen einerseits, der Anbietung des Produktes auf dem Markte anderseits rückt, vom Standpunkt des gesamtwirtschaftlichen Interesses aus gesehen, das Problem der Einkommenschaffung für jene Zeitphase, in der das Produkt vergangeuer Wirtschaftsphasen auf den Markt kommt, in die vorderste Reihe der sozialwirtschaftlichen Problematik. Daß es bisher noch nicht in seiner Bedeutung erkannt wuroe, hängt damit zusammen, daß in der aufsteigenden Volkswirtschaft die kapitalistische Produktion noch nie vor solche Hemmungen gestellt wo11den ist, und daß konjunkturellen Produktionsstörungen in der Regel in der Bevölkerungsvermehrung und in erheblicher Kapital-

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bildung starke Impulse gebende Kompensationsfaktoren gegenübergetreten sind. Es bleibt aber .grundsätzlich ungeheuer fraglich und unsicher, ob die freie kapitalistische Wirtschaft stets das erforderliche Maß und eine gewisse Reichhaltigkeit von Produktionsinitiative aufweisen wird, durch die die Beschäftigung der verfügbaren, Erwerb suchenden Arbeitskräfte mindestens immer auf solcher Höhe gehalten wird, daß im Gesamtarbeitselinkommen, das für den Markt so wichtig ist, keine Abnahme eintritt. Die Konstanz der Erwerbstätigkeit ist ja, wie wir gesehen haben, eine Voraussetzung für die erforderliche Konstanz der Zahl der Einkommen, und die Konstanz der Einkommenhöhe ist wieder Voraussetzung dafür, daß die Produktionszwe~ge für Güter elastischen Konsums zum Absatz ihrer Produkte gelangen. Es genügt nicht, daß die Summe aller verdienten Löhne sich nicht verkleinert. denn damit ist die Kalllfkvaft für die einzelnen Zweige der Produktion elastischer Konsumgüter noch nicht gegeben, weil sie von dem einzelnen Haushaltseinkommen abhängt und es für sie also darauf ankommt, wie viele Arbeiterhaushalte von der Lohnsumme erhalten we!'den. Je kleiner das Lohneinkommen des einzelnen Haushaltes, um so weniger Mittel bleiben für die Güter elastischen Bedarfs, deren Verbrauch ja eben mit der Höhe des Einkommens stark mitschwankt Bevölkerungsvermehrung unter .gleichzeitiger Senkung des Lohnpreises ist also nicht schon als Ausgleichsfaktor gegenüber der Arbeitseinkommensenkung unter allen Umständen wirksam. Allerdings wird die Erhöhung des Verbrauchs an Gütern starren Bedarfs, namentlich an Massenlebensmitteln, Wohnung, notwendigster Bekleidung, . eine wahrscheinlich rentenartige Erhöhung des Einkommens der Anbieter dieser Güter bringen; es bleibt aber eine Frage der Verwendung dieser "zusätzlichen" Gewinne, ob durch sie für die eigene Industrie der Volkswirtschaft der Ausfall ausgeglichen werden kann, der durch die Senkung der Lohneinkommen im Absatz eingetreten ist. Wenn also unter dem Druck der Arbeitsmarktlage bei freier Lahnpreisgestaltung ein beträchtlich.es Sinken der Lohnpreise und damit der Lohneinkommen eintritt, so wird immer damit gerechnet werden müssen, daß der Inlandbedarf für elastische Konsumgüter ins Stocken gerät, und es ist deshalb die Lohnsenkung ja auch gewiß nicht unter allen Umständen ein geeigneter Weg, die Wirtschaft vom Inlandmarkt her zu beleben. Immer aber besteht wegen der zeitlichen Einkommenfolge in jeder solchen Verschlechterung der Inlandabsatzaussichten für elastische Konsumgüter die Gefahr, daß eine Einschränkung der Gesamtbeschäftigung eintritt, und daß' damit jene Lawine ins Rollen kommt, die ihren Ausgang davon nimmt, daß mit der Einschränkung einer Produktion die Kaufkraft der nächsten Wirtschaftsphase zu

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klein wird, um die Produkte der vorausgegangenen Produktion aufzunehmen. Dazu kommt, daß die V e r I an g s a m u n g des Ab s atz es Erhöhung des durchschnittlichen Lagerbestandes und Verlängerung der Lagerungsdauer bedeutet und damit zeitliche Verschiebung des Wiederersatzes der in der ersten Phase aufgewendeten Löhne aus den Einkommen der letzten Konsumenten. Diese zeitliche Verlängerung des Kapitalumschlags ist nun nicht nur betriebswirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich als eine Erhöhung des Bedarfs an Lohnkapital zu buchen. Versagt die Elastizität der Kapitaldecke, so wird die Wirkung der zeitlichen Einkommenfolge nur um so stärker zur Geltung kommen. Jede Auseinanderziehung des Zeitraumes von der Verausgabung der in der ersten Produktionsphase aufgewendeten Löhne (z. B. in den B.aumwollplantagen) bis zu dem Augenblick der endlichen Wiederersetzung derselben aus Konsumenteneinkommen (z. B. bei Verkaruf des fertigen Barumwollkleidungsstückes) bedeutet die Notwendigkeit, mehr Lohn der Vor- und Zwischenproduktionsphasen vorzuschießen, bedroht also die Zulänglichkelt der Kapitalkraft der die Löhne vorschießenden Unternehmungen, womit sich ·als wahrscheinliche Folge die Einschränkung der Zahl der Lohnbezieher aufdrängt. In dem Maßie, in dem insbesondere mit der Verlängerung der Produktionsumwege die Zahl der Produktionsphasen sich erhöht, die zwischen dem ersten Rohstoffgewinnungsvorgang und der Einlieferung eines fertigen Gutes auf den Markt sich einschieben, vermehrt sich auch die Zahl der Lohnzahlungsetappen, und um so mehr zergliedert sich der Gesamtlohnaufwand für ein Produkt der gesellschaftlichen Wirtschaft in eine Vielheit von Lohngeld-Kreisläufen. Nun wird zwar innerhalb di·eser einzelnen 'Etappen der Umschlag des Lohnes .des Teilprozesses privatwirtschaftlich durch,geführt, aber die Zeitspanne von der ersten Lohnaufwendung bis zum endgültigen Wiederersatz aller Löhne in dem ·Erlös der konsumfertigen Produkte vergrößert sich, und damit müssen sich die Lohneinkommenbezüge vom endgültigen Kauf des Produktes (Kauf durch die letzten Konsumenten), bei dem sie entstanden sind, zeitlich immer weli.ter trennen. Man sollte meinen, es sei unschwer zu erkennen, wie stark solche Verlängerungen der Produktionswege, die einen wesentlichen Zug jed·es technischen Fortschrittes ausmachen, und die Tag für Tag in einer großen Zahl von Betrieben eingeleitet werden, die Marktgestalrungen beeinflussen und damit konjunktumaft Stauungen herbeiführen können. Alle mechanische Rationalisierung (Maschinisierung) kann sich daher auf drei Wegen zunächst wirtschaftlich ungünstig auswirken: e r s t e n s durch die ·am deutlichsten sichtbare Wirkung, die Substitutionswirkung: KapitaJgüteraufwand statt Lohnaufwand, Schwächung der Kaufkraft für die nächsten Märkte; z w e i t e n s

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durch die Produktionsphasenvermehrung: weitere Entfernung zwischen Lohnaufwendungen und Absatz des konsumreifen Produkts, daher gesteigerte Unsicherheit des Erfolges der Maschlnenherstellung wegen der Abhängigkeit V·On viel späteren Einkommen-, also Arbeiterbeschäftigungsverhältnissen; drittens Verteilung der Zurückführung des bei der Maschinenherstellung aufgewendeten Lohnkapitals in die GeLdform auf eine längere, der Lebensdauer der Maschine· entsprechende Reihe von Wirtschaftsperioden und damit trotz Einsparung von Lohnkapital ruuf der einen Seite Steigerung des· Bedarfs a n L o h n k a p i t a l infolge seiner langsamen Rückkehr aus der Maschine in die Geldform auf der andern Seite. Der unmittelbare Zusammenhang dieser dreifachen Wirkung der Rationalisierung durch Mechanisierung (insbesondere Al1beitsmaschinen-Einführung) mit der zeitlichen Einkommenfolge weist darauf hin, wie sehr es in der Natur der Dinge liegt, daß dies·er auch bei der Erklärung von strukturhaften oder konjunkturellen Wandlungen große Beachtung geschenkt werden muß. Die Arbeitslosigkeit, dieses Katastrophenerlebnis der kapitalistischen Gesellschaft, mußte kommen, um uns die Bedeutung der zeitlichen EinkommenfoLge sehen 2m lassen; die Arbeitslosigkeit ist mit die Auswirkung der Tatsache, daß die .Rolle der Wirtschaftserweiterung für das Gedeihen der produktiven kap[talistischen Wirtschaft ru wenig beachtet wurde. Das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge aber, das für einen .gewaltigen Bereich des produktionskapitalistischen Geschehens Gültigkeit hat, liefert die theoretische Grundlage für die Erkenntnis, daß das Sinken des Beschäftigungsgrades nur durch einen außerwirtschaftlichen od·er mindesten von außen, also von einer andem Volkswirtsch·aft, kommenden Anstoß aufgehalten werden kann; denn an sich droht jedes stärkere Einschrumpfen der Beschäftigtenzahl um sich zu greifen, und zwar um so mehr, je größer die Quote des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft ist. Das relative Schrumpfen der andern Einkommen bedeutet daher für die kapitalistische Wirtschaft infolge der zeitlichen Einkommenfolge eine erhöhte Gefahr, daß eine ausgebrochene Arbeitslosigkeit sich ausbreitet. Zu beachten bleibt, daß der gesicherte Fortgang der agrarwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit eine gewisse Sicherung gegen die Verbreiterung der industriellen Arbeitslosigkeit bedeuten kann, weil ihre Einkommenerzielung von der Kaufkraftminderung durch Arbeitslosi1gkeit industrieller Kreise weniger betroffen wird. Kehren wir zur FragestelLung am Beginn unserer Ausführungen zurück, so kann die Antwort auf die dort aufgeworfene Frage nur lauten, daß die K a u f k r a f t w a n d I u n g e n n i c h t n u r a 1 s Symptom, sondern als Ätion, als Krankheitssitz

220 Die Arbeitslosigkeit und das Gesetz der zeitlichen Einkommenfolge gesehen und von der Theorie der Wirklichkeitswelt, der Praxis mit allen Nachdruck gezeigt werden m ü s s ·e n. Freilich nicht von einer Theorie, die das Abstrahieren als wesentlichstes Prinzip des Theor·etisierens auffaßt und übertreibt. Abstraktionen behalten Sinn nur im Rahmen der Zwecke, denen eine theoretische Wissenschaft zu dienen hat. Unser Kampf geht für e i n e r e a 1 i s t i s c h e T h e o r i e , f ü r e i n &ewpwcx i n Z e i t und Raum, in denen sich die Wirtschaft v o 11 zieht.

Was macht ein Zeitalter kapitalistisch? (1931)* Die Annahme, daß eine historische Kategorie wie das Kapital Wandlungen unterworfen ist, also zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeutet hat, er:gibt sich als eine sozusagen selbstverständliche Folge einer soziologisch·en Betrachtungsweise. Aber diese Annahme hängt zunächst schon an der Voraussetzung, daß der Begriff Kapital überhaupt eine soziale Kategorie ist. Nimmt man an, daß· jene heutige Auffassung, die den Begriff Kapital in eine gewisse Beziehung zum GeLd bringt, richtig ist, dann liegen die Dinge insofern g.anz kLar, als ja das Geld nur als ein·e soziale Erscheinung denkbar erscheint 1. Aber die Gegensätzlichkeit in der Kapitalauffassung konzentriert sich gerade ganz besonders darauf, daß von der einen Seite im Kapital eine rein technische Kategorie (produzierte Produktionsbehelfe) gesehen wird, die mit Geld in gar keinem Zusammenhang steht, so daß darnach das Kapital auch in der isolierten Einzelwirtschaft vorkommen würde, Kapital also eine absolute wirtschaftliche Kategorie wäre, während von der anderen Seite der wesentliche Zug des Kapitals darin gesehen wird, daß ein Geldwertbetrag in einem Gestaltwandel (Geld- Ware- Geld) Mehrbeträge an Geld als Kapitalertrag liefert. Ist demnach der Kapitalbegriff umstritten, so kann es nicht überraschen, daß der Streit um den kapitalistischen Charakter eines Zeitalters noch viel unentschiedener ist. So mußte es kommen, daß die Übereinstimmung darüber, daß in der antiken Wirtschaft Kapital vorhanden war, noch gar nichts. in der Sache selibst bedeutet, und es war schon ein Fortschritt aus der Verschwommenheit der Sachlage heraus, wenn Rohoff feststellte, daß die Römer noch kein Kapital im modernen Sinn des Wortes gek,annt hätten, weder das Wort, noch die Sache, die es bezeichnete, weil produzierte Produktionsmittel keines-

* Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft,

1931, Heft 3. Das bedeutet allerdings durchaus nicht, wie hier ausdrücklich festgestellt sei, daß das Geld nur als sozial w l r t s c h a f t 1 i c h e Kategorie gedacht werden müsse. Das von Laum vorgebrachte Material zur Stützung seiner Hypothese vorn sakralen Utrsprung des Geldes ist zweifellos geeignet, d1e Vermutung zu bekräftigen, daß die tausch-wirtschaftliche Funktion überhaupt gar nicht die primäre, sondern eine von der Zahlungsmittelfunktion abgeleitete ist. (Vgl. Das heilige Geld, Tübingen 1924, passim.) Im Sinne der Laumsehen Gedankenführung würde auch die etymologische Zurückführung des Iat. Moneta auf eine etruskische Gottheit sprechen, nach der vermutlich der Tempel der Juno Moneta in Rom benannt war, in dem die Münzstätte entstanden ist. 1

Was macht ein Zeitalter kapitalistisch?

wegs dasselbe seien wie Kapital2 • Hier war doch einmal gesehen, worauf es begrifflich ankommt. Für die nationalökonomische Wissenschaft ist es an sich gleichgültig, ob ein historisches Zeitalter, z. B. insbesondere die Antike, kapitalistisch war oder nicht. Wenn dennoch im folgenden etwas br.eiter auf die wirtschaftsgeschichtl iche Literatur über den Charakter der antiken Wirtschaft eingegangen wird, so geschieht es aus dem Interesse heraus, die Zulänglichkeit der eigenen, d. h. nationalökonomischen Begriffsbildung daran zu kontrollieren, wie weit die wirtschafts.geschichtliche Forschung mit ihrer Hilfe zu klaren, durchsichtigen Urteilen über die wirtschaftliche Wirklichkeit der Vergangenheit zu gelangen vermochte. Kurz gesagt: die wirtschaftsgeschichtl iche Behandlnmg der Frage des Kapitalismus ist heurist·isch auch für die Nationalökonomie von Wert. Denn die Aufgabe der Wirtschaftsgeschichte, ein·e Zeit als kapitalistisch oder nicht kapitalistisch zu kennzeichnen, wird zum Prüfstein der Richtigkeit und· Zweckmäßigkeit der Begriffsklategorien, mit denen dort gearbeitet wird. Die Nationalökonomie hat nicht bloß absolute, sondern auch historische Kategorien zu entwickeln und diese müssen ganz besonders zur Differenzierung verschiedener Wirtschaftsverfassun gen g·eeignet sein. Kapitalismus ist nach dem Stande der Literatur 1liWl aber allem Anschein nach keine wirtschaftliche, sondern eine soziologische Kategorie, denn er wird vor allem als ein die ganze Gesellscllaft maßgebend bestimmendes System des Wirtschaftens angesehen, durch das H er r s c h a f t s v e r h ä I t n iss e zwischen den Wirtschaftern einer oder mehrerer Wirtschaftsgesellscha ften entstehen und ausgewertet wevden. Da aber der Kapitalbesitz die .Ergänzung der Herrschaftsverhältnisse ist und da die nationalökonomische Theorie die Tragweite des Kapitalbesitzes als eines "Datums" im Verteilungsprozeß zu erkennen und zu erklären hat, so ist der Einblick in das Wesen und die Funktion des kapitalistischen Systems nicht ohne Bezugnahme auf das ökonomische Wesen und die Funktion des Kapitals zu gewinnen. Sofern die nationalökonomische Forschung diese Funktion des Kapitals als eine Aluswirkung der Rechtsordnung ansieht, spielt allerdings auch die juristische Betvachtungsweise herein, womit wieder in F11age gestellt ist, inwieweit es gelingen kann, eine Wirtschaftsweise aus ökonomischen Elementen i. e. S. zu kennzeichnen. So ist also die Stellungnahme zu der Frage: was macht ein Zeitalter kapitalistisch, nicht zu trennen von Erkenntnissen nationalökonomischer Natur über das Wesen von Kapital tmd Kapitalwirtschaft und wo diese Erkenntnisse fehlen oder versagen, muß auch die wirtschaftsz Vgl. die sehr sorgfältige Abhandlung: Zur Geschichte des Wortes und Begriffes, "Kapital", Vjschr. f. Soz. u. W. XIV (1918) und XV (1919 und 1920).

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geschichtliche Beurteilung eines Zeitalters unklar und mangelhaft sein3 . Unter Hinweis auf den unaufhörlichen Aufstieg des Wohlstandes in Europa in der Zeit vor dem Kriegsausbruch 1914 schreibt Lot in seiner Darstellung des Untergangs der antiken Welt4, es sei für uns überI'Iascilend, daß nichts den Ruin des römischen Kaiserreichs habe aufhalten können, obgleich Mark Aurel, Diokletian, Konstantin der Verwaltung und der Finanzwirtschaft .des Reiches so gut wie vollständig wieder auf die Beine geholfen hatten. In der Gegenwart vermöge eine Handelskrise oder ein Krieg zwar wohl den Wohlstand und den Aufstieg zu unterbrechen, aber nach längerer oder kürzerer Zeit eines Stillstandes würden heute Produktion und Verkehr doch immer wieder hochkommen und die Reichtumsvermehrung sicll fortsetzen, wie es damals nicht gelun.gen ist. Warum? Weil wir unter einem kapitalistischen System leben, in dem alle Kräfte der Gesellschaft auf Produktion von Gütern gerichtet sind, die sich auf immer ausgedehntere Märkte er.gießen. Es muß an dieser Stelle ausdrücklich hervorgehoben werden, daß es nicht das Ziel dieser Betrachtungen ist, zur Frage Stellung zu nehmen, ob jene Historiker recht haben, die die Frage nacll dem "Vorhandensein des Kapitalismus", "eines wirklich kapitalisüschen Regimes" bejahen, indem sie die V·erdrän.~g der geschlossenen Hauswirtschaft durch die gesellschaftlichen Verkehrswirtschaften für das Zweistromland schon in die Hammurapi-Zeit verlegen5 , für Ägypten in das neue Reich etwa seit dem 16. Jahrhundert v. Chr., für die westlichen Provinzen des Perserreiches in die Zeit Darius' usf. Ebensowenig handelt es sicll uns um den Streit über den kapitalistischen Oharakter der helleniscllen Wirtschaftsverfassung im 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr., der hellenistischen Welt des 3. und 2. Jahrhunderts. Wir räumen z. B. ein, daß gewiß manches .dafür sprechen mag, wenn Lot diese letztgenannte Wirtschaftsperiode wirtschaftlich ung.efähr dem nacllcllristlichen 17. und 18. Jahrhundert vergleicht und ·es ist nicht ohne Reiz, wenn er den Untergang Griech.enlands nacll den Eroberungen Alexanders des Großen in Analogie zu dem Preisgeben des Ackerbaues im England des 19. Jahrhunderts stellt, weil in beiden Fällen dieselbe Ursadle zu erkennen sei: die Erscllließung von unvergleich3 Treffend sagt Sigwart (Pauly Wissowa IX, 2 2 Sp. 1904): "Leider sind die Worte Kapital, Kapitalist, Kapitalismus so vieldeutig, daß Mißverständnissen und falschen Begriffsbestimmungen Tür und Tor geöffnet ist." 4 Ferdinand Lot, La fin du monde antique et le debut du moyen-age. (Synthese coll. L'evolution de l'humanite.) Paris 1927, vgl. insbes. 4. Kap. 5 Zu vgl. dazu auch das zusammenfassende Urteil bei W. Otto, Kulturgeschichte des Altertums, München 1925, S. 30 f!., der sich ganz besonders scharf gegen die Bemühungen wendet, die kapitalistischen Symptome der antiken Wirtschaft als unwesentlich darzutun.

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lieh ertragreichen Agrargebieten: damals der Orient, im 19. J,ahrhundert die Neue Welt. Aber alle solchen Parallelen können nur dann wissenschaftlich Bestand halben, wenn die Identität des tertium comparationis f.eststeht. Worin anders aber sollte dieses zu erkennen sein, als in dem, was eben unter dem Namen .. ~apitalismus" geht. Nun hat es wohl den Anschein, als ob diese Kategorie eindeutig genug wäre, um irgendwelche Bedenken auszuschließen, und doch ist es manchmal, als wäre alle historische Arbeit, die der Erforschung der verschiedenen Kapitalismen gewidmet war, vergebens .gewesen, so unpräzis werden die Begriffe "Kapital", "Kapitalismus" und "kapitalistisch" gebraucht. Ganz besonders aber ist .geradezu eine gewisse Vorliebe auch bei den hervor:r.agendsten Vertretern antiker Wirtschaftsgeschichte zu erkennen, die Parallelen zum "modemen Kapitalismus" trotz aller Bedenken immer wieder spielen zu lassen. Und deshalb ist das Ziel der folgenden Darlegungen, obgleich sie sich weitgehend mit historischem Stoffe zu befassen haben, nicht etwa auf diesen se~bst, nicht auf den sachlichen Inhalt wirtschaftshistorischer Forschungsergebnisse eingestellt, sondem auf Probleme methodischen Charakters. Es kann nicht gut tun, wenn in der wirtschafts-geschichtlichen Forschung mit anderen Begriffsinhalten gearbeitet wird, als in der Nationalökonomie, und es k,ann auf die Dauer nicht darauf verzichtet werden, daß die Begriffe Kapital, kapitalistisch und Kapitalismus soweit gefestigt und geklärt werden, daß man sich nicht immer in der Gefahr von logischen Fehlern insbesondere der quaternio terminorum bewegt. Nicht nur bei den eben erwähnten Parallelen zwischen verschiedenen Zeitepochen, auch bei Vergleichungen auf derselben Zeitstufe, mögen sie auf Gleichartigkeit oder auf die Verschiedenheiten des Charakters von Wirtschaftskörpern abheben, wird allzu gem übersehen, daß man es mit einem äußerst schwierigen, weil sehr komplizierten und bis heute wohl noch nicht gelösten methodischen Problem zu tun hat. Es ist mindestens schon fraglich, ob es sich überhaupt um ein statistisches Thema handelt, ob es möglich ist, den GI1ad der kapitalistischen Durchsetztheit einer Volkswirtschaft restlos durch zahlenmäßige Erfassung von Massentatsachen genügend zu kennzeichnen. Dabei gilt es noch besonders folgendes zu beachten: Wenn man von dem Charakter z. B. der Volkswirtschaft Deutschlands in den 80er und 90er J,ahren des vorigen J ahrhrunderts spricht, so denkt man selbstverständlich an die kapitalistischen Erscheinungen, denkt man daran, daß die Masse der industriellen Großbetriebe schon eine dominierende Quote der gesamten industriellen Arbeit bildete, daß die Großbanken im Aufstieg waren, daß das in ihnen arbeitende Geldkapital die in-

Was macht ein Zeitalter kapitalistisch? dustrielle Entwicklung maßgebend zu beeinflussen strebte, u. dgl. m. Man denkt a;ber nicht auch ,an die Millionen Menschen, die damals noch mit ihrer Berufstätigkeit rund Lebensarbeit im wesentlichen noch unberührt von dem dahinlebten, was den kapitalistischen Geist ausmacht, von der Anwendung des kapitalistischen Prinzips bei allen wirtschaftlichen Entschlüssen, Entscheidungen und Maßnahmen. Man denkt aber ebensowenig anderseits daran, .daß gerade in dieser großen Masse der Bevölkerung sich in der verhältnismäßig so kleinen Spanne Zeit von einem halben Jahrhundert das GeLderil'agstreben und die Rentabilitätsrechnung vordrängen und die Köpfe und ihr Denken allmählich zwar, aber doch immer vollständiger zu erfüllen und zu beherrschen beginnen. Was wir damit sagen wollen ist nichts anderes, als daß die Wirtschaftsverfassung im Sinne des Zuständlichen zumeist eben sich in einem Werdeprozeß befindet. Nicht immer. Es lassen sich verhältnismäßig .ganz lange Zeiträume in der Vergangenheit erkennen, in denen die Wirtschaftsordnung und der Wirtschaftsablauf ganzer Staatsvölker keine wesentliche Änderung erfahren haben, Perioden einer Stationarität der Wirtschaft, in denen kaum das Bevölkerungswachstrum Impulse zur Ausweitung des Lebenskreises gab: wieder eine Verschiedenheit rein historischen Charakters, die eine "allg.emeine" Kennzeichnung einer Epoche kompliziert und erschwert. Sieht man von den Waudervorgängen und dem natürlichen Bevölkerungswechsel ab, dann wird man freilich auch in unserer allerunmittelbarsten Wirtschaftswelt voll Unrast und Änderungsymptomen, die das trendhaft Ansteigende 1an allen Ecken und Enden empfinden lassen, nicht lange zu suchen brauchen, um dennoch Oasen der Ruhe, ja des Stillstandes zu finden. Es gibt eine große Zahl von Kleinstädten und seLbst Mittelstädten in Deutschland wie auch ande1wärts, in denen (abgesehen von der elektrischen Beleuchtung und vielleicht der Niederlassung einer Bank in der Form einer Depositenkasse) sich in den letzten 30 Jahren so gut wie keine Einwirkung der "Kapitalistifizierung" erke1men läßt und ganz gewiß war vor einem Menschenalter, als an dem kapitalistischen Charakter der deutschen Wirtschaft kein Zweifel bestand, das geographische Gebiet, innerhalb dessen die in ihm arbeitenden rund erwe11benden Menschen in den "Zauberbann" des kapitalistischen Geistes1 und seiner Wirksamkeit ganz und gar nicht einbezogen waren, ein recht großer Bruchteil des deutschen Landes. Und anderwärts war der Kontrast zwischen lmpitalistischen und nicht kapitalistischen Wirtschaftsterren einer Volkswirtschaft noch viel schärfer gewesen: in Österreich, in Ungarn, Rumänien und anderen Ostgebieten, auch im Westen, z. B. in Frankreich ist die geographisch-politische Einheit ökonomisch-sozial alles eher als homogen. 15 von Zwiedineck-Südenhorst, I

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Gewiß treffend betont Rostowzew die Mannigfaltigkeit der Wirtschaftsverhältnisse als eine Schwierigkeit, die Wirtschaftszustände einer bestimmten Zeit zu charakterisieren, und er hat wahrscheinlich recht, wenn er in dieser Hinsicht die Dinge der Antike mindestens ähnlich den Verhältnissen unserer Tage sieht6. Man kann eben noch weitergehen ,als .er: nicht nur daß das Wirtschaftsleben in England ein anderes ist als das in Rußland und auf dem Balkan, auch die Wirtschaft Rußland:s wies vor dem Krieg ganz schroffe Verschiedenheiten auf: hoch entwickelten Industriekapitalismus (in Mosroau, PetersbW1g, Lodz usf.), umgeben von fast naturalwirtschaftliehen .Aigl'!argebieten. Rostowzew hat denn auch grundsätzlich natürlich unbedingt recht, wenn er gegen Generalisierungen in der Beurteilung der antiken Wirtschaft sch.arf Front macht. Nur bestehen die Gefahren nicht darin allein; es kommt nicht weniger auch darauf an, daß. auch in der Bewertung der hohen und höchsten Stufen der gesellschaftlichen Wirtschaft, al:so der Spitzenle~stungen der vorchristlichen Zei:t, immer das richtige Maß ,gehalten wird. Daher ist es also, selbst soweit die statistische Methode überhaupt in Anwendung kommen könnte, durchaus nicht damit abg.etan, das Problem in der Wahl des Mittelwertes zu s-ehen und dieses zu lösen. Es spricht auf den ersten Blick scheinbar vieles dafür, daß mit der statistischen Kategorie des "häufigsten Wertes" zu arbeiten sein würde, es ist aber für den nur annähernd mit der Mannigfaltigkeit des wirtsch,aftlichen Lebens Vertrauten g,anz außer Zweifel, daß es bei der Kennz.eichnung einer Volkswirtschaft nicht nur auf diesen dichtesten Wert ankommen kann, sondern daß der aufst,eigende und der absteigende Ast der Häufigkeitskurve für den Charakter vieler Erscheinungen .ebenso maßgebend sein können. Wir haben diese Frage hier nicht weiter zu verfolgen, und zwar um so weniger, als es wohl nur ,als ·eine Aufg,abe der kommenden Tage bezeichnet w-erden kann, überhaupt erst die statistischen Erhebungen so auszubauen, daß das Materi.al für solche statistische Analysen beschafft wird. Für die Vergangenheit versagt sich uns dieser Weg ja vollends. Wenn man dennoch nicht darauf verzichten will, das Werden dessen zu erfassen, was überhaupt als Kapitalismus und dann was als moderner Kapitalismus g·elten kann, und P-erspektiven zu gewinnen, die die Wirtschaftszustände anderer Völker und anderer Zeiten in einem, wenn auch nicht abmeßbaren, so doch ungefähr erfaßbaren Verhältnis uns verständlich machen sollen, dann muß, wie gesagt, mindestens ein Erfordernis erfüllt werden: Klarheit über die Begriffe, mit denen die 6 Rostowzew, Social and economic history of the Roman Empire, Oxford 1926, vgl. S. 483 ff.

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Kennzeichnung der Zustände in der Regel und hauptsächlich zu erfolgen pflegt. Es gilt aber hier festzustellen, daß die Kennzeichnung eines Zeitalters auf seinen kapitalistischen Charakter in ZIWei Richtungen methodisch problematisch ist: 1. das Augenblicksbild einer VoLkswirtschaft ist selten ein einheitliches, in der Regel sehr mannigfaltig; 2. schon innerhalb einer kurze~ Zeitspanne können Fortschritte des Kapitalismus das Wesenbild ändern, um so bedenklicher ist die einheitliche Kennzeichnung eines ganzen, mehrere Jahrhunderte umspannenden Zeitalters. Daher ist nicht nur die Eindeutigkeit der Begriffe Kapital, kapitalistisch und K!apitalismus geboten, sondern es bedarf auch der Unterscheidung verschiedener Grade in der kapita Iistischen Durchsetzung einer Volkswirtschaft, auch diese selbstverständlich in genügender Klarheit und Eindeutigkeit. Wenn nun im folgenden vorerst zu zeigen unternommen wird, daß es an dieser Klarheit und Eindeutigkeit fehlt, so muß zweierlei dazu vorausgeschickt werden: 1. daß zwar nur wenige, aber besonders hervorragende und jüngere wirtschaftshistorische Werke für die Antike herangezogen werden, um den Stand dieser begrifflich-terminologischen Problematik aufzuzeigen; 2. daß es uns ferne liegt, •aus der Unklarheit und Unbestimmtheit der begrifflichen Kategorien etwa nur oder vornehmlich den Wirtschaftshistorikern Vorwürfe zu machen, denn diese Vorwürfe fallen ganz wesentlich auf unsere eigene Wissenschaft zurück, deren Aufgabe es in erster Linie ist, die erforderliche begriffliche Klarheit herzustellen und die Übereinstimmung mit anderen Wissenschaften darin zu ermöglichen und anzubahnen. Wir müssen leider feststellen, daßt sie diese Aufgabe bisher nicht geleistet

hat.

Wenn man die Auffassung vertritt, daß auf die Differenzierung mehrerer Arten und dann wohl auch von Stufen des Kapitalismus mehr Sorgf.alt gelegt, noch mehr Arbeit aufgewendet werden muß, so kann gerade hiefür ein erstrangiger Forscher der .antiken Wirtschaftsverhältnisse, Rostowzew, als Stütze herangezogen werden, denn namentlich in seinem .großen, von ungeheuren Detailkenntnissen getragenen und darum zweifellos auch lebensvollen und doch immer wieder die große Linie weisenden und damit an d1e Sozialtheorie herangehenden Werke über die Sozial- und Wirtschafts .g es c h i c h t e des Römischen Reiches 7 läßt er keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er nicht nur zwischen commercial und industrial capitalism einen Unterschied gemacht wissen will, sondern daß auch der industrielle Kapitalismus nicht als ·eine einheitliche Kategorie verstanden werden dürfe. 1

Vgl. das oben angeführte Werk, insbes. Preface S. X.

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Gerade angesichts des Gewichtes, das seine Darstellung besitzt, muß der Nacb:weis1 der unzulänglichen Schärfe der im Vordergrund unseres Interesses stehenden Kate~orien bei ihm einsetzen. Rostowzew weist eine Fülle von Tatsachen in der antiken Wirtschaft nach, die ~apitalistischen Charakter an sich t.t~agen sollen, im Anschluß daran aber wirft er die Frage auf: Warum ist die Industrie der Antike nicht zu jener Höhe der Entwicklung aufgestiegen, die die moderne Welt erreicht hat? Warum ist die Industrialisierung der alten Welt steckengeblieben? Und weshalb war es dem römischen Reich versagt, die unserer Zeit eigentümlichen kapitalistischen ~ormen der Industrie zu entwickeln8 ? Rostowzew zögert nicht, sogar die Bodenkultur als kapitalistisch einzuschätzen9 • Di,e Auffassung Büchers, Salviolis, M. Webers, daß die Verankerung der antiken Wirtschaft in den Formen der geschlossenen Hauswirtschaft eine solche Entwicklung gehindert hätte, sei falsch, weil die hauswirtschaftliehen Erscheinungen in der Welt des römischen Reiches nur Überbleibsel g.ewesen seien. Ausgrabungen von armen ländlichen Friedhöfen (poor rural cemeteries) bewiesen durch und durch, daß ländliches und häusliches Zu:behör, Töpfe, Lampen, Toilette.artikel, Juwelen, Kleider u. dgl., nicht im Haus hergestellt, sondern vom Markt bezog,en wurden. Rostowzew lehnt die Büchersehe StufenfoJge überhaupt ab. Immerhin hält auch er die Frage ·eben doch für gerechtfertigt, w es h a 1 b diese Überreste einer Hauswirtschaft von der zu so hoher Leistung aufgestiegenen hellenistischen Industrie nicht verdrängt werden, sond·ern im Gegenteil eine so große Bedeutung wiedergewinnen konnten. Nach der Beantwortung fällt diese Frage mit der nach dem Steckenbleilben der Entwicklung zum Kapitali.smus zusammen. Die Theorie von der Billigkeit der Sklavenarbeit, die das Aufkommen von arbeitsparenden Maschinen verhindert hätte, hält Rostowzew für unhaltbar, weil Sklavenarbeit gar nicht .so sehr billig gewesen sei, die für Sklaven gezahlten Preise seien im allgemeinen sehr hoch gewesen. Auch das FeMen von Streiks sei kein Gegenbeweis, denn es hänge nur mit dem niedrigen Stand der Industrie zusammen. Der Verfall der Industrie habe in dem Augenblick begonnen, als die Technik aufhörte, Fortschritte zu machen, gleichzeitig mit einem Stillstand in der "rein wissenschaftlichen Forschung", und diese Tatsache könne nicht mit Sklavenbeschäftigung erklärt werden. Der schwache Punkt der industriellen Entwicklung in der Kaiserzeit sei der M 'a n g e l a n w a h r .e m W e t t b e w e r b gewesen und s Ebenda S. 302. g Wenngleich er sie mit kluger Vorsicht wiederholt nur als scientific bezeichnet. Vgl. a.a.O. S. 19, insbes. Weinbau S. 182, "production of wine was organized in a scientific way on capitalistic lines"; auch 186 f.

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dieser Mangel hing vo1lständtg Z'USammen mit Charakter, Zahl U!lid Kaufkraft der Käufer, also des Publikums. Die ungeheure EntwickJung der hellenistischen Industrie - deren weltweiter Absatz zunächst hier als\ Tatsache hingenommen wird ohne Rücksicht darauf, wie weit damit die W·irtschaft als Ganzes gekennzeichnet werd·en kann - sei aufgebaut gewesen auf. der Anpassungsfähigkeit der griechischen Geschäftsleute, die offenbar drurch rege Konkurrenz geschärft wor.den sei. Wieder möge die tatsächliche Richtigkeit der vorgetxagenen Argumente außer Betracht bleiben, obgleich sich manches Bedenken geltend machen läßtlO, so bleibt doch nicht einzusehen, weshalb the lack of real competition in der Wirtschaftswelt der römischen Kaiserzeit die Entwicklung der Industrie zu kapitalistischen Formen gehindert haben soll, während g.ewiß im 15. bis 18. Jahrhundert die kapitalistische Form des Vedags. die Hemm'l.l11igen der zünftlerischen Wettbewerbsschranken zu überwinden vermochte. Dieser Einwand Rostowzews, der die Schuld in dem Ausbleilben der kapitalistischen Entwicklung der Rechtsordnung zuzuschreiben scheint, berührt sich aufs engste mit der sozialrechtlichen Begründung des Kapitalismus, auf die weiter unten noch näher einzugehen sein wird. Wenn man nun rauch alle sachlich.en Bedenken gegen Rostawzews Argument unterdrückt, so muß doch verm.erkt werden, daß er mit seiner Beweisführung sich jedenfalls weit mehr in den Gedankenbahnen der M a r x i s c h e n K a p i t a 1 s t h e o r i e bewegt als seine Gegner. Denn im letzten Grund ist das wichtigste der Argumente, die er vorbringt, um das Ausbleiben der industriekapitalistischen Entwicklung zu erklären, der Stillstand der Expansion des Reiches seit Hiadrian. Er schreibt ungefähr folgendes11: Solange die Ausdehnung der römischeni Zivilisation im Fortschreiten begriffen war, gedieh und entwickelte sich die Industrie. Schrittweise wurden die Provinzen 10 Es ist ganz und gar nicht einzusehen und durch Rostowzew auch wirklich nicht genügend behandelt, weshalb die Entwicklung des ganzen Mittelmeergebietes zu einem großen Markte für die griechische Industrie einschließlich der "countless halfbarbarian inhabitants" von Gallien, Spanien, den Küsten des Schwarzen Meeres usf. in der hellenistischen Zeit so leicht gelingen konnte und weshalb nach dem Sieg des Augustus und der Wiederherstellung "normaler Verhältnisse" durch ihn, auch wo der Bürgerkrieg zerstörend gewirkt haben mochte, die griechisch-römische Industrie sich nicht hat weiter entw'ickeln können, zumal doch Rostowzew selbst ausdrücklich feststellt: The industrial centres awoke to new life, and the nurober Olf consumers increased (a.a.O. S. 304), und an anderer Stelle (S. 3) hat man erfahren, daß die hellenistischen Städte des Ostens einen großen inneren Markt (internal market) zu ihrer Verfügung hatten, daß sie schrittweise die Technik der agrarischen und Industriellen Produktion mit Hilfe reiner und angewandter Wissenschaft verbesserten und daß sie in Landwirtschaft und Industrie die Methoden reiner kapitalistischer Wirtschaft auf Sklavenarbeit beruhend angewendet haben. Weshalb ist das nicht auch im Westen möglich gewesen? 11 A.a.O. S. 305.

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industrialisiert. Mit Hadrian härte aber die Expansion .auf, Neuland WUl'de nicht mehr erworben. Die Romanisierung, teilweise Urbanisierung der Provinzen erreichte ihren Höhepunkt in Hadrians Zeit. Der Markt für Industrie war nur mehr beschränkt auf die Städte und die Landdistrikte des Reiches. Die Zukunft der alten Industrie hing von der Kaufkraft ab und während zwar die Kauffähigkeit der s t ä d t is c h e n Boungeoisie groß war, war diese der Zahl nach doch be~chränkt und das städtische Proletariat wurde beständig ärmer. Der materielle Wohlstand der Landbevölkerung aber verbesserte sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Die Fabrik der römischen Industrie ruhte daher ,auf sehr schwachen Grundlagen, .auf denen keine kapitalistisch,e Industrie aufgebaut sein konnte. Wenn ,es nun an dieser Stelle auch nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, so drängen diese FeststellQillgen unvermeidlich zur Schlußfo1ger:ung: kapitalistisch,e Produktion ist auf die Dauer nur möglich auf der Grundlage der Einbeziehung neuer Absatzgebiete in die Wirkungssphäre der kapitalistischen Unternehmung. Sobald sie ausbleibt, muß auch die kapitalistische Industrie verkümmern. Das ist in nuce der Gedanke der marxistischen und nachmarxistischen I m p er i a 1 i s m u s t h e o r i e 12 : mit einem Element der marxistischen Geschichtsphilosophie versucht also gerade Rostowzew das Versagen der dynamischen Grundlagen für die kapitalistische Entwicklung der Industrie des Kaiserreiches zu erklären. Rostowzew muß aber mindestens für die große Linie der Veränderungen von der hellenistischen zur Kaiserzeit, insbesondere also zur Zeit der Antonine in diesem Sinne verstanden werden. Denn es ist kein Grund, einzusehen, weshalb es einerseits der griechischen und hellenistischen Industrie möglich er Imperialismus im Lichte der marxistischen Theorie, München 1928. 13 Vgl. oben S. 491 Note. 14 Vgl. auch W. Otto. Kulturgeschichte des Altertums, S. 30 f., 77, 132 ff. Er betont den Manufaktur-, also doch kapitalistischen Charakter der klassisch-griechischen Industrie. 15 Rostowzew, Social and economic history, S. 161 ff.

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bau!) bewirkten Veränderung der günstigsten Standortslage: bei kapitalistischer exakter Rechnungskontrolle eine unvermeidliche Folge. Für die Frage nach dem Charakter der gewerblichen Produktion ist es gänzlich gleichgültig, welches Gebiet schließlich die Oberhand in einem Erwerbszweig erlangt hat, ob es Griechen, Römer, Gallier oder Orientalen waren. Wichtig aber ist: warum ist der kapitalistische Charakter verloren gegangen, der durch die in der hellenistischen Zeit aufgekommenen Absatzmöglichkeiten in der verlagsmäßigen Unternehmungsweise sich durchzusetzen vermocht hatte? Wodurch ist das zerstört worden 16, gerade auch die italischen capitalistic concerns17? Rostowzew antwortet eigentlich nur mit einem Wort: decentralisation! Decentralisation of industry stopped the growth of industrial capitalism in Italy and it was not stunting the growth of large industrial concerns in the provinces 18• Für die gewerblichen Unternehmungen in der Provinz nimmt Rostowzew ähnlich wie für den Osten und Italien den Charakter der Massenproduktion an 19• Aber immerhin seien auch in diesen provinziellen Industriezentren die big capitalistic concerns nie größer geworden, nie wirksamer organisiert worden als in der hellenistischen Periode2°, aber "der kapitalistische Charakter dieser concerns ist evident" 21 • Andererseits scheint aber der Untergang der Massenproduktion von Tonlampen in Fortis (Norditalien) dem Aufkommen zahlreicher lokaler kleiner Erwerbswirtschaften zuzutellen 7.U sein 22 • Das sind doch alles Tatsachen, die zum Teil nicht gerade für die Kraft des Kapitals sprechen, zum Teil aber die Hauptprobleme völlig ungeklärt lassen; insbesondere: warum ist es in Belgien zu einer kapitalistischen Großbrennerei gekommen, warum nicht auch in Italien? Soll etwa in Belgien die Kaufkraft der Bevölkerung dort soviel größer gewesen sein als im Italischen oder war die Bevölkerung dort soviel größer, die für den Absatz von industriellen Erzeugnissen in Frage gekommen ist? All das sind aber nicht die Frag-en, die uns hier angehen. Unser Problem ist die Frage: worin hat Rostowzew den kapitalistischen Charakter aller jener Wirtschaftserscheinungen erkennen zu wollen geg1aubt, die ihn bestimmt haben, Kapitalismus als gegeben anzun-ehmen? Rostowzew formuliert zwar ganz ausdrücklich, daß es wahr sei, wenn behauptet wird, daß ,di,e antike Welt niemals die Stufe des industriellen Kapitalismus erreicht habe (S. 482 f.), ein Satz, mit dem 18 Ebenda S. 3: Hence the commercial capitalism of the Greek cities of the 4. century attained an ever higher development, which brought the Hellenistic states very near to the stage of industrial capitalism; vgl. dazu auch

s.

165.

Von der Bürgerkriegszeit sagt Rostowzew S. 19: These men appl'ied the capitalistic system of management to industrial concerns also, especially in Rome, Etruria and Campania. Vgl. ferner das von der Flavier- und Antoninen-Zeit S. 161 Gesagte. 18 A.a.O. S. 165. to Rostowzew a.a.O. S. 165. 20 Auf derselben Seite heiß,t es allerdings von italienischen Verhältnissen: industry remained in the hands of comparatively small shopkeepers and never took the form of great industrial concerns. 21 Ebenda S. 166. Z2 Vgl. ebenda S. 163. 17

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nicht alle vorausgehenden vollständig übereinstimmen, der .aber genug an kluger Vorsicht enthält, um unanfechtbar zu sein. Und dennoch ist das kein befriedigendes Ergebnis, und zwar um so weniger, als eben manche Ausführung die Zweifel des Lesers über den Charakter und das Wesen dieses tatsächlich doch vorhandenen Kapitalismus nur zu steigern vermocht hat. Man kann bei Rostowzew, wenn man seine Polemik ,gegen die vermeintlich marxistische Kennzeichnung der Wirtschtaftsverhältnisse der Antike als nichtkapitalistisch (Bücher, Salvioli, M. WeberJ 23 mit dem positiven Inhalt seiner Darstellung zusammenhält, den Eindruck nicht überwinden, daß er die Zwischenglieder zwisch·en natural-autarker Hauswirtschaft und kapitalistischer Gesellschaftswirtschdt übersieht. Er kennt, möchte man sagen, nur diese beiden Wirtschaftsz•ustände und setzt daher auch das Auftreten der Geldwirtschaft schon schlechthin dem Kapitalismus gleich24 . Es kommt aber doch nicht bloß das Verhältnis zwischen house-economy und capitalistic economy in Frage. Gerade das ausgesprochene Übengewicht des Städtewesens ("the Roman Empire an ag.gregate of cities")25 spricht zunächst dafür, daß das städtische Wirtschaftsleben im Römerreich wenigstens größtenteils, durch die vielen lokalen Märkte ,gegliedert, höchstens ein kleinbürgerlich...,handwerkliches Gepräge gehabt h.at 2 6, in dein bei verschiedenen Bedürfnissen an gewerblichen Erzeugnissen wohl ein Geldverkehr, aber nicht ein kapitalistisch beherrschter Verkehr bestand, was nach dem Stande der nationalökonomischen Lehre denn doch unbedingt auseinanderzuhalten war. Gewiß hat es Kapital geg.eben und sind kapitalistische Erwerbsvorgänge aufgekommen gewesen 27• 23 Bücher und Max Weber als Vertreter der marxistischen Theorie zu stempeln ist völlig ungerechtfertigt und bei einem so sorgfältigen Forscher wie Rostowzew nicht ganz verständlich. Von einer Anwendung der marxistischen Theorie auf das Problem der Charakterisierung der antiken Wirtschaft kann weder bei Bücher noch bei Max Weber die Rede sein. Man kann es m. E. nicht einmal von Salviolis Darlegungen behaupten, wenngleich bei diesem vielleicht eine gewisse Genugtuung vorausgesetzt werden kann, mit seinen wirtschaftshistorischen Forschungsergebnissen der marxistischen Lehre historische Stützen zu liefern. 24 Social and economic history, S. 483 f. !s Ebenda S. 129. 28 Mit Recht ist von Francotte auf die von Thünen formulierte Standortsgesetzmäßigkeit hingewiesen worden. Die von Rostowzew herangezogenen Abbildungen zur Illustrierung von Landtransporten vermögen keinesfalls die Annahme zu stützen, daß die Massentransporte der hellenistischen und der Kaiserzeit unter erheblich günstigeren Bedingungen standen als im Orient des 19. Jahrhunderts. 27 Hasebroeks Darlegungen über die Rolle des Staatsrentnerturns (Staat und Handel im alten Griechenland, Tübingen 1928, S. 34) sowie über den Kampf zwischen Staat und Individuum um den Besitz - allerdings für die vorhellenistische Zeit - legen die Pflicht auf, immerhin auch in der Beurteilung der späteren Wirt.scha.ftszusammenhänge neben der Beschränktheit der Bedürfnisse niemals die Rolle des Staates und der Stellung des Voll-

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Aber allzu häufig, wenn von Kapital und Kapitalismus geredet wird, ist garr nicht zu erkennen, was K .a p i t a 1 g e wes e n , in welchen Kapitalgütern es umgeschlagen worden sein soll und wie weit das Wesensmerkmal des Kapitals: der GeldeinkommenbiJ.dung 1gewidmetes Vermög.en zu sein und in diesem Sinne eine sozialwirtschaftliche Funktion zu erfüllen, in jenen Wirtschaftsvorgängen zu erkennen ist. Die Schwächen, die man in dieser Darstellung RostowZJews empfindet, sind nun aber gewiß nicht bloß auf das Schuldkonto der Wirtschaftsgeschichte zu buchen. Sie erklären sich erstens damit, daß die Nationalökonomie, die zur einheitlichen und eindeutigen Fassung deT einschlägigen Begriffe berufen ist, diese KJavheit und Einheitlichkeit der Definitionen .bisher noch nicht errungen hat. Wo die Exaktheit der wissenschaftlichen Arbeit versagt, da stellt nur allzu gern die Verschwommenheit einer communis opinio oder ein Sprachgebrauch. sich ein und so wäre es gar nicht so überraschend, wenn auch ein Gelehrter vom Range Rostowzews angesichts des Versagens der berufenen Fachwissenschaft vom Kapitalismus schlechthin spräche. Aber die eigenen Erkenntnisse haben ihn zu Differenzierung 1gedrängt, wie wir sie kennengelernt haben: Handelskapitalismus und Industriekapitalismus neben dem Analogon "scientific agriculture on capitalistic lines" 28 eine Gliederung, mit der sich sein beweglicher Geist aber auch nicht begnügt, da er im Vorwort wenigstens für die antike Wirtschaft einen Feudalkapitalismus einem Stadtkapitalismus .gegenüberstellt29. Damit wird die Klassifizierung nicht besser, und zwar um so weniger, als über die Gesichtspunkte, unter denen diese Unterscheidung vorgenommen wird, wieder nichts gesagt wird. Hier aber ein Wort der Erklärung beizufügen, wäre um so gebotener gewesen, als die wissenschaftliche T·erminologie bisher die kapitalistische und die feudale Wirtschaft als Konträrbegriffe einander entgegeng.estellt hat. Es ist ein Schritt weiter, wenn der Historiker es für notwendig erachtet, eine Begriffsbildung der kapitalistischen Wirtschaft zu geben, die eindeutig erkennen läßt, wie der Verlasser verstanden sein will. So definiert W. Otto: kapitalistisch ist "jede Produktionsweise, welche auf der Verfügung über Besitzgüter, eigene oder .geliehene, unter der bürgers im Staate als Hemmnisse für das Aufkommen kapitalistischen Erwerbsgeistes zu übersehen. 28 Rostowzew läßt uns leider auch hier damit im Stiche, was er mit dieser wissenschaftlichen Landbewirtschaftung on capitalistic lines (a.a.O. S. 182) meint. Sigwart a.a.O. Sp. 1909 will geradezu mit der Unzulänglichkeit der bodentechnischen Kenntnisse den Untergang der italischen Wirtschaft erklären. Rostowzew scheint nur an Weinbau zu draussetzungen der Voraussetzung des modernen KapitalismiUS! In der Tat, die Ratio hat es nicht so g:anz leicht gehabt mit ihrem Sieg über den Traditionalismus und über so vieles Schönere und Tiefere als der wahrlich oft überstumpfe Traditionswahn5t. Und deshalb ist es so lehrreich zu erk·ennen, daß auch das uns so selbstverständlich gewordene Prinzip des Wirtschaftens, die rationale Kapitalrechnung, als Voraussetzung ·erst möglich geworden war, nachdem verschiedene andere Wirtschaftsgeschichte, IV. Kap., § 9. Max Webers Wirtschaftsgeschichte. 1923. insbeF. 4. Kap. 51 Oder war es etwa nicht schöner und tiefer, wenn es in der Glosse zum Sachsenspiegel (3. Buch, 78. Kapitel) hieß: .,Gut ohne Ehre ist kein Gut, Leib ohne Ehre hat man für tot, alle Ehre aber kommt von der Treue." Ja, auch die Treue ist Unsinn, wo der wirtschaftliche Rationalismus das Handeln der Menschen beherrscht. Vgl. auch das oben gegen Rostowzews "Feudalkapitalismus" Gesagte. 4' 50

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Vorausset2rungen erfüllt waren, um nur ein Beispiel zu nennen: richtiges Rechnen und geordnete Buchführung. Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist dann eben deswegen auch im Rahmen der weitestgehenden Freiheit des wirtschaftlichen Handeins nur sehr allmählich entstanden, aber sie ist entstanden auch in Zeiten, für die noch Gebundenheit der Wirtschaft bestand, und zwar zumeist dann und für solche Wirtschad'tsgebiete, in denen für das Geldkapital A n 1 a .g e m ö g 1 i c h k e i t e n vorhanden waren. Die Bergbaubetriebe sind seit Ende des 15. Jahrhunderts reichlich eingehend geregelt worden, die Territorialgesetzgebung hat sich für dieses Gebiet sehr stark interessiert lllnd dennoch ist gerade der Bergbau wohl am frühesten von allen Produktionszweigen Objekt p r o du k t i o n s - kapitalistischer Wirtschaft neben dem Handel und :bald :in gleichem Maße wie dieser geworden. Die Manufakturen sind neben der handwerksmäßigen Verfassung und über sie hinweg als kapitalistische Erwerbswirtschaften aufgekommen und das, was dem Kapitalismus da und dort zu bedeutsamerer Rolle verholfen hat, war immer irgendein Objekt, in dem im größeren Umfange Wertbeträge mit Erfolg auf ihre Vermehrung durch ihren Umschlag angelegt werden konnten. Das war früher und war schon in der Antike bekanntlich der Waren- und der Geldhandel, war im Rom der Kaiserzeit besonders die Großpachtung zwecks Weiterverpachtung im Kleinen 52 , war das Konsumtivdarlehen, das so leicht wucherisch ausartete, war der Sklavenbesitz und seine Auswertung für manufakturartige Gewerbebetriebe und wohl auch für Plantagenbewirtschafbung53 . Erst vom 18. Jahrhundert angefangen ist die maschinelle Ausstattung der gewerblichen Produktion und dann des Transportwesens im großen Stil Grundlage für die kapitalistischt> Wirtschafts~ise dieser Wirtschaftszwetge gewor:den. Kapital war mit großen W·ertmassen also viel früher als mit dem Industriekapitalismus zu einem bedeutsamen Faktor innerhalb der europäischen Wirtschaftsgesellschaft .geworden, die großen Finanztransaktionen der Staatshäupter, insbesondere der Kurie mit den Genuesen54, Eduards III. von Engl.and mit den Florentinern, den Bardi, Peruzzi, Frescob.aldi und ähnliche Kreditgeschäfte sind bekanntlich Beweis genug, wie sehr das Kreditkapital auch Einkommenquelle geworden war, wenngleich allerdings mit allen Gefahren der Verknüpftheit der Kapitalsumsetzung mit politischen Machtträgern. Das Merk~ 2 Zu vgl. hierzu E. Stein, Geschichte des spätrömischen Reiches. I. Bd. (1928 Wien), S. 38; Rostowzew, Social and economic history of the Roman Empire, S. 438 ff. ss Vgl. das oben S. 236 f. Gesagte. 6 ' Vgl. Strieder, Studien zur Geschichte der kapitalistischen Organisationsformen, S. 64 ff.; auch Cl. Bauer, Epochen der Papstfinanzen, Hist. Zschr., 138. Bd.

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mal des Kapitalismus ·im wirtschaftlichen Sinne: Einkommenerwerb durch Umschlag von Geldwertbeträgen war also ,ganz gewiß reichlich genug im Hereich des Warenhandels wie der Kreditgeschäfte gegeben. In der Güterproduktion ist die Betätigungsmöglichkeit erst viel später entstanden, und zwar zunächst wieder nur für die handelsmäßige Betriebsform, in den Verlagsbetrieben, und dann erst mit der Scha:fifumg großer technischer Aufgaben, die nur durch umfangreiche Sachkomplexe, wie namentlich durch sachliche Produktionsaggregate in der Textil- und Bergwerksindustrie, gel~t werden konnten. Und damit sind wir auch bei einer .alle11dings entscheidenden Wendung des älteren Kapitalismus zum neueren. Der kapitalistische Charakter kann gewiß im 15. Jahrhundert für Deutschland vielen ins gewel"bliche hinübel'greifenden Handelshäusern, so den Unternehmungen der Fugger, nicht a-bgesprochen we11denss. Aber das Charakteristische dessen, was uns da mit dem ausgehenden Mittelalter entgegentritt, war, daß es in der Hauptsache ursprünglich eben doch auch noch kein Produktionskapitalismus, sondern ein Handels- und ein Konsumtionskreditkapitalismus (z. B. für die Kriegsfinanzierung) gewesen ist und daß, soweit z. B. die kapitalistische Gebahrung des großen Jakob F\ugger schon Produktionszweige wie etwa eben die Bergwerksp11oduktion in ihren Bann zog, dieser Produktionskapitalismus nicht typisch, sondern im wesentlichen und die längste Zeit im Bereich der Sachgüterproduktion eine Singularität geblieben ist. Cum grano salis kann von dieser kapitalistischen Gebahrung gesagt werden: man kann sie sich aus jener Wirtschaftswelt noch wegdenken, es würde am gesamten Wirtschaftsleben jener Zeit gewiß manches, aber nichts am Grundcharakter der Güterbeschaffung geändert worden sein (Weber). Und deshalb ist es gerechtfertigt im Sinne unserer obigen Ausführungen (S. 224), nicht das ganze Zeitalter schon als ein solches des Kapitalismus anzusehen. Hierzu nun erst noch eine Bemerkung über den k a p i t a 1 i s t is c h e n B ergwerk s betrieb der fugger. Auch Scheuermann hat in seiner sch.önen Arbeit56 über die Fug,ger als Montanindustrielle ganz im einzelnen den Nachweis erbracht, daß man es in den montanistischen Unternehmungen der Alpenländer im 16. und 17. Jahrhundert mit kapitalistischen Unternehmungen zu tun habe, in denen die Funktionen des Kapitals nicht nur in der Organisierung der Erzförderung bestanden, als einem Teil der "Metallbeschaffung für den Metallhandel", sondern daß bei dieser eigentlichen Ber,gwerksunter55 Ludw. Scheuermann, Die Fuggt!r als Montanindustrielle in Tirol und Kärnten, Studien zur Fuggergeschichte, 8. Bd., 1929. 56 Hierzu natürlich in erste:r Linie Strieders exakte Forschungsergebnisse: Zur Genesis des Kapitalismus, insbes. spez. Teil.

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nehmung auch der "Schmelzwerkshandel", d. h. die eigentliche Verhüttung und überdies die Belieferung der Arbeiterschaft mit ~ot­ wenditgen Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen57 Wege des Erwerbes gewesen sind. Nun war .aber .das Bergwerk die längste Zeit ein einem größeren kapitalistischen Unternehmerziel eingeordneter Betrieb, bei dem der AlUsgangspunkt ganz wesentlich die GeLdkredite an die Landesfürsten waren und in dem der Kapitaleinsatz anfänglich nur in den Löhnen bestand. Die technische Betriebsausstattung bot oMenbar noch wenig Gelegenheit zur Kapitalinvestition. Es war ein kapitalistischer Betrieb mit verhältnismäßig raschem Kapitalumschlag unter starkem Überwiegen des BetriebskapitaLs. Würde das Anlagekapital eine größere Rolle gespielt haben, so würde wohl nicht das Lehen- und Freihäuerwesen eine so ,große Bedeutung gewonnen haben5 8 . Es war also zweifellos auch hier eine noch primitive kapitalistische Wirtschaftsweise, die nur allerdings a11.1ch damals schon der sozialen Probleme ganz und~ gar nicht entbehrte59 . Es ist insofern die für die Gegenwart geeignete Auffassung auch für den Bergwerksbetrieb des 16. und 17. Jahrhunderts zutreffend, sofern es gilt, das wirksame Auftreten des Kapitals in einem Wirtschaf.tszweig verstehend zu erklären. Damals lag die Sache .etwa so: Das alte "Eigengrüblertum", d. i. der Bergwerksbetrieb durch sozusagen handwerksmäßige Berghäuer, durch den Frei- und Ei.gengrübler, wird durch kapitalistisch ausgerüstete G!"oßunternehmer immer erst dann restlos verdrängt, a) wenn der Bergbau m a r k t m ä ß i g unwirtschaftlich geworden ist und durch ·die Gewinne aus dem Handel oder aus dem Verhüttungsbetrieb alimentiert werden muß, welch letzterer schon beträchtlichere technische Anlagen mit Kapita1aufwand. erheischt oder b) wenn der Bergbau selbst sich immer tiefer in den Berg hineinwühlte und wenn damit t e c h n i s c h größere "Anlagen" für Förderung und Wasserhebung notwendig wurden&o. Strieder hat gegen Sambart nachgewiesen, daß die erste Voraussetzung für das Aufkommen der kapitalistischen Unternehmung, die Anhäufung eines Geldvermögens in entsprechender Höihe in der Verfügungsgewalt eines Wirtschaftssubjektes, der Handel .geleistet hat. Er war die Quelle dieses Ge1dvermögens 61. War dieses Geldvemögen einmal da, dann war es nur eine Frage der Verwertungs g e 1 e g e n h e i t, ob die Produktionsprozesse kapitalistisch revolutioniert wurden. 57 Der "Pfennwerthandel" umfaßte vornehmlich Weizen, Roggen, Schmalz und Käse. Vgl. Scheuermann a.a.O. S. 25. &s Scheuermann a.a.O. S. 379 n Scheuermann a.a.O. S. 382. 50 Hierzu auch Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 161 ff. 61 Strieder, Zur Genesis des modernen Kapitalismus, 1904, passim.

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Der kapitalistische Zug kommt vom Handel her in die Produktion und die Verwertungsgelegenheit für den Kapitalrumschlag bot lange Zeit nur der Fernabsatz fertiger Erzeugnisse und die Beschaffung eines Rohstoffes - besonders typisch für di·e Textilhandwerke. Erst in der Bergbauarbeit war ein ausgesprochen technischer Prozeß zur Anlagegelegenheit für Kapital geworden. Der historische Werdegang spricht jedenfalls nicht dafür, daß die produktionskapitalistische Entwicklung ihren Anfang mit dem Kapitalbedarf nahm, daß zuerst die Verwertungsgelegenheiten vorhanden wareru und daß dann erst d1e mit Spar:gesinnung ausgestatteten Wirtschafter unter "Warten auf eigene Nutzung von Geldeingängen" an die Bildung von Geldvermögen herantraten, vielmehr b e .g in n t d i e kapitalistische Entwicklung der Produktion damit, daß Geldvermö·gen auf Anlage.gelegenheit aus g in .g und auf das Auftauchen von Kapitalbedarf laJUerte und wartete. Die T e c h n i k war es, die diese Gelegenheiten schuf, wo der Erwerbsgeist erwacht war rund sich nicht machtmäßig, sondern nur wirtschaftsmäßig ausleben und zu El'folg gelangen lwnnte. Die Technik bereitete dem Kapitalismus diese Bahn erst spor:adisch und dann immer häufiger und stürmisch.er. Nun scheint für die sozialrechtliche Auffassung zu sprechen, daß das Eintreten des Kapitals in die Produktionsanlagen der Industrie mit dem Preisgeben der hemmenden Rechtsnormen aus älteren Ta.gen zeitlich zusammenfällt. Allein diese zeitliche Koinzidenz kann nicht darüber wegtäuschen, daß, auch hier die Preisgabe des zünftlerischen Rechtes, das schon im inneren Verfall begriffen war, gegenüber dem schon in Gang befindlichen Entwicklungsprozeß in der Tatsachenwelt der Produktion das Se k u n.d ä r e war. Man glaUJbte die Nutzbarmachung der technischen Erfindungen am raschesten zu erreichen, wenn man j-edem das tunlieh größte Maß von Bewegungsfreiheit in der Verfolgung seiner wirtschaftlichen Interessen einräumte, man war durchdrungen davon, daß mit dieser Befreiung der individuellen Energien das Beste zur Güterversorgung wohl der ganzen Nation geleistet wünde und hat daher im vollen Vertrauen auf die Deduktionen Ad. Smiths die Schranken der Freibeweglichkeit aus einer überwunden erscheinenden merkantilistischen Wirtschaftspolitik nach und nach abgebaut. Damit ist aber zunächst schon nicht gesagt, daß nicht auch eine ,ganz andere Entwicklung hätte kommen können, daß nicht damals die Auswertung der Erfindungen· zur Sache der Gemeinschaft - i11gendeiner Gemeinschaft - gemacht werden konnte, etwa wie in der spätmittelalterlichen Zeit verschiedentlich die Zunftgemeinschaften die Träger technischer Rationalisierungen ge-

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wesen sind62. Die tatsächliche Gestaltung des sozialrechtlichen Rahmens ist also durchaus nicht eine innerlich notwendige, sondern sie ist eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Verschiedenheit der Menschen in dem Erkennen des Zweckmäßigen und der Kraft, es ru .gestalten. Was zweckmäßig ist, ist eben doch eine Sache des Intellektes, des Scharfsinns, der ratio im Hinblick alllf irgendwelche gegebenen Zwecke. Das Maß, in dem durch' das Common Law das Individuum Zutritt zur Natur und damit zur Güterbeschaffung erhält, ist allerdings wandelbar, und es wandelt sich unter dem Einfluß der Verände:mmgen in der Überzeugung von der Zweckmäßigkeit, also seLbstverständlich auch mit dem Wandel der Zwecke, die innerhalb der Gemeinschaft als die wertvolleren erkannt, als die wichtigeren gewertet werden. Leist-Nipperdey wiesen daraUJf hin, welch große Bedeutung es für die Beschaffung der für die Industriefinanzierung erforderlichen Milliarden habe, daß durch Rechtsgestaltung die Mobilisierung des investierten Kapitals für den Aktionär und Obligationär so sehr erleichtert wovden ist. Man konnte damals zwar, wenn man auf eine feste Rente Wert legte, einem Unternehmer ein für Jahre unkündbares Darlehen gegen Schuldschein oder auf Hypothek ,geben. Man konnte auch, wenn man am Gewinn des Unternehmens beteiligt zu werden wünschte, mit dem Unternehmer eine für längere Zeit unkündbare offene oder stille Handelsgesellschaft eingehen. Aber weil man für die auf beiden Wegen erworbenen Berechtigungen gewöhnlich nur in der Nachbarschaft Abnehmer suchen konnte, waren beide Wege in der Regel nur für den benachbarten Kapitalisten ,gangbar, der sich der Verfügung über die darg·eliehenen oder eingelegten GeldS!Ummen auf Jahre hinaus begeben konnte und wollte 63 . So hat ferner auch namentlich die Beseitigung der lex Anastasiana die Realisierung von Kursgewinnen ermöglicht und nicht anders haben die Rechtssicherungen und Rechtsausstattung der auf den Inhaber oder an Ordre ausgestellten ScllJUldverschreibungen mitgewirkt: ihre Bedeutung für die BeschaMung gl'oßer Kapitalmassen eben für Transport-, Eisenbahnund Schiffahrtsbetriebe und industrielle Zwecke ist rgründlich genug erkannt und ähnlich die Erleichterung der Kapitalbewegung durch Hypothekenbriefe, sowie die formalrechtlichen Sicherungen für die Zirkulation kaufmännischer Verpflichtungsscheine. Es ist gewiß völlig gleichgültig, mit welcher Tendenz diese Normen geschaffen worden sind, ob sie bewußt auf die Förderung der kapitae2 Vgl. z. B. Sehr. d. V. f. Soz.: Die Untersuchungen zur Handwerkerfrage (Bd. 64: Die Färberei in Leipzig). ea Grundriß der Sozialökonomik IV: Moderne Wandlung~n des Privatrechtes als Grundlagen des modernen Kapitalismus, S. 33.

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Iistischen Entwicklung abzielten oder nicht. Es ist ebenso nicht wesentlich, daß während .des 19. Jahrhunderts in Deutschland diese Rechtsanschauungen :zrum großen Teil schon soweit gefestigt waren, daß ihnen nachgelebt werden konnte und daß doch erst gegen Ende des Jahrhunderts die Tatsachen des Wirtschaftslebens sich in dieser Richtung entwickelt haben. Aber es ist gerade von Nipperdey und Leist der größte Nachdruck darauf g·elegt worden, daß die Triebkräfte des K a p i t a 1 i s m u s als das aktiv treibende, das energetische Element d i e R e c h t s w i r k 1 i c h k e i t in i h r e m S i n n e zu g e s t a 1 t e n v er m o c h t h a t t e n. Gerade da aber liegt ·die Matene, die von den Institutionalisten zu wenig .gewertet wird. Nipperdey betont das Bestehen der Vertragsfreiheit, der Freiheit der Parteien in der inhaltlichen Gestaltung threr Rechtsverhältnisse, "aber diese formale Vertragsfreiheit ist keine wirkliche". Wer kontrahieren will, muß sich den Geschäftsverbindungen der großen Werke und Verbände unterwerfen, muß sie zur lex contractus machen, wenn er überhaupt zum Vertragsabschluß kommen will. W a s a b e r h e i ß t d a s a n deres wie die Tatsache, daß der wirtschaftlich S t ä r k er e e i n n e u es R e c h t s c h a f f t , so wie es sich den kapitalistischen Zielen, aber auch den Mitteln und Wegen der Erwerbswirtschaft als zweckentsprechend ·erweist? "Es entsteht neben dem staatlichen Recht ein Interessentenrech t" und das tritt an die Seite des nichtzwingenden staatlichen. Der Kapitalismus hat sich in den Lieferungsverträgen nach den Geschäftsbedingungen der Industrie lllld des Handels ein positives Lieferungsvertragsrecht geschaffen. Es kann nicht näher ausgeführt, nur angedeutet werden, daß die Institution der Aktiengesellschaft durch die neuere Praxis in der Gestaltung der Generalversammlungen eine wesentliche Umgestaltung erfahren hat, daß die demokratische Organisation zu einer oligarchischen und daß die Rechtsform für die Betriebsgesellschaft zum kapitalistischen Herrschaftsmittel über die Betriebsgestaltung geworden ist (Dachgesellschaft, Schachtelung). Es ist also doch wohl so, daß die R e c h t s o r d n u n g , indem sie fürs wirtschaftliche Handeln grundsätzliche Freiheit statuiert, nur Mö.glichkeiten schafft, Chancen, wie Weber sagte, nicht Notwendigkeiten. - Wenn daher innerhalb der freiheitlichen, das Privateigentlum anerkennenden Wirtschaftsordnung die kapitalistische Wirtschaft Tatsache ·geworden ist, und wenn sich. innerhalb dieser Ordnung die Kapitalswirtschaft wieder erheblich weiter entfaltet ha_t, obgleich auch andere Wirtschaftsformen möglich gewesen sind, so ist damit noch nicht der Tatbestand gegeben, die Rechtsordnung als Ursache der kapitalistischen Wirtschaft zu erkläven, sondern nur als eine Bedingwlg oder als fördernden Faktor.

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,Wenn man nun zu der etwas genaueren Feststellung gelangen will, welche Rechtslage geeignet sei, die kapitalistische Wirtschaft zu fördern, so läßt sich .allerdings sagen, die Freibeweglichkeit der Erwerbswirtschaft ist solch ein fö11derndes Moment und das Privateigentum hat den bestehenden Kapitalismus ermöglicht. Man kann aber nicht einmal sagen, daß1 es möglich wäre, durch eine Untersagung des Privateigentums an den Produktionsmitteln die kapitalistische Wirtschaft überhaupt hintanzuhalten. .Es bleibt immer noch, worauf schon Weber hing.ewiesen hat, eine Möglichkeit für Gemeinschaftskapitalismus, solange nur überhaupt geldrechnungsmäßiger Güterverkehr ,besteht. Und selbst wenn ein solches Verbot die .beabsichtigte radikale Wirkung haben könnte, so wäre damit noch nicht die Beharu.ptung erhärtet, daß die Rechtso.11dnung das Primäre und insofern schlechthin ein konstitutives Element des Kapitalismus sei, ein Faktor, ohne den das Werden des Kapitalismus nicht gedacht werden kann, sondern es wäre nur gesagt, daß d i e R e c h t s o r d nun .g p ·O s i t i v Möglichkeiten des Kapi.talismus schafft, die mit einer neuen Rechtsordnung beseitigt werden k önn·en. Man muß also Diehl und den InstituUonalisten weitgehend z.ustimmen, wenn sie so großes Gewicht legen auf die Rolle der Rechtsgestaltung, weil diese den Individualismus zur Entfaltung gelaugen ließ,. aber es ist geboten, die individualistische Produktionsweise nicht mit der kapitalistischen zu identifizieren. Ich würdige in dieser Trennung eine wichtige Erkenntnis, die auch geeignet ist, den Begrüf des Kapitals klarer erfassen zu lassen, nicht nur ihn von der Verankerung in dem Vorstellungskreis von den produzierten Produktionsmitteln zu befreien, sond·ern um ihn mit seiner ökonomischen E1unktion als Grundelement des Wirtschaftssystems neben seinem juristisch bedingten soziologischen Charakter zu sehen. Und so ist .gerade diese Trennung auch eine Voraussetzung dafür, die doch allzu augenfällige besondere Phase der modern-kapitalistischen Wirtschaft in dem Fluß der historischen Entwicklung abgrenzen zu können, insofern der Kapitalismus wie das Kapital als Universalmittel der Erwerbswirtschaft nur innerhalb der einigermaßen freien Verkehrswirtschaft vorkommen können, die bei völliger Selbstverantwortlichkeit der wirtschaftenden Individuen Privateigentum der Wir.tschafter zur Voraussetzung hat. Aber wie wichtig auch .die formale Wirtschaftsfreiheit als Ergänzung zu dem Institut des Privateigentums für die Entwicklung der kapitalsmäßigen Org.anisierung der Wirtschaft und insbesonders der Produktion geworden ist, "das Entscheidende" kann man angesichts der rechtsbildenden Kraft der Kapitalinteressen nicht darin erblicken. Die Remtsol'dnung ist eine Bedingung, aber k·ein kausaler Faktor der

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kapitalistischen Entwicklung. Es ist doch aruch Tatsache, daß die die Wirtschaft bindenden Rechtsnormen in England, Wales und Schottland lange fortbestanden haben, als die Produktionen bereits in die kapitalistischen Formen hatten hineingleiten können 64 • Und sind etwa nicht die gewerblichen Zustände Deutschlands im 18. Jahrhundert schon gekennzeichnet durch den Gegensatz zwischen zünftigem und unzünftigem (Freimeister, Bönhasen usw.) Gewerbebetrieb, in dem das positive Recht, sogar die schon freiheitlicheren Generalzunftartikel, mehr oder minder wirkungslos geblieben war 65 ? Waren es da nicht viel bescheidenere Interessen, die die Fesseln des Rechts gelockert haben? Deshalb dünkt es mich nicht haltbar, die französische Gewerbefreiheitsakte vom 4. August 1789 als die Geburtsstunde des Kapitalismus zru bezeichnen. Das viel Entscheidendere war die allmähliche Schaflf·ung der Baumwollspinnmaschine (1730 bis etwa 1820), der Dampfmaschine (1768 bis 1792) usw., also die ersten großen Schritte hinein in die ilVIaschinisierung der gewerblichen Produktion 1n Großbritannien, wo der 4. August 1789 für die Gestaltung des positiven Rechts .ganz bedeutungslos geblieben war. So hat also die freiheitliche Tendenz im positiven Recht und seiner Handhabung wohl die günstigen Bedingungen für die Uferlosi.gkeit des Erwerbsstrebens und seiner Betätigung gebracht, aber die impulsgebende und zum Produktionskapitalismus drängende Tatsache war die Entwicklung der Technik, 1. indem sie die Substrate für die Verwertung großer Geldwertmengen .geschaffen hat, 2. indem sie den Bedarf an agglomerierter Kaufkraft, an Sparkapital ungeheuer steigerte. Wäre diese Wendung der Technik nicht gekommen, dann wäre der Kapitalismus im Rahmen der Manufaktur und des Verlagsystems geblieben, das im wesentlichen in den Lohnsummen den Mehrwert schaffenden Umschlag von Geldkapital vollzieht. Und deshalb läßt sich sagen, daß, die antike Wirtschaft trotz des dem Kaufmannsgewinn .abgewandten Geistes des "politisch" orientier81 Dieht erinnert selbst daran, daß in England erst 1814 die Lehrlingsakte von 1562 aufgehoben wurde, wodurch erst die gewerblichen Vorrechte von Korporationen beseitigt wurden, nachdem England schon längst großindustrielle Werke begründet hatte. Es ist daher mit den historischen Tatsachen nicht in Übereinstimmung zu bringen, wenn Dieht (a.a.O. S. 16) gegen Marx behauptet, es könne vor dem Jahre 1814 von einer Freiheit des Lohnarbeiters gar nicht die Rede sein. Es gab keine Koalitionsfreiheit, aber gerade eine individualistische Freiheit des Lohnarbeiters in dem Sinne, daß dieser seine Arbeitskraft frei verwerten konnte. Die Beschränkungen des Arbeitsvertrages und der gewerblichen Produktion waren gerade für die kapitalistische Großproduktion längst vollständig zum toten Buchstaben geworden. e5 Artikel "Zunft", H.d.St. VIII 1 , S. 1104.

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ten antiken Vollbürgertums kapitalistisch geworden wäre, wenn die Technik die Gelegenheit zum gewinnbringenden Einsatz und Umschlag von Kapital und -wie in der Neuzeit- den Bedarf an Geldkapital gebracht hätte. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür waren erfüllt und soweit sie es nicht waren, wären sie unter dem Druck des Bedarfes erfüllt wo~den. Obwohl, wie nochmals betont sei, diese Ausführungen nicht dem Streit über den Charakter der "Wirtschaft des Altertums" gelten, soll doch nicht unausgesprochen bleiben, daß wohl .ganz besonders dem Mangel an klaren Begriffen in der Hauptsache Schuld zuzuschreiben ist, daß der kapitalistische Charakter dieses Zeitalters so leidenschaftlich umkämpft sein konnte. Es ist in dieser Zeitschrift, die so lange von Bücher geleitet war, ganz besonders der Platz festzrustellen, daß die Darstellungen, die diese Pmbl·eme in den letzten Jahren gefunden haben, so bei Francotte, Lot, Sigwart66 - auch Stein sch.eint hieher gerechnet werden zu dürfen-, eine Verneinung des kapitalistischen Charakters der Sachgüterproduktlion des Altertums bedeuten. Und das ist lfür den Charakter der Zeit, sofern mit aller Vorsicht ein solch generalisierendes Urteil überhaupt sich rechtfertigen läßt, ganz ausschlaggebend, mag auch immerhin im Konsumtivkredit und da und dort auch im W arenhandel, vielleicht aruch bei den Geldwechslern (insbesondere wieder eigentlich höchstens. bei den ein .gewisser Ansatz zu kapitalistischer Gebahrung nachweisbar sein, schon die Starrheit des Kapitalzinses widerstreitet der Annahme, daß das kapitalistische Prinzip mit seiner Wesensfunktion wirksam gewesen ist67 • Deshalb besagt auch das Vorhandensein von Multimillionären6b in einer Zeit noch nichts über den kapitalistischen Charakter ihrer Vermö.gen, weil sie ihren Reichtum nur sehr teilweise und sporadisch, gewiß nicht systematisch zum Zweck des Einkommenerwerbes ausr.utzten und weil sie deshalb auch wie Krösus mit ihrem Vermögen 66 Vgl. insbes. die Grundauffassung seiner Abhandlung "Industrie und Handel" in Pauly-Wissowa, N.B. IX, 2 Sp. 1382 ff. 67 Für die vorhellenistische Zeit ist ja nun durch Hasebroeks absolut überzeugende Beweisführung die "relative Primitivität" der Wirtschaft Griechenlands bis :z.u Alexanders Zeit erhärtet (Staat und Handel im alten Griechenland, 1928). Hier besonders bemerkenswert ist das Argument Hasebroeks von dem Verhältnisse des Handelsstandes zur Arbeitsverfas.sung; er zeigt, daß das Verhältnis des Staates zur Wirtschaft beinahe umgekehrt war wie heute, denn die einzelnen leiteten damals wenigstens in Griechenland, ihre Einkommen von dem des Staates ab (vgl. S. 21--44, insbes. S. 34 f.) -und so war es ja auch reichlich genug in der hellenistischen und nach einer individualistischeren Epoche wieder in Rom zunehmend in der Kaiserzeit. 6B Rostowzew a.a.O. S. 142.

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die Gütervrersorgung der G€sellschaft vielleicht so gut wie g,ar nicht befruchteten. Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß der Reichtum, auch solcher Reichtum, Wirkungswert gehalbt hat, so doch n i c h t a u f d e m W e ,g e k a p i t a li s t i s c her Aus w er t ru n g. Reichtum ist entstanden aus physischer und aus politischer Macht und hat als Begleiterscheinun.g solcher auch Machtwirkung .gehabt, aber n i c h t k a p i t a 1 s m ä ß i .g e. Die Macht versch,affte vor allem Grundbesitz und Staatspacht und mit diesen ein Renteneinkommen, aber keine Kapitalsrente, denn Grundrente und Pachtrente wurden ohne wesentlichen Kapitaleinsatz erzielt. Politische Macht, Macht insbesondere dank staatsbÜIIgerlicher Vollwertigkeit, :zrum Unterschied von der Stellung der Masse, der Plebs, feudale Macht, Macht auf der Grundlage eines Treueverhältnis:ses: das alles ist eben etwas anderes als kapitalistische Macht, als die Macht auf Grund eines ge1dwerten Vermögens, mit dem man im Dienste eigener Erwerbsinteressen das wirtschaftliche Wollen anderer zu bestimmen vermag. Und wenn diese Macht in Rechtsnormen ihre Grundlage hat, so ist es doch auch nicht dieses Recht, das den Kapitalismus schafft, nur die Möglichkeit für das Wirksamwerden des kapitalistischen Prinzips. in immer weiterem Umfang wird durch das Recht geboten. Eben deshalb kann aber auch der Charakter des Rechts noch nicht als maßgebender Beweis für das Vorhandensein kapitalistischer Grundzüge der Wirtschaft gelten rund es geht auch nicht an, das im Recht gewährleistete Prinzip der Handlungsfreiheit als Symptom für den kapitalistisch·en Charakter des betreffenden Zeitalters geltend zu machen. Kapitalistisch ist die Wirtschaft eines Volkes dann, wenn die Güterversorgung maßgeblicher Teile der Wirtschaftsgesellschaft derart unter dem Einfluß des kapitalistischenErwerbsstrebens vor sich geht, daß sie ohne Funktionieren des rechnerisch kontrolliert.en Kapitals, also auch ohne Innervierung der Arbeit durch Kapitalinteressen n i c h t .g e d a c h t w e r d e n k a n n , d. h. derart, daß auch die Richtung, in der das Kapital seine Verwertung sucht, für die G€staltung des Sozialprodukts, für die Lebensmöglichkeit und den Aufbau der Güterversorgung ·entscheidend ist. Darauf muß denn auch die Beweisführung eingestellt weiden, wenn man den kapitalistischen Charakter eines Zeitalters behaupten will. Und runter diesem Gesichtspunkt ist heute erwiesen, daß Bücher in seiner Polemik mit den Althistorikern über den Charakter der Wirtschaft der Antike. mag er auch die Geschlossenheit der Einzelwirt· 17 von Zwiedlneck-Südenhorst, I

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schaft universaler gesehen haben als sie es war, und übersehen haben, daß das Erfahrungsobjekt, auf das er abgehoben hat, schon wieder eine Rückbildung .gewesen ist, mit seiner Gesamtauffassung der Zeit, der Wirklichkeit weit nähergekommen ist, als seine Gegner.

Rentenprinzip oder Rentenstellung (1932)* Grundsätzliches zum Streit über die Singularität der Grundrente Es wäre in dieser Zeitschrift, die so lange durch die Persönlichkeit ihres Herausgebers Albert Schäffle ein besonderes Gepräge erhalten hat, an sich schon ein Gebot der Pietät, wenn von dem Rentenbegriff gehandelt wird, seiner Leistung auf dem Gebiet der Rentenlehre zu gedenken. Das geschieht hier an der Spitze dieses Aufsatzes tatsächlich jedoch nicht aus Pietät, sondern mit um so größerer Selbstverständlichkeit und mit um so größerer Genugtuung, als in den folgenden Ausführungen ein Prinzip, das Schäffle in die Rentenlehre gebracht hat, im wesentlichen weiter verfolgt wird. Mag das Endergebnis immerhin in einigem anders ausfallen als die Schlußfolgerungen, mit denen Schäffle da:s Wesen der Rente erfaßt hat, sein Name bleibt doch mit dem Gedanken der Universalität des "Rentenprinzips", der sich nun endlich doch immer mehr .durchsetzt, aufs engste verknüpft. Schon 1860 1 hat Schäffle und ihm zunächst Mangoldt (1863) 2 die innere Verwandtschaft der im Bereich der Marktverhältnisse für gewerblich·e Erzeugnisse auftretenden Differentialerträge mit denjenigen erkannt und verteidigt, die von der klassischen Schule für die landwirtschaftlichen Erträge allein in Anspruch .genommen worden waren. Schäffles Verdienst ist es ganz besonders auch, die eigentümliche Funktion der Wirtschaftlichkeit, die in der Rente liegt, scharf herausgearbeitet und gezeigt zu haben, welchen Nutzen die ganze Wirtschaftsgesellschaft von den Ertragsgewinnen, als welche sich di·e Renten darstellen, ziehe. Der Universalitätsgedanke hat sich aber lange nicht durchsetzen können und hat manche scharfe Abl·ehnung erfahren. Die schärfste wohl, soweit ich sehe, von Diehl, der von dieser Neugestaltung ·der Rentenlehre Schäffles schreibt 3 : Indem er sich bemüht, die Rente auf eine Stufe mit allen möglichen anormal hohen Einkünften in der Volkswirtschaft zu stellen, die aber alle berechtigt seien, wegen der Funktion, welche die betreffenden Rentenempfänger ausübten, ignoriert er so sehr die gewaltigen Unterschiede zwischen

*

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1932, Heft 2. Schäffle, System der gesellschaftlichen Wirtschaft, 1860, S. 9 ff., 140 ff., 185 ff., dann ders., Die nationalökonomische Theorie der ausschließenden Absatzverhältnisse, 1867, passim. 2 Mangoldt, Grundriß der Volkswirtschaftslehre, 1863, S. 140. 3 Diehl, Sozialwissenschaftliche Erläuterungen zu David Ricardos Grundgesetzen I, 1905, S. 250 ff. 1

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immobilen und mobilen Fonds, daß seine Auffassung nur zu theoretischer Verschwommenheit führen muß. DiehZ erklärt es für unverständlich, persönlich V erdiente Ertrag.gewinne auf eine Stufe zu stellen mit den objektiven aus besonderer Fruchtbarkeit oder besonders günstiger Lage fließenden Extravorteilen, die .gerade die Rente bedingen. DiehZ hatte recht, wenn er eine ähnliche Generalisierung des Rentengedankens bei Senior und J. St. MilZ aufzeigt. Aber bei aller Hochach1nmg vor Diehls Begeisterung für Ricardo, die ihn dazu führt, für dieses Großen Theorie eine Lanze zu brech.en: wir v·ermögen seiner Beweisführung doch nicht zu folgen und finden es sehr begreiflich, daß die Verallgemeinerungsirlee g·egenüber der Rentenerscheinung nicht zur Ruhe gekommen ist 4 • Unbedingt erfolgreich muß Marshalls erneuter Vorstoß: in dieser Richtung genannt werden. Indem er eine Quasirente für die Spannungen des Einkommens der besser gestellten Konkurrenten gegenüber dem Grenzproduzenten außerhalb des Bereichs der landwirtschaftlichen Pl'oduktion konstiiUiert, die sich von der Gl'undrente nur eben durch ihre Vergänglichkeit unterscheidet, verengerte sich bei allen denjenigen, die ihm folgen, das Beweisthema dara'Uif, daß dieser Unterschied das Wesen der Grundrente treffe. Sie gilt eben überall dort wenigstens als QualitätsdiHerentialrente als eine ewige, unabänderliche Erscheinung. Obgleich in den theoretischen Grundlagen auf anderem Boden stehend wie DiehZ hat sich Otto Weinberger5 zwar nicht zur Auffassung von der Singularität der Grundrenten-Erscheinung, wohl aber im übrigen restlos zur Ricardoschen Lehre bekannt, wenn er seine Betrachtungen über die Grundrente mit dem Urteil abschließt, daß trotz aller Verbesserungen der Formgebung und "t r o t z a 11 e r V e r a 11 g e m e in er u n ,g e n" ".die Grundgedanken der Rententheorie Ricardos UJner:schüttert ,geblieben sind" und "den unvergänglichen Wahrheitsgehalt der klassischen Volkswirtschaftler vergeblicher Kritik zum Trotz" beweisen. 1

4 Gegen meinen eigenen Ausatz "Kritische Beiträge zur Grundrentenlehre" (im 67. Jahrg. dieser Ztschr.) hat Diehl in einer Untersuchung über die Allgemeingültigkelt des Ertragsgesetzes polemisierend indirekt auch einer erneuten Formulierung des singulären Charakters der Grundrentenerscheinung Raum gegeben (vgl. Jahrb. f. Nat. III F., Bd. 65, S. 1. Gibt es ein allgemeines Ertragsgesetz für alle Gebiete des Wirtschaftslebens?) Diehl will den Nachweis erbringen, daß die Ertragsabnahme nur in der U!I1>roduktion auftrete und ist überzeugt, mit diesem Nachweis auch schon die Singularität der Grundrente gestützt zu haben. Ich kann mich leider nicht überzeugt erklären von dem Beweismaterial zu Diehls Hauptfrage, kann aber auch diese Frage nicht für grundlegend ansehen zur endgültigen Entscheidung über die Singularität oder Universalität der Rentenerscheinung. s In seinem ausgezeichneten Aufsatz "Grundrente" im H.d.St. IV 4, S. 1241.

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Auch Ad. Weber teilt dieses Urteil. Wohl faßt er d{!n Begriff Rente allgemein, wenn er schreibt6 : Wil'd der Pl.'eis durch die unter den ungünstigsten Umständen zustande gekommene, aber für die Befriedigung des Gesamtbedarfs noch notwendige Produktion bestimmt, so erhalten die Besitzer der besseren Produktionsinstrumente einen über die Pl.'oduktioilJSk,osten hinausgehenden Extraprofit, den wir "R e n t e" nennen. Handelt es sich um Produktionsvorteile, die durch die Natur bedingt sind, dann werden sie, auch wenn man sich den Markt zeitlich noch so ausgedehnt vorstellt, unter sonst gleichbleibenden Umständen nicht verschwinden können. "Da aber", fährt Weber unter Berufung auf J. B. Say fort, "die Erde die einzige oder nahezu die einzige Naturkraft ist, welche sich eine bestimmte Klasse von Menschen mit Ausschluß .aller anderen aneignet und deren Nrutzen s~e daher für sich in Anspruch nehmen kann, nennt man diese Rente mit Rücksicht auf den weitaus wichtigsten Tatbestand, der ihrer Bildung zugrunde liegt, kurz G r u n d r e n t e. Handelt es sich dagegen nur um zweckmäßigere KombinatLon von Arbeit und Kapital, dann wird bei freier Konkurrenz der ·erzielte Extraprofit nur eine vorübergehende Erscheinung sein7 . Diese Art Rente sei die Quasirente. In beiden Fällen sei Rente der Unterschied zwischen den Produkten, die durch die Anwendung von zwei gleichen Mengen von Kapital und Arbeit erzielt werden." "Die Grundrente ist eine Folge des e r r e i c h t e n statischen Dauerpreise ss, die Quasirente eine Folge davon, daß der den gegebenen Produktionsbedingungen entsprechende statische Dauerpreis noch nicht erreicht ist." Die Quintessenz der Theorie, mit der Weber die Singularität der Ricardischen Grundrente verteidigt, ist e in m a 1 , daß er alles möglicherweise vorübergehende, auch. wenn es Dauer hat, als theoretische Erscheinung nicht gelten läßt, und z w e i t e n s , daß .auch er den Grundgedanken Ricardos: die Rente ist Folge, nicht Ursache der Preise, als eine ausschließlich für die Erklärung des Bodenertrages geltende Kausalität aufnimmt. Immerhin ist die Anerkennung der Quasirente zwar wohl ein Schritt in der Richtung einer Verteidigung der Singularität der Grundrente, aber es bedeutet doch auch eine Einschränkung dieser Singularität, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 4. Aufl., II., S. 147. ' Von mir gesperrt. 8 Von mir gesperrt. Wenn Weber den statischen Dauerpreis damit kennzeichnet, daß er ein Preis "eines bestimmten Preissystems" ist, "bei dem notwendigerweise die Preise der Produktionsmittel mit den Preisen der mit ihrer Hilfe erzeugten Produkte übereinstimmen" (a.a.O., II, S. 89), so ist keine Notwendigkeit einzusehen, daß das Eintreten des statischen Dauerpreises (offenbar des Boden pro du. k t s !) Grundrente 2lUr Folge haben müsse. 6

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sofern damit eingeräumt wird, daß auch andere Einkommen oder Einkommenteile dadurch entst·ehen, daß ein Produktpreis eine primäre Größe gegenüber den Kosten ist. Das maßgebende Kriterirum der Singularität für die Grundrente wird auf die Da u er h a f t i g k e i t d e r R e n t e n 1 a g e , also der spezifischen Einkommensqruelle, verlegt, so daß hierin denn auch das eigen t 1 ich e B eweist h e m a zu liegen' scheint, wenn die Universalität der Rentenerscheinung gegen die Singularität behauptet wi11d. Nicht unwesentlich anders ist die Behandlung der Grundrentenfrage bei E. H. Vogel 9 • Zunächst sch.on insoweit als er von der Voraussetzung ausgeht, daß der landwirtschaftliche wie der städtische Bau- oder Gewerbeuntemehmer den Boden a1s Kapitalgut mit einem Kapitalwert in Rechnung stellt und als Bodenrente jenes Superplus aufgefaßt wissen will, das sonst bei anderen Unternehmungen als Unternehmergewinn oder Kapitalprofit i. e. S. bezeich•net wird. Grundrente ist nach Vogel innerhalb des gesamten Unternehmereinkommens des Landwirtes jener auf die besonderen Ursachen (Qualität, Lage) wrückgehende differentiell verschieden hohe B es t an d t e i 1 des über Arbeitsentlohnung und Kapitalverzinsung hinausgehenden Kapitalprofits (Grund und Boden als werbendes Kapital aufgefaßt), welcher aus günstigeren Kostenverhältnissen infolge der Bonität- oder Lagevorteile sich ergibt. Nun legt zwar Vogel besonders Gewicht darauf, daß nicht die Ableitung der Rentenerscheinung, sondern die Beurteilung der entstandenen Renten als Ergebnis einer Mehrheit von Faktoren im Rahmen einer sozialorganischen Theorie der Dynamik eine Änderung erfahren müsse, namentlich in dem Sinne, daß es sich doch auch hier nur um "Sonderfälle der Komplexbildung von S oz i a 1 werten in einer organisch gefügten Privatwirtschaft handelt" Alber ausschlaggebend neu dünkt mich, daß Vogels Gedankengang sich in der Richtung bewegt, daß es zweckmäßiger und richtiger ist, die Qualitätsverschiedenheit nicht als Differential-Tatbestände, sondern als Tatbestand "s i n g u 1 ä r e r 10 höherer Preisbildung" aufzufassen. Einen der klarsten und wertvollsten Beiträge zur Rentenlehre hat Schumpeter beigesteuert. Er unterscheidet zwei Prinzipien der Verteilungslehre11: 1. das T a u s c h p r i n z i p : es erklärt die Verteilung des Produktionsertrages als das Ergebnis des Austausches der produktiven Leistungen der Produktivelemente gegeneinander und gegen 8 E. H. Vogel, Hauptprobleme der theoretischen Volkswirtschaftslehre auf sozialorganischer Grundlage, Berlin 1931, S. 332 ff. 10 Von m'ir gesperrt. 11 Vgl. Das Rentenprinzip in der Verteilungslehre, Jb. f. Ges. u. Verw. 31, S. 31 und 591.

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Gerw.ßgüter. 2. Das Rentenprinzip: es erklärt diese Verteilung ganz oder teilweise dadurch, daß ein Überschuß, über die Aufwendungen, die zur Erzielung eines wirtschaftlichen Erfolges gemacht werden, zum Ausgangspunkte genommen wird, so daß der eine oder andere Ei.n:k.ommenszweig als solches Plus bezeichnet wird. Mit der Feststellung eines "Prinzips" schlechthin rur Erklärung, des Einkommens hat Sch'l.lflnpeter die Universalität wie einen Grundpfeiler in die Theorie gesetzt. Renteneinkommen sind keine Preiseinkommen; die scharfe Schetdung zwischen den einfachen oder reinen Preiseinkommen und den aus Preiskombinationen gewonnenen Einkommen wird dem Theoretiker durch di·e Wirklichkeit aufgedrängt. Aber es ist innerhalb der Residuen, als die Schumpeter schon die Renten schlechthin erklärt, doch noch eine so große Mannigfaltigkeit zu beobachten, daß diese Gleichsetzung von Residul\llll und Renteneinkommen unzulänglich ist. Innerhalb der Residuen sind ja, was Schumpeter ,auch gar nicht übersehen hat, .g;ailiZ deutliche Spannungen und Diff.erenzen zu berücksichtigen. Die Identifizierung von Rente ·und Residuum bedeutet eine sehr weitherzige Auffassung des Rentenbegriffs. Residuum ist Subtraktionsergebnis. Und daß, es bei einem Subtraktionsprozeß ganz erheblich darauf ankommt, aus welchen Posten sich Minuend und Subtoohend zusammensetzen, hat Schwmpeter in der Besprechung der Cunynghameschen Rentendefinition klar genug gezeigt 12 . In der Zweigliederung der Einkommenserklärung erschöpft sich die Verteilungslehre daher wohl kaum. Es steht neben den einfachen Preiseinkommen die Kateg;orie der Rest- oder Residualeinkommen und außerdem bedarf es noch eines Rentenprinzips, um innerhalb der Preis- und der Residualeinkommen ~besondere Einkommenersch.einungen zu erklären, die sich aus eigenartigen Markt1agen, aus "Rentenstellungen" ergeben. Dte Identifizierung von Rente und "Überschuß über vorweg bestimmte K

Machtstellung auch ökonomisch, entsprechend verwertet werden kann. Diese Verwertbarkeit kommt im Preis, der erzielt werden kann, zur Geltung. Ob eine Machtstellung vorliegt, hängt von der Opferwilligkeit der Kaufinteressenten ab, konkret gesprochen: was sind diese für einen Zeppelin zu bezah1en bereit? Ihrem Wesen nach durchaus keine andere Art Macht ist in der durch rechtliche Vereinbarungen, Verträge, hergestellten Beherrschung des Angebotes einer Ware zu erkennen. Ein Kartell schafft eine ökonomische, meist besonders interessante Machtstellung: Überhaupt jeder Monopolist, gleichviel wodurch er seine Monopolstellung gewinnt, erscheint als Machtträger. Aber wie gesagt, ob diese "Machtträger" sich mit ihrem Machtwillen durchsetzen, ob sie wirklich Macht üben können, ist von ganz anderen Dingen und Umständen abhängig. Jedenfalls aber sind aller solchen Macht Schranken gezogen und wenn Böhm-Bawerk sagt: der Monopolist hat immer nur innerhalb der Preisgesetze eine Wahl zwischen verschiedenen "ökonomisch möglichen" Preislagen, so sclleint das eine Primarität der ökonomischen Gesetze, der Preisgesetze über diese Macht zu bedeuten. Das ist jedoch ein Fehlschluß: denn daß der Stahlwerksverband nur einen solchen Preis für Stabeisen verlangen durfte, zu dem noch die ganze Erzeugung Absatz fand, daß er keinen höheren Preis fordern durfte, wenn er nicht Gefahr l,aufen wollte, daß die Ware teilweise liegen blieb: das ist ja gerade ein ökonomisches Gesetz. Das ökonomische Gesetz formuliert also selbst, daß im Kartell eine Macht (und nicht eine "ökonomische" Tatsache) innerhalb eines irgendwie bestimmten Rahmens preisbestimmend funktioniert, indem es das gesamte Angebot an kartellierter Ware zu einer Einheit konzentriert und damit eine neuartige ökonomische Sachlage schafft, für die wieder eine andere Regelmäßigkeit des Ablaufes der Preisbildung zu beobachten ist als bei Zersplittertheit der Wirtschaftswillen. Es gibt also, wie ich zusammenfassen möchte, 1. in außerordentlicher, ja unendlicher Zahl verschiedene ökonomische Situationen, für die eine Mehrheit sogenannter Gesetze d. h. Regelmäßigkeiten des Ablaufes der Preisbildung zu beobachten ist; 2. die Macht gegenüber dem Wirtschaftsleben kann schon darin zur Geltung kommen, daß durch sie eine Änderung der wirtschaftlichen Daten bewivkt wird, die einen anderen, aber immerhin einen gesetzmäßigen Alblauf der Preisbildungsvorgänge herbeiführen. Eine Vielheit von Roheisenwerken, z. B. mit Gestehungskosten zwischen 35 bis 65 M je Tonne Roheisen werden zu einem Angebot vereinigt, das nur noch die Produktionskosten 65 gelten läßt, so heißt das: die Macht führt eine Veränderung der Marktzusammensetzung 2(*

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und damit der Marktlage herbei. Diese Andeutungen theoretischer Natur durfte ich nicht ganz unterlassen, wenn ich gleichwohl mich auch nicht der Hoffnung hingeben kann, daß Sie, meine geehrten Herren, sich schon völlig haben überzeugen können, wie unzweifelhaft machtmäßige Einflüsse nachhaltig ökonomisch wirksam werden können. Um so mehr soll mein Bemühen darauf gerichtet sein, soweit möglich in der Welt der Tatsachen diese theoretische Erkenntnis zu kontrollieren. An sich scheint nichts einfacher als eine Kontrolle an historischen Daten. Wendet man aber den Blick in die Vergangenheit zurück, so begegnet man freilich gar oft Machtverfügungen gegenüber der Wirtschaft, die durchaus nicht zum besten Erfolg geführt haben, so daß man geneigt sein möchte, die Unzulänglichkeit der Macht gegenüber dem breiten machtvollen Strom des Lebens bald gelten zu lassen. Allein ebenso leicht kann für jeden Mißerfolg der Macht auch ein solcher Erfolg festgestellt werden. Aber bei allem historischen Beweismaterial pro et contra waltet das Bedenken ob, daß Parallelen zwischen Vergangenheit und Zukunft, soweit es sich um ökonomische Gesetzmäßigkeiten handelt, nicht gezogen werden können, will man nicht Gefahr laufen, Unvergleichbares zu vergleichen. Was z. B. durch die beiden Roger in Sizilien nach den neuesten Forschungen von Caspar und Challandon init glänzendem Erfolg gegen den Schlendrian der Wirtschaft durchgesetzt worden ist, was Kaiser Friedrich II. in Fortsetzung dieser Volkswirtschaftspolitik in Sizilien erreicht hat, kann streng genommen deshalb nicht herangezogen werden, weil die freie Interessenverfolgung, die Gegenenergie des staatlichen Wollens, doch noch nicht in solchem Maße von Kapit?.linteressen geleitet und beherrscht war wie in unseren Tagen des Hochkapitalismus. Solange nicht das moderne Geld- und Effektenkapital die rationellste rechnungsmäßige Vergleichung verschiedener Erträge ermöglicht, ist eben eine Kontrolle der Maßnahmen des Staates oder sonst einer Macht auf ihre Wirtschaftlichkeit noch viel weniger möglich als dies ohnehin heute noch der Fall ist. Nur unter der Voraussetzung einer KontralIierung der Machtwirkungen an den Produktionsmengen, den Preisen, den Einkommen, der Zinshöhe, dem Lohn u. s. f. läßt sich überhaupt über den Wirkungswert von Gesetzen oder Verwaltungseinrichtungen etwas bestimmtes aussagen. Aber trotz dieser auch für viel spätere Zeiten noch sehr mangelhaften Kontrollierbarkeit dürften doch wohl die mdikalsten VerurteUer staatlicher Einflußnahme auf die Wirtschaft kaum in Abrede

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stellen wollen, daß im Zeitalter des Frühkapitalismus die berühmteste machtgetragene Wirtschaftsregulierung die Maximen des Merkantilsystems, großartige Beispiele für Erfolg der Macht aufzuweisen haben. Wer wollte das schließlich von der glänzenden Gesetzgebung Colberts bestreiten? Wer wollte Cromwell den Ruhm nehmen, zur Begründung der britischen Wirtschaftsüberlegenheit das Grundlegende beigetragen zu haben dadurch, daß! er mit staatlichen Machtmitteln in das freie Spiel der Verkehrsinteressen eingriff? - Sollte es angesichts solcher historischer Tatsachen, die, in das Habenkonto der Machtpolitik des Staates gebucht, einen großarügen Saldo ergeben gegenüber manchem nicht zu leugnenden Mißerfolg - sollte es da nicht Pflicht der Wissenschaft sein, ehe sie das Anathema über alle Art Machtübung gegen die Wirtschaft spricht, wie Ludwig Mises, Andreas Voigt zu tun belieben, zu prüfen, worin denn wenigstens die Voraussetzungen liegen mögen und auf welche Voraussetzungen es überhaupt ankommt, ob staatliche Macht gegenüber der Wirtschaft Erfolg hat oder unterliegt. Und weiter: wenn die Freiheit, die Entfesseltheit der individuellen Initiative und die Kapitalinteressenverfolgung als das einzige in Frage kommende Prinzip für die sichere Erreichung des höchsten Maßes wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gerühmt wird, lehrt uns denn nicht gerade die Wirtschaftsgeschichte, daß jener Zustand der individuellen Freiheit durch die staatliche Aktivität erreicht worden ist, daß die Bauernbefreiung in ihrem Wesen nichts anderes war, als die Überwindung von ungesunden Machtverhältnissen, die sich ohne staatliches Zutun aus dem freien Spiel der Kräfte entwickelt hatten? Wie anders ist denn die verpönte ostelbische gutsherrschaftliche Agrarverfassung entstanden? Doch nur dadurch, daß der Ritter Kaufmann geworden ist und die Schwäche des Staates rücksichtslos ausgenutzt hat! Dasselbe gilt mutatis mutandis von gewerblichen Produktionsleben. Ist denn nicht überhaupt geradezu typisch als Ergebnis des ungehemmten Ablaufes der Wirtschaft: die Entwicklung einer Machtstellung durch irgendwelche priv,ate Interessentenkreise, einer Macht, deren Ausnutzung die Gesellschaft in ihrer notwendigen Einheitlichkeit bedroht und die deshalb eine Freisetzung der Wirtschaft von solcher privaten Machtstellung durch den Staat erheischt? Wenn aber nun .gesagt wird, der staatliche Eingriff kann dann unbeschadet erfolgen, kann Erfolg haben, wenn er sich in der Richtung der natürlichen Entwicklung auswirkt, so wird da zumeist ein logischer Irrtum obwalten, denn der Machteingriff richtet sich ja in der Regel gegen das, was als Ergebnis der natürlichen ungefesselten Entwicklung erkannt wird und dem sozial und ethisch angestrebten Zustand widerstreitet.

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Doch wir wollen uns nicht desselben Fehlers schuldig machen, der so oft zu verfehlten Verallgemeinerungen führte. Es gilt die Fälle, in denen die Machtpolitik versagt hat, zu differenzieren, um die Bedingungen sehen zu lernen, unter denen die staatliche Macht erfolglos eingreift, die Ursachen zu sehen, die sie mit ihrem Wollen zum Scheitern bringen. Zu diesem Ende brauchen wir am allerwenigsten in die Ferne der Vergangenheit zu schweifen. Die Tatsachen, die uns in der Erkenntnis dieser Fehlerquellen vorwärts bringen, liegen in unserer unmittelbarsten Gegenwart. Wir stehen mitten in einer Epoche, in der sich Akte der Macht gegenüber der Wirtschaft geradezu überstürzen. Wir brauchen den Blick nur nach dem Osten zu wenden, um die Furchtbarkeit der Verirrungen in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Die Wirtschaftspolitik der Sowjets, die ich vor allem im Auge habe, hatte Ideale zu verwirklichen, für die in der Agrarverfassung de.> zaristischen Rußland unverkennbar der Boden geebneter war als anderswo. Dort bestand im sogenannten Mir eine kollektivwirtschaftliehe Bodennutzung. Die Ackerflur eines Dorfes galt als Gemeineigentum und wurde in kurzen Perioden immer wieder neu auf.geteilt unter die Dorfgenossen. Freilich hatte nach der ersten russischen Revolution von 1905/06 die russische Regierung die Beseitigung dieser Agrarverfassung, die im größten Teil Rußlands bestand, beschlossen und unter den tatkräftigen Ministern Kriwoschein und Stolypin in Angriff genommen. Diese Agrarreform, die nach Stolypin genannt zu werden pflegt, hatte ihren Ursprung in der Erkenntnis der Hemmungen, die einer intensiveren Bodenbewirtschaftung unter der Herrschaft des Mir entgegenwirkten, weil die immer wieder erfolgende Neuaufteilung der Flur den jeweiligen Nutznießer eines Ackerloses davon abhielt, dem Boden eine Arbeit und Aufwendungen zu widmen, die sich erst in späteren Jahren lohnten. Der Mangel an Intensivierung bei starker Bevölkerungsvermehrung mußte das Verlangen nach mehr Land bei den Bauern immer dringender werden lassen. Das war bekanntlich auch ein Kriegspropagandamittel für die französischen und insbesondere englischen Agenten, die den Krieg mit Deutschland im Hinblick auf den durch den Sieg erreichbaren Landgewinn populär zu machen verstanden. Stolypins Agrarreform hatte insofern friedenwirkenden Charakter, als durch sie das Einzeleigentum, also dauernder Besitz eines möglichst arrondierten Bauerngutes und damit die Zweckmäßigkeit der Betriebsintensivierung herbeigeführt werden sollte. Obwohl an dieser Reform mit Rieseneifer gearbeitet wurde, war sie 1914 nur zum Teil verwirklicht - Agrarreformen brauchen immer lange, nun gar

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bei den Riesendimensionen Rußlands! - und der Geist des Mir, die Neigung zum alteingelebten Schlendrian des Gemeineigentums war allzu lebendig. Die bolschewistischen Bestrebungen fanden also bei den Bauern die günstigsten Voraussetzungen, wenigstens Befriedigung der Landgier durch Aufteilung des Großgrundbesitzes, der immer außerhalb des Dorfes gewesen war, und Plünderung der Adelsgüter mußte den Bauern zusagen. Und dennoch sollte die kommunistische Sowjetwirtschaftspolitik an der Haltung der Bauern zerbrechen. Lenin glaubte den Unterschied zwischen Bauer und städtischproletarischem Arbeiter austilgen zu können. Ein Fünftel der Adelsgüter wurde den Bauern vorenthalten und mit städtischen Proletariern in ganz ungeeigneter Weise besiedelt. Die Versorgung der Städte blieb von der Produktion der Bauern abhängig; diese sollten ihren ganzen Produktionsüberschuß nutzlos, d. h. so gut wie ohne Entgelt an die Städte liefern. Sie wollten aber von Unterordnung der Landwirtschaft unter die Stadt, von einer Organisierung des Getreideanbaues durch städtische Initiative nichts wissen. Die Sozialisierung der Produktionsmittel mußte am Bauern scheitern, weil das russische Dorf sich völlig gegen die Stadt abschloß und dazu um so mehr Veranlassung hatte, sobald es aus der Stadt nichts mehr zu erwarten hatte, als hungernde Menschen. Der Übergang der Sowjets zur Nepo, zur neuen Wirtschaftspolitik, im Frühjahr 1921, die eine Zulassung kapitalwirtschaftlicher Maximen bedeutete, war das offene Zugeständnis des vollständigen Zusammenbruchs der staatlichen Macht auf dem Boden der Wirtschaft. Nicht so kraß wiederholt sich das Schicksal völlig verfehlter Macht-Politik in anderen Staatskörpern nach anderen Richtungen. Das gilt - in weiteren Kreisen weniger bekannt - von dem Wirtschafts-Niedergang der von Natur so überaus gesegneten Tschecho-Slowakei, trotz der glänzenden Ernte von 1922, und das gilt nicht minder von dem Schicksal der volkswirtschaftlichen Mißgeburt Deutschösterreich, dem aller Wahrscheinlichkeit nach die sogenannte Hilfe des Völkerbundes volkswirtschaftlich nur eine Henkerfrist zu bieten vermag - was jedem klar ist, der die Wirtschaftsgrundlagen der sogen. alten habsburgischen Erbländer Nieder- und Innerösterreich mit Tirol und Salzburg annähernd kennt. Unzweifelhaft Hegt auch da überall ein Macht-Diktat vor, das sich über die ökonomischen Tatsachen über ökonomische Voraussetzungen, von deren Erfüllung das Machtmäßige gewollte abhängig ist, hinwegsetzt. Und auch hier, auch in diesen scheinbar so ähnlich liegenden Verirrungen staatlicher Wirtschaftspolitik gilt es Unterschiede zu machen. Die Fälle liegen durchaus nicht überall gleich. Die Sowjet-

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Politik ist auf dem Boden der Wirtschaft gescheitert an dem, was man das Individualinteresse des einzelnen Erwerbswirtschafters nennt. Das darf wenigstens als das Ausschlaggebende angesehen werden, daß die große Masse der Sowjet-Bürger in ihren erwerbswirtschaftlichen Interessen vor den Kopf gestoßen wurde. Die Voraussetzung für das Wirksamwerden des Willens zur Überschußproduktion, den die Sowjetgesellschaft braucht, blieb unerfüllt, die Erringung eines Nutzens als Entgelt für die Arbeit über den eigenen Bedarf wurde versagt. Die Sowjetpolitik ist auf dem Boden der Wirtschaft gescheitert infolge der Mißachtung der psychologischen Grundlag·en des Wirtschaftslebens, und zwar von Grundlagen jeder menschlichen Wirtschaft, jedes Wirtschaftssystems nicht-caritativen Charakters. Sie ist sozusagen an einem absoluten Wirtschaftselement gescheitert, weil sie sich hinweggesetzt hat über jenes Überlegen und A:bwäg·en von Nutzen und Kosten, das das Um und Auf jener Motivation bildet, mit der der Wirtschaftsplan des einzelnen Wirtschafters zustande kommt. Anders die Lenker des tschechisch-slowakischen Staatsschiffes. Indem sie, von Eitelkeit ebenso sehr wie von Haß geleitet, das Band wirtschaftlicher Beziehungen zwischen Ländern und Volksmassen, die in Jahrhunderte langer Verbundenheit zu einer organischen Einheit zusammengewachsen waren, glaubten zerschneiden zu können, haben sie die Bedeutung des Wirtschaftsraumes in seiner durch die Arbeit von vielen Generationen gewo!'denen organischen Gliederung völlig übersehen, einer Raumgestaltung, die die Teile des Gesamtraumes zu notwendigen Organen des Ganzen allmählich hatte werden lassen, mit Gestaltungswirkung für diese Raumteile, die nicht nur von heute auf morgen, nein, die in Jahrzehnten nicht getilgt werden können. So haben sie geglaubt, sich über diese so rasch jedenfalls nicht überwindliche, historisch-soziologische Grundlage des gesamtwirtschaftlichen Ablaufes hinwegsetzen zu können. Ihre machtgetragene Politik gegen die alte und für eine neue Wirtschaft zerbricht zunächst wenigstens im den Marktverbindungen, die durch Rohstofflager und Verkehrsweg·e von diesen zu den Verbrauchsstätten geradezu diktiert sind, weil sie ökonomisch rationell sind, weil diese Verkehrswege, dieses ganze Netz von Wirt.c;chaftsstraßen ja gerade auf jene Marktverbindungen nach dem Herzen des alten Österreichs, nach Wien und den Erbländern, einerseits, nach und von Ungarn anderseits hin entwickelt worden sind, so wie ja eben annähernd das Thünensche Schema vom isolierten Staat immer in gewissem Ausmaß durch die autonomen Wirtschaftsinteressen allmählich entstanden zu denken ist. Dieses organische Gebilde, das Produkt von fast einem Jahrhundert planmäßiger Verkehrspolitik, hat die tschechische Regierungsweisheit

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zerfetzt, weil die maßgebenden Leiter der Politik sich einbi1deten, von heute auf morgen ein neues Blutkreislaufsystem im Verkehr mit andern Ländern insbesondere Westeuropas schaffen zu können. Aber die Macht, die den nach ökonomischer Rationalität organisierten Wirtschaftsraum wohl zerschlagen konnte, vermag nicht ohne Vernichtung wichtiger wirtschaftlicher Existenzen einen neuen an die Stelle zu setzen. Und endlich die Politik der Machtgrößen von Versailles, St. Germain, Trianon usw., die jene lebensunfähigen Staatsgebilde geschaffen haben, für deren Abgrenzung weder ein nationaler noch ein geographischer, geschweige denn ein wirtschaftsgeographischer Tatbestand maßgebend war, sondern nichts als zerstören wollender Machttrieb, ausschließlich militärisch-politisches Machtverlangen und Rachegefühl, diese Politik hat sich über die technisch-ökonomischen und die Naturgrundlagen der Wirtschaft irgend einer in gegebener Dichte gesiedelten Gesellschaft hinweggesetzt, selbst dort, wo eine wirtschaftlich aufhauende Absicht, ein auf Schaffung lebensfähiger Volkswirtschaftskörper gerichteter Wille noch vorlag, wie in dem klassischen Beispiel des heutigen Deutsch-Österreich, das dank der Völkerbundsweisheit heute, wenn man den alliierten Stimmen trauen soll, ein kraftstrotzender Gigant an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit geworden ist. Man hat es also in der Tat mit verschiedenartigen offenkundigen Mißgriffen, wir dürfen sagen, auf,gelegten Widersinnigkeiten, Verletzungen der elementarsten Grundlagen wirtschaftlicher technischer Möglichkeiten zu tun und es könnte nichts verkehrter sein, als in diesen Fehlschlägen der Macht auf dem Gebiete der Wirtschaft schlüssiges Beweismaterial zu erblicken, auf Grund dessen man den Stab über jeden Machteinfluß der Wirtschaft gegenüber brechen müßte. Vor allem gilt es aber, die Kehrseite der Kritik, sozusagen ihre positive Basis sich wieder einmal zu vergegenwärtigen: das ist im wesentlichen die Lehrmeinung, daß das freie Walten der produktiven Initiative und der sie tragenden Faktoren, Unternehmungsgeist und Kapitalverwertungsstreben das höchste Maß von Produktivität, die reichste Güterversorgung zu bringen und - das ist der wichtigere Teil! -daß diese allein, nicht aber ·eine Korrektur der Güterverteilung zwischen Arbeit und Kapital durch ein Machtelement, einen befriedigenden Zustand des Völkerdaseins zu bewirken vermöge. Es wird, und zwar meines Erachtens mit Recht, geltend gemacht, daß allzu gern, aber freilich irrtümlich, aus der kraftvollen Weiterentwicklung und insonderheit dem Aufstieg der Arbeiterlebensführung in der Vorkriegszeit Schlüsse auf die segensreich·e Wirkung der Sozialpolitik jener Epoche gezogen werden. Gewiß·: das post hoc ist noch

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kein propter hoc. Die Tatsache - sie ist unbestritten - daß die Arbeiterschaft Deutschlands innerhalb des Menschenalters vor Kriegsausbruch einen Aufstieg ihrer Daseinsführung erfahren hat, darf keinesfalls ohne weiteres auf das in diese Epoche fallende sozialpolitische Eingreifen der Gesetzgebung zurückgeführt werden, ja, ich räume als selbstverständlich ein, daß auch das Vorgehen der Arbeiterschaft, die mit ihrer Koalition, ihrem Gewerkschaftswesen Machtpolitik treibt, nicht ohne weiteres als Ursache des Aufstiegs der Arbeiter gelten könne. Es bedürfte erst eines Beweises. Nun müssen wir uns da freilich grundsätzlich darüber klar sein, daß irgendwelche Beweisführung über das Maß von Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit auch hier mit der Schwierigkeit zu rechnen hat, daß wir einzelne Ursachen im praktischen Leben nicht isoliert wirksam finden, sondern immer mit anderen Tatbeständen verknüpft, die gleichfalls als ursächliche Energiequelle in Frage kommen können. Und so ist es gewiß auch mit der Lohnentwicklung. Wenn wir feststellen müssen: Lohnsteigerung und damit bessere Lebensführung der Arbeiter sind in einer Epoche eingetreten, in der 1. die Produktivität dcr Wirtschaft erheblich gewachsen ist, 2. auch die Gewerkschaftstätigkeit mächtig zur Entfaltung gelangt ist, so ist es jedenfalls unzulässig, einen zwingenden Zusammenhang zu konstru~eren zwischen Gewerkschattsar:beit und Aufstieg der Lebensführung. Etwas anders, nämlich günstiger scheint die Aufgabe der Beweis·· führung auf anderen Gebieten zu liegen. Um nur ein Beispiel heraus· zugreifen: Wenn das Gesetz die Kinderarbeit bis zum 14. Lebensjah1· verbietet und es werden danach Bergwerke und Fabriken von arbeitenden Kindern gesäubert, so scheint der Erfolg des Machteingriffes über jedem Zweifel zu stehen. Allein es kann ja sogar da eingewendet werden, daß die freie Entwicklung des Wirtschaftslebens auch hierin Wandel geschafft haben würde, nur vielleicht etwas später; die durch Produktivitätsste~gerung ermöglichte Lebensführung der Arbeitermassen würde di,e Arbeitereltern immer mehr abgehalten haben, ihn. Kinder zur Arbeit zu schicken. Und darauf läuft ja die Skepsis der Gegner jedes Machteingriffes hinaus, daß, wenn irgendwo ein Machterfolg nicht bestreitbar ist, derselbe Erfolg ohne Störung der Wirtschaft aus dem ungefesselten Walten der produktiven Kräfte selbst zu .erwarten gewesen wäre, so daß man sich einer Täuschung schuldig mache, wenn man der autoritären, also machtgetragenen Maßnahme eine durch sie bezweckte Wendung im Wirtschafts- oder Sozialleben zurechne. Noch problematischer erscheint das Kinderarbeitsverbot unter dem Gesichtspunkte der LohnpQlitik. Es kann geltend 'gemacht werden, daß

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eine solche Norm, sofern durch sie eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage für die erwachsenen Arbeiter erreicht werden sollte, notwendig zur Verminderung der produktiven Kräfte, also zur Schwächung der Produktivität, führen müsse und daß damit eine Lohnerhöhung zwar vielleicht erreicht worden sein mag, daß diese aber durch Verteuerung der Waren irrfolge verminderter Erzeugung völlig wettgemacht werden müsse. Gerade die Lohnfrage müßte sozusagen seLbstverständlich im Vordergrunde der Beweisführung stehen. Nicht nur, weil Tugan-Baranowsky davon den Ausgang genommen hat, sondern auch, weil ja der Einfluß1 auf die Verteilung des Sozialprodukts zwischen Arbeit und Kapital hier am offenkundigsten zu verfolgen sein müßte. Und deshalb ist es nicht nur methodisch ganz richtig, sondern ein besonderes Verdienst Ad. Webers, daß er 1910, also vor Tugan-Baranowsky, mit seinem zu klassischer Bedeutung gelangten Buche über den Kampf zwischen Kapital und Arbeit die Frage aufgerollt und mit strenger Wissenschaftlichkeit verneint hat, ob man den Aufstieg der Arbeiterlebensführung als Gewerkschaftserfolg anerkennen könne, und daß er sich zu der Auffassung bekannt hat, daß unter dem Einfluß der Produktivitätssteigerung dieser Aufstieg von selbst, ohne Zutun machtmäßigen Vorgehens eingetreten wäre. Ich kann mich allerdings dieser Auffassung nicht anschließen, daß wir ohne Existenz der Arbeiterorganisation nur unter dem Einfluß der freien Konkurrenz, und damit also der Kapitalenergetik diesen Aufstieg erlebt haben würden. Einmal, weil ich zu sehr unter unmittelbarem Eindruck von Tatsachenerfahrungen stehe, von denen ich nur einen Fall heranziehen möchte. Es war im Frühjahr 1898, als im niederösterreichischen Waldviertel unter den Heimwebern eine besondere Steigerung des typischen Heimarbeitselendes irrfolge wiederiholter schlechter Kartoffelernten auftrat. Ich habe als Kommissar der Handels- und Gewerbekammer selbst feststellen müssen, daß zur selben Zeit, da der einfachste Taglöhner in dem 150 km entfernten Wien vier Kronen Tagelohn verdiente und Arbeitskräfte irrfolge der gewaltigen Bautätigkeit dank Luegers Wirtschaftspolitik sehr gesucht waren, ein Weberehepaar in 14- bis 16 stündiger Tagesarbeit nur einen Wochen verdienst von 2,36 Kronen erreichen konnten. Es steht für mich außer Zweifel, daß bei Vorhandensein einer Organisation der freilich zerstreut wohnenden 8000 Weber und Weberinnen solche Hungerlöhne - das Wort ist hier in seinem vollen Sinne zu verstehen - kaum möglich geworden wären. Ni c h t genug aber, daß Hungerlöhne ohne energische Au f lehnung hingenommen wurden, als müßten sie so sein, und daß so

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jeder Ansatz zu korperativer Selbsthilfe im Keime verkümmerte. konnte es hier allerdings sog,ar soweit kommen, daß auch die individuelle Selbsthilfe versagte, die hier im Fortziehen zu Tage treten mußte, wenn das Gesetz von der Anpassung an die Marktlage zutreffen sollte. Abgesehen von solchen Tatsachen sprechen meines Erachtens aber auch rein theoretische Gründe gegen die Leugnung des Gewerkschaftserfolges, Gründe, die ich wegen der theoretischen Weitläufigkeit des Gedankenganges nur dahin zusammenf,assen kann, daß die Vereinigung einer Vielheit von Marktwillen zu einem einheitlichen Willen kaum jemals ohne Wirkung auf die Preisbildung bleiben kann, die Gewerkschaftsarbeit aber in der Lohnpreisgestaltung in ihrem Wesen vor allem eben eine solche Vereinheitlichung des vielfach zersplitterten Wollens einer großen Masse willensschwacher und einer kleinen Minderheit willensstarker Arbeitskräfte auf einer für die Gesamtheit vorteilhaften Mittellinie bedeutet. Daher und insoweit haben wir offenbar auch in der Sozialversicherung, insbesonders in der Invalidenversicherung eine Einrichtung zu sehen, die, autoritär geschaffen und machtmäßig verwirklicht, für die Verteilung des Sozialproduktes, ja auch schon für die Zusammensetzung derselben von Belang sein muß. Und selbst wenn zugegeben werden müßte oder dürfte, daß die Kosten dieser Einrichtung ganz von den Bedachten, den versicherten Arbeitern selbst, bestritten werden muß., bleibt die Tatsache, daß die Invaliden eine wenn auch kleine gesicherte Rente beziehen, ein ökonomischer Fortschritt, weil jede Ausdehnung unserer wirtschaftlichen Fürsorge in die Zukunft hinein aus dem Wesen der Wirtschaft schon als Fortschritt gelten muß. Dabei glaube ich aber auch aufmerksam machen zu dürfen, daß auch Böhm-Bawerk, obwohl er die Überlegenheit der ökonomischen Gesetze über jede Art Macht verteidigte, ausdrücklich die Möglichkeit eines Lohnstreiks, also des Erfolges eines Machteingriffes zugab, insbesondere für den Fall, wenn im Streik die Erhöhung des Arbeitslohnes erzwungen wird, den vorher die Unternehmer durch Ausnützung i h r e r monopolartigen Stellung u n t e r der Höhe des Grenzproduktes zurückgehalten hatten. Die Konstellation, daß der Lohn unter dem nach sonstigen Umständen möglichen Niveau künstlich gehalten wird, ist damit von diesem maßgeblichsten unter den Machtgegnern zugegeben. Was nützen aber Erhöhungen des Geldlohnes, was nützt die Gewerkschaftsarbeit, die diese E!'höhungen vielleicht bewirkt haben mag, wenn die Lebensführung der Lohnbezieher nicht mitwachsen kann, da doch unter dem Einfluß. der Lohnsteigerung alle Warenpreise pro-

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portional mitsteigen? Daß es gegenüber diesem Einwande tatsächlich darauf ankommt, daß auch die Produktivität der Wirtschaft in der Richtung des Massenbedarfs wächst, und daß insoweit wahrscheinlich wenigstens eine Verschiebung in der Produktionsrichtung gleichzeitig vor sich gehen müßte, ist ohne weiteres zuzugeben. Deshalb ist es, um dieses hypothetische Moment in dem Gedankengang unserer Beweisführung auszuschalten, notwendig, ein Untersuchungsgebiet zu wählen, wo es nicht in Frage kommt, also ein Betätigungsgebiet machtmäß[ger Wirtschaftsbeeinflussung, auf dem diese die Bereicherung der Lebensführung der Arbeiter unmittelbar bewirken will und bewirkt. Wir werden zweckmäßig auf einem solchen Untersuchungsgebiet einander gegenüberstellen: einerseits das Wirken des freibeweglichen seinen Interessen folgenden Kapitals, anderseits die Wirksamkeit des Machteingriffes. Ein solches Gebiet, auf dem die Freibeweglichkeit des Kapitals gern gepriesen wird, ist der Wohnungsbau. Er ist nach meinen persönlichen E~ndrücken ein Wirtschaftsgebiet, auf dem jedoch besonders deutlich die Unzulänglichkeit dieser Freiheit und Entfesseltheit der Wirtschaft zutage getreten ist. Nichts kommt hier weniger in Frage, als etwa eine Flut von Vorwürfen und Anklagen gegen das Versagen des Eigeninteresses des Kapitals auf diesem Boden der Bedarfsbefriedigung, Vorwürfe, getragen von einem parteipolitischen, im besten Falle ethisch und hygienisch eingestellten Werturteil. Wir haben nur die Diskrepanz zwischen dem Tatsächlichen und solchen Idealen festzustellen, aber aller·dings auch nicht zu übersehen, daß diese Tatsächlichkeit der Wohnverhältnisse mit ihren Wirkungen weit über den Kreis der unmittelbar betroffenen Mieter hinausreicht. Daß das Kapital in seiner Freibeweglichkeit günstigere Verwertungsmöglichkeiten aufsucht, als sie in der Anlage in Arbeiter- und überhaupt Proletarierwohnhäusern gegeben sind, ist selbstverständlich. SeLbstverständlich, daß ebenso das Kapital, wenn es schon dieses Betätigungsgebiet wählt, mehr dahin neigt, Massenquartiere, Mietskasernen zu bauen, als Arbeiterkleinhäuser, schon weil die Verwaltungsarbeit im Verhältnis zu dem erzielbaren Erträgnisse bei den letzteren noch höher ist als bei den ersteren. Aber kann es denn, wenn man das Kapital nicht dafür verantwortlich machen will, darüber hinweghelfen, daß auf diese Weise die Deckung des Wohnbedarfs ganz unzulänglich geblieben ist, daß nicht nur die Massen selbst in kulturunwürdigen Wohnverhältnissen - insbesondere auch unter dem Druck der Kinderscheu so vieler Hausbesitzer - immer mehr versanken, sondern daß auch die Gesellschaft als ganzes und damit auch die günstig Wohnenden durch die bösesten

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hygienischen und sittlichen Ausstrahlungen jener Mißstände schwer bedroht, ja direkt geschädigt werden? Und hat es sich da nicht als eine Korrektur der natürlichen Kapitalbewegung von segensreichster Wirkung bewährt, daß die Sozialversicherungsanstalten dem wirtschaftsliberalistischen Prinzip nicht gefolgt sind, nicht die höchst mögliche geldliche Verwertung für ihre Reserven gesucht haben, sondern diese Kapitalmassen dem Wohnungsbau und der Anlage von Heilstätten zugewendet haben, die bestimmt sind, die schweren Schäden des Wohnungsmangels - dieses Versäumnisses des Kapitals zu mildern? Selbstverständlich wäre nichts bedenklicher als dieses Vorgehen etwa zum Prinzip zu machen, in dem Sinne, daß das Kapital grundsätzlich durch Einflußnahme der Gesetzgebung oder der Verwaltung von der Aufsuchung der geldertragsmäßig günstigsten Anlage abgehalten werden sollte. Und wenn der Staat durch Kredite an Baugenossenschaften den Wohnungsbau und damit die Besten und Verständigsten unter den Minderbemittelten fördert, die vor allem die Sehnsucht nach einem behaglichen Heim in sich tragen, so ist das auch nichts anderes als die Inanspruchnahme von Kapital für Zwecke, deren Erreichung weniger Geldertrag erwarten läßt, als sie andere Verwendung dieser Kapitalien bringen konnten. Aber ist es nicht wahrscheinlich sehr wohlstandfördernd, wenn eine Herauslenkung von Volksvermögen aus dem Prozeß, der der rascheren Geldreproduktion gewidmet ist, dorthin erfolgt, wo Menschenbehagen und Gesundheit unmittelbar erreicht werden können? - Und wenn dagegen gesagt wird: bei anderer Verwendung des Kapitals hätten mehr Güter erzeugt werden können, die Freibeweglichkeit des Kapitals hätte eben die Produktivität noch gesteigert, reichlichere Beschäftigung, günstigeren Arbeitsmarkt, höhere Löhne gebracht -: so klingt das doch wirklich so, als ob es immer nur auf das Quantum der Güter schlechthin ankäme. Verwenden denn die großren Menschenmassen in ihrer völligen Konsumfreiheit ihre Einkommen so wunderbar rationell? Sollte man nicht genügend Erfahrung haben über die vielfach höchste Unzweckmäßigkeit solcher Einkommenverwendung? Sollte es angesichts des tausendfach notorisch unzweckmäßigen Disponierens über Einkommen nicht zweckmäßig sein, daß die den Konsum regelnde Preisbildung mittelbar, d. h. auf dem Wege über solche autoritäre Beeinflussung des Kapitalstroms und damit der Produktionsrichtung, die breiten Schichten von der Nachfrage für Güter ablenkt, die nur sehr vermeintlich ihr Wohlbehagen zu fördern vermögen? Wir wissen längst, wie viel zu wenig das freie Kapital auf dem Gebiete der Wohnbedarfsdeckung leistet. Ob man im Eastend Londons

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oder in der Gegend der Cistius-Pyramide Roms oder in den Mietshöhlen der polnischen großen Städte, wo wirklich das Grauen wohnt, die Stätten des Elends aufsucht - überall tritt das Versagen der Kapitalaktivität schroff zutage. Und wenn in Deutschland trotz des beispiellosen Bevölkerungszuwachses der Wohnungsbedarf vergleichsweise annehmbar gedeckt wurde, so darf diese Tatsache nur als ein Ausfluß eines höheren Maßes von Einsicht und sozialem Pflichtgefühl der Unternehmer angesehen werden. Denn wenn es auf das Kapitalinteresse allein ankäme, wenn diese allein es wäre, das zum Bau von Wohnhäusern für Arbeiter drängte: dann würden doch wohl überall die Wohnbedürfnisse ähnlich befriedigt worden sein wie in DeutschLand vor dem Kriege. Das Kapital und sein Verwertungsstreben in der Richtung des höchsten Ertrages versagt - auf die Menschen kommt es an. Wie sehr nahe oft die Gefahr liegt, daß das Kapital in der Verfolgung seiner scheinbar verläßlichsten Methoden Irrtümer begehen und die Volkswirtschaft als Ganzes aufs schwerste schädigen kann, dafür nur ein kurzes Beispiel aus unserer Gegenwart. Im großen und ganzen gelten die Konzern- und Kartellbildungen als verläßlichste Methode nicht nur zur Überwindung gefährlichster Produktionsanarchie, sondern auch zur Sicherung des Erfolges des Kapitalerwerbsstrebens. Ein völliges Fehlgreifen der Verfolgung des Kapitalprinzips erlebte ein wertvoller Zweig unserer Textilindustrie gerade in jüngster Zeit. Die Sammet- und Plüschweberei Krefelds hat in mittelgroß,en Betrieben in einer durch ein Menschenalter gepflegten Arbeiterausbildung eine Art kunstgewerblicher Fertigkeit in der Arbeiterschaft und damit einen Weltruf für ihre "Kunstprodukte" begründet, der um so wertvoller war, weil dieses Produkt an einen Konkurrenzpreis kaum gebunden war. Da kam der Konzern, vereinigte alle diese Betriebe, um sich auf große Produktion von Massenware umzustellen, und mit dem Übergang zur Massenproduktion haben sich die Qualitätskunden und die Qualitätsarbeiter verloren, der Markt der Massenprodukte aber verschloß sich dem Massenprodukt an Luxusware. Es sch.eint dort wohl geboten zu sein, daß man gegenüber der unfehlbaren Treffsicherheit in der Wahl der für die Gesamtwirtschaft richtigen Betätigungen der produktiven Kräfte auch gegenüber den Kapitänen unserer Erwerbswirtschaft etwas Skepsis bewahrt. Das sage ich natürlich nicht, um damit vielleicht dafür einzutreten, daß etwa ein wirtschaftsfremderer Machtfaktor diese Aufgabe übernehmen sollte, die produktiven Kräfte zu dirigieren. Alles eher als dies. Ich komme damit nur auf den Ausgangspunkt unserer theoretischen Betrachtungen, und damit auf die Feststellung dessen, was also ökono-

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misches Gesetz zu erfassen ist, zurück. - Es ist nämlich so wichtig, daß, wir nie aus den Augen verlieren: die Wirtschaft läuft nicht in so zwangsläufigen Bahnen, wie das mit der Konstruktion "ökonomischer Gesetze" wohl vorausgesetzt zu sein scheint. "Scheint" - denn wenn wir uns über die Grenz.en unserer wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten dem ökonomischen Leben gegenüber im klaren bleiben, werden wir auch den eigenartigen Charakter der sogenannten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht verkennen. Solche Gesetzmäßigkeiten bestehen. Aber wir tun gut, sie immer nur als Tendenzen zu formulieren und nicht im Sinne jener mathematischen oder naturwissenschaftlichen Zwangsläufigkeit irgend einer Formel, wie z. B. f = r 2 :n oder einer Regel, wie z. B. daß beim freien Fall die Geschwindigkeit des Falles proportional den Zeiten des Falles wächst oder der Kepplerschen Gesetze u. dgl. sondern nur in dem Sinne, daß z. B. die Erhöhung der Geldeinkommen größerer Volksteile eine Teuerung der Güter auszulösen neigt. Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Aufeinanderfolge eintritt, ist sehr groß, aber sie ist es schon nicht aus irgend einer ökonomischen Kausalität, denn um eine solche handelt es sich gar nicht. Das post hoc, ergo propter hoc mag sogar anzuerkennen sein, weil nicht in hunderten, sondern in hunderttausenden von Fällen die Erhöhung des Geldeinkommens den EiDkommenbezieher zur Steigerung seiner Ausgaben veranlassen wird. Aber das beruht nicht auf irgend einer ökonomischen Kausalität, die durch ein ökonomisches Gesetz formuliert wird. Der Einkommenbezieher kann sich ja auch zur Einsparung dieses Mehreinkommens entschließen. Wenn die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht erspart, sondern ausgegeben und damit Nachfrage steigernd wirksam wird, groß ist, so hat das seine Ursache in psychologischen, höchst individuellen Tatsachen und der Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge von Einkommenerhöhungen und Teuerung (oder wenigstens umfassenderer partieller Preissteigerung) wohnt durchaus keine innere, auch nicht eine allgemeine Notwendigkeit inne. Der Ablauf der Wirtschaft ist immer nur nach Wahrscheinlichkeit bestimmbar. Abgesehen von dem Einfluß außermenschlicher, nicht genau erfaßbarer Bedingungen des technischen Erfolges jeder, insbesondere der urproduktiven Güterbeschaffung schon deshalb, weil die Akteure des Wirtschaftslebens nur unter dem Einflusse der Wahrscheinlichkeit ihre ökonomischen Entschlüsse fassen. Ich möchte hier nicht .auf die Herrschaft des Relativitätsprinzips in den Geisteswissenschaften abheben, aber darüber müssen wir uns klar sein, daß der Blickpunkt für alles, also insbesondere auch für das leitende ökonomische Handeln der Markt ist und der ist nichts als eine Masse meist

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sehr differenter menschlicher Willen, die immer nur eingeschätzt, niemals exakt gemessen und in ihrem Wirkungswert erfaßt werden können. In dieser Wahrscheinlichkeitsbasis liegt aber auch die Quelle der Elastizität für alle gedanklichen Formulierungen von Regelmäßigkeiten des wirtschaftlichen Geschehens. Von der Unsicherheit unseres eigensten Seins bis zu der Beurteilung des wirtschaftlichen Gegenkontrahenten und nur gar bis zur Einschätzung der voraussichtlichen Kauflust einer Masse von Konsumenten -: wie ist da alles labil! eine unendliche Reihe von Wahrscheinlichkeitsgrößen. Liegt es da nicht sehr auf der Hand, daß gegenüber solcher Labilität der Entschlüsse auch der Wirtschaftskapitäne ein autoritärer Machtspruch sehr wohl sich durchzusetzen vermag? Daß zu den vielen anderen problematischen Faktoren für die Erfolgwahrscheinlichkeit eines Erwerbswirtschaftsplanes eben noch ein weiterer: eine staatliche Norm (gleichwohl beeinträchtigend) hinzukommt und mit in die Rechnung gestellt werden muß? - Und die Wahrscheinlichkeit hat noch eine Wurzel: Das Anpassungsstreben, man sollte sagen Anpassungsprinzip, beherrscht die wirtschaftlichen Entscheidungen der Individuen so sehr, daß häufig wirtschaftliche Situationen - vor allem natürlich Marktsituationen - auftreten, die den Gesetzmäßigkeiten geradezu Hohn sprechen- weil man es mit Menschen zu tun hat, die in ihrem Wollen wie in ihrem Verzichten, und zwar jeder einzelne, ungeheuer elastisch sind, deren Willenselastizität in der Masse aber ganz ungeheuer, in hohen Potenzen gesteigert, wivksam werden kann. Und deshalb ist nicht die Frage aufzuwerfen, ob eine Beeinflussung des Wirtschaftsablaufes durch machtmäßige Faktoren möglich ist, sondern die Frage kann für uns immer nur lauten: wo sind die Grenzen für solche Beeinflussung, die sich durchzusetzen vermag und nicht auf einem Umwege wieder ad absurdum g·eführt wird. Daß und wie scharf dieser Machteinfluß als Grenzproblem erfaßt werden kann und muß, läßt sich leicht an zahlreichen Beispielen erläutern. Hier sei eines noch kurz angedeutet. Die ·englische Regierung war während und noch nach dem Kriege aus währungspolitischen und finanziellen Gründen bemüht, alles in Südafrika gewonnene Gold nach London zu bekommen. Zu Beginn des Krieges, solange die südafrikanischen Minenbesitzer daran interessiert waren, unter dem Geleit englischer Schiffe ihr Erzeugnis verläßlich auf einen Markt zu bringen, war die Sache leicht. Ein Abkommen der Bank von England, hinter der die Regierung stand, mit den Minenbesitzern verpflichtete diese, all ihr Gold zum Preise von 77 sh 9 d per Unze an die Bank zu verkaufen. Die Sachlage änderte sich aber 27 von Zwiedineck-Südenhorst, I

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mit dem Sinken des Londoner Wechselkurses. Jetzt erhielten die Minenbesitzer für thr Gold immer wieder nur 77 sh 9 d, in englischen Banknoten für die Unze, konnten für dieses Entgelt aber nicht entfernt mehr dasselbe kaufen wie bei Kriegsbeginn. Bei diesem Entgelt erwiesen sich die ohnehin schon gestiegenen Betriebskosten in den Goldminen bald als zu hoch, so daß die Rentabilität verschiedener Gruben in Frage gestellt war. Die Folge konnte nicht ausbleiben. Der Abbau der goldärmeren Blöcke in den Gruben, da und dort sogar der ganze Betrieb einer und der anderen Mine wurde eingestellt, der Goldzufiuß nach London wurde immer kleiner. Nur der freie Verkauf, also insbesondere Verkauf nach New York gegen hochwertige Wechsel in kaufkräftigeren Dollars konnte die Minen wieder zu voller Produktion zurückbringen. Das Diktat, das lange wirksam war, fand d1e Grenzen seiner Macht und Wirksamkeit in den wirtschaftlichen Notwendigkeiten, der Kostendeckung durch den Erlös. Je mehr die Pfundnote an Kaufkraft insbesondere .gegen den Dollar verlor, um so mehr trat die G r e n z e der Macht gegenüber der Wirtschaft zutage. So gelange ich, fasse ich das Ausgeführte zusammen, zu folgenden Thesen: I. Die Alternative "Macht oder ökonomisches Gesetz" ist in solcher Allgemeinheit überhaupt nicht zu rechtfertigen. II. In Konkurrenz tritt Macht nur mit dem Prinzip der freien wirtschaftlichen Interessenverfolgung, die selbst machtorientiert sein kann, nicht aber mit ökonomischen Gesetzen: Wir stellen ökonomische Gesetze im Ablauf des Wirtschaftslebens fest und sehen daneben doch auch unzweifelhaft nachhaltige Wirksamkeit von machtgetragenem Wollen. III. Die Macht wendet sich daher überhaupt nicht gegen ökonomische Gesetzmäßigkeiten, sondern nur gegen die Unzweckmäßigkeit des freien Waltens der produktiven Kräfte. IV. Sofern in der Korrektur dieses Waltens durch die Macht jene als ökonomische Gesetze erkannten Tendenzen gestört werden und gestört weiden wo11en, handelt es sich nicht um ein Entweder- oder, sondern um Grenzfragen, d. h. Fragen, wie weit innerhalb der elastischen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten Macht sich durchsetzen kann. V. Machtmaßnahmen, die sich über psychische, natürliche oder technische Grundlagen der Wirtschaft hinwegsetzen, zerbrechen an diesen Grundlagen. Soweit reichen meine rein wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtungen. Gestatten Sie mir, daß ich auch noch einige über den Rahmen des

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streng Wissenschaftlichen hinausgehende, ins Bereich des Psychologischen, des Menschlichen und damit auch des Politischen fallende Bemerkungen anschließe. Cornicelius läßt Treitschke im I. Band der Politik eine starke Dosis Skepsis gegenüber der Wirkungsmöglichkeit des Staates in wirtschaftlichen Dingen äußern. Unmittelbar schöpferisch könne die Tätigkeit des Staates auch in der Volkswirtschaft nur selten sein. Wenn z. B. gesagt werde, die Stein-Hardenbergische Agrargesetzgebung habe eine neue Verteilung der Güter, einen neuen Bauernstand geschaffen, so sei das Redensart, die wohl im täglichen Sprachgebrauch angewendet würde, die aber nicht richtig sei. Durch jene Agrargesetze habe der Staat allerdings ermöglicht, daß ein freier Bauernstand emporkommen könnte, daß er aber wirklich emporkam, daß diese Bauern so tüchtig und relativ wohlhabend geworden sind, sei doch ihr eigenes Werk: in einem anderen Volke würden dieselben Gesetze ganz anders gewirkt haben. Der Staat könne unendlich viel tun, die Volkswirtschaft zu schützen, zu leiten, ihr neue Wege zu eröffnen, das eigentlich Schöpferische aber sei allein die Tat der Gesellschaft. Wenn hier die Relativität jeglicher machtmäßigen Funktion des Staates gegenüber der Wirtschaft Ausdruck findet, so liegt das durchaus in der Richtung unserer Gedankenführung. Schon in dem Hinweis auf die völkerpsychologische Bedingtheit der Resonanz, die solch ein Machtwort jeweils findet, anerkennen wir die Bedachtnahme auf das Element "Mensch", von dem das allermeiste abhängt. So wenig die deutschen Hanseaten im XIX. und XX. Jahrhundert einer Reichs- oder Staatsunterstützung bedurften, um mit einer prächtigen Handelsflotte den Ruhm eines großen Welthandelsfahrers zu begründen, ebenso wenig hat der welsche Nachbar im Westen mit weitestgehender Staatsunterstützung für Schiffbau, Schiffahrt, Linienverkehr u. s. f. einen annähernd ähnlichen Rang für seine Handelsflotte zu erreichen vermocht . .Wenn wir aber vom Menschen reden, dann scheinen mir diejenigen recht zu haben, die von einer zu starken Neigung zur Überschätzung der Wirtschaft sprechen, und eine Verwirtschaftlichung des Denkens als eine Gefahr erkennen zu sollen glauben. So wie wir Grenzen der Macht gegenüber der Wirtschaft feststellen müssen, so gilt es auch umgekehrt, Gebiete des Lebens nicht immer nur oder vor allem unter dem Gesichtswinkel der Wirtschaft zu sehen. Es gilt auch die Macht nicht nur als einen von der Wirtschaft abhängigen, sondern als einen den Wirtschaftsraum und damit die Wirtschaft maßgebend bestimmenden Tatbestand zu erkennen.

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Daher ist es denn auch nur innerhalb gewisser Grenzen richtig, daß die Wirtschaft des Menschen Schicksal sei. Der sittliche Wille und die sittliche Kraft sind auch Mächte, die Sieger über die Wirtschaft und über Zusammenhänge werden können, die uns als ökonomische Gesetze erscheinen mögen. Und so liegt auch des deutschen Volkes Schicksal mindestens eben so sehr in seiner sittlichen Kraft, endlich eine Einheit zu werden, in seinem sittlichen Willen zur nationalen Einheit auch unter Verzicht auf eine reichere Lebensführung zu gelangen, um auf diesem Wege wieder solche Macht zu gewinnen, die die natürliche Basis der Wirtschaft allzeit gewesen ist. ,Solche Macht, die uns, den für das Volk notwendigen und gesunden Wirtschaftsraum sichert. Darauf hat Max Weber mit wahrhaftem Seherblick schon vor 30 Jahren in seiner Rede "der nationale Staat und die Volkswirtschaftspolitik" als ein Ziel der Sozialpolitik hingewiesen. Nicht Weltbeglückung ist der Zweck unserer sozialpolitischen Arbeit, sondern soziale Einigung der Nation, die durch die ·moderne ökonomische Entwicklung gesprengt ward, für die schweren Kämpfe der Zukunft. Mehr denn je brauchen wir politischen Sinn mit dem Verständnis für das Raumproblem, für die Notwendigkeit der Macht, auf deren Grundlage sich die Wirtschaft abspielen kann. Hier liegen wirtschaftspolitische Probleme Deutschlands wie Deutschösterreichs. Da können wir freilich auf eine Läuterung der Gesinnung der Menschen kaum verzichten! Nicht Abkehr von Frohsinn und Freude, aber Abkehr von der materialistischen Orientiertheit des Freudestrebens bei der breiten Schichte, wie wir sie gottlob schon vielfach finden können, brauchen wir. Eine Einheitsgesinnung bei den Vielen wie bei den Wenigen, den zur Führung Berufenen, vor allem auch bei den Führern der Wirtschaft wie bei den Führern der Massen tut uns bitter not - denn die Wirtschaft ist es, die zerbricht, wenn der Wille zur gesellschaftlichen Einheit erlahmt und schwindet. So bleibt denn der Mensch das letzte und doch auch das erste und vornehmste Objekt, an das wir Arbeit zu wenden, an dem· wir zu bauen haben, wenn wir zur Macht und mit ihr wieder zur leichteren Wirtschaft gelangen sollen. So ist es heute nicht anders als in vorkapitalistischer Zeit und ich will Sie zum Schlusse dieser Betrachtungen an eine andere Zeit der Not des deutschen Volkes erinnern, in der ein Größter unserer deutschen Geisteswelt in seinem schönen Gedichte: "Ich horte ein wazzer diezen" dieselbe Quelle der Not aufdeckte, der auch heute unsere So11ge und unser Kampf gelten sollte. Vor sechshundert Jahren sang Walther von der Vogelweide:

Macht oder ökonomisches Gesetz Ich hört ein Wasser rauschen Und ging den Fischlein lauschen Ich sah die Dinge dieser Welt Wald, Laub und Rohr und Gras und Feld W.as kriechet oder flieget, Was Bein zur Erde bieget, Das sah ich und ich sag euch das: Da lebt nicht eines ohne Haß! Das Wild und das Gewürme Die streiten starke Stürme, So auch die Vögel unter sich; Doch treu sie eins einmütiglich: Sie schaffen stark Gerichte Sonst würden sie zunichte. Sie wählen Könige, ordnen Recht Und unterscheiden Herrn und Knecht. So weh dir deutschem Lande Wie ziemet dir die Schande, Daß nun die Mücke hat ihr Haupt Und, du der Ehren bist beraubt. Bekehre dich! bekehre -

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Von den Grundlagen der sozialen Bewegungen (1938)* Sehr verehrte Hörer und Hörerinnenl Sie sind gekommen, um eine Abschiedsrede zu hören. Ich aber habe vor dem Abschiednehmen noch ein Stück Pflicht zu erfüllen! Ich habe den ständigen Hörern meiner Vorlesung zur Geschichte der sozialen Bewegungen und Ideen, die auf diese Stunde fällt, in Aussicht gestellt, heute noch eine kurze Rückschau über das Ausgeführte zu geben. Meine über zwei Semester sich erstreckende Vorlesung hatte ich begonnen mit einer KennzeichnUillg des vor mehr als vier Jahrtausenden bestehenden orientalischen Großkönigtums, das die Beherrschung von Menschenmassen auf Mißachtung und Verachtung des Einzelmenschen aufgebaut hatte. Selbst wenn im 3. Jahrtausend v. Chr. von einem sumerischen Gesetzgeber und später von Hamurapi gegen den Zinswucher, namentlich den der Schamaschpriesterinnen, eingeschritten wurde und Höchstpreise festgesetzt wurden, so geschah das nicht etwa aus einem Mitgefühl mit den durch den Zins- und Preiswucher Getroffenen, sondern um der Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Bewucherten, also um des autoritären Interesses, um des Staates willen. Diese Kennzeichnung unternahm ich, um den Hintergrund herzustellen für das erste in der Antike, vor allem in Althellas aufdämmernde Erkennen, daß das Volksganze gefährdet sein kann, wenn der Staat sich um das Schicksal der Einzelnen nicht kümmert und wenn infolgedessen soziale Bewegungen aufkommen. Aber ich lenke Ihre Aufmerksamkeit nochmals darauf, daß jene gewaltigen Machtkomplexe der orientalischen Großkönige als Menschengemeinschaften und Staatsgebilde so völlig verschwunden sind, daß wir nur aus den schönen Bauresten und Steintrümmern eine annähernde Vorstellung von ihnen bekommen. Sind diese die Zeugen der überragenden Macht eines Despoten über die Masse des Volkes, so sind sie freilich doch auch ein Beweis, daß es auch eine geistige, schöpferische Elite gegeben haben muß, deren Schöpfungen wahrscheinlich das Wertvollste, das die Zeitgenossen und die Machtriesen Überdauernde jener Zeiten waren. Und hiezu noch eine Erinnerung: Nach einer genauen Berechnung aus der Siriusstellung ist es das Jahr 4241 v. Chr. gewesen, in dem

*Abschiedsvorlesung

beim Ausscheiden aus der Lehrpflicht (1938).

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die Scllaffung des 365-Tage-Kalenders erfolgt ist, eine Leistung also zu einer Zeit, aus der wir sonst noch nirgends in der Welt, auch nicht in Babylonien, Spuren einer höheren Kultur finden, eine Leistung, deren Größe uns bewuß·t wird, wenn wir bedenken, daß sie, mit geringen Änderungen durch Julius Caesar und Papst Gregor XIII., die Jahrtausende hindurch bis heute fortbestanden hat. Wir wissen nicht, wie sich das ägyptische Staatswesen damals aufbaute und sozial gliederte, der Ruhmestitel des ägyptischen Geistes besteht unabhängig davon und dieser erscheint um so größer, je gewaltigere Machtschöpfungen seine Tat überdauert hat. Im schroffen Gegensatz zu dieser orientalischen Welt, in der der Staat - und das heißt in ihr der Despot, alles, der einzelne nichts oder nur das war, was er dem Despoten galt, steht die Welt der Griechen. Schon ihre Götter- und Heroenwelt wie ihr Heldenmythus war erfüllt von einer Vielheit von Individualitäten. Seit dem Beginn des hellenischen Mittelalters (8. Jahrhundert v. Chr.) ist in den stadtstaatlichen Gemeinschaften dieses Volkes die Wertung des einzelnen und seiner Leistung deutlich. als ein Grundzug in den Formen ihres gesellschaftlichen Lebens zu erkennen. Was dann, zuerst wohl von Solon, in der Richtung an Bemühungen aufkam, um Recht und Existenz des einzelnen im Interesse des Wohles der Gesamtheit wahrzunehmen, ist nicht immer konsequent fortgesetzt worden und meist allzu rasch in eine doktrinäre politisch demokratische Symptombehandlung übergegangen. Wo die Regierung aristokratisch blieb, wie in Sparta, da war es eine für ein kriegsfrohes VoLk zu exklusive soziale und Rassenauffassung, was trotz so mancher Erfolge den Staat vor dem Untergang von der sozialen Seite her nicht bewahren konnte. Die Gesellschaft des alten Hellas war dreigliedrig gespalten: einmal die Geldoligarchie oder Plutokratie, zweitens der Pauperismus, das verarmte Bürgertum, und drittens das Sklaventum. Dieser dreigliedrige Ring mit seinem Doppelgegensatz war es, was, abgesehen von den Tyrannis-Episoden, das ganze Griechenvolk der Stadtstaaten und Apoikien in seinem Schicksalsablauf unentrinnbar festgehalten hat und was in diesem Ablauf zum Untergang der Staates führen muße. Die eines echten sozialen Empfindens entbehrenden politischen Kämpfe liefen ja auch nur auf ein heil- und hoffnungsloses Ote-toi, que je m'y mette hinaus, das den dreigliedrigen Ring nicht sprengen konnte. Die tiefer gehende ehrliche sozialrevolutionäre Reform der letzten Spartakönige Agis III. und Kleomenes kara zu spät und scheiterte zudem- wie paradox das auch klingt- an der Kapitalschwäche des antikapitalistischen königlichen Reformators. Aus dem

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sozialen Chaos entsprang die Verzweiflung an der politischen Selbständigkeit der Nation. Auch das römische Staatswesen war mit der Erweiterung der politischen Macht und der Entstehung der großen Vermögen der aristokratischen Patrizier lange durch die Klassengegensätze bedroht. Da war es aber die wunderbare staatspolitische Einrichtung des Volkstribunates, durch das immer wieder die große Gefahr der Landflucht, diese Quelle der Proletarisierung des Volkes, gebannt wurde. So ist es seit dem störrischen Konsul Flaminius im 3. Jahrhundert v. Chr. bis zu des großen Caesars Zeiten immer wieder gelungen, ·durch groß angelegte Siedlungspolitik die Kraft des Bauerntums als Wurzel der Militärmacht zu sichern. Aber es war auch nicht gleichgültig, daß an diesen sich erneuernden sozialen Reformaktionen nicht nur plebejische Elemente, sondern auch Männer der großen Familien der vornehmsten Aristokratie, wie u. a. die der Seipionenfamilie angehörenden Gracchen, beteiligt waren und die sozialen Ideen mitgetragen haben. Andererseits ist aber die mit den gewaltigen außenpolitischen militärischen Erfolgen verbundene Militarisierung der brutalen römischen Macht entscheidend geworden dafür, daß die sozialen Probleme vernachlässigt, ja verachtet und noch mehr die ihnen entsprechenden Bewegungen immer wieder leicht, zumeist sogar im Keime erstickt werden konnten. Nicht politische Einsicht, sondern religiöses Empfinden ist für die Folgezeit dann der Nährboden sozialer Ideen geworden. Die ideologische Beschäftigung mit sozialen Gegensätzen geht freilich zurück bis auf Plato. Es ist reizvoll, frstzustellen, daß er es war, der an eine Gesundung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Verbindung mit einer somatischen Aufzucht gedacht hat. Freilich ist sein Gedanke gegen die Sophistik gerichtet gewesen, diese Philosophie des Rechtes des Stärkeren, das als ein Naturrecht von den Sophisten hingestellt worden ist. Es ist der abgrundtiefe Unterschied zwischen der sophistischen Auffassung einerseits, die gesagt hat: "wir besitzen die Weisheit", und der sokratischen Erziehungsmaxime anderseits, daß die Weisheit unablässig gesucht werden müsse, was, da die Sophistik siegte, eine ehrliche Beschäftigung mit den Gesellschaftsschicksalen gar nicht aufkommen ließ1. Es ist nun nicht zu vergessen, die Ichsucht hat schon zu Platons Zeiten eine solche Rolle zu spielen begonnen, daß nicht nur der Philosoph sie geißelte, sondern daß auch der Künstler, der Dichter, namentlich Aristophanes, sich mit diesen Problemen beschäftigt hat. Es ist aber gewiß, daß das damalige Griechenland für diese Aufgaben noch nicht reif gewesen ist, durch irgendwelche Maßnahmen diese Ichsucht wirksam zu bekämpfen.

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Da kommt Christus. Und von den Anfängen des Christentums ab wird seine Verurteilung der Ichsucht auf die Entwicklung sozialer Ideen und Bewegungen bis tief ins Mittelalter hinein wirksam. Wohl sind auch gegen die Kirche Vorwürfe wegen materialistischer Ausartung gemacht worden. Diese antimaterialistischen und sozialen Bewegungen beginnen mit den Fatarenern im 11., häufen sich im 12. und 13. Jahrhundert, Petrus Abälard, Arnold von Brescia, Fra Dolcino sind die Namen der bedeutendsten Kleriker, die den Protest gegen die vom Reichtum der Kirche geförderte soziale Schichtung bis zu den bewaffneten Erhebungen der Apostelbrüder, der Albigenser und Waldenser, steigerten. Und die großen Bauernbewegungen, die Jacquerie in Frankreich Mitte des 14. Jahrhunderts, die Lollardenbewegung des tollen Priesters von Kent in England um 1380, die Kämpfe der hussitischen Taboriten, die in den böhmischen Ländern in offenen Kommunismus übergingen, ja auch noch die deutschen Bauernerhebungen vom 15. bis weit ins 16. Jahrhundert hinein und der Wiedertäuferische Kommunismus des Jan von Leyden: sie alle sind getragen von der Hoffnung auf die wahre Freiheit des Christen durch Überwindung von Reichtum und Gewalt mit einer neuen, der Heiligen Schrift besser entsprechenden Ordnung. Von der Hoffnung auf das christliche Ethos sind auch die utopischen sozialistischen Heilslehren des 16. Jahrhunderts erfüllt, die Staatsromane von Thomas Morus und Campanetla. Und endlich erinnere ich an meine Ausführungen über die Levellerbewegung, die kommunistische Unterströmung in Cromwells Heer, gegen die er schwer zu kämpfen hatte. Sie ist, wie freilich die ganze Revolution Cromwetls, zutiefst religiös verwurzelt gewesen. Erst in der großen französischen Revolution kam eine neue Grundlage für soziale Ideen und Bewegungen auf. Diese Revolution war selbst zwar ursprünglich nur eine politische Bewegung: der schon zu Besitz und Geltung gelangte dritte Stand, der tiers etat zog die politischen Konsequenzen seiner wirtschaftlich gehobenen Sellung. Die neue Grundlage liefert die Aufklärung, der R a t i o n a 1 i s m u s. Rousseau hat, an Gedankengänge der griechischen Sophistik anknüpfend, den Menschen als von Natur aus gut erklärt, nur die Kultur, Religion und Bildung hätten ihn so verdorben, daß alle Miß'stände der Gesellschaft aufkommen konnten. Und so hat auch Robespierre, dieser ideenlose Nachbeter Rousseaus, vielleicht wirklich uneigennützig und nur fanatisch der Idee hingegeben, dieser höchst mittelmäßige Kopf, der, wie Michelet sagt, wunderbarerweise, wie es nicht einmal in 1001-Nacht vorkommt, in einem Augenblick höher gestiegen ist als auf den Thron, da er sich am Fest des Höchsten Wesens auf den Altar heben ließ: auch der Calvinist Robespierre hat nur als

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doktrinärer Rationalist die Staatsgewalt dem Pöbel geglaubt erringen zu müssen, damit die Rückkehr des Menschen zur Natur und zur Sittenreinheit, zur Tugendgesellschaft möglich werde. Was in dieser Revolution an sozialen Gedanken und Schritten zur Geltung kam, die Maxime Jos. Fouches, daß jedem Bürger alles Überflüssige wegzunehmen sei, weil das Überflüssige eine Verletzung des Volksinteresses sei (1793), dann insbesondere die Postulate in den unsauberen Ideen des auch als Mensch und Persönlichkeit unsauberen Marat von der Gleichheit des Genießens, endlich das Programm Babeufs in dem ersten großen kommunistischen Manifest, das im Jahre 1795 im Gefängnis von Paris entstanden ist; diese Bewegungen und sozialen Ideen hatten einen neuen geistigen, einen rationalistischen Ursprung in der Idee von dem absoluten Naturrecht, dem Recht, das mit uns geboren, wie Mephisto sagt, dem Recht mit dem gefälschten Dogma von der Gleichheit aller Menschen aus Rousseaus Geisteswelt. Hier ist von da ab die geistige Wurzel fast aller sozialen Bewegungen, die nun kommen, und das religiöse Fundament ist verdrängt durch die Vernunft, bis im 20. Jahrhundert erst das religiöse Moment als Grundlage sozialistischer Ideologie im religiösen Sozialismus wiederkehrt. Entscheidend wurde die Verwerfung der Kultur durch Rousseau, denn nun wird das Privateigentum, dieses böse Produkt der Kultur, als die Quelle allen Übels aufge:faßt. Und nun kommen der Reihe nach die v o I u n t a r ist i s c h e n Sozialismen, d. h. jene Variationen des Sozialismus, die in großer Mannigfaltigkeit die Überwindung des Privateigentums einfach als eine Sache des Willens auffassen. Das Kommen des Sozialismus ist ihnen nur eine Sache des Willens. Ich möchte hier nur einige Namen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erinnerung bringen: Saint Simon und seine Schule, Bazard, Enfantin, Fourier und Considerant, Cabet, Buchez, Louis Blanc aus der Reihe der stärker ideologisch eingestellten Franzosen, Robert Owen, Hodgskin, Gray von den praktischen Engländern: sie alle sind Voluntaristen mit dem mehr oder minder utopischen Glauben, daß die Menschen mit einer sozialistischen Ordnung auch besser, sozialer werden müssen. Neben dem Voluntarismus aber kommt nun auf einmal, wohl weil er zu schwach erscheint und die von ihm ausgehenden Experimente wie die Owens, Cabets u. a. erfolglos bleiben, der w iss e n s c h a f t l i c h e S o z i a l i s m u s auf. Was ist er? Ist er von der Wissenschaft geschaffen worden? Nein! Er ist nur von jenen, die ihn geschaffen haben, so bezeichnet worden. Das Wissenschaftliche soll darin liegen, daß aus der Erkenntnis der dem Kapitalismus immanenten Energien mit Notwendigkeit das Aufkommen des Sozialismus vorausgesagt

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'uel'den kann. Also aus der Geschkhte und dem Ablauf der Menscbileitsentwicklung wird das vom Wollen unabhängige, unaufhaltsame Kommen des Sozialismus abgeleitet. Es ist dies jener Sozialismus, den man als d e t e r m in i s t i s c h e n , d. h. vorausbestimmten Sozialismus zu bezeichnen pflegt, und der seine schärfste Formulierung und Argumentierung durch K. Marx erfahren hat. Ist nun etwa von der nationalökonomischen Wissenschaft hierzu bejahend Stellung genommen worden? Nein! Ganz im Gegenteil. Die schärfsten Gegner sind in den Kreisen der deutschen nationalökonomischen Gelehrten aufgekommen. Von keiner Seite ist der Marxismus so scharf bekämpft worden wie von deutschen Professoren der Nationalökonomie und so ist es begreiflich genug, daß wiederum in den Kreisen des Marxismus die schroffste, ja verachtende Gegnerschaft gegen das deutsche Professorenturn lebendig war und ist. Haben nun aber danach nicht jene recht, die die Frage aufwerfen, warum denn nicht angesichts dieses Ideengewirrs im 19. Jahrhundert die Wissenschaft eben dieses Jahrhunderts eine sozialistische Gesellschaftsplanung entworfen oder wenigstens aus dem Drängen der Verhältnisse heraus eine Lösung der sozialen Frage gesucht und auch gefunden hat? Damit bin ich nun an dem Punkte angekommen, wo ich die Rückschau abschließe, um von der von mir zum Inhalt eines Arbeitslebens 1gewählten Wissenschaft einige mir am Herzen liegende, ja, auf die Seele brennende Worte zu sagen. Morgen sind es 43 Jahre, daß ich am 25. Februar 1895 als k. k. Finanzprokuratorconcipient bei der steiermärkischen Finanzprokuratur (dem fiskalischen Anwalt des Staates) eingetreten bin und dem Prokurator den Eid geleistet habe. Es liegt nahe, daß man über den Weg von diesem Eide, abgelegt vor einem Kruzifix zwischen zwei brennenden Kerzen, einem Eide für den alten Kaiser des alten Österreich, bis auf den heutigen Tag manche Betrachtungen anstellen könnte. Es war der erste Amtseid, dem so viele andere folgen sollten und es läge nahe, vor allem menschliches Wollen und persönliches Erleben in den Vordergrund der Betrachtung zu rücken. Aber diese Stätte, an der ich spreche, und der heutige Abschluß gelten der Wissenschaft. An der Arbeit einer Generation im Dienste der Wissenschaft hat man voll und ganz teilgenommen, und damit, ohne überheblich zu sein, im Dienste des ganzen Volkes der Menschheit gedient. Es ist einmal so, ·daß ein Volk, wenn es noch in den Reihen der Führenden der Menschheit steht, das Gute und Wertvolle, das es leistet, eben doch auch für ·die Menschheit leistet, das gilt besonders von seiner Wissenschaft, gleichviel, ob der einzelne mehr oder weniger Anteil daran hat.

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Es lohnt die Frage, was hat diese Wissenschaft innerhalb dieser Generation für eine Entwicklung genommen? Was war das Schicksal dieser Wissenschaft, dieser Herrin, der man seine Arbeitskraft geweiht hat? Datiert man die Geburt der Nationalökonomie nach der großen wissenschaftlichen Tat Adam Smiths zurück auf 1776, so sind bis heute etwa einundeinhalb Jahrhunderte verflossen, und die vier Jahrzehnte stellen ein gutes Viertel der Lebensdauer dieser Wissenschaft dar, Es ist wohl anzunehmen, da.ß das, was da geleistet worden ist, ein gutes Stück des heutigen Inhaltes dieser Wissenschaft sein dürfte. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen einen solchen Nachweis im einzelnen zu unternehmen gedenke, weder für die Wissenschaft als Ganzes noch für die deutsche Wissenschaft, obgleich genügend Veranlassung dazu gegeben wäre. Denn wenn man als Nationalökonom heute auf diese Zeit von mehr als vier Jahrzehnten zurückschaut, könnte man schaudern über den Absturz in der Geltung, den diese Wissenschaft erfahren hat. Nichts liegt mir ferner, als eine Wertskala der Wissenschaften aufzustellen. Aber man darf wohl sagen, daß die Nationalökonomie zu Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland besonders an Geltung gewonnen hatte, so sehr, daß man in Preußen glaubte, daran gehen zu müssen, den Wirtschaftswissenschaften einen größeren Raum innerhalb der juristischen Studien- und Prüfungsor-dnung einzuräumen. Die nationalökonomischen Vorlesungen waren überaus stark besucht und es gab Leute, die sagten, die Nationalökonomie habe als Allgemein-Bildungsfach teilweise mit an die Stelle der Philosophie zu treten, und sie hat in Süddeutschland tatsächlich einen größeren Spielraum innerhalb der Studien- und Prüfungsordnung eingenommen. Außer in Bayern waren Nationalökonomen als solche sogar Mitglieder der Akademien der Wissenschaften geworden und Nationalökonomen waren in die Erste Kammer der gesetzgebenden Körperschaften verschiedener Staaten berufen worden. Da kam der Krieg und mit seinem bösen Ende eine Peripetie in diesem Urteil über die Wissenschaft in weiteren Kreisen. Es kam das geringschätzende Scherzwort auf, daß man die Nationalökonomen die Nationalkomiker nannte. Was war geschehen? Der furchtbare Zusammenbruch der Wirtschaft, der sich nicht nur in den Volkswirtschaften der besiegten Länder, nicht nur in den am Kriege beteiligten Staaten, sondern auch in den neutral gebliebenen vollzog, wurde der Unfähigkeit der Wissenschaft zu Lasten geschrieben. Arme Wissenschaft, die das nicht zu verhindern, nicht abzuwenden vermocht hat, da sie doch die Erforschung der Ursachen und Grundlagen des Volkswohlstandes als ihr Arbeitsziel von Anbeginn an hingestellt hatte! Wie konnte diese Volkswirtschaft es zu dem ungeheuerlichen Elend der Volksvermögen vernich-

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tenden Inflation kommen lassen? zu alldem Entbehren, Einschränken, Hungern und Darben?! Die Antwort ist für den Nationalökonomen selbst leicht auf eine einfache Formel zu bringen. Ich glaube wenigstens nicht, daß mir ein Fachkollege die Zustimmung verweigern wird, wenn ich die Antwort gebe: weil die Politik den f>rimat vor der Wirtschaft innehatte! Geht denn aber nicht geradezu die Lösung bei allen Überlegungen über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik darauf hinaus, da ß der Politik der Primat vor der Wirtschaft gebühre? Und ist nicht 1gerade deshalb der Umstand, daß die Nationalökonomie als theoretische Wissenschaft unpolitisch erscheint, dasjenige, was man den Vertretern dieser Wissenschaft am stärksten zum Vorwurf zu machen hat? Ist nicht die ganze nationalökonomische Wissenschaft mit dem ganzen 19. Jahrhundert in den Orkus zu verdammen, wenn sie fast restlos - mit Ausnahme von ein paar "historischen Männleins" - liberalistisch jeden Staatseingriff grundsätzlich abgelehnt habe, mit der Begründung, daß der Staat die Wirtschaft ja doch immer verpatzt habe? Ich habe mich vergeblich bemüht, unter den deutschen Nationalökonomen einen Namen zu finden, von dessen Träger man sagen dürfte, er sei absoluter Liberalist gewesen. Von den Österreichischen Kollegen kommt vielleicht Mises in Frage, aber gewiß nicht Menger, v. Wieser, Philippovich, Böhm-Bawerk. Und eine persönliche Erinnerung gibt mir das Recht für Böhm-Bawerk, von dem man eine liberalistische Wirtschaftsauffassung nach seiner theoretischen Avbeit am ehesten vermuten ·möchte, ein weitgehendes Bejahen von Staatseingriffen zu behaupten. Als ich als junger Privatdozent meinen Antrittsbesuch bei ihm machte, war er Finanzminister und mit Arbeit überhäuft. Dennoch unterhielt er sich über eine halbe Stunde mit mir über mein Buch vom Minimallohn und ließ keinen Zweifel darüber, daß er eine staatliche Minimallohngesetzgebung für verschiedene Lohnbereiche für geboten halte. Aber ich möchte mir die Sache nicht so leicht machen. Ich erkenne drei Hauptanklagen gegen die Nationalökonomen: 1. Die Nationalökonomie lehnt die staatliche Einflußnahme auf die Wirtschaft ab.

2. Die Nationalökonomie ist welt- und wirklichkeitsfremd, spekulativ, nüchtern und kalt. 3. Die Nationalökonomen sind in sich uneins, aber darin einig, nicht auf die Interessen des Staates, nicht auf die Ideen des Volkes, sondern auf materialistische Einzelinteressen, auf Produktion von möglichst viel Gutern und dergleichen sich eingestellt. zu haben.

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I. Ist es wahr, daß die Nationalökonomie die staatliche Einflußnahme auf die Wirtschaft abgelehnt hat? Wie schwer es ist, Forscher und auch Politiker, wenn sie zu praktischen Problemen Stellung nelunen, verläßQich zu kategorisieren, ob sie Fre1händler sind oder für den Staatseingriff sich einzusetzen bemüht sind, das sei nur mit einem Hinweis auf Friedrich List angedeutet. List, der doch wohl über jeder Kritik hinsichtlich seiner nationalen Wirtschaftsgesinnung steht, hat bekanntlich die Einführung von Agrarzöllen abgelehnt rund wörtlich erklärt: "Die innere Agrikultur durch Schutzzölle heben zu wollen, ist ein törichtes Beginnen." Wie mag wohl Ruhland über dieses List-Wort geurteilt haben? Und wäre List zu verurteilen, wenn er angesichts der heutigen Weltmarktlage dieses scharfe Urteil nicht aufrechterhalten haben würde? Es liegt mir nun fern, mit den Vertretern der historischen Nationalökonomie den Nachweis liefern zu wollen, daß die Nationalökonomen für den Staat eingetreten sind. Es wäre ·eine leichte Sache, da sie grundsätzlich eine die Staatsintervention bejahende Stellung einnelunen. Was aber die Nichthistoriker unter den Nationalökonomen anlangt, ist es geradezu komisch, daß ihnen Mangel an Interesse für das staatliche Eingreifen vorgeworfen wird, wenn man an Männer wie Schäffle, Lorenz von Stein, Adolf Wagner u. ä. denkt, namentlich Wagner, diesen ritterlichen, ja vorbildlich ritterlichen Gelehrten, der bei aller strengen Wissenschaftlichkeit sich niemals gescheut hat, ja trotz seiner .ausgesprochen konservativen Einstellung, niemals gezaudert hat, als Mensch und Staatsbürger für die Forderungen der LinksGewerkschaften sich einzusetzen, wenn er diese Forderungen als im Interesse des Allgemeinwohles liegend erkannt hat. Wie intensiv haben sich diese Männer unter Einsatz ihres ungeheuren Wissens für das Eingreifen des Staates eingesetzt! Auch Max Weber hat einerseits das Attribut der Wissenschaftlichkeit für Forschung und Theorie nur gelten lassen mit Ausschaltung der persönlichen politischen Einstellung des Gelehrten, würde aber .anderseits mit Entrüstung die Zumutung zurückgewiesen haben, als Mensch - und zwar auch seinen Schülern gegenüber - sein Urteil in einer praktisch-politischen Sache verhehlen zu sollen. Und so wohl die meisten anderen deutschen Nationalökonomen. Als Menschen und Staatsbürger waren sie selbstverständlich homines politici. Angesichts der nicht kleinen Zahl wirtschaftspolitischer Systeme rund der ungeheuren Flut von Spezialliteratur wirtschaftspolitischen Charakters ist diese erste Anklage nur mit Unkenntnis von Büchern und ihrem Inhalt zu erklären. Das gilt besonders, wenn wir an die Leistungen des Vereins für Sozialpolitik denken. Dieses führt aber schon auf die.

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li. Anklage hin: ist es richtig, daß die Nationalökonomen eine so weit- und wirklichkeitsfremde Gesellschaft gewesen sind? Ist, was sie geforscht und gearbeitet haben, wirklich nichts als dürrste, rationale Spekulation gewesen, nüchtern und kalt? Es ist etwa vor Jahresfrist gewesen, als ein Rest von Getreuen des alten Vereins für Sozialpolitik in Berlin in einer letzten Generalversammlung zusammengetreten ist und auf meinen Antrag mit der Auflösung des Vereins die Übergabe des Vereinsvermögens an die Deutsche Akademie beschlossen hat. Versclliedene eifrige Bemühungen haben dieses bescheidene Vereinsvermögen umworben. Aber die Kreise, die es erwerben wollten, haben sich nicht gesch·eut, all die geistige Arbeit wirtschaftspolitischen Inhalts, die dieser Verein seit seiner Gründung in Eisenach 1872 unter Führung deutscher Professoren angeregt und entwickelt hat, zu verleugnen. Denn nur, wenn man den Inhalt der 187 Bände der Schriften dieses Vereins verleugnet oder nicht kennt, was allerdings wahrscheinlicher, aber für junge Nationalökonomen, wenn sie ein Urteil über den Verein und die Professoren fällen, noch schlimmer ist, nur dann kann man die ebenso unhaltbare wie kühne Behauptung aufstellen, die deutschen Professoren der Nationalökonomie hätten sich um die aktuellen Wirtschafts- und Sozialprobleme des deutschen Volkes ihrer Zeit nicht gekümmert und seien weltfremd den Wirtschaftsbedürfnissen ihres Volkes und Staates gegenüber gestanden. Das Verzeichnis der vom Verein für Sozialpolitik im Laufe von 60 Jahren herausgegebenen Schriften füllt 18 Druckseiten. Diese gewaltige Fülle von wirtschaftspolitischer Arbeit ist fast ausschließlich von deutschen Professoren mit ihren Schülern und von ihnen herbeigezogenen Praktikern des Wirtschaftslebens vor allem zur Orientierung von Reichs- und Staatsregierungen, also als wissenschaftliche Grundlage für aktuelle Fragen der praktischen Politik, für Entscheidungen über Zweckmäßigkeit und RiChtung des Eingreifens des Staates, gegebenenfalls allerdings auch als Warnung gegen solches geschaffen worden. Aber die Kritiker an der deutschen Nationalökonomie haben freilich mit Recht auch auf wissenschaftliche Arbeiten hinweisen können, die mit mehr oder weniger, zum größten Teil aber wirklicll mit außerordentlichem Scharfsinn, streng theoretisch unter weitgehender Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Wirtschaftlichkeit das Wirtschaftsleben analysiert haben, Schriften, von denen man allerdings sagen kann, sie sind für den Laien wirklich nicht verständlich. Wie steht es mit dem Werte dieser Arbeiten, dieser ganzen Arbeitsrichtung? Meine werten Hörer und Hörerinnen! Es ist fast eine Katastrophe, wenn einer Wissenschaft, die ihrer Natur nach offenbar bestimmt ist

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dem wirklichen Leben zu dienen, dem Urteil begegnet, daß sie weltfremd genannt wird. Und das ist das Schicksal der Nationalökonomie nun tatsächlich! Dieses harte Urteil findet seine Erklärung darin, daß die Welt von einer Wissenschaft, die so unmittelbar mit dem Lebensnerv der menschlichen Gesellschaft zusammenhängt, mindestens vor allem eine Beschäftigung mit den aktuellsten Dingen des Alltags und eine Stellungnahme zu jenen Fragen erwartet und fordert, die jeweils die Interessen der Menschen, sei es als Staatsbürger, sei es als einzelne, als Individuen beherrschen. Das ist ganz berechtigt. Aber daß diese Stellungnahme, wenn sie wissenschaftlich sein soll, vorbereitet sein muß durch eine Fülle streng wissenschaftlicher Forschung, deren Zusammenhang mit dem Alltag der Außenstehende nicht durchschaut, daß mit dieser wissenschaftlichen Arbeit. die oft sehr abstrakt und oft sehr wirklichkeitsahgewandt erscheinen muß, etwas geleistet werden muß, was fundamentale Bedeutung fü;r die praktische Arbeit hat, das will man unserer Wissenschaft nicht einräumen, obgleich diese Mannigfaltigkeit der Arbeit, theoretische und praktische Disziplinen, in anderen Wissenschaftsbereichen. genau so besteht und als selbstverständlich hingenommen wird. Es gilt eben einsehen zu lernen, daß die Nationalökonomie ebensowenig als eine Einzelwissenschaft angesehen werden darf wie z. B. die Medizin. Es zeigen sich im Leben, soweit es um die Daseinssicherung, Bedürfnisbefriedigung und Bedarfsdeckung geht, so viele Schwächen und Mängel in dem Zusammenwirken der &nzelnen, Benachteiligungen der einen zugunsten der anderen, Übervorteilungen der einen Schicht durch eine andere, Ausbeutung des Schwächeren durch den Listigen und dadurch Stärkeren, Daseinsschwierigkeiten einerseits, Überfülle andererseits, daß man wohl von einer Fülle von pathologischen Zügen, einer Fülle von Erscheinungen sprechen kann, die als Krankheitssymptome gelten müssen. So glaubt man und dazu hat man auch allen Grund: die Wirtschaftswissenschaft muß heilen, muß, wie der Arzt Weisungen geben, wie man sich zu verhalten hat gegenüber den Krankheitszuständen und -ursachen, gegenüber den Krankheitserregern. Es ist nun dazu festzustellen, daß' die Wirtschaftswissenschaft, von der man die Funktion des Arztes erwartet, es nicht bloß mit einem Individuum und seinen Leiden zu tun hat, das man ins Bett, ins Krankenhaus und unter sorgsame Pflegschaft stecken kann, sondern mit dem großen Ganzen der Wirtschaft, mit einem ungeheueren Zusamme.nwirken von Millionen Einzelwirtschaften, das wir Volkswirtschaft nennen. Und damit taucht die Frage auf, an welches vernünftige Subjekt hat sich der Wirtschaftsarzt, der prakische Nationalökonom, zu wenden, wenn er seine Therapie empfiehlt. Wen soll, wen kann er

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dafür verantwortlich machen, daß seine Anweisungen auch durchgeführt werden? Wer ist der Träger des verantwortlichen Wollens, wer hat das Verantwortungsbewußtsein für die Durchführung solcher Weisungen, wie sie die Wissenschaft geben soll? Hier liegt nun nicht nur ein einfaches menschliches Problem, sondern ein politisches Problem mit verknüpft vor. Wenn den Nationalökonomen der Vorwurf gemacht wird: Was ist es mit euerer Weisheit, wenn trotz derselben die ganze Welt in ein solches Chaos von Krisen gleiten, ja stürzen konnte?: so ist der Nationalökonom berechtigt, mit der Frage zu antworten: Was ist es mit der Beachtung dessen, was wir über eine gesunde Wirtschaftsführung, über ein sozusagen hygienisches Volkswirtschaftslehen gesagt haben? Was ist es mit dem Subjekt, das alle Entscheidungen fällt? Wo ist die Instanz gewesen, die, was wir geraten haben, auch zu hören und zu beachten und durchzuführen bereit gewesen wäre? Nicht nur die eigene, auch fremde, die feindlichen Staatsgewalten hätten ,die Geneigtheit haben müssen, zu lernen, Lehren von uns anzunehmen und darnach zu handeln. Es sind immer schon Ausnahmen gewesen, in denen die Staatsverwaltung und die Staatsgewalt sich um Vorschläge von Nationalökonomen bemüht haben. Wie oft freilich fehlte es in dem politischen Kräftespiel der Staatsleitung auch an der Macht, sie durchzuführen? Und es ist mit ein Stück Schicksal unserer Wissenschaft, daß jeder Laie und natürlich schon gar jeder Parteimann in ihr zu Hause zu sein glaubt, so daß volkswirtschaftliche Fragen primär Parteifragen werden konnten. Immer schon stand Politik als Macht auf der einen, wissenschaftliche Erkenntnis ohne Macht auf der anderen Seite. Ein zweites aber, was der Nationalökonom zu antworten hätte, betrifft das Verkennen seiner Wissenschaft. Dies liegt daran, daß man von jedem Nationalökonomen die Rolle des Klinikers oder auch nur des praktischen Arztes erwartet, und insbesondere in der Wertung seiner theoretischen Arbeit völlig außer acht läßt, daß doch auch im Bereiche der Medizin ungeheure Arbeitsaufgaben erkannt, verfolgt und geleistet werden müssen, die runmittelbar mit dem Heilen von Kranken und einzelner Krankheiten noch gar nichts zu tun haben: Anatomen, die die Struktur des Körpers ergründen, Physiologen, die die Funktionen der einzelnen Organe, den Kreislauf erforschen, Histologie und Hygiene, die gewissermaßen als Betriebswirtschaftswissenschaften das Leben und die Funktionen der einzelnen Zellen des Organismus und die Voraussetzungen ihres gesunden Lebens, eines richtigen Kräftehaushaltes zum Gegenstand haben. Auch in der Wirtschaftsmedizin wie in der Humanmedizin benötigen wir grundlegende Disziplinen, die uns den Organismus kennen lehren. Lassen Sie mich es auf eine kurze Formel bringen: Wenn man die Lehre vom Wert 28 von zwtedineck-Südenhorst, I

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und Preis mit ihren Vertiefungen in was immer für einer Richtung, sei es Arbeitswert-, sei es Grenzwert-, sei es Kostentheorie, als weltfremd und als wissenschaftliche Verirrung verdammt, so ist dieses a limine-Urtei.l ebenso oberflächlich und fehl, wie es die These wäre: der Mediziner brauche keine Physiologie, weil sie nicht unmittelbar therapeutische Ziele verfolgt. Wie :steht es nun mit der Nüchternheit, Trockenheit und Kälte jener theoretischen Arbeiter, die sich in jahrelanger Arbei mühten, die Entstehung der Preise, die Kapitalbildung, die Problematik der Zinshöhe, überhaupt die Zinserscheinung zu durchdringen und zu durchleuchten? Sind sie wirklich gefühlsfremde Trockenpeter, ohne Sinn für das pulsierende Leben des Alltags? Ich sehe diesen Zusammenhang von einer anderen Seite. Ich sehe diesen nüchternen, trockenen Ernst in der wissenschaftlichen Arbeit anders und stelle die Frage: Was erwartet eigentlich der Staat, was d1e Lenker der Staaten, das Volk von den Wirtschaftswissenschaftlern? Wollen sie von uns unsere p o 1 i t i s c h e Meinung, oder gerade jene Leistung, die i h n e n fern liegt, ja fern liegen muß, weil sie ein viel zu großes Quantum an Kraft und Zeit, weil sie eine ganze Lebensarbeit für sich voraussetzt, nämlich das Nichts-als-Wissenschaftliche? Meines Erachtens geht es beim Gelehrten um die spezifische, seiner Stellung in der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Gliederung des Volkes entsprechende Qualität, das, was er vor den anderen voraus hat, und das ist die Wissenschaft. Es geht um seine Pflicht, dem Gemeinwohl als Wissenschaft 1 er mit allen Fasern zu dienen und es geht dabei um die h a r t e eherne No t w end i g k e i t , alles Gefühlsmäßige, alles Schwanken des leicht bewegten Herzens auszuschalten, Herr darüber zu werden und alle Kräfte, ·die auf das Erkennen gerichtet sind, frei zu halten von einem Wunschleben. Es geht um eine eherne Notwendigkeit, die uns das Gesetz der Logik und Erfahrung auferlegt! Aber wahrhaftig, wir denken nicht b 1 o ß kühl! Denn wenn wir an die politische Auswertung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse, an das Urteilen und Verurteilen und Entscheiden herangehen, dann lassen auch wir breit den Strom des Wollens in unsere Syllogismen eintreten, nur kombinieren wir die idealistischen Wünsche für das Wohl unseres Volkes mit dem Erkennen des Möglichen, das wir aus unserer Forschungsarbeit gewonnen haben und das uns allerdings für unser politisches Wünsch·en mehr oder minder klare Richtlinien und Schranken zieht. Es geht dann heiß genug her im Kampfe der Meinungen und ich kann nicht umhin, hinzuweisen auf eine Reihe von Tagungen des Vereins für Sozialpolitik.

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Aber um u n s er politisches Wünschen und Zweckesetzen geht es dem politischen Führer, wenn er uns in Wirtschaftsdingen fragt, nicht, denn darin, im Politischen, fühlt er sich - "und mit Recht" - uns weit überlegen. Nur mit den von uns erarbeiteten Erkenntniss e n will er vielleicht s e i n e Zielsetzungen und Methoden kontrollieren. Mit welcher Wärme aber und mit welchem selbstverständlichen Mut die Professoren öffentlich auch. für ihre politische Überzeugun,g eingetreten sind, darüber wa11en auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik reichlich Eindrücke zu ·g ewinnen. Ich erinnere nur an die 25jährige Jubiläumstagung in Köln 1897. Hier gab es einen besonders scharfen Zusammenstoß zwischen Adolf Wagner und den Vertretern der Schwerindustrie. Es ging um das Koalitionsrecht der Arbeiter. Schon am zweiten Tage bei dem gemeinschaftlichen Essen protestierte ein Industrieller dagegen, daß Professoren in Arbeiterversammlungen aufträten und Reden hielten, die mißtverstanden werden könnten. Ich sehe noch, wie der alte Adolf Wagner aufgespi'ungen ist und mit dem jugendlichsten Feuer erklärt hat, diese Worte seien gegen seine Bochumer Rede gerichtet, und er denke nicht daran, ein Wort derselben zurückzunehmen, denn die Dinge, die er dort gesagt hätte, könne er als Mensch im Zusammenhang mit seiner wissenschaftlichen Überzeugung immer vertreten. Ich erinnere andererseits daran, daß bei dieser Gelegenheit der Tübinger Friedr. Jul. Neumann, ein Mann von einer Vornehmheit der Gesinnung und einem Adel des sozialen Pftichtbewußtseins, daß er die rechte Hand nicht wissen ließ, wieviel die linke gab, aus seiner wissenschaftlichen Überzeugung heraus in derselben Debatte gewarnt hat vor den Gefahren der Gewerkschaftsbewegung für das Volksganze. Ich erinnere hinwiederum weiter, daß in München im Jahre 1901 wieder auf einer Tagung des Vereins für Sozialpolitik ein deutscher Professor der Nationalökonomie mit einer Wucht ohnegleichen die Erweiterung und Vergrößerung der deutschen Flotte gefo11dert hat, weil das .e ine aUSigesprochene politische Stärkung unserer Wirtschaft bedeute. Der Professor war Schultze-Gävernitz. Es ist erstaunlich kühn, wenn der akademischen VoLkswirtschaftslehre heute der Vorwurf der Lebensfremdheit gemacht und gesagt wird, sie habe sich um die Lebensbedingungen der Wirtschaft, insonderheit der Landwirtschaft und Industrie wenig oder nicht gekümmert. Es kommt da freilich immer noch der Tatbestand zur Geltung, auf den auch damals 1897 in Köln ein hoher Beamter des Reiches, der Staatssekretär Bismarcks, Herr von Rottenburg, hingewiesen hat, als er den Führern der Industrie, die sich über die Parteinahme der Professoren für die Arbeiter beschwerten, durch eine Reihe von Zitaten aus gelehrten Büchern nachwies:

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Von den G·rundlagen der sozialen Bewegungen 1. wie sehr sie ihre Anklagen ohne Fundament in die Luft hinein

aufbauten, und

2. daß nicht die Professoren die Tatsachen nicht kennten, sondern daß es auf der Gegenseite an positiven Kenntnissen fehle, und er empfahl den Unternehmern: Lesen Sie mehr Professorenbücher! ein Appell, der auch seither seine Berechtigung nicht verloren hat. III. Ich komme zum letzten: Untereinander uneins, ständen die Professoren alle in Zwist gegeneinander und seien einig höchstens in der materialistischen Einstellung ihrer Lehren: Immer handle es sich ihnen nur um Vermehrung der Güter und nicht um die Lebensinteressen von Volk und Staat. Ich will die Uneinigkeit, das Professorengezänk nicht beschönigen. Aber es gibt doch zu denken, daß gerade die jungen Nationalökonomen, die diesen Vorwurf erheben, so fanatisch eine neue Straße für die wissenschaftliche Erkenntnis anstreben, daß sie an allem Vorausgegangenen, Vorausgeleisteten nicht einen Strich gelten lassen wollen. Mag solches auch in anderen Wissenschaften vorkommen! So schroff wie in der Nationalökonomie ist das Verdammen meines Wissens nirgends vovgekommen. Und da halte ich es für unser Recht, zu erklären: Wir deutschen Nationalökonomen wissen nur zu gut, was Deutschland im Laufe der letzten Jahrhunderte durch inneren Streit und Zwist verloren hat und was die Folgen der ewigen inneren Zerrüttung sind. Und wenn einer seine besondere Meinung verficht, so kann in der Regel wohl das entsprechende Verantwortungsbewußtsein dafür vorausgesetzt werden, wie jeder mit seiner besonderen Meinung der Wissenschaft und damit der Volksgemeinschaft dienen darf. Aber wenn auch Abweichungen und Gegensätze bestehen, so ist doch heute schon nach einem nur einundeinhalb Jahrhunderte währenden Wirken der Strom überwiegender communis opinio, also von Lehren, die allgemeine Anerkennung finden, ungleich größer als die Zahl der Probleme, über die Streit geht. Unter meinen Geburtstagsbriefen habe ich heute das Wort eines mir sehr werten Kollegen gefunden: "Was uns in diesen 17 J·ahren der Zusammenarbeit einte, ist doch unendlich viel mehr als was uns trennte." Ich gebe es mit tiefem Dank voll zurück, möchte nur ergänzen: und was uns trennte, ist anregend und nutzbringend gewesen. Der Kampf der Geister ist ohne Gegensätze nicht zu denken und der war noch immer fruchtbringend. Oder soll für die Wissenschaft nicht gelten dürfen, daß der Krieg der Vater der Dinge ist? Im Bereich des Geistes, so scheint mir, ist er es mehr als irgendwo. Den Anspruch, als ehrlicher Wahrheitssucher gewertet und behandelt zu werden, muß. jeder das Recht haben, wenn er nur auch

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die D e m u t des Erkennens in sich trägt, daß die späteren Geschechter über ihn und über noch größere hinauswachsen werden. Es darf aber noch etwas anderes nicht unbeachtet bleiben. Wie wenig gerechtfertigt und wie unhaltbar es ist, die wissenschaftliche Arbeit als etwas vom schaffenden Menschen Unabhängiges aufzufassen, so, als ob das Ergebnis in der Bearbeitung desselben Gegenstandes durch verschiedene Köpfe unbedingt dasselbe sein müßte, wie wenig eine solche Annahme haltbar ist, ergibt sich schon daraus, daß die Auswahl der Gesichtspunkte, unter denen ein Thema gesehen werden kann, immer von der Persönlichkeit, die den Stoff anpackt, mit abhängt. Wieviel kommt weiter gerade in unserer Wissenschaft, ganz abgesehen vom eigenen Temperament des Forsch·ers, doch auf das Ausmaß an, in dem der einzelne Forscher psychologischen Energien der in der Welt der Tatsachen wirkenden Menschen Einfluß zuschreibt. Zielt die Wissenschaft darauf ab, gewisse Gesetzmäßigkeiten im natürlichen wie im gesellschaftlichen Dasein in unserer Umwelt wie in unserer eigensten Welt zu erkennen, so muß das Ergebnis mancher Untersuchung freilich bescheiden erscheinen, wenn wir zugeben müssen, daß es andere Standpunkte ,geben kann. Insbesondere die Erkenntnis aber, daß. im Ablauf des Geschehens, in dem wir Gesetzmäßigkeiten suchen, die Gesetzmäßigkeit darin zutage tritt, daß d:-:~s im engsten Sinne Menschliche, das Individuelle entscheidend wird, daß die Persönlichkeitswerte den Ausschlag geben, wie z. B. in dem Verhältnis zwischen Wirtschaft, Recht und Staatsgewalt, solche Erkenntnis ist, wie ohne weiteres zugegeben werden muß, für die Staatsführung unter Umständen praktisch politisch nicht auswertbar. Sie wird sie daher vernachlässigen, wie wertvoll sie rein wissenschaftlich auch ist, mit der Folge, daß sie von der Wissenschaft Beschäftigung mit anderen Problemen fordert und die Richtung ihrer Arbeit überhaupt bestimmen zu müssen glaubt. Dazu ist nun aber folgendes zu sagen: Die Beweggründe, die den tätigen Forscher zu seiner Arbeit treiben und ihn in ihr beherrschen, sind nicht zu verwechseln mit den Bewe.ggründen, die den Staat und die Nation veranlassen, dem Forscher seine Arbeit zu ermöglichen. Diese kürzlich von einem großen Denker im Reiche der naturwissenschaftlichen Forschung ausgesprochene Feststellung gilt auch für unsere geisteswissenschaftliche Arbeit. Das, was die außerwissenschaftliche Welt an Erwartungen an die Wissenschaft sozusagen heranträgt, vielleicht, daß sie die Lieferung eines Rezeptes für die Überwindung einer Krise oder die Rettung der Staatsfinanzen aus einem politisch herbeigeführten Wirtschaftschaos erwartet: das kann und darf den wahren Forscher nicht geradezu von seinem Wege und von den von ihm erkannten Aufgaben ablenken. Die wissenschaftliche Forschung

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muß mit innerer Notwendigkeit ihren Weg gehen. Und wenn es Irrwege sind? -Selbst Irrwege der Theorie haben sich immer in irgendeiner Richtung fruchtbar und damit wertvoll erwiesen, wie unser großer Physiker Planck sagt, mindestens weil sie zur Widerlegung herausgefordert haben. Und wenn Sie gerade an das denken, was die Größten im Reiche der Naturwissenschaften geleistet haben, ein Galilei, ein Kepler, ein Newton: es ist geleistet worden, ohne daß diese Herren in der Welt der Forschung auch nur einen Augenblick an die Interessen des Staates gedacht haben! Und so auch in unseren Tagen: Als Röntgen aufmerksam gemacht worden war, daß bei gewissen Experimenten ein Schirm aufleuchte und er sich wochenlang abschloß, um die Ursache dieser Erscheinung zu ergründen: glauben Sie er hat nur einen Augenblick an die Auswertung seiner Arbeit ffir den Staat gedacht? Nein! Nichts als die Wucht des Erkenntnistriebes, der Forscherdrang hat ihn im Bann gehalten und zu seiner großen Entdeckung geführt, aus der die Menschheit heute Nutzen zieht. Und selbst wenn einer Volksgemeinschaft zur Zeit des Wirkens eines Forschers kein Nutzen, ja vielleicht sogar wie im Falle Galilei vermeintlich Gefahr aus diesem Wirken erwächst, was können dann dennoch diese nur von der Liebe zur Wissenschaft und von glühender Begeisterung für das Vorwärtstreiben der Erkenntnis getragenen Leistungen für die Nation selbst bedeuten! Eine Nation ist um so größer in der Geschichte der Menschheit, je mehr sie für die Menschheit als Ganzes beigetrrugen hat. Und so erfüllt mich die Überzeugung und ich empfinde es als Wahrheitspflicht, von dieser Stätte scheidend sie anzusprechen: Das Ringen im Bereiche der Wissenschaft kann und muß zeitweise vom Staat angeregt, ja fallweise sogar weitgehend in bestimmte Richtungen gelenkt und damit gefördert werden. Aber nicht nur das Augenblicksinteresse des Staates oder der Nation kann darüber entscheiden, ob die Arbeit 'gerechtfertigt und die Forschungsergebnisse wervoll sind. Für das Nutzbarwerden der wissenschaftlichen Arbeit genügt es, wenn auch erst spätere Geschlechter den Wert der wissenschaftlichen Arbeit genießen werden und sei es auch nur in der Tatsache des Ruhmes der Geisteskraft früherer Geschlechter. Das ist, dünkt mich, eine weniger materialistische Auffassung als1 jene, die von der Wissenschaft absolut einen Gegenwartsnutzen erwartet. Meine lieben Hörer, Hörerinnen und Schüler! Es war ein preu~ ßischer Prinz, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach den Franzosensiegen bei Magenta und Solferino der Ruhm des französischen Soldaten in aller Welt und der Glaube an die Unbesiegbarkeit der Franzosen auch in Deutschland um sich griff, es war Prinz Fried-

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rich Karl, der die Gefahr, die von diesem Glauben ausging, erkannt hat und daran ging, seine Offiziere von dem hypnotischen Blick auf die französische Taktik zu befreien und auf eine mehr die Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Soldaten auswertende Kampfweise hinzulenken, die getragen ist von der seelischen Maxime, die Prinz Friedrich Karl selbst mit den Worten formulierte: "Ich bin tapfer, weil das Herz nicht anders kann!" Dieser preußische Prinz hat es seinen Offizieren immer wieder g.esagt, eingehämmert und geschrieben: "Ihr werdet nur freie Männer zum Siege führen oder nicht Ihr werdet die Sieger geführt haben!" Diese Wahrheit der Schlachtengeschichte, die von den Freiheitskämpfen der Griechen gegen die Perser herübevgekommen ist, die der Freiherr vom Stein für das Aufraffen des preußischen Staatsvolkes in dem großen Freiheitskriege g.egen den Usurpator aufgegriffen hat, als er zur Bauernbefreiung und zur Selbstverwaltung der deutschen Gemeinden drängte: diese Wahrheit hat sich auch in der zweiten Hälfte des allzu sehr geschmähten 19. Jahrhunderts in den den Deutschen beschiedenen Kämpfen zum Segen der Wiedergewinnung der Einheit unter den deutschen Stämmen erwiesen. Sie, meine lieben Schüler, müssen es aus unserer Gemeinschaftsarbeit wissen, daß ich das Wort Freiheit als b 1 o ß es Prinzip um seiner selbst willen nicht ohne weiteres gelten lasse, sondern es immer und namentlich für alle Bemühungen um die soziale Frage als geboten erachtet habe, die Freiheit als Prob l ·e m zu sehen, als ein immer, auch nach jeder Lösung wieder auftauchendes, also als altes und ewig neues Problem: jenes Ausmaß von Freiheitseinschränkung und Zucht für den Einzelnen und damit jenes Ausmaß· von Aktivität des Staates zu finden, mit denen das höchste Ausmaß von Freiheits g e f ü h l der .größtmöglichen Zahl geschaffen werden kann. Aber es ist nicht nur mein persönlicher Glaube, sondern es ist auch historische Wahrheit, daß ein gewisses mit Selbstverantwortlichkeit gepaartes Freiheitsgefühl immer die Grundlage für große Taten eines Volkes gewesen ist, auch für seine wissenschaftlichen Leistungen. Das aber gilt - und damit lassen Sie mich als ein deutscher Professor, und das heißt als ein Bekenner schließen - das gilt nicht etwa nur für die Naturwissenschaften: auch für die Geisteswissenschaften muß das deutsche Volk jene Freiheit des Forschens und Bekennens festhalten, die von Leibnitz angefangen über Münchhausen und W. v. Humboldt bis zu den gelehrten deutschen Männern der Jahrhundertwende, den Ranke, Mommsen, Harnack, Wilamowitz und so vielen anderen den Ruf des deutschen Geistes in der Welt groß werden ließen. Daran muß das deutsche Volk festhalten.

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Mit diesem Bekenntnis zur Notwendigkeit der Freiheit geistiger Arbeit und mit dem Wunsche, daß' es unserem Volke auch nie an dem Prometheuscharakter innerhalb dieser Welt freier Geister fehlen möge, möchte ich in dem Andenken meiner Schüler, möchte ich in Ihrem Denken und in Ihrem Wirken fortleben.