Mensch Ödipus: Konflikte in Familie und Gesellschaft 9783666491023, 9783525491027

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Mensch Ödipus: Konflikte in Familie und Gesellschaft
 9783666491023, 9783525491027

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Micha Hilgers

¨ dipus Mensch O Konflikte in Familie und Gesellschaft

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber abrufbar. ISBN 978-3-525-49102-7 Umschlagabbildung: Eric Peters, Twice I Was Your Queen, 2006, Studie, lund Wasserfarbe, 115  85 cm (Ausschnitt). ’ 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: l Hubert & Co, Gçttingen Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

Inhalt

Vorwort ________________________________________

7

dipus – verkrzter Mythos einer langen Geschichte ____

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Transgenerationale Konflikte oder die Wurzeln des dipus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laios – ein heimlicher Pdophiler oder die erste Weissagung des Orakels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Exkurs: Laios, der unmnnliche Vater und die Angst vor dem Sohn als Rivalen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 15

Die Ausstoßung – dipus, der Adoptivsohn . . . . . . . . . . . . .

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Die zweite Weissagung des Orakels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Zweiter Exkurs: Adoleszenzkrise, Endlichkeit und die transzendierende Macht der Sexualitt . . . . . . . . . . . . . . .

21

dipus’ unwillentliche Rache an Laios . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

dipus und das Rtsel der Sphinx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

dipus’ Triumph ber den Tod – die Heirat mit Iokaste . .

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Dritter Exkurs: Die Mutter als Partner oder die Wahl eines mtterlichen Partners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Iokastes unbewusster Schuldkomplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Vierter Exkurs: Der Kampf der Generationen . . . . . . . . . . . .

37

dipus, Herrscher ber Theben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Verblendung, ein blinder Seher und die dritte Weissagung des Orakels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43 5

Verblendung, Verfolgungsideen und verbotene Hybris . . . .

48

Hybris oder die Fhigkeit zur Selbstreflexion . . . . . . . . . . . .

52

Die Auflçsung – das Schrecknis in der Retrospektive . . . . .

56

dipus, die Gçtter des Olymp und die Macht des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Schuld, Verantwortung und die Emanzipation von den schicksalhaften Mchten des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . .

65

dipus und Faust – Licht, Dunkelheit und die Suche nach einer Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Aktualitt çdipaler Konflikte und Tragçdien ________

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Generationenabfolge – ein bisschen Ewigkeit und die ewige Prsenz des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Das çdipale Drama – Rollenkonfusion bei Alleinerziehenden und Patchworkfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Transgenerationale Traumata – schicksalhafte Wiederholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

dipus, der ambivalente Forscher – oder gibt es ein Recht auf Nicht-Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Die Sphinx – unheimliche Verkçrperung der Angst vor dem Weiblichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Jenseits des Kastrationskomplexes – traumatisierende Beschneidungen als Herrschaftsinstrument . . . . . . . . . . . . . . 106 Hysterie und çdipale Konflikte – vergessene Stçrungen der Psychotherapie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 »Nach Lachen kommt Weinen« – die Angst vor dem begrenzten Glck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Liebe – der Blick der Seele auf sich und den Anderen . . . . . 121 Nachwort – Kreisbewegungen oder der schwierige Versuch des Perspektivwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Literatur ________________________________________ 129 6

Vorwort

dipus? Was haben wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einem jungen Mann zu schaffen, der unwissentlich seinen Vater erschlgt und seine Mutter ehelicht? Der Jahrtausende alte Mythos in den Zeiten von allein erziehenden Vtern und Mttern, Patchworkfamilien, so genannten Lebensabschnittspartnerschaften, Massenarbeitslosigkeit, Flexibilisierungsforderungen und Migration? Ein sechsjhriges Mdchen wird eingeschult. Seine Eltern sind geschieden, Mutter wie Vater haben neue Partner. Am Tag der Einschulung erscheinen die Mutter mit ihrem neuem Partner und der Vater des Mdchens. Mutter und Partner sitzen nebeneinander in der ersten Reihe, der Vater ganz hinten. Ein modernes dipusdrama: Weil sich die Mutter weigert, neben dem Vater ihrer Tochter zu sitzen und damit zu demonstrieren, dass die beiden zwar kein Liebespaar mehr, aber doch ein Elternpaar geblieben sind, muss der Vater abseits bleiben. Der Vater des Kindes erscheint beseitigt, weil bei Mutter und Partner Unklarheit ber ihre Rollen herrscht. Denn die Einschulung sollte nicht als Demonstration einer Liebesbeziehung dienen, sondern zur Vermittlung von Sicherheit bei einem wichtigen Autonomieschritt des Kindes. Der neue Partner sitzt symbolisch an einer Stelle, die er nicht einnehmen kann, weil er zwar Liebhaber der Mutter, niemals aber Vater des Kindes sein kann. Und das kleine Mdchen ist mit jener inneren Zerrissenheit allein gelassen, die die drei Erwachsenen ihr ußerlich drastisch vor Augen fhren. Der Mythos vom dipus kann als konkretistische Geschichte gelesen werden. Dann erscheint uns die unerhçrte berschreitung der Inzest- und Generationenschranken von dipus und 7

seiner Mutter Iokaste wie der vorangegangene Vatermord an Laios so weit entfernt wie die Tragçdie selbst, deren genauer Ursprung im historischen Dunkel der hellenischen Antike verschwimmt. Und auf Ablehnung stçßt dann auch die berzeugung Sigmund Freuds, der so genannte dipuskomplex sei eine universelle Herausforderung und Essential der Psychoanalyse: »Jedem menschlichen Neuankçmmling ist die Aufgabe gestellt, den dipuskomplex zu bewltigen . . .« (Freud, 1905, S. 127). Jedem zu unterstellen, seine Mutter begehrt und seinen Vater mindestens zum Teufel gewnscht und diese Bestrebungen nolens volens unter dem Druck der Verhltnisse mit dem sechsten Lebensjahr aufgegeben zu haben, weckt unmittelbar Widerspruch. Kein Wunder, dass Freuds Idee von der Universalitt des dipuskomplexes gefundenes Fressen seiner Kritiker wurde, ganz abgesehen davon, dass in seiner ursprnglichen Theorie jeder Neuankçmmling grundstzlich mnnlich zu sein schien. »Alles Vatermçrder« lautete im Kern so manche Entgegnung etablierter Psychoanalytiker auf ihre Kritiker, die somit einer nicht widerlegbaren Theorie frçnten – und mithin noch mehr Widerspruch ernteten. Doch jenseits solch bersichtlicher Debatten hat der dipusmythos ber die Jahrhunderte hinweg Dramatiker und Literaten, neuerdings auch Filmemacher und Dramaturgen zu zahllosen Werken inspiriert, die das dipusmotiv als Vorlage verwendeten oder explizit thematisierten (vgl. Mythos dipus, 2005). Gegen die schicksalhafte Weissagung des Delphischen Orakels empçren sich die Helden von Pierre Corneille und Voltaire: Corneilles dipusfigur hlt ein flammendes Pldoyer fr den freien Willen und blendet sich lediglich, um den Himmel als Ort der Gçtter nicht mehr sehen zu mssen. Die Geburt des Individuums in der Literatur schafft sich ihren eigenen dipus. Jede Epoche bringt somit neue dipusvariationen hervor. Im Zeitalter der Technikbegeisterung ist es zum Beispiel Max Frischs Homo faber, der die Inzestschranke verletzt, wenn er mit seiner ihm bisher unbekannten unehelichen Tochter schlft. Es ist daher wenig sinnvoll, das antike Drama so lesen und verstehen zu wollen, wie es Sophokles eventuell beabsichtigte. 8

Ein Mythos ist und bleibt gegenwrtig, wenn sich die Epochen seiner bedienen, um ihre je spezifischen Konflikte und Nçte, Tragçdien und Hoffnungen an ihm abzuarbeiten. Die von Freud postulierte Universalitt des dipuskomplexes ist solange aktuell, wie die Themen des Mythos aktualisiert werden. Insofern geht es nicht um den konkreten Vollzug des Geschlechtsverkehrs zwischen Mutter und Sohn noch um die tatschliche Tçtung des Vaters. Bewusster Geschlechtsverkehr zwischen Mutter und Sohn fhrt fast unweigerlich in die Psychose. Inzest als sexueller bergriff ist jedoch in vielen Familien trauriger Alltag, die erzwungene berschreitung der Inzest- und Generationenschranken das Drama vieler Kindheiten und die Last des Erwachsenenlebens. Jenseits dessen phantasieren im Internet Pdophilenvereinigungen von so genanntem natrlichen Sex mit Minderjhrigen – in den Niederlanden stehen sie im Begriff, eine Partei zu grnden. Doch auch mit der Beschrnkung auf diese Themen wrde man dem dipusmythos nicht gerecht. Denn die Sehnsucht nach dem mtterlichen Schoß, der Geborgenheit jenseits von Schmerz, Krankheit und Tod lebt ebenso in uns wie die Suche nach der Wahrheit, der Erkenntnis, die uns von eben jener imaginierten Geborgenheit forttreibt. Wird der Mythos nicht konkretistisch verstanden, so ist dipus, der Rtsellçser, hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch, dorthin zurckzukehren, wo er nicht bleiben kann, und mit seinem Erkenntnisdrang voranzugehen, wo ihn letztlich der Tod erwartet. Der Mythos des dipus ist viel mehr als eine bizarre Geschichte von Mord und Inzest. Um der Vielfalt der Konflikte und Verstrickungen gerecht zu werden, erzhle ich die Geschichte des dipus und zeige dabei ihre erstaunliche Aktualitt. Es ist der Versuch einer Deutung, die immer auf den Deutenden und seine Zeit verweist – alles andere also als eine altphilologische Betrachtung. Damit gewinnt der dipusmythos Relevanz fr alleinerziehende Mtter und Vter und ihre Kinder, die sich einerseits nach intakter Partnerschaft ihrer Elternteile sehnen, sich jedoch andererseits angesichts der neuen Lieben ihrer Eltern vor Zu9

rcksetzung und Rollenkonfusion frchten. Die Phantasie eines kleinen Jungen oder Mdchens, deren gegengeschlechtlicher Elternteil lange allein mit ihnen lebte, Mutter oder Vater bruchten doch gar keinen neuen Partner, sie beziehungsweise er habe ja sie, zerbricht an der Realisierung erwachsener Leidenschaft, von der sie ausgeschlossen bleiben und die ihnen fr sptere Zeiten und mit anderen Partnern vorbehalten bleibt. Das fhlen auch jene, deren Zeit abzulaufen beginnt. Die Eltern haben nur noch begrenzte Lebenszeit vor Augen, derweil ihren Kindern schier unbegrenzte Zukunft geschenkt zu sein scheint. Den Kindern eigene, autonome Partnerschaften zuzugestehen, konfrontiert unmittelbar mit der Endlichkeit eigner Lebensentwrfe und eigenen Seins. Das Rtsel der Sphinx, das dipus lçste, nachdem er bereits seinen Vater erschlagen, seiner Mutter aber noch nicht angesichtig wurde, bleibt eine stets aktuelle Herausforderung, eine Zumutung, die zu erkennen nicht schwer, die zu ertragen aber ein Leben bedarf: »Was«, so fragte ihn die Sphinx, »geht am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei?«

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dipus – verkrzter Mythos einer langen Geschichte

Transgenerationale Konflikte oder die Wurzeln des dipus dipus’ Geschichte beginnt bereits weit vor seiner Geburt. Lange vor der Weissagung des Delphischen Orakels gegenber seinem Vater Laios nimmt sie ihren Anfang. Laios wird prophezeit, durch die Hand seines Sohnes umzukommen. Der Fluch, das tragische Schicksal, das auf dipus lastet und dem er sich trotz aller Anstrengung nicht zu entziehen vermag, ist das Erbe seiner Eltern Iokaste und Laios. Iokastes Ahnenreihe geht wie die von Laios auf Kadmos zurck. Kadmos tçtet einen Drachen durch Steinwrfe und st die Zhne des Drachen aus. Daraufhin erwachsen dem Boden Krieger, die einander augenblicklich tçten. Die berlebenden fnf gelten als die Ahnen der thebanischen Adelsgeschlechter. Eine ihrer Nachfahren ist Iokaste. Bedeutsam ist dabei, dass es sich keineswegs um eine lange Ahnenabfolge handelt, sondern einer der mçrderischen »Unmenschen« Iokastes Ururgroßvater ist.

Laios – ein heimlicher Pdophiler oder die erste Weissagung des Orakels Bereits der Vater des dipus, Laios, wird teilweise in der Fremde groß und wchst – wie dipus weitgehend vaterlos auf: Denn als 11

Labdakos1, Vater des Laios und Großvater von dipus, stirbt, ist Laois gerade erst ein Jahr alt (Zimmermann, 2003, S. 66). Sein Stiefvater, Lykos, wird getçtet und Laios vertrieben. Laios – ganz hnlich wie sein spterer Sohn dipus – wchst alsdann im fremden Kçnigshaus des Kçnigs von Pisa, Pelops, heran, wo er wie dipus freundliche Aufnahme findet. Auch Pelops ist schwer traumatisiert. Sein Vater Tantalos schlachtet ihn als Opfer fr die Gçtter. Als diese das erkennen, rufen sie Pelops ins Leben zurck. Weil aber Demeter bereits ein Stck der Schulter gegessen hat, wird Pelops eine Elfenbeinprothese eingesetzt. Erstmals taucht das Motiv des Wagens und der Entfhrung auf, weil Pelops seine sptere Frau Hippodameia nur zur Gattin erhlt, wenn er auf Geheiß ihres Vaters Oinomaos ein Wagenrennen gewinnt. Doch Oinomaos ist mit windschnellen Rossen ausgerstet und durchbohrt seine Gegner beim berholen mit seinem Speer. Als Gnstling des Poseidon erhlt Pelops geflgelte Pferde, mit denen er seine sptere Frau entfhrt. Zwischen Vtern und Sçhnen geht es mçrderisch zu: Nur eine Generation scheint jeweils zu berleben, die andere ist dem Verderben, dem Totschlag preisgegeben. Zunchst erschlagen aber immer die Vter die Generation der Sçhne oder versuchen es jedenfalls. Doch anders als dipus missbraucht Laios die Gastfreundschaft. Er begehrt den jngsten, unehelichen Sohn des Herrschers und entfhrt ihn mit einer List, als er nach Theben zurckkehrt. Unter dem Vorwand, ihm die Kunst des Wagenrennens beizubringen, bringt er ihn in eine Gewalt und flieht nach Theben. Nach der Vergewaltigung durch Laios bringt sich Chrysippos aus Scham um.2

1 Auffallend sind die Wortspiele, die auf transgenerationale Themen des Geschlechts hinweisen: »Labdakos« heißt vermutlich so viel wie der Hinkende, was eine deutliche Anspielung auf »Schwellfuß«, die bersetzung von »dipus« darstellt. 2 Es existieren verschiedene Varianten ber den Tod des Chrysippos: Die leiblichen Sçhne des Kçnigs Pelops, Atreus und Thyestes, ermorden auf Anstiftung ihrer Mutter Hippodameia ihren Stiefbruder Chrysippos. Oder Hippodameia, eiferschtig auf den unehelichen Sohn, begeht selbst den Mord, versucht diesen aber Laios in die Schuhe zu schieben.

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Fr das weitere Geschehen entscheidend ist der Fluch des Pelops, Laios mçge wegen des Frevels an seinem Sohn Chrysippos kinderlos bleiben oder durch die Hand seines eigenen Sohnes umkommen. Mit grimmiger Ironie taucht auch erneut das Motiv des Wagenlenkers auf, das sich spter wiederholt, als der greise Laios seinem Sohn begegnet – als Lenker eines Wagens. Die Ehe von Iokaste und Laios bleibt – was nach der Vorgeschichte nicht berraschen mag – lange kinderlos. Auf Drngen von Iokaste befragt Laios das Orakel und erfhrt die Prophezeiung, durch die Hand seines Sohnes umzukommen. Die Pythia, Priesterin des Orakels, scheint ganz gegen sonstige Gepflogenheiten vçllig unverschlsselt eine Warnung auszusprechen. blicherweise sind die Weissagungen mehrdeutig und erschließen sich dem Ratsuchenden erst nach und nach – meist zu spt. Allerdings kçnnte sich auch diese Offenbarung als vielschichtig und mehrdeutig erweisen, wenn man, anders als Laios, die Prophezeiung des Todes durch die Hand des Sohnes nicht wçrtlich und konkretistisch nimmt, sondern als eine Anspielung auf die pdophilen bergriffe des Laios, die zur Selbsttçtung des Chrysippos fhrten. Das implizite Verbot der Gçtter, mnnlichen Nachwuchs zu bekommen, warnt Laios vor seinen homosexuell-pdophilen Tendenzen, die sich auch gegen den eigenen Sohn richten kçnnten: Nur ein gar nicht erst geborener Sohn wre vor inzestuçsen bergriffen durch seinen Vater geschtzt. Wrden sich jedoch Laios und Iokaste ber das Verbot hinwegsetzen, begegnete Laios in Gestalt seines Sohnes zwangslufig auch noch einmal seinem Missbrauch am verstorbenen Chrysippos. Der Sohn wrde – ab einem bestimmten Alter – das vergangene Sexualobjekt reprsentieren. Unweigerlich kme Laios in eine Versuchungssituation. Doch die Pythia tut noch etwas: Sie warnt Laios vor der Rache des verstorbenen Chrysippos in Gestalt des Sohnes. Der Tod des viel Jngeren (in der Umschreibung des Pelops-Sohnes Chrysippos) zieht wiederum den Tod des viel lteren (in der Weissagung des Vaters) nach sich. Die Pythia wre demnach der Tradition treu geblieben, niemals die Zukunft in konkreten Worten 13

vorherzusagen, wiewohl sie sich in diesem Fall auch konkret so vollzieht.3 Es ist nicht dipus als konkrete Person, die den Vater Laios tçtet, sondern der Jngere, der Nachfolgende, der den lteren tçtet, weil dieser ltere ihm einen Frevel antat. dipus wird mithin zum Werkzeug, zum Erfllungsgehilfen, der tut, was er selbst in seiner tragischen Bedeutung nicht zu erkennen vermag. Zurck in Theben will Laios knftig das Bett mit Iokaste nicht mehr teilen. Das kann jedoch bei seinen pdophilen Neigungen kaum erstaunen, sondern erscheint eher wie eine willkommene Rationalisierung angesichts der Angst vor der Frau.4 Iokaste vermutet daher, Laios wolle sich ihr wegen seiner homophilen Neigung zu Knaben entziehen, macht ihn trunken und lsst sich von ihm schwngern. Nchtern betrachtet ist dies ein eindeutiger Hinweis auf die vçllig unbefriedigende sexuelle Beziehung der beiden, wenn Laios nur unter dem Einfluss von Alkohol mit seiner Frau zu verkehren bereit oder in der Lage ist. Unschwer vorstellbar ist auch der Zorn der Iokaste auf ihren Mann, der sie verschmht und ihr nur unter dem Einfluss von Alkohol, nicht

3 Diese Sichtweise mag nun den Zorn der Altphilologen auf sich ziehen. Tatschlich waren ja Homosexualitt und sexuelle Handlungen zwischen lteren Mnnern und Jnglingen im antiken Griechenland sehr verbreitet. Doch erstens sagt die Hufigkeit eines kulturell akzeptierten Verhaltens noch lange nichts ber seine schdlichen Konsequenzen aus. Und zweitens handelt es sich hier um einen klaren sexuellen Missbrauch im Sinne einer Vergewaltigung, da Chrysippos gegen seinen Willen entfhrt wird und sich aus Scham wegen des bergriffs auf seine sexuelle Selbstbestimmung suizidiert. 4 Ein weiteres Mal erweist es sich als schwierig, von der westeuropischen Gegenwart des Bildungsbrgertums Rckschlsse auf die Adelshuser der klassischen Antike zu ziehen. Fr eine aktuelle Interpretation des dipusmythos ist dies jedoch weniger von Bedeutung. Genau genommen handelt es sich bei Laios’ Sexualverhalten um Ephebophilie, also sexuelles Interesse an pubertierenden oder peripubertierenden mnnlichen Jugendlichen. Die Neigung ist jedoch schlecht integriert, weil sie mit einem hohen Maß an – auch damals – antisozialem Verhalten einhergeht, Entfhrung und massiver Gewaltanwendung, nmlich Vergewaltigung. Entsprechend gering drfte das sexuelle Interesse an erwachsenen Frauen ausfallen, weshalb die Kinderlosigkeit des Paars Iokaste und Laios nicht verwundert (vgl. Beier et al., 2005, S. 474 f.).

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aber aus Leidenschaft und Begehren beischlft. Das der Iokaste bekannte Risiko fr ihren Mann, im Fall einer Schwangerschaft mit einem Jungen durch dessen Hand umzukommen, verkehrt sich demnach bereits in eine – mindestens unbewusste – Rachephantasie: Soll er doch zum Teufel gehen mit seinen jungen Mnnern! Die Beziehung zwischen Laios und Iokaste erscheint zerrttet: Iokaste hintergeht Laios, indem sie ihn verfhrt, statt ihn, wie in einer intakten Liebesbeziehung, zu ihrer beider Freude und Erfllung zu umgarnen. Damit ist bereits auch eine verschwçrerische Nhe zum ungeborenen Sohn angelegt – ohne dass dieser darauf irgendeinen Einfluss htte. Denn Iokaste setzt ihren Mann bewusst dem tçdlichen Risiko aus. Zudem weiß sie auch um die tragische Gefahr fr den noch Ungeborenen, seinen eigenen Vater zu tçten. Auch darber setzt sich Iokaste hinweg. Ihr ressentimentgeladener Hass auf ihren Mann generalisiert auf alle Mnner, auch auf ihren spteren Sohn. Iokaste wird somit auch zur heimlichen Tterin, obgleich sie vordergrndig lediglich als Opfer erscheint.

Erster Exkurs: Laios, der unmnnliche Vater und die Angst vor dem Sohn als Rivalen dipus kennt seinen Vater Laios nicht. Laios wiederum hat keine Erinnerung an seinen Vater, denn als Labdakos stirbt, ist Laios erst ein Jahr alt. Beiden also sind ihre Vter persçnlich unbekannt. Herkunft und persçnliche Geschichte liegen ihnen im Dunkel ferner Vergangenheit. Zudem wird Lykos, der Stiefvater des Laios, getçtet, Laios vertrieben und bei einem dritten Ziehvater, Pelops, erwachsen. Im Zuge dessen entwickelt Laios eine Perversion, nicht etwa eine homosexuelle Orientierung (die keine Perversion ist).5 Mit Gewalt bemchtigt er sich des Chrysip5 Unter Perversion verstehe ich sexuelle Handlungen, Phantasien oder Neigungen, deren Kern Hass und Feindseligkeit ist. Es geht also nicht um bestimmte Praktiken, sondern um die phantasierte oder ausgebte Feindseligkeit, was auch in einem gegengeschlechtlichen Koitus mit »Missionarsstel-

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pos, seine sexuellen Vorlieben betreffen offenbar mnnliche Pubertierende, wobei der Moment der Gewaltausbung eine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Bei Iokaste hingegen zeigt sich Laios keineswegs als leidenschaftlicher Liebhaber – er meidet die intime Nhe zu ihr. Laios verarbeitet die Trennungstraumata seiner Kindheit und die Einwirkung von Gewalt und Vertreibung durch eine so genannte Verkehrung ins Gegenteil: Er ist nicht mehr das ohnmchtige Kind, nicht mehr Opfer von Trennung und Gewalt, Bedrohung und Flucht. Jetzt ist er es, der Gewalt gegen einen Jngling ausbt, ihn seiner Heimat beraubt und seiner sexuellen Selbstbestimmung. Laios ist im Besitz von Macht und Kontrolle – Chrysippos hingegen in der Opferposition. Tatschlich trifft man bei sadistischen Pdophilen sehr hufig auf diese Dynamik des simplen Rollenwechsels vom Opfer zum Tter. Gewalterfahrungen und Traumata werden weitergereicht, lediglich die Position des ohnmchtigen Opfers wird durch jene des (all)mchtigen Tters ersetzt. Der emotionale Kick besteht weniger in der Ausbung sexueller Handlungen als in der Kontrolle ber ein willenloses Opfer – und damit der scheinbaren berwindung des vormaligen Traumas (vgl. Stoller, 1975; Hilgers, 2006). So bleibt Laios ein schwacher Mann und wre daher auch ein potentiell schwacher Vater, der mnnlichen Nachwuchs frchten msste – ebenso wie er seine Frau bereits frchtet. Denn tatschlich meidet er Iokaste unter Hinweis auf den Orakelspruch und lsst daher nicht wirklich von seinen pdophilen Neigungen ab. Iokaste verfhrt ihn wahrscheinlich nur ein einziges Mal, denn die Ehe bleibt – bis auf dipus – kinderlos. Kinderlosigkeit ist Motiv zahlreicher Mythen und Mrchen. Damit soll aber keine biologische Grenze ausgedrckt werden, von der man damals wenig wusste. Vielmehr handelt es sich um einen Hinweis auf einen eklatanten Mangel an sexuellem Begehren und intimer Begegnung – so wie eben bei Laios und Iokaste.

lung« bei entsprechenden Phantasien eines oder beider Beteiligten der Fall sein kann (vgl. Stoller, 1987, Hilgers, 2001 und 2006).

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Laios fhlt sich als Mann seiner sexuell begehrenden Frau nicht gewachsen. Einem heranwachsenden Sohn wrde er sich demnach auch unterlegen fhlen – jedenfalls dann, wenn dieser anders als er selbst nicht die gleiche Angst vor Frauen entwickelte. Laios muss deshalb mnnlichen Nachwuchs als Bedrohung erleben – so sehr, dass er ihn zu beseitigen trachtet. Tatschlich findet diese Beseitigung in vielen Vater-Sohn-Konstellationen statt – als symbolische Kastration: Fhigkeiten der mnnlichen Nachkommen werden nicht anerkannt oder belchelt, Autonomieentwicklungen behindert, Sçhne aktiven oder feinen Demtigungen ausgesetzt. Nicht die Person als ganze wird existentiell vernichtet, sondern ihre vitalen, selbstbewussten und starken Anteile beschdigt – kastriert, wenn man so will. Mithin darf der an realer und psychischer Strke wachsende Nachkomme die Eltern nicht berholen – in Teilen oder sehr weitgehend. Denn die Fhigkeit, mit einem Mal schneller joggen oder besser rechnen zu kçnnen, stellt nicht nur die Kompetenz der Eltern in Frage. Aufgeworfen ist auch die Perspektive von Endlichkeit und kçrperlichem Niedergang fr die ltere Generation schlechthin. Und schließlich hat die im bertragenen Sinn verstandene Kastration oder Depotenzierung noch einen sehr konkreten Aspekt: Der Vater sieht die Chancen seiner Sçhne beim anderen Geschlecht, wo er sie nicht mehr in dem Ausmaß hat, die Mutter sieht sich von der Schçnheit und den kçrperlichen Attributen ihrer Tçchter in den Schatten gestellt. Bei gelingender Generationenabfolge werden die Alten von den Jungen zwangslufig depotenziert – oder besser: Sie sehen sich mit ihrem langsamen Abtreten in sozialer, sexueller und kçrperlicher Hinsicht konfrontiert. Die damit verbundenen Schmerzen wollen ertragen werden. Andernfalls verwandeln sie sich in Hass gegen den Symboltrger eigener Endlichkeit, mit der Folge des »Laios-Syndroms«: der partielle oder weitgehende Versuch, die kommende berlegenheit der Nachkommen zu verhindern, um sich selbst eigene Unsterblichkeit vorzugaukeln.

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Die Ausstoßung – dipus, der Adoptivsohn Das Neugeborene erhlt keinen Namen, sondern wird von seinen Eltern mit durchbohrten Fersen und durch die Wunden gezogene Fesseln an einen Diener zur Aussetzung berlassen. Dieser aber bergibt entgegen den Weisungen den Sugling einem Hirten, der den kleinen dipus zu seinem Herrn, dem Kçnig Polybos von Korinth, bringt. Wie in vielen Mrchen6 und Mythen scheinen sich die Eltern vor dem ußersten, dem Kindsmord, zu scheuen und berlassen das den Krften der Wildnis. Doch wozu die durchbohrten Fersen und die Fesseln bei einem Neugeborenem, der nicht einmal laufen kann? Die Grausamkeit der Handlung hat symbolischen Charakter. Die Autonomie- und Selbstentwicklung des Kindes wird behindert, indem ihr konkretistischer Ausdruck, die Fhigkeit, sich eigenstndig zu bewegen, unterbunden wird. Die Angst vor der knftig wachsenden Autonomie des gerade geborenen Kindes, seiner Subjekthaftigkeit, die wie bei jedem Kind die Eltern einmal bedrohen kçnnte, soll durch eine hinzugefgte Verletzung vernichtet werden. Alle diese Handlungen sind – bei aller Grausamkeit – hochgradig ambivalent: Weder wird der Sugling einfach getçtet, noch einfach ausgesetzt. Stattdessen wird das Kind im bertragenen Sinn sich selbst berlassen und seine Entwicklung zur Selbstndigkeit massiv behindert. Zudem geben die Eltern ihrem Sohn keinen Namen, sie verleihen ihm keine Identitt. dipus wird in seiner Subjekthaftigkeit nicht anerkannt – und kennt sich zeitlebens selbst nicht, wie wir noch sehen werden. Spielerisch kçnnte man die Bilder des Mythos einen Moment lang symbolisch verstehen: dipus wchst zwar im eigenen Elternhaus auf, aber im bertragenen Sinn dennoch in der Fremde, weil er von Anfang an verlassen ist und sich selbst damit ein Fremder bleibt. Dieses Entfremdungsgefhl vieler Kinder ußert

6 Zahlreiche Mrchen der Brder Grimm benutzen das Motiv der Aussetzung, bekannt ist vor allem Schneewittchen.

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sich frher oder spter oft in dem Eindruck, sie wchsen nicht bei ihren leiblichen Eltern auf, sie seien verwechselt worden und mssten ihre Herkunft erforschen. dipus tut genau das, wenn man die Geschichte so interpretiert. Die ersten Psychoanalytiker um Freud brachten den dipuskomplex in enge Verbindung mit der Hysterie, bersahen jedoch das vielen Menschen mit hysterischen Anteilen eigene Gefhl tiefer Einsamkeit oder Verlassenheit. Das ist insofern nicht verwunderlich, als dass man sich damals auf den angeblichen Kern des dipusmythos konzentrierte, nmlich Vatermord und Mutterinzest. Dem geht jedoch die Verstoßung und Misshandlung durch die Eltern voraus. Deren Angst vor der Autonomie des Kindes setzt erst die Tragçdie in Gang. Die hysterischen Inszenierungen, Dramatisierungen und so genannten Affektualisierungen – also das Aufladen von Szenen, Schilderungen oder Handlungen mit heftigen Gefhlen, die Außenstehenden unauthentisch vorkommen – haben unter anderem zum Ziel, fehlende Aufmerksamkeit zu wecken. Die einstmaligen Gefhle von Verlassenheit und Einsamkeit in der Gegenwart zu kompensieren, misslingt schon deshalb regelmßig, weil sich die Zuschauer der Szene durch den unauthentischen Charakter eher abgestoßen fhlen, wodurch sich die Einsamkeit und ihre erneute Abwehr durch weitere Steigerung der Inszenierungen noch verstrkt (vgl. Mentzos, 1980, S. 115–117).7 7 »Manchmal«, sagt der Schauspieler Klaus Maria Brandauer in der Frankfurter Rundschau (05. 08. 2006), »habe ich fr ein paar Sekunden den Eindruck: Ich bin tatschlich der, den ich vorgebe zu spielen. Obwohl ich weiß, dass es nicht so ist. Das ist dann wohl die kleine Schizophrenie bei der Sache.« Nur bei dieser letzten Bemerkung tuscht sich Brandauer: Es ist tatschlich die brillante und sehr kreative hysterische Seite, die es ihm ermçglicht, sich mit einer anderen Person durch Affektualisierungen so weit zu identifizieren, dass man nicht mehr weiß, was Darstellung und was Wirklichkeit ist. Das ist der Kern der Hysterie, die Selbsttuschung ber das eigene Selbst, seine Empfindungen und Urteile. Im Fall guten Schauspiels, das von einer hysterischen Erkrankung zu unterscheiden ist, gleiten Zuschauer und Darsteller immer wieder in diese illusionre Verkennung der Wirklichkeit ab. Das Urteilsvermçgen, kçnnte man sagen, erleidet einen Schwcheanfall. Handelt es sich um Hysterie als Erkrankung, tuscht der hysterische Mensch vor allem

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Der Diener des Laios bergibt also entgegen der Weisung dipus einem Hirten, Untertan des Kçnigs von Korinth. Das Kçnigspaar – selbst kinderlos – nimmt dipus freudig auf und behandelt ihn wie seinen leiblichen Sohn. In den sehr unterschiedlichen Versionen geht die Kçnigin Merope mit dem Hofstaat hinunter zum Fluss, um dort entweder so zu tun, als gebre sie gerade oder als ob sie ein Kind aus dem Fluss fische.8 Wegen des Zustands seiner Fße nennen sie ihn Schwellfuß (= dipus). Im Glauben, Polybos und seine Frau seien seine leiblichen Eltern, wchst dipus auf.

Die zweite Weissagung des Orakels Doch whrend eines Festes wird der inzwischen herangewachsene dipus von einem Betrunkenen darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Polybos und Merope keineswegs um seine Eltern handele. Deshalb bricht dipus zum Delphischen Orakel auf, um sich ber seine Herkunft Klarheit zu verschaffen. Mit Betreten des Tempels verweigert ihm die Pythia jedoch jede Auskunft und gibt ihm zugleich doch eine: Er solle sich davonscheren, denn er werde seinen Vater tçten und seine Mutter ehelichen. Ein ungeheurer Fluch laste auf ihm. Er solle in den Tod gehen, wenn er der Menschheit etwas Gutes tun wolle. In der Liebe zu seinen vermeintlichen Eltern, Polybos und Merope, beschließt dipus zweierlei: sich nicht umzubringen und nicht zu seinen Adoptiveltern zurckzukehren, um die schreckliche Prophezeiung nicht zu erfllen.9 sein ber-Ich. Das Urteilsvermçgen soll zum Selbstschutz »geblendet« werden: Prominentester Zuschauer sind nicht die anderen, sondern das eigene ber-Ich (Mentzos, 1980, S. 58 ff.). 8 Das Motiv des ausgesetzten Kindes, das auf einem Fluss treibt, ist auch in der Bibel (Mose im Alten Testament) zu finden. 9 Erneut spielt das Unbewusste eine wichtige Rolle: dipus »weiß« eigentlich bereits, dass er die falschen Eltern schtzt, denn weshalb wre er sonst nach Delphi aufgebrochen. dipus ist also Akteur, nicht Opfer des Schicksals. Doch dipus leugnet dieses Wissen, er versucht eine technische Lçsung

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Zweiter Exkurs: Adoleszenzkrise, Endlichkeit und die transzendierende Macht der Sexualitt dipus ist aufgebrochen, um sich Klarheit ber seine Herkunft und sein Leben zu verschaffen. Diese Aufklrung wird er stets wnschen und immer auch frchten. Von dem Moment der Erschtterung an, als er erfuhr, dass er wohl nicht der Sohn seiner Adoptiveltern sei, bleibt er auf der Suche nach sich selbst. hnlich einer Adoleszenz- oder Reifungskrise verliert dipus die Sicherheit und Gewissheit, die ihn bis dato begleitete. Das Heranwachsen zum Erwachsenen erschttert in der Regel jeden Menschen in seinen Grundfesten. Sicherheit und Geborgenheit des Elternhauses erscheinen mit einem Mal dahin, die – hoffentlich – unbeschwerten Jahre der Kindheit sind fr immer verloren. Stattdessen erscheinen die Eltern endlich – und mithin man selbst. Die grausame Realitt des Todes wird erstmals begriffen und auf die eigene Person bezogen. Die Erkenntnis der Endlichkeit wirft Sinnfragen auf: Wozu und wofr lebe ich? Denn wenn das Leben endlich ist, so sind es auch die eigenen Mçglichkeiten, woraus die Notwendigkeit erwchst, einen Lebensplan zu entwickeln. Die Zeit, in der alles (noch) mçglich erschien, endet: Es gibt nur ein einziges Leben, und das mit allen Begrenztheiten, die die eigene biologische Identitt aufwirft. Die aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht, seinen sozialen und kulturellen Bedeutungen, macht einen weiteren Teil der Adoleszenzkrise aus. Nur dem im Verlauf der Tragçdie auftretenden Teiresias war es in der Mythologie vergçnnt, beide Geschlechtsrollen abwechselnd leben zu kçnnen. Mithin mndet die Adoleszenz im glcklichen Fall in der Preisgabe von kindlichen Grçßenideen, die damals eigentlich keine waren, sondern eher Visionen und Utopien, die das Großwerden attraktiv und erstrebenswert erscheinen ließen. Fr jeden Aufbruch braucht es Hoffnung auf bessere Zeiten, Zukunftsentwrfe, fr die die Anstrengungen und Mhen des Lernens und durch Vermeidung, was ihn – wie bei jeder Vermeidung typisch – genau in das gefrchtete Konfliktfeld hineinfhrt.

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lterwerdens lohnen. Diese nunmehr realistisch zu gestalten und an die Lebenswirklichkeit, die eigenen Mçglichkeiten und Grenzen anzupassen, ist Aufgabe des jungen Erwachsenenalters. Die Herausforderung, sich mit der eigenen Sexualitt, der verwirrenden und teils ngstigenden Macht des gegen- oder gleichgeschlechtlichen Sexualobjekts auseinanderzusetzen, birgt jedoch zugleich auch eine Kompensation fr das verlorene Heil der Kindheit. Sexuelle Lust, erotische Spannung und Orgasmus transzendieren fr einen Moment die eigene Endlichkeit. Die allumfassende Unendlichkeit des Orgasmus befriedigt auch den Wunsch nach eigener Grenzenlosigkeit. Sexuelle Lust lsst die Sterblichkeit fr einen Moment vergessen – so wie man sich ihrer einst als Kind nicht bewusst war. Doch um sich sexueller Lust mit einem Partner hingeben zu kçnnen, bedarf es stabiler Selbstgrenzen. Denn heftige sexuelle Lust lçst Selbstgrenzen im Moment letzter Hingabe auf, was bedrohlich ist, wenn diese Selbstgrenzen im Moment danach nicht erneut sicher verfgbar sind und mit Selbstverstndlichkeit wieder aufgerichtet werden kçnnen. Somit çffnet sich das Tor zum Erwachsenenleben nur dann, wenn die Selbstentwicklung einigermaßen zufriedenstellend verlaufen ist. Umgekehrt hat die weitere Selbstentwicklung die Verfgbarkeit stabiler Selbstgrenzen zur Voraussetzung: Je mehr Autonomie und Ablçsung vom Elternhaus erworben wurde, desto grçßer ist die Fhigkeit zur Hingabe. Und wiederum umgekehrt: Je grçßer die Fhigkeit zur Hingabe, desto mehr Autonomie gewinnt das Individuum.

dipus’ unwillentliche Rache an Laios Auf seiner Reise stçßt dipus an einer Wegenge wie zufllig auf seinen Vater, der sich umgekehrt gerade auf dem Weg nach Delphi befindet. Laios will Rat einholen wegen der Sphinx, die – vor den Toren von Theben10 – Schrecken verbreitet und jeden Wan10 In manchen Versionen auch auf dem Marktplatz von Theben.

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derer zu verschlingen droht, der ihr Rtsel nicht zu lçsen weiß: »Es gibt ein Ding auf Erden, das zwei, vier und drei Fße hat. Von allen Wesen, die sich auf der Erde kriechend oder in der Luft oder im Meer bewegen, wechselt es allein seine Natur, und wenn es sich auf die meisten Fße gesttzt fortbewegt, ist die Kraft seiner Glieder am geringsten« (zit. nach Hunger, 1985, S. 382). Damit spielt die Sphinx auf die Fße an, jene Kçrperteile, an denen dipus einst sein Trauma erlitt oder besser, an denen es seinen konkretistischen Ausdruck erhielt. Die Sphinx war von der Gçttin Hera gesandt worden, um den Frevel des Laios zu bestrafen. Laios ist demnach mit seiner eigenen – verdrngten – Vorgeschichte befasst und sucht Aufklrung in Delphi. Dieses Motiv wird spter auch dipus wiederbegegnen, wenn er Aufklrung wegen einer weiteren Strafe der Gçtter, nmlich der Pest, in Delphi suchen lsst. Die Figuren der Tragçdie sind stndig mit ihrer eigenen, verdrngten Vorgeschichte beschftigt, die sie verfolgt und qult. Mit grimmiger Ironie des Schicksals oder der Gçtter begegnet Laios erneut einem Jngling, whrend er selbst wiederum auf einem Wagen sitzt, mit dem er dereinst Chrysippos, den Sohn des Pelops, entfhrte. In herrischem Ton verlangt Laios, dipus mçge aus dem Weg gehen. Ein zweites Mal versucht demnach Laios den dipus aus dem Weg zu rumen, was er ja schon einmal in die Tat umgesetzt hatte, indem er dipus durch Aussetzung zu beseitigen suchte. Doch jetzt rumt umgekehrt dipus seinen Vater aus dem Weg: dipus entgegnet zunchst, er gehorche nur seinen Eltern (!) und den Gçttern. Laios schlgt daraufhin mit seiner Peitsche auf dipus ein, dieser reißt ihn vom Bock, Laios wird von seinen Pferden zu Tode geschleift und dipus erschlgt die Begleiter bis auf einen, der entkommt. So gesehen bringt dipus seinen Vater gar nicht um. Vielmehr stirbt Laios an den Folgen der Auseinandersetzung mit seinem Sohn, jedenfalls nicht direkt durch die Hand von dipus. dipus ist nicht der Mçrder seines Vaters, denn das setzte Heimtcke und Planung voraus. dipus stçßt seinen Vater allenfalls vom Wagen – mit tragischen Folgen. Da er noch nicht einmal den Tod seines Vaters billigend in Kauf nimmt, handelt es sich um Kçrperverletzung mit Todesfolge. 23

Der Zynismus, mit dem die Gçtter des Olymp mit den Protagonisten der Tragçdie spielen, muss die Zuschauern des antiken Theaters beeindruckt haben. Unbegrenzt erschien ihre Macht gegenber den Menschen, und diese Macht kommt als selbstverliebte Willkr daher. Unter heutigem Verstndnis von Generationenkonflikten zwischen Eltern und ihren Kindern imponiert der respektlose Befehlston des Vaters, der die Auflehnung des Sohnes provoziert: In diesem Fall mssen Kinder ihre Eltern im bertragenen Sinn erschlagen, um Autonomie zu erlangen. In der Folge lehnen Kinder quasi alles ab, was von den Eltern kommt – und kçnnen durch diese »Gegenabhngigkeit« gerade nicht Eigenstndigkeit erreichen. Auf seinem Recht als lterer zu bestehen, raubt dem Jngeren seine Wrde und strzt ihn in Scham, wenn er dem Befehl nachkommt, oder in Schuld, wenn er sich verweigert (ausfhrlich zu Scham-Schuld-Konflikten: Hirsch, 2001; Hilgers, 2006). Der Gehorsam, von dem in der Tragçdie die Rede ist, erfordert wechselseitigen Respekt, der die Wrde aller Beteiligten schtzt – bei Strafe schwerer Konflikte. Im weiteren Verlauf der Tragçdie wird dipus mehr und mehr selbst zum Tyrann, der gleichfalls unbedingten Gehorsam verlangt, was in den Ohren der Zuschauer des antiken Griechenlands mit seiner teilweise demokratischen Tradition bel geklungen haben mag. Der khne Held wandelt sich gerade wegen der nicht erfolgten Ablçsung im Sinne einer Gegenabhngigkeit zum Alleinherrscher. Ein Beispiel fr die so genannte Wiederkehr des Verdrngten, dass sich nmlich ungelçste Konflikte in vernderter Gestalt doch mit gleichem Inhalt wieder einstellen.

dipus und das Rtsel der Sphinx Auf seinen weiteren Wanderungen erfhrt dipus von der Sphinx. Auf einem Fels vor Theben sitzend, bedroht sie nicht nur Wanderer, sondern natrlich auch Hndler und Kaufleute, fhrt also eine Art Wirtschaftsblockade der Stadt durch. Deshalb verspricht Kreon, Bruder der Iokaste und Onkel des dipus, der 24

mittlerweile die Regentschaft in Theben bernommen hat, Herrschaft und die Kçnigin Iokaste demjenigen, der die Stadt von der Sphinx befreie. So tritt dipus vor die Sphinx und entgegnet auf ihre Rtselfrage, es sei der Mensch, der am schwchsten sei, wenn er auf vier Beinen als Suglinge gehe, schwach auch, wenn er auf einen Stock gesttzt im Alter auf dreien sich bewege, am strksten aber, wenn er auf zwei Beinen sei. Wiederum spricht dipus unbewusst auch ber sich selbst und sein Schicksal, seine Traumatisierung als hilfloser Sugling, wie auch ber seine Zukunft, als Jahre spter geblendeter Greis. Doch im Moment ist er jener starke junge Mann, als der er vor der Sphinx erscheint. Das alles realisiert dipus jedoch nicht. Er bleibt fr sich selbst blind. dipus spricht in allgemein gehaltenen Worten vom Mensch, er sagt nicht, »das bin ich«. Offenen Auges taumeln Laios und dipus durch ihre Lebensgeschichten, doch blind fr die Bedeutung, die ihre jeweilige Vergangenheit besitzt. Die Sphinx strzt sich in einem Anfall von Wut vom Felsen in den Tod.11 Doch nur vordergrndig hat dipus das Rtsel gelçst. Die Wut der Sphinx kçnnte sich auf die Tatsache beziehen, dass dipus geschickt, wenn auch unbewusst, der Konfrontation mit eigener Endlichkeit ausweicht. Die Gestalt der Sphinx konfrontiert in ihrer griechischen Ausformung tatschlich mit der viel hintergrndigeren Frage nach Endlichkeit und Begrenzung, menschlichem Dasein schlechthin: In ihrem Aussehen verkçrpert sie einerseits Unbegrenztheit, eine Art grauenvolle Vollkommenheit. Mit dem Oberkçrper einer Frau und einem Lçwenunterleib und Tatzen ist sie weder Mensch noch Tier. Sie symbolisiert die Bewusstwerdung aus dem Animalischen heraus, sie ist noch in ihm verhaftet, aber bereits mit Bewusstsein ausgestattet. Ein Tier mit der Fhigkeit zur Selbstreflexion. Oder verhlt es sich andersherum? Trotz ihres Bewusstseins von sich selbst, das sie vom Tier unterscheidet, verfgt sie weiterhin ber eine animalische

11 In manchen Versionen erschlgt dipus die Sphinx – und damit auch die Mçglichkeit der Selbsterkenntnis.

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Seite, die dem Menschen im Laufe der Kulturentwicklung nicht mehr ohne weiteres zur Verfgung steht. Ist die Sphinx ein besonders vollkommenes Geschçpf oder umgekehrt lediglich eine Vorstufe zum Menschsein? In jedem Fall konfrontiert sie mit der schwierigen Frage, wie es bei gelungener Entwicklung von Bewusstsein und Gewissen doch mçglich sein kçnnte, auch animalische Seiten lustvoll zu leben, wie das bei erfllender Sexualitt Voraussetzung ist.12 Die Animalitt der Sphinx erscheint jedoch destruktiv-mçrderisch, weil die Sphinx alle Wanderer tçtet, die ihr, dem TierMensch, nicht ausgerechnet ein Rtsel zu lçsen vermçgen. Die animalische Seite des Menschen, sein immer auch mçrderisches Wesen, tritt dipus entgegen, der gerade noch in einem Anfall von Zorn vier Mnner erschlug. dipus, der sich ob seiner Tat als großartiger Held und Kmpfer fhlen kçnnte, muss sich im nchsten Moment der Geschichte durch das gestellte Rtsel mit menschlicher Ohnmacht befassen: Nur einen Augenblick lang steht er als junger, kraftvoller Mann da, schon bald wird er zurckkehren zu kçrperlicher Schwche und Hilflosigkeit. Was aber wird eigentlich symbolisch verschlungen und von wem? Die animalische Seite des Menschen droht ihn und sein Bewusstsein zu verschlingen. Umgekehrt gehen in der Verkopfung Emotionalitt und Leidenschaft unter. So gesehen ist die Sphinx nicht festgelegt. Halb Mensch, halb Tier, symbolisiert sie eine Grçßenidee: alles sein zu kçnnen, sich auf nichts festlegen und deshalb auch auf nichts verzichten zu mssen. Damit ist sie ein grauenvoller Gegenentwurf zum Menschsein und auch zu Menschlichkeit. Symbolisch verstanden verschlingt die Grçßenidee, auf nichts verzichten zu wollen und alles (noch) sein oder werden zu kçn-

12 Das Dilemma leidenschaftlich-entgrenzter Sexualitt in einer verlsslichen Partnerschaft entsteht, weil der Zgellosigkeit der Leidenschaft das ber-Ich entgegensteht. Ohne reifes ber-Ich kann keine Partnerschaft, die durch Liebe, Rcksichtnahme und Sorge um den anderen geprgt ist, bestehen. Doch mit ausgeprgtem ber-Ich stehen sexueller Leidenschaft lustfeindliche Hemmungen entgegen.

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nen, all jene, die sich von diesem Wunsch nicht ausreichend distanzieren kçnnen. Denn mit ihrem Rtsel spricht die Sphinx die Notwendigkeit an, einen Lebensentwurf zu machen und damit auf zahlreiche Alternativen des Lebens verzichten zu mssen. Das Streben nach eigener Unbegrenztheit, unbeschrnkten Mçglichkeiten und die Weigerung, Verzicht auf all das leisten zu mssen, was man außerdem noch allzu gern realisiert htte, frisst den Menschen auf. So auch dipus: Er htte sich tçten kçnnen, um seine Eltern zu schonen, doch er entscheidet sich, weder zu seinen Eltern nach Korinth zurckzukehren noch sich umzubringen. Es geht nicht um Selbsttçtung, sondern um die Anerkenntnis eigener Endlichkeit, also des eigenen, knftigen Todes. Der dipus, der vor die Sphinx tritt, fhlt sich gerade in seiner Todesverachtung unsterblich. Der Tod, der ihm durch die Sphinx droht, scheint ihm unwesentlich, als wenn er dipus nicht treffen kçnnte. Damit ist die Dimension eigener Endlichkeit zwar oberflchlich bewusst, aber doch nicht in ihrer Tiefe realisiert: dipus leugnet den Tod – wie sein Vater Laios, der ihn in Gestalt des neugeborenen Sohnes aus dem Weg zu schaffen suchte. Denn tatschlich symbolisieren Neugeborene nicht nur das Leben und Weiterleben fr Eltern nach dem Tod, indem Eltern in ihren Kindern weiterleben. Sie fhren vor allem auch eigene Endlichkeit drastisch vor Augen. Laios hat nicht nur den Neugeborenen zu vernichten versucht, sondern auch die Anerkenntnis des neuen Lebens, das ihn berlebt.13 Die Sphinx symbolisiert diese Grçßenideen schlechthin. Indem sie nicht festgelegt ist, wird sie zum Ungeheuer – wie jeder Mensch mit einem Grçßenselbst. Und genau wie narzisstische Menschen, wenn sie schließlich doch mit eigenen Grenzen kon-

13 Kindesaussetzungen waren in der Antike unter bestimmten Voraussetzungen nicht strafbar. So sprach sich Plato fr Zuchtbedingungen aus, die die »Herde edel« halten sollten. Behinderte Neugeborene konnten unter diesen Umstnden ausgesetzt werden. Aristoteles sah darin sogar eine Pflicht. Im dipusmythos ging es jedoch nicht um ein behindertes Kind, sondern um den gesunden mnnlichen Thronfolger, der demzufolge natrlich nicht ausgesetzt werden konnte.

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frontiert werden, reagiert die Sphinx mit einem Wutanfall. Ihre Wut bezieht sich auf das gelçste Rtsel; sie ist nicht so allmchtig, als dass ihr nicht doch ein Mensch beikme und das Rtsel lçsen kçnnte. Tatschlich kann sich Scham ber persçnliche Grenzen in rasende Wut verwandeln. Bei Kindern lsst sich diese Wut hufig beobachten, wenn etwas nicht so luft, wie sie sich das gedacht hatten, besonders wenn sie an sich selbst scheitern und mit den Grenzen ihrer motorischen oder sonstigen Fhigkeiten konfrontiert sind. Die Alternative zu solchen Wutanfllen ist eine vernnftige, maßvolle Form der Scham, die sich in einer gewissen Bescheidenheit ber die eigene Person ausdrckt.

dipus’ Triumph ber den Tod – die Heirat mit Iokaste Zu Bescheidenheit hat dipus im Moment keinen Anlass, im Gegenteil: Als Befreier und Held zieht er im Triumph nach Theben ein. Kreon, Iokastes Bruder und mithin Onkel des dipus, der nach Laios’ Tod die Regierungsgeschfte gefhrt hatte, bietet dipus zum Lohn den Thron und die Kçnigin an. dipus willigt ein. Und so erfllt sich die Weissagung: dipus heiratet Iokaste und zeugt mit ihr, seiner Mutter, vier Kinder, die zugleich seine Halbgeschwister sind: Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene. An dieser Stelle wird das Stck absurd, wenn man es nicht im bertragenen Sinn versteht: Ein junger Mann, dem geweissagt wurde, er werde seine Mutter heiraten, ehelicht eine Frau, die vermutlich ungefhr zwanzig Jahre lter ist als er. Iokaste gilt als schçn, doch dipus hat gerade noch im Angesicht der Sphinx durch seine Klugheit imponiert, die ihn im nchsten Moment verlsst. Scharfsichtig hatte er dem Ungeheuer geantwortet. Doch der Triumph lsst ihn blind werden. dipus hat sich noch nicht geblendet, handelt aber verblendet. Symbolisch verstanden verhlt sich dipus, wie nahezu alle Menschen, die unbedingt etwas Befrchtetes vermeiden wollen: Das Vermeidungsverhalten zwingt sie in eine Abhngigkeit von der Gefahr, die ihnen jede Freiheit nimmt und sie deshalb ins 28

Unglck strzen lsst. Dennoch bleibt die Absurditt bestehen, dass bei bekannter Prophezeiung dipus sein Schicksal erfllt. Allerdings mag ihn sein gerade errungener Triumph geblendet haben. Die Gefahr der Sphinx ist fr die Stadt gebannt, doch dipus hat sie persçnlich nur vordergrndig besiegt. Nicht ganz zufllig saß sie in ihrer vermeintlichen Allmacht und Grenzenlosigkeit hoch oben auf einem Felsen. Und sie strzte sich von ihrer erhçhten, berhçhten Position herab, als sie eine Grenze durch dipus erfuhr. Die Gefahr liegt nahe, dass dipus den freigewordenen Platz einnahm und der Triumph ihm zu Kopfe stieg. Blind fr die Niederungen des Lebens kann er das Naheliegende von seiner erhçhten oder berhçhten Perspektive nicht mehr erkennen. dipus, der Held, tritt unbescheiden nach Theben ein, er hat von der Sphinx nicht gelernt, seine eigene Position und Sichtweise zu relativieren. Tatschlich lçst er in diesem Sinne das Rtsel: Er gibt eine Antwort fr die Menschheit schlechthin, nicht aber fr sich persçnlich. Htte er das Rtsel auf sich persçnlich bezogen, wre die angemessene Antwort, dass er selbst es ist, der als Sugling am schwchsten, als Greis wiederum schwach und als aufrecht – doch nicht stolz – schreitender Mann am strksten ist. Als dieser aufrechte, stolz ierende Mann erscheint er vor der Sphinx und lernt seine Lektion, die sie ihm zur Aufgabe stellt, nicht wirklich. Die Sphinx ist fr dipus eine Projektion seines Grçßenselbst, eine Verlagerung nach außen, die ihm wie im Traum erscheint. Drastisch gesagt: Wer großartig ist, kann alles – auch seine Mutter heiraten. Tatschlich verhalten sich viele Kinder getrennt lebender Mtter so, als gbe es weder die Generationen- und Inzestschranke, noch als wren sie noch zu klein, um wenigstens im bertragenen Sinn ein gleichwertiger Partner der Mutter zu sein. Allerdings entsteht ein solches Verhalten nur, wenn die Vter nicht prsent sind, also entweder physisch abwesend oder psychisch nicht greifbar. Daneben bedarf es auch einer (ihnen unbewussten) Einladung durch die Mtter – wie bei dipus, denn Iokaste kçnnte von Anfang an wissen, mit wem sie es zu tun hat. Tatschlich heiratet 29

sie in dem mittelalterlichen »Roman de Thbes« eines unbekannten Autors wissentlich den Mçrder ihres Mannes und damit ihren Sohn. Allerdings erkennt sie ihn erst spter an seinen Fußnarben auch als ihren Sohn. Bei Voltaire gibt Iokaste unumwunden zu: »So hatte Laios rechte hnlichkeit mit Euch. Und ich war glcklich, ihn in Euch zu finden. Die Tugenden nicht nur, nein, auch die Zge meines Gatten.«

Iokaste ehelicht einen wesentlich jngeren Mann und msste auf dessen Fußnarben aufmerksam werden, falls sie ihren Mann wirklich als Person wahr- und ernst nimmt. Doch die beiden erkennen sich nicht als das, was sie sind. In merkwrdiger Blindheit freinander leben sie aneinander vorbei. Sie scheinen sich keine Fragen zu stellen, die sofort auf die tragische Verstrickung aufmerksam gemacht htten. Im allegorischen Sinn handelt es sich um ein Paar, das kaum Reprsentanzen, also Bilder und Vorstellungen vom Gegenber entwickelt. Jeder der beiden bleibt so fr sich in seiner Welt. Das, was die Tiefe der Liebe ausmacht, das Wahrnehmen und Erkennen des geliebten Anderen, findet in ihrer Beziehung nicht statt. hnlich wie in Iokastes erster Ehe mit Laios mangelt es an Intimitt, dieses Mal jedoch an psychisch-intimer Nhe, nicht jedoch an sexueller, denn immerhin haben die beiden vier Kinder miteinander. dipus kommt an den Ort zurck, von wo er einst kam: nach Theben. Aber er kehrt auch dorthin zurck, wo er buchstblich herkam: in den Schoß seiner Mutter. Sie, die ihn verriet und verstieß, hat ihn nicht losgelassen, die Ablçsung von ihr misslingt. Das ist allerdings nur mçglich, wenn es keinen realen Partner der Mutter gibt oder allenfalls einen, der psychisch keine Prsenz zeigt. Andernfalls wrde der Vater seinem Sohn bei der Ablçsung zur Seite stehen. Nicht unbedingt immer bequem, weil er Anspruch auf die Mutter erhebt und damit beide nicht nur ein Elternpaar, sondern auch ein Liebespaar sind. Der Weg zurck ist dann verstellt. Doch Iokaste und Laios waren kein Liebespaar, Laios begehrte seine Frau nicht. Die Doppelfunktion, die Eltern 30

ausben, indem sie immer wieder rasch zwischen der Rolle des Elternteils und des Liebespartners hin- und herwechseln, findet ihren konkreten Ausdruck in der doppelten Bedeutung des Schoßes. Aus ihm kam dipus, und ihn htte ein Liebespartner begehrt. Diese zweite »Stelle« ließ Laios unbesetzt und erçffnete damit die Mçglichkeit, dass dipus beide Positionen zu besetzen sich anschickt. Nach traditioneller psychoanalytischer Auffassung kommt es erst im Laufe der kindlichen Entwicklung zur so genannten Triangulierung, das heißt, der Vater tritt zwischen die ursprnglich symbiotische Mutter-Kind-Dyade. Diese Vorstellung frçnt jedoch einem konservativen Rollenverstndnis, bei dem der Vater sich erst fr die grçßer werdenden Kinder zu interessieren beginnt, nicht jedoch von Anfang an bei Versorgung oder Interaktion mit dem Sugling prsent ist. Auch die unterstellte idealtypische Symbiose lsst sich durch die Suglingsforschung nicht besttigen. Vielmehr unterscheiden Suglinge von Anfang zwischen sich, der Mutter und dem Vater. Mithin beginnt bereits ein Neugeborenes rudimentr Beziehungen zwischen sich und der Umwelt, Vater, Mutter und Geschwistern auszubilden und innerlich als Vorstellungen (so genannte Reprsentanzen) abzubilden. Im weiteren Verlauf realisiert das Kleinkind, das von ihm unabhngige Beziehungen zwischen den einzelnen Personen untereinander bestehen. Triangulierung findet demnach von Anfang an statt, jedenfalls wenn die Entwicklung nicht pathologisch verluft, weil die Beziehungen der Familienmitglieder pathologisch sind. Bei gnstiger Entwicklung kann sich ein Kind schlecht dauerhaft an die Seite von Vater oder Mutter als gegengeschlechtlicher Partner phantasieren und sich verhalten, als htte es auch in dieser Hinsicht Anspruch auf das Elternteil.

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Dritter Exkurs: Die Mutter als Partner oder die Wahl eines mtterlichen Partners Was im Einzelnen die Zuschauer der Antike whrend der Auffhrung des Stcks empfanden, wie sie es verstanden und worauf sie es – außer auf die aktuelle politische Lage der Stadt – noch bezogen, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Darstellung des Alltags und seine knstlerische Verarbeitung, besonders jener, die nicht im Besitz von Macht und Einfluss sind, sind ein Neuzeitphnomen. Und selbst wenn uns solche berlieferungen vorlgen, wrde uns dies nicht von der Notwendigkeit einer eigenen Stellungnahme zum historischen Material entbinden. Dass es bis heute so viele Neubearbeitungen erfuhr, zeigt, wie lebendig die Inhalte des Mythos sind und wie zeitlos oder interpretierbar er bleibt. Allegorisch verstanden heiratet dipus nicht seine leibliche Mutter. Er bleibt bei ihr oder kehrt zu ihr zurck – vielleicht noch nicht einmal zu seiner wirklichen Mutter. In diesem Sinne heiraten nicht nur viele Mnner ihre Mtter, sondern suchen auch viele Frauen in der Partnerschaft mtterlichen Schutz und vterliche Sicherheit. dipus’ Wanderschaft fhrt ihn zwangslufig in die Arme einer Frau, die ihm mehr und mehr zur Mutter wird – wohin auch immer er sich wendet. Sein frhes Trauma lsst ihn unbewusst nach mtterlicher Geborgenheit suchen, die er in den Armen einer Partnerin nicht finden kann und die eine erwachsene Liebesbeziehung nicht zulsst. Dass er dies nicht sehen kann und blind bleibt, was seine Suche nach Rckkehr zum mtterlichen Schoß angeht, macht diese Zwangslufigkeit gerade aus. Dies alles nicht sehen und erkennen zu kçnnen, bedingt den so genannten Wiederholungszwang, der erst endet, wenn Erkenntnis unbewusster Bedrfnisse und Wnsche den Raum fr eine bewusste, selbst bestimmte Wahl çffnet. dipus ist von Anfang an ein Ausgestoßener, ein Kind, das vom Vater unerwnscht ist und von seiner Mutter verraten. Als Mdchen wre er vielleicht willkommen gewesen, mindestens eine geringere Bedrohung fr seinen Vater. Doch als der, der er ist 32

und wird, bedroht er seinen Vater, schmeichelt jedoch seiner Mutter durch ihren nchtlichen Triumph, als sie den Vater trunken machte und verfhrte. Als Person zhlte dipus weder fr Vater noch fr Mutter; fr diese ist der Sohn Ausdruck ihres Sieges ber den schwachen Vater, fr jenen Zeichen seiner nchtlichen Schwche. Konsequenterweise entledigt man sich des Neugeborenen auf besonders grausame Art. Der darin zum Ausdruck kommende Sadismus des Laios stellt eine weitere Anspielung auf seine pdophilen Neigungen dar, die bei Chrysippos ebenfalls mit massiver Gewaltausbung einhergingen. dipus bleibt daher die lebenslange Sehnsucht nach unbedingter Aufnahme, wie er sie im Mythos durch Polybos und Merope erfuhr. Seine zweiten Eltern freuen sich an ihm, doch es bleibt ihm der Stachel, primr unerwnscht gewesen zu sein. Die unerbittliche Rivalitt mit seinem Vater bindet ihn zwangslufig an seine Mutter oder ihre aktuellen Reprsentanten. Ist der Vater nmlich schwach und wenig prsent oder umgekehrt sadistischbedrohlich, so ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit ihm kaum mçglich und damit auch die identifikatorische bernahme mnnlichen Verhaltens kaum erreichbar.14 dipus sucht stattdessen zeitlebens die mtterliche Geborgenheit, die er zu Anfang seines Lebens nicht fand und die ihn deshalb lebenslang gefangen hlt. Bei Iokaste glaubt er sie endlich zu finden. Denn unbewusst sucht er weniger die gleichaltrige Sexual- und Lebenspartnerin als die Kompensation fr sein frhes Trauma. Zahlreiche Partnerschaften beruhen auf dieser Dynamik. Der Partner soll Ersatz fr Verlorenes oder nie Erhaltenes bieten,

14 Diese Identifikation mit mnnlichem Verhalten differiert je nach Zeitgeist und soziokulturellen Einflssen, sie kann schichtspezifisch selbst in einer bestehenden Gesellschaft außerordentlich unterschiedlich sein. Entscheidend ist jedoch, ob berhaupt ein akzeptables Identifikationsangebot besteht. Die Attraktivitt der Identifikationsmçglichkeit besagt jedoch noch nichts darber, ob dieses Modell auch im Sinne einer sozialen Erwnschtheit fçrderlich ist. Tatschlich kann es sich um bildungs-, schicht- und kulturspezifische »Macho-Identifikationen« handeln, die besonders in den sozial abgedrngten, chancenlosen Milieus Attraktivitt gewinnen.

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Schutz vor der ngstigenden Welt und ihren Herausforderungen. Damit tritt der erotisch-sexuelle Charakter einer erwachsenen Partnerschaft zugunsten der Befriedigung kindlicher Versorgungswnsche in den Hintergrund oder verschwindet ganz. Zwar wird jeder Liebende in den Armen seines Partners auch immer mal wieder zum schutzbedrftigen Kind, tankt Kraft und Hoffnung in Zeiten persçnlicher Bedrngnis oder beide teilen ihre gemeinsame Not miteinander. Doch bleibt die erwachsene Liebe mit erfllter Sexualitt nur erhalten, wenn es dem Paar immer wieder neu gelingt, vom Kind zurck zum Erwachsenen zu finden und die zeitweilige Regression begrenzt zu halten. Und Iokaste? Im Mythos weiß oder ahnt Iokaste, je nach Textbearbeitung, wen sie vor sich hat. Und natrlich wissen auch viele Mnner, die eine Kindfrau heiraten, oder umgekehrt Frauen, die einen großen Jungen ehelichen, dass die Partnerin oder der Partner der emotionalen Reife und Stabilitt entbehrt. Gewhlt wird somit keine wirklich erwachsene Partnerin, sondern jemand, die einem unterlegen ist, wodurch die Herausforderung vermieden wird, von der Partnerin gesehen und erkannt und mit fçrderlichen wie fordernden Fragen konfrontiert zu werden. Iokaste heiratet zweimal. Und beide Mnner – Vater wie Sohn – sind ihr nur zum Teil gewachsen. Laios frchtet sich vor der Sexualitt mit dem leidenschaftlichen Weib, dipus ist ihr um wohl zwanzig Jahre Lebenserfahrung unterlegen. So getrauen sich im Mythos alle drei nicht, einen Partner, der ihnen auf Augenhçhe begegnet, zu whlen. Sich in einen Menschen mit Format zu verlieben, der einem gewachsen und immer auch in manchen Bereichen berlegen ist, wie man selbst umgekehrt auch, ist die große Chance einer Partnerschaft – und ihre grçßte Herausforderung (vgl. auch Hilgers, 2001). In einer ebenbrtigen Partnerschaft spiegeln sich beide wechselseitig – das heißt, sie werden fr sich selbst im Auge des Anderen erkennbar. Doch das setzt intensive wie intime Auseinandersetzung miteinander voraus: Wie ist es mçglich, dass dipus entweder den Orakelspruch verschweigt oder umgekehrt Iokaste ihn ignoriert und nicht auf sich bezieht? Wie ist es denkbar, dass Iokaste nicht von Anfang an dipus’ Verwundung an seinen Fer34

sen sieht und ihn danach befragt, um sofort zu erkennen, wen sie vor sich hat? Wie kommt es, dass beide eine Partnerschaft mir großem Altersunterschied unterhalten, ohne dass sofort Fragen nach dem Woher und Wohin aufgeworfen sind? dipus und Iokaste bleiben einander fremd – bis zum Schluss, wo sie sich begegnen, doch diese Begegnung endet in der Katastrophe. Im Moment, wo sie einander am nchsten sind und sie erkennen, dass sie ein Schicksal miteinander teilen, endet ihre Beziehung. Doch dass ist bei jedem Paar der Augenblick, wo sich Idealisierung, Verliebtheit und Schwrmerei in tiefe Liebe wandeln kann – sofern diese Begegnung mit dem Anderen und sich selbst ertragen wird. So bleiben Iokaste und dipus blind fr den Anderen und damit auch fr sich selbst. Diese Verblendung, das Nicht-Wahrnehmen des Anderen und der Beziehung zu ihm erspart die Dimension des Todes. Denn in jeder tiefen Liebe wchst die Erkenntnis, dass jede »ewige« Liebe einmal enden muss (Hilgers, 2001).

Iokastes unbewusster Schuldkomplex15 dipus kann in psychischer Hinsicht nur (s)eine Mutter heiraten. Doch was ist mit Iokaste? Sie hat eine alte Schuld abzutragen, die sie einst auf sich lud, als sie dipus verriet und sich der Aussetzung und Verstmmelung durch Laios nicht widersetzte. Zudem wusste sie durch den Orakelspruch von der tragischen Rolle, die, sollte sie einen Sohn gebren, dipus einnehmen wrde. Dieses doppelte Schuldgefhl bindet sie unbewusst an dipus, denn beide Schuldquellen sind durch nichts aus der Welt zu schaffen. Whrend dipus wegen des Aussetzungstraumas an seine Mutter gebunden bleibt, kann sich diese nicht abgrenzen, weil das ihre unbewussten Schuldgefhle noch steigern wrde. Ioka15 Den Hinweis auf die Schulddynamik der Iokaste verdanke ich Stefanie Conradt.

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ste kann sich nicht abgrenzen und ihrem Sohn Schmerzen zufgen, weil sie dies auf dem Hintergrund ihrer damaligen bçsen Tat auch aktuell als »bçse« erleben wrde. Wrde also Iokaste dipus als ihren leiblichen Sohn erkennen, msste sie sich auch mit ihrer persçnlichen Schuld und den Vorwrfen von dipus auseinandersetzen. Ihre Blindheit schtzt sie vor der unertrglichen Dramatik, die ein solches Aufeinandertreffen mit sich bringen wrde. Im bertragenen Sinn heiratet sie lieber ihren Sohn, als dass sie sich ihren Verfehlungen stellen wrde. Diese Schulddynamik ist fr viele Mutter-Kind-Beziehungen von erheblicher Bedeutung: Hufig erleben getrennt lebende, alleinerziehende Mtter ein Schuldgefhl gegenber ihren Kindern mit dem Kern, ihren Kindern »den Vater genommen zu haben«. Das schuldhaft erlebte Versagen bezieht sich auf die Trennung, die sich allein die Mutter anlastet, als ob der abwesende Vater auch in dieser Hinsicht nicht existierte. Hinter dem Schuldgefhl lauert demnach die unbewusste Grçßenidee, ganz allein fr die Partnerschaft und daher auch fr ihr Scheitern verantwortlich zu sein, womit der Vater fr alle Beteiligten depotenziert ist. Bei bestehendem Schuldgefhl der alleinerziehenden Mutter fllt es ihr schwer, ihren Kindern die erforderlichen Grenzen zu setzen und Forderungen zu stellen, da sie diese unbewusst als bçse und als weitere Schdigung ihrer Kinder erlebt. In der Folge kann es zu einer verwçhnenden Verwahrlosung kommen, also einem Mangel an angemessenen Zumutungen und einem Scheitern der Ablçsungsentwicklung. Insbesondere Sçhne laufen Gefahr, eine »çdipale« Beziehung mit ihren Mttern zu entwickeln, mit grenzenloser Ansprchlichkeit, Vermeiden von Zumutungen der Realitt und Haften an der Mutter. Beziehungen zum anderen Geschlecht werden dann in der Regel hnliche Muster aufweisen, also hohe Ansprchlichkeit und ein infantil-abhngiges Verhltnis zur Partnerin. Der resultierende Besitzanspruch der Mnner gegenber ihren Frauen kann in Gewaltttigkeit umschlagen, wenn das Liebesobjekt, das im Grunde als Teil der eigenen Person, jedenfalls nicht als eigenstndig erlebt wird, ein Eigenleben zeigt und sich manchen Forderungen verweigert. Neue Partnerschaften der Mutter werden unter diesen Bedin36

gungen schwierig, da die Mutter neben dem irrationalen Gefhl, ihren Kindern den Vater genommen zu haben, darber hinaus befrchten kçnnte, sie selbst entziehe sich ihnen nunmehr auch noch. Damit ist eine çdipale Verstrickung angelegt, da die Rollenkonfusion auf Seiten der Mutter hnliches auf Seiten der Kinder, besonders der Sçhne auslçst: Die klare Trennung zwischen der Rolle der Mutter gegenber den Kindern und jener der Liebhaberin gegenber einem neuen Partner fçrdert demgegenber die Abgrenzung zwischen Mutter und Kindern und schafft einen Anreiz fr diese, ihre Eigenstndigkeit außerhalb des Elternhauses weiterzuentwickeln. Nur unter solchen Bedingungen hat ein neuer Partner eine realistische Chance, seine Rolle in der Patchworkfamilie zu finden und den Kindern ein Erwachsener, nicht aber ein Vater, der Mutter hingegen ein Liebhaber, aber kein weiteres großes Kind zu sein.

Vierter Exkurs: Der Kampf der Generationen Nicht nur, dass Kinder ihre Eltern mit der Realitt von Endlichkeit und Tod konfrontieren. Dieser Schmerz ist einstweilen abstrakt und scheint in weite Ferne gerckt. Das Leid konkretisiert sich, je mehr die Kinder autonom werden und ihrer eigenen Wege gehen – jedenfalls, sofern die Eltern dies zulassen. Zunchst scheinen Suglinge oder Kleinkinder ihre Eltern zu verjngen. Die eben erst zurckgelassene Jugend kehrt zurck: Wer einen Kinderwagen schiebt, erscheint sich selbst und anderen geradezu unverschmt jung oder mag dies zumindest von sich glauben. Kein Wunder, dass Großeltern gelegentlich – wenigstens tagsber, wenn man von jedermann gesehen wird – gern das Steuer von Buggy oder Kinderwagen bernehmen. Je lter man ist, desto jnger fhlt man sich mit den Kleinsten. Mit Stolz wird Nachwuchs daher prsentiert, selbst oder gerade, wenn es nicht der (unmittelbar) eigene ist. Doch wo eben noch der Jungbrunnen entsprang, çffnet sich bereits im nchsten Moment die Perspektive auf Altenteil und Grab. Denn die sich rasant entwickelnden Kleinen beginnen mit 37

dem ihnen eigenen Charme, die Altvorderen zu berholen und in den Schatten zu stellen. Kçrperliche Leistungskraft, motorische Fhigkeiten, Auffassungsgabe und Reproduktionsfhigkeit bersteigen flugs den noch eben mit lssiger Selbstverstndlichkeit berlegenen Erwachsenen, der alsbald nur noch auf den Schatz seiner Erfahrungen, nicht mehr aber auf Kçrperkraft oder Lernfhigkeit zurckgreifen kann. Nun gilt es, mit den ehemals Kleinen zu konkurrieren. Eigenes Alter wird nirgends sichtbarer als im Spiegel des straffen und faltenlosen Gesichts des eigenen Nachwuchses. Eigene Kniegelenke schmerzen besonders angesichts der Elastizitt der Sprçsslinge, anwachsende Attraktivitt der Jungen korrespondiert mit sinkender Anziehungskraft der lteren. Das Leben neigt sich. War man eben noch jung, so ist man heute bereits alt. Die Kinder klein zu halten, sie in ihrer wachsenden Selbstndigkeit nicht zu fçrdern, sondern ihre Schritte weg von den Alten zu behindern, kann ein probates Mittel sein, sich weiterhin Jugend vorzugaukeln, indem der Schmerz ber das Verlassenwerden vermieden wird. Tatschlich reagieren viele Eltern mit angemessener Trauer oder einer Depression, wenn sie von ihren Kindern »verlassen« werden und damit der Blick auf das Alter frei wird. Allerdings bietet sich auch die Chance, neue – wenn auch wesentlich begrenztere – Lebensziele zu entwickeln. Die mçgliche Einsamkeit des Alters ist besonders bedrohlich, weil immer mehr Ehen scheitern und Alleinerziehende hufig ohne festen Partner zurckbleiben. Heranwachsende an sich zu binden, sie mit latenten Schuldvorwrfen zu fesseln oder durch Verwçhnung ihre Ablçsung zu blockieren, ist eine Variante des antiken Mythos: Iokaste lsst ihre Kinder nicht ziehen, sie ist mit ihnen »verheiratet«, psychosexuelle Intimitt der Kinder ist durch die bergroße Nhe zur Mutter blockiert. Fehlt der Vater physisch oder zeigt er wenig Prsenz (wie Laios, der Iokaste nicht begehrte), mangelt es an Triangulierung, also der trennenden und entwicklungsfçrdernden Funktion des Vaters, der seine Frau immer wieder in der Rolle der Liebhaberin einfordert und damit Kindern den Weg zurck in Mutters Schoß versperrt. 38

Naheliegend, den Kindern und den nachfolgenden Generationen berhaupt ihre Vorteile zu neiden. Wo die Angst vor dem Altern besonders groß und daher der Neid in Feindseligkeit umschlgt, werden Kinder und die Jungen schlechthin in ihrer Autonomieentwicklung behindert. Der Jungendkult und die Leugnung des Alters korrespondieren in der Bundesrepublik mit beispielloser Vernachlssigung von Schule und Ausbildung, Krippenpltzen und Freizeitgestaltungsangeboten. Die Alten durchbohren die Fesseln der Jungen und setzen sie in der Wildnis von Ausbildungsmisere und çdem Schulalltag aus. Die Pisa-Studie und ihre Nachfolger, zum Beispiel ber Bildungschancen von Migranten, kçnnen auch als Beleg der Attacken der Alten auf ihre Nachkommen gelesen werden.16 Angesichts des Jugendkults mssen die lteren das Alter tatschlich frchten, wenn sie jenseits der Fnfzig, meist aber bereits weit davor keinerlei Chance auf dem Arbeitsmarkt mehr haben und von den Jungen aus dem Weg gedrngt und erschlagen werden. Der Kampf der Generationen ußert sich in wechselseitiger struktureller Geringschtzung: Werden die Jungen whrend der wichtigsten Jahre der Selbstentwicklung durch strukturelle Verwahrlosung der Schul-, Ausbildungs- und Universittssysteme geradezu bekmpft, rcht sich diese Misshandlung, sobald die Jungen doch trotz aller Widrigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben und sodann die Alten verdrngen.17 Der strukturelle Kampf der Generationen setzt sich fort, weil die Versorgung der Alten durch die Pflegeversicherung geradezu

16 Unmittelbar nachdem die Pisa-Studien Aufsehen erregten, berichteten mir meine Sçhne aus ihrem Gymnasium, einzelne Lehrer wrden sich die Ergebnisse so zurechtlegen, dass deutsche Schler besonders dumm oder lernverweigernd seien. Diese Interpretation sei ihnen von eifernden Lehrkçrpern in Form von Beschimpfungen prsentiert worden. 17 Die im Jahre 2006 eingefhrten Studiengebhren sind ein weiterer Beleg fr die Hrden, die einem erfolgreichen Start ins Leben in den Weg gestellt werden und die als Schuldenlast eine weitere Behinderung der Jungen darstellen. Konsequenterweise mssen daher die Jungen bemht sein, mçglichst rasch die Karriere- und Gehaltsleiter emporzusteigen – was wiederum zur Verdrngung der Alten fhrt.

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lcherlich unterfinanziert ist. Mithin fallen die Alten den Jungen zur Last und behindern sie erneut, weil große finanzielle Lasten oder die Preisgabe von Wirtschaftsgtern wie dem eigenen Haus zu befrchten sind. Und da auch die angesparte Altersversorgung der Jungen vor diesen Zugriffen des Staates zugunsten der Pflegebedrftigen nicht grundstzlich sicher ist, bertrgt sich das Problem bereits wieder auf die Enkelgeneration. Strukturelle Gewalt schafft Feindseligkeit auf der persçnlichen Ebene und ist geeignet, familire Beziehungen zu zersetzen. Wer starke finanzielle Einschrnkungen wegen der Unterhaltspflicht gegenber pflegebedrftigen Angehçrigen erleidet, wird dies nicht unbedingt mit einer Steigerung seiner Zuneigung quittieren. Latente Vorwrflichkeit, weil nicht ausreichend vorgesorgt wurde oder diese Mçglichkeit auch gar nicht bestand, kann in offene Feindseligkeit oder Misshandlungen pflegebedrftiger Menschen umschlagen. Der Zwang, die eigenen Eltern »zu Tode zu pflegen«, um nicht ruinçse Zahlungen leisten zu mssen, stellt eine unertrgliche Belastung fr die Beziehung zu den Alten wie auch innerhalb der Kernfamilie dar, die hufig selbst Schaden nimmt. Umgekehrt erleben die Pflegebedrftigen Scham wegen ihrer demtigenden Position und Schuldgefhle wegen der Belastung, die sie fr die zahlenden Angehçrigen darstellen. Das Politische ist privat: Das jahrzehntelange Versumnis von Renten- und Sozialpolitikern, ausreichende finanzielle Reserven fr die Pflege zu schaffen, fhrt zur schweren Belastung persçnlicher Beziehungen zwischen den Generationen. Hufige Folge ist die Verelendung von Familien, denen nur die Wahl zwischen erheblichen finanziellen Einbußen oder einer Art Zwangspflege fr ihre Angehçrigen bleibt. Am Ende geraten Familie und Ehe in Gefahr, weil die Anwesenheit eines Angehçrigen, mit dem es in der Vergangenheit natrlich auch mehr oder weniger ausgeprgte Konflikte gab, eine schwere emotionale Belastung der Familie darstellt. Am meisten leiden darunter wiederum die Kinder – womit sich der Generationenkonflikt erneut fortsetzt.

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dipus, Herrscher ber Theben dipus zeigt sich als weiser und gtiger Herrscher und wird von den Brgern verehrt. Die Stadt blht auf, bis die Pest ber Theben hereinbricht. An dieser Stelle setzt die berhmteste Bearbeitung des Mythos durch Sophokles ein, fast wie in einem Krimi, bei dem immer wieder Retrospektiven eingeblendet werden. dipus fragt seine Brger, was sie betrbt, als sie ihn um Hilfe bitten. Das erstaunt, denn ein gtiger Herrscher msste ber eine bereits lnger whrende Plage wie die Pest bestens informiert sein und daher wissen, was seine Leute bedrckt. dipus wird verehrt und idealisiert und ist damit entrckt von den alltglichen Nçten. Er sitzt quasi auf dem Felsen der Sphinx, abgerckt und blind fr das Verhngnis seiner Stadt. Man muss ihn erst bitten, sich um die Beseitigung der Pestilenz zu kmmern, als ob er nicht von allein darauf kme oder bisher das Unheil nicht wirklich ernst genommen htte. Diese so genannte belle indiff rence, die schçne Leichtigkeit, mit der Schicksalhaftes quittiert wird, ist Kennzeichen einer Persçnlichkeit, die in Anlehnung an den Mythos als hysterisch-çdipal bezeichnet wird. Menschen mit hysterisch-çdipaler Struktur haben ein Defizit, sich in andere wie auch in sich selbst einfhlen zu kçnnen. Stattdessen imponieren sie durch Posen und Gesten, die wie »gemacht« erscheinen, weshalb sie unauthentisch in ihrer bertriebenen Selbstdarstellung wirken. dipus: O Kinder, junger Nachwuchs ihr vom alten Stamm Des Kadmos, warum lagert ihr hier eng gedrngt Im Schmuck der Zweige, die in euren Hnden flehn; Dieweil von Duft des Rucherwerkes voll die Stadt, Voll von Gebeten und von Weheklagen voll? Weil ich den Grund von alledem aus keinem Mund Als eurem hçren wollte, Kinder, kam ich selbst, Ich, dipus, den jeder den Erlauchten nennt. (Zum Priester) Drum sprich, o Greis, denn wohl geziemt es dir, das Wort Fr sie zu fhren; welche Bewandtnis hat’s mit euch? Ist’s Furcht, ist’s Not, was euch zu mir treibt! Gern bin ich

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Bereit zu helfen. Traun, unmenschlich wr’s, blieb ich Beim Anblick eurer Bittversammlung ungerhrt. (Sophokles, Kçnig dipus, S. 25)

Wir erleben einen selbstbezogenen dipus, der sich in Posen wirft und als vterlicher Herrscher gefllt (in Wahrheit aber der ewige Sohn ist). In seiner Eitelkeit erkundigt er sich mit bertriebener Sorge nach den Nçten seines Volkes, die er lngst kennen msste. Geradezu obszçn ist die Frage nach Rauch, Gebeten und Wehklagen angesichts des tçdlichen Leids einer von der Pest heimgesuchten Stadt. dipus benutzt die Not seiner Untertanen, um sich als gtiger Herrscher zu zelebrieren und sich Besttigung zu erheischen, statt einfach das Naheliegende zu tun und zu erklren, dass er wisse, was sein Volk qult. Irgendwo hinter der possenhaften Fassade liegt die Wahrheit. Doch durch die falschen Affekte, die dipus darstellt, aber nicht authentisch erlebt, soll gerade von der Wahrheit abgelenkt werden. Denn der hysterische Mensch tuscht vor allem die selbstkritischen Instanzen seiner selbst, er inszeniert sich, um sein ber-Ich zu beschwichtigen: »Dieser ehemals ußere Konflikt spielt sich jedoch im Wesentlichen auf einer inneren Bhne intrapsychischer Konflikte ab, wobei der prominenteste Zuschauer das ber-Ich ist« (Mentzos, 1980, S. 56 f.). So auch dipus, denn er weiß natrlich, dass Katastrophen, Seuchen oder Ungeheuer zu seiner Zeit den Griechen als Strafe der Gçtter galten, weshalb man sich auf die Suche nach dem Frevel zu begeben hatte, notfalls, indem man sich an das Delphische Orakel wandte. dipus lsst also – reichlich spt – Rat in Delphi einholen. Warum aber so lange warten oder zçgern? Eben weil Heimsuchungen wie die Pest als Strafe der Gçtter galten, wre es naheliegend gewesen, sich sehr bald auf die Suche zu machen. dipus erscheint weder sonderlich berhrt von Leid und Tod seiner Brger noch umgekehrt besonders erpicht auf rasche Aufklrung. Das ndert sich erst, als man ihn massiv auf die Not, die in seiner Stadt herrscht, aufmerksam macht. Jetzt erst zeigt sich dipus geradezu theatralisch an der Klrung des Geheimnisses interessiert und macht sich mit großer Geste das Schicksal seiner Leute zu eigen. 42

Verblendung, ein blinder Seher und die dritte Weissagung des Orakels Der Bote erfhrt von der Pythia in knappen Worten, man solle Laios’ Mçrder aus der Stadt vertreiben. Davon in Kenntnis gesetzt verflucht dipus in seiner Theatralik den Mçrder des Laios auf ewige Zeiten – Zeichen seiner Ratlosigkeit angesichts des delphischen Spruchs, auf den er keine Antwort weiß oder wissen will und den er daher mit Aktionismus beantwortet. Doch die imposante Pose fllt schon bald auf ihn selbst zurck. So ruft dipus nach Teiresias, dem blinden Seher, der in seiner Blindheit sowohl enorme Fhigkeiten wie eben auch Behinderung verkçrpert: Teiresias sieht, wo andere blind bleiben. Faszinierende (All-)Macht der Propheterie ist mit ohnmchtiger Behinderung gepaart. In der Gestalt des Teiresias trifft dipus also erneut auf das Motiv der Großartigkeit und Unbegrenztheit, hnlich wie bei der Sphinx, und auf seine Kehrseite, nmlich menschliche Schwche und Gebrechlichkeit, die bereits die Sphinx thematisierte, dipus jedoch geschickt abwehrte. Zudem wird ber Teiresias berichtet, er habe einst zwei sich paarende Schlagen gestçrt, indem er die weibliche mit einem Stock verletzte oder gar tçtete. Daraufhin wird er in eine Frau verwandelt. Nach sieben Jahren wiederholt sich der Vorgang und er erhlt sein mnnliches Geschlecht zurck. Teiresias verfgt demnach als geradezu einzigartiger Mensch ber eine alle Grenzen des Menschseins sprengende Erfahrung, denn er kennt persçnlich beide Geschlechterrollen. Teiresias ist gleich der Sphinx ein Mischwesen, allerdings im Unterschied zur ihr sukzessiv, nicht gleichzeitig. Zeus und Hera wollten einst seine Erfahrung nutzen und von ihm wissen, wer denn – Mann oder Frau – beim Sex mehr Genuss erlebe. Teiresias antwortete, von zehn Anteilen der Lust entfielen neun auf die Frau und einer auf den Mann. Daraufhin blendete Hera ihn im Zorn.18 Zeus verleiht ihm jedoch als Ent-

18 Es bedrfte wohl eines eigenen Buches, um die emotionalen Reaktionen der

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schdigung fr die Blendung durch seine Frau die Sehergabe und außerdem ein sieben Mal lngeres Leben als es normalen Menschen gegeben ist.19 Teiresias transzendiert somit sowohl geschlechtliche Begrenztheit als auch (Lebens-)Endlichkeit. Doch auch den Schlangen kommt im Kontext menschlicher Sterblichkeit besondere Bedeutung zu: Zeus tçtete einstmals Asklepios, den griechischen Gott der Heilkunde, dessen Attribut ein von einer Schlange umwundener Stab war.20 Zeus frchtete nmlich, dass Asklepios die Menschen dem Tod fr immer entreißen kçnnte und sie sodann – den Gçttern gleich – unsterblich wrden. Mit diesen deutlichen Anspielungen auf menschliche Grçßenideen und Trume ist dipus also durch die Begegnung mit Teiresias konfrontiert. Dieses Hintergrundwissen hatten natrlich die Figur des dipus, der Verfasser Sophokles und die Zuschauer der Antike – im Gegensatz zu heutigen Rezipienten. Damit waren den attischen Theaterbesuchern Zusammenhnge und Anspielungen deutlich vor Augen gebracht, denn Stck und Protagonisten bewegten sich in der Tradition allseits bekannter mythologischer Bedeutungen.

griechischen Gçtter zu analysieren. Hera frchtet offenbar Zeus’ Neid und ist zornig, dass sie – stellvertretend fr alle Frauen – mit ihrem sexuellen Vorteil gegenber dem mnnlichen Geschlecht von Teiresias bloßgestellt wird. Wie so hufig, wenn die griechischen Gottheiten den Menschen heikle Fragen stellen, zieht ihre Beantwortung affektive Durchbrche mindestens einer Gottheit nach sich. Der Mangel an Fairness korrespondiert mit emotionaler Instabilitt, etwa wie bei einer Borderline-Persçnlichkeitsstçrung. Die antiken Gçtter sind von Affektstrmen geschttelt, reagieren mit Kontrollverlusten, Impulsdurchbrchen und mehr oder weniger primitiven Affekten. Whrend der Olymp einer offenen psychiatrischen Station fr emotional instabile Persçnlichkeitsstçrungen mit histrionischen Anteilen hnelt, zeigen sich die von den Gçttern existentiell abhngigen Menschen oftmals reifer – jedenfalls sofern man den Olymp nicht als gigantische Projektion unbewusster menschlicher Konflikte versteht. 19 Eine andere Version berichtet, er habe seine Blindheit zur Strafe von Pallas Athene erhalten, weil er sie nackt beim Bade beobachtete. Als Entschdigung verleiht ihm Athene die Fhigkeit, die Vogelsprache zu verstehen. 20 Das lateinische Pendant ist der Gott Aesculapius, daher das Wahrzeichen der Medizin, der skulapstab mit der Schlange.

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Teiresias aber zçgert mit seiner Offenbarung und mçchte weder sich noch dipus belasten. Teiresias: Weh, weh, es wandelt die Erkenntnis sich in Fluch, Wo uns nicht frommt Erkenntnis! Ach ich wußt’ es wohl, Und doch vergaß ich’s; denn wie kam ich sonst hierher? (Sophokles, S. 35)

Doch dipus insistiert. Als Teiresias sich standhaft weigert, die Wahrheit ans Licht zu bringen, scheitert dipus erneut an der Akzeptanz einer – wenn auch mßig schmerzvollen – Grenze, die angesichts dessen, was ihm im nchsten Moment offenbart wird, geradezu milde erscheinen muss. Teiresias: Kein weitres Wort mehr red’ ich, strmst du noch so sehr In leidenschaftlicher Erregung zorn’gen Muts. dipus: Wohlan, so red’ ich ohne jeden Rckhalt denn In meinem Zorn! Wisse, dich hab’ ich im Verdacht, dass du, verbtest du ihn gleich nicht, doch die Saat Des Mordes ausstreun halfest. Ja, wrest du nicht blind, Die Tat auch legte einzig ich nur dir zur Last. (Sophokles, S. 36)

Angesichts der Verweigerung des Teiresias, die Wahrheit zu offenbaren, reagiert dipus mit maßlosem Zorn und paranoiden Durchbrchen: Keine Grenze, kein Einhalten hinnehmend oder Besinnen akzeptierend, rast dipus im eitlen Zorn gegen Grenzen und Beschrnkung schlechthin an und bleibt seinem lebensgeschichtlichen Konflikt damit treu. Und genau an dieser Stelle erfhrt er seine furchtbare Eingrenzung, die all seine Großartigkeit mit einem Schlag zu zerstçren geeignet ist. Doch dafr bedarf es erst seiner provokanten Raserei. Dabei versagen dipus grundlegende Ich-Funktionen wie Urteilsbildung und Integration von Widersprchen, im vorliegenden Fall die Zusicherung von Straffreiheit fr Teiresias, die er ihm gewhrt, doch im nchsten Moment wiederum diametral in Abrede stellt. dipus befindet sich in einem affektiven Ausnahmezustand, weil mit einem Mal doch Grenzen standzuhalten scheinen. Teiresias jeden45

falls reagiert auf die massive Provokation seinerseits zornig mit der Offenbarung. Teiresias: Ha, wirklich? Nun, so heisch’ ich jetzt von dir, dass du Von Stund an, treu dem eigenen Verbot, kein Wort Mit diesen hier mehr redest, noch mit mir, denn du Du selbst begingst den Frevel, der dies Land entweiht. ... dipus: Nur halb verstand ich’s. Darum wiederhol’ es nur. Teiresias: Der Mçrder, dem du nachsprst, sagt’ ich, bist du selbst. dipus: Nicht ungestraft schmhst du mich so ein zweites Mal. Teiresias: Sprech’ ich noch weiter, weck’ ich deinen Zorn noch mehr? dipus: So viel du willst. Du redest doch nur in den Wind. Teiresias: So wiss’, verruchten Umgang pflegst du ahnungslos. Mit deinem Nchsten, hufst verblendet Greul auf Greul. dipus: Und whnest du, du sprchst das alles ungestraft?

Selbstmitleidig sieht sich dipus nun als Opfer einer Verschwçrung durch seinen Schwager Kreon. dipus: Stammt dieses Hirngespinst von Kreon oder dir? Teiresias: In Kreon nicht, in dir such deines Unheils Quell. dipus: O Reichtum, Herrschermacht, o hçchsten Scharfsinns Kunst, Die du obsiegst im bunten Treiben dieser Welt, Wie heftet sich an deine Fersen doch der Neid! So trachtet aus der Herrscherwrde, welche mir Aus freien Stcken als Geschenk die Stadt verliehn, Kreon mich zu verdrngen – o, des alten Freunds, Des treubewhrten! – insgeheim mit arger List; Und stiftet mir den Rnkeschmied da, den Gaukler an. Den schlauen, der wo’s was zu ergattern gibt, Scharfsinnig, aber blind ist in der Seherkunst. Denn sprich, wann hat sich dein Prophetengeist bewhrt? Warum sprachst damals das Erlçsungswort du nicht Der Stadt, als hier das Ungetm sein Rtsel sang? Dies Rtsel zu erraten war doch Sache nicht Des ersten besten, hier bedurfte es der Seherkunst. Doch dass du solche nicht besaßest, dass kein Gott,

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Kein Vogelflug sie dich gelehrt, das ward jetzt klar. Da kam ich, der von nichts ich wusste, dipus, Und bndigte durch meines Geistes Kraft – ich braucht’s Nicht erst zu lernen aus der Vçgel Flug – die Sphinx. Und nun betreibst du meinen Sturz, rechnest drauf, dass Du dann dem Thron des Kreon nher stehen wirst. Wenn du dich da nur nicht verrechnest, du und der Dies angestiftet. Schonung b’ ich mit dem Greis, Sonst bßest du mir bitter deinen bermut.

Bevor der blinde Teiresias abgeht, gefhrt von einem Knaben, wie alsbald auch der selbst geblendete dipus an der Hand seiner Tochter Antigone, wiederholt er noch einmal seine Aussage und treibt sie mit den Worten auf die Spitze: In welchen Port der Ehe du, darin dein Schiff Zerschellen muss, mit vollen Segeln einliefst. Du Jedoch ermisst die Flle deines Jammers nicht, Wie du dein Vater, Bruder deiner Kinder bist. Wie auch Kreon schmhst, und in den Staub herab Mein Wort ziehst, doch fllst dem Verderben du, fllst ihm Entsetzlicher als je ein Sterblicher anheim.

Die Zuschauer teilen whrenddessen die Perspektive der Gçtter des Olymp. Wir sehen und wissen, was jener nicht weiß oder nicht wissen will, sehen die tragische Verstrickung, in der er sich befindet und deren grausames Ende er gerade durch sein Vermeidungsverhalten abzuwenden trachtet, jedoch eben deshalb herbeifhrt. Doch anders als die Gçtter haben wir das Rnkenetz nicht geschmiedet. dipus, der Held, ist lngst zur Marionette der Gçtter geworden oder war es schon immer, derweil diese sich an seinem Schicksal delektieren. Doch wenn es keine Gçtter gibt? Niemanden auf dem Olymp oder anderswo, der sich seinen sadistischen Spaß an einem verzweifelten Menschen macht, der – unrettbar – seinem Schicksal zu entrinnen trachtet, doch immer aussichtsloser wie eine Fliege im Netz an ihm haftet? Wenn wir, wie Freud, keine Gottheiten anerkennen, was ist es dann, was dipus ins Verderben rennen lsst? 47

Verblendung, Verfolgungsideen und verbotene Hybris Chor: . . . Denn sie hçhnen schon als nichtig, spotten schon des Gçtterwortes Das an Laios einst ergangen; Weigern Phoibos21 schon die Ehre, ja schon schwindet Alle Furcht hin vor den Gçttern. (Sophokles, S. 56)

Doch dipus wittert Verrat, glaubt sich von Verschwçrern umzingelt. Kreon, so whnt er, habe den Seher Teiresias in umstrzlerischer Absicht empfohlen, um dipus zu Fall zu bringen und selbst die Macht zu erlangen. Zudem ist dipus berzeugt, in Kreon den wahren Mçrder von Laios vor sich zu haben. Es kommt zur Konfrontation zwischen Kreon und dipus, der unkorrigierbar an seiner wahnhaften Idee festhlt und Kreon wegen des vermeintlichen Verrats hinrichten lassen will. Kreon bleibt ruhig und preist die Vorzge, nicht Herrscher zu sein, aber verantwortungsvoll als Vertrauter von Kçnig und Volk Einfluss nehmen zu kçnnen. Kreon entwickelt einen Gegenentwurf zum hochfahrenden dipus, bescheiden und weise kennt und bejaht Kreon seine Grenzen, wie er zugleich seinen Einfluss und seine Macht zu schtzen weiß. Kreon: . . . Nicht also sprchest du, httest ruhig alles du Wie ich erwogen. Denn bedenke nur zunchst: Glaubst du, es wolle jemand lieber Kçnig sein In steter Furcht, als sorglos schlafen und dennoch Dieselbe Macht besitzen? Meine Art ist’s nicht, Den Namen eines Herrschers zu erstreben vor Der Macht, und also denkt ein jeder weise Mann. Jetzt schalt ich nach Belieben ohne Furcht; du bist Mein Schild. Wr’ selbst ich Kçnig, fhlte ich den Zwang. Drum schtz’ ich den Besitz der Kçnigswrde nie Hçher als ungetrbten Genuss der Herrschermacht.

21 Apoll(on), der Gott des Delphischen Orakels, wird oft Phoibos genannt.

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Ich bin nicht so verblendet, dass nach andrem Ziel Ich trachte, als nach Ehre, die mir frommen mag. Jetzt sieht mich gern ein jeder, beut mir gern den Gruß, Und wer ein Anliegen an dich hat, kommt zu mir. Denn nur von mir hngt seines Wunsches Gewhrung ab. Das alles gb’ ich um die Kçnigswrde preis? So tçricht handelt nimmer ein verstnd’ger Mann. Mein Sinn weiß sich von dem Beginnen wahrlich frei, Noch stnd’ ich einem andern bei zu solchem Tun. (Sophokles, S. 45 f.)

Doch dipus wtet weiter und hlt erst inne, als Iokaste erscheint und die beiden trennt. Kreon geht, nicht ohne treffend zu bemerken, »Naturen wie die deine, fallen stets zumeist sich selbst zur Last« (Sophokles, S. 48). dipus bleibt verfolgt von seinen rgsten Befrchtungen – dass der Orakelspruch sich doch bewahrheiten kçnnte –, nicht etwa von Umstrzlern. Doch die Verschwçrungsidee schtzt ihn vor der sich mit Macht wieder einstellenden Vergangenheit. Wie stets, wenn sich Politiker oder Prominente mit eigenem Fehlverhalten oder Schandflecken ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen, greift auch dipus zu einer wsten Verschwçrungstheorie, um von sich abzulenken. Und wie immer, wenn dies çffentliche Personen tun, geht es fr dipus zunchst vor allem darum, sich selbst zu berzeugen. Je rger die Pein ber Verfehlungen oder Makel in der eigenen Geschichte, desto grçßer der Lrm, mit dem von der eigenen Person ablenkt werden soll. Auffllig ist die Selbstgerechtigkeit, mit der dipus zu Werke geht und bei anderen, namentlich Kreon und Teiresias, das bel ausmacht, das ihn selbst betrifft. Nicht er, dipus, habe Laios erschlagen, sondern Kreon. Die Hybris, also die vermessene Selbstberschtzung, die den Griechen als besonderer Frevel galt, hat dipus erfasst. Es mangelt ihm an Selbstzweifel und Selbstreflexion. Scham- oder Schuldgefhle vermisst man, an ihre Stelle treten Beschuldigungen gegenber jenen, die die Wahrheit ans Licht bringen. Wann immer ein politischer Skandal aufgedeckt wird, kann man bei Politikern und ihren Parteien diese reflexartige Reaktion ausmachen. Lager- und Wagenburgmentalitten bestimmen das 49

Denken und Fhlen innerhalb der eigenen Gruppe, lediglich ußerer Druck fhrt zu Korrekturen oder Rcktritten, nicht aber Einsicht oder Betroffenheit. Und die Besessenheit, mit der dipus ber Kreon herfllt? Mit unbarmherziger Selbstgerechtigkeit saust das Schwert der Verurteilung auf vermeintliche Missetter herab, ganz hnlich wie bei jenen, die sich ihrer deutschen Vergangenheit mit Kriegsende entledigten und hernach andere geißelten, die sich ihrer Vergangenheit nicht stellten. Die Scham ber das Eigene wird in Schuldvorwrfe gegen andere verwandelt – eine Art Vergangenheitsberwltigung, die doch den ewigen Stachel der Unsicherheit, es kçnne ans Licht kommen, was verschwiegen wurde, im Gedchtnis belsst. Gnter Grass bekannte sich erst im Jahr 2006 zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Angesichts des Entsetzens ber sein sptes Eingestndnis meinte er, es sei wohl Scham gewesen, die ihn so lange habe schweigen lassen. Und die Verwandlung dieser Scham in unerbittliche Vorwrfe war es wohl auch, die ihn so sehr zum Frsprecher der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit und ihrer Protagonisten machte – so lange das alles nicht ihn selbst betraf.22 In Anbetracht der dsteren Seiten in der persçnlichen Vergangenheit sind verschiedene Verarbeitungen mçglich: mutige Integration der nicht idealen, schmerzlichen und peinlichen eigenen Seiten, mit der Gefahr der sozialen Ablehnung und – schlimmstenfalls – der Ausstoßung aus der Gemeinschaft, wie dipus sie

22 Auffllig ist diese Wandlung vom Saulus zum Paulus auch bei einem von seinen Studenten verehrten links-liberalen Aachener Hochschullehrer fr Neuere Deutsche Literaturgeschichte: SS-Hauptsturmfhrer Hans Werner Schneider, zuletzt im Amt »Ahnenerbe« des Reichssicherheitshauptamts ttig, war im Gegensatz zu Grass von Anfang an dabei und zum Beispiel auch mit der Beschaffung von Gertschaften fr Versuche an KZ-Hftlingen befasst. Schneider war berzeugungstter, nicht zwangsrekrutiert wie Grass und auch nicht Teil einer kmpfenden Einheit. Nach dem Krieg nannte er sich Hans Schwerte und erhielt zahlreiche Ehrungen. Den Namen Schwerte durfte er nach seiner çffentlichen Demaskierung nur noch als »Knstlername« tragen (Schdlich, 2003).

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erfahren wird. Oder man erfindet sich seine Vergangenheit neu, entwirft sich eine neue Pseudo-Identitt, die sich der Schattenseiten entledigt hat. In diesem Fall droht stndig der geleugnete Anteil ans Licht zu drngen, und man luft Gefahr, sich zu verraten oder entdeckt zu werden: Mithin entsteht fast zwangslufig intrapsychisch ein Gefhl der Verfolgung – im Wesentlichen aus inneren Quellen genhrt, nicht etwa durch ußere Bedrohung erzeugt, wie dipus whnt. Die schambesetzte Befrchtung, jederzeit entdeckt werden zu kçnnen, ist der Motor, der auch verdienstvolle Personen der Zeitgeschichte wie Gnter Grass antrieb, mit besonderer Schrfe gegen jene vorzugehen, die das geleugnete Eigene reprsentierten. Grass bekmpfte die Verlogenheit der Nachkriegsepoche, wandte sich gegen die Vielen, die alsbald als Altnazis im Kabinett Adenauer und den weiteren Regierungen als Minister und Staatsekretre wieder auftauchten. Als vormalige Richter (wie zum Beispiel der ehemalige baden-wrttembergische Ministerprsident Hans Filbinger) nahmen sie ohne nennenswerte Unterbrechung ihre Berufsttigkeit wieder auf. Als rzte, die Hftlingsexperimente betrieben hatten, fanden sie sich flugs auf Professorenstellen wieder (vgl. Bastian, 1996). Grass bekmpfte vor allem die Erinnerung an seine eigene Vergangenheit. Weil sie ihm selbst so unertrglich erschien, war er maßlos in seinem Kampf gegen Mitlufer und berzeugungstter gleichermaßen. Und diese Maßlosigkeit fiel am Ende auf ihn selbst zurck. Doch erklrt dies allein die allseitige Empçrung ber das spte Eingestndnis des Gnter Grass? Kçnnte der Zorn nicht auch am Ende die Zerstçrung der geliebten, nachgerade berlebensnotwendigen Nachkriegsillusion betreffen, es seien wenigstens einige Gerechte unter den vielen Schuldigen, die persçnliche und kollektive Schuld zu lindern die Aufgabe hatten? Die politische Seite von Grass hat stets zu rgernis gefhrt, ob er sich mit seinen Romanen auf politische Felder wagte oder umgekehrt am Ende von ihnen auch persçnlich betroffen war und ist – wie wir alle. Damit wre die Symbolfigur der guten Nachkriegsdeutschen beschdigt und die Unmçglichkeit, aus persçnlicher Schuld zu entkommen wie kollektiver Verantwortung zu fliehen, drastisch vor Augen gefhrt. 51

Hybris oder die Fhigkeit zur Selbstreflexion Es verwundert nicht, dass Iokaste wie auch dipus sich von ihrer Unschuld zu berzeugen trachteten – allerdings zum Preis der Hybris, des Hochmuts vor den Gçttern. Iokaste: Entschlage dich der Sorge, die dein Wort verrt, Und hçr’ mich an. Noch keinem Staubgeborenen Ward je die Seherkunst zuteil, das wisse wohl. Dafr geb’ ich dir diesen bndigen Beweis: Einst kam dem Laios ein Orakelspruch, versteh Mich recht, von seinen Priestern, nicht von Phoibos selbst: Bestimmt sei ihm zu sterben von des Sohnes Hand. Der einst entspringen wrde unserem Ehebund. ... Und unser Knabe zhlte noch drei Tage nicht, Als Laios an den Knçcheln ihm die Fße schon Zusammenschnrte, und ihn auszusetzen gab . . . (Sophokles, S. 49 f.)

Nicht etwa dass dipus aus naheliegenden Grnden einen Zusammenhang mit seinen einst verwundeten Fßen herstellt noch dass Iokaste, diese Verletzungen des dipus als seine Frau doch eigentlich kennend, sich dafr interessiert htte. Zudem unterschlgt Iokaste zwei wesentliche Details, die im weiteren Verlauf ans Licht kommen werden: Die Fße wurden nicht nur gefesselt, sondern durchbohrt und die Fesseln hindurchgezogen. Stattdessen erscheint sie ohne Mitleid. Sie war einverstanden mit Laios Vorgehen. Und vor allem: Sie war es, die den Sugling dem Hirten zur Aussetzung bergab. Im Zuge der Schilderung der Iokaste erfhrt dipus, dass Laios an einer bestimmten Wegeskreuzung erschlagen wurde, eben dort, wo dipus einst auf jenen Wagenlenker traf. Unmittelbar bevor dipus in Theben Einzug hielt, erfuhr man durch den einzigen flchtigen berlebenden vom Tode Laios’. Der berlebende Begleiter bat Iokaste flehentlich, mçglichst weit weg aufs Land geschickt zu werden, nachdem Iokaste dipus ehelichte. dipus verlangt, ihn zu sprechen. 52

Iokaste scheint sich nicht besonders lange mit Trauer aufgehalten zu haben. Stattdessen heißt sie ihren neuen Gatten, Liebhaber und Kçnig willkommen. Es sieht eher wie Erleichterung aus, dass sie ihren Mann los ist und eine neue Partnerschaft beginnt. dipus realisiert jedoch die Tragweite der Kunde nicht. Er hlt es jetzt zwar fr wahrscheinlich, der Mçrder des alten Kçnigs zu sein, nicht aber der seines Vaters, den er – wie seine Mutter – in Korinth vermutet: dipus: . . . Ich selbst war’s, der mit diesem Fluche traf mein Haupt. Um seine Gattin schlang ich zu verruchtem Bund Den Mçrderarm, der ihn erschlagen. Greul auf Greul! Bin ich nicht ganz dem Fluch verfallen? Will ich fliehn, Zur Heimat darf ich wenden nicht den flcht’gen Fuß Nicht wiedersehn die meinen, sonst erfllt sich mein Geschick: Gemahl wird’ ich der eignen Mutter, und Den Vater tçt’ ich, Polybos, der mich erzeugt. (Sophokles, S. 53)

Warnend erhebt derweil der Chor seine Stimme vor der Hybris, mit dem Hinweis, dass dipus die Existenz der Gçtter in Frage stellt: Chor . . . Trgt ein solcher Wandel Ruhmeskronen, wozu Frder noch die Gçtter ehren?

Die antike Weltordnung gert ins Wanken, wenn sich der Mensch an die Stelle der Gçtter setzt und sein Schicksal selbst bestimmen will. Wenn es keine strafende, allmchtige Instanz auf dem Olymp gibt, muss der Mensch diese Funktion selbst bernehmen. Dazu bedarf es der Fhigkeit zu Selbstzweifeln und Introspektionsvermçgen. Denn die Mchte des Olymps reprsentierten korrigierende Zweifel und Unsicherheiten, die vor hochfahrender Einbildung schtzen. Wo aber Gçtter fehlen, muss der Mensch diese selbstrelativierende Funktion selbst ber53

nehmen.23 Das genau tut dipus nicht. Gçtter bençtigt der Mensch einerseits, um Visionen und Hoffnungen zu entwickeln (was die antiken Griechen mit ihren Jenseitsvorstellungen kaum taten), andererseits um sich selbst in Frage zu stellen und Wertvorstellungen, Ideale und Grenzen zu berprfen. dipus berschreitet alle Grenzen durch sein Tun. Die Gçtter reprsentieren in diesem Kontext jene innere Instanz, die ihn vor Hybris und Allmachtsphantasien schtzen kçnnte. Wer seinen Vater erschlagen und die Mutter heiraten kann, hat alle ihn begrenzenden Schranken berwunden. So gesehen braucht dipus die Gçtter, da es ihm an inneren Steuerungsinstanzen ermangelt. Die Gçtter des Olymp sind ihm ußere Reprsentanten des ber-Ich, der Gewissensinstanz, die innerlich zu schwach ausgeprgt ist, um ihn vor Hybris zu schtzen. Teiresias hingegen besitzt den Blick von außen. Er hat beide Perspektiven kennengelernt, die des Mannes und jene der Frau. Whrend dipus und Iokaste weder sich selbst noch einander erkennen und sich nicht mit liebevoll-kritischen Augen sehen, weiß Teiresias um die Relativitt seiner Person. Er kennt die weibliche sexuelle Genussfhigkeit und relativiert damit seine eigene mnnliche Position. Er hat wie eine Frau gefhlt, sich in eine Frau eingefhlt und ist deshalb dazu ausersehen, dipus die Augen zu çffnen. dipus sieht nur sich, es fehlt ihm die Fhigkeit, die Welt aus den Augen eines anderen zu betrachten. Insofern ist Teiresias nicht nur Konterpart des dipus, er ist in gewisser Weise sein Alter Ego, sein ihm fehlender, nach außen verlagerter Persçnlichkeitsteil (R heim, 1946).24 Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast hat in zahlreichen Arbeiten Mrchen nach diesem so genannten subjektstufigen Vorgehen gedeutet. Die in Mrchen

23 Der Heidelberger Psychoanalytiker Gnter Seidler spricht von einem verinnerlichten, objektivierenden Blick des Anderen: Scham entsteht durch die Mçglichkeit, sich mit anderen Augen zu sehen, und damit Selbstreflexivitt (Seidler, 1995; vgl. auch Hilgers, 2006). 24 Teiresias’ Begegnung mit den Schlangen findet im Kithairon statt – dort, wo der Diener des Laios den dipus an den Hirten des Polybos bergibt.

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auftretenden Figuren reprsentieren Teile der Hauptperson, sie sind die Personifizierung innerer Konflikte. Versteht man die beiden Figuren – dipus und Teiresias – als literarische Darstellung einer Person, erschiene die nachfolgende Selbstblendung des dipus als Integrationsversuch des vorher abgespaltenen Selbstanteils Teiresias. dipus erkennt sich also und damit wchst ihm die zuvor nicht verfgbare und von Teiresias dargestellte Fhigkeit zu Frage und Antwort, zur Selbstbefragung und Introspektion zu. Denn die Hybris als Verabsolutierung des Selbst hat dort ein Ende, wo sie auf vernnftige Selbstzweifel und die Relativierung des Eigenen stçßt. Subjektstufig gesehen htte dipus nicht seinen Vater umgebracht und seine Mutter geehelicht, sondern die Realitt erschlagen: die Einsicht in Notwendigkeiten. Mit der Ausschaltung des Vaters als Reprsentant ußerer Zwnge und des Realittsprinzips ist der Weg frei zurck zur Mutter. Denn dipus sucht nicht das Weib, von dem Teiresias zu berichten weiß, dass es – in viele Mnner erschreckender Weise – mehr Lust bei der Sexualitt haben kann als der Mann.25 dipus ist auf der Suche nach der mtterlichen Heimat, die er mit grimmiger Ironie gerade bei Iokaste nicht finden kann. Iokaste stellt die verkmmerte weibliche Seite von dipus dar – unfhig zu Mitleid und Einfhlung, als sie ihren Sohn der Aussetzung preisgab, und ebenso unfhig, ihren Mann zu erkennen. Erst die unerfllte Sehnsucht nach dem mtterlichen Schoß, der Geborgenheit spenden soll, die es einst nicht gab, lsst dipus Weib und Mutter verwechseln.

25 Klitorisbeschneidungen und die Verschleierung der Frau bis zur vçlligen Unkenntlichkeit drcken diese archaische Angst der Mnner vor der sexuellen berlegenheit der Frauen aus (siehe das Kapitel »Jenseits des Kastrationskomplexes – traumatisierende Beschneidungen als Herrschaftsinstrument«). Und auch die gegenwrtigen Helden des islamistischen Fundamentalismus – Selbstmordattentter – freuen sich zwar auf siebzehn sie im Jenseits erwartende Jungfrauen. Doch es mssen eben Jungfrauen sein, unerfahren, so dass man(n) sich ihnen in jedem Fall berlegen fhlen kann: Den martialischen Taten steht eine sehr unreife und unsichere Mnnlichkeit Pate.

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In den Worten Hermann Hesses: »Zurck fhrt berhaupt kein Weg, nicht zum Wolf, noch zum Kinde. Am Anfang der Dinge ist nicht Unschuld und Einfalt; alles Erschaffene, auch das scheinbar Einfachste, ist schon schuldig, ist schon vielspltig, ist in den schmutzigen Strom des Werdens geworfen und kann nie mehr, nie mehr stromaufwrts schwimmen. Der Weg in die Unschuld, ins Unerschaffene, zu Gott fhrt nicht zurck, sondern vorwrts, nicht zum Wolf oder Kind, sondern immer weiter in die Schuld, immer tiefer in die Menschwerdung hinein« (Hesse, 1955/1971, S. 71).

Die Auflçsung – das Schrecknis in der Retrospektive Sophokles bedient sich im Wesentlichen der Retrospektiven: Wie in einem Krimi ist das Schreckliche bereits geschehen; es liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit der Protagonisten. Die Erkenntnis ber das Selbst bezieht sich auf die eigene Geschichte, die allerdings die Zukunft maßgeblich bestimmt. Spannung entsteht, wo die Geschichte langsam – via Retrospektive – Aufklrung erfhrt. Ein Bote kommt aus Korinth und bringt die Kunde, dass Polybos verstorben ist – eines natrlichen Todes. dipus soll das Kçnigreich bernehmen. Daraufhin setzen beide, dipus wie Iokaste, erneut auf Leugnung und die Weigerung, eine selbstreflexive Position einzunehmen, in Lsterung des Apolls, der in diesem Kontext fr Introspektion und Relativierung der eigenen Person steht. Doch beider Hochmut wchst: dipus: Wohlan! Wer kmmerte, Iokaste, knftig sich Noch um Apollos Seherherd und Vogelruf In hohen Lften? Ging es ihnen nach, ich ward Der Mçrder meines Vaters. Doch der ruht jetzt tot Im Erdenschoß. Und ich bin hier und legte nicht Die Hand ans Schwert. Wenn ihn die Sehnsucht nicht nach mir Entraffte; so nur trg’ ich Schuld an seinem Tod. Nun weilt er drunten in dem Hades, und mit ihm Schwanden in nichts die Gçttersprche all’ dahin.

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... dipus: Noch muss mir bangen vor der Mutter Ehebund. Iokaste: Wie darf dir bangen? berall siehst du das Spiel Des Zufalls, und Vorherbestimmung gibt es nicht. Laß vor der Ehe mit der Mutter dir nicht graun! Oft hat im Traume seine Mutter schon ein Mann Umarmt; doch wer auf solche Trume gar nichts gibt, Der findet sich am leichtsten mit dem Leben ab. (Sophokles, S. 59)

Doch der Bote aus Korinth entpuppt sich als jener, der dipus einst in Empfang nahm von jenem thebanischen Hirten, der ihn auszusetzen den Befehl hatte. dipus erfhrt, er sei keineswegs der Sohn des Polybos, was er allerdings schon lngst htte wissen kçnnen. Und der Bote ist es auch, der nun von den Fesseln der durchbohrten Fße berichtet. Bote: Ich lçste die durchbohrten Fersen aus der Haft. dipus: Ein bçses Mal trug ich als Sugling schon davon. Bote: Und deinen Namen trgst du nach dem Missgeschick.

Erneut zeigt sich die »Unbewusstheit« des dipus, der seinen Namen nicht versteht, mithin keine Ahnung von seiner Identitt und seiner Person hat. dipus scheint sich auch nie nach der Herkunft seines Namens gefragt noch seine vermeintlichen Eltern um Auskunft gebeten zu haben. dipus ist ein Blinder, wenn es um ihn selbst geht, und er bleibt es auch hier bis ganz zum Schluss, wenn endlich die Wahrheit nicht mehr zu leugnen ist. Doch solange verhçhnt er Selbsterkenntnis und Sehergabe als Metapher fr Introspektion. Auch Iokaste misst den Trumen, mithin berhaupt dem Innenleben und der Psyche kaum Bedeutung zu. Stattdessen pldiert sie fr einen leichten Umgang mit dem Leben, eine Art bewusste Entscheidung gegen die Wertschtzung von inneren Welten und der Bedeutung des Unbewussten. Erst jetzt, wo dipus erfhrt, dass der Bote aus Korinth ihn als Sugling von einem Diener des Laios bergeben bekam, lsst er nach diesem schicken. Doch Iokaste rt ab und fleht, dipus 57

mçge seine Herkunft im Dunkeln lassen. Iokaste entpuppt sich subjektstufig als Vertreterin der Unbewusstheit, der Anti-Aufklrung: Iokaste: Unsel’ger, mçgst nie erfahren, wird du bist. dipus: Man geh’ und fhre jenen Hirten her zu mir. Mag ihrer edlen Abkunft sich Iokaste freun. Iokaste: Weh, wehe dir! Dies bleibt mein letztes Wort an dich. Weh, wehe dir! Nichts andres ruf’ ich mehr dir zu. (Ab.) ... dipus: Mag kommen, was da will. In meinem Vorsatz, mein Geschlecht, sei’s noch so niedrig, zu erkennen, irrt Mich nichts. Iokaste schmt nach Frauenart sich gar Voll Hochmut meiner niedern Herkunft, aber mir, Mir bringt es wahrlich keine Schande, nenn’ ich mich Den Sohn des Glckes, welches reichen Segen streut. Denn es ist meine Mutter; meine Brder sind Die Monde, deren Wechsel mich erniedrigt und Erhçht. So ward ich; und wozu sie mich gemacht, Das bleib’ ich; daran ndert meine Herkunft nichts. (Sophokles, S. 62 f.)

dipus sieht sich larmoyant als Ahne von Sklaven, mithin von niedriger Abkunft, doch feiert er sich in seinem Selbstmitleid, dabei Iokaste wegen vermeintlichen Dnkelwesens verachtend. Noch immer kommen in dipus keine Selbstzweifel auf. Er whnt sich im Recht und sieht das Bçse von außen kommend. Er sonnt sich in seiner angeblich geringen Abkunft und sieht sich deshalb von Feinden umstellt, zu denen nun auch seine Frau zhlt. Die schme sich seiner – eine unbewusste Schamszene, wenn man annimmt, in Wahrheit kçnnte sich dipus lngst seiner selbst schmen. Auch hier stellt Iokaste einen abgewehrten, nmlich projektiven Selbstanteil des dipus dar: Die Scham ber die eigene Herkunft und die Verunsicherung darber. Endlich erscheint der Diener des Laios, der zugleich jener Begleiter von Laios’ Wagen war, der als Einziger entkam. Doch nur bei Androhung der Todesstrafe, derer sich dipus offenbar gern bedient, mag er aussagen, was jener zu wissen verlangt. 58

Hirt: Freilich hieß es des Laios Kind, doch meine ich, Am besten wßt’ Iokaste dies wohl, dein Gemahl. dipus: So war sie’s, die das Kind dir gab? Hirt: Sie war es, Herr. dipus: Und das zu welchem Zwecke? Hirt: Tçten sollt’ ich ihn. dipus: Das tat die Mutter? Hirt: Graus Orakel schreckte sie. dipus: Das lautet? Hirt: Tçten wrde den Erzeuger er. ... dipus: Weh, wehe mir, so hat sich alles denn erfllt! O, she ich zum letzten Mal der Sonne Licht! Der ich zum Fluch von meinen Eltern ward gezeugt, Die Mutter schndet’ und des Vaters Mçrder ward!

Es ist Iokaste, nicht Laios, die den kleinen dipus aussetzt. Sie verlangt seinen Tod. dipus ist von Anfang an verlassen – tragischerweise von jener Mutter-Frau, die er aufgrund seines Traumas zu finden sucht und bei der er sich Kompensation verspricht. dipus – rasend vor Zorn – dringt in ihr gemeinsames Schlafgemahl, um Iokaste zu tçten, findet sie aber bereits erhngt vor. Es ist die Wut des von der Mutter im Stich gelassenen Kindes, die ihn antreibt, sich an ihr zu rchen. dipus erkennt, dass er nie eine Chance hatte, dass sich die Eltern gegen ihn verschworen und seine Mutter ihn verriet. Endet an dieser Stelle dipus’ Verblendung, seine Unfhigkeit zur Selbstreflexion? Mit einer Spange, die er von Iokastes Kleid lçst, nachdem er sie herabließ, sticht dipus sich die Augen aus. Augen und Gesicht sind der Ort der Scham. Mit den Augen erkennt man sich und den Anderen, man sieht sich im Auge des Anderen und vor allem die Art, wie ein Anderer wahrnimmt. dipus: . . . Nicht so! Nein wr’ der Zugang zu des Hçrens Quell, Der durch das Ohr fließt, abzudmmen, sumt ich nicht, Abschlçss’ ich von der Welt mein armes Selbst, dass blind

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Ich wr’ und des Gehçrs beraubt; denn sß ist es, Wenn sich der Sinne Pforten schließen vor dem Leid.

dipus ertrgt seine Scham nicht und vor allem mçchte er nicht mit ihr sichtbar werden, noch mçchte er die Augen anderer wahrnehmen, die auf ihm ruhen und in denen er ihr Urteil sehen kçnnte. Deshalb wrde er sich am liebsten ganz von der Außenwelt isolieren und auch nicht mehr hçren, was man ber ihn sagt.26 Konsequenterweise verbringt dipus einen wesentlichen Teil seines restlichen Lebens in der Einsamkeit, begleitet von Antigone, seiner Tochter-Schwester.

dipus, die Gçtter des Olymp und die Macht des Unbewussten Ebenso unerbittlich wie unversçhnlich verfolgen die Gçtter den dipus und entlassen ihn nicht aus seinem Schicksal. Das lsst sie »unmenschlich« erscheinen, jedenfalls inhumaner als die Menschen, von denen manche die Fhigkeit zur Versçhnung oder zum Mitleid zeigen. So wie Kreon, Iokastes Bruder, der dipus nicht tçten lsst, sondern nur der Stadt verweist, obwohl umgekehrt dipus ihm noch kurz zuvor unverhohlen mit der Todesstrafe gedroht hatte. Der Chor, der im Stck kommentierend oder auch erzhlend auftritt, zeigt sich erschttert und bekundet Mitleid mit dipus. Doch nicht so die Gçtter. Die antiken Griechen whnten die Gçtter auf dem – im brigen reichlich frischen – Olymp, wo sie im Wesentlichen den lieben langen Tag mit Rnkespielen, Eifersucht und Racheplnen, Neid gegenber Menschen oder ihresgleichen und vor allem stndigen sexuellen Affren beschftigt waren. Inhalt ihres Daseins waren demnach kaum kaschierte Aggression und ebenso 26 dipus’ Verhalten erinnert an das von Kindern, die ihre Hnde vor die Augen schlagen, um scheinbar unsichtbar zu werden, wenn sie sich schmen, oder sich die Ohren zuhalten, um nicht Unbequemes aus dem Mund der Erwachsenen zu hçren – ein Vorgehen, bei dem die Realitt geleugnet und »erschlagen« wird, statt sich ihr zu stellen.

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wenig verhohlene Promiskuitt. Hinzu kam eine hohe narzisstische Krnkbarkeit, so dass die Menschen bestndig auf der Hut sein mussten, die Gçtter nicht durch irgendeine Unvorsichtigkeit zu reizen und ihren Neid oder ihre Rache auszulçsen. Menschliches Glck zog den Grimm des Olymps auf sich. Die Gçtter hingegen waren die durch keine Gesetze oder Kultur gebremsten Abbilder der Menschheit, ein grausamer Spiegel dessen, was die Menschen nicht immer oder nicht stets in dem Ausmaß taten oder zu tun vermochten. Und taten sie es doch – wie bei dem Gemetzel von Troja, bei dem weder Frauen noch Alte oder Kinder geschont wurden –, so geschah dies im Namen, mit Billigung oder nach Beschluss der Gçtter. So werden die Gçtter einerseits fr die Menschen zur allflligen Entschuldigung: Nicht der eigene Wille ist es, sondern die Mchte des Schicksals lenken angeblich die Schritte des Menschen. Die Verantwortung des Einzelnen ist damit suspendiert (oder noch gar nicht »erfunden«), weshalb im Zuge der Aufklrung Voltaire seine Figuren viel emanzipierter ausstattete, die dann auch die Macht von Schicksal und Himmel in Frage stellten. Doch die bereits erwhnte offene Psychiatrie auf dem Olymp, diese Borderline-Station fr agierende Gçtter mit histrionischantisozialer Akzentuierung kçnnte auch als gigantische Projektion des menschlichen Unbewussten verstanden werden: Die Gçtter spiegeln Triebe und Affekte, unbewusste Konflikte und Bedrfnisse der Erdenbewohner wider. Die Menschen projizieren unbequeme Inhalte auf die Gçtter als Schicksalsmchte. Die Bedrohlichkeit der teils verrckten Verhaltensweisen und widersprchlichen, eruptiven Impulsivitt ist damit an einen sicheren Ort weit ab des irdischen Lebens verbannt: Nicht wir sind von Trieben geschttelt, sehnen uns nach Promiskuitt und Ausleben unserer Revanchephantasien, die Gçtter sind es, die dies tun. Das Unbewusste im Olymp? Die Gçtter zwar Mchte des Schicksals, aber eines doch sehr irdischen?27 Das Schicksal von

27 Ausfhrlich setzt sich Dodds (1951, dt. 1970) mit der Projektion des Unbe-

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dipus, Laios oder Iokaste, selbst ihrer Vorfahren scheint wie vorbestimmt, alle Figuren sind unentrinnbar in einem tragischen Netz verstrickt – ohne dessen jedoch gewahr zu werden. Die Macht der Gçtter – oder des Unbewussten – nhrt sich aus der Blindheit der Menschen, ihrer Unfhigkeit, ihre Vergangenheit so zu verstehen, dass sie selbst die Zukunft in die Hand nehmen kçnnten. Transgenerationale Konflikte und Traumata bestimmen das Handeln der Akteure, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Bestndig wiederholen sich eine Reihe von Motiven und Konflikten, die zunchst als ußere Konfliktkonstellationen erscheinen. Die Figuren sind mit der Inzest- und Generationenschranke befasst. Laios wie dipus und Iokaste, alle berschreiten die Generationenschranke: Laios vergewaltigt einen Jngling, der zudem Sohn seines zweiten Ziehvaters ist, also im bertragenen Sinne so etwas wie ein Stiefbruder. dipus und Iokaste verletzen beide Schranken ganz unmittelbar. Zudem verluft die Generationenabfolge nicht friedlich, sondern mçrderisch: Die Generationen trachten einander nach dem Leben. Wo es keine Inzest- und Generationenschranken zu geben scheint oder diese nicht eingehalten werden, wird menschliche Endlichkeit geleugnet. Die Konfrontation mit Sterblichkeit ist das zweite Hauptmotiv des Stcks, das stndig in unterschiedlichen Formen wiederkehrt. Die Geburt eines Kindes konfrontiert Laios (und natrlich auch Iokaste, wie alle Eltern) zwar mit neuem Leben, doch damit auch mit dem eigenen Tod, der durch das Kind sinnbildlich nher rckt. Die pdophile Handlung lsst den viel lteren jnger erscheinen, die Sphinx wirft die Frage nach menschlicher Existenz und Lebensendlichkeit auf. Teiresias ist

wussten auf die Gçtter und ihre Handlungen auseinander. Dodds vermutet, dass die Widersprchlichkeit des Zeus, der einmal als rachschtiger Gott, dann wieder als strenger, aber gerechter Vater erscheint, die sich entwickelnden innerfamiliren Konflikte jener Zeit widerspiegeln: Das Gesetz des Vaters und sein Recht wandelten sich von »Du wirst das tun, weil ich es sage« zu »Du wirst das tun, weil es recht ist« (Dodds, S. 34 f.).

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mit Blindheit geschlagen, jedoch mit einem siebenfach verlngerten Leben entschdigt. Dies alles ereignet sich auf dem Hintergrund einer Vorschdigung in der Lebensgeschichte, von schweren Traumatisierungen in der Kindheit. Laios verliert Vater und Ziehvater, er wird vertrieben. dipus wird verstoßen, kçrperlich stigmatisiert und wchst ebenfalls in der Fremde auf. Das Thema Blindheit versus Selbsterkenntnis durchluft das Stck. Selbsterkenntnis – also nicht nur allgemeine philosophische Weisheit, sondern auf die eigene Person bezogene SelbstBewusstheit – wehren die Protagonisten ab. Sie erkennen weder sich noch die anderen. Selbsterkenntnis ist buchstblich tçdlich: Als dipus und Iokaste sich selbst erkennen, strzen sie in die Katastrophe. Bildlich gesprochen jedoch bedeutet Selbsterkenntnis die Auseinandersetzung mit den persçnlichen wie berpersçnlichen menschlichen Schwchen und Grenzen. Wer sich selbst erkennt, sieht die eigenen relativen Grenzen und jene absolute der Todesgewissheit. Damit eng verbunden ist die Blindheit dem Anderen gegenber. Die Protagonisten erkennen sich nicht, nehmen einander nicht wahr und werden auch nicht wahrgenommen als die, die sind. Wirkliche Intimitt und das Interesse aneinander htten dipus und Iokaste sofort auf die schmerzliche Erkenntnis bringen mssen, mit wem sie es zu tun hatten. Dieser Mangel an Liebe macht es ihnen mçglich, jahrelang aneinander vorbeizuleben, ohne dass sie sich in der Tiefe der Seele je begegnet wren. Schließlich geht es auch um den Kampf der Geschlechter: Laios frchtet die starke Frau, Iokaste berlistet ihn, indem sie ihn trunken macht. Alle drei – Laios, Iokaste und dipus – begegnen sich nicht auf Augenhçhe. Immer bestimmt ein Geflle die Beziehungen, Unter- und berlegenheitsgefhle kennzeichnen die Verhltnisse, nicht Gleichrangigkeit. Whrend im Stck die innerpsychischen wie zwischenmenschlichen Konflikte oft nur angedeutet werden oder sich erst im Laufe der Handlung manifestieren, toben auf dem Olymp offen die Konflikte, dominieren die Affekte, denen die Gçtter hoffnungslos unterworfen sind. Sie sind das Abbild der mensch63

lichen Psyche, Symbol fr unbewusste Krfte, die den Menschen jederzeit zu berwltigen drohen. Nicht die Gçtter sind es, die die Mchte des Schicksals steuern, es sind die unbewussten, transgenerationalen und unbewussten Konflikte, die die Protagonisten zu Marionetten werden lassen. Die konsequente Weigerung, sich selbst und die anderen zu erkennen, macht die Wucht des Schicksals aus. Die auf diese Weise selbst herbeigefhrte Blindheit, die erst durch den blinden Seher aufgehoben wird, htte zu jedem Zeitpunkt unterbrochen werden kçnnen: Laios weigert sich, seine sexuellen Prferenzen zu kontrollieren. Iokaste ehelicht einen Mann, der ihr chronisch unterlegen ist. dipus zieht aus der Weissagung des Orakels die falschen Schlsse, lçst das Rtsel der Sphinx nur vordergrndig, stellt sich aber nicht der Tiefe der Frage. Iokaste und dipus erkennen einander nicht, weil sie sich nicht begegnen wollen. Wie ein Staffelstab werden die ungelçsten Konflikte durch die Generationen weitergereicht. Selbst als dipus schließlich die Stadt verlassen muss, begleitet ihn seine Tochter Antigone, eine weitere Auflage des ungelçsten Generationenkonflikts, mit dem in diesem Fall Schwester-Tochter und Vater miteinander verstrickt bleiben. Auch Antigone ist demnach eine tragische Figur, die auf die unerhçrten Verfehlungen ihrer Eltern kompensatorisch mit einem rigiden ber-Ich reagiert: Unversçhnlich und kompromisslos bleiben ihre Urteile. Zudem stçßt dipus ber seine Sçhne wiederum grssliche Verwnschungen aus: Der Fluch, der auf ihm und seinem Vater Laios lastet, wird ohne weiteres von dipus auf seine Sçhne bertragen. dipus ist mitnichten ein gtiger Mensch, wie bisweilen ber den schuldlos schuldig Gewordenen behauptet wird, sondern »verhrtet in seiner reizbar jhen Gemtsart, rachschtig, starr und eigenschtig, durch sein Unglck nicht gelutert, sondern verwildert [. . .] Der Dichter, nicht gewohnt, mit faden Beschwichtigungsformeln sich die Wirklichkeit des Lebens zu verhngen, hat deutlich wahrgenommen, wie Unglck und Not den Menschen nicht zu › verklren‹ , sondern herabzudrcken und unedel zu machen pflegen« (Rohde, 1898/1980, Bd. 2, S. 244). Nicht nur, dass Traumata und Elend den Menschen hufig 64

vom Opfer zum Tter werden lassen, zeigt sich damit ein weiteres Mal. Auch die Projektion des Unbewussten oder Nicht-Erkannten auf die Gçtter wird an dieser Stelle offenbar. dipus ist ein ebenso unerbittlicher, rachschtiger und von Affekten getriebener Mann, wie es Zeus und seine Gçtterschar sind. Nicht zufllig lsst Sophokles dipus nicht einfach sterben. Er stirbt nicht, sondern entrckt oder wird entrckt. In gewissem Sinn steigt dipus damit zu den Gçttern auf, nicht durch Verdienst oder Luterung, auch nicht zur ausgleichenden Gerechtigkeit fr all die Unbill, die die Gçtter ihm zuteil werden ließen. Auch hier bleiben Wille und Entscheidungen des Olymps unerklrlich und irrational. dipus und die Gçtter unterscheiden sich in ihrem Handeln und Fhlen immer weniger: dipus wird einer der Ihren oder umgekehrt, dipus verschmilzt mit seinen unbewussten Affekten und Konflikten, die er ungezgelt ausdrckt, so dass er dem Unbewussten vollstndig verfllt. Die Entrckung ist daher keine buddhistische Erleuchtung, sondern ganz im Gegenteil der vollstndige Verlust von kulturbedingten Hemmungen und Strukturen. Die Erdspalte des Unbewussten nimmt dipus auf. Drastisch gesagt: Das Unbewusste verschlingt ihn – so wie ihn bereits die Sphinx htte verschlingen kçnnen.

Schuld, Verantwortung und die Emanzipation von den schicksalhaften Mchten des Unbewussten Als was soll dipus uns nun gelten? Als schuldlos schuldig Gewordener, Spielball der Gçtter? Als vergrmter Greis, der unter der Last seiner tragischen Lebenserfahrungen verbittert und zynisch das Ende seiner Sçhne und Thebens erwartet? Wo liegen Schuld und Verantwortung, wo lebte dipus selbstbestimmt und wo war er Erbe transgenerationaler Konflikte? Hatte er berhaupt eine Wahl oder verhlt es sich letztlich so, wie Sophokles uns glauben macht: dipus wird in ein Schicksal hineingeboren, dem er nie entkommen kann – trotz aller verzweifelter Bemhungen? 65

So gesehen trifft der Jahrtausende alte Mythos den Nerv unserer Zeit: Inwieweit lassen neurobiologische Engrammierungen dipus berhaupt eine freie Wahl seines Lebensverlaufs? Kann dipus sein Schicksal selbst bestimmen oder ist er von Anfang an Sklave seiner genetischen Disposition und seiner frhen traumatischen Lebenserfahrungen, die ihren biologischen Niederschlag im Zentralnervensystem besonders dann gravierend finden, wenn es um zeitlich sehr frhe, geburtsnahe Traumatisierungen geht? Das sophoklesche Drama also als Beweis, dass es keinen freien Willen gibt? Ohne Zweifel: dipus Geschichte beginnt weit vor seiner physischen Existenz, entscheidende Wrfel sind lngst gefallen, noch lange bevor er zur Welt gekommen ist. dipus steht bio-psychosozial in der Generationenabfolge seiner Vorfahren, er erbt deren Konflikte, ist mit ihren Deformationen belastet, ohne dass er darauf auch nur den geringsten Einfluss gehabt htte. Und auch die ersten Jahre seines Lebens verlaufen weitgehend ohne seine Kontrolle. Die entscheidende Wende tritt ein, als Zweifel an seiner Herkunft bei einem Gelage geweckt werden. Die vormalige Selbstverstndlichkeit des Daseins weicht der Ungewissheit ber die eigene Herkunft und Identitt – Zeichen einer Adoleszenzkrise. Ohne eine solche Verunsicherung wrde dipus weitgehend ohne Bewusstsein von sich selbst weitergelebt haben, fraglos, was die eigene Person angeht, doch fragwrdig in seiner zweifelsfreien Selbstverstndlichkeit. Doch dipus bricht auf – ußerlich, indem er auf Reisen geht, innerlich, indem er sich von seiner Selbstgewissheit verabschiedet. Es ist der Versuch, Verantwortung fr das eigene Leben zu bernehmen, den er jedoch alsbald – nach dem erschreckenden Orakelspruch – mit der Vermeidung von Schuld verwechselt. Wir teilen mit dipus das allgemeine Schicksal, eine relative Position in der endlosen Generationenabfolge einzunehmen. Damit treten wir ein Erbe an, dessen Umfang und Inhalt uns anfangs vçllig unbekannt ist und das zu erhellen unsere Aufgabe wird, wenn wir nicht bewusstlos durch unser Leben taumeln wollen. Niemand hat uns gefragt, ob wir mit den Erblasten, den genetischen wie den psychosozialen, einverstanden sind. Wie 66

dipus tragen wir keine moralische Schuld fr die Hypotheken, die auf uns lasten. Und ebenfalls wie bei dipus entziehen sich viele Ereignisse unserer frhen Kindheit weitgehend unserer Kontrolle. Erst nach und nach beginnen wir bewusster Stellung zu beziehen, obwohl wir dies kçrperlich wie psychisch von Anfang an taten, bloß ohne bewusstes Wissen und ohne bewusste Entscheidungen. Gnstigenfalls brechen wir dem dipus gleich eines Tages auf, unsere Herkunft zu klren und damit unser Schicksal in die Hand zu nehmen – soweit dies mçglich ist. Der Aufbruch erfolgt nicht an einem bestimmten Tag wie im Mythos, sondern eher nach und nach, als wachsendes Bewusstsein von sich selbst und der Umwelt. Die Schulden, die wir haben, seien es solche, die sich aus den persçnlichen Konflikten der Vorfahren ergeben und die auf uns fortwirken, seien es solche, die sich aus der Historie ergeben, wie bei den deutschen Nachkriegsgenerationen, haben wir nicht verursacht und demzufolge tragen wir auch keine moralische Schuld. Die ethische Aufgabe, die uns zukommt, ist, das Erbe bewusst anzutreten und damit Verantwortung zu bernehmen – auch dort, wo wir auf den Verlauf der Geschichte, der persçnlichen wie berpersçnlichen, niemals haben Einfluss nehmen kçnnen. dipus wird erst im Verlauf der Tragçdie schuldig, weil er sein schreckliches Erbe nicht verantwortungsbewusst annimmt. An den entscheidenden Stellen zieht dipus die falschen Schlsse, vermeidet Selbsterkenntnis und bleibt blind. Diese Entscheidung, nicht sehen und erkennen zu wollen, fhrt ihn zurck zum Schoß seiner Mutter. dipus’ Schuld entsteht nicht einfach durch die Beschlsse des Olymp. Nicht die Gçtter machen ihn zum Schuldigen, er selbst ist es, der schuldig wird, weil er sich weigert, Verantwortung da zu bernehmen, wo es seine Eltern und Ahnen nicht taten. Die ungelçsten Konflikte der Eltern und Vorfahren werden unweigerlich zu jenen der Kinder. Diese Verantwortung zu bernehmen und sich der Vergangenheit zu stellen, damit sie nicht auch zur eigenen Zukunft wird, ist Aufgabe jeder neuen Generation – bis heute.

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dipus und Faust – Licht, Dunkelheit und die Suche nach einer Wahrheit28 Ist es bereits ein Wagnis, sich ber den dipus-Mythos auszulassen, ohne dabei die umfassende philologische, kulturhistorische Literatur, geschweige denn alle mçglichen psychoanalytischen berlegungen zu referieren, so luft man als Autor Gefahr, endgltig der Hybris gezeiht zu werden, wagt man auch noch, sich zu Goethes »Faust« auszulassen. Als handele es sich um genau jenes faustische Vergehen der Vermessenheit, bereits im dipusMythos zentral stehend, dessen sich der Autor schuldig machte. Doch eingeschchtert vor den Werken der Klassiker wie vor Denkmalen zu verharren, wre das ebenso abwegige wie heimliche Pendant der Hybris, nmlich erst sprechen zu drfen, wenn man durch großartige Perfektion glnzt. Klassiker leben, wenn ein Gegenwartsbezug hergestellt werden kann, selbst wenn sein Verfasser selbst diesen Aspekt (noch) gar nicht sehen konnte. Um es mit Goethe selbst zu sagen: »Was du ererbt von deinen Vtern, erwirb es, um es zu besitzen.« »Wer hermeneutische Verwicklungen und Bezge zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu umgehen versucht, wird nicht die zeitlos gltige Wahrheit zurckbehalten, sondern eine nichts sagende Abstraktion« (Negt, 2006, S. 15). Zudem wrde man in Vermeidung dieser zwangslufigen Verwicklungen oder Unterlassungen auf fatale Weise jenem dipus hneln, der vor dem Orakelspruch zu fliehen trachtet, indem er Verantwortung zu meiden sucht – oder eben dem Faust, der immer dann,

28 Unmittelbar nach Abschluss des Manuskripts sah ich eine Auffhrung von »Faust II« im Deutschen Theater Berlin in einer Inszenierung von Michael Thalheimer. Die zahlreichen Parallelen bei den zentralen Motiven, derer sich beide Stcke bedienen und die existentielle menschliche Konflikte betreffen, faszinierten und verblfften mich gleichermaßen. dipus wie Faust treffen auf ein Reich in Not. dipus stirbt nicht wirklich, sondern wird entrckt. Faust stirbt, seine Seele wird jedoch von Engeln entfhrt. Einige der gemeinsamen Motive sind zum Beispiel Ambivalenz gegenber »den Mttern«, Schuld, Verantwortung und Hybris, Aktionismus, Verblendung, Erkenntnis und Blindheit.

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wenn es um persçnliche Verantwortung geht, gern auf Mephisto verweist. Das Feld lediglich anderen zu berlassen, wre demnach genauso abwegig, wie umgekehrt die Bedeutung ihrer Forschungen zu leugnen. Beides geschieht im Folgenden nicht. Das antike Theater ließ die Schauspieler mit Masken auftreten, die keine Arbeit mit der Mimik der Darsteller mçglich oder erforderlich machten: Jedermann sollte sich in den Figuren erkennen kçnnen; sie waren nicht als einzigartige Individuen gedacht, sondern als Prototypen und Protagonisten allgemein-menschlicher Konflikte. Goethes Faust-Tragçdie zeigt im ersten Teil einen mit Charakter und Individualitt ausgestatteten Faust, whrend in Faust II die Einheit von Personen, Zeit und Raum aufgehoben ist und die Figuren demonstrativen, symbolhaften Charakter besitzen. Die Erzhlung ist episodenhaft, diskontinuierlich und gleichnishaft (vgl. Sudau, 1993, S. 126). Es geht nicht um individuelles Schicksal, sondern um existentielle allgemein-menschliche Konflikte. dipus erscheint in seiner Konflikthaftigkeit und Zerrissenheit zwischen Erkenntniswillen und Selbsttuschung, Hybris und Vermessenheit und geht diesen Weg konsequent bis zur Verblendung und dem Auszug aus Theben als bitterer Mann. Auch hier wird nicht individuelles Schicksal dargestellt, das vom Zuschauer als sehr persçnlich und eben nicht auf die eigene Person bezogen abgetan werden kçnnte. Das Private des dipus ist politisch, auf die Allgemeinheit bezogen und nur insofern von Bedeutung fr das Individuum. Die Tragçdie des dipus besteht in seinem verzweifelten Versuch, Schuld zu entkommen, wodurch er sie gerade auf sich ldt. Des dipus’ Vermessenheit mndet im Versuch, menschliche Grenzen zu suspendieren und damit Gotthnlichkeit zu erlangen. Auch Faust sieht sich im ersten Teil der Tragçdie schon zu Beginn als Ebenbild Gottes, whrend in der Tragçdie zweiter Teil Faust als rastlos-dynamischer Unternehmer »fortwhrend neue Kombinationen çkonomisch verwertbarer Krfte« (Negt, 2006, S. 9) erfindet und als skrupelloser Wohnungsunternehmer und -sanierer endet. Faust ist jedoch – darin von dipus verschieden – bereits Entwurf sowohl des postmodernen Heuschreckenma69

nagers als auch des khlen Technokraten, der alle ihm zu Gebote stehenden Mittel nutzt, ohne Ansehen, ob seine Vorgehensweisen moralisch verantwortbar sind. Whrend dipus von Anfang an die bçse Tat frchtet und ihr zu entkommen trachtet, sucht Faust aktiv nach der Verbndung mit dem Dmon. Faust ist im Unterschied zu dipus nur noch peripher mit einer eher lstigen Schuldproblematik konfrontiert, wenn unter seinen Handlungen und Anweisungen Menschen zu Tode kommen, wie etwa im fnften Akt des Faust II Philemon und Baucis. In diesen Fllen wird die Schuldhaftigkeit eigenen Handelns eher notdrftig und rgerlich abgewehrt, um sie Mephisto zuzuschieben. »Was Faust von anderen Prominenten des Dramas unterscheidet, ist nicht allein sein Machtwahn, den haben die meisten der Shakespeare-Figuren ebenso wie die des Sophokles. Faust operiert, in großen Zukunftsprojekten oder auch real, mit den Mitteln der naturwissenschaftlich-technischen Moderne. Es ist gerade nicht der bloße Wille, die Allmachtsphantasie, sondern es ist die Grenzenlosigkeit des Wissens, die ihm den Status eines Prothesengottes verschafft« (Negt, 2006, S. 33). Beides, Grçßenidee und die technischen Mçglichkeiten der Moderne begnstigen jene hybride Skrupellosigkeit, die sich dipus angesichts der Gçtter, der Eingebundenheit in persçnliche wie kollektive Geschichte und seiner sozialen Vernetzung so nie htte erlauben kçnnen. Musste dipus nmlich noch jedes Streben nach Gotthnlichkeit als unerhçrte Anmaßung frchten, vor allem aber die unerbittliche Rache der Gçtter ob solchen Hochmuts, so sich schickt Faust an, eben dieser Gçttlichkeit umstandslos habhaft zu werden. dipus verstrickt sich unbewusst in den transgenerationalen Konflikten seiner Herkunft. Faust hingegen hat keine Geschichte. Will dipus das Rtsel seiner Herkunft lçsen, so macht sich Faust auf, Weltrtsel zu lçsen, um seiner Machtbessenheit zu frçnen. Whrend dipus das offene Zutagetreten seiner Grçßenideen und Machtgier frchtet, widmet sich Faust von der ersten Minute an genau diesem Ziel. Faust, darin dem dipus gleich, ist getrieben vom Willen zur Erkenntnis, die sich jedoch nicht mehr explizit auf die eigene 70

Person oder – wie bei dipus angesichts der Pest – auf die Not des Gemeinwesens bezieht: Faust: Dass ich nicht mehr, mit saurem Schweiß, Zu sagen brauche, was ich nicht weiß, Dass ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhlt, Schau alle Wirkenskraft und Samen, Und tu nicht mehr in Worten kramen! (Faust I: 380–385)

Zwar schreckt auch Faust von Anfang an im entscheidenden Moment vor Erkenntnis zurck, zçgert und zweifelt bisweilen. Das Alter Ego des Faust, Mephisto, ist im Unterschied zu dipus’ abgespaltenem Selbstanteil, Teiresias, kein spter Erwerb, sondern fast von Beginn der beiden Stcke mit ihm.29 Doch wie dipus lernt auch Faust aus seinen Erfahrungen nicht: ». . . fr Goethe ebenso wie fr Kant fhrt kein Weg daran vorbei, die menschliche Autonomie zu erweitern und im eigenen Interesse und im Blick auf die Natur mndiger und das heißt: urteilsfhiger zu machen. Diesen Weg beschreitet Faust nicht; ihm ist es deshalb verwehrt, in seinen Karrieresprngen gewonnene Erfahrungen aufzubewahren und im Sinne einer Persçnlichkeitserweiterung zu verarbeiten« (Negt, 2006, S. 64 f.). Der Mangel an Urteilsfhigkeit, also der Fhigkeit zu Selbstreflexion und (ethischer) Selbstbegrenzung, offenbart sich bereist mit Fausts erstem Auftreten. Im nchtlichen Studierzimmer (als Metapher fr den Mangel an lichter Erkenntnis) beschwçrt Faust den Erdgeist, der ihm auch alsbald erscheint. Doch war Faust gerade noch bereit, alles fr dessen Erscheinen zu geben, Ich fhle ganz mein Herz dir hinzugeben! Du musst! du musst! und kostet’ es mein Leben! (Faust I: 480–481)

29 Da Faust aber geschichtslos erscheint, ist ihm Mephisto im Grunde entweder von Anfang an zur Seite gestellt oder Mephisto spaltet sich als nicht mehr integrierter Selbstanteil ab.

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so ertrgt er im nchsten Moment den Anblick nicht: Weh’! ich ertrag dich nicht! (Faust I: 485)

Wieder gefasst, kehrt augenblicklich auch die Hybris zurck, Angst und Schrecken fhren mitnichten zu einem Lernprozess: Faust: Der du die weite Welt umschweifst, Geschftiger Geist, wie nah fhl’ ich mich dir! Geist: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir! (verschwindet) Faust: (zusammenstrzend). Nicht dir? Wem denn? Ich, Ebenbild der Gottheit! Und nicht einmal dir! (Faust I: 510–517)

Bereits das von Faust kurz zuvor geußerte Ansinnen, zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhlt, stellt den maßlosen Anspruch dar, sich ber alle menschlichen Begrenztheiten hinwegsetzen zu wollen. Die totale, absolute Erkenntnis ist gçttlich und der Versuch insofern bereits eine verblendete Grçßenidee. Wie Sophokles spielt auch Goethe mit den Symbolen Licht und Dunkelheit, Blendung und Blindheit. Geschichtslos erwacht Faust im zweiten Teil aus dem Schlaf des Vergessens, der persçnliche (Lern-)Geschichte und Erkenntnis in Finsternis hllt. Erscheint uns Faust im ersten Teil als Gelehrter im Studierzimmer ohne individuelle Vorgeschichte, die ihn erst wahrhaft menschlich machen wrde, so ist er im zweiten Teil seiner Historie durch das Vergessen (glcklich) beraubt. Gewissensbisse sollen ihn ausdrcklich nicht qulen, womit jedoch ewige Wiederholungen gleicher Fehler zwangslufig sind. Der Erkenntnisdrang richtet sich demnach zum Allerhçchsten (angesichts des Sonnenaufgangs) statt auf sich selbst: Faust: . . . Jetzt zu der Alpe grngesenkten Wiesen Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,

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Und stufenweise herab ist es gelungen; – Sie tritt hervor! – und, leider schon geblendet, Kehr’ ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen. So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen Dem hçchsten Wunsch sich traulich zugerungen, Erfllungspforten findet flgeloffen, Nun aber bricht aus jenen ewigen Grnden Ein Flammen-bermaß, wir stehn betroffen; Des Lebens Fackel wollten wir entznden, Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer! Ist’s Lieb? Ist’s Hass? Die glhend uns umwinden, Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer, So dass wir wieder nach der Erde blicken, Zu bergen uns in jugendlichem Schleier. So bleibe mir die Sonne denn im Rcken! (Faust II: 4699–4715)

Faust – weit mehr noch als dipus – bezieht Erkenntnis nicht etwa auf sich selbst, sondern auf die Welt, die zu begreifen er sich anschicken mçchte. Wie bei dipus mangelt es an selbstreflektorischer (Welt-)Erkenntnis, weshalb Faust im ersten Teil der Tragçdie Mephisto mit seiner zynischen Vernunft zur Seite gestellt ist. Mephisto erfllt – hier jedoch von Anfang an – die Funktion des Teiresias, des blinden Sehers, der das Alter Ego des Protagonisten, seine nicht gelebte selbstkritische Seite darstellt. Zwar treibt Mephisto Faust auch zu großer Rcksichtslosigkeit an, beispielsweise im zweiten Teil der Tragçdie, wenn Faust, um seine Landgewinnungsplne zu verwirklichen, skrupellos zur Beseitigung der alten Generation schreitet, symbolisiert durch Philemon und Baucis. Doch eine selbstreflexive Position ist – im Sinne der Aufklrung – niemals als Befhigung zu absoluter Wahrheit oder Welterkenntnis zu verstehen. Mephisto stellt insofern die Mçglichkeit einer alternativen Perspektive dar – mit allen Irrtmern und Fehlungen, die jeder Selbstrelativierung innewohnt. Deshalb ist Mephisto nicht etwa gçttlich, sondern der Geist, der stets verneint. Teiresias hingegen ist im Besitz einer historischen, jedoch persçnlichen Wahrheit des dipus. Seine Sehergabe ist demnach auch keine Welterkenntnis, so wie sie Faust 73

anstrebt, sondern eine historisch-retrospektive und daher – da auf die Fakten bezogen – wahr. Menschliche Konflikthaftigkeit (»zwei Seelen, wohnen, ach, in meiner Brust«) ist im gnstigen Fall bewusstes Erleben innerer Ambivalenz und nicht – oder wenigstens nicht nur – ußerer Mehrpersonenkonflikte. dipus wie Faust haben ihre selbstreflektorische Seite nicht verinnerlicht: Beide verfgen zwar ber die eher aktionistische Ebene des Selbst im Fluss des Erlebens, kaum jedoch ber die alternative Selbstorganisation des Selbst in der Distanzierung (vgl. Broucek, 1982, 1991; Hilgers, 2006). In der Verabsolutierung der eigenen Position und der Maßlosigkeit eigener Werte und Urteile geht menschliche Ambivalenz als Tor zur Humanitt verloren. Diese Ambivalenz htte auch in Fausts Frage »Ist’s Lieb? Ist’s Hass? die glhend uns umwinden?« in eine Synthese ausmnden kçnnen. Stattdessen fhrt das Entweder-Oder von Liebe und Hass auf direktem Weg in Destruktivitt: Bei weitgehender Triebentmischung mit ihrer Aufspaltung in entweder Liebe oder Aggression tritt Aggression in ihrer Reinform ußerst destruktiv in Erscheinung. Was die Welt jedoch im innersten zusammenhlt, ist das Amalgam von Liebe/Sexualitt und Aggression. Mithin ist es vielmehr das zutrgliche Maß an Liebe und Aggression, das menschliche Beziehung und Begegnung – auch intime – erst ermçglicht. Hass entsteht dort, wo Aggression nicht in ihrer konstruktiven Form, also vermischt mit Liebe, auftritt. Fausts Rcksichtslosigkeit begrndet sich in seiner Suche nach dem Ideal: Chor: Sume nicht dich zu erdreisten Wenn die Menge zaudernd schweift; Alles kann der Edle leisten, Der versteht und rasch ergreift. (Faust II: 4662–4665)

Nicht die Auflçsung menschlicher Konflikthaftigkeit und Ambivalenz durch Eindeutigkeit, sondern ihre Integration ermçglicht eine reife Auseinandersetzung mit der – im Faust wie im dipus-Mythos angelegten – Schuldfrage: Menschliche Handlungen 74

ziehen notwendig schuldhafte Verstrickungen nach sich, derer sich die Protagonisten im gnstigen Fall verantwortlich stellen. Nicht so Faust. Seine großartigen Projekte missraten jeweils, und jedes neue Projekt gestaltet sich wie eine Flucht aus dem vorhergehenden Scheitern: Gelddruck und Inflation; der knstliche Mensch in der schließlich zerbrechenden Phiole, die Wagner als Fausts Nachfolger schafft; die Rckkehr Helenas als Symbol der absoluten Schçnheit in den antiken Hades; das Scheitern von Militrreform und Landgewinnung, was Faust, inzwischen erblindet, jedoch nicht mehr realisiert. Damit ist selbst Fausts »Sozialprojekt« korrumpiert, auch oder gerade weil ihm dmmerte, dass seine persçnliche Bedeutung nur wrde berdauern kçnnen, wenn er fr andere Dauerhaftes schfe: Faust: Zum Augenblicke drft ich sagen: Verweile doch, du bist so schçn! Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in onen untergehen, – Im Vorgefhl von solchem hohen Glck Genieß ich jetzt den hçchsten Augenblick. (Faust II: 11581–11586)

Faust endet mit eben jener Grçßenidee, die ihn den Pakt mit dem Teufel schließen ließ. Denn auch die Hinwendung zu sozialen Projekten zielte instrumentell auf eigenen Glanz und persçnliche Grçße. Fausts vorgeblicher Altruismus entpuppt sich sprichwçrtlich als Pferdefuß, denn die aufgeladene Schuld vergrçßert sich gerade dadurch noch, dass sie durch vordergrndige Hinwendung zu sozialem Engagement verringert werden soll. Der potentielle Ausweg wre die Anerkennung persçnlicher schuldhafter Verstrickung – ein Weg, den weder dipus noch Faust zu whlen bereit waren. Die technologischen und menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind in »Faust II« bereits vorweggenommen: Die nationalsozialistischen Raumeroberungsplne mit der Vernichtung ihrer Bewohner, Wirtschaftskrisen und Inflation, Klon75

technik und der knstliche Mensch aus dem Reagenzglas, der Grçßenwahn von der technischen Allmach(t)barkeit mit ihren Katastrophen wie Tschernobyl, Challenger-Explosion, SevesoGift und Klimawandel. Und »die Mtter«? Um sich Helena erfolgreich nhern zu kçnnen, muss Faust mit (s)einem Schlssel einen glhenden Dreifuß berhren – man geht wohl nicht fehl, darin eine sexuelle Anspielung zu entdecken, die sich auf Phallus und weibliches Geschlecht bezieht (vgl. hierzu und zu der rtselhaften Bedeutung der »Mtter« A. Schçnes Kommentare zu Faust, 1994, S. 466–471). Dennoch bleibt die Frage, warum Goethe offensichtlich mit dem Wort »Mtter« spielt und es mindestens Faust mit der Angst zu tun bekommt – nicht eben seine vornehmste emotionale Reaktion. Faust (schaudernd): Den Mttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag! Was ist Wort das ich nicht hçren mag? (Faust II: 6265–6266)

Whrend dipus sein Heil im Weg zurck zu »den Mttern« sucht, strmt Faust nach vorn, im Versuch, jede Abhngigkeit von Endlichkeit, Werden und Vergehen, die durch »die Mtter« symbolisiert ist, zu berwinden. Zieht es dipus unbewusst und mit Macht zu den Mttern, wo ihm Endlichkeit aufgehoben scheint, flieht der postmoderne Faust vor ihr im Versuch, durch Allmachtstechnologien jede Abhngigkeit von der Natur zu berwinden. Die ewige Angst der Macht-Mnner vor dem Weib, dessen Macht nicht in großartigen Taten, sondern in der Symbolisierung von Werden und Vergehen besteht, verdichtet sich in der Angst vor den Mttern. In Abwesenheit verinnerlichter (schtzender) Mtterreprsentanzen entsteht jene Leere, die Faust mittels rastlosen Agierens abzuwehren trachtet. Wer keine persçnliche Geschichte zu haben scheint, ist zu ewiger Flucht vor dem mchtigsten Symbol eigener Herkunft damaliger Hilflosigkeit verurteilt. Die persçnliche Mutter im Konkreten und das Symbol der Mutter verweisen auf eigene Endlichkeit, auf vormalige kind76

liche Abhngigkeit wie auf jene kommende, die bereits die Sphinx dem dipus mit ihrem Rtsel verhieß. Der verzweifelte Ausweg besteht im rastlosen Agieren und der Selbstvergewisserung eigener Wirkmchtigkeit, die letztlich doch kein Mittel gegen Tod und Sehnsucht nach Geborgenheit aufzuweisen vermçgen.

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Die Aktualitt çdipaler Konflikte und Tragçdien

Was sind çdipale Konflikte? Hasserfllte Rivalitt mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und mangelnde Ablçsung vom Gegengeschlechtlichen? Eventuell auch die ewige Tochter, die bei ihrer Mutter bleibt? Oder eher Geschwisterrivalitt um Aufmerksamkeit, um Gunst von Mutter und Vater? Geht es um Konkurrenz zweier Rivalen um eine schçne Frau, zweier Frauen um einen attraktiven Mann? Wie verhlt es sich jedoch dann mit jenen Menschen, die aus Angst vor Unterlegenheit und Niederlage den Wettkampf erst gar nicht antreten? Ist es die Generationenabfolge, der Umgang mit den Altvorderen, den Eltern und der lteren Generation, die ihren Platz den Jngeren mehr gezwungen denn freiwillig freimachen, und der Jungen, die die Alten aus ihren beruflichen Positionen verdrngen? Oder der Umgang mit unseren Kleinsten, der Mangel an Krippenpltzen und angemessenen Ausbildungen, die Aussetzung in der dnis der Bildungslandschaft und der Ausbildungsmisere, der Jugendarbeitslosigkeit und der ewigen Praktika fr Hochschulabsolventen, die nicht zum Zuge kommen? Vielleicht auch die Frage, wie wir Migranten aufnehmen, die durch Flucht vor Krieg und Brgerkrieg, ethnischer Verfolgung oder religiçsem Wahnsinn, Beschneidung oder Zwangsheirat, Armut und wirtschaftlichem Elend im Kçnigshaus Europa ankommen und um Aufnahme bitten? Hier, wo – hnlich wie beim Kçnigspaar Polybos und Merope – Mangel an Nachwuchs herrscht? Oder handelt es sich um die Frage nach Selbsterkenntnis, die uns wie dipus umtreibt und doch zugleich auch schreckt, wenn sie sich einstellt? Die Frage nach der selbstverschuldeten und 79

-gewhlten Blindheit mit geçffneten Augen, die Fhigkeit, einen anderen Menschen in seiner Individualitt und Verschiedenheit berhaupt wahrzunehmen? Schließlich das Erforschen der eigenen Geschichte, die immer auch die der Generationen vor einem selbst beinhaltet und von ihr beeinflusst ist? Wie sich die Traumata und Konflikte, aber auch die glcklich gelçsten Lebensprobleme der Vorfahren und die gelungenen Biographien auf uns heutige und die Zukunft unserer Kinder auswirken? Gehçrt der Kampf der Geschlechter, das Unverstndnis fr einander, Unterlegenheitsgefhle von Mnnern gegenber der sexuell viel potenteren Frau hierhin? Endlich die unerhçrte und unbegreifliche Zumutung des Todes, die Gewissheit eigener Endlichkeit und die Empçrung gegen Grenzen und Beschrnkungen berhaupt? Die Geschichte von dipus ist wie eine Kreisbewegung um diese stets wiederkehrenden Themen, die sich bereits in der Vergangenheit abspielten und doch immer wieder aktualisieren. Damit sind die Tragik und Schicksalhaftigkeit des Menschen durch die Jahrtausende auf den Punkt gebracht. Doch nicht die Gçtter lenken unser Leben, wir sind es – jedenfalls wenn wir die Augen çffnen und Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge. Allerdings ist unser Einfluss begrenzt, abhngig von biologischen, sozialen und historischen Bedingungen. Dies zu erkennen und mit den begrenzten Mçglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben zu fhren, macht menschliche Freiheit aus.

Generationenabfolge – ein bisschen Ewigkeit und die ewige Prsenz des Todes Geburten finden in vielen westeuropischen Lndern lngst nicht mehr in der historischen Tabuzone der Welt der Frauen und Hebammen statt. Nach der zeitweiligen Medizinisierung mit hohem Technikaufwand bei gleichzeitiger Vernachlssigung der Befindlichkeiten von Mutter, Kind und Vater besitzen Geburten heute einen halbçffentlichen Charakter. Kliniken konkurrieren mit 80

Rooming-In, Wellness-Bereichen und vor allem dem Angebot an Angehçrige, der Geburt beizuwohnen. Erstmals in der Kulturgeschichte sind Wehen und Geburt fr Mnner kein absolutes Tabu mehr. Eher lastet auf den Vtern bereits ein gewisser sozialer Druck, ihre Frauen whrend der Geburt nicht allein zu lassen. Doch die beinahe frçhliche Beseitigung einer Tabuzone offenbart am Ende auch immer ihre vormalige Funktion: Die Rckkehr zum Liebespaar, das sich erotisch begehrt, fllt nach dem gemeinsamen Erlebnis des blutig-schmerzhaften Geburtsvorgangs nicht unbedingt leichter. Die Bilder von der geweiteten blutigen Vulva, aus der der Kindskopf austritt, bei eventuell vorangegangenem Dammschnitt, sind nicht dazu angetan, das sptere Begehren des Mannes zu steigern. Im Gegenteil bedarf es der Ersetzung der Bilder vom Geburtsverlauf durch solche, die mit Leidenschaft und Verlangen gekoppelt sind. Die emanzipatorisch und solidarisch gemeinte Geste, dass ein Mann seine Frau bei diesem existentiellen Erlebnis nicht allein lsst, hat demnach eine unter Umstnden folgenreiche Kehrseite. Wegen der historisch hohen Sterblichkeitsquote von Frauen unter der Geburt sollte das Tabu die Vter auch vor der unertrglichen Belastung schtzen, miterlebt zu haben, wie quasi die Mutter zugunsten des Neugeborenen ihr Leben verliert – eine schwere Hypothek fr das gesamte Leben der Kinder und die Beziehung zwischen Vater und Kind. Doch auch bei heutigem Stand der Medizin bleibt ein Risiko fr Mutter und Kind. Neben dieser existentiellen Bedrohung erfahren beide Partner whrend des Geburtsvorgangs die unmittelbare Nhe zu Werden und Vergehen von Leben. Der glckliche Moment nach der Geburt eines gesunden Kindes ist jener, in der sich beide Partner der Unsterblichkeit einen Augenblick nahe fhlen kçnnen. Das eigene Leben hat sich fortgepflanzt und begegnet beiden in Gestalt eines Dritten: Dieser Mensch war einen Augenblick lang nur »wir« – bis zum Zeitpunkt der ersten Zellteilung, von wo ab innere wie ußere Einflsse den wachsenden Organismus immer weiter zum Individuum reifen lassen.30 30 ber die Bedeutung pr- und perinataler Einflsse auf das Kind und seine

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Die Partner sehen einen neuen Menschen, der im glcklichen Fall aus einem innigen Moment der Liebe und Leidenschaft heraus entstanden ist. Sie erleben den transzendenten Moment des Weiterlebens in einem anderen Menschen: der kurze Augenblick der Unsterblichkeit. Doch im nchsten Moment wird auch der eigene Tod viel klarer vor Augen gefhrt. Kinder reprsentieren beides, ein bisschen Unsterblichkeit und den nher rckenden Tod. Denn in der Begegnung mit eigenen Kindern erlebt man die eigenen Mçglichkeiten und Grenzen so deutlich wie sonst fast nirgends: Die Geburt eines Kindes ist zugleich ein memento mori. Diese Ambivalenz begrndet einen Teil der Feindseligkeit, den Eltern gegen ihre Kinder richten kçnnen. Neid auf die ungeahnten und weit offen stehenden Mçglichkeiten, die man selbst nicht mehr hat oder nie in dem Umfang besaß, besonders wenn Eltern ihren Kindern alle erdenkbare Fçrderung zuteil werden lassen. Die Alternative zum ungezgelten Neid, der sich in Feindseligkeit niederschlgt, ist Trauer ber schwindende eigene Mçglichkeiten. Doch diese Trauer ist nicht einmalig und punktuell auf die unmittelbare Zeit nach der Geburt begrenzt. Immer wieder und mit steigender Deutlichkeit beginnen Kinder, sich von ihren Eltern fort- und auf ein eigenstndiges Leben zuzubewegen: Die Geburt ist der Startschuss fr das langsame Fortgehen des Kindes von seinen Eltern. Und jede weitere Autonomieentwicklung des Kindes ist zugleich Symbol fr das Zurckbleiben und langsame Abtreten der Eltern. Je mehr sich Eltern von den wachsenden Kompetenzen und Mçglichkeiten ihrer Kinder bedroht fhlen, desto mehr werden sie deren Autonomieentwicklung behindern. Symbolisch ist dies

sich schon recht bald entwickelnde Lern- und Anpassungsfhigkeit gibt es mittlerweile eine wachsende Flle von Erkenntnissen (vgl. Janus, 1997, 2000). Schon lange wusste man beispielsweise, dass Kinder, die vorgeburtlich in der Nhe von Flughfen »gelebt« hatten, sich nach der Geburt von Fluglrm im Schlaf nicht gestçrt fhlten. Anders Suglinge, die erst nach der Geburt dem Fluglrm ausgesetzt waren: Sie zeigten sich deutlich belastet.

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im dipusmythos durch das Durchbohren der Fersen und die hindurchgezogenen Fesseln ausgedrckt. Natrlich sterben die wenigsten Eltern tatschlich durch die Hand ihrer Sprçsslinge – abgesehen von einigen psychotischen Ttern, die im Wahn ihre Eltern tçten, oder jenen, die aus Verzweiflung wegen stndiger gewaltttiger oder sexueller bergriffe zum ußersten schreiten. Eltern bekommen vielmehr ihre Sterblichkeit durch das viel jngere Leben ihrer Kinder vor Augen gefhrt. Zugleich erleben sie, wie ihre Kinder sie nach und nach in manchen Gebieten berholen und in den Schatten stellen. Beeindruckend fand ich selbst den Moment, als mir mein lterer Sohn zum ersten Mal im Alter von elf Jahren beim Joggen mit großer Leichtigkeit und fr mich uneinholbar davonlief. Im gnstigen Fall erleben Kinder Stolz, wenn es ihnen zum ersten Mal gelingt, etwas besser zu machen, als es ihren Eltern gelang. Und Eltern fhlen vielleicht eine Mischung aus leichtem Neid und Stolz auf ihre Kinder, denen so viel mehr Mçglichkeiten offen stehen als ihnen selbst. Eine gewisse Wehmut angesichts der Unabnderlichkeit lindert den Neid und den Schmerz ber die dahinrinnende verbleibende Lebenszeit. Die Fhigkeit, Wehmut und Trauer ber die schwindenden Mçglichkeiten und Krfte zu erleben, ist die Voraussetzung fr einigermaßen ambivalenzfreie Fçrderung des Nachwuchses und die uneingeschrnkte Freude an ihrem Wachsen und Gedeihen. Doch auch Kinder erleben den langsamen Generationswechsel nicht ohne emotionale Beteiligung. Neben Stolz auf die wachsenden Fhigkeiten und die beginnende berlegenheit gegenber den Eltern in einzelnen Bereichen mischen sich Trauer und Wehmut, weil die Kindheit unwiederbringlich zu Ende geht. Es wchst die Erkenntnis heran, dass weder man selbst noch die Eltern unsterblich sind. Ist die Beziehung zwischen Kindern und Eltern intakt und nicht durch Feindseligkeiten dominiert, werden Kinder auch leichte Schuldgefhle entwickeln, wenn sie ihre Eltern berholen. Trost oder charmante Worte drcken Liebe und Sorge um die Beziehung aus: »Papa, morgen gewinnst du wieder!« Kinder lernen den Umgang mit Ambivalenz. Einerseits mçch83

ten sie natrlich beim Schachspiel gewinnen oder besser und schneller Mountainbike fahren. Anderseits stellt sich mit dem erfolgreichen Konkurrenzkampf auch Wehmut und Sorge ein: Wenn man berlegen ist, hat man die einstmals auf allen Gebieten Sicherheit und Kompetenz verkçrpernden Eltern ein wenig verloren. Der Gewinn an eigenen Fhigkeiten und die Lust, erfolgreich zu rivalisieren, geht mit dem Verlust der ehedem scheinbar allmchtigen und daher Geborgenheit spendenden Eltern einher. Im dipusmythos hingegen bekmpfen sich die Generationen gegenseitig; statt einer einigermaßen pfleglichen Generationenabfolge bedrohen sich die Generationen wechselseitig mit dem Tod. Allerdings geht die reale Bedrohung zunchst immer von den Erwachsenen aus; erst in einem zweiten Schritt wendet sich das Los und die jngere Generation richtet sich gegen die Alten. In der heutigen Gesellschaft mit Jugendwahn, Leugnung von Alter, Gebrechlichkeit und Tod spielen sich diese Konflikte ebenfalls mit großer – wenn auch struktureller – Grausamkeit ab. Der moderne Laios setzt seine Kinder in einer kinderfeindlichen Umgebung aus, damit zugleich die Iokaste von heute bekmpfend: Mangel an Krippen- und Kindergartenpltzen, eine skandalçs schlechte Schulausbildung, die in den hoch entwickelten westeuropischen Lndern ihresgleichen nicht kennt, chronischer Lehrstellenmangel, berfllte Hochschulen mit besonders hoher Studentenzahl je Professur, Studiengebhren und Langzeitarbeitslosigkeit fr immer mehr chancenlose Jugendliche lassen ganze Generationen verwahrlosen. dipus berlebte durch Glck und hohe Begabung. So auch heute: Gesetzt wird auf Fçrderung der Eliten, whrend immer grçßer werdende Gruppen von Jugendlichen von Anfang an keine Chance haben. dipus war ein Migrant, der als solcher freundliche Aufnahme und Fçrderung fand, bis er durch den Hinweis eines Betrunkenen auf seine unklare Herkunft aufmerksam wurde. Das Glck des dipus, als Migrantenkind der ersten oder zweiten Generation freundliche Aufnahme und Fçrderung zu erhalten, besitzen in Deutschland immer weniger Jugendliche. Wer in der Bundesrepublik in arme Verhltnisse mit geringer Bildung der Eltern geboren wird, der bleibt auch arm und ungebildet. 84

Auch heute tçtet Laios also seine Nachkommen nicht einfach, sondern berlsst sie einem Schicksal, das viele Kinder nachhaltig schdigt, behindert und hnlich dem dipus mit seinen Wunden stigmatisiert. Doch auch der moderne dipus rcht sich an seinen Vtern: In den sozialen Brennpunkten steigen Jugendkriminalitt und Bereitschaft zu entgrenzter Gewalt in beunruhigender Weise.31 Die Idealisierung von Jugend und Jugendlichkeit hat als hsslichen Zwillingsbruder die Verachtung von Alter und die Leugnung wrdigen Sterbens zur Folge. Rentendebakel und Rentenkrzungen, Hartz IV und eine desolate Pflegeversicherung, die die entstehenden Kosten nicht abdeckt, bedeuten die implizite Kndigung des Generationenvertrages. Wer als lterer Mensch arbeitslos wird, hat beinahe keinerlei Chance mehr, eine Stelle zu finden. Und lter ist man heute schon ab vierzig. Die Generationenabfolge kann pfleglich und respektvoll verlaufen, unter Beachtung der Wrde aller Beteiligten. Unser Schicksal, symbolisiert im Rtsel der Sphinx, dass wir einst hilflos waren als Kinder und es dereinst erneut sein werden, wenn wir gebrechlich sind, kçnnen wir nicht verndern. Maßgeblichen Einfluss haben wir jedoch auf die Art, wie wir zurcktreten und Jngeren Platz machen, indem wir den kommenden Generationen nicht eine dnis anbieten, wie sie einst dipus vorfand. Dann haben wir auch eine realistische Chance, dass wir spter nicht aus dem Weg gerumt werden, wie es Laios durch dipus erfuhr. Doch das setzt voraus, dass wir – weiser als dipus – das Rtsel der Sphinx ganz unmittelbar auf uns selbst beziehen.

31 Dies betrifft nicht etwa Gewaltttigkeit oder Kriminalitt schlechthin, die tatschlich in manchen Bereichen rcklufig ist. Auch die Kriminalittsquote von Migranten ist hnlich der von Deutschen. Lediglich in sozialen Brennpunkten (gekennzeichnet durch Armut, schlechte Bildung, Gewalt im Lebens- und Wohnumfeld, hohe Arbeitslosigkeit) steigt Jugendkriminalitt sprunghaft an.

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Das çdipale Drama – Rollenkonfusion bei Alleinerziehenden und Patchworkfamilien Ein junger Mann, der bei seinem Vater und seiner neuen Partnerin wohnt, wird auf einer psychotherapeutischen Station eines psychiatrischen Krankenhauses wegen Antriebslosigkeit, Suizidalitt und Problemen am Arbeitsplatz aufgenommen. Rasch stellt sich heraus, dass die Schwierigkeiten mit dem Arbeitgeber durch notorisches Zusptkommen entstanden, Regeln und Grenzen vom Patienten kaum akzeptiert werden und zudem eine Reihe von ttlichen Auseinandersetzungen im Vorfeld zu Konflikten mit der Justiz fhrten. Auf Station fllt er durch leicht anzgliches Verhalten gegenber deutlich lteren Mitarbeiterinnen wie auch gegenber sehr jungen Patientinnen auf. Darauf angesprochen erwhnt der Patient wie beilufig, dass seine Eltern geschieden seien und sein Vater eine Klassenkameradin geheiratet habe, die ihm whrend der Schulzeit im Gymnasium Liebesbriefe geschrieben habe. Die Briefe habe er noch heute.

Die Partnerschaft des Vaters berschreitet die Generationengrenzen – nicht etwa wegen des großen Altersunterschieds zwischen ihm und seiner neuen Partnerin. Vielmehr ist es die Anwesenheit des mit der Partnerin gleichaltrigen Sohnes und die vergangene Liebelei zwischen diesem und der jetzigen Frau seines Vaters, die in eine tragische Verstrickung fhrt. Vater und Sohn konkurrieren potentiell um die gleiche Frau – ein Kern des dipusmythos. Doch anders als beim klassischen Drama ist die Frau des Vaters nicht zugleich Mutter seines Sohnes und damit deutlich lter als der tragische Held dipus, sondern die Altersrollen sind vertauscht. Der dipusmythos des Griechen Sophokles liefert noch stets Interpretationsvorlagen fr aktuelle Verstrickungen in Patchworkfamilien und Partnerschaftskonstellationen, sofern die historische Tragçdie nicht konkretistisch verstanden wird. Denn je mehr sich traditionelle Familienverbnde aufzulçsen beginnen und damit klare bis rigide Rollenverteilungen hinfllig werden, desto mehr sind aktive Rollendefinitionen und -management erforderlich. Die herkçmmliche Familie mit ihrem berkommenen Rollenverstndnis von Vater, Mutter und Kindern – eventuell auch noch weiteren Familienangehçrigen der 86

Großelterngenerationen – lieferte immerhin strukturelle Sicherheit ber eigene wie fremde Aufgaben, Pflichten und Rechte. Der Wegfall dieser Strukturen macht jedoch Verhandlungen und Reflexion erforderlich, wo vordem Tradition die Verhltnisse regelte. Die symbolisch zu verstehende historische Kastrationsdrohung des Vaters gegenber den Sçhnen und im weiteren Sinn berhaupt gegenber Kindern sanktionierte Rollenberschreitungen und verwies auf die Notwendigkeit, erst einmal groß zu werden, um sodann selbst bestimmen und Sexualitt mit einem Partner leben zu kçnnen. Dieses patriarchale Prinzip bot Sicherheit in der strengen Enge, fçrderte jedoch kaum die Autonomie und Flexibilitt der Familienmitglieder. Im Zeitalter der Flexibilisierung, hoher Scheidungsraten und geforderter, wenn auch politisch kaum gefçrderter Berufsttigkeit von Mnnern und Frauen, mssen die vormaligen ußeren Strukturen zunehmend durch innere ersetzt werden. Doch das berfordert oft diejenigen, die fr Struktur und Sicherheit in einer Familie verantwortlich sind. Denn einzig die Erwachsenengeneration kann Rollenzuweisungen vornehmen und Grenzen zwischen den zusammenlebenden Familienmitgliedern vornehmen. Kinder wren mit solchen Aufgaben restlos berfordert. Da aber traditionelle Verhaltensmuster nicht mehr mit vormaliger Selbstverstndlichkeit zur Verfgung stehen, bedarf es jeweils der Familiensituation angepasster Strukturen, um allen Beteiligten Geborgenheit und eine einigermaßen rivalittsfreie Atmosphre zu gewhrleisten. In Patchworkfamilien, die aus einem Elternteil mit Kindern und einem neu hinzukommenden Partner von Vater oder Mutter, mçglicherweise mit eigenen Kindern bestehen, herrscht hufig Verwirrung, wer denn fr die Erziehung der Kinder zustndig ist: Darf der neue Partner der Mutter ihre Kinder maßregeln oder nur fçrdern? Wie ist die Stellung der Kinder aus unterschiedlichen Herkunftsfamilien zueinander? Gibt es Intimittsrume, die nur Teilen der Patchworkfamilie zugnglich sind, anderen aber verschlossen bleiben? Besonders heikel ist die Frage fr die bereits vorhandenen Kinder, ob eventuelle weitere Kinder 87

aus der neuen Partnerschaft besondere Vorrechte genießen werden oder irgendwie – weil aus der jetzigen Beziehung entstanden – bevorzugt werden kçnnten.32 Sehr hufig entstehen bei neuen Partnerschaften der Eltern heftige Konflikte mit den Kindern: »Du hast mir gar nichts zu sagen!« stellt eine schwierige Herausforderung fr den hinzugekommenen Erwachsenen dar. Akzeptieren die Erwachsenen diese Forderung der Kinder, ist der neue Partner von den Kindern depotenziert – ein Leichtgewicht, das man nicht ernst nehmen muss. Doch umgekehrt ist ein neuer Partner nicht automatisch erziehungsberechtigt. Wie also mit dem Dilemma umgehen, den neuen Partner nicht zum dipus werden zu lassen, der weder nur lteres Geschwister der Kinder ist noch neuer Elternersatz, der er nie werden kann. Die Grenze verluft tatschlich an der Erziehungsberechtigung. Zwar darf der neue Partner als Erwachsener Grenzen setzen, wie es jeder Erwachsener gegenber Kindern tut. Doch ureigene Erziehungsaufgaben mit entsprechenden Maßregelungen darf er nicht vornehmen. Eine Frage nach den Hausaufgaben ist ebenso berechtigt wie ein konkretes Hilfsangebot. Doch das Verbot, das Haus zu verlassen, wenn die Schule zu kurz kam, wre ein bergriff. Dies nderte sich nur bei einer Adoption, die dem neuen Partner zwangslufig Erziehungsaufgaben bertrge. Doch hufig ist den Partnern nicht klar, dass nur das leibliche Elternteil die Autoritt besitzt, elterliche Funktionen auszuben, nicht aber der neue Partner. Denn der bleibt ein Wohngemeinschaftsmitglied und wird niemals »Papa« oder »Mama«. Allerdings wnschen sich sogar manche Kinder, deren abwesender Elternteil kaum Prsenz oder Interesse an ihnen zeigt, den neuen Partner als Vater oder Mutter anreden zu drfen. Doch dies

32 So ganz neu, wie es scheint, ist dieses Thema jedoch nicht: In zahlreichen Mrchen wird die meist bçse Stiefmutter vorgestellt und werden die Schwierigkeiten geschildert, die sich fr den Mrchenhelden daraus ergeben, dass ein leiblicher Elternteil verstorben ist und der neue Partner dem Kind feindselig gesinnt ist.

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wrde Verwirrung ber die eigene Herkunft und Vergangenheit schaffen – wie bei dipus einst. Fr viele Patchworkeltern ist die neue Familie nicht nur emotionale Heimat, sondern aufgrund der Anforderungen der Arbeitswelt und finanzieller Engpsse auch fast existentielle Absicherung. Die Kinder zu Kindergarten oder Schule zu bringen, Beaufsichtigung und Freizeitaktivitten bei gleichzeitiger beruflicher Einbindung und fehlender Krippen- und Hortpltze machen arbeitsteiliges Vorgehen der Partner fast zum Zwang. Dabei jedoch die Grenze zu den nichtleiblichen Kindern zu wahren und fr eigene wie fremde prsent zu sein und doch nur die eigenen zu erziehen, ist eine schwierige Gratwanderung, die in der Praxis nur teilweise funktioniert. Die Aufrechterhaltung der Rollenverteilung und ihrer Grenzen ist auch fr den traurigsten Fall der Patchworker von Bedeutung: Geht die Familie wieder auseinander, so haben die Kinder im schlimmsten Fall ein Zuhause mit interessanten und liebenswerten Wohngemeinschaftsmitgliedern verloren. Niemals aber ein weiteres Mal ein Elternteil.

Transgenerationale Traumata – schicksalhafte Wiederholungen Nicht nur dipus wuchs bei Stiefeltern auf. Auch sein Vater Laios genoss einen Teil seiner Erziehung fernab der Heimat in einem fremden Kçnigshaus. Der dipusmythos behandelt Traumatisierungen, die sich ber Generationen fortsetzen oder auf die Nachkommen verheerenden Einfluss haben – jedenfalls solange, wie die Geheimnisse der Vergangenheit nicht ans Tageslicht kommen. Die Selbstblendung des dipus erfolgt just im Moment grçßter Erkenntnis ber eigene Person und Herkunft. Mithin beendet dipus augenblicklich die gerade gewonnene Freiheit, sehen und erkennen zu kçnnen und sich damit von den unerhçrten Intrigen der Gçtter zu befreien. Die gefundene Wahrheit erscheint unertrglich und damit kehrt dipus zur selbst gewhlten Blindheit zurck, die zugleich 89

auch den Verzicht auf die Emanzipation von den Gçttern bedeutet. In Pierre Corneilles (1606–1689)33 dipusstck allerdings empçrt sich der Held gegen die Gçtter; die Blendung ist hier nicht mehr als selbst gewhlte Unmndigkeit zu verstehen, sondern im Gegenteil als Revolte: dipus will den ungerechten Himmel nicht mehr sehen mssen. Damit lehnt dipus eine persçnliche Verantwortung fr die schicksalhafte Verstrickung ab, was allerdings nur solange mçglich ist, wie die Gçtter als externalisierte, also ußere Instanz des Unbewussten erscheinen. Historisch rckt das Unbewusste – lange vor Freuds Entdeckung – immer nher an das Bewusstsein heran und damit ist die Frage aufgeworfen, ob der Mensch auch fr seine unbewussten Konflikte verantwortlich ist, und zwar selbst dann, wenn er sie (noch) nicht zu erkennen vermag. dipus’ Mut und Forschergeist verlsst ihn immer wieder in dem Moment, wo die mçgliche Erkenntnis die eigene Person im Kern betrifft: Auf die schicksalhafte Frage der Sphinx, wer am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen gehe, antwortet er nicht »ich«, sondern allgemeiner: »der Mensch«. Damit wehrt er die mit unmittelbarer Selbsterkenntnis und -erfahrung verbundene emotionale Betroffenheit ab: »Der Mensch«, entgegnet ein cleverer, nicht aber ein weiser dipus. Die Erkenntnis eigener Endlichkeit und Begrenztheit lsst dipus vor den Toren Thebens nicht zu, was ihm die symbolische Rckkehr zu Mutters Schoß erst ermçglicht. Umgekehrt htte die Einsicht in die unvermeidliche Notwendigkeit zu Weiterund buchstblich auch Fort-Entwicklung (demnach auch fort von mtterlichem Schutz und Geborgenheit) die Chance auf ein eigenes, selbst bestimmtes Leben jenseits elterlicher Bindungen ermçglicht. dipus teilt die Angst vor dem Innenleben, vor der Selbsterkenntnis eigener wie transgenerationaler Vergangenheit, mithin emotionaler wie intellektueller Autonomie mit dem neuzeit33 Bereits im Stck »Le Cid«, das 1637 uraufgefhrt wurde, wird eine Variante des çdipalen Themas behandelt: Die Heldin Chimne empfindet Liebe fr den Mçrder ihres Vaters.

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lichen Menschen: »Es ist leichter«, meinte Henry David Thoreau (1972, S. 450), »mit fnfhundert Mann auf Staatskosten viele tausend Meilen weit durch unwirtliche Gewsser zu segeln, als fr sich allein das Binnenmeer der Seele zu erkunden.« Das Schwanken zwischen unbedingtem Erkenntniswillen und Erschrecken ber die Wahrheit oder ihrer Leugnung hat beinahe jeder Psychotherapiepatient mit dipus gemein. Mag auch die Wahrheitssuche in ihrer Intensitt differieren, so stellt sich oft Betroffenheit ein, wenn Klarheit entsteht, wo vorher die Augen verschlossen waren. Und ganz hnlich wie dipus erscheinen viele Patienten zur nchsten Stunde, als ob sie willentlich die Augen vor der Wahrheit wieder verschlossen htten. Psychotherapie ist ein oszillierender Prozess, dessen Intensitt sich durch die Fhigkeit bestimmt, der Wahrheit ins Auge zu sehen und dabei standzuhalten, und umgekehrt, sie wie die Sphinx zu erschlagen. Ein in den Nachkriegsjahren geborener Geschftsfhrer sucht psychoanalytische Hilfe nach einer langjhrigen Vorbehandlung bei einer Szenetherapeutin. Dort habe er viel Betroffenheit erlebt, Kçrperarbeit gemacht, letztlich habe ihn aber die Vorbehandlerin mit der Empfehlung weggeschickt, zu einem mnnlichen Therapeuten zu gehen. Die Behandlung sei sehr harmonisch und gut verlaufen, er gehe nur auf den Rat seiner Therapeutin. Seine Ehe mit seiner sehr phallischen Frau sei gescheitert, er wohne mit seinen Kindern zusammen, es gebe aber Disziplinprobleme. Er tue sich schwer, bestimmt aufzutreten, das kme ihm »autoritr« vor. In Beziehungen zu anderen Frauen fhle er sich oft unterlegen, habe Erektionsprobleme »im entscheidenden Moment«. Seine Exfrau habe ihn immer wieder als Mann kritisiert, er habe versucht, sich nicht zu machohaft zu geben, seine jetzige Freundin erwarte aber mehr Mnnlichkeit von ihm. Als Geschftsfhrer tue er sich schwer, gegenber Kunden oder Geschftspartnern Forderungen durchzusetzen. Meine konfrontative Art erschreckt den Patienten, er berlegt in den ersten Stunden, ob er nicht den Behandler wechseln soll, weil ich so betont mnnlich auftrete. So etwas lehne er ab, das sei autoritr und machohaft. Allerdings spre er auch, dass ihm etwas fehle, was ich vielleicht htte. Seiner Freundin wrde das wohl gefallen, seine Exfrau aber wrde solche Mnner absolut ablehnen. Der Vater, ein Fçrster, sei ein chronisch depressiver Mann gewesen, der sich hufig ins Bett zurckgezogen habe. Vom Vater der Mutter ha-

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be er ein Landgut bernommen, es aber bankrott gewirtschaftet und so die Prophezeiungen des Großvaters, der nie viel vom Vater gehalten habe, erfllt. Der Großvater sei deutschnational gewesen, jedoch kein Nazi, mit großem Ansehen im Dorf als Autoritt. Der Vater hingegen habe vor dem Krieg wohl mit den Nazis sympathisiert, sei aber traumatisiert aus dem Krieg zurckgekehrt und von da an strikt gegen den Nationalsozialismus gewesen. Hufig habe er im Schlaf geschrien und von Kriegserlebnissen getrumt. Gelegentlich habe der Patient die Eltern beim Geschlechtsverkehr gehçrt und sich sehr vor den lauten Geruschen gengstigt und die Schreie der Mutter als Schmerzenslaute gegenber vermuteter Gewalt des Vaters missdeutet. Er frage sich heute, ob nicht Penetration immer eine Verletzung der Frau sei und sich damit eigentlich verbiete. Im Dorf seien er und seine Geschwister Außenseiter gewesen, zumal der Vater als unzuverlssig galt und deshalb kein hohes Ansehen genossen habe. Die Bewohner htten jedoch umgekehrt den Großvater immer wieder um Rat gefragt. Sein Wort sei Gesetz gewesen. Bei der Mutter habe der Patient immer Schutz gefunden. Sie habe wesentliche Probleme mit ihm besprochen, zeitweilig habe er sich wie ein Partner der Mutter gefhlt. Er erinnere sich, wie der Vater einen Ausflug mit den Geschwistern gemacht habe. Hin- und hergerissen habe er auf ein Zeichen des Vaters gewartet, zum Beispiel, dass er ihn zrtlich in den Arm genommen htte, was aber ausgeblieben sei. Letztlich sei er unglcklich bei der Mutter geblieben.

Typisch fr Mnner deutscher Nachkriegsgenerationen lehnt der Patient nicht nur Vater und Großvater als Reprsentanten deutscher Geschichte ab, sondern »erschlgt« fçrmlich jede Art von Mnnlichkeit, die ihm mit der unakzeptablen deutschen Vergangenheit identisch zu sein scheint. Der idealisierten Mutter stehen negative mnnliche Personen gegenber, die als Modelle und Vorbilder unakzeptabel erscheinen. Doch damit ist das Problem nicht gelçst, sondern bertrgt sich auf die kommenden Generationen: Der Patient befindet sich in einer Gegenabhngigkeit, indem er jede Art von Mnnlichkeit mit Nationalsozialismus und Grausamkeit gleichsetzt. Durch die konsequente Vermeidung des Mnnlichen scheitert seine Ehe – wie die seiner Eltern. Auch er droht – wie sein Vater – in geschftliche Schwierigkeiten zu kommen, da er jede Art von aggressiver Konfliktfhrung mit Destruktivitt gleichsetzt und 92

daher vermeidet. Und schließlich gibt es Erziehungsprobleme mit den eigenen Kindern, die sich disziplin- und gelegentlich respektlos verhalten, weil der Patient seine Rolle als Vater und Autoritt nicht ausfllt. Der gewhlte »antiautoritre« Erziehungsstil ist genau das, was der Begriff beinhaltet: anti. Infolgedessen laufen seine Kinder Gefahr, große Schwierigkeiten mit Regeln und Grenzen zu bekommen oder umgekehrt sehnschtig auf eine Autoritt zu warten, die dann aber mit grimmiger Ironie wiederum autoritr sein drfte. Im Laufe der Behandlung, fr die er sich dann doch entschließt, setzt sich der Patient mit meiner »autoritren« Art auseinander und beginnt, den Großvater als partielles Vorbild fr sich zu entdecken. Weder lehnt er mich, Vater oder Großvater in Gnze ab, noch kommt es zur kritiklosen Identifikation. Er erkennt, dass man totalitren Bestrebungen wie denen der Nazis oder der Regellosigkeit nur entgegentreten kann, wenn man ber konstruktive Aggression verfgt. Aggression ist damit nicht mehr mit Destruktivitt, Gewalt und Terror gleichgesetzt. Naheliegenderweise lassen die Konflikte mit den Kindern in ihrer Heftigkeit nach, eben weil der Patient nunmehr die Konflikte fhrt, Grenzen setzt und auf der Einhaltung von Regeln und Absprachen besteht. hnlich wie dipus hatte der Patient zwanghaft versucht, ein bestimmtes Schicksal zu vermeiden, nmlich den mnnlichen Vorfahren zu hneln und die gleichen Fehler wie sie zu machen. Der Versuch, unschuldig zu bleiben und durch besonders »softes« Verhalten sicher zu gehen, immer auf der richtigen Seite zu stehen, fhrte auf direktem Weg in die tragische Verstrickung. Die Gefahr der Wiederholung transgenerationaler Konflikte kam gerade erst durch den starren Vermeidungsversuch zustande. Die Geschichte des Patienten ist typisch fr eine mnnliche Nachkriegsgeneration, die in ihrem ehrlichen Erschrecken vor der Vergangenheit ihrer Vter und Großvter Zuflucht zur generalisierten Vermeidung alles ihnen mnnlich, autoritr oder gewaltsam Erscheinenden nahm. Bis heute ist das Ttertrauma auch in der politischen Debatte aktuell und behindert rationale Entscheidungen, weil unerkannte Emotionen blind machen. An93

gesichts der Frage, ob sich deutsche Truppen an der internationalen Intervention im Kosovo beteiligen sollten, kehrte die unbewltigte Vergangenheit mit Macht an die Oberflche zurck: Gerade wegen Auschwitz sollten keine deutsche Truppen teilnehmen, so der grne Abgeordnete Hans-Christian Strçbele. Eben wegen Auschwitz sollten sie intervenieren, so der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer. Beide Politiker hantierten – stellvertretend fr viele – mit dem deutschen Ttertrauma. Und beiden gelang es deshalb nicht, eine rationale Argumentation ins Feld zu fhren. Die htte nmlich angesichts des Vçlkermordes auf dem Balkan gerade nicht Auschwitz zum Thema gemacht, sondern danach gefragt, welche Ziele, mit welchen Mitteln und bei Inkaufnahme welcher mçglichen Verluste man verfolge und wie man bei eventuellem Scheitern auch wieder den Balkan wrde verlassen kçnnen. Erst wenn es gelingt, knftige Debatten mit solcher Rationalitt zu fhren, hat man sich aus der historischen Schuld befreit und ist imstande, reife, auch politische Verantwortung zu bernehmen – immer jedoch auch mit dem Risiko fehlerhafter Entscheidungen, die eventuell zu neuer Schuld fhren.

dipus, der ambivalente Forscher – oder gibt es ein Recht auf Nicht-Wissen? dipus sitzt auf einem schrecklichen Erbe, das zu ergrnden er aufbricht und das zu klren er doch immer wieder zçgert. Als er whrend eines Festes von einem Betrunkenen erfhrt, er sei nicht der leibliche Sohn von Polybos und Merope, macht er sich auf, seine Herkunft zu klren. Merkwrdigerweise zieht der clevere dipus aus der unerhçrten Botschaft des Delphischen Orakels, er werde seinen Vater tçten und seine Mutter heiraten, einen abstrusen Schluss: Er beschließt, nicht nach Korinth zurckzukehren, um seine vermeintlichen Eltern und sich selbst vor der Erfllung der Prophezeiung zu schtzen. Doch dieser Entschluss entbehrt jeder Logik. Schließlich war dipus im Wissen, Polybos und Merope seien nicht seine Eltern, erst nach Delphi gezogen. 94

Im entscheidenden Moment verlsst dipus seine Klugheit, die er wenig spter, im Angesicht der Sphinx, wiederum khl und keck unter Beweis stellt. Einstweilen wre jedoch die sichere Entscheidung gewesen, gerade zu seinen Adoptiveltern zurckzukehren, allenfalls eine jngere oder gleich alte Frau zu ehelichen und vorsichtshalber niemanden zu tçten. In den unsicheren Zeiten der griechischen Antike mag der letzte Teil schwer gefallen sein, der erste jedoch war auch damals der Normalfall. Die Vielschichtigkeit und Differenziertheit des Mythos bietet zweifellos zahlreiche Deutungsmçglichkeiten, zum Beispiel jene des Wiederholungszwangs angesichts generationenbergreifender Traumata. Ein anderer, weiterer Aspekt ist die Ambivalenz mçglicher Erkenntnis, die – wenn sie die eigene Person betrifft – sowohl befreiend wie auch bedrckend sein kann. Was will dipus wirklich wissen und wovor mçchte er lieber – allegorisch gesprochen – die Augen verschließen und blind bleiben? Wie viel Selbsterkenntnis ertrgt ein Mensch und was soll besser im Verborgenen bleiben, obwohl Wissen prinzipiell der Erkenntnis zugnglich ist? »Erkenne sich selbst« war das Motto auf der Eingangstr des delphischen Tempels, den dipus durchschritt. Ob er wohl zum Verlassen den rckwrtigen Ausgang whlte, der das Motto hatte: »Von nichts zu viel«? Der Mythos des dipus ist zugleich eine moderne Parabel auf die Frage, wie viel wir von unserem Schicksal wissen mçchten. dipus war auf der Suche nach seiner Vergangenheit, um die Zukunft in den Griff zu bekommen. Doch beherrschen wir das Knftige grundstzlich mehr, wenn wir mehr ber unsere persçnliche Zukunft wissen? Ist es tatschlich immer hilfreich, die eigene Zukunft in ihren Einzelheiten geweissagt zu bekommen, wie sie dipus einst erfuhr? Oder wre – je nach Zukunft – das Nichtwissen zu favorisieren, wie es dipus bevorzugte, indem er wesentliche Teile des Orakels mehr oder weniger aktiv missverstand? Wir stehen im Begriff, durch molekulargenetische Forschung individuelle Zukunft immer besser voraussagen zu kçnnen. Allerdings bezieht sich dieses Wissen nicht etwa auf berufliche Karrieren oder partnerschaftliches Glck, sondern eher auf weit95

gehend dstere Prognosen von Krankheit und Tod oder den Ablauf der persçnlich-biologischen Uhr. Wie bei dipus auch ist dieses Wissen zunchst theoretischer Natur: Der Ausbruch einer Erkrankung ist stark von persçnlichem Verhalten, von sozialen Einflssen und von Schicksalsschlgen abhngig. Fr manche Krankheiten gilt dies jedoch nicht. »Chorea Huntington war die erste genetisch bedingte Erkrankung, fr die das verantwortliche Gen identifiziert werden konnte und bei der somit eine genetische Diagnose weit vor Krankheitsausbruch mçglich wurde. Da zuknftig mit einer erheblichen Zunahme der prsymptomatischen Diagnosemçglichkeiten fr genetisch bedingte Erkrankungen zu rechnen ist, ist es sinnvoll, die Erfahrungen aus der Beratung von Risikopersonen fr Chorea Huntington zu nutzen« (Richartz-Salzburger et al., 2006, S. 211). Diese Erfahrungen beziehen sich zum Beispiel auf die Frage, wie Risikopersonen mit einem positiven oder negativen Testergebnis umgehen oder welche persçnlichen Voraussetzungen gegeben sein mssen, damit berhaupt eine Testung und die Mitteilung des Ergebnisses stattfinden kann. Chorea Huntington ist eine progredient und tçdlich verlaufende, neurodegenerative Erkrankung, fr die weder kausale Behandlungsmçglichkeiten noch Vorbeugung bestehen. Entsprechend belastend sind die Frage nach einer Testung und die Erçffnung des Ergebnisses. Je nach Ergebnis kann von einem wahrscheinlichen bis sicheren Ausbruch ausgegangen werden, wobei das Erkrankungsalter stark variieren kann, was jedoch ebenfalls einigermaßen prognostizierbar ist. Die Krankheit selbst ist durch unwillkrliche, ruckartige Bewegungen des Rumpfes, der Arme und Beine und der Gesichtsmuskulatur gekennzeichnet. Es kommt zu kognitiven Einschrnkungen, zunehmender Demenz, Persçnlichkeitsvernderungen, depressiven Stçrungen und gelegentlich auch psychotischen Symptomen. Die Suizidrate ist stark erhçht. Da die Folgen einer Testung fr die potentiell Betroffenen erheblich sind, gibt es mittlerweile ethische Richtlinien, nach denen zu entscheiden ist, ob die Testperson psychisch stabil genug erscheint und sich ber die Konsequenzen des mçglichen Testergebnisses fr sich und 96

die Angehçrigen im Klaren ist. Hufig fragen Patienten einen Test nach, die bereits selbst Kinder haben oder immerhin einen Kinderwunsch hegen. Bei positivem Testergebnis geraten Partnerschaften in Gefahr, insbesondere dann, wenn sich der Partner Kinder wnscht. berraschenderweise wirkt ein negativer Befund jedoch auch nicht unbedingt entlastend. Die Klarheit, selbst nicht betroffen zu sein, ruft die qulende Frage nach der so genannten berlebensschuld auf den Plan, wenn andere Angehçrige bereits erkrankt oder positiv getestet sind: Warum sie, aber ich nicht? Wieso darf ich berleben, aber sie nicht?34 Ein Mitte vierzigjhriger Patient mit den typischen Bewegungsaufflligkeiten einer Chorea Huntington, depressivem und zeitweiligem wahnhaften Erleben stellt sich in einer Universittsklinik vor und wird stationr aufgenommen. Aufgrund der Familienanamnese besteht von Anfang an der Verdacht auf Chorea Huntington. Im jugendlichen Alter des Patienten war sein Vater daran erkrankt und schließlich gestorben. Wenig spter begab sich der Patient in jahrelange psychotherapeutische Behandlung wegen multipler hypochondrischer ngste. Ob der Behandler von der Erkrankung des Vaters wusste, ob er sie einschtzen konnte und daher auch vom Risiko des Patienten Kenntnis hatte, ließ sich nicht feststellen, da der Therapeut inzwischen verstorben war. Im Rahmen der stationren Behandlung wird der Patient nach eingehender Aufklrung positiv getestet. Er selbst ist immer hufiger verwirrt, so dass sich vor allem fr seine Frau die Frage nach dem Risiko und der Verantwortung fr die beiden gemeinsamen Kinder stellt.

Doch htte der Therapeut, falls er die Gefhrdung seines Patienten ahnte, auf Klrung bestehen sollen und mit welchem Ziel? Htte er – angesichts der Familienplanung des Patienten – auf eine mçgliche genetische Belastung der Kinder hinweisen mssen, nachdem er dies zuvor beim Patienten selbst unterließ? Wre es

34 Stehen konkrete Motive fr die Testung im Vordergrund, also zum Beispiel Familienplanung, kann das Testergebnis besser verarbeitet werden als bei unspezifischen Motiven (Beendigung der Unsicherheit). berraschend ist allerdings, dass nicht nur Alter oder Geschlecht auf die weitere psychische Befindlichkeit keinen Einfluss haben, sondern auch das Testergebnis selbst! (Decruyenaere et al., 1996).

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das hçhere ethische Gut gewesen, den Patienten auf sein Erkrankungsrisiko hinzuweisen, sofern es dem Therapeuten klar war, um mçgliche Nachfahren zu schtzen? Und wre es ein Schutz fr diese Nachfahren, wenn sie erst gar nicht geboren wrden? Wrden sich diese beiden Kinder des Patienten fr ein Nichtleben, ein nie geborenes Sein entscheiden, wenn sie um ihr Erkrankungsrisiko wssten? Oder wre alle Beteiligten besser damit gedient, solange nichts von ihrem mçglichen Schicksal zu wissen, bis sie sich bei einigen unbersehbare Symptome einstellen? Das Delphische Orakel, das dipus befragen konnte, existiert nicht mehr. Immerhin hatten die Orakelsprche den unschtzbaren Vorteil, mehrdeutig zu sein. Die Pythia gab einen Hinweis, der jedoch der Interpretation bedurfte. Erst das Orakel in Kombination mit der individuellen Stellungnahme bestimmte das knftige Schicksal. So auch bei dipus, der erst durch seine krasse Umdeutung, dass nmlich seine Adoptiveltern doch seine leiblichen Eltern seien, in sein Verderben rennt. Es gab – so gesehen – eben doch keine absolute Vorbestimmtheit, sondern eine Einschrnkung der Freiheit und der Mçglichkeiten. Der Gott Apoll hat seinen Platz gerumt und die Pythia gibt es nicht mehr. Der Mensch selbst hat sich an ihre Stelle versetzt und nimmt knftig immer weiter reichende Prognosen vor. Doch in den meisten Fllen verhlt es sich nicht so wie bei Chorea Huntington. Die Wahrscheinlichkeiten, mit denen die moderne Forschungspythia ihre Orakelsprche versieht, bedrfen erneut der individuellen Bewertung und Stellungnahme. Allerdings werden knftig von Arbeitgebern und Versicherungsgesellschaften Risiken wie Gewissheiten behandelt, um mçglichst kostengnstig zu arbeiten, sofern es denn soweit kommen sollte, dass genanalytisches Wissen ber Einzelpersonen gehandelt und weitergegeben wird. Eine solche stigmatisierende Ausgrenzung wrde jedoch an sich schon ein belastendes so genanntes Lifeevent darstellen, der geeignet ist unspezifisch alle mçglichen Erkrankungsrisiken zu steigern: Der Umgang mit dem Orakel und die gesellschaftliche wie persçnliche Interpretation der Prophezeiung beeinflussen das Schicksal. Im Unterschied zu dipus hat der einzelne Mensch des 21. Jahrhunderts jedoch persçnlich kei98

nerlei Einfluss mehr auf die gesellschaftliche Interpretation »seines Orakels«. Die Sprche der Pythia werden aber erst dann zu totalitren Aussagen, wenn sie in ihrer Bedeutung nicht mehr gewichtet und persçnlich interpretiert werden. Die vormalige Weisheit des Orakels, eben keine eindeutigen Aussagen zu ttigen, entspricht wissenschaftstheoretisch dem Stand bio-psycho-sozialer Medizin: Weder kommen wir als Tabula rasa zur Welt, sozusagen mit unbeschriebener Festplatte, noch ist unsere geistig-kçrperliche Entwicklung absolut vorherbestimmt. hnlich dem Delphischen Orakel finden wir relative Voraussagen vor ber unsere biologische Entwicklung und unsere sozialen Chancen. Die individuelle Stellungnahme entscheidet ber die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs von Krankheiten zum Beispiel durch Ernhrungsgewohnheiten, Sport, Alkohol oder Nikotin ebenso wie ber die intellektuelle Reifung. Absolute Freiheit gibt es demnach ebenso wenig wie absolute Determination. Das Erkennen der Orakelsprche fhrt mithin zu mehr Freiheit als ihre Ignoranz, da immerhin die Mçglichkeit besteht, aus den persçnlichen Chancen und Risiken ein selbst bestimmtes Leben zu machen. Der Wissenschaftsphilosoph Karl Raimund Popper und der Neurowissenschaftler John Eccles gingen sogar so weit zu behaupten, dass das Ich das Gehirn prge (Popper u. Eccles, 1982). Tatschlich beeinflussen unsere Erfahrungen die biologischen Strukturen des Zentralnervensystems. Neuroplastizitt bezeichnet die Fhigkeit des Zentralnervensystems, zeitlebens aus Erfahrungen zu lernen (Regg, 2006). Mithin kçnnen wir unser Schicksal – in Maßen – beeinflussen, indem wir versuchen, bestimmte, anregende und fçrdernde, Erfahrungen zu machen und andere, schdigende oder traumatisierende, zu meiden. Es ist das Wechselspiel zwischen biologischen, sozialen und psychischen Einflssen, das unsere Grenzen ausmacht, wie es auch unsere Freiheit bestimmt. Hybris, die Vermessenheit des dipus, wre es, menschliche Begrenztheit und persçnliche Grenzen zu leugnen. Doch blind wie dipus bleiben wir, wenn wir uns der modernen Mçglichkeiten der Pythia nicht bedienen. Es liegt in der kollektiven wie persçnlichen Verantwortung im Umgang mit 99

unserem Wissen und unseren Mçglichkeiten, ob wir die Pythia der Wissenschaft zu grçßerer Freiheit oder zu Totalitarismus nutzen.

Die Sphinx – unheimliche Verkçrperung der Angst vor dem Weiblichen Die Sphinx oder der Sphinx? Die gyptischen Sphingen waren hufig mnnlichen Geschlechts und stellten Pharaonen dar, die die Gottheit verehrten. Die griechische Sphinx, der dipus vor den Toren Thebens begegnete, war weiblich. Nicht alle Sphingen kçnnen ohne weiteres einem Geschlecht zugeordnet werden, ihre Zge haben etwas Rtselhaftes, oft Hermaphroditisches. Die thebanische Sphinx35 jedenfalls war ein furchtbares Ungeheuer, mit einem Frauenkopf und dem Leib eines geflgelten Lçwen. Sie selbst war bereits aus zwei Mischwesen entstanden. Ihre Mutter war Echidna, deren Gestalt im oberen Teil eine schçne Frau, im unteren Bereich jedoch eine entsetzliche Schlange war. Echidna brachte mit ihrem Gatten Thyphon, einem riesigen Ungeheuer mit hundert Drachenkçpfen und Schlangenfßen, nicht nur die Sphinx, sondern noch eine Reihe der schlimmsten Ungeheuer der griechischen Antike hervor: Chimaira, Scylla, Gorgo, Cerberus, der nemeische Lçwe, einige Drachen und der Adler, der Prometheus’ Leber fraß, waren ihre Sprçsslinge. Die Unheimlichkeit sexueller Vereinigung und Triebhaftigkeit ist mit diesen Mischwesen thematisiert: Die Schçnheit der Echidna betrifft nur ihren Oberkçrper, ihr Unterleib und mithin ihr Geschlecht wecken pures Entsetzen anstelle von Begehren und Lust. Aus Echidnas Lust mit einem notwendigerweise gleichfalls ungeheuren mnnlichen Gegenpart erwachsen die Schrecken der Menschheit. Sexualitt selbst erscheint damit als 35 »Der ursprngliche Name des Ungetms in Hellas war Phix, im Zusammenhang mit dem Phikeiongebirge bei Theben, wo das Untier hauste. Volksethymologie machte daraus › die Wrgerin‹ (griech. = Sphinx)« (Hunger, 1985, S. 382).

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potentiell bedrohlich und in ihren Folgen verheerend: Ungezgelte Triebhaftigkeit gebiert Ungeheuer. Damit ist die Angst der Hellenen vor eigener Zgellosigkeit ins Monstrçse verzerrt und auf Fabelwesen projiziert: Nicht wir sind es, die sich gern ungebremster sexueller wie aggressiver Lust hingeben mçchten, es sind jene Ungeheuer, die uns bedrohen. Zugleich ist damit der Wert sittsamen Verhaltens unter Beweis gestellt – bei Strafe monstrçser Auswchse. Doch die thebanische Sphinx, die den Wanderer verschlang, war weiblich. Zwischen den Zeilen muss man lesen, dass es sich somit um ein mnnerverschlingendes Untier handelte, denn zu Zeiten des dipus waren es fast ausschließlich Mnner, die umherreisten. Das Ungeheuer verkçrpert daher vornehmlich die Angst des Mannes vor dem starken, nmlich lçwenhaften Weib, das einen zu verschlingen droht. Zudem stellt es dem Mann existentielle Fragen, auf die er keine Antwort weiß. Die Sphinx vereint Animalitt mit Intellekt, Triebhaftigkeit mit Klugheit. Diese Art von Weiblichkeit erscheint vielen Mnnern bis heute als außerordentlich bedrohlich, weil berlegen (vgl. Fausts Schaudern bei »den Mttern«). Die Befrchtung des Mannes, von einem Weib verschlungen zu werden, wchst mit ihrer Attraktivitt und Intelligenz. In der Begegnung mit einer Frau erfhrt sich der Mann selbst. Denn lustvolle Sexualitt und empathische Intimitt werfen grundstzliche Lebensfragen auf: Der Wunsch nach Wiederholung der Erfahrung mit dem Bedrfnis, den schçnen Moment festzuhalten, koppelt sich mit Verlustngsten. Was schçn ist, mçchte man behalten, was wunderschçn ist, ngstigt auch, weil die Angst vor dem Ende bermchtig werden kçnnte. Das gilt umgekehrt natrlich auch fr eine Frau, die dem Mann ihrer Trume begegnet. Doch im ber die Jahrtausende whrenden Patriarchat werden diese Befrchtungen von Mnnern thematisiert – und erschlagen, nicht etwa ertragen, ganz so, wie sich auch dipus verhlt. Die Frchterlichkeit, mit der das weibliche Geschlecht in Gestalt der Sphinx erscheint und vor allem auch wie ihre Mutter Echidna dargestellt wird, ist eine Verschiebung der Angst vor dem Weib schlechthin und ihrem Geschlechtsteil auf abscheuli101

che Monster. Unheimlich ist die Faszination, die von der Sphinx ausgeht, weil man(n) sich in ihr zu verlieren droht. Nicht das schçne Weib verschlingt die Mnner in ihrer Boshaftigkeit, sondern die Mnner frchten, sich in ihr aufzulçsen. Angesichts großer Lust und wilden Begehrens werden die Selbstgrenzen brchiger, Eigenes, was gerade noch wichtig war, relativiert sich. Das Liebeslager zu verlassen wird zur Anstrengung: Wer will schon in den antiken Kampf ziehen oder sein modernes Großraumbro aufsuchen, wenn daheim das sße Lotterleben lockt? Die Angst bezieht sich auf den stets heikel bleibenden Versuch, das Animalisch-Triebhafte zu beherrschen, ohne es jedoch ganz zu verlieren. Hegel glaubte, die Sphinx verkçrpere diesen Konflikt: »Aus der dumpfen Strke und Kraft des Tierischen will der menschliche Geist sich hervordrngen, ohne zur vollendeten Darstellung seiner eigenen Freiheit und bewegten Gestalt zu kommen, da er noch vermischt und vergesellschaftet mit dem Anderen seiner selber bleiben muss. Dieser Drang nach selbstbewusster Geistigkeit, die sich nicht aus sich in der ihr allein gemßen Realitt erfasst, sondern nur in dem ihr Verwandten anschaut und in dem ihr ebenso Fremden zum Bewusstsein bringt, ist das Symbolische berhaupt, das auf dieser Spitze zum Rtsel wird« (Hegel, 1986, S. 465). Doch ist es nicht allein animalische Triebhaftigkeit, auf der der Schrecken der Sphinx beruht. Erschreckend ist auch das Rtsel, das sie jedoch nur stellen kann, weil ihr bereits aus dem Animalischen ein menschlicher Kopf erwachsen ist, mit dem sie ihre und des Menschen Daseinsbedingungen erforscht. Sie stellt die Frage als weibliches Ungeheuer. Frauen sind als Gebrende und Stillende werdendem Leben nher als Mnner. Das Erlebnis, dass ein Kind im eigenen Kçrper heranwchst, ist eine existentielle Erfahrung, die die Geschlechter trennt. Was immer Mnner an Heldentaten vollbringen mçgen, die Welt von Empfngnis und Schwangerschaft, Geburt und Stillen erleben sie lediglich als mehr oder weniger hilflose Zuschauer. In seiner Frau begegnet auch dem emanzipiertesten Mann die Doppelung von Frau und Mutter. Diese beiden wichtigsten Personen im Leben eines Mannes, 102

die Frau, die ihn gebar und nhrte, und jene, die er begehrt, fallen in der mnnlichen Phantasie und der Realitt vieler Paarbeziehungen wieder in eins: Die Partnerin wird mtterlich erlebt (bisweilen gibt sie sich auch so) und damit zur bermchtigen Person, die zu begehren unmçglich wird, weil damit das Inzestverbot berschritten wrde. Zudem wrde – mindestens in der Phantasie und in entsprechenden Schuldgefhlen – vterliche Rache auf den Plan gerufen. Um sich vor diesem »Mutterweib« zu schtzen, bieten sich verschiedene »Lçsungsmçglichkeiten« an: Die gnzliche, machistische Entwertung alles Weiblichen, die Aufteilung in Mutter-Partnerin einerseits und Geliebte an anderem Ort oder im Freudenhaus andererseits oder die ausschließliche partnerschaftliche Freundschaft mit Mnnern am Thresen bei Beibehaltung einer rein sexuellen Beziehung zur Frau. Viele Mnner misshandeln ihre Frauen gewaltsam und versichern sich auf diese Weise ihrer berlegenheit im Kampf gegen ihre Angst vor der mchtigen Frau. Auch dipus begegnet der alten Sehnsucht, in den Mutterleib zurckzukehren und damit alle Beschwernisse der Realitt loszuwerden, als sich die monstrçse Sphinx ihm auf seinem Weg zurck in den Weg stellt. Tatschlich hatte dipus ja bereits seinen Vater beseitigt und stand im Begriff, seine Mutter zu ehelichen, als er der Sphinx begegnet. Der Vater als Reprsentant der Realitt und der Unterschiede ist beseitigt und damit auch die Forderung, selbst groß zu werden und nicht die Mutter zu heiraten, sondern sich den Mhen einer eigenen Partnersuche auszusetzen. Viele Jungen ußern im Laufe ihrer Kindheit durchaus charmant diesen Wunsch, dabei aber kurzerhand die Existenz des Vaters leugnend. In dieser kindlichen Phantasie wird der Vater meist »weggedacht«, er existiert nicht oder ist bereits gestorben. Im dipusmythos ist diese unbewusste Vorstellung konkretistisch umgesetzt, doch genau wie bei Kindern nicht als geplanter und kaltbltig ausgefhrter Mord, sondern sozusagen als Versehen, da dipus gar nicht wusste, wen er erschlug. Doch damit ist der Weg frei fr die Umsetzung eines archaischen Wunsches, den die franzçsische Psychoanalytikerin Janine 103

Chasseguet-Smirgel als Rckkehr in den Mutterleib versteht. Natrlich geht es nicht um die konkrete Umsetzung dieser Vorstellung, sondern um ihr symbolisches quivalent: »Letztlich geht es darum, auf der Ebene des Denkens ein psychisches Geschehen ohne Barrieren und mit frei fließender psychischer Energie wiederzufinden [. . .] Alle Hemmnisse auf dem Weg zum mtterlichen Kçrper sind Reprsentanten der Realitt« (ChasseguetSmirgel, 1988, S. 92). dipus gelingt es, auch das letzte Hindernis auf dem Weg zurck zur Mutter zu beseitigen und damit wesentliche Reprsentanten der Realitt. Die Frage der Sphinx beinhaltete den Hinweis auf Endlichkeit und Tod, aber auch die Generationenabfolge, also die Notwendigkeit, die Eltern zu verlassen, und den Wunsch, die Mutter zu besitzen, aufzugeben. Das çdipale Verlangen, die Mutter zu besitzen, leugnet einen Teil der Realitt, nmlich dass nur der bereits erwachsene Vater die Mutter sexuell ausfllen kann, der kleine Junge und sein Organ jedoch noch zu klein sind. Die Realitt fordert Aufschub und die Akzeptanz der Zeitdimension – wiederum in der Frage der Sphinx reprsentiert. Eine pathologische çdipale Entwicklung bedeutet, dass es einem kleinen Jungen – meist unter unbewusster Mithilfe seiner Mutter und eines wenig prsenten Vaters – gelingt, diese Forderungen der Realitt zu leugnen und damit die Notwendigkeit zu warten und zu wachsen, kçrperlich wie psychisch. Im Ergebnis ist der Vater als Reprsentant dieser notwendigen Zeitspanne beseitigt und der Weg zurck wird frei: Warum warten und eigene Kleinheit einstweilen akzeptieren, wenn man doch schon in der Gegenwart alles haben und sein kann? Erkauft wird diese Entwicklung mit einem Gefhl der Großartigkeit, weil man ja schon alles erreicht hat, ohne sich anstrengen zu mssen, gepaart mit stndigen Abstrzen des Selbstwertgefhls, weil man gleichzeitig ahnt, dass man tatschlich damals die freigewordenen Position des Vaters nicht ausfllen konnte. Beim Erwachsenen besteht dieses Gefhl fort, weil nie gelernt und durchkmpft wurde, wie man sich den Forderungen der Realitt stellt. dipus gelingt es, dem Lustprinzip gegenber dem Realitts104

prinzip Vorrang zu verschaffen, nmlich auf krzestem und schnellstem Weg Befriedigung zu finden – ohne Umwege und Aufschbe. Diese Beseitigung des Realittsprinzips und seiner Reprsentanten geht mit erheblicher aggressiver Energie einher und entpuppt sich als mçrderische Wut, als sich dann doch noch jemand in den Weg stellt. Nach Vernichtung der Sphinx ist es der blinde Seher Teiresias, der es als Nchster wagt, die Realitt zu verkçrpern und der daher dipus sofort in Raserei versetzt. Nicht zufllig bedroht dipus ihn mit dem Tod – was einem bewussten Mord an einem symbolischen Vater gleichkme. Auch das logische Denken, offensichtlichster Ausdruck des Realittsprinzips, verlsst dipus im Moment der Offenbarung: Paranoid wittert dipus berall Verschwçrung und Boshaftigkeit, ihn als Herrscher zu Fall zu bringen. Die Frage der Sphinx als verschlingender weiblicher Figur war die nach Endlichkeit und Generationenabfolge. dipus weiß zwar die Antwort, bezieht diese jedoch nicht persçnlich auf sich. Die Sphinx kommt um, doch die Bedrohung durch die verschlingende Frau ist damit umso grçßer: dipus setzt sich fortan der Gefahr aus, durch die Rckkehr zum Identischen, zum Ort seiner Herkunft, seine Identitt zu verlieren. Die Preisgabe jeder Fortentwicklung, einer Entwicklung fort von der Mutter und hin zu Autonomie und Unterschieden, erzeugt Identitt. Kern der Identitt ist die Gewissheit ber das Eigene, primr des eigenen Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Herkunft und damit auch der Ziele und Werte und zwar jeweils im Unterschied zu anderen. Der Mensch, so Martin Buber, werde am Du zum Ich. Nicht zufllig ist das Ungeheuer, dessen dipus in Gestalt der Sphinx angesichtig wird, ein Mischwesen, halb Tier, halb Mensch, ein Mensch in statu nascendi, ein Tier, das gerade menschliche Selbstbewusstheit hervorbringt, aber noch im Animalischen steckt. Dorthin kehrt dipus zurck.

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Jenseits des Kastrationskomplexes – traumatisierende Beschneidungen als Herrschaftsinstrument dipus blendet sich angesichts der Erkenntnis, seine eigene Mutter geehelicht und mit ihr vier Kinder gezeugt zu haben. Traditionellerweise wird dieser Verstmmelungsakt in der Psychoanalyse als eine Art Selbstkastration interpretiert. Im Rahmen einer Verschiebung blendet sich dipus, statt sich zu kastrieren, und rettet auf diese Weise immerhin seine Mnnlichkeit. Damit umgeht er auch die Kastration durch den imaginierten Vater, den er tatschlich bereits beseitigt hat. In der traditionellen Psychoanalyse stand der Kastrationskomplex in enger Beziehung zum dipuskomplex: Das Verbot, die Mutter zu begehren oder ganz allgemein sexueller Aktivitten sei mittels Kastrationsdrohung von Seiten des Vaters bewehrt. Freud glaubte, Jungen frchteten von ihren Vtern Kastration wegen ihrer sexuellen Aktivitten und letztlich ihres Begehrens gegenber ihrer Mama. Mdchen empfnden hingegen ihre Geschlechtlichkeit als Nachteil. Mehr noch, in der so genannten phallischen Phase gebe es zwar »ein mnnlich, aber kein weiblich«, eher die Abwesenheit des Mnnlichen – eben die Kastration. Die Penislosigkeit des Mdchens wrde – zumindest von Jungen – als bereits erfolgte Kastration verstanden. »Auf der nun folgenden Stufe der infantilen Genitalorganisation gibt es ein mnnlich , aber kein weiblich; der Gegensatz lautet hier: Mnnliches Genitale oder kastriert «(Freud, 1923, S. 297). Diese historische Sichtweise, die die soziale Benachteiligung von Mdchen (als sozusagen strukturelle Kastration) ebenso wenig bercksichtigte wie die Frage, ob Kinder denn tatschlich nicht doch von Anfang an ein Bewusstsein davon haben, dass es zwei Geschlechter gibt (vgl. Chasseguet-Smirgel, 1988), erscheint vor dem Hintergrund von aktueller Kleinkindforschung berholt. Freuds Libidotheorie, deren Teil Kastrations- und dipuskomplex waren, machte genau jenen Fehler, dem angeblich kleine Kinder unterliegen: Es handelte sich um eine Unisex-Theorie, die die Differenziertheit weiblicher Sexualitt, ihre sexuellen Funktionen und Erlebnisfhigkeit und die Rolle kulturell-sozia106

ler Faktoren bei der Entwicklung mnnlicher und weiblicher Identitt ignorierte. Zudem war auf diese Weise die potentielle sexuelle berlegenheit der Frau sozusagen wissenschaftlich aus der Welt geschafft, und zwar zugunsten eines Penisprimats, den angeblich beide Geschlechter teilten. Doch auch wenn Freuds berlegungen zum so genannten Kastrationskomplex nur noch historische Bedeutung besitzen, hat sich damit die Frage nach Kastrationsngsten keineswegs erledigt. Im dipusmythos wird die Kastrationsdrohung durch die Gçtter reprsentiert: Frchterliche Schande und ebensolche Strafe lastet auf dem, der die Inzestschranke verletzt und sexuellen Kontakt mit seiner Mutter pflegt. Es verdient Beachtung, dass der Mythos zwar auch Laios, dem Kinderschnder, Strafe zumisst, der grçßere Frevel aber den familiren, realen Inzest mit der Mutter betrifft. dipus ist von Beginn an im bertragenen Sinn kastriert, weil seine Mobilitt von seinen Eltern aktiv behindert wird. Die Ambivalenz seiner Eltern, besonders seiner Mutter, besteht von Anfang an. Erwnscht und unerwnscht, herbeigesehnt und verflucht, hat er keine Chance, seine Autonomie einigermaßen ungehindert zu entwickeln. Diese Kastration seiner Mçglichkeiten verfolgt ihn vom Tag seiner Entstehung. Um die sexuelle Selbstbestimmung von Mnnern und besonders Frauen entstanden historisch und bis heute immer wieder heftige Konflikte. Denn sexuelle Erlebnisfhigkeit ist wesentlicher Bestandteil individueller Autonomieentwicklung, und zwar nicht nur gegenber dem anderen Geschlecht, sondern auch gegenber Eltern und Autoritten schlechthin. Die Alten fhlen sich durch die Jahrtausende von der potentiellen Freiheit der Jungen bedroht. Denn der jngeren Generation stehen noch mehr Mçglichkeiten offen, sie kçnnen besser potentielle Sexualpartner fr sich gewinnen, als es die ltere Generation vermag. Neid auf die grçßere Vitalitt der nachfolgenden Generation und die Befrchtung, sexuelle Freiheit kçnne auch die Autoritt der Alten in Frage stellen, fhren zu Restriktionen. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich glaubte gar, eine sexuell erlebnisfhige Generation 107

sei potentiell revolutionr und kçnne Kultur und Gesellschaftssystem umwlzen. Immerhin verfgen zwei Menschen, die einen sexuell genussfhigen Intimittsraum fr sich erschlossen haben und der deshalb allen anderen verschlossen ist, ber etwas Eigenes und Eigenstndiges, das sich der Kontrolle durch Eltern und Autoritten entzieht. Sexualitt transzendiert. Endlichkeit und Grenzen lassen sich besser ertragen, wenn der Orgasmus alle Grenzen fr einen Moment aufhebt. Das relativiert die Bedeutung von Religionen mit ihren Jenseitsversprechungen. Kein Wunder also, dass Kirchenvter und Religionsstifter, Prediger und die Funktionstrger der Weltreligionen alle mçglichen Einwnde gegen sexuelle Freizgigkeit vorbringen. Mit besonderer Verbohrtheit geht die katholische Kirche gegen jede Art der Empfngnisverhtung vor und verbietet ihren Glubigen Ovulationshemmer, Pessar oder Kondom. Dass es hier mitnichten um das angebliche Wohl und Seelenheil der Christenschar geht, zeigt sich in dem wtenden Fundamentalismus, mit dem auch die Ausbreitung von Aids wegen des strikten Kondomverbots in Kauf genommen wird, um ja keine sexuelle Freizgigkeit zu ermçglichen. Der qualvolle und grausame Tod von Hundertausenden im Namen Gottes, der sich vor jener sexuellen Lust frchtet, die er selbst offenbar irrtmlich schuf? Sexuelle Potenz und lustvolles Erleben ngstigen immer jene, die sich in ihrer Macht bedroht fhlen kçnnten. Das Nachkriegsdeutschland vernderte sich nachhaltig unter dem Eindruck zweier parallel verlaufender Entwicklungen: der so genannten sexuellen Revolution und den aufkommenden Studentenrevolten der 68er-Bewegung. Die erste rot-gelbe Bundesregierung, Große Strafrechtsreform, Gleichberechtigungsbestrebungen, Aufarbeitung der Nazi-Altlasten und ein generell liberaleres Klima waren die unmittelbaren Folgen. Um die bestehenden Herrschaftsverhltnisse zu schtzen, wird die anarchistische und animalische Triebhaftigkeit der Kontrolle durch Religionen und Institutionen unterworfen. Doch zumeist werden die Regeln des Zusammenlebens nicht einem freien Diskurs unterzogen, sondern oktroyiert. Tabus und Strafen schaffen 108

Sprachlosigkeit, wo sonst bedrohliche Vielfalt entstnde. Das grausamste weltweit praktizierte Mittel sexueller Unterdrckung ist dabei die Beschneidung von Frauen. Die weitgehende Entfernung der Klitoris hat massive Einschrnkungen der sexuellen Erlebnis- und Orgasmusfhigkeit zur Folge, die mit den Folgen der Beschneidung von Mnnern nicht zu vergleichen ist. Trotz aller gravierender Unterschiede fhren Beschneidungen bei beiden Geschlechtern zur Einschrnkung der sexuellen Empfindungsfhigkeit und Lust. Und dies ist auch ihr beabsichtigter Zweck. Verlssliche Zahlen ber den Anteil der an der Vorhaut beschnittenen Mnner in Deutschland gibt es nicht – ebenso wenig wie ber die an der Klitoris verstmmelten Mdchen. Doch die Wortwahl ist verrterisch: Mnner gelten als beschnitten, Mdchen hingegen als verstmmelt. Tatschlich handelt es sich in beiden Fllen um traumatisierende Verstmmlungen am Geschlechtsorgan – mit nachgeschobenen fadenscheinigen Begrndungen. Vor allem aber: Die Verstmmelungen finden ohne Einwilligung der Opfer statt, hufig in einem Alter, wo Willensbekundungen auch gar nicht mçglich sind. Diese partielle Kastration zielt auf die sexuelle Erlebnisfhigkeit wie die Selbstbestimmung ganz allgemein ab. Die einmal stattgefundene Kastration wirkt wie eine fortwhrende Drohung in die Zukunft, sich nicht zu sehr vom sozialen Konsens zu entfernen. Die soziale Gemeinschaft, zuvçrderst die zustimmenden Eltern, haben sich mit der Verstmmelung als grausam erwiesen und kçnnten es auf der Ebene kindlichen Erlebens daher jederzeit erneut sein, falls gegen Gebote verstoßen wird. Wie dipus erleiden also weite Teile der Menschheit eine frhkindliche kçrperliche Versehrtheit, die durch die Eltern aktiv herbeigefhrt wird. Die Kastrationsdrohung ist mithin sowohl real, da sie global durchgefhrt wird, also auch im bertragenen Sinn eine Unterwerfungsmaßnahme, mit der ein Machtexempel an einem Wehrlosen statuiert wird. Das Motiv der Aussetzung, das dipus widerfhrt, ist in der Kastration gleich mitenthalten: Eltern und soziale Gemeinschaft schtzen ihre wehrlosen Nachkommen nicht vor kçrperlicher Schdigung, sondern fhren diese aktiv herbei: Die selbstver109

stndliche Geborgenheit eines Kindes ist damit fr immer erschttert zugunsten eines Traumas, das Angst und Unterwerfung unter Autoritten begnstigt, die sich schon einmal als grausam und willkrlich erwiesen haben. Erst in den letzten Jahren formiert sich çffentlicher Widerstand gegen Klitorisverstmmlungen in der westlichen Welt. Doch das Tabu, religiçse Praktiken çffentlich zu kritisieren oder gar juristische Sanktionen gegen jede Art von Beschneidungen zu verhngen, also auch die von Jungen, erweist sich einstweilen als so mchtig, dass sich keine Regierung der Welt an ein generelles Beschneidungsverbot herantraut. Doch eine çffentliche Debatte dieser Praktiken ist schon deshalb wnschenswert, weil sie die Macht der Religionen und ihrer Fhrer empfindlich »beschneiden« wrde.

Hysterie und çdipale Konflikte – vergessene Stçrungen der Psychotherapie? Seit langem gibt es – nicht nur in Deutschland – eine unselige Tendenz in der Psychotherapie: Fortschritte bei Diagnostik, Behandlungssetting, Technik oder Psychodynamik fhren fast zwangslufig dazu, alle mçglichen Patienten unter dem jeweiligen aktuellen Trendblickwinkel zu betrachten. Damit werden nicht nur bestehende Kenntnisse entwertet, sondern auch die neu hinzukommenden Anstze zur bloßen Modestrçmung degradiert. Dieser so genannte Pars-pro-toto-Fehler gehorcht weitgehend gesellschaftlichen Entwicklungen wie auch aktuellen Forschungsergebnissen. Vor allem aber dient er nicht dem Wohl der Patienten, eher jedoch dem fashionable style ihrer Behandler. Und in diesem Sinne trendy waren in den letzten Jahren jeweils inflationr gestellte Diagnosen, die natrlich alsbald wieder in der Mottenkiste der Normalitt verschwanden. Umgekehrt gibt es auch Techniken, meist ohne fundierte theoretische Hintergrnde, die mit einem Mal den Rang eines Standardbehandlungsverfahrens erlangen und deren Vertreter mit großer Attitde, dafr aber mit umso geringerem allgemei110

nen Fachwissen eine Meinungsfhrerschaft fr sich beanspruchen. Ein besonders krasses und im Wesentlichen totalitres Vorgehen ist das so genannte Familienaufstellen nach dem selbsternannten Heiler und ehemaligen Missionar Bert Hellinger, der inzwischen zahlreiche Adepten gefunden hat (vgl. hierzu kritisch Hilgers, z. B. 2001, umfassend Goldner, 2003). Waren es in der Hauptsache Zwangsstçrungen, Hysterien und Phobien, die Freud und seine Weggenossen nach ihrer Meinung behandelten, so glaubte man in den sechziger und siebziger Jahren es hufig mit so genannten Frhstçrungen zu tun zu haben, wobei der Begriff sich auf den Zeitpunkt der Schdigungen in der kindlichen Entwicklung bezog, es sich also nicht um eine Diagnose im eigentlichen Sinne handelte. Die systemische Therapie brachte den Gedanken auf, den Patienten im Kontext seiner sozialen Beziehungen zu sehen, also seiner Herkunftsfamilie und seiner aktuellen Beziehungen – so er denn berhaupt welche hat. Wenig spter gab es eine Betonung der so genannten narzisstischen Stçrungen, wobei der Begriff »narzisstisch« in der Psychoanalyse mindestens drei unterschiedliche Bedeutungen hat: erstens den einer narzisstischen Entwicklungsphase, die es tatschlich nicht gibt, wie die Suglingsforschung berzeugend nachweist; zweitens den der Selbstregulation und des Selbstwertsystems, das eben narzisstischen – also selbstwertregulativen – Schwankungen unterschiedlicher Ausprgung unterliegt; und schließlich den diagnostischen Begriff der narzisstischen Persçnlichkeitsstçrung, die mit instrumentellem Gebrauch von Beziehungen, oft hoher Promiskuitt, ausbeuterischem Verhalten und im Wesentlichen einem Mangel an echten, intimen Beziehungen einhergeht. Bald darauf, etwa ab Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wurde die Borderline-Stçrung zur beinahe ubiquitren psychischen Erkrankung schlechthin. Und seit einigen Jahren hat die posttraumatische Belastungsstçrung diesen Platz eingenommen. Gehçrt die Hysterie, so wie sie sich Freud Anfang des letzten Jahrhunderts vorstellte, der Vergangenheit an oder ist sie lediglich »aus der Mode gekommen«? Kein Zweifel, die dramatischen 111

hysterischen Symptome aus der Grnderzeit, mit Ohnmachtsanfllen, arc de cercle und Lhmungserscheinungen eines Gliedmaßes, kann man sich heute, wenn berhaupt, nur noch im lndliche Raum »erlauben«. Doch wenn man psychische Erkrankungen mit ihrer oberflchlichen Symptomatik verwechselt, muss man alle paar Jahre die Diagnoseglossars neu schreiben (wie dies tatschlich gegenwrtig geschieht). Andernfalls registriert man lediglich Symptomvernderungen, die gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen gehorchen, wobei die zugrunde liegende Psychodynamik weitgehend unverndert bleibt. Doch was ist die Psychodynamik von Hysterie oder çdipalen Stçrungen? Und was ist der Unterschied zwischen Hysterie und çdipaler Stçrung? Der Frankfurter Psychoanalytiker Stavros Mentzos (1984) spricht von einem hysterischen Modus. Damit ist eine charakteristische Art der Konfliktverarbeitung gemeint, die sich im Gegensatz zu zwanghafter oder ngstlicher Kompensation anderer Mittel bedient, nmlich im Wesentlich der so genannten Affektualisierung, also dem Aufladen von Konfliktsituationen mit heftigen Emotionen, der Inszenierung, also ihrer szenischen Dramatisierung, und der wie gemacht wirkenden, unauthentisch erscheinenden Selbstdarstellung. Der hysterische Modus kann entweder pseudoregressiv oder pseudoprogressiv ausfallen, das heißt, der Betreffende stellt sich unbewusst entweder hilfloser, unfhiger und abhngiger dar, als er tatschlich ist, oder strker, kompetenter und unabhngiger, als es der Realitt des psychischen Funktionierens entspricht. Ein Lehrer, der in seiner Kindheit und Jugend hufig mit der Aufsicht ber seine behinderte jngere Schwester betraut wurde, suchte Hilfe wegen zahlreicher, auch auf eventuelle Krankheiten bezogene ngste.36 Verschiedentlich hatte er akute kçrperliche Krisen ohne Befund durchlebt, wenn er sich neuen Aufgaben zuwandte. Seine Mutter beschrieb er als dominant, oft grenzberschreitend, whrend das Bild vom Vater eher blass blieb, ein Mann, der trotz besserer Ausbildung nur als Hilfs-

36 Das Beispiel habe ich an anderer Stelle ausfhrlich unter dem Gesichtspunkt des beteiligten, aber hier nicht wesentlichen Schamaffekts behandelt (Hilgers, 2006, S. 189–191).

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arbeiter ttig war und sich hufig in Depressionen zurckzog. Oft wurde der Patient anstelle des Vaters fr Aufgaben herangezogen, einerseits mit dem nachfolgenden stolzen Gefhl, schon so groß zu sein, und andererseits der (schambesetzten) Befrchtung, angesichts der Ansprche der Mutter letztlich doch versagen zu mssen (hierzu auch Hilgers, 1992b). In den vorangegangenen Sitzungen war es um zahlreiche ngste gegangen, sich als erwachsener und potenter/kompetenter Mann zu prsentieren, ohne zuletzt doch noch als zu klein entlarvt zu werden. So konzentrierten sich seine Befrchtungen angesichts eines wissenschaftlichen Symposiums, bei dem er an einer Podiumsdiskussion teilnehmen sollte, auf die Phantasie, als Hochstapler demaskiert zu werden, der wissenschaftlichen Standards nicht standhielte. In der 82. Stunde berichtet der Patient einen Traum, den er in der Nacht hatte: Patient: »Also, h, ich hab’ getrumt und – lacht – also, hm, ich war da – hihi – auf so ’ner Toilette, also h ich musste dringend pinkeln und ’s witzig hihi, also ich konnte, ich – lacht – traf irgendwie, also ich schaffte es nicht, in die Schssel zu pinkeln, es ging alles daneben. Und h, – lacht – ich musste dann wieder an die, nach draußen in die ffentlichkeit, ich hatte aber einen riesigen h Fleck auf der Hose, ich hatte mich hihi also da war es auch hingekommen. Und ich hab versucht das wegzu. . ., aber das ging nicht, ich dachte, das sieht jeder. Als ich dann gehen musste, bin ich wachgeworden.« Whrend der Schilderung wirkte der Patient sehr gespannt, eine Spannung, die sich auf mich bertrug. Obwohl der Schamcharakter der Szene unmittelbar sprbar ist, war sich der Patient nicht darber im Klaren, dass er sich in einem akuten Zustand von Scham befand. Therapeut: »Wenn ich mir das so vorstelle, wrde ich mich an Ihrer Stelle, glaube ich, sehr schmen.« Der Patient schweigt einen Moment, und die gespannte Atmosphre wie auch die Diktion der ußerungen verwandeln sich augenblicklich, als er erleichtert zustimmt. Patient: »Stimmt – Pause – stimmt. Das war mir berhaupt nicht so klar. Stimmt. Das war total peinlich. Ich schaffte das irgendwie nicht, normal zu pinkeln . . .« Therapeut: ». . . wie ein erwachsener Mann . . .« Patient: ». . . ich kam irgendwie nicht ber den Rand in das Becken, ich war irgendwie zu klein. Und alle wrden das sehen, es gab da irgendeine ffentlichkeit, vor die ich gleich treten musste, ich konnte das auch nicht verbergen . . .« Therapeut: ». . . vielleicht ja wie bei der Podiumsdiskussion . . .« Patient: ». . . wo alle sehen, h . . .«

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Therapeut: ». . . dass Sie sich bepinkeln . . .« Patient: ». . . und ich schaff’s nicht . . .« Therapeut: »Sie werden als zu klein, als Hochstapler entlarvt . . .« Patient: »Genau, das ist es genau, das ist mein Lebensgefhl, ich werde irgendwann entlarvt, dass ich das doch noch nicht kann, dass ich zu klein bin, irgendwann kommt’s raus. Ich bin doch noch ein kleiner Junge und muss zurck, es rcht sich, wenn ich mich in die Welt hinauswage. Tatschlich – lacht befreit – das Bild vom Pinkeln ist wirklich klasse, ich › bepiss‹ mich.« Durch das Benennen des Schamaffekts konnte im Folgenden mit dem Patienten sowohl an seinen sexuellen wie auch auf die Arbeit bezogenen Versagensngsten gearbeitet werden. Seine Tendenz, als vermeintlich kleiner Junge lieber nicht zuviel Autonomie zu wagen und sich von den Ansprchen der Eltern nicht deutlicher abzugrenzen, berdeckte aber auch seine Angst, mit mir zu konkurrieren und dabei eventuell die Erfahrung machen zu mssen, ich kçnnte mich als genauso schwach wie sein Vater erweisen (dabei beinhaltet das »Danebenpinkeln« durchaus auch einen heimlichen Akt der Revanche fr den Verzicht auf Autonomie). * Eine Anfang fnfzigjhrige, attraktive geschiedene Frau unterhlt seit Jahren Beziehungen zu Mnnern, die deutlich jnger, ihr hufig sozial und intellektuell unterlegen sind und die sich in ihrer Verbindlichkeit sehr ambivalent zeigen. Stndig kommt es zu dramatischen Verwicklungen und heftigen Konflikten, in deren Verlauf die Patientin ihre Liebhaber massiv unter Druck setzt, mit Beschimpfungen wegen deren vermeintlicher Unfhigkeit depotenziert und das Gefhl ußert, alles allein regeln zu mssen. »Wer sich auf Mnner verlsst, hat schon verloren.« Einige der Mnner zeigen nach kurzer Zeit deutliche Potenzprobleme, worber die Patientin herzieht. In der Behandlung zeigt sie sich ebenfalls zunchst sehr dominant, rivalisiert um Gesprchsanteile und lsst zunchst nicht zu, dass der Behandler ihr etwas Bedeutsames oder gar Anrhrendes sagen darf – und sich damit im bertragenen Sinn als potent erweist. Als dies doch geschieht, frchtet sie, ihre Betroffenheit, die sie als Unterlegenheit erlebt, kçnnte missbraucht werden. Im Zuge dessen erzhlt die Patientin von zahlreichen gewaltttigen und teilweise auch sexuellen bergriffen ihres Vaters. Symptome, die sie bisher erfolgreich vor sich und dem Behandler verbarg, werden offensichtlich: Ein mßiger Alkoholmissbrauch, bulimische Phasen, deutliche depressive Episoden mit dem Gefhl unertrglicher Leere in der Vergangenheit,

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Arbeitsprobleme und Flucht vor dem Alleinsein in Abenteuer mit Mnnern. Bei der Patientin wurde daher eine Borderline-Persçnlichkeitsstçrung diagnostiziert, allerdings mit einem hysterischen Abwehrmodus.

Beiden Patienten gemeinsam ist ein – wenn auch unterschiedlich ausgeprgtes – exaltiertes Verhalten mit Dramatisierungen. Beiden gelingt es nicht, eine erwachsene Rolle einzunehmen und sich dabei beruflich wie privat angemessen potent oder kompetent zu zeigen. Die Art, wie mit Problemen umgegangen wird, ist sehr hnlich, nmlich durch hysterische Abwehr, wobei sich der Patient deutlich weniger kompetent und autonom zeigt, als er es sein kçnnte, die Patientin jedoch ihre realen Defizite durch einen pseudoprogressiven Modus vor sich und anderen verbirgt. Allerdings unterscheiden sich beide deutlich in ihren zugrunde liegenden Stçrungen: Der Patient hat eine çdipale Stçrung mit hysterischer Abwehr und Somatisierungsneigung, die Patientin eine Borderline-Stçrung mit strukturellen Defiziten bei Impulskontrolle, Affektregulation und Integration von Widersprchen. Identisch ist jedoch, dass beide anders erscheinen, als sie in Wahrheit sind. Sie tuschen sich im Wesentlichen selbst ber ihren Zustand, ihre Mçglichkeiten und Defizite und die anstehenden Konflikte. Die Dramatisierung zielt zunchst auf das eigene ber-Ich ab, das getuscht wird. Wesentlich unwichtiger sind die Umstehenden, die zwar auch von der Tuschung erfasst werden kçnnen, denen aber stets das Gefhl des Unechten und Gemachten bleibt. Whrend sich der Patient darber tuscht, vor Rivalitt und Konkurrenzkampf auszuweichen, um sich nicht potent vor seiner Fachçffentlichkeit zu prsentieren und damit auch Kritik, die er als Kastration erleben wrde, zu riskieren, gibt sich die Patientin strker und unabhngiger, um nicht mit ihrer Angst vor bergriffen und Missbrauch konfrontiert zu sein. Der Patient litt an einer echten çdipalen Stçrung. Er hatte keine strukturellen Defizite, seine Ich-Funktionen waren weitgehend intakt, wohingegen die Patientin hysterisch wirkte, jedoch hinter ihrer Fassade eine Borderline-Stçrung mit erheblichen strukturellen Defiziten verbarg. Was haben die beiden jedoch mit dipus und dem antiken 115

Mythos zu schaffen? Whrend der Patient in weitgehend behteten, wenn auch wegen der Behinderung der Schwester und dem schwachen Vater nicht unkomplizierten Verhltnissen aufwuchs, erlebte die Patientin von Anfang an Feinseligkeit und bergriffe. Der Patient war als Kind willkommen geheißen, die Patientin jedoch in ein ambivalent-ablehnendes Milieu hineingeboren. Whrend er seine Gefhle grundstzlich erkennen und regulieren konnte und nur im Konfliktfall mit Angst und Hemmung reagierte, waren seine kognitiven Fhigkeiten durchgehend, auch unter Belastung, intakt. Anders bei der Patientin, hinter deren hysterischem Modus sich erhebliche Defizite des Ich verbargen; bei Konflikten versagte çfter das logische Denken, sie war unter Belastung schnell von Affekten berschwemmt und berfordert. Die Impulskontrolle war brchig, es gab Alkoholmissbrauch und Essanflle. Hinter einem hysterischen Modus kçnnen sich demnach zahlreiche, sehr unterschiedliche Stçrungen verstecken – unter anderem auch eine çdipale Stçrung. Der Patient frchtete Kastration durch die Autoritten, Neid von Kollegen und plçtzliches Versagen seiner selbst, jedoch ohne realen Hintergrund. Sie hingegen hatte erhebliche, sehr reale Defizite. Er tuschte sich ber seine rivalittstaugliche Kompetenz hinweg, sie ber ihre Angst vor intimer Beziehung berhaupt, in der ihre Bedrftigkeit und ihre Angst vor berlegenheit des Partners, die sie mit bergriffen verwechselte, offensichtlich geworden wre. Im klassischen Sinn hatte der Patient eine Hysterie, nmlich eine çdipale Stçrung mit hysterischer – in diesem Fall pseudoregressiver – Abwehrstruktur. Statt in Ohnmacht zu fallen oder Lhmungserscheinungen zu zeigen, wie dies viele Patienten zu Freuds Zeiten in dramatischer Weise taten, »bepisste« er sich. Er zeigte sich impotent, wo er es in Wahrheit nicht war oder sein musste, frchtete zu versagen und den Neid und die Feindseligkeit der Alten und der Rivalen auf sich zu ziehen. Zudem schreckte er davor zurck, seine Eltern, besonders seinen Vater, durch seine wissenschaftlichen Leistungen zu berholen, was ihm unbewusst wie ein »Erschlagen« vorkam. Neben dieser Angst, entweder den Zorn des Vaters auf sich zu ziehen oder ihn 116

zu krnken, frchtete der Patient die entstehende Einsamkeit: Seine mit realistischem Stolz begleitete Kompetenz und sein Karriereaufstieg wrden ihn endgltig vom Elternhaus trennen – der Weg zurck war versperrt. Die Sehnsucht nach mtterlicher Geborgenheit aufzugeben, fiel ihm schwerer als anderen, weil er sie weniger genossen hatte, als es unter glcklicheren Umstnden mçglich gewesen wre. Die behinderte Schwester zog viel Aufmerksamkeit und Zeit der Mutter auf sich – Zeit und Zuwendung, die dem Patienten verloren ging. Stattdessen musste er sich schon recht bald um die Schwester kmmern und wurde teilweise von der Mutter in eine partnerschaftshnliche Position gezogen, wo der Vater blass und wenig prsent blieb. In einer Mischung aus »zu klein-zu groß« erlebte er sich selbst immer wieder, wenn er vor neuen Aufgaben stand. Wie damals war er zwar stolz, mit Neuem betraut zu werden, frchtete aber auch als Hochstapler, der eigentlich zu klein fr die Herausforderung sei, entlarvt zu werden. Diese Stellung hatte er als Partnerersatz der Mutter lange inne: Stolz darauf, schon so groß sein zu drfen, zu groß fr sein Alter und seine Entwicklung, mit dem gleichzeitigen realistischen Gefhl, doch zu klein zu sein, um der Mutter als Partnersatz zu dienen. Mithin sind die Grundkonflikte der çdipalen Stçrung – hnlich dem Mythos – gegeben: Die Generationenabfolge mit dem versperrten und doch auch ersehnten Weg zurck; der Konflikt mit dem als schwach erlebten Vater, den man nicht »erschlagen« will; die Inzestschranke, wenn die Mutter ihren Sohn zum Partnerersatz »befçrdert«; die Frage der Sphinx mit der Notwendigkeit, einen Lebensplan zu entwerfen und damit Einsamkeit und Tod zu realisieren. Die »echte Hysterie«, eine çdipale Stçrung mit hysterischem Abwehrmodus, konfrontiert mit existentiellen Lebensfragen – so wie vor 2500 Jahren im Drama des Sophokles. Immer sind auch eigene Lebenskonflikte der Zuschauer beziehungsweise der Therapeuten angesprochen. Die Tiefe und Differenziertheit çdipaler Konflikte beunruhigt und verstçrt, weil sie menschliche Tragik und Verstrickung von uns allen widerspiegeln. Von dipus’ Blindheit trennen uns dabei immer nur wenige Dioptrien. Doch 117

das bisschen Mehr an Sehvermçgen mag uns zu mehr Selbstverantwortung fr unser Leben befhigen. Immer jedoch in der Gewissheit, dass unser Auge getrbt ist. Doch wer dies weiß, wird sich nicht so leicht der Hybris hingeben, an sich selbst und seiner Sichtweise keine Zweifel zu hegen. Solche konstruktiven Zweifel versperren den Weg zurck und erçffnen die Mçglichkeit, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen – in der Gewissheit, dass dies immer nur begrenzt gelingen wird.

»Nach Lachen kommt Weinen« – die Angst vor dem begrenzten Glck Die Angst, durch Hybris Strafe oder mindestens Unglck auf sich zu ziehen, ist nicht auf die Antike beschrnkt. Denn Selbstbewusstsein und Stolz auf das Eigene nhren Befrchtungen vor Neid, Missgunst und Strafe. Doch nicht der Zorn der Gçtter wird heutigentags befrchtet, sondern so etwas wie Schicksal, das gerade dann zuschlgt, wenn es einem gut geht und man nichts Bçses ahnt. Und ganz hnlich wie bei religiçsen Ritualen, die die gçttlichen Mchte besnftigen sollen, indem sie durch schmerzliche Opfergaben eigenen Wohlstand schmlern, fgen sich auch in der Gegenwart Menschen bewusst oder unbewusst Schaden zu, um nicht vor Glck zu zerspringen und den Absturz frchten zu mssen. Eine 35-jhrige Angestellte kommt aufgewhlt in ihre Psychotherapiestunde. Sie hat eine Liebesnacht mit dem Mann ihrer Trume verbracht, von dem sie schon oft verlegen, schließlich schwrmerisch erzhlte. Aufgeblht sitzt sie da, mit glhenden Gesicht und zitternden Hnden. »Dass er mich auch liebt, hat er mir gesagt, und sich eine gemeinsame Zukunft mit mir wnscht. Das ist so blçd, aber er hat auch gesagt, dass er sich Kinder wnscht. Ich bin am Ziel meiner Trume, aber vçllig außer mir.« Die Patientin schmt sich ob ihrer heftigen Gefhle und ihrer sich vielleicht endlich erfllenden Sehnschte und Trume. Doch vor allem hat sie Angst, die sie selbst als solche gar nicht erkennt: »Ich kann nicht mehr schlafen, ich habe eine stndige innere Unruhe, dieses Zittern macht mich wahnsinnig. Vielleicht sollte ich das alles beenden.«

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Lngst hatte sich die Patientin mit ihrer nicht sehr befriedigenden Situation eingerichtet, die aber immerhin keine grçßeren Aufregungen beinhaltete. Doch die Aussicht auf geradezu inflationre Erfllung aller Wnsche und Zukunftstrume strzte sie in Gefhlsstrme, die zu ertragen sie kaum imstande war. Alles zu beenden bot sich als emotionaler Notausgang an, um in das gewohnte Unglck zurckzukehren, dass immerhin Sicherheit vor Enttuschungen bot.

»Was liegt mir am Glcke!«, meinte verchtlich Friedrich Nietzsche. Tatschlich frchten Menschen oft, dass bei sich einstellendem Glck alsbald und unerwartet ein Absturz folgt, der umso schmerzlicher wird, je grçßer das gerade errungene Glck ist. »Nach Lachen kommt Weinen« oder »den Vogel, der am Morgen pfeift, frisst am Abend die Katz« sind Redensarten, die diese Angst vor dem Vertrauen in das eigene Glck wiedergeben. In Vorwegnahme der befrchteten Enttuschung wird das Glck vermieden oder wenigstens streng limitiert. Glcklich zu sein, meinte Sigmund Freud, sei im Plan der Schçpfung fr den Menschen nicht vorgesehen. Vielmehr erlebten wir Glcksmomente im Kontrast zum Unglck meist als plçtzliche Triebabfuhr nach lngerem Verzicht. Dauerhaftes Glck scheint auch neurobiologisch nicht mçglich, denn nur wenn etwas geschieht, was sich als besser herausstellt als erwartet, wird der Botenstoff Dopamin freigesetzt und es entstehen Glcksgefhle. Die Gewohnheit und das Bekannte sind der Feind des Glcks. Ob die Patientin, dies ahnend, von vorneherein auf das zeitlich begrenzte Glck verzichten will, um sich die Ernchterung zu ersparen? Immerhin kçnnte sie ja beschließen, ihre neue Liebe nicht zu sehr im grauen Alltag zu verschleißen. Immer wieder Neues mit dem Anderen und an ihm zu entdecken, wre ein gutes Glcksrezept. Doch daran mag die Patientin nicht glauben. Das dem Gehirn eigene Belohnungssystem, das Dopamin in den Nucleus accumbus und in das Frontalhirn schickt, scheint nicht der einzige Wirkmechanismus zu sein, der die Patientin beeinflusst. Vielmehr misst sie dem Glck eine Bedeutung zu, die einer realen Gefhrdung gleichkommt. Als ob Glck in magischer Weise Unglck nach sich ziehe, wird der Patientin in den folgenden Stunden bewusst. Unbewusst setzt sie Glck mit 119

Hochmut und Hybris gleich, was die Strafe des Schicksals oder der Gçtter provoziert. Das eigene Glck, so msste es dann eher lauten, ist fr die Patientin nicht vorgesehen. Tatschlich hatte die Patientin in ihrer Kindheit immer wieder heftige Stimmungsschwankungen ihrer Mutter und eine eher stoisch-zwanghafte Gleichmßigkeit des Vaters erlebt. War die Atmosphre im Elternhaus frçhlich und entspannt, folgte alsbald ein heftiger Umschwung und die Stimmung wurde eisig. Die sich auch neurobiologisch niederschlagende Lernerfahrung lautete daher, wenn es schçn ist, folgt alsbald eine schlimme Zeit. Aus diesem Grund versuchte die Patientin – wie viele Menschen – allzu großes Glck zu vermeiden. Doch eigentlich bemhte sie sich lediglich, dem Unglck der Enttuschung auszuweichen, indem sie die scheinbare Ursache, nmlich eigenes Glck, mied. Die Angst vor dem Glck ist auch die vor dem Neid anderer – hnlich dem antiken Glauben, ein selbstbewusster und glcklicher Mensch fordere die Gçtter des Olymps heraus. Das betrifft nicht nur Liebe und Wohlstand, sondern auch eigene Fhigkeiten und damit verbundene Erfolge. Die eigenen Begabungen und Mçglichkeiten in Gnze einzusetzen, fhrt unweigerlich zu Konflikten mit Konkurrenten und jenen, die den Platz innehaben, den man selbst gern htte. Diese kçnnen, wie durch dipus einst, rcksichtslos aus dem Weg gerumt werden, wenn sie ihn versperren, oder mit Respekt behandelt werden, wenn sie den nachfolgenden Generationen nach und nach Platz machen. bergroße Rcksichtnahme vermeidet den Konflikt um so genannte çdipale Rivalitt – eine Art freiwillige Selbstkastrierung angesichts befrchteter aggressiver Konflikte und umstehender Neider. Umgekehrt fhrt die rcksichtslose Beseitigung von Rivalen und Mitstreitern auf direktem Weg in jene Hybris, die einem mindestens auf Erden tçdliche Feinde verschafft. Die Fhigkeit zur Ambivalenz, die einen nicht jedes Mittel einsetzen lsst, aber auch die eigenen Mçglichkeiten nicht verrt und in den Schatten stellt, erfordert die stets neue Prfung, was den Beteiligten, den anderen wie der eigenen Person, gerecht wird. Bei jedem erfolgreichen Konkurrenzkonflikt begegnet man 120

sich am Ende auch selbst. Die Frage der Sphinx kann immer auch auf die eigene Person bezogen werden, sofern die Fhigkeit zur Einfhlung in den unterlegenen Konkurrenten eingesetzt wird: Wo ich jetzt stehe, war er noch gestern. Und wo ich heute bin, wird morgen ein anderer meinen Platz einnehmen. Dieses Bewusstsein von der Generationenabfolge und mithin auch der Mçglichkeit eines respektvollen Umgangs mit abtretenden Vorgngern und bereits kommenden Nachfolgern liefert ein Maß fr die einzusetzende Aggression und Rcksichtnahme. Die dabei entstehenden Glcksgefhle ber eigene Erfolge werden sich dann in Grenzen halten. Sie zu ertragen, bedarf der Fhigkeit, sich der Endlichkeit des Glcks bewusst zu sein. Damit rang auch die eingangs erwhnte Patientin. In einer Psychotherapie muss man den Menschen oftmals nicht beibringen, ihr Unglck zu ertragen. Viel schwerer ist es, begrenztes Glck auszuhalten.

Liebe – der Blick der Seele auf sich und den Anderen »Betrger legen andere rein. Verliebte sich selbst«, spottete der Kabarettist Oliver Hassencamp. Iokaste und dipus verkennen einander von Anfang an in bizarrer Weise. Jemand, dem geweissagt wird, er wrde seine Mutter heiraten, kçnnte dies leicht verhindern, wenn er eine Gleichaltrige zur Frau nimmt. Der große Altersunterschied htte ihn also sofort stutzen lassen mssen. Und Iokaste msste sptestens in der ersten Liebesnacht auf die Male an den Fersen ihres Mannes aufmerksam geworden sein. Geradezu abenteuerlich muten die wechselseitigen Verkennungen der Aufflligkeiten an und die Sprachlosigkeit, die zwischen beiden ber Jahre geherrscht haben muss, um nicht auf das gemeinsame Schicksal aufmerksam zu werden. Fragen nach dem Woher, der Geschichte des Anderen und die Teilhabe an seinen Nçten, Wnschen, Hoffnungen und vergangenen Enttuschungen sind Voraussetzung der Liebe. Unwahrscheinlich, dass nicht auch Sophokles und die Theaterbesucher der Antike solche einfachen berlegungen anstell121

ten. Mithin ging es Sophokles nicht nur um die tragische Erfllung eines schicksalhaften Orakelspruchs. Eines der zentralen Motive des dipusmythos ist die Variation von Blindheit und Sehen, Verkennen und Erkennen. Die Liebe ist der Blick der Seele, sagte die franzçsische Philosophin Simone Weil. Doch dipus wie Iokaste bleiben in dieser Hinsicht seelenlos, unfhig, ber sich selbst und den Liebespartner zu reflektieren. Blind fr sich und den Anderen bleiben sie auch sich selbst und dem anderen fremd. Im Moment, wo Iokaste erkennt, wer ihr Mann ist, tçtet sie sich. Und im gleichen Augenblick, als auch dipus die Augen geçffnet sind, wer seine Frau ist, strmt er mit gezcktem Schwert los, um sie umzubringen. Erkenntnis ist in dieser Partnerschaft tçdlich: Sich und den Anderen zu sehen, berlebt die Beziehung nicht. »Die Liebe ist vielleicht der hçchste Versuch, den die Natur macht, um das Individuum aus sich heraus und zu dem anderen hinzufhren«, glaubte der spanische Philosoph Jos Ortega y Gasset. Doch diesen Versuch machen die beiden nicht im Ansatz. Stattdessen bernimmt Teiresias, der blinde Seher, die Funktion, die Position des Dritten, des von außen Schauenden zu reprsentieren. Teiresias hat die Fhigkeit, Perspektiven zu wechseln, aus sich herauszugehen und die Sichtweise eines anderen einzunehmen – symbolisch durch den Geschlechtswechsel dargestellt. In dieser Hinsicht ist Teiresias der dem dipus fehlende selbstreflexive Teil, der sich selbst mit den Augen eines anderen sieht (vgl. Seidler, 1995). Diese Selbsterkenntnis hat im Fall von dipus und Iokaste außerordentlich destruktive Wirkungen. Wer die eigene Stimme zum ersten Mal von einer Tonaufzeichnung hçrt oder sich auf einem Video entdeckt, mag mit einem »narzisstischen Kater« reagieren. Die eigene Stimme ist einem fremd, Aussehen und Bewegungen sind von außen betrachtet erschreckend anders, als man sich selbst sah. Die Katerstimmung bezieht sich auf das Selbstbild, das revidiert werden muss: So sehen/hçren mich also alle anderen! Scham entsteht dort, wo plçtzlich und unerwartet die Konzepte von der eigenen Person berarbeitet werden mssen (Hilgers, 2006). 122

Im Gegensatz zu solch plçtzlicher, inflationrer Selbsterkenntnis bietet eine Liebesbeziehung im gnstigen Fall sanfte bergnge und vorsichtige Vorschlge des Anderen, sich selbst mit dessen Augen zu sehen. Die Augen des Anderen spiegeln die eigene Person. Und man selbst stellt sich umgekehrt fr ebensolche Spiegelung des geliebten Gegenbers zur Verfgung. Der Geschlechtswechsel des Teiresias kommt nicht von ungefhr: In einer heterosexuellen Beziehung besteht zudem die Schwierigkeit, sich nicht nur mit den Augen eines anderen, immer auch in Teilen fremd bleibenden Menschen zu sehen, sondern auch aus der Perspektive des anderen, fremden Geschlechts. So bleiben dipus und Iokaste bis ganz zum Schluss blind fr einander. Das Erkennen und wohlwollende Akzeptieren des Anderen stellt fr viele Paare eine schwere Herausforderung dar, der sie nicht gewachsen sein mçgen. Liebevolle Akzeptanz der Schwchen des Anderen ist berhaupt nur mçglich, wenn man den Anderen kennt und ihn trotzdem oder gerade deshalb liebt. hnlich paranoid wie dipus auf die Offenbarungen des Teiresias reagiert, verhalten sich Partner, wenn sie glauben, mit einem Mal das »wahre« Gesicht des Anderen erkannt zu haben. Und mit hnlicher Raserei gehen sie dann auch auf einander los, in dem Gefhl, bisher vom Geliebten hinters Licht gefhrt worden zu sein. So auch dipus in seiner mçrderischen Wut gegenber Iokaste, die dipus nur entkommt, indem sie sich suizidiert. Erneut ist das Erschrecken kaum selbstreflexiv, sondern hauptschlich auf den Anderen gerichtet, dem sein Anderssein zum Vorwurf gemacht wird. Dabei kçnnten sich Iokaste und dipus damals und heutige Paare aktuell fragen, wieso sie solange die Augen vor dem Anderen verschlossen haben: Wenn man den Anderen nicht wirklich wahrnahm, mit wem glaubte man dann zusammen zu sein und welchen unbewussten Illusionen ist man gefolgt?

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Nachwort – Kreisbewegungen oder der schwierige Versuch des Perspektivwechsels Seit einigen Jahren habe ich das große Glck, dass mir mein Freund, der Maler und Knstler Eric Peters, Bilder fr die Umschlaggestaltung meiner Bcher zur Verfgung stellt (Peters, 2004).37 Eric Peters Bilder lçsen Erstaunen und Faszination, aber auch Abwehr und Angst aus. So etwas wie interessiertes Befremden berkommt einen bei der Betrachtung der Stillleben, die keine sind: Ein Hase fliegt durch ein Stillleben. In einem Werk wie jenen alter Meister, mit kreisfçrmig angeordneten Instrumenten, die Farben des Bildes schon durch die Jahrhunderte dunkel werdend, landet gerade ein Luchs auf einer Trommel, die dabei zu Bruch geht. Zwei Lçwenkçpfe sind auf zwei seiner Werke zu sehen, der eine steht auf dem Kopf. Man hat den Eindruck, es ist das gleiche Tier, nur einmal eben verkehrt herum. Wenn man das auf dem Kopf stehende Tier in seine normale Lage dreht (was leider nicht in jedem Museum ohne grçßere Aufregungen des Personals vonstatten gehen drfte) und neben den gewohnten Lçwen stellt, sind es plçtzlich zwei ganz verschiedene Exemplare. Die Welt verndert sich durch die kreisfçrmige Bewegung. Man kommt nie an den gleichen Ausgangspunkt zurck. Oder wenn doch, so ist man selbst nicht mehr der, als der man gestartet war. Die Figuren im dipusmythos kommen im Laufe ihres Lebens immer wieder an den gleichen Themen vorbei: Generationen- und Inzestschranke, Endlichkeit und Tod, Generationenwechsel und Geschlechterkampf und die große Chance, sich in einen anderen Menschen empathisch einzufhlen. Das Aner37 Ebenfalls ist es ein Glck, dass der Verlag meine Vorschlge bernimmt – was keineswegs selbstverstndlich bei Buchpublikationen ist. Als ich das erste Mal eine Anregung zur Umschlaggestaltung, ausgerechnet fr mein Buch »Leidenschaft, Lust und Liebe«, machte, konnte ich buchstblich durch das Telefon hçren, wie bei meinem Lektor das Bild eines rçhrenden Hirsches mit, irgendwo im Vordergrund, einem Liebespaar auftauchte. Er hatte gengend Humor, mir das lachend ein paar Tage spter zu besttigen – und den Vorschlag zu akzeptieren.

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kenntnis dieser Themen als fr sich persçnlich bedeutsame wrde sofort einen Perspektivwechsel nach sich ziehen. Wer die jngere oder ltere Generation und das ihm fremde Geschlecht in ihrem Existenzrecht anerkennt, schaut auf sich selbst in seinem mçglichen Lebensverlauf wie auf den der anderen. Im gnstigen Fall fhrten die Kreisbewegungen nicht an einen identischen Ort zurck noch bliebe man selbst unverndert. Die Starre und Unbeweglichkeit, mit der sich die Gestalten des Mythos durch ihr Leben bewegen, ist keine Kreisbewegung, sondern Stillstand, weil sie sich im Kreis drehen. Die Zumutung einer anderen Sichtweise wird nicht gewhlt. Eric Peters malt Raubkatzen, deren Hupter von Mmmelmnnern gekrçnt werden oder eben – umgekehrt – Hasen, die auf Raubkatzen thronen. Ein rgernis: Was zum Teufel sollen die Mmmelmnner auf den Raubtieren? Doch was rgert eigentlich den Betrachter? Die Ruhestçrung durch lstige Gemtstiere, die auf wilden Bestien hocken? Oder die wilden Bestien, die sich unter der Harmlosigkeit der Mmmelmnner befinden? Welche Perspektive ist zu whlen? Der dipusmythos verstçrt ebenfalls. Die scheinbare Sicherheit und Selbstverstndlichkeit eines geordneten Lebens zerbricht mit einem Mal und ein Abgrund tut sich auf. Unter den Hasentieren lauern die Bestien. Unterhalb einfltiger Selbstgewissheit wartet bereits wilde Triebhaftigkeit. Vor allem: Sie war offenbar immer schon da. Oder verhlt es sich andersherum? ber allem thront selbstzufrieden monstrçse Gemtlichkeit. Bombastische Selbstgeflligkeit und der Mangel an bewegter Wildheit werden plçtzlich offenbar. In den Kreisbewegungen steckt die Ambivalenz menschlichen Lebens und Verhaltens. Denn die vermeintliche Eindeutigkeit seiner Sichtweise fhrte dipus ins Verderben. Doch was geht uns der Mythos an und was haben wir mit Raubkatzen und Hasen zu schaffen (die einschlgigen Zuchtvereine mçgen mir meine Vergleiche nachsehen)? Wie nun, wenn Bestien und Hasentiere nicht nur ußere Gegenstze reprsentieren, sondern vor allem innere widerstrebende Krfte darstellen? Die faszinierende Kraft der Katze, die auf ihr Opfer losgeht, ist 125

ebenso ngstigend wie auch anziehend, dabei Wildheit und Triebhaftigkeit verkçrpernd. Umgekehrt verspricht das possierliche Mmmeltierchen Ruhe und Gemtlichkeit – kurz: ewige Langeweile. Nicht nur jede Partnerschaft droht zwischen diesen beiden Polen – Triebhaftigkeit mit ungezhmter Wildheit und ihrer bedrohlichen Zerstçrungskraft einerseits wie geflliger Gemtlichkeit mit der ghnenden dnis erotischer Spannungslosigkeit andererseits – unterzugehen. Die Kreisbewegungen auf Eric Peters’ Bildern mit ihren scheinbaren Gegenstzen betreffen unmittelbar das eigene widersprchliche Innenleben. Die suchende Unruhe des dipus wie die schlfrige Selbstzufriedenheit, die keine Fragen vertrgt, zerstçrerische Wildheit wie das ebenso destruktive Bedrfnis nach der geistig-kçrperlichen Hngematte stoßen aufeinander. Beide Pole machen menschliche Ambivalenz schlimmstenfalls zu unvereinbaren Gegenstzen, an denen der Einzelne und sein Umfeld zu zerbrechen drohen. Oder das Ich vermittelt die innere Konflikthaftigkeit, reguliert Fern- wie Heimweh, die Lust am Abenteuer wie die Suche nach Ruhe und Geborgenheit. dipus scheitert tragisch an diesem Grundkonflikt menschlichen Fhlens und Denkens. Infantile Impulsivitt erscheint unvermittelt neben Harmoniesehnsucht und Leugnung des Unbequemen, Forschergeist und Ignoranz stehen unvereinbar nebeneinander. Wie wir alle verlor dipus – nur drastischer in Szene gesetzt – die umfassende Geborgenheit seiner Kindheit. Was dipus von Beginn an besonders grausam erlitt, ist doch allgemein-menschliches Schicksal: Wir kçnnen nicht zurck zu Harmonie und Frieden unserer Kindertage – wenn es denn je dort harmonisch zugegangen sein sollte. Der Weg zurck ist versperrt und versuchten wir ihn zu gehen, so verstiegen wir uns in Hybris und whnten uns unsterblich, indem wir die Zukunft mit dem Weg auf den Tod hin austauschten durch die Vergangenheit mit dem Weg zurck in den Schoß. Neben Zeiten grçßten Unglcks erlebt dipus auch solche, die von wenigstens scheinbarem Glck und vermeintlicher Harmonie geprgt sind. Nach der Aussetzung erfhrt er liebevolle Aufnahme bei seinen Zieheltern und das Glck whrt, bis er ei126

nes Nachts erfhrt, Merope und Polybos seien nicht seine leiblichen Eltern. Rastlos und getrieben wie auch verstçrt durch den Orakelspruch zieht er umher, mit Todesverachtung der Sphinx entgegentretend. Nach seinem Sieg ber die Sphinx und damit der scheinbaren berwindung des Todes çffnen sich ihm, der unversehens zum Helden wurde, im Triumph die Tore Thebens. Und erneut kehrt eine Zeit der Ruhe und des Glcks ein, das sich jedoch wiederum als brchig und falsch erweist. Der jeweils ber Jahre anhaltende Stillstand mit seiner vermeintlich harmonischen Gewissheit zerbricht immer wieder an der Erkenntnis, das sich als falsch, ja abwegig herausstellt, was dipus glaubte zu sein oder zu leben. Der beruhigende Stillstand zieht die umso grçßer ausfallende Erschtterung nach sich. dipus ist dazu verdammt, immer wieder neu aufbrechen zu mssen, und seine Suche nach Heimat scheitert immer dann, wenn er sich am Ziel glaubt. Oder kçnnte es auch ein Segen sein, immer wieder aufbrechen zu drfen, wenn es weniger um Verlust ußerer, selbstverstndlich erscheinender Ordnungen als viel mehr um die Infragestellung innerer Gewissheiten ginge? dipus ist deshalb eine tragische Figur, weil der Verlust innerer wie ußerer Gewissheiten in eins fllt. Er teilt seine Zweifel und Nçte nicht mit seinen Liebsten, nicht mit seiner Frau, seinem Schwager oder seinen Freunden. Die Erschtterungen sind jeweils total, weil alle Beziehungen umfassend, zuvçrderst die zu sich selbst. Doch der Wegfall vormaliger Gewissheiten und selbstverstndlich erscheinender Ordnungen ist menschlichem Leben innewohnend und erfordert die Bereitschaft, immer wieder neu aufzubrechen – Kreisbewegungen um das Eigene vollziehend, in der Hoffnung, dass die innere Beweglichkeit Liebgewonnenes erhlt und tçdliche Erstarrungen verhindert. Das gilt nicht nur fr den persçnlichen Bereich. Eine freie Gesellschaft verweigert sich unflexiblen Glaubenssystemen. Gesicherte menschliche Erkenntnis gibt es nur in ihrer Negation: Wir kçnnen wissen, was falsch ist, niemals jedoch endgltige Wahrheit erfahren (Popper, 1958, 1994a, 1994b). Letzte Wahrheiten fhren auf direktem Weg in die Unterdrckung jeder Abwei127

chung oder Andersartigkeit, die allzu leicht in Abartigkeit umgedeutet wird. Wer die Wahrheit fr sich in Anspruch nimmt, hlt rasch – wie dipus angesichts von ihn irritierenden Offenbarungen – das Flammenschwert in der Hand, mit dem jede Abweichung bekmpft wird. Die Relativitt unseres Wissens und Glaubens hingegen çffnet das Tor zu Humanitt und Toleranz der Anderen, die wir immer auch selbst sein kçnnten. Das Wissen um die Mçglichkeit zu irren stellt jedoch jene letzten Sicherheiten in Frage, zu der wir so gern Zuflucht nehmen mçchten. Es fehlt der letzte Fluchtpunkt fr die Seele, der imaginre Ort totaler Ruhe und Harmonie. Sich diesem Bedrfnis zu verweigern, erçffnet immerhin die Mçglichkeit, Beziehungen stets wieder neu zu sehen und die Bewegungen des Anderen mit zu vollziehen – vielleicht das grçßte Geschenk, das wir uns machen kçnnen.

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Literatur

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Micha Hilgers bei V&R Micha Hilgers Das Ungeheure in der Kultur Psychoanalytische Aufschlüsse zum Alltagsleben 1999. 109 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01456-1 Die heutige Psychoanalyse ist nicht mit der Lehre zu Zeiten Freuds gleichzusetzen; sie befindet sich in ständiger Auseinandersetzung mit den sich wandelnden, oft verstörenden gesellschaftlichen Entwicklungen und ihren Hervorbringungen.

Micha Hilgers Leidenschaft, Lust und Liebe Psychoanalytische Ausflüge zu Minne und Mißklang 2. Auflage 2002. 143 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01466-0 Liebe hat viele Gesichter. Das Kieksen des Säuglings beim Anblick der Eltern gehört dazu, ebenso der lockende Schmollmund der Pornografie, die Maske der Perversion oder der Reiz der Dreiecksbeziehung. Freilich auch Enttäuschung, Liebeskummer, Trennung, Scheidung. Wie sag ichs meinen Kindern? Dürfen sie bei der neuen Partnerwahl von Mama oder Papa mitreden? Warum verbringt jemand Nächte vor pornografischen Internet-Seiten? Was treibt andere

in die Arme eines missionarischen Heilsbringers, um sich dessen »Ordnungen der Liebe« zu unterwerfen? Es sind alltägliche und dennoch bedeutsame Fragen des Lebens, auf die es keine genormten Antworten gibt. Hilgers flirtet stattdessen mit der Möglichkeit, selbst weiter zu sinnieren über die eigene Liebe – wie sie sein sollte oder könnte. »Dieses schmale, überaus verständliche Buch enthält mehr Nachdenkenswertes als manch umfangreiche wissenschaftliche Studie.« Literaturkritik.de

Micha Hilgers Scham Gesichter eines Affekts 3., überarbeitete Auflage 2006. 361 Seiten mit 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-46251-5 Einführung in ein lebensbegleitendes Gefühl. Scham ist in jeder Psychotherapie ein Wendepunkt – und im alltäglichen Umgang eine Erklärung für viele unerklärliche Wendungen. „Das Buch liest sich sehr spannend und kann nicht nur Ärzten und Psychologen empfohlen werden, sondern allen, die in so genannten helfenden Berufen einfühlsam und sorgsam ihre Arbeit gestalten.“ Deutsches Ärzteblatt PP „Unterhaltsam und tiefgründig ... Ein zutiefst menschliches und zum Nachdenken einladendes Buch.“ Frankfurter Rundschau

Zum Weiterlesen empfohlen Haim Omer / Nahi Alon / Arist von Schlippe Feindbilder – Psychologie der Dämonisierung Mit einem Vorwort des Dalai Lama 2007. 230 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-49100-3

Josi Rom Identitätsgrenzen des Ich Einblicke in innere Welten schizophrenie- und borderlinekranker Menschen 2007. 240 Seiten mit 12 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-49103-4

Ulrike Lehmkuhl (Hg.) Instanzen im Schatten Väter, Geschwister, bedeutsame Andere Beiträge zur Individualpsychologie, Band 32. 2006. 175 Seiten mit 21 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45013-0

Almuth Massing / Günter Reich / Eckhard Sperling Die MehrgenerationenFamilientherapie Unter Mitarbeit von Hans Georg und Elke Wöbbe-Mönks. 5., aktualisierte Auflage 2006. 274 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45740-5

Franz Maciejewski Der Moses des Sigmund Freud Ein unheimlicher Bruder 2006. 221 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45374-2

Hans Sohni Geschwisterbeziehungen in Familien, Gruppen und in der Familientherapie 2004. 124 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-46223-2

Mathias Hirsch Schuld und Schuldgefühl Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt 3. Auflage 2001. 341 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-01435-6

Elke Brech / Karin Bell / Christa Marahrens-Schürg (Hg.) Weiblicher und männlicher Ödipuskomplex 1999. 231 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-01443-1

Helmut Remmler Das Geheimnis der Sphinx Archetyp für Mann und Frau 2., überarbeitete Auflage 1995. 118 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-01715-9