Entwicklung in sozialen Beziehungen: Heranwachsende in ihrer Auseinandersetzung mit Familie, Freunden und Gesellschaft 9783110508185, 9783828203402

Entscheidende Impulse für die Individualentwicklung von Kindern und Jugendlichen geben die vielfältigen sozialen Beziehu

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Entwicklung in sozialen Beziehungen: Heranwachsende in ihrer Auseinandersetzung mit Familie, Freunden und Gesellschaft
 9783110508185, 9783828203402

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Kindheit und frühe Adoleszenz: Einfluss von Familie und Freunden
Theoretische Ansätze zur Transformation der Eltern- Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung bei Heranwachsenden
Der Beginn des Individuationsprozesses: Wechselseitige Einflüsse zwischen Müttern und Kindern in Aushandlungsgesprächen
Jugendliche und ihre Beziehung zum Vater: Ein Vergleich von Kern-, Trennungs- und Stieffamilien
Können enge Freundschaften im frühen Jugendalter die Auswirkungen problematischer Eltern-Kind- Beziehungen auf abweichendes Verhalten auffangen?
In schlechter Gesellschaft - Beziehungen mit antisozialen Freunden und ihre Folgen
Soziale Integration von Jugendlichen in ihren engen Freundeskreis: Zusammenhänge mit abweichendem Verhalten und sozio-emotionaler Befindlichkeit
II. Erweiterte Handlungsspielräume in der Adoleszenz: Partnerschaft, Beruf und Freizeit
Jugendliche zwischen Schule und Freizeit
Die Rolle der Eltern für die Berufsorientierung von Jugendlichen
Liebe und Sexualität im Jugendalter – Geschlechtsspezifische Unterschiede in Ost- und West- Berlin zur Zeit der Wende
III. Bürgerschaftliches Engagement und Politik
Erweiterte Handlungsräume im Jugendalter: Identitätsentwicklung im Bereich gesellschaftlichen Engagements
Die Sozialisation von sozialem und politischem Engagement in Elternhaus und Gleichaltrigenwelt
Die Entwicklung sozialer Orientierungen Jugendlicher im Kontext von Freundschaften und Eltern-Kind- Beziehungen
Ziviler Ungehorsam und politisch motivierte Gewaltbereitschaft im Jugendalter: Entwicklung und Sozialisation
IV. Schlussbetrachtung
Die Entwicklung politischer Identität im Kontext sozialer Beziehungen
Autorinnen und Autoren

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Entwicklung in sozialen Beziehungen Β. H. Schuster/H.-P. Kuhn/H. Uhlendorff (Hrsg.)

Der Mensch als soziales und personales Wesen Herausgegeben von L. Krappmann und Κ. A. Schneewind

Die Reihe "Der Mensch als soziales und personales Wesen" versteht sich als innovatives Forum für die Sozialisationsforschung. In interdisziplinärer Zusammenarbeit analysieren Autorinnen und Autoren der Bände wichtige Träger von Sozialisation wie Familie, Schule, Betrieb und Massenmedien, deren Veränderung im Rahmen gesellschaftlicher Entwicklungen, wechselseitige Einflüsse zwischen diesen Einrichtungen sowie ihre sozialisatorischen Wirkungen auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die veröffentlichten Arbeiten enthalten kritische Bestandsaufnahmen des Forschungsstandes, entwickeln fachübergreifende Konzepte und bereiten Untersuchungen zu Lücken in der Forschungsthematik vor. Themen und Darstellung richten sich nicht nur an Fachwissenschaftler in Forschung und Lehre, sondern sollen darüber hinaus die an den Sozialwissenschaften interessierte Öffentlichkeit ansprechen.

Band 21

Entwicklung in sozialen Beziehungen Heranwachsende in ihrer Auseinandersetzung mit Familie, Freunden und Gesellschaft

Herausgegeben von Beate H. Schuster, Hans-Peter Kuhn und Harald Uhlendorff

Lucius & Lucius · Stuttgart

Anschrift der Herausgeber Dr. phil. Beate H. Schuster Dr. phil. Hans-Peter Kuhn Apl. Prof. Dr. Harald Uhlendorff Universität Potsdam Humanwissenschaftliche Fakultät Institut ftir Erziehungswissenschaften Postfach 601553 14415 Potsdam [email protected] [email protected] [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 3-8282-0340-X (Lucius & Lucius) © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2005 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.

Druck und Einband: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Entwicklung in sozialen Beziehungen — ein entwicklungspsychologischsozialisationstheoretischer Ansatz von James Youniss Beate H. Schuster, Hans-Peter Kuhn und Harald Ohlendorf I.

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Kindheit und frühe Adoleszenz: Einfluss von Familie und Freunden

Theoretische Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung bei Heranwachsenden Beate H. Schuster

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Der Beginn des Individuationsprozesses: Wechselseitige Einflüsse zwischen Müttern und Kindern in Aushandlungsgesprächen Beate H. Schuster

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Jugendliche und ihre Beziehung zum Vater: Ein Vergleich von Kern-, Trennungs- und Stieffamilien Sabine Walper und Mechtild Gödde

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Können enge Freundschaften im frühen Jugendalter die Auswirkungen problematischer Eltern-Kind-Beziehungen auf abweichendes Verhalten auffangen? Harald Ohlendorf.

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In schlechter Gesellschaft — Beziehungen mit antisozialen Freunden und ihre Folgen Mara Brendgen, Frank Vitaro und Veronique Lamarche.

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Inhaltsverzeichnis

Soziale Integration von Jugendlichen in ihren engen Freundeskreis: Zusammenhänge mit abweichendem Verhalten und sozio-emotionaler Befindlichkeit Harald Ohlendorf.

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II. Erweiterte Handlungsspielräume in der Adoleszenz: Partnerschaft, Beruf und Freizeit Jugendliche zwischen Schule und Freizeit Manfred Hofer und Stefan Fries

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Die Rolle der Eltern für die Berufsorientierung von Jugendlichen Bärbel Kracke und Veter Noack

169

Liebe und Sexualität im Jugendalter — Geschlechtsspezifische Unterschiede in Ost- und West-Berlin zur Zeit der Wende Johanna Bahne und Hans Oswald

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III. Bürgerschaftliches Engagement und Politik Erweiterte Handlungsräume im Jugendalter: Identitätsentwicklung im Bereich gesellschaftlichen Engagements Monika Buhl und Hans-Peter Kuhn

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Die Sozialisation von sozialem und politischem Engagement in Elternhaus und Gleichaltrigenwelt Christine Schmid

239

Die Entwicklung sozialer Orientierungen Jugendlicher im Kontext von Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen Hein% Reinden und James Youniss

259

Ziviler Ungehorsam und politisch motivierte Gewaltbereitschaft im Jugendalter: Entwicklung und Sozialisation Hans-Peter Kuhn

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IV. Schlussbetrachtung Die Entwicklung politischer Identität im Kontext sozialer Beziehungen James Youniss

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung Entwicklung in sozialen Beziehungen - ein entwicklungspsychologisch-sozialisationstheoretischer Ansatz von James Youniss

Beate H. Schuster, Hans-Peter Kuhn und Harald Uhlendorff

Die Konzeption des vorliegenden Bandes orientiert sich an einer Vorstellung von menschlicher Entwicklung, bei der — neben den wachsenden sozialen und kognitiven Fähigkeiten Heranwachsender — vor allem auf die sozialen Beziehungen fokussiert wird, in die Kinder und Jugendliche durch regelmäßige zwischenmenschliche Interaktionen innerhalb und außerhalb der Familie eingebunden sind. Das freiwillige Eingehen, Pflegen und Umgestalten langfristig angelegter Beziehungen und die dabei notwendige wechselseitige Kooperation tragen zur Individualentwicklung bei und bereiten eine kritische Identifikation mit dem Gesellschaftssystem vor. Gelingt diese Kooperation innerhalb der sozialen Netze nicht, dann fehlen den Heranwachsenden zentrale Entwicklungsanstöße und emotional stabilisierende Erfahrungen, was zu sozialem Rückzug und Vereinsamung oder zur Verletzung gesellschaftlicher Normen durch externalisierendes Problemverhalten führen kann. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive deckte der US-amerikanische Kinder- und Jugendforscher James Youniss die Entwicklungsimpulse auf, die unterschiedliche soziale Beziehungen bieten. An Sozialisation und Entwicklung interessierte Arbeitsgruppen in den USA, in Kanada und in Deutschland setzen sich zur Zeit intensiv mit den von Youniss entworfenen Vorstellungen zur Identitätsbildung von Heranwachsenden in inner- und außerfamilialen Beziehungen auseinander. Dennoch tauchen in den gängigen Lehrbüchern nur vereinzelte Aspekte zu diesem weiterführenden Ansatz auf. Als deutschsprachiger Uberblick liegt bisher lediglich eine von Lothar Krappmann und Hans Oswald herausgegebene Sammlung theoretischer Aufsätze von James Youniss vor, die in den 70er und 80er Jahren entstanden sind (Youniss, 1994). Seit dieser Zeit hat Youniss seinen Ansatz fortentwickelt und auf weitere Entwicklungsphasen, Lebensbereiche und die entsprechenden sozialen Beziehungen ausgedehnt. Gleichzeitig ist die empirische Forschung zu Ergebnissen gekommen, die seine Thesen untermauern, aber auch Differenzierungen notwendig machen. Ziel dieses Buches ist es, die an Youniss anknüpfende Forschung in theoretischen Beiträgen, Uberblicksartikeln und vor allem durch aktuelle empirische Studien darzustellen, um

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Beate Η. Schuster, Hans-Peter Kuhn und Harald Uhlendorff

so den Ansatz und die Weiterentwicklungen in ihrer Breite deutlich werden zu lassen. Dabei liegt ein Schwerpunkt der empirischen Beiträge auch darauf, welche Folgen ein Misslingen der individuellen Arbeit an sozialen Beziehungen haben kann. In seinen Anfang der 80er Jahre entstandenen Arbeiten hat Youniss vor allem das Entwicklungspotenzial symmetrischer Interaktionen unter gleichberechtigten Gleichaltrigen betont, das sich in besonders produktiver Weise als vertrauensvolle Kooperation unter eng befreundeten Kindern entfaltet. Derartige Anregungen können die asymmetrischen Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen kaum bieten. Dieser von Youniss differenziert ausgearbeitete Gedankengang wurde in Anlehnung an den Entwicklungspsychologen Jean Piaget und den Psychiater Harry S. Sullivan als „Piaget-Sullivan-These" für die empirische Forschung sehr bedeutsam und fruchtbar. Die These entstand nicht allein auf der Basis entwicklungspsychologischer und -pathologischer Vorannahmen, sondern hat weitere Wurzeln in Youniss' Auseinandersetzung mit dem sozialisationstheoretischen Ansatz von Jürgen Habermas (1979). In gelingender Sozialisation verbindet sich nach Habermas die Identitätsentwicklung als wachsende kommunikative Kompetenz mit der Vergesellschaftung des Individuums. Youniss hat darauf hingewiesen, dass Ansätze zur „idealen Sprechsituation" (nach Habermas) empirisch schon in Interaktionen unter befreundeten Kindern gefunden werden können (Youniss, 1994, S. 103). Damit sind Kinderfreundschaften für Youniss ein erstes Beispiel dafür, wie sich die persönliche Entwicklung zu einem aktiven Mitbürger durch die Einbindung in „kommunikative Beziehungen" vollzieht. Bereits diese frühen Arbeiten hatten damit einen Rahmen, der deutlich weiter war als das Thema Kinderfreundschaften vermuten lässt. Mitte der 80er Jahre erweiterte Youniss seine Überlegungen auf das Thema der Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter (Youniss & Smollar, 1985). In seiner Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Konflikttheorien gilt das von Youniss und von Grotevant und Cooper (1985, 1986) entworfene Individuationskon^ept heute als ein maßgeblicher Forschungsansatz, auch wenn weitere Differenzierungen sinnvoll erscheinen. Grotevant und Cooper greifen klinische, aus der Familientherapie bekannte Ansätze auf und nehmen eine systemtheoretische Perspektive ein. Sie verstehen Individuation als einen Transformationsprozess innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung, bei dem eine neue Balance zwischen den wechselseitigen Wünschen nach emotionaler Verbundenheit einerseits und Individualität und Autonomie andererseits ausgehandelt wird. Dagegen knüpft Youniss bei diesem Thema an seine früheren Überlegungen zur Struktur von Interaktionen (symmetrisch vs. asymmetrisch) in unterschiedlichen Beziehungen (Gleichaltrigenbeziehungen vs. Autoritätsbeziehungen) an: Er postuliert, dass Jugendliche, die in symmetrischen Interaktionen mit Gleichaltrigen gleichberechtigtes Aushandeln erfahren, wenig bereit sein werden, sich gegen-

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über ihren Eltern bei allen Fragen dauerhaft in asymmetrischen Strukturen einzurichten. Vielmehr werden sie hinsichtlich vieler Lebensbereiche bestrebt sein, in Auseinandersetzungen mit ihren Eltern symmetrische Interaktionsformen und gleichberechtigte Positionen zu erreichen. Auch diese Überlegungen stellt Youniss in einen weiter gefassten historisch-gesellschaftlichen Kontext: Mit dem Wandel der Lebensformen in modernen Gesellschaften hat ein innerfamilialer Strukturwandel stattgefunden, der sich nach Habermas in „egalisierten Beziehungen, individuierten Verkehrs formen und liberalisierten Erziehungspraktiken" (1981, S. 568) ausdrückt. Eltern betrachten ihre Kinder nicht mehr als Quelle ökonomischer Absicherung im Alter, sondern als psychische Bereicherung und Möglichkeit der Sinngebung. Dies hat zur Folge, dass nicht nur die Jugendlichen, sondern auch deren Eltern bestrebt sind, die Beziehungen zu ihren heranwachsenden Kindern im Laufe der Zeit auf eine Basis zu stellen, die nicht mehr durch das Angewiesensein des Kindes auf Schutz und Fürsorge seiner Eltern, sondern durch freiwillige Verbindlichkeit und gegenseitige Achtung bestimmt ist (Youniss, 1994, S. 114 f.). Seit Beginn der 90er Jahre beschäftigt sich Youniss mit dem politischen und sozialen Engagement von Jugendlichen. Das in diesem Kontext entstandene Stufenkonzept der Transzendenz (Youniss & Yates, 1997) knüpft an die Arbeiten von Erikson (1950, 1968) zur Identitätsentwicklung im Jugendalter an, bezieht aber auch die Grundideen der oben dargestellten Themen mit ein. Erikson hat beschrieben, wie Jugendliche im Zuge der Identitätsentwicklung ihren Interaktionsradius erweitern, über ihr unmittelbares familiäres, schulisches und gleichaltrigenbezogenes Umfeld hinaus nach außen blicken. Sie bemühen sich dabei um die Teilhabe an Institutionen, Gruppen oder auch Ideologien, die ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. In diesem Prozess integrieren sie Attribute der Gemeinschaft, wie zum Beispiel soziale Verantwortung zu übernehmen, in ihre Identität, entwickeln sie weiter und schreiben damit die Gestaltung dieser Gemeinschaft fort. Dadurch werden sie als Individuen Teil einer über das Individuum hinausweisenden Haltung, die von Erikson als „Transzendenz" bezeichnet wurde. Youniss und Yates haben in ihren Untersuchungen zum Einfluss von politischem und sozialem Engagement (community service) die Stufen dieses Prozesses beschrieben. Hier wird eine Entwicklung deutlich, bei der Jugendliche in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Aufgaben und Problemen (z.B. dem Umgang mit Obdachlosen) lernen, andere Menschen in deren spezifischen Kontexten genauer wahrzunehmen, eigene Einstellungen und Vorurteile zu überprüfen und zu einer neuen Sicht der Ursachen gesellschaftlicher Missstände bis hin zur Reflexion von Veränderungsmöglichkeiten zu gelangen. Youniss hat die Perspektive, aus der er soziale Entwicklung betrachtet, als relational bezeichnet (z.B. Youniss, 1994, S. 17). Gegenstand der Analyse ist danach weniger das Kind oder der Jugendliche, sondern seine Beziehungen. Bei den Be-

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Ziehungen zeigt Youniss, wie das freiwillige Eingehen langfristiger Bindungen und das Bemühen um ein geteiltes Verständnis in uneindeutigen Situationen durch Wechselseitigkeit geprägt ist. Gleichaltrige, die zu Freunden werden, überwinden die zunächst strikte Symmetrie („tit for tat") ihres Handelns und finden zu einer flexiblen und dadurch reiferen wechselseitigen Bezogenheit in ihrer Beziehung. Eltern und Jugendliche, die bei zunehmender Loslösung und Unabhängigkeit ihre tiefe Verbundenheit aufrecht erhalten wollen, finden zu gegenseitiger Verantwortung und Gleichberechtigung in ihrer Beziehung. Jugendliche, die sich aus einer Haltung der freiwilligen Verpflichtung gegenüber anderen, nicht zur Familie oder zum Freundeskreis gehörenden Menschen, gesellschaftlich engagieren, entwickeln Handlungskompetenz und finden Anerkennung und Zugehörigkeit innerhalb des gesellschaftlichen Systems. So verstandene Reziprozität wird — wie Youniss selbst unter Rückgriff auf ein Zitat von Gouldner (1960) beschreibt - so letztlich zu dem „Kitt [...], der die Gesellschaft zusammenhält" (Youniss, 1994, S. 41). Im ersten Teil des vorliegenden Buches sind Beiträge zusammengestellt, in denen die soziale Einbindung von Kindern thematisiert wird. Nach einem Überblick über theoretische Konzeptionen werden — in Anlehnung an Ideen von Youniss hinsichtlich der asymmetrischen Beziehungen zu Eltern und der symmetrischen Beziehungen zu Gleichaltrigen — positive wie auch negative Aspekte dieser Beziehungen im Hinblick auf die psychosoziale Entwicklung Heranwachsender empirisch betrachtet. Anliegen des theoretischen Überblicks von Beate H. Schuster ist es, ausgehend von den psychoanalytischen Entwicklungsideen von Sigmund und Anna Freud, die in den letzten fünf Jahrzehnten entstandenen Vorstellungen dazu, wie Eltern und Kinder ihre Beziehung beim Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz umgestalten und wie sie damit zur Autonomieentwicklung und letztlich zur Identitätsbildung der Heranwachsenden beitragen, in ihren wesentlichen konzeptuellen Phasen zu skizzieren. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf die aktuellen konzeptuellen Entwicklungen in diesem Forschungsbereich. Anschließend geht Beate H. Schuster der Frage nach, wie der Individuationsprozess mittels Gesprächen zwischen Müttern und ihren Kindern in Gang gesetzt wird, d.h. welche Anstöße sie sich für Veränderungen ihrer Beziehung wechselseitig geben. Dazu werden Videoaufzeichnungen von Aushandlungsgesprächen zwischen Müttern und ihren zunächst zehnjährigen Kindern, die drei Mal in eineinhalbjährigen Abständen wiederholt wurden, quantitativ ausgewertet. Sabine Walper und Mechthild Gödde berichten Ergebnisse aus einer Studie mit Heranwachsenden zwischen 9 und 19 Jahren aus Kern-, Alleinerziehenden(Mutter-)Familien und Stiefvaterfamilien, in der sie verschiedene Aspekte der Individuation vergleichend betrachten. Die Autorinnen gehen den Fragen nach, ob die Beziehungen von Jungen und Mädchen zu ihren leiblichen Vätern in den beiden Formen von Trennungsfamilien belasteter sind als in Kernfamilien, welchen Einfluss die Kontakthäufigkeit mit dem leiblichen Vater auf die Qualität

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der Be2iehung hat, und welche Wirkung Konflikte zwischen den Eltern sowie von den Müttern ausgeübter Koalitionsdruck auf die Beziehung zum Vater haben. Harald Uhlendotff fragt in seinem ersten Beitrag, ob — entsprechend der theoretischen Vorstellungen von Sullivan — enge Freundschaften im frühen Jugendalter die Auswirkungen problematischer Eltern-Kind-Beziehungen auf abweichendes Verhalten auffangen können. Anhand einer Befragung von 13- bis 15-jährigen Jugendlichen wird diese These im Hinblick auf unterschiedliche Individuationsprobleme im Elternhaus und auf verschiedene Formen abweichenden Verhaltens untersucht. Mara Brendgen, Frank Vitaro und Vervnique hamarche stellen drei ihrer empirischen, längsschnittlich angelegten Auswertungen vor. Die Autoren decken erstens auf, wie es dazu kommt, dass sich manche Kinder (11 bis 13 Jahre), verursacht durch ihre Erfahrungen in Familie und Gleichaltrigenwelt, mit antisozialen Freunden einlassen. Zweitens zeigen sie, welche Folgen die Beziehungen mit antisozialen Freunden für die emotionale Entwicklung von Heranwachsenden haben, und drittens wie sich der Kontakt mit solchen Freunden auf zukünftige delinquente Einstellungen und delinquentes Verhalten der Heranwachsenden selbst auswirkt. Harald Ohlendorf zeigt in seinem zweiten Beitrag anhand einer Befragung von 13- bis 15-jährigen Jugendlichen, wie unterschiedliche Aspekte von Freundschaften unter den Heranwachsenden (gemeinsamer Spaß, vertrauensvolle Unterstützung, destruktiver Streit, Größe und Alters struktur von Freundeskreisen) mit ihrem abweichenden Verhalten und ihrer sozio-emotionalen Befindlichkeit zusammenhängen. Im zweiten Teil des Buches wird der Fokus auf die sich in der Adoleszenz erweiternden Handlungsspielräume gelegt. Dabei wird die Auseinandersetzung der Jugendlichen mit dem zunehmend wichtiger werdenden beruflichen Bereich, mit den vielfaltigen Freizeitangeboten und mit den in dieser Zeit sich entwickelnden Liebesbeziehungen in den Blick genommen. Manfred Hofer und Stefan Fries argumentieren in einem theoretischen Beitrag vor dem Hintergrund verschiedener Facetten gesellschaftlichen Wandels (Wissensgesellschaft, Wohlstandsgesellschaft, Globalisierung), dass sowohl die Schule mit ihren Anforderungen als auch die Freizeit mit ihren vielfältigen geselligen Aktivitäten für Jugendliche überaus bedeutsame Lebenskontexte darstellen. Die zentrale Frage in diesem Beitrag gilt der Vereinbarkeit und den Konflikten zwischen diesen beiden Bereichen. Bärbel Kracke und Peter Noack untersuchen, wie Eltern die berufsbezogene Informationssuche ihrer Kinder (6. bis 10. Klasse an Realschulen und Gymnasien in Ostund Westdeutschland) durch mehr oder weniger unterstützendes Erziehungsverhalten beeinflussen. Dazu berichten sie ihre Ergebnisse aus verschiedenen quantitativen Befragungen und aus qualitativen Interviews. Die Autoren gehen besonders auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede ein und entwickeln abschließend ein Modell zu den familialen Voraussetzungen des berufsbezogenen Explorationsverhaltens bei Jugendlichen. Im Mittelpunkt des Beitrages von Johanna Bahne und Hans Oswald stehen die Liebesbeziehungen und die sich entwi-

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Beate Η. Schuster, Hans-Peter Kuhn und Harald Uhlendorff

ekelnde Sexualität im Jugendalter. Diese Themen wurden aus der von Youniss inspirierten relationalen Entwicklungsperspektive bisher kaum betrachtet. Anhand der Daten aus einer qualitativen Studie mit ost- und westdeutschen Jugendlichen (14-18 Jahre) entwerfen die Autoren unterschiedliche Konzepte der Verbindung von Liebe und Sexualität und gehen ausfuhrlich auf Geschlechtsunterschiede ein. Im dritten Teil des vorliegenden Bandes wird das politische und soziale Engagement von Jugendlichen im Kontext ihrer Familie und ihrer Gleichaltrigenbeziehungen beleuchtet. Monika Buhl und Hans-Peter Kuhn beschreiben in ihrem theoretischen Beitrag, inwieweit die Identitätsentwicklung von Jugendlichen bei der Erschließung neuer Handlungsräume gefördert werden kann, wobei die Bedeutung gesellschaftlichen Engagements im Zentrum der Betrachtungen steht. Es werden drei aktuellere theoretische Ansätze der erziehungswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Forschung in den USA vorgestellt, die das Entwicklungspotenzial gesellschaftlichen Engagements für Heranwachsende hervorheben. Christine Schmid geht der Frage nach, wie das soziale und politische Engagement von Jugendlichen (12. und 13. Klasse) innerhalb der Familie und der Gleichaltrigenwelt entsteht. Sie fokussiert dabei auf Geschlechtsunterschiede, auf gleichgeschlechtliche Identifikationsprozesse innerhalb der Familie und auf soziale Auswahl- und Einflussprozesse unter Freunden, wobei engen Freundschaften eine zentrale Rolle zugewiesen wird. Hein% Reinders und James Youniss untersuchen die soziale Orientierung von Jugendlichen (10. bis 12. Klasse), insbesondere wie ihre Bereitschaft zum freiwilligen sozialen Engagement entsteht. Herausgearbeitet wird dabei die Bedeutung von intensiven, die Perspektivenübernahme anregenden Interaktionen unter Freunden. Zusätzlich scheinen Aktivitäten unter Gleichaltrigen in einem eher formellen Rahmen (z.B. Teilnahme an Theater- und Kunstgruppen) förderlich für die Entwicklung einer sozialen Orientierung zu sein. Hans-Peter Kuhn geht in seinem empirischen Beitrag mit den Daten einer Längsschnittstudie zur politischen Identitätsbildung von 16- bis 19jährigen Jugendlichen den Entwicklungsbedingungen der Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam und politisch motivierter Gewalt nach. Neben verschiedenen individuellen Dispositionen der Jugendlichen wie dem psychischen Wohlbefinden werden vor allem die Bedingungen im Eltern- und Freundeskontext untersucht. In seiner Schlussbetrachtung entfaltet James Youniss übergreifende Perspektiven, unter denen die Beiträge in diesem Buch betrachtet werden können. So stellt er zunächst die deutsche entwicklungspsychologische Forschung in einen historischen und internationalen Kontext. Danach erläutert er seine Ideen zu einem breit angelegten Konzept politischer Identitätsbildung aus entwicklungspsychologischer Sicht, wobei er die drei Themenbereiche „Entwicklung innerhalb der Gleichaltrigenwelt", „Individuation in der Eltern-Kind-Beziehung" und „gesell-

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schaftliches Engagement" miteinander verknüpft und auf die Rolle des sozialhistorischen Kontextes hinweist.

Literatur Erikson, Ε. H. (1950). Childhood and society. New York: Norton. (Deutsche Ausgabe: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart, 1957). Erikson, Ε. H. (1968). Identity: Youth and crisis. New York: Norton. Gouldner, A. J. (1960). The norm of reciprocity. A preliminary statement, American Sociological Review, 25,161-178. Grotevant, H. D. & Cooper, C. R. (1985). Patterns of interaction in family relationships and the development of identity exploration in adolescence. Child Development, 56,415-428. Grotevant, H. D. & Cooper, C. R. (1986). Individuation in family relationships. Human Development, 29, 82-100. Habermas, J. (1979). Communication and the evolution of society. Boston: Beacon. Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Youniss, J. (1994). Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Herausgegeben von L. Krappmann & H. Oswald. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Youniss, J. & Smollar, J. (1985). Adolescent relations with mothers, fathers, and friends. Chicago, IL: University of Chicago Press. Youniss, J. & Yates, M. (1997). Community service and social responsibility in youth: Theory and policy. Chicago, IL: University of Chicago Press.

I. Kindheit und frühe Adoleszenz: Einfluss von Familie und Freunden

Theoretische Ansätze zur Transformation der ElternKind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung bei Heranwachsenden Beate H. Schuster

1. Einleitung Viele Eltern beschreiben die Zeit, in der ihre Kinder das Jugendalter erreichen, als eine spannungsreiche, belastende Phase im Familienleben (Olson et al., 1989; Silverberg & Steinberg, 1987; Steinberg & Steinberg, 1994). Das Einsetzen der körperlichen Reifeprozesse, die steigenden kognitiven Fähigkeiten, aber auch die sich erweiternden gesellschaftlichen Erwartungen und Rechte (Steinberg, 1999) sowie die zunehmenden Erfahrungen mit Gleichaltrigen (Hofer, 2003; Youniss & Smollar, 1985) fuhren dazu, dass die Heranwachsenden in dieser Phase beginnen, stärker als zuvor Eigenständigkeit und Unabhängigkeit einzufordern und die gültigen und bewährten familiären Regeln in Frage zu stellen. Anders als noch vor einigen Jahrzehnten, als das Zusammenleben in den Familien oft als ein durch den Vater dominierter „Befehlshaushalt" (DuBois-Reymond & Torrance, 1994) organisiert war, sind Eltern heute grundsätzlich bereit, familiäre Regeln mit ihren Kindern zu diskutieren und sie immer wieder der voranschreitenden Entwicklung der Kinder anzupassen (Münchmeier, 1997; Zinnecker, 1997). Zu diesem innerfamiliären Wandel „vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt" haben neben anderen Faktoren auch Veränderungen in den von Eltern favorisierten Erziehungszielen beigetragen (Oswald, 1997; Schneewind, 1995). Ging es Eltern in den 60er Jahren noch vorrangig um Sekundärtugenden, wie Fleiß und Ordnung, wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem, Selbständigkeit und Selbstverantwortung als wesentliche Ziele von Erziehung gesehen (Hofer, 2002; Reuband, 1997). Die Frage, wie Selbständigkeit und -Verantwortung in der Familie gefördert werden können, stellt sich im Jugendalter in besonderer Weise, da diese Lebensphase der Vorbereitung reifer und autonomer Haltungen der Jugendlichen hinsichtlich Berufsfindung, Partnerschaft sowie weltanschaulicher und politischer Überzeugungen dient (Fend, 2000; Oerter & Dreher, 1995). Entsprechend dem Wandel der innerfamiliären Beziehungen und der Erziehungsziele haben sich auch die Vorstellungen dazu, wie Eltern und Kinder ihre Beziehung im Jugendalter umgestalten und wie sie damit zur Autonomieentwicklung und letztlich zur Identitätsbildung der Heranwachsenden beitragen, verändert. Das Anliegen dieses Beitrags besteht darin, wesentliche Stationen dieser konzeptionellen Verände-

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rungen nachzuzeichnen. Zum einen sollen die wichtigsten theoretischen Wurzeln der heutigen psychologischen Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung in der Adoleszenz aufgezeigt, zum anderen aber auch diese neueren Ansätze selbst beschrieben werden. Auf eine breite Darstellung des Forschungsstandes, der in zahlreichen Überblicksarbeiten aus den letzten Jahren ausführlich dokumentiert worden ist (Hofer, 2003; Masche & Walper, 2003; Noack, Kerr & Olah, 1999; Steinberg, 2001; Walper, 2003), wird dabei zugunsten einer stärker konzeptionellen Auseinandersetzung mit den Ansätzen selbst weitgehend verzichtet.

2. Psychoanalytische Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung im Jugendalter Sigmund Freud hat mit seiner psychoanalytischen Theorie wegweisende Vorstellungen zur Funktionsweise und Entwicklung des Menschen erarbeitet, die weit über die Psychologie hinaus Bedeutung erlangt haben. Für das Verständnis der Veränderungsprozesse in der Eltern-Kind-Beziehung und der Autonomieentwicklung im Jugendalter sind insbesondere die Weiterentwicklungen seiner Ideen durch seine Tochter Anna Freud und seinen Schüler Peter Bios einflussreich geworden.

Sigmund Freud: Emotionale Ablösung und moralische Autonomie Sigmund Freud (1972,1975) hat sich vorrangig mit den ersten drei Phasen (orale, anale und phallische Phase) der von ihm als „psychosexuell" verstandenen Entwicklung befasst. Für das Verständnis der als genitale Phase bezeichneten Adoleszenz sind die Entwicklungsereignisse der phallischen Phase besonders bedeutsam. In dieser Phase, die ca. zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr anzusiedeln ist, werden Kinder erstmalig auf Geschlechtsunterschiede aufmerksam und dadurch auch auf den anderen oder die andere als Objekt der eigenen Begierde, wodurch es zu einer „Verschiebung der Lustzonen auf soziale Objekte" kommt (Fend, 2000, S. 83). Die entscheidende Entwicklungsdynamik dieser Phase entsteht durch eine Konfliktsituation, die Freud als „Ödipuskomplex" bezeichnete, weil das Kind — wie Odipus in der griechischen Mythologie — seine sexuellen Wünsche auf seinen gegengeschlechtlichen Elternteil richtet. Das schuldhaft erlebte verbotene Begehren sowie die dafür vom Kind phantasierte Strafe erzeugten große Angst und müssten deshalb verdrängt werden. Die Lösung dieses Konflikts gelingt, so Freud, schließlich dadurch, dass sich das Kind mit seinem gleichgeschlechtlichen Elternteil identifiziert. Indem es danach strebt, so zu werden wie der Elternteil, internalisiert es dessen Werte, Einstellungen und Uber-

Theoretische Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung

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Zeugungen. Dieses Geschehen führt zur Entstehung des „Überichs", das in dem Persönlichkeitsmodell der Psychoanalyse die moralische Instanz oder das Gewissen repräsentiert. Den bis dahin bestehenden Instanzen des „Es", das allein dem Lustprinzip unterliegt, und des „Ichs", das den Anpassungsforderungen der Außenwelt bzw. dem Realitätsprinzip gehorcht, wird mit dem „Überich" eine neue alles (Verhalten u. Gedanken) überwachende Instanz gegenübergestellt. Das „Überich" ist aber zunächst nicht autonom, sondern wird durch die internalisierten Moralvorstellungen der Eltern bestimmt. Nach der relativ konfliktfreien, die mitdere Kindheit umfassenden, Latenzphase, setzt mit dem Beginn der Pubertät die genitale Phase ein, die durch ein Wiedererwachen der sexuellen Impulse der phallischen Phase geprägt ist. In seinen Abhandlungen über die Sexualtheorie (1972) spricht Freud deshalb von der „zweiten ödipalen Situation" in der Adoleszenz. Die Bedrohung durch die wieder aufkeimenden und nun vom Heranwachsenden als tabu verstandenen sexuellen Neigungen zum gegengeschlechtlichen Elternteil kann in dieser Phase nicht noch einmal durch die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil abgewendet werden. Eine Lösung besteht vielmehr darin, dass sich der Heranwachsende nun emotional von den Eltern zurückzieht und sich affektiv anderen gegengeschlechtlichen Gleichaltrigen zuwendet. Diese Veränderungsprozesse in der Triebstruktur und der Beziehungsstruktur führen schließlich zu der für die Autonomieentwicklung wesentlichen Veränderung in den damit korrespondierenden psychischen Instanzen: Der Loslösung von den elterngeprägten Überichstrukturen zugunsten eines selbst aufgebauten Ich-Ideals, das — allerdings noch als Zwischenstufe vor der Ausbildung eines wirklich autonomen moralischen Gewissens - als neue Regulationsinstanz fungiert (vgl. Fend, 2000, S. 84). Anna Freud: „Sturm und Drang" Intensiver als ihr Vater setzte sich Anna Freud (1958, 1969) mit der Adoleszenz auseinander. Wie er ging sie davon aus, dass sich mit dem Beginn der Pubertät die sexuellen Impulse wieder verstärken und die in der Latenzphase erreichte psychische Stabilität der Jugendlichen erneut bedrohen. Anna Freud hatte dabei aber mehr als ihr Vater den mit diesen Veränderungen in der Triebstruktur verknüpften Wandel der Beziehungsstruktur mit den Eltern im Blick. Jugendliche haben nach ihren Vorstellungen in der Adoleszenz zwei Aufgaben zu bewältigen. Sie müssen einen Weg finden, um mit den neuerlichen Triebimpulsen zurecht zu kommen und sie müssen dazu die — einer reifen Genitalität entgegenstehenden engen emotionalen Bindungen an ihre Eltern lösen. Weil diese Aufgaben nicht ohne eine Zerstörung des bis dahin bestehenden psychischen Gleichgewichts lösbar seien, veranschlagte Anna Freud die Adoleszenz als eine notwendige Phase des internalen Konflikts oder psychischen Desequilibriums, was bis hin zu

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der Überzeugung reichte, ein Ausbleiben von Aufruhr in dieser Phase sei nicht normal und künde eine pathologische Entwicklung an. Jugendliche verhalten sich in dieser von Anna Freud als „Sturm und Drang" bezeichneten Phase deshalb launisch, überempfindlich und schwanken zwischen extremen Stimmungen. Mehr noch zeigt sich die innere Krise aber durch die vielfältigen Strategien oder „Abwehrmechanismen", die die Jugendlichen in dieser Phase mobilisieren, um sich den sie bedrängenden Trieb- und Bindungsimpulsen zu widersetzen. Einleuchtend erscheint auch aus heutiger Sicht im Hinblick auf den Umgang mit den Triebimpulsen z.B. der Abwehrmechanismus der „Askese" (man denke an Pubertäts-Magersucht). Gegenüber den Eltern sind es Strategien wie z.B. die „Verleugnung" oder die „Umkehr von Affekten", die sich in abwertendem, verächtlichem Verhalten bzw. dem Zeigen von Hass anstatt Liebe oder extremer Opposition anstatt von Anhänglichkeit äußern. Das Ziel dieser zu vermehrten Auseinandersetzungen mit den Eltern beitragenden Strategien besteht in jedem Fall in der Bewältigung der inneren Konflikte durch die Lösung (detachment) der kindlichen emotionalen Bindung (attachment) an die Eltern.

Peter Bios: „Die zweite Individuation" Peter Bios (1977) knüpfte insofern an die Vorstellungen von Sigmund und Anna Freud an, als auch er die emotionale Lösung von den Eltern für die Entwicklung hin zu einer autonomen psychisch reifen Persönlichkeit für unerlässlich hielt. Aufbauend auf den von Margaret S. Mahler (Mahler, Pine & Bergmann, 1980) als „Individuation" bezeichneten Prozess der „psychischen Geburt" in der frühen Kindheit, durch den Kinder sich und ihre Mütter schließlich (mit ca. 3 Jahren) als getrennt voneinander existierende Wesen erfahren und begreifen, beschreibt Bios die Veränderungen in der Eltern-Jugendlichen-Beziehung als zweiten Individuationsprozess. Die beiden dafür wesentlichen Subphasen sind für ihn die Frühadoleszenz und die eigentliche Adoleszenz. In der Frühadoleszenz (ca. 13 — 15 Jahre) „kommt es gewöhnlich zu engen idealisierenden Freundschaften mit Personen des gleichen Geschlechts." Geliebt wird dabei aber vielmehr das in den Freund hineinphantasierte eigene Ich-Ideal. Erst „während der eigentlichen Adoleszenz findet eine entschiedene Wendung zur Heterosexualität und der endgültige und irreversible Verzicht auf die inzestuösen Objekte (Eltern) statt." (Bios, 1973, S. 87). Der Weg dorthin ist durch eine Zunahme an Egozentrismus und Narzissmus gekennzeichnet. Die von den Eltern abgezogene Liebe wird auf das eigene Selbst gelenkt. Diese emotionale Abwendung hat einerseits beängstigende Folgen, denn die Eltern stehen dem Jugendlichen dadurch immer weniger als leitende und rückhaltgebende Instanz zur Verfügung, während das bis dahin selbstaufgebaute Ich-Ideal diese Funktionen noch nicht verlässlich übernehmen kann. Andererseits hat dieses narzisstische Stadium aber auch eine progressive Funktion innerhalb des Loslösungsprozesses von den Eltern: „Während die

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Eltern vorher überschätzt, mit Ehrfurcht angesehen und nicht realistisch eingeschätzt wurden, werden sie jetzt unterschätzt und in den schäbigen Proportionen eines gefallenen Idols gesehen." (ebd., S. 109). Die „zweite Individuation" ist danach für Bios vor allem ein kognitiver Prozess, in dem sich der Jugendliche von seinem bisherigen idealen Bild seiner Eltern als unfehlbare, verlässliche Autoritäten befreit und beginnt, sie realistischer wahrzunehmen. Das Ziel des Prozesses besteht darin, dass der Jugendliche fähig wird, auch ohne die Anerkennung und den Rückhalt der Eltern, sondern auf der Basis seiner eigenen autonomen Bewertungen seine psychische Stabilität aufrecht zu erhalten. Obwohl Anna Freud, durch den Fokus auf die Beziehungsstruktur und ihre Analyse der Abwehrmechanismen die Vorstellungen ihres Vaters erweiterte, und Peter Bios wiederum mit seinen Differenzierungen der Adoleszenzphasen und der Konzentration auch auf die kognitiven Veränderungen über die Ideen Anna Freuds hinausging, sind die drei Konzeptionen durch zwei gemeinsame Grundannahmen gekennzeichnet: die Annahme, dass sich die emotionale Bindung zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern lösen müsste und die, dass dieser Prozess mit vermehrten Konflikten in der Beziehung verbunden wäre. Diese Annahmen trugen den Konzeptionen die gemeinsame Bezeichnung als „Ablöse- oder Konflikttheorien" (vgl. z.B. Hofer, 2003) ein.

3. Neuere entwicklungspsychologische Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung im Jugendalter Die Konzeptionen von Sigmund und Anna Freud sowie Peter Bios beruhten auf ihrer klinischen Arbeit mit Familien, in denen die Jugendlichen durch psychische Störungen belastet waren. Unter diesen Bedingungen war es vermutlich besonders schwierig für Eltern und Kinder, die Herausforderungen der Umgestaltung der Beziehung in der Adoleszenz zu bewältigen, so dass starke Auseinandersetzungen und eine Lösung der emotionalen Bindung bei dieser Klientel tatsächlich häufig waren. Ende der 1960er Jahre begonnene Forschungen mit größeren nicht-klinischen Stichproben zeigten aber, dass die überwiegende Mehrheit der dort befragten Heranwachsenden die Beziehung zu ihren Eltern auch in der Adoleszenz als vertrauensvoll und emotional positiv einschätzte (Allerbeck & Hoag, 1985; Douvan & Adelson, 1966; Offer, 1969, Offer et al., 1981; Oswald, 1980; Oswald & Boll, 1992). Jeweils nur ein kleiner Teil der Befragten beschrieb die Beziehungen zu den Eltern als sehr konfliktreich und zu einer emotionalen Ablösung tendierend. Von diesen ca. 25 Prozent problematischen Familien wiesen aber viele schon im Vorfeld ungünstige Bedingungen und Schwierigkeiten auf (Rutter et al., 1976). Insgesamt widerlegen die Untersuchungen somit die psychoanalytischen Vorstellungen einer konfliktreichen emotionalen Lösung

18 Beate Η. Schuster zwischen Eltern und Kindern in der Adoleszenz (vgl. zusf. Oswald, 1989; Steinberg, 2001). Einige der Autoren dieser Studien (z.B. Offer, 1969) entwarfen deshalb als Gegenposition die so genannte „Kontinuitätshypothese". Sie behaupteten, die Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern würden auch in der Adoleszenz kontinuierlich so harmonisch fortbestehen wie in der Kindheit und es gäbe keine qualitative Veränderung. Die Vertreter der nachfolgend beschriebenen neueren entwicklungspsychologischen Ansätze zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung im Jugendalter nahmen die alten psychoanalytischen Vorstellungen zwar zum Teil wieder auf, berücksichtigten aber auch die empirischen Befunde der großen Survey-Studien. Ihre Ansätze zeichneten sich gegenüber den beiden Extrempositionen, „Kontinuität" (Harmonie/qualitativ unverändertes Fortbestehen der Beziehung!) v e r s u s „Veränderung" (Ablösungs-/ Konflikttheorie), durch die Einnahme einer dritten Perspektive aus. Danach sind Beziehungen zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern sowohl durch Kontinuität als auch durch Veränderungen gekennzeichnet. Die Arbeiten von Laurence Steinberg Maßgeblich wird die Perspektive der „Kontinuität und Veränderung" von Laurence Steinberg vertreten. Er und seine Kollegen haben mit ihren Arbeiten wesentlich zu unserem heutigen Wissen über die Prozesse in der Eltern-KindBeziehung und die Autonomieentwicklung in der Adoleszenz beigetragen (vgl. zusammenfassend: Steinberg, 1990, 1999, 2001). Auf zwei Aspekte dieser Arbeiten soll hier besonders eingegangen werden, da sie nach wie vor vielfach diskutiert werden und zahlreiche Forschungsarbeiten anregen. Der erste Aspekt bezieht sich auf die von Steinberg (1987, 1988) eingebrachte biologische Betrachtungsweise der Beziehungsveränderungen zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern. Der zweite Aspekt betrifft die von ihm zusammen mit Silverberg (1986) entwickelte Konzeption von „emotionaler Autonomie".

Steinberg: Die biologische Betrachtung der

Beziehungsveränderungen

Ähnlich wie die Psychoanalytiker versteht Steinberg die Pubertät als einen wesentlichen Auslöser für die Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter. Anders als in der psychoanalytischen Konzeption betrachtet er die körperliche Reifung aber nicht nur im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung, sondern in einem weitergehenden verhaltensbiologischen Rahmen. Steinbergs eigene Untersuchungen sowie Befunde anderer Studien zeigten, dass in vielen Familien die körperliche Reifung der Heranwachsenden mit einer Zunahme an Konflikten zwischen den Eltern und ihren Kindern einhergeht (Hill et al., 1985a, 1985b; Papini et al., 1988; Steinberg, 1987). Aus verhaltensbiologischer Perspek-

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tive legen diese Befunde die Vermutung nahe, dass — wie im Tierreich — die Pubertät zu einer emotionalen Distanzierung in der Eltern-Kind-Beziehung führt, um so die Orientierung der Heranwachsenden auf gegengeschlechtliche Partner außerhalb der Familien zu forcieren. Für die reproduktive Fitness der Art hat dies den Nutzen, dass Inzucht verhindert und genetische Vielfalt gefördert wird. Da die Ergebnisse aber auf querschnittlichen Analysen beruhten, können die Zusammenhänge ebenso gut so herum gedeutet werden, dass emotionale Distanz in Form vieler Konflikte zwischen Eltern und Kindern das Einsetzen der körperlichen Reifung der Heranwachsenden forciert. Auch für diese Wirkungsrichtung ließen sich Hinweise aus der Verhaltensbiologie, z.B. bei Primaten, finden (Steinberg, 1988, S. 123). In einer Längsschnittstudie mit Jugendlichen und ihren Eltern untersuchte Steinberg deshalb die beiden möglichen Einflussrichtungen. Seine Befunde sprachen deutlich für die als „Distanzierungshypothese" bezeichnete Annahme, dass die körperliche Reifung zu mehr emotionaler Distanz in der Eltern-Jugendlichen-Beziehung führt. Die Jungen und Mädchen berichteten umso mehr Konflikte und umso weniger emotionale Nähe ausdrückendes Verhalten in der Beziehung mit ihren Eltern, je weiter sie körperlich entwickelt waren. Auch in anderen Studien konnten die in der Distanzierungshypothese postulierten Veränderungen in den Interaktionen bzw. Beziehungen zwischen Eltern und ihren pubertierenden Kindern bestätigt werden (Flannery et al., 1993). Tatsächlich fand Steinberg (1988) auch Hinweise, die für die umgekehrte Einflussrichtung sprachen, d.h. für die so genannte „Beschleunigungshypothese", wonach emotionale Distanz zwischen Eltern und Kindern zu einer Beschleunigung der körperlichen Reifung führt. Allerdings betrafen diese Hinweise nur die Mädchen; sie entwickelten sich körperlich umso langsamer, je emotional enger die Beziehung zu ihren Müttern war (Steinberg, 1988). Die Ergebnisse ermutigten Belsky, Steinberg und Draper (1991) aber, ein so genanntes soziobiologisches Erklärungsmodell zu entwerfen, in dem sie darlegen, wie — d.h. über welche Mechanismen — sich soziale Umweltbedingungen auf die biologischen Reifeprozesse auswirken könnten und welchen Nutzen verschiedene Mechanismen für die reproduktive Fitness haben könnten. Das Modell hat eine Reihe von Untersuchungen angeregt, in denen zumeist versucht wurde, den Zeitpunkt der Menarche, also einen klaren Indikator der biologischen Geschlechtsreife bei Mädchen, aus den vorangehenden familiären Bedingungen vorherzusagen (Ellis et al, 1999; Ellis & Garber, 2000; Graber et al-, 1995; Moffit et al., 1992; SchmittRodermund & Ittel, 1999). Obwohl sich dabei zeigt, dass „Lebensbedingungen, wie die Abwesenheit des biologischen Vaters oder Stress, sei es durch Konflikte in der Familie oder durch negative Lebensereignisse anderer Art", das Tempo der körperlichen Reifungsprozesse beschleunigen können, bedürfen die genauen Wirkungsmechanismen noch weiterer Klärung (Silbereisen & Schmitt-Rodermund, 1999, S. 227).

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Dennoch hat die von Steinberg eingebrachte biologische Betrachtungsweise unser Verständnis vom Zusammenspiel zwischen dem biologischen Ereignis der Pubertät, den sozialen Veränderungsprozessen in der Eltern-Jugendlichen-Beziehung und der psychischen Entwicklung Jugendlicher erheblich differenziert und erweitert. Unterschiede im Tempo der körperlichen Reifung werden seitdem zunehmend auch als Ursache für Unterschiede im Verlauf der Beziehungsveränderungsprozesse in Familien mit Jugendlichen in Betracht gezogen (Storch, 1994; Zinnecker, 1997) und systematisch als unabhängige, erklärende Variable differentieller Entwicklungsverläufe im Jugendalter berücksichtigt (vgl. zusf. Kracke & Silbereisen, 1994; Weichold et al., 2003).

Steinbergs Konzeption emotionaler Autonomie Wie auch andere Autoren (z.B. Hofer, 2003) unterscheidet Steinberg (1999) zwischen drei Arten von Autonomie. Mit Verhaltensautonomie ist die Fähigkeit gemeint, eigene Entscheidungen zu treffen und durchzuführen. Wertautonomie bedeutet, dass Jugendliche eigene für sie verhaltensleitende moralische Standards entwickelt haben und vertreten können. Emotionale Autonomie bezieht sich darauf, auch in engen Beziehungen wie denen zu Eltern ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit aufzubauen. In seiner Konzeption dieses Autonomie-Aspektes hat sich Steinberg sehr stark an den Vorstellungen von Bios (1977) orientiert. So nimmt auch er an, dass die Entwicklung emotionaler Autonomie vor allem ein kognitiver Prozess ist, bei dem die Jugendlichen alte kindliche Abhängigkeiten aufgeben Und zu einer realistischeren Sichtweise ihrer Eltern gelangen. Zusammen mit Silverberg entwickelte er 1986 einen Fragebogen, der diese Vorstellung der Entwicklung emotionaler Autonomie erfassen sollte: Die „Emotional Autonomy Scale" (EA-Skala) mit den vier Subskalen „parental deidealization", „perceive parents as people", „nondependency" und „individuation". Bereits Steinbergs und Silverbergs eigene Untersuchung (1986) zeigte allerdings, dass hohe Werte auf der EA-Skala mit anderen Aspekten jugendlicher Autonomie wie Selbstvertrauen und Widerstandsfähigkeit gegenüber Peer-Druck negativ korreliert waren. In die Kritik geriet die EA-Skala insbesondere nach einer Untersuchung von Ryan und Lynch (1989), die zeigen konnten, dass hohe EAWerte mit einer unsicheren sowie wenig unterstützenden Beziehung zu den Eltern einhergingen. Die Autoren folgerten deshalb, dass das EA-Konstrukt tatsächlich eher Tendenzen der emotionalen Ablösung (detachment) erfasst. Auch in neuen Studien ist die von Steinberg konzeptualisierte emotionale Autonomie häufiger mit negativen Entwicklungsergebnissen, wie internalem Stress, deviantem Verhalten und schlechten Schulleistungen, verbunden (z.B. Beyers & Goossens, 1999; Chen & Dornbusch, 1998; Garber & Little, 2001), was die Interpretation von Ryan und Lynch bestätigt, dass die Skala eher „Ablösung" misst. Eine wichtige Differenzierung dazu ergab sich allerdings in der Untersuchung von Fuhrman und Holmbeck (1995), die zeigte, dass in Familien mit

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einem guten Erziehungsklima Jugendliche mit hohen EA-Werten schlechtere soziale und schulische Kompetenzen und mehr externalisierende Symptome aufwiesen — sich also negativer entwickelten — als diejenigen mit niedrigen EAWerten. Bei Heranwachsenden aus Familien mit einem ungünstigen Erziehungsklima war dieser Zusammenhang dagegen genau umgekehrt; ihre Entwicklung verlief umso positiver, je höher ihre EA-Werte lagen. Demnach scheint die Aufrechterhaltung der emotionalen Verbundenheit mit den Eltern, die in niedrigen EA-Werten zum Ausdruck kommt, unter normal-günstigen Erziehungsbedingungen zu einer entwicklungs förderlichen Form der Umgestaltung der Beziehung zu gehören. Und nur für Jugendliche aus ungünstigen familiären Verhältnissen scheint die emotionale Ablösung von den Eltern förderlicher zu sein, als die emotionale Verbundenheit mit den wenig unterstützenden Eltern. Obwohl die EA-Skala von Steinberg viel Kritik erfahren hat und erfährt (siehe jüngst: Beyers et al., 2003; Schmitz & Baer, 2001), hat sie in der Konzeptionsgeschichte eine wichtige Rolle gespielt, dadurch dass durch sie noch einmal die Debatte darüber angeregt wurde, ob eine emotionale Ablösung von den Eltern im Jugendalter entwicklungsförderlich ist - wie in den psychoanalytischen Konzeptionen postuliert wird — oder aber entwicklungshemmende bzw. problematische Auswirkungen hat.

Die Bindungstheorie: Bindung als optimaler Kontext der Autonomieentwicklung In der Debatte um die Konzeption emotionaler Autonomie von Steinberg haben sich insbesondere die Argumente von Forschern, die der Bindungstheorie nahe stehen, als eine Position herausgebildet, die nunmehr als eigenständiger theoretischer Ansatz zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und der Autonomieentwicklung im Jugendalter verstanden wird (vgl. Hofer, 2003, Walper, 2003b). Ryan und Lynch (1989), die Hauptkritiker der Emotionalen AutonomieKonzeption, betonen, dass Autonomie, sowohl von seiner ethymologischen wie auch alltagssprachlichen Wortbedeutung her nicht Unabhängigkeit meint, sondern sich auf die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstregulation bezieht (Deci & Ryan, 1987). So verstandene Autonomie kann sich aus Sicht der Autoren nur in einer Eltern-Kind-Beziehung entwickeln, die dafür von Beginn an die nötige emotionale Sicherheit und Unterstützung bietet. In der Bindungstheorie (Bowlby, 1984) wird postuliert, dass eine sichere Bindungsbeziehung zwischen Müttern und ihren kleinen Kindern dann entsteht, wenn die Mütter verlässlich auf die in Gefahrensituationen oder bei Kummer aktivierten Bindungssignale ihrer Kinder reagieren. In der so genannten „Fremden Situation" (Ainswordi et al., 1978), einem Untersuchungsarrangement, bei dem beobachtet wird, wie Kinder sich verhalten, wenn ihre Mütter sie in einer

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unbekannten Laborsituation allein lassen, und wie sie reagieren, wenn die Mütter wiederkommen und sie zu trösten versuchen, zeigen sich die unterschiedlichen Qualitäten der Bindung im Verhalten der Kinder. Unsicher gebundene Kinder sind angespannt, vermeiden aber den Trost durch die Mutter oder reagieren ambivalent darauf. Sichere gebundene Kinder zeigen dagegen offen ihren Kummer und suchen sofort den Trost durch die Mutter. Im Unterschied zu den unsicheren Kindern sind sie danach schnell wieder bereit, sich ihrer Umgebung zuzuwenden und das zum Bindungsverhalten antagonistische „Explorationsverhalten" auszuüben. Dieser Zusammenhang zwischen sicherer Bindung und viel Exploration findet aus Sicht der an der Bin dungs theorie orientierten Jugendforscher (Hauser et al., 1991; Kobak & Sceery, 1988) seine Entsprechung im Individuationsprozess. Analog der sicheren Bindung, die kleinen Kindern eine wichtige Basis bietet, von der aus sie sich trauen, ihre Umwelt zu explorieren und dadurch ihre Entwicklung zu fördern (Bowlby, 1984), gibt auch im Jugendalter eine verlässliche Bindungsbeziehung mit den Eltern, Heranwachsenden den nötigen Rückhalt, um sich noch fremden, außerfamiliären Kontexten aufgeschlossen zuwenden und darin autonom handeln zu können. Die Bindungserfahrungen der Kindheit generieren über die Zeit ein „inneres Arbeitsmodell" (Bowlby, 1984) der Beziehung, das von den Jugendlichen dann auch auf andere Beziehungen übertragen wird und das ihre Erwartungen und ihr Verhalten in außerfamiliären sozialen Kontexten beeinflusst. Untersuchungen mit Schulabgängern, die zum Studium ihr Elternhaus verlassen, bestätigen diese Parallele (z.B. Allen & Stoltenberg, 1995). Aber auch schon im Elternhaus gelingt es Jugendlichen mit einer sicheren Bindung besser, ihre Interessen und Standpunkte offen gegenüber ihren Eltern zu vertreten und damit eine schon autonomere Position zu erreichen. (BeckerStoll et al., 2001; Kreppner & Ullrich, 2003; Schuster & Uhlendorff, 2004). Nicht die emotionale Lösung, sondern nur eine sichere emotionale Bindungsbeziehung zu den Eltern bildet daher offensichtlich den Kontext, der eine optimale Autonomieentwicklung ermöglicht.

Youniss und Smollar: Strukturelle Veränderungen in den Beziehungen zwischen Jugendlichen und ihren Eltern Ebenso wie Steinberg und die Vertreter der Bindungstheorie nehmen auch Youniss und Smollar (1985) an, dass die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in der Adoleszenz durch beides, Kontinuität und Veränderung, bestimmt werden. Genauer als die Bindungsforscher fokussieren sie aber die Seite der qualitativen Veränderung der Beziehung, die für sie vor allem in strukturellen Veränderungen der Interaktionen zwischen Eltern und Kindern im Jugendalter besteht.

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Grundlegende Ideen Eine Grundlage für das Verständnis des strukturellen Ansatzes bilden die Ideen des Neoanalytikers und Psychiaters H. S. Sullivan (1953), der Entwicklung als die Entwicklungsgeschichte der Beziehungen eines Menschen versteht. Daneben spielen die Überlegungen Jean Piagets (1986/1932) zur Entwicklung moralischer Autonomie eine wesentliche Rolle (vgl. auch Reinders & Youniss, in diesem Band). Youniss' grundlegendes Verständnis von Entwicklung ist ausgehend von diesen theoretischen Wurzeln „relational" und sein Ansatz ist „strukturell". Aus einer relationalen Perspektive sind Menschen erst durch den Austausch in sozialen Beziehungen mit anderen in der Lage, eine sinnvolle Ordnung der Welt und ihres Selbst zu konstruieren (Youniss, 1994, S. 17 f.). Die Entwicklung eines Menschen kann deshalb aus einer relationalen Perspektive nicht losgelöst von seinen sozialen Beziehungen (lat.: relatio) verstanden werden. Beziehungen bestehen für Youniss zu einem Großteil aus Interaktionen, die von den Teilnehmern konzeptuell in Strukturen, d.h. in typischen Abfolgen von wechselseitigen Handlungen organisiert werden (Youniss & Smollar, 1985, S. 15). In der Kindheit werden Jungen und Mädchen in ihren Beziehungen zu anderen mit zwei unterschiedlichen „Strukturen" des wechselseitigen Austausche, d.h. zwei Formen von „Reziprozität" konfrontiert. „Symmetrische Reziprozität", bei der sich beide Interaktionsteilnehmer prinzipiell gleichberechtigt in die Interaktion einbringen, kennzeichnet die Beziehungen zu Gleichaltrigen. Interaktionen zwischen Eltern und Kindern haben demgegenüber eine asymmetrische Struktur. Durch ihren Wissens- und Erfahrungsvorsprung und die erzieherische Verantwortung für ihr Kind gestalten die Eltern überwiegend einseitig (unilateral) die Interaktion; die Kinder lenken weniger und können oftmals nicht dieselben Handlungen in die Interaktion einbringen wie ihre Eltern (z.B. Zurechtweisungen), sondern verhalten sich vielmehr komplementär zu deren Vorgaben. Youniss bezeichnet diese Struktur deshalb als „komplementäre Reziprozität" (Youniss, 1994, S. 164) oder auch „unilateral-komplementäre Reziprozität" (Youniss & Smollar, 1985, S. 16). Im Hinblick auf die Autonomieentwicklung haben die Beziehungen mit Gleichaltrigen zunächst eine wichtigere Funktion, denn sie fordern die Jugendlichen zu gegenseitigem Verstehen und Zusammenarbeit heraus und ermöglichen so die koopererative - oder „Ko-Konstruktion" (vgl. z.B. Youniss 1994, S. 47) autonomer Standpunkte und moralischer Vorstellungen. Die Eltern-Kind-Beziehung, die stattdessen dadurch gekennzeichnet ist, dass Eltern aus ihrer Perspektive notwendige Standpunkte und Regeln einseitig vorgeben und deren Einhaltung durch das Kind erwarteten (Youniss, 1994, S. 165), verhindert demgegenüber gegenseitiges Verstehen (Youniss, 1994, S. 168) und Ko-Konstruktion und somit die Entwicklung eigener abgegrenzter Standpunkte und autonomer Regelvorstellungen der Jugendlichen.

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„Zum Wesen der Eltern-Kind-Beziehung gehört es [aber], dass sie sich entwickelt" und dass sie „in veränderten Formen von Eltern und Kindern immer wieder neu konstruiert wird." (Youniss, 1994, S. 165). Die komplementäre, zunächst noch Autonomie behindernde Interaktionsstruktur zwischen Eltern und Kind forciert deshalb aus Youniss' Sicht nicht einen Bruch der Beziehung, sondern erfordert vielmehr eine Transformation in eine stärker symmetrisch-kooperative Struktur. Gerade der durch die Transformation ermöglichte Fortbestand der Beziehung (anstatt des Bruchs) ist für Youniss eine notwendige Bedingung für die weitere Autonomieentwicklung der Jugendlichen, denn Autonomie bezieht sich in der von ihm eingenommenen relationalen Perspektive nicht auf die Fähigkeit, sich auf sich selbst und sein Urteil verlassen zu können („rely on selfreasoning", vgl. Youniss & Smollar, 1985, S. 161), sondern ist vielmehr an die Möglichkeit ko-konstruktiver Interaktionen mit anderen gebunden. Auch wenn im Jugendalter Freunde zunehmend wichtige Gesprächspartner für solche Interaktionen werden, suchen Jugendliche in bestimmten Bereichen auch weiterhin den Austausch mit ihren Eltern (vgl. auch Fend, 1997). Die notwendige Veränderung der Struktur der Eltern-Kind-Beziehung wird Youniss zufolge dadurch ermöglicht, dass beide Seiten erkennen, dass ihre Beziehung nun unter anderen Vorzeichen steht. Für die Heranwachsenden spielen dabei ihre Erfahrungen mit Gleichaltrigen eine Rolle, durch die sie auch in der Beziehung mit ihren Eltern mehr Symmetrie und gegenseitige Achtung erwarten. Eltern merken, dass ihre Kinder nicht mehr in der Weise von ihnen abhängig sind wie früher und dass umgekehrt auch sie selbst die Bindung an ihre nun mehr aus der Familie strebenden Kinder wünschen. „Während der Jugendphase scheinen Eltern und Kinder zu erkennen, daß ihre langjährige Bindung sich schnell lösen kann. Der Fortbestand der Beziehung kann nicht erzwungen, sondern muß bewußt gepflegt werden." (...) „Die Aufrechterhaltung der Beziehung ist in gewissem Ausmaß freiwillig und hat als psychische Voraussetzung, daß beide Seiten sich mit gegenseitiger Achtung gegenüberstehen." (Youniss, 1994, S. 115).

Untersuchungen zum strukturellen

Veränderungsprozess

Wie die Veränderungen in den Beziehungen von Jungen und Mädchen zu ihren Vätern und Müttern im Jugendalter konkret aussehen, haben Youniss und Smollar in ihrem Ergebnisbericht über insgesamt acht Studien beschrieben (Youniss & Smollar, 1985), die Anfang der 80er Jahre zur Überprüfung der Annahmen des strukturellen Ansatzes durchgeführt wurden. In den Studien wurden Jugendliche zwischen 12 und 20 Jahren zu ihren Interaktionen mit Freunden und mit ihren Eltern befragt. Die Antworten enthielten zahlreiche Hinweise darauf, dass sich die unilateralkomplementäre Struktur der Eltern-Kind-Beziehung in dieser Altersspanne ver-

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ändert. Die Jugendlichen gaben an, mehr als früher nach Unabhängigkeit zu streben, und meinten, dass ihre Eltern auch eher bereit seien, ihnen größere Freiräume zuzugestehen. Gleichwohl wurde deutlich, dass die Jugendlichen ihre Eltern weiterhin als Autoritätspersonen sahen, die das Recht haben, Regeln vorzugeben und deren Befolgung zu kontrollieren, die ihnen aber auch mit Rat bei der eigenen Lebensplanung beiseite stehen. Die Jugendlichen berichteten zudem, dass sie Respekt für ihre Eltern empfanden und sich von ihnen respektiert fühlten, dass sie danach strebten, ihre Eltern zu erfreuen, indem sie deren Erwartungen erfüllten und dass sie nach Bestätigung und Anerkennung durch ihre Eltern suchten. Trotz der ihnen zugestandenen größeren Freiheiten informierten viele Jugendliche ihre Eltern über ihr privates Leben. Veränderungen der komplementären Struktur wurden nicht generell, sondern in Abhängigkeit vom Thema oder der Situation festgestellt. In Gesprächen über persönliche Themen oder während gemeinsamer Freizeitaktivitäten wurden die Eltern eher als Partner und als Person, denn als Autoritätsperson, beschrieben. In den Antworten der Jugendlichen wurden allerdings Unterschiede zwischen Vätern und Müttern deutlich. Während Väter überwiegend in den Bereichen als aktiv beschrieben wurden, in denen Eltern ihre Autorität zumeist bewahren (wie Schule, Ausbildung), fanden sich bei den Müttern beide Schilderungen, als lenkende, fordernde Autoritätsperson und als verständnisvolle, kooperierende Interaktionspartnerin (vgl. Youniss & Smollar, 1985, S. 72 f.; S. 143 f.). Die dadurch entstehende Kombination aus Autorität und Gleichheit sowie aus Intimität und Konflikt war insbesondere für Mütter und Töchter charakteristisch, bei Müttern und Söhnen war die Beziehung tendenziell ähnlich, aber weniger stark ausgeprägt. Väter und Töchter hatten eher wenig Gemeinsamkeiten und persönlichere Interaktionen; die Väter fungierten hier in erster Linie als Ratgeber und Autoritätsfigur. Väter und Söhne teilten demgegenüber mehr Freizeit- und Arbeitsaktivitäten miteinander und hatten dadurch eine etwas engere Beziehung, in der die Väter auch als Person deutlich wurden (vgl. auch Hofer, 2003). Youniss und Smollar interpretieren ihre Ergebnisse als Hinweis darauf, dass Jugendliche mit ihren Eltern eine hilfreiche Allianz bilden, die sie darin unterstützt, zukünftige Anforderungen der Gesellschaft zu bewältigen. In diesem Gefüge scheinen die Beziehungen mit den Vätern mehr die Individualität, also den Aufbau eigener, unabhängiger Standpunkte und Maßstäbe zu fördern, während Mütter typischerweise mehr für den familiären Zusammenhalt sorgen und so die Möglichkeit, durch Öffnung und Verständnis gegenüber anderen Verbundenheit herzustellen, stärken (vgl. Youniss & Smollar, 1985, S. 78).

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Judith Smetana: Die bereichsweise Veränderung der Beziehung Eine neuere Konzeption zur Transformation der Eltern-Kind-Beziehung und zur Autonomieentwicklung in der Adoleszenz, die direkt an den strukturellen Ansatz von Youniss und Smollar anknüpft, stammt von Judith Smetana (1988, 1989). Sie hat in ihren Arbeiten vor allem den - auch von den Jugendlichen bei Youniss und Smollar (1985) berichteten — Aspekt, dass sich die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern im Jugendalter nicht generell, sondern viel mehr bereichsweise verändern, differenzierter herausgearbeitet. In ihrem Bereichsmodell („domain model of social-cognitive development", Smetana & Asquith, 1994, S. 1147) unterscheidet sie einen moralischen Bereich, in den die Rechte und das Wohlergehen anderer betreffende Handlungen fallen, einen konventionellen Bereich, mit dem freiwillig vereinbarte Verhaltensregeln gemeint sind, die das soziale Miteinander strukturieren helfen, und einen persönlichen Bereich, in den Handlungen fallen, die nur für den Betroffenen selbst Konsequenzen haben und die aus Sicht der meisten Menschen nicht der (legitimen) sozialen Regulation durch andere unterliegen. Die Identifikation mit diesem persönlichen Bereich und die Erfahrung von Kontrolle in diesem Bereich sind für Smetana ein integraler Bestandteil des Erlebens von Autonomie, weil sie die Grenzen zwischen dem Selbst und den anderen bilden (Nucci & Smetana, 1996, S. 8). Ihre Befragungen von Eltern und Jugendlichen zwischen 11 und 16 Jahren ergaben, dass beide Seiten es legitim und sogar erforderlich fanden, dass bei den moralischen und den konventionellen Bereich betreffenden Fragen die Eltern weiterhin Autorität ausüben. Veränderungen der unilateralen Struktur wurden eher im persönlichen Bereich deutlich. Uneinigkeit bestand aber häufig darüber, welche Fragen in welchen Bereich fallen. Viele Fragen, die die Jugendlichen als persönlich einstuften und bei denen sie Autonomie erwarteten, nahmen die Eltern als konventionell wahr und wollten dementsprechend ihre Autorität bewahren. In einer anderen Untersuchung der Autorin (Smetana, 1988) zeigte sich, dass solchen Jugendlichen, die nahezu in allen Bereichen die alleinige Kontrolle beanspruchten, von ihren Eltern weniger Autonomie zugestanden wurde, als Jugendlichen, die es bei bestimmten Fragen akzeptierten und sogar erwarteten, dass ihre Eltern weiterhin als verantwortliche Erzieher und Ratgeber fungierten. Diese Befunde unterstreichen und spezifizieren gleichzeitig die Ergebnisse von Youniss und Smollar (1985), indem sie deutlich machen, dass die bereichsweise Transformation der unilateralen Struktur einer für das Hineinwachsen in die Gesellschaft sinnvollen Entwicklungslogik folgt, die aber nicht vollständig festgeschrieben ist, sondern in Aushandlungen zwischen Eltern und ihren Kindern gemeinsam konstruiert wird.

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Grotevant und Cooper: Das Modell der Individuation Auch Grotevant und Cooper (1985, 1986) bezeichnen ihren theoretischen Ansatz als relational. Anders als Youniss und Smollar (1985) orientieren sie sich dabei aber nicht an Piaget. Grundlegend für ihren Ansatz sind vielmehr die Arbeiten von Minuchin (1974) und Olson (Olson et al., 1979). Olson und Mitarbeiter (1989; vgl. auch Hofer, 2002, S. 9 f.) haben ein so genanntes CircumplexModell zur Klassifikation unterschiedlicher Familiensysteme erarbeitet, das sich aus zwei Dimensionen zusammensetzt. Die Dimension „Adaptabilität" bezieht sich auf die Fähigkeit von Familien, sich neuen Anforderungen und entwicklungsbedingten Veränderungen flexibel anzupassen. Sie reicht von „rigiden", nicht veränderungsfähigen starren Systemen bis hin zu „chaotischen" Familien ohne längerfristig erkennbare Regeln und Strukturen. Die andere als „Kohäsion" bezeichnete Dimension beschreibt die Enge der emotionalen Bindung zwischen den Familienmitgliedern. Das eine Extrem dieser Dimension besteht in „losgelösten" Familiensystemen, in denen die Einzelnen sich emotional nur sehr wenig verbunden sind, eher individuelle Entscheidungen treffen und unabhängig handeln. Das andere Extrem sind „verstrickte" Familien, die sehr enge emotionale Bindungen, wenig Raum für Individualität und hohe Gemeinsamkeit in ihrer Lebensführung aufweisen. Olson und Mitarbeiter postulieren, dass ein ausgewogenes Maß an Adaptabilität und Kohäsion am günstigsten sowohl für die Gesundheit der Familie als auch für die Entwicklung der Kinder ist. Tatsächlich wiesen die allermeisten der von ihnen untersuchten Familien mitdere Ausprägungen auf den Dimensionen auf (vgl. auch Schneewind, 1995). Grotevant und Cooper stützten sich bei der theoretischen Ausarbeitung ihres Individuationsmodells vor allem auf die Kohäsions-Dimension des CircumplexModells. Trotz ihrer Orientierung an der Familiensystemtheorie betonen sie allerdings, dass „Individuation" nicht als Charakteristikum der ganzen Familie, sondern einzelner Beziehungen zu verstehen ist. Sie definieren eine „individuierte Beziehung" als eine Beziehung, in der beide Partner einen zwischen den beiden Extremen der Kohäsions-Dimension (losgelöst versus verstrickt) ausbalancierten Zustand aufweisen (Cooper et al., 1983, S. 45). Zentral ist für ihren Ansatz die Annahme, dass „Individuation" erreicht ist, wenn es beiden Partnern in einer Beziehung gleichermaßen möglich ist, sowohl ihre Individualität (individuality) in Form eigener abgegrenzter Standpunkte auszudrücken und zu entfalten, als auch ihre emotionale Verbundenheit (connectedness) durch Gefühle der Zusammengehörigkeit und der Verpflichtung gegenüber dem anderen zu zeigen.

Untersuchungen zum Individuationsmodell Wie auch Youniss und Smollar (1985) nehmen Grotevant und Cooper an, dass Beziehungen durch typische Muster der Interaktion der Beziehungspartner gekennzeichnet sind. Ihr theoretisches Modell diente ihnen als eine Art Rahmen

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bei der Identifikation verschiedener Kommunikationsmerkmale, die als indikativ für Individualität bzw. für Verbundenheit in der Beziehung angesehen werden können. Um diese Kommunikationsmerkmale beschreiben zu können, befragten sie aber nicht Jugendliche nach ihren Interaktionen mit ihren Eltern, sondern beobachteten Familien mit jugendlichen Kindern im Gespräch. In der Beobachtungssituation gaben sie den Familien dazu die Aufgabe, gemeinsam einen Urlaub zu planen. Solche als „plan-something-together task" (Minuchin, 1974) bekannte Aufgaben werden in der Familientherapieforschung oft angewandt, weil sie allen Familienmitgliedern gleichermaßen ermöglichen, sich an der Interaktion zu beteiligen und den Jugendlichen Gelegenheiten geben, ihre Interessen und ihre Standpunkte einzubringen. Die per Tonband aufgezeichneten Gespräche dienten als Grundlage für die Entwicklung eines Kategoriensystems, das aus 14 einzelnen Gesprächskategorien besteht, die den vier faktorenanalytisch ermittelten Dimensionen „Selbstbehauptung", „Abgrenzung", „Gegenseitigkeit" und „Offenheit" zugeordnet sind (Condon, Cooper & Grotevant, 1984). Die Dimension „Selbstbehauptung" zeigt, dass der Sprecher sich seiner eigenen Positionen bewusst ist und Verantwortung dafür übernimmt, diese klar zu kommunizieren. ,Abgrenzung" bezieht sich auf die Fähigkeit, Unterschiede zwischen sich selbst und anderen auszudrücken sowie die Verantwortung für die eigenen Gedanken und Gefühle zu akzeptieren. Innerhalb des Modells der Individuation operationalisieren diese beiden Dimensionen die Seite der Individualität. Die Dimension „Gegenseitigkeit" umfasst Formen des Ausdrucks von Sensibilität und Respekt gegenüber den Überzeugungen, Gefühlen und Ideen anderer, und „Offenheit" beschreibt die Responsivität des Sprechers für die Meinungen und Ideen anderer. Diese beiden Dimensionen kennzeichnen die Seite der Verbundenheit innerhalb des Individuationsmodells (vgl. Grotevant & Cooper, 1986, S. 89 f.). Idealiter verläuft die Entwicklung hin zu einer individuierten Eltern-Jugendlichen-Beziehung so, dass die Verbundenheit (Gegenseitigkeit/Offenheit) nicht abnimmt, sondern auf ihrem im Normalfall relativ hohen Niveau der Kindheit bestehen bleibt und die Individualität (Selbstbehauptung/Abgrenzung) über die Zeit ansteigt, bis sie mit der Verbundenheit in einem ausgewogenen Verhältnis steht. Die Autoren haben Zusammenhänge zwischen den vier Verhaltensdimensionen und verschiedenen Indikatoren der sozialen und kognitiven Entwicklung Jugendlicher untersucht, so den Grad der Ich-Entwicklung, die Fähigkeit zur Rollenübernahme (Cooper, Grotevant & Condon, 1983) und den Identitätsstatus (Grotevant & Cooper, 1985). Von ihrem Muster her entsprachen die Ergebnisse den Annahmen des Modells. Fortgeschrittener in ihrer sozialkognitiven Entwicklung waren, gemessen an den jeweiligen Indikatoren, die Jugendlichen, die mit ihren Eltern auf der Basis einer durch wechselseitige Verbundenheit bestimmten Beziehung ihre Individualität in Form eigener, abgegrenzter Stand-

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punkte in den Interaktionen entfalten und dies auch in der Beziehung ihrer Eltern zueinander so erleben konnten. Trotz der Differenzen im dieoretischen Hintergrund sowie im methodischen Vorgehen stimmen die Annahmen des Individuationsmodells von Grotevant und Cooper in wesentlichen Aspekten mit dem strukturellen Ansatz von Youniss und Smollar (1985) überein. Unterschiede bestehen allerdings hinsichtlich der vorrangig betrachteten Beziehungsdimension und der ihr zugeschriebenen Bedeutung für den Transformationsprozess. Youniss und Smollar fokussieren vorrangig die strukturelle Dimension, d.h. die allmähliche Veränderung der „unilateral-komplementären" Beziehungsstruktur der Kindheit in eine zunehmend „symmetrisch-reziproke" Struktur im Jugendalter. Grotevant und Cooper (1985, 1986) stellen demgegenüber — orientiert an der Kohäsionsdimension des Circumplex-Modells (Olson et al., 1989) die emotionale Dimension in den Vordergrund. Das Ausdrücken von Individualität in Form von Abgrenzung und Selbstbehauptung, also die strukturelle Veränderung der Beziehung, wird von ihnen als eine Verschiebung hin zum Mittelpunkt der Kohäsionsdimension beschrieben, an dem die Möglichkeiten des Getrennt- und damit Eigenständig-Seins und die des Verbundenseins stärker ausgewogen sind. Umgekehrt wie in dem Ansatz von Youniss und Smollar (1985) stellt für Grotevant und Cooper danach eher die Veränderung der Verbundenheit die Basis für die Neugestaltung der Beziehung auf der strukturellen Ebene dar.

4. Aktuelle konzeptuelle Entwicklungen und Tendenzen in der Forschung Die Mehrheit der Autoren, die sich heute mit den Veränderungen in der ElternKind-Beziehung und der Autonomieentwicklung im Jugendalter beschäftigen, orientierten sich theoretisch an den beiden hier zuletzt dargestellten Konzeptionen, dem strukturellen Ansatz von Youniss und Smollar (1985) und dem Individuationsmodell von Grotevant und Cooper (1986). Methodisch wurde allerdings zunächst häufiger der von Grotevant und Cooper genutzte Zugang, also die direkte Beobachtung von Interaktionen in Familien mit Jugendlichen gewählt. Nicht nur das Kategoriensystem zum Individuationsmdodell selbst (Condon et al., 1984; angewandt z.B. von Hofer & Sassenberg, 1998; Noack & Kracke, 1998), sondern auch andere amerikanische Kategoriensysteme sind in deutschen Studien eingesetzt worden (Powers, 1982 - z.B. bei Allen, 1994; Noack & Kracke, 1998 - z.B. bei Becker-Stoll et al., 2000; Smetana et al., 1991 - z.B. Pinquart & Silbereisen, 2003). Zum Teil sind aber auch bei uns neue Kategoriensysteme entstanden, die die Veränderungsprozesse in der Eltern-Jugendlichen-Beziehung im Sinne des Individuationsmodells abzubilden versuchen (Hofer et al., 1990 — z.B. bei Pikowsky, 1998; Kreppner & Ullrich, 1996 - z.B. ebd., 1999, 2003;

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Noom & Dekovic, 1997 - z.B. Noom et al., 1999). Ein daraus resultierendes Problem besteht in der nur eingeschränkten Vergleichbarkeit der Befunde. Die Ergebnisse der Beobachtungsstudien aus den letzten Jahren, in denen entweder das Kategoriensystem von Condon, Cooper und Grotevant (1984) oder aber andere Beobachtungsverfahren verwandt wurden, bestätigen die Annahmen der Individuationstheorie zwar grundlegend, fuhren aber auch zu Differenzierungen und Erweiterungen des Ansatzes. So zeigt sich, dass der Individuationsprozess in den meisten Eltern-Kind-Beziehungen nicht durch den idealiter angenommenen Verlauf, d.h. einen kontinuierlichen Anstieg der Autonomie bzw. Individualität bei gleich bleibend hoher Verbundenheit gekennzeichnet ist. Vielmehr scheint es vor allem in der ersten Phase der Adoleszenz, also dann, wenn auch die pubertären Veränderungen deutlich werden, vermehrt zu Autonomie einforderndem und damit einhergehend zunehmendem Konfliktverhalten sowie zu kurzfristiger Abnahme von Verbundenheit ausdrückendem Verhalten zwischen Eltern und ihren Kindern zu kommen (Noack und Kracke, 1998; Pinquart & Silbereisen, 2003; Schuster, 2004). Auch muss man sich die Veränderungen in den Beziehungen insgesamt eher als einen sehr langwierigen Prozess vorstellen, in dem es nur allmählich zu einer etwas ausgewogeneren, gleichberechtigteren Interaktionsstruktur zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern kommt (Pikowsky, 1998). Und schließlich gibt es offensichtlich nicht nur einen Weg, auf dem Individuation erreicht werden kann, sondern unterschiedliche Muster der Veränderung in den Interaktionen (Schuster, Uhlendorff & Krappmann, 2003), sowie Konstellationen, bei denen bereits lange bestehende, für die Individuation ungünstige Interaktionsmuster auch einfach stagnieren können (Kreppner, 1996). Nicht zuletzt wegen des großen Aufwandes bei der Beobachtung sind in den letzten Jahren auch standardisierte Fragenbogeninstrumente entwickelt worden, um die Individuation in der Beziehung zumeist aus Sicht der jugendlichen Kinder zu erfassen. Durch diese Zugangsweise zu den Veränderungsprozessen in der Eltern-Kind-Beziehung werden nicht die objektiven, weil beobachtbaren Prozessmerkmale untersucht, sondern die subjektiven kognitiven Schemata oder Repräsentationen der Beziehung aus Sicht der Befragten (Asendorpf & Banse, 2000). Hofer und Kollegen (1992) entwickelten beispielsweise zwei Skalen: „Abgrenzung" (Beispielitem: „Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist") deckt den Bereich der Individualität ab und „Verbundenheit" (Beispielitem: „Was ich denke und empfinde, teile ich meinen Eltern offen mit") erfasst die Verbundenheitsseite der Beziehung. Vergleiche der Mittelwerte der beiden Skalen über vier Altersgruppen (von 10- bis 12- bis hin zu 19- bis 21-Jährigen) hinweg ergaben einen Anstieg der Abgrenzung und einen Rückgang der Verbundenheit mit zunehmendem Alter, wobei vor allem die 13- bis 15-Jährigen deutlich mehr Abgrenzung und deutlich weniger Verbundenheit angaben als die 10- bis 12-

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Jährigen (Kickum, 1999 in Hofer, 2003). Wie in den Beobachtungsstudien zeigt sich demnach auch auf der Ebene der Repräsentation, dass die frühe Adoleszenz eine Phase besonders starker Turbulenzen und Veränderungen in der Beziehung ist. In einer längsschnittlichen und zugleich typologisch vorgehenden Studie, in der die beiden Skalen verwandt wurden, wurde deutlich, dass die Prozesse der Veränderung sehr unterschiedlich verlaufen. Die Autoren fanden drei Individuationstypen: So genannte „Individuierte" mit hohen Verbundenheits- und hohen Abgrenzungswerten, „Im Prozess"- Befindliche mit hoher Verbundenheit, aber (noch) niedriger Abgrenzung und „Losgelöste" mit niedriger Verbundenheit und hoher Abgrenzung. Diese letzte Gruppe (ca. 20 % der Stichprobe) zeigte, gemessen an verschiedenen Indikatoren wie Depression und Aggression, die schlechteste psychosoziale Anpassung (Noack & Puschner, 1999). Gemäß den Annahmen des Individuationsmodells war also ein ausgewogenes Verhältnis von Individualität und Verbundenheit am entwicklungsförderlichsten, während eine von vorneherein niedrige emotionale Verbundenheit bei zunehmender Abgrenzung bzw. Individualität zu einer problematischen Entwicklung führte. Die Ergebnisse, die das Beziehungsgeschehen auf der Ebene der Repräsentation erfassen, führen demnach zu ähnlichen Ergebnissen wie die Beobachtungen der Interaktionen; auch sie bestätigen und differenzieren zugleich die Annahmen des Individuationsmodells. Ein anderes neues Fragebogeninstrument, mit dem die Seite der Repräsentation der Beziehung erfasst werden kann, ist der Münchner Individuationstest für Adoleszente (MITA) von Walper (1997). Der MITA basiert auf einem amerikanischen Testverfahren, dem Separation-Individuation-Test for Adolescents (SITA, Levine et al., 1986). Obwohl mit den Ideen von Grotevant und Cooper (1986) kompatibel, knüpft der SITA an neoanalytische Vorstellungen von Margaret S. Mahler und Kollegen zum Individuationprozess in der frühen (symbiotischen) Mutter-Kind-Beziehung an, die bereits von Peter Bios (1977) auf die Adoleszenz übertragen wurden (vgl. Bios: „second individuation", Abschnitt 2.3 dieses Beitrages). Bei der Konstruktion des MITA wurden nicht nur die amerikanischen Items einer gründlichen Revision unterzogen, sondern auch zusätzliche bindungstheoretische Aspekte bei der Skalenbildung berücksichtigt. Gegenüber dem Fragebogenverfahren von Hofer et al. (1992), das den Ausprägungsgrad der beiden Individuationsaspekte, Verbundenheit und Abgrenzung erfasst, fokussiert der MITA unterschiedliche - mitunter auch problematische - Entwicklungen im Individuationsprozess, die der Autorin zufolge auf der ungelösten Bewältigung phasenspezifischer Anforderungen basieren. Die sieben Skalen des MITA erfassen die aus diesen Problemen resultierenden Beziehungseinstellungen (Näheres, siehe den Beitrag von Walper in diesem Band). In Studien, in denen der MITA eingesetzt wird, bestätigen sich die angenommenen ungünstigen Auswirkungen der problematischen Beziehungseinstellungen auf die weitere psychosoziale Anpassung der befragten Jugendlichen. So sagten hohe Werte auf der

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MITA-Skala „Unsichere Bindung" ein geringeres Selbstwertgefühl, höhere Depressivität und stärkere Ablehnung durch Peers vorher, und hohe „Angst vor Vereinnahmung" führte zu mehr somatischen Beschwerden (Walper, 2003). Hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen problematische Beziehungseinstellungen, die den Individuationsprozess erschweren, entstehen können, untersuchte Walper (Walper & Gerhard, 1999) insbesondere unterschiedliche Familienformen. Orientiert an Hetheringtons „Hypothese kumulativer Belastungen" (Hetherington & Jodl, 1994) nehmen sie an, dass stärker als bei Alleinerziehenden in Stieffamilien, die mehrfache familiäre Ubergänge verkraften müssen, Probleme im Individuationsprozess auftreten. Ihre Befunde belegen dies zumindest für die 13- bis 14-Jährigen in ihrer Stichprobe, denn die stärksten Individuationsprobleme geben in dieser Altersgruppe diejenigen aus Stieffamilien und die geringsten jene aus Familien mit zwei leiblichen Elternteilen an. Die Werte der Jugendlichen aus Alleinerziehenden-Familien liegen dazwischen. Auch auf der Ebene von Interaktionen, also in Beobachtungsstudien, werden unterschiedliche Familienformen im Individuationsprozess verglichen. In einer eigenen längsschnittlichen Untersuchung verhielten sich alleinerziehende Mütter zu allen Messzeitpunkten kooperativer gegenüber ihren Kindern als Mütter, die mit einem Partner zusammenlebten; Letztere waren dagegen mehr als die Alleinerziehenden auf die Vermittlung normativer Vorstellungen bedacht (Schuster et al., 2003). In ähnlicher Weise berichten Kreppner und Ullrich (1999); sie konnten beobachten, dass in Alleinerziehenden-Familien mit Jugendlichen die Interaktionen egalitärer waren, wohingegen in Familien mit zwei Elternteilen die Mütter stärker auf die Einhaltung von Normen und Regeln bestanden und weniger nonverbales Näheverhalten zeigten. Die Autoren interpretieren die Unterschiede als Hinweis darauf, dass zwei gemeinsam erziehende Eltern sich stärker als Alleinerziehende als Vertreter der Erwachsenengeneration fühlen, die die Aufgabe hat, ihren heranwachsenden Kindern gesellschaftliche Werte zu vermitteln. Alleinerziehende könnten demgegenüber die Beziehung individueller und partnerschaftlicher gestalten. Wichtig erscheint demnach sowohl für die Repräsentation der Beziehung als auch für die Gestaltung der Interaktionen zwischen Eltern und Kind die Lebenssituation der Familie bzw. die Partnerschaftssituation der Mütter. Nach der Skizzierung einiger neuerer Befunde aus Beobachtungs- und Befragungsstudien soll abschließend auf ein Modell verwiesen werden, das in gewisser Hinsicht als eine konzeptuelle Weiterentwicklung sowie auch als Integration des strukturellen Ansatzes von Youniss und Smollar (1985) und des Individuationsmodells von Grotevant und Cooper (1986) verstanden werden kann (Hofer & Pikowsky, 2002; Hofer, 2003). Die Autoren bezeichnen ihr Modell als „hypothetisches Phasenmodell der Transformation der Eltern-Kind-Beziehung" (Hofer, 2003, S. 285). In dem Modell werden die skizzierten aktuellen empirischen Be-

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funde zum genaueren Ablauf (vorübergehende Verschlechterung der Beziehung zu Beginn des Prozesses), zu differentiellen Verläufen des Individuationsprozesses sowie die Rolle bzw. Situation der Eltern (worunter auch deren familiäre Lebenssituation zu fassen wäre) explizit berücksichtigt. Bedacht werden zudem die konzeptionell zu unterscheidenden beiden Ebenen, Interaktionen und kognitive Schemata bzw. Repräsentation, auf denen Beziehungen betrachtet werden können. Konkret setzt sich das hypothetische Phasenmodell aus neun als idealtypisch anzusehenden Schritten der Transformation der Beziehung zusammen, die die Phase von der Auslösung des Individuationsprozesses bis hin zu der vollzogenen Umgestaltung der Beziehung auf interaktiver und kognitiver Ebene umfassen. Die Schritte beinhalten — auf der Basis der bisher vorliegenden Befunde — Beschreibungen der typischerweise aufeinander folgenden Kognitionen und interaktiven Verhaltensweisen von Kindern und von Eltern und bringen diese in einen plausiblen Zusammenhang. Die Vorteile des Modells für künftige Forschungen sind vielfältig. Neben der Möglichkeit, Hypothesen zu unterschiedlichen Individuationsverläufen (aufgrund des unzureichenden oder abweichenden Durchlaufens einzelner Schritte des Prozesses) aufzustellen und zu überprüfen, erlaubt es, auch die unterschiedlichen Zugangsweisen (Beobachtung der Interaktion/Befragung zu Repräsentationen) zu kombinieren und dadurch zu integrieren (vgl. auch Schuster in diesem Band).

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Der Beginn des Individuationsprozesses: Wechselseitige Einflüsse zwischen Müttern und Kindern in Aushandlungsgesprächen Beate H. Schuster

1. Einleitung Im frühen Jugendalter verändern sich die Wünsche und Erwartungen, die Kinder und Eltern aneinander haben. Der dadurch notwendig werdende Umgestaltungsprozess in der Beziehung zielt aber nicht auf eine Trennung zwischen den Generationen. Viel mehr geht es darum, dass die Heranwachsenden in Gesprächen mit ihren Eltern allmählich eine neue Balance finden, die es ihnen ermöglicht, einerseits ihre Individualität, z.B. in Form eigener Standpunkte, in der Beziehung zu entfalten, aber andererseits mit ihren Eltern weiterhin emotional verbunden zu bleiben. Diese als „Individuation" bezeichnete (Grotevant & Cooper, 1986; Youniss & Smollar, 1985) Konzeption des Umgestaltungsprozesses hat sich in empirischen Studien insgesamt als angemessener erwiesen als ältere, psychoanalytische Ablöse- oder Konfliktmodelle (vgl. Schuster in diesem Band; Steinberg, 2001). Dennoch legen einige Befunde nahe, dass im Individuationsprozess auch vorübergehende Phasen mit intensiveren Konflikten zwischen Eltern und Kindern auftreten (z.B. Seiffge-Krenke, 1997). Dies scheint insbesondere am Beginn des Individuationsprozesses der Fall zu sein, wenn die Diskrepanzen in den Wünschen und Erwartungen aneinander den Eltern und Kindern besonders deutlich werden (zusf. Laursen et al., 1998). In diesem Beitrag wird der Blick auf diese erste Phase des Individuationsprozesses gerichtet. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die Transformation mittels Gesprächen in Gang gesetzt wird, d.h. welche Anstöße für Veränderungen ihrer Beziehung sich Eltern und Kinder wechselseitig in ihren Interaktionen geben. Dazu soll zunächst skizziert werden, welche Entwicklungsereignisse dazu beitragen, dass sich die Wünsche und Erwartungen aneinander in der Eltern-KindBeziehung im frühen Jugendalter verändern, bevor dann auf empirische Befunde und ein darauf aufbauendes theoretisches Modell eingegangen wird, aus dem sich weitere Hypothesen dazu ableiten lassen. Anhand eigener längsschnittlicher Beobachtungsdaten sollen einige dieser Hypothesen schließlich überprüft werden.

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2. Auslösende Faktoren für Veränderungen in der ElternKind-Beziehung Während in älteren psychoanalytischen Ansätzen zum Jugendalter (A. Freud, 1958) allein die mit dem Beginn der körperlichen Reifung wiedererwachenden sexuellen Triebimpulse als Ursache für das Streben der Heranwachsenden nach mehr emotionaler Unabhängigkeit vermutet wurden, wird heute das Zusammenspiel verschiedener „Entwicklungsereignisse" als Auslöser für die Veränderungsprozesse in der Eltern-Kind-Beziehung angenommen (Steinberg, 1999). Neben dem Einsetzen der Pubertät werden spezifische kognitive Fortschritte sowie normative Erwartungen, mit denen die Kinder konfrontiert werden, zu diesen Entwicklungsereignissen gezählt. Die kognitiven Fortschritte beziehen sich auf die Fähigkeit, sich Ereignisse abstrakt vorzustellen und hypothetisch verschiedene Konsequenzen oder Reaktionen darauf gedanklich durchzuspielen. Mit den normativen Erwartungen sind gesellschaftliche Anforderungen und Übergänge gemeint, die die Lebensgestaltung der Heranwachsenden betreffen und mit denen sie sich in diesem Alter erstmals stärker auseinandersetzen müssen, wie etwa der Wechsel in eine weiterführende Schule und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse. Fends Vorstellungen zufolge führt das Zusammenwirken dieser Entwicklungsereignisse die Heranwachsenden dazu, sich intensiver mit sich selbst und ihrer Wirkung auf andere auseinanderzusetzen und eine neue reflektiertere Haltung zu sich selbst einzunehmen (Fend, 1994). Sie sehen sich dadurch selbst nicht mehr nur als Kinder und wollen auch von ihren Eltern nicht mehr so behandelt werden. Von den Entwicklungsereignissen ist vor allem die Pubertät im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung untersucht worden. Die Befunde deuten in die Richtung, dass mit dem Beginn der Pubertät Kinder ihre Positionen gegenüber ihren Eltern vehementer vertreten (Papini et al., 1988), die Diskussionen zwischen Eltern und Kindern insgesamt impulsiver werden (Sagrestano et al., 1999) und die Beziehungen durch mehr emotionale Distanz gekennzeichnet sind als vor der Pubertät (Steinberg, 1988). Auf die Menarche ihrer Töchter scheinen Mütter zudem zunächst verunsichert und dadurch affektiv unklar zu reagieren (Flannery et al., 1993). In unseren eigenen Analysen zeigte sich, dass die Mütter sich nach dem Eintreten der Menarche gegenüber ihren Töchtern strenger und kontrollierender verhielten (Schuster, 2004). Insgesamt stützen die Befunde die Vorstellung, dass die Pubertät zu Veränderungen der wechselseitigen Wünsche und Erwartungen in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern beiträgt und den Individuationsprozess anstößt. Dass dabei vermutlich nicht die Pubertät allein als auslösender Faktor wirksam ist, sondern auch die nun entwickelteren kognitiven Fähigkeiten der Selbstreflexion der Kinder sowie neue normative Erwartungen eine Rolle spielen, deutet sich in Untersuchungen an, die zeigen, dass für die weitere psychosoziale Ent-

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wicklung zumeist der selbst wahrgenommene relative Entwicklungsstatus (pubertal timing) im Vergleich zu Gleichaltrigen wichtiger ist als der absolute Status der körperlichen Entwicklung (vgl. zusf. Silbereisen & Schmidt-Rodermund, 1999). Nicht das Erleben der körperlichen Veränderungen selbst wirkt sich demnach aus, sondern viel mehr die von den Kindern in ihrem spezifischen sozialen Umfeld erfahrene und daraufhin konstruierte Bedeutung der sichtbaren körperlichen Veränderungen. Dies scheint auch für die Transformation der Beziehung zu den Eltern zuzutreffen. Je weiter entwickelt Heranwachsende sich in ihrem Umfeld einschätzen und je stärker sie auch von anderen aufgrund ihrer körperlichen Entwicklung als „Jugendliche" wahrgenommen und behandelt werden, desto stärker fordern sie auch in der Beziehung zu ihren Eltern einen gleichberechtigteren Status ein und geben damit Impulse für eine Umgestaltung der Beziehung (Sagrestano et al., 1999; Schuster et al., 2002). Eine weitere Quelle, die mit diesen drei Entwicklungsereignissen zusammen für Veränderungen in den Beziehungen zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Kindern sorgt, sind die Erfahrungen der Kinder mit Freunden. Obwohl die Beziehung zu den Eltern auch im Jugendalter nicht an Bedeutung verliert, werden Freunde als Interaktionspartner im Jugendalter immer wichtiger (Fend, 1997). Heranwachsende finden mit Freunden immer wieder neue Gelegenheiten zum spielerischen Experimentieren mit Verhaltensweisen und Rollen (Reinders & Wild, 2003). Durch die in der Regel relativ symmetrische Form der Interaktion mit Freunden erfahren sie sich als gleichberechtigte Partner, die in ihrer Selbstdarstellung ernst genommen und anerkannt werden (Krappmann, 1998). Je mehr sich die Heranwachsenden selbst bereits als Jugendliche und nicht mehr als Kinder betrachten, desto deutlicher erleben sie die Diskrepanz zwischen den symmetrischen Interaktionen mit ihren gleichaltrigen Freunden und den im Gegensatz dazu einseitigen und hierarchischen Interaktionen mit ihren Eltern, in denen ihnen immer noch die reagierende komplementäre Rolle des Kindes zugedacht ist (Youniss, 1994). Obwohl Interaktionserfahrungen mit Freunden als Auslöser des Individuationsprozesses in der Eltern-Beziehung angenommen werden, gibt es bisher keine direkten Untersuchungen dazu. Viele Studien zeigen allerdings deutliche Unterschiede zwischen den Interaktionen in diesen beiden Beziehungskontexten. Während Kinder mit ihren Eltern häufiger den reagierenden Part in der Interaktion übernehmen und ihre eigenen Beeinflussungsversuche sich mehrheitlich auf indirekte oder ausweichende Strategien beschränken, sind sie gegenüber Freunden aktiver, beziehen sich mehr auf den anderen, stellen selber Fragen und schlagen häufiger Kompromisse vor (Kruger & Tomasello, 1986; Levya & Furth, 1986). Mit Beginn des Jugendalters werden zudem immer mehr Gespräche mit gleichaltrigen Freunden gefuhrt und in vielen persönlichen Fragen deren Meinung als wichtiger erachtet als die der Eltern (Fend, 1997). In einer eigenen

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Untersuchung konnten wir feststellen, dass Kinder mit vielen engen Freunden sich stärker mit ihren Müttern auseinandersetzten und sich deutlicher abgrenzten als Kinder mit wenig Freunden. Letztere hatten vermutlich weniger Erfahrungen von Kooperation und gegenseitiger Achtung in Freundschaften sammeln können (Schuster et al., 1992). Diese Befunde machen es sehr wahrscheinlich, dass Interaktionserfahrungen mit Freunden dazu beitragen, dass Kinder Veränderungen in der Beziehung zu ihren Eltern anstreben.

3. Phasen der Transformation der Eltern-Kind-Beziehung Während zu den Entwicklungsereignissen, die das Streben der Kinder nach mehr Gleichberechtigung und Achtung in der Beziehung zu den Eltern auslösen, sehr konkrete Annahmen bestehen, sind zum genauen Ablauf des Individuationsprozesses bisher nur wenig differenzierte Vorstellungen entwickelt worden. Youniss und Smollar (1985) sowie Grotevant und Cooper (1986) beschreiben die Veränderungen in der Eltern-Kind-Beziehung als einen Prozess, in dem die Kinder zunehmend mehr Eigenständigkeit gewinnen, die Eltern langsam ihre unilaterale Kontrolle zurücknehmen und beide Seiten sich bemühen, die emotionale Verbundenheit miteinander zu bewahren. In neueren Untersuchungen zeigt sich aber, dass der Individuationsprozess nicht in allen Familien diesen „idealtypischen" Verlauf nimmt (Noack & Puschner, 1999). Durch bereits bestehende unsichere Bindungen zwischen Eltern und Kindern (Becker-Stoll et al., 2000; Kobak et al., 1993), aber auch bei Belastungen, sei es durch Konflikte der Eltern oder durch notwendige Neukonstellationen des familiären Systems in Stieffamilien (Walper, 1998), kann der Prozess erschwert werden und andere Verläufe nehmen. Hofer (2003) hat deshalb auf der Basis dieser Befunde sowie seiner eigenen Forschungen zur Individuation ein hypothetisches „Phasenmodell der Transformation" der Eltern-Kind-Beziehung vorgeschlagen (ebd., S. 285 ff.). In dem Modell wird an die im vorigen Abschnitt dargestellten Annahmen zu den auslösenden Entwicklungsereignissen angeknüpft, dann aber ein differenzierter Ablauf des daraufhin in den Beziehungen einsetzenden Individuationsprozesses skizziert. Als grundlegende Variablen innerhalb des Individuationsprozesses werden in dem Modell der Autonomiewunsch der Kinder, der Kontrollwunsch der Eltern und die emotionale Verbundenheit in der Beziehung verstanden. Mitgedacht wird in dem Modell zudem, dass sich der Individuationsprozess auf zwei Ebenen abspielt, der eher objektiven Ebene der Interaktionen und der eher subjektiven Ebene der kognitiven Schemata, die jeder Beziehungspartner von der Beziehung hat.

Der Beginn des Individuationsprozesses

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In zusammengefasster Form sieht das Modell folgende Schritte vor: 1.) Aufgrund der Entwicklungsereignisse (Pubertät, kognitive Entwicklung, normative Erwartungen) sowie der Interaktionserfahrungen mit Freunden beginnt sich das Verhaltensrepertoire der Kinder zu erweitern. 2.) Die Eltern bemerken die Verhaltensänderungen und erleben sie als diskrepant zu ihren bisherigen Erwartungen an das Verhalten ihrer Kinder. 3.) In einigen Bereichen akzeptieren sie das neue Verhalten, in anderen missbilligen sie es aber und reagieren mit verstärkter Kontrolle darauf. 4.) Dies fuhrt bei den Kindern zunächst zu diffuser Unzufriedenheit und damit einhergehend zu einem Anstieg ihres Autonomiewunsches. 5.) Ihre Erwartungen an die Beziehung konkretisieren sich; sie wünschen sich mehr Symmetrie, Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit. In ihrem Verhalten kann ihr Autonomiestreben dabei unterschiedliche Formen annehmen (Provokation, Schaffen vollendeter Tatsachen, Heimlichkeit oder Argumentieren). 6.) Die unterschiedlichen Vorstellungen von Eltern und Kindern über die Verantwortlichkeiten in verschiedenen Lebensbereichen führen zu intensiveren Konflikten als bisher in der Beziehung. 7.) Die Unstimmigkeiten erfordern regulative Interaktionen, in denen die eigenen Positionen durch Argumentieren, das Liefern von Begründungen und den Bezug auf Normen vertreten werden. 8.) Je mehr sich die Eltern in diesen Interaktionen davon überzeugen können, dass ihre Kinder verantwortlich mit ihren Freiheiten umgehen, desto mehr nehmen sie ihre direkte Kontrolle zurück und beschränken sich darauf, über die Aktivitäten ihrer Kinder informiert zu bleiben. 9.) Die Kinder erleben die Beziehung daraufhin gleichberechtigter und symmetrischer. Die Konfliktintensität nimmt wieder ab und die Zufriedenheit mit der Beziehung steigt wieder an (vgl. Hofer, 2003, S. 285 ff.). Insgesamt wird in dem Modell eine Kette wechselseitiger Einflüsse zwischen Kindern und ihren Eltern angenommen. Der Beginn des Prozesses wird aber auf Seiten der Kinder vermutet, deren Verhaltensrepertoire sich im Zuge der Entwicklungsereignisse erweitert und verändert, was von den Eltern zumeist nicht sofort akzeptiert wird und zu den anfänglichen Diskrepanzen in den Wünschen und Erwartungen aneinander führt. In dem vorliegenden Beitrag wollen wir die wechselseitigen Einflüsse zwischen Eltern und Kindern im Individuationsprozess auf der Ebene ihrer Interaktionen längsschnittlich verfolgen. Die wenigen Studien, in denen das Interaktionsverhalten in Familien mit Jugendlichen längsschnittlich untersucht wurde, ergaben im Hinblick auf den Ablauf des Individuationsprozesses relativ konsistente Hinweise darauf, dass die Abgrenzungsbemühungen der Heranwachsenden, die mit Konflikten und einer vorübergehenden Verschlechterung der Beziehungsqualität

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einhergehen, vor allem den Beginn und die erste Hälfte des Jugendalters kennzeichnen, während sich danach wieder eine Annäherung und Beruhigung abzeichnet (Becker-Stoll et al., 2000; Pinquart & Silbereisen, 2003; vgl. zusf. auch Laursen et al., 1998). Eine umfassende deutliche Veränderung der unilateralen Interaktionsstruktur zeigt sich aber auch nach dieser anfänglichen Konfliktphase noch nicht (Hofer & Pikowsky; 1993; Pikowsky, 1998). Bedacht werden muss dabei allerdings, dass sich auch die Themen, über die sich Heranwachsende mit ihren Eltern häufig streiten, mit der Zeit verändern. Während zunächst z.B. vor allem Fragen der äußeren Erscheinung (Haartracht, Kleidung) eine Rolle spielen, stehen später stärker der Umgang mit Freunden und noch später weltanschauliche Fragen (Politik, Religion) im Vordergrund (Storch, 1994). Befunde von Smetana (1989) belegen zudem, dass Eltern ihre Kontrolle im Jugendalter nicht generell, sondern eher bereichsweise zurücknehmen. Bei einigen Themen, wie z.B. Schule und Ausbildung, stellen sie ihre Mitsprache aber auch gar nicht ein. Interessanterweise zeigte sich dabei, dass Eltern ihren Kindern längerfristig umso mehr Autonomie zugestanden, wenn diese umgekehrt bereit waren, in einigen Bereichen die elterliche Mitsprache und Kontrolle zu akzeptieren. Die Kinder, die in allen Bereichen vehement nach Autonomie strebten und sich überhaupt nichts von ihren Eltern sagen lassen wollten, erreichten dagegen weniger Autonomie in der Beziehung. Auch unsere eigenen Ergebnisse aus einer früheren Untersuchung mit 7- bis 12-Jährigen und ihren Müttern, die während eines Aushandlungsspiels beobachtet wurden, deuten in diese Richtung: Je mehr die Kinder versuchten, sich mit dominierenden Strategien gegenüber ihren Müttern durchzusetzen, desto weniger Mitsprache gestanden ihnen ihre Mütter in Alltagsfragen zu (Schuster et al., 2000). Eltern orientieren sich demnach beim Gewähren von Autonomie daran, wie vernünftig und einsichtig sich ihre Kinder in Auseinandersetzungen mit ihnen verhalten. Bis Eltern ihren jugendlichen Kindern in allen Lebensbereichen Autonomie zugestehen, werden die in dem Modell von Hofer (2003) skizzierten Phasen aber vermutlich nicht nur einmal, sondern mehrfach durchlaufen.

4. Hypothesen Sowohl nach dem von Hofer (2003) vorgeschlagenen Phasenmodell der Transformation als auch aus den längsschnittlichen Interaktionsstudien zeichnen sich zwei deutliche Tendenzen dazu ab, wie sich Eltern und Kinder in ihren Interaktionen über die Zeit wechselseitig beeinflussen und damit den Indidviduationsprozess vorantreiben. Während 1) unangemessen starkes Autonomiestreben der Kinder eine Zunahme der elterlichen Kontrolle in den Interaktionen bewirken müsste, sollte 2) eine einsichtige Haltung der Kinder in den Interaktionen dazu beitragen, dass die Eltern sich langfristig symmetrischer und gleichberechtigen-

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der verhalten. Bisher fehlt es an Untersuchungen, in denen tatsächlich diese wechselseitigen Wirkungen in den Interaktionen zwischen Eltern und Kindern über die Zeit untersucht wurden. Vielfach wurde zwar verfolgt, wie sich die Interaktionen verändern, dabei wurden aber nicht die zeitversetzten wechselseitigen Einflüsse zwischen dem Interaktionsverhalten der Kinder und dem der Eltern betrachtet. Anhand der Daten aus einer kurzen Längsschnittstudie mit Müttern und ihren zunächst 10-jährigen Kindern, deren Interaktionen in einer Spielsituation drei Mal in 18-monatigen Abständen beobachtet wurden, wollen wir diese Wechselwirkungen im Interaktionsverhalten zu Beginn des Individuationsprozesses untersuchen. 1) Geprüft werden soll zum Einen, ob unangemessenes, starkes Autonomiestreben der Kinder in den Interaktionen dazu führt, dass ihre Mütter in der Folge ( d.h. zum darauffolgenden Messzeitpunkt) eine stärker einseitig kontrollierende Haltung in den Interaktionen einnehmen. 2) Zum Anderen soll die Annahme untersucht werden, dass die Mütter sich erst nachdem ihre Kinder in den Interaktionen mit ihnen eine einsichtigere und verantwortlichere Haltung einnehmen, damit beginnen, sich entsprechend symmetrischer und gleichberechtigender in den Interaktionen zu verhalten.

5. Methode Im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes wurden 128 Mütter und Kinder aus dem Raum Potsdam drei Mal in Abständen von ungefähr 18 Monaten in einer Spielsituation im Labor videographiert. Die Kinder, 60 Jungen und 68 Mädchen, waren zum ersten Messzeitpunkt im Durchschnitt 10;9 Jahre alt (SD: 4,5 Monate), zum zweiten 12;4 Jahre und zum dritten 13;9 Jahre. Das Alter der Mütter lag zum ersten Messzeitpunkt zwischen 29 und 51 Jahren. Mehr als die Hälfte der Mütter (61 %) lebte mit einem Partner in einem gemeinsamen Haushalt. Die anderen Mütter waren alleinerziehend. Mit 37 Prozent war der Anteil von teilnehmenden Müttern, die einen Hochschulabschluss erreicht hatten, wie in vielen anderen Studien auch, etwas höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Der Individuationspro%ess wurde in dieser Studie mittels Beobachtung untersucht. Als Interaktionsaufgabe in der Beobachtungssituation diente dabei ein bereits mehrfach eingesetztes, so genanntes „Aushandlungsspiel" (Schuster, 1998). Das Spiel enthält zwar Elemente der häufig verwendeten Planungsaufgaben, es legt den Spielern aber auch nahe, unterschiedliche Ziele zu verfolgen, und evoziert dadurch Konflikte, die interaktiv ausgehandelt werden können. In dem Spiel müssen die Mütter und Kinder gemeinsam ihre Aktivitäten in einem einwöchigen Urlaub planen. Dazu sind ihnen auf einem Spielplan vier Freizeit- bzw. Konsumangebote (z.B. ein Fast-Food-Restaurant oder ein Kino, in dem ein Actionfilm läuft) und vier kulturelle Attraktionen (z.B. eine alte Kirche oder ein Mu-

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seum) vorgegeben. Die Einigungen werden durch ein Gewinnpunktesystem erschwert, nach dem die Mütter und Kinder jeweils für den Besuch bestimmter Attraktionen Pluspunkte gewinnen können, für die der andere aber Minuspunkte in Kauf nehmen muss. Aushandlungsbedarf entsteht sowohl durch den Gewinnanreiz als auch bei gegensätzlichen Haltungen zu den unterschiedlichen Angeboten. Die Spiele wurden in einzelne Aushandlungen um die acht Attraktionen unterteilt, die dann nach einem Kategoriensystem kodiert wurden, das unterschiedliche „Rahmungen" durch die Mütter und Kinder erfasst. Unter Rahmungen werden dabei mit Goffman (1977/1974) implizite Deutungen verstanden, die anzeigen, wie die Beteiligten die Situation und ihre Beziehung interpretieren. Rahmungen lassen sich nicht direkt beobachten, sie können aber aus den Haltungen1, die die Beteiligten in der Interaktionssituation einnehmen, geschlossen werden. Das Kategoriensystem umfasst insgesamt fünf Rahmungen für die Kinder und fünf für die Mütter. Die Rahmungs-Kategorien beschreiben unterschiedliche typische Beziehungsdefinitionen von Müttern und Kindern dieser Altersgruppe (10 bis 13 Jahre), die folglich noch am Beginn des Individuationsprozesses stehen. Mehr als die gelungene Individuation fokussieren sie deshalb verschiedene anfängliche Versuche der Umgestaltung der Beziehung. Die Rahmungskategorien weisen plausible Zusammenhänge zu den Skalen des Münchner Individuations-Tests von Walper (1997) auf (Schuster et al., 2002). Pro Aushandlung wurde eine mütterliche und eine kindliche Rahmungskategorie kodiert. Die Kodierer-Übereinstimmung lag bei 88 Prozent (Mutter-Rahmungen: κ = .83, Kinder-Rahmungen: κ = .85). Die Häufigkeiten der pro Person und Spiel (bzw. Messzeitpunkt) ausgezählten Rahmungen wurden jeweils auf die Gesamtzahl der Aushandlungen des Spiels bezogen und in prozentuale Anteile umgerechnet. In die Analysen zu diesem Beitrag gingen jeweils zwei der fünf Rahmungskategorien der Kinder und der Mütter ein. Die Kinder-Rahmungskategorie: Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht wurde ausgewählt, weil sie am deutlichsten das insbesondere mit dem Beginn der Pubertät forcierte vehemente Streben der Kinder nach Autonomie und Individualität erfasst (vgl. Schuster et al., 2002). Auf diese Rahmungskategorie deuten Verhaltensweisen der Kinder hin, die zeigen, dass sie sich nicht von ihren Müttern beeinflussen lassen, sondern sich deutlich abgrenzen und so ihre Unabhängigkeit demonstrieren (Bsp.: „Woher willst du denn das wissen?", „Na und,

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Mit „I laltung" sind hier nicht einzelne - sondern mehrere Verhaltensweisen gemeint, die zusammen genommen deutlich machen, welche Rolle und Aufgabe sich die Person selbst zuschreibt.

Der Beginn des Individuatiorisprozesses 51

find ich aber super."). Innerhalb der Stichprobe und in Relation zur Häufigkeit der anderen Rahmungen kam diese deutliche, bisweilen sogar aggressive Form der Rahmung aber immer nur bei ca. einem Drittel der Kinder vor. Über die drei Messzeitpunkte nahm die durchschnittliche Häufigkeit dieser Variable tendenziell ab (vgl. Tab. 1). Mit der Zeit nahmen demnach immer weniger Kinder in den Interaktionen eine Haltung gegenüber ihren Müttern ein, die allein auf die rücksichtslose Durchsetzung ihrer Position ausgerichtet war. Wegen ihrer geringen Häufigkeit und linksschiefen Verteilung wurde die Kategorie für die Berechnungen in eine dichotome Variable transformiert (1= Rahmung kommt mindestens einmal vor, 0= Rahmung kommt nicht vor). Die Kinder-Rahmungskategorie: hinlenken und Verständnis beschreibt demgegenüber eine vernünftige, die Standpunkte der Mütter berücksichtigende Haltung der Kinder in den Interaktionen, die schon deutlich mehr Aspekte gelungener Individuation der Beziehung aufweist (vgl. Schuster et al., 2002). Bei dieser Rahmung akzeptieren die Kinder die wechselseitige Abhängigkeit in der Aushandlungssituation. Sie verstehen, dass jeder auf die Bereitschaft des anderen angewiesen ist, die eigene Rahmung und die damit verknüpfte Selbstdarstellung nicht zu zerstören (Bsp.: „Finde ich ja auch ganz interessant, aber ...", „Ja klar, kannste natürlich nicht gut heißen, ist aber doch mal ganz spannend."). Die durchschnittliche Häufigkeit dieser zu allen Messzeitpunkten bei mindestens 50 Prozent der Kinder beobachteten Rahmungskategorie nahm mit der Zeit zu (vgl. Tab. 1). Die Kinder waren demnach zunehmend besser in der Lage, auch die Wünsche und Erwartungen ihrer Mütter in ihre Handlungsperspektive einzubeziehen. Auf Seiten der Mütter wurde die Rahmungskategorie: Normative Auseinandersetzung mit dem ljebensstil ausgewählt, weil sie besonders deutlich durch unilaterales, kontrollierendes Verhalten der Mütter gekennzeichnet ist, das von den Kindern zumeist nicht mehr als angemessen empfunden wird (vgl. Schuster et al., 2003). Bei dieser Rahmung nehmen die Mütter die Aushandlungen aus der Perspektive einer verantwortlichen Erziehungsperson wahr, die ihre Vorstellungen richtiger Lebensgestaltung verdeutlichen will (Bsp.: „Vormittags erst etwas angucken, nachmittags euer Vergnügen.", „Man muss auch nicht jeden Tag was machen, was Geld kostet."). Diese Rahmung kam zu allen Messzeitpunkten bei über 80 Prozent der Mütter vor; ihre durchschnittliche Häufigkeit nahm aber mit der Zeit ab (vgl. Tab. 1). In immer weniger Aushandlungen verhielten sich die Mütter als einseitig kontrollierende Autoritätsperson. Die Mutter-Rahmungskategorie: Faires Miteinander wurde einbezogen, weil sie demgegenüber eine symmetrischere, partnerschaftliche Haltung ausdrückt. Die Mütter bemühen sich bei dieser Rahmung, eine konstruktive gemeinsam getragene Entscheidung zu ermöglichen, indem sie engagiert die Rolle des Mitverantwortung und Mitgestaltung einfordernden und Gleichberechtigung voraussetzenden Partners einnehmen. (Bsp.: ,Jeder sagt erst mal, worauf er gar nicht verzichten

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kann."). Diese Rahmung kam zu allen drei Messzeitpunkten bei mehr als 75 Prozent der Mütter vor; ihre durchschnittliche Häufigkeit nahm mit der Zeit zu (vgl. Tab. 1). Immer häufiger nahmen die Mütter demnach in den Aushandlungen mit ihren Kindern eine partnerschaftlich-faire Haltung ein. Tabelle 1: Durchschnittliche Häufigkeiten der Rahmungskategorien zu den drei Messzeitpunkten (Varianzanalysen mit Messwiederholung, N=128) Mittelwerte (Standardabweichungen)

Γ df = 2 / 1 2 6

tl

tl

t3

Kinder-Rahmung: Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht

9,34 (15,06)

8,16 (12,84)

4,81 (10,59)

4,87**

Kinder-Rahmung: I hinlenken und Verständnis

12,58 (15,38)

22,02 (13,75)

22,63 (14,63)

17,68***

Mütter-Rahmung: Normative Auseinandersetzung mit dem Lebensstil

43,44 (26,59)

27,56 (21,92)

28,50 (19,44)

20,00***

Mütter-Rahmung: Faires Miteinander

24,77 (21,46)

38,76 (18,69)

44,96 (20,63)

31,85***

Außerdem wurden das Geschlecht der Kinder und die Familienstruktur in die Analysen einbezogen. Die Variable Familienstruktur trennt (1) Mütter, die mit einem Partner (leiblicher Vater oder Stiefvater des Kindes) zusammen in einem Haushalt lebten (n = 78) von (0) alleiner^iehenden Müttern, die nicht mit einem Partner in einem Haushalt lebten (n = 50). Die Einflüsse des Geschlechts und der Familienstruktur sollten deshalb in den Modellen als exogene Faktoren berücksichtigt werden, weil aus früheren Auswertungen der Daten bereits bekannt war, dass die Mütter gegenüber Mädchen zunächst kontrollierender waren als gegenüber Jungen. Wie in anderen Studien auch (z.B. Kreppner & Ullrich, 1999), zeigte sich zudem, dass sich die Mütter mit einem Partner kontrollierender, Alleinerziehende aber fairer gegenüber ihren Kindern verhielten (Schuster et al., 2003).

6. Ergebnisse Vorgehen. Die Überprüfung der beiden Hypothesen erfolgte mit Hilfe von zwei Strukturgleichungsmodellen (AMOS 4.0; Arbuckle & Wothke, 1999). In beiden Modellen (vgl. Abb. 1 und 2) sind einige Vorannahmen enthalten, die vorab kurz besprochen werden sollen: So sind für die betrachteten Rahmungs-Variablen der Kinder und der Mütter jeweils Stabilitäten, d.h. Autokorrelationen zwischen den Messzeitpunkten, vorgesehen. Damit wird angenommen, dass die Rahmungen nicht zufällige, punktuell auftretende, sondern relativ kontinuierliche Haltungen der Kinder bzw. der Mütter in den Interaktionen beschreiben, die sie und ihre

Der Beginn des Individuationsprozesses 53

Beziehung charakterisieren. Weiterhin werden zu jedem Messzeitpunkt Korrelationen zwischen den Kinder- und den Mütter-Variablen angenommen. Damit wird postuliert, dass die Haltungen der Mütter und der Kinder in den Interaktionen (zu einem Messzeitpunkt) kontingent aufeinander bezogen bzw. voneinander abhängig sind. Schließlich wurden in den Modellen Effekte der exogenen Variablen „Geschlecht der Kinder" und „Familienstruktur" auf die Rahmungen der Mütter und Kinder zu den drei Messzeitpunkten berücksichtigt. Auf die Darstellung dieser Effekte wird aber in den Abbildungen aus Gründen der Ubersichtlichkeit verzichtet. Abb. 1: Wechselseitige Einflüsse zwischen den Rahmungen der Kinder „Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht" τα tl, t2 und t3 und den Rahmungen der Mütter „Normative Auseinandersetzung mit dem Lebensstil" zu tl, t2 und t3 (AMOS-ModeU; N=128)

tl Kindcr-Rahmung: „Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht"

t2 .37**

v \S

Mutter-Rahmung: „Normative Auseinandersetzung mit dem I .ebcnsstil"

\

.16+

Kindcr-Rahmung: „Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht"

t3 Kindcr-Rahmung: „Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht"

.30**

VX j // \/ m/

\

29** I

U+

Muttcr-Rahmung: „Normative Auseinandersetzung mit dem I^ebcnsstil"

.32**

Muttcr-Rahmung: „Normative Auseinandersetzung mit dem Lebcnsstil"

+ = ρ < .10, * = ρ < 05, ** = ρ < .01 Die F.inflüssc der exogenen Faktoren „Familicnstruktur" und „Geschlecht des Kindes" sind nicht abgebildet.

In Abbildung 1 sind die Ergebnisse der Modelltestung für die erste Hypothese dargestellt. Nach dieser Hypothese sollten häufige Rahmungen der Aushandlungen als „Durchsetzung der eigenen Position ohne Rücksicht" von Seiten der Kinder den Individuaüonsprozess anstoßen und die Mütter dazu bringen, in der Folge mehr Kontrolle auszuüben, indem sie die Aushandlungen häufiger als „Normative Auseinandersetzung mit dem Lebensstil" rahmen.

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Beate Η. Schuster

Zunächst zu den Modelleigenschaften und den Vorannahmen. Das Modell ist gut an die Daten angepasst (Chi2 = 2,26, df = 4, ρ = .688, GFI = .996, AGFI = .960, RMSELA = .000). Hinsichtlich der Vorannahmen zeigt sich, dass die betrachteten Rahmungs-Variablen mit einer Ausnahme Stabilitäten zwischen .30 und .37 (alle p