Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen [1 ed.] 9783428494910, 9783428094912

Dem Verständnis der Einzelursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung steht bei den Begehun

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Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen [1 ed.]
 9783428494910, 9783428094912

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THEMISTOKLIS I. SOFOS

Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen

Strafrechtliche Abhandlungen· Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hambmg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 121

Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen Von

Themistoklis I. Sofos

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professorin Dr. Ingeborg Puppe, Bonn

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sofos, Themistoklis I.: Mehrfacbkausalität beim Tun und Unterlassen / von Themistoklis I. Sofos. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 121) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09491-3

D5 Alle Rechte vorbehalten 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: W. März, Tübingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ~

ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09491-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Meinen Eltern I'to~ yo~ic:;

110\1

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1997/98 von der Universität Bonn als Dissertation angenommen worden. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschließlich Dezember 1997 berücksichtigt werden, teilweise auch noch darüber hinaus. Mein besonderer Dank gilt meiner verehrten Lehrerin Frau Prof. Dr. Ingeborg Puppe, die mich stets mit Rat und Tat unterstützt hat und mir die Möglichkeit gab, mich nicht nur mit den vielfältigen theoretischen Fragen des Allgemeinen und Besonderen Teils des Strafrechts zu beschäftigen, sondern diese Fragen auch aus dem Blickwinkel der Analytischen Philosophie und Logik zu behandeln. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Urs Kindhäuser für die Erstellung des Zweitgutachtens und seine wertvollen Stellungnahmen zu dogmatischen Problemen dieser Arbeit. Zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Prof. Dr. HansJoachim Rudolphi für die vielen Anregungen während der Gespräche im Rahmen der strafrechtlichen "Montagsseminare" der Jahre 1995 - 1997, die er und Frau Prof. Dr. I. Puppe gemeinsam gehalten haben. Herrn Prof. Dr. Günther Jakobs möchte ich herzlich danken, weil er mir im Rahmen des strafrechtlichen Seminars des rechtsphilosophischen Instituts die Gelegenheit gab, mich mit vielen Aspekten der strafrechtlichen Zurechnungsproblematik auseinanderzusetzen. Außerdem möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Helmut Marquardt dafür bedanken, daß er meine Teilnahme am kriminologischen Seminar durchaus gefOrdert hat. An dieser Stelle möchte ich meinen herzlichen Dank Frau Prof. Dr. A. Benakis, den Herren Prof. Dr. N. Androulakis, Prof. Dr. L. Georgakopou/os und Prof. Dr. N. Livos, Athen, Prof. Dr. A. Kostaras und Prof. Dr. T. Dalakouras, Komotini, für ihre wissenschaftliche und menschliche Unterstützung meiner Bemühungen an der Universität Bonn ausdrücken. Für seine Unterstützung danke ich auch Herrn Ioannis Gawri/is, Generalstaatsanwalt bei dem OLG Athen. Mit Hilfe meiner Lehrerin der deutschen Sprache, Frau L. Nikolaidou, Goethe-Institut Athen, konnte ich die sprachlichen Schwierigkeiten meiner Arbeit überwinden. Nicht vergessen werde ich die freundliche Atmosphäre des strafrechtlichen Instituts, des rechtsphilosophischen Instituts und des kriminologischen Instituts der Universität Bonn. Insbesondere möchte ich meinen Freunden Frau W Fleischer und Herrn T. Seesko für das Korrekturlesen meiner Arbeit sowie

8

Vorwort

auch Herrn Dr. B. Limbach und Herrn Dr. F Toepel rur ihre Unterstützung danken. Bei Frau Rechtsanwältin Dr. M. Adamopou/ou, Cambridge, möchte ich mich rur die wertvollen Diskussionen und ihren großherzigen Beistand bedanken. Ohne die unschätzbare Hilfe meiner Eltern, des Rechtsanwalts Ioannis Sofos und seiner Ehefrau Mary Sofou, sowie meiner Schwestern, der Notarin Anastasia Sofou und der Rechtsreferendarin Aggeliki Sofou, hätte ich den glücklichen Abschluß meiner Promotion nicht erreicht. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Der Leser - rur dessen Anregungen und Kritik ich dankbar bin (E-mail an: [email protected]) - sei am Schluß auf die Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse meiner Arbeit und auf das Namen- sowie Sachverzeichnis hingewiesen. Gustav Radbruch hat seine Habilitationsschrift über den Handlungsbegriff als ein "Monstrum" bezeichnet: halb Philosophie, halb Strafrechtsdogmatik. Ein solches Monstrum hat auch Arthur Kaufmann in dem Vorwort zur ersten Auflage sein "Schuldprinzip" genannt. Es kann sein, daß auch die vorliegende Arbeit ein Monstrum ist. Sicher ist, daß die Strafrechtsdogmatik und die Philosophie untrennbare Bestandteile dieser Arbeit bilden. Die Auseinandersetzung mit der Problematik der Mehrfachkausalität im Strafrecht kennt kein Ende. Ich hoffe, daß ich in einer weiteren Veröffentlichung die Gelegenheit habe, weitere Gesichtspunkte der strafrechtlichen Zurechnungsproblematik zu berücksichtigen. Denn "die Welt wird alt und wird wieder jung, doch der Mensch hofft immer Verbesserung" (Schiller, Hoffnung). Athen, den 12. Mai 1998

Themistoklis Sofos

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Die Kausalität des positiven Thns § I Kausalitätsprüfung nach der bis heute herrschenden Lehre

15

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von der Kausalität

22

A. Wissenschaftstheoretische Überlegungen über die Kausalerklärung .

23

B. Die Conditio-sine-qua-non-Formel als irrealer Konditionalsatz . . . .

46

C. Philosophischer versus strafrechtlichen Kausalbegriff? . . . . . . . . . . .

50

D. Der "NESS"-Test Richard Wrights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

§ 3 Die Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner "ganz" konkreten Gestalt für die bisherige Ursachenermittlung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

64

A. Der Gedanke der Erfolgskonkretisierung

64

B. Der Grenzfall der Erfolgskonkretisierung

73

C. Eine Schadensneigung bewirkende Umstände

80

D. Die Beschreibung wahrer Sachverhalte ...... .

90

E. Divisio, membra divisionis und fundamenturn divisionis bei der Erfolgsbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

F. Eine für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen . . . . .

94

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg § 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft. Die Gesamttat

als Modell der Kausalitätsfeststellung in Fällen der Mehrfachkausalität .

107 123

........... .

124

B. Die Lösung des BGH . . . . . . . . . . . . . . .

125

C. Die herrschende Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

D. Das Echo in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

127

E. Conditio-Formel und Gesamttat als Modell für den Kausalitätsnachweis, insb. in Fällen der Mehrfachkausalität - Litern lite resolvere? . . . . . ..

132

A. Darstellung des Problems

10

Inhaltsverzeichnis

I. Kumulative Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

132

2. Mittäter und damit kausal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

3. Kausalität und Gesamttat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

134

a)

Kausalität; Ablehnung der Doppel- oder Mehrfachkausalität

..

134

b) Die Gesamttat als Modell der Kausalitätsfeststellung in Fällen der Mehrfachkausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

147

(i) Darstellung

..............................

147

a) Das Gesamttatprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

150

ß)

151

Die Gesamttatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

(ii) Kritik an der Konstruktion der Gesamttat

...........

153

4. Mehrfachkausalität und ihr Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156

a)

Die "alexandrinische" Lösung der Mittäterschaft

.........

156

.........................

159

§ 6 Der Zweck der strafrechtlichen Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

A. Perfektes Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

B. "De internis non iudicat praetor" und Normen als Strafrechtsgut . . ..

165

§ 7 Drei Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

§ 8 Kritische Auseinandersetzung mit der Auffassung von Jakobs . . . . . ..

170

A. Im Privatbereich befindliches Internum und sozialstörendes externes Verhalten. Das "votum decisivum" der Zurechnung (zu These I)

170

B. Die Mitwirkung im Vorbereitungsstadium (zu These 2) . . . . . . . . ..

175

C. Überbedingte Erfolge und perfekter Normbruch (zu These 3) . . . . ..

178

D. Autopoietische Systeme im Strafrecht (circulus vitiosus oder circulus virtuosus?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

184

§ 9 Der Begriff der Erfolgsüberbedingung und die Zuständigkeitskollektive .

191

b) Die Mehrfachkausalität

A. Darstellung

.....................................

B. Kritische Auseinandersetzung mit den Darlegungen Röhs

........

§ 10 Zwischenergebnis

191 194 197

Zweiter Teil

Die Kausalität der Unterlassung § I Die Unterlassung: Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Inhaltsverzeichnis

11

§ 2 Die Kausalität der Unterlassung und ihre Begründung nach der überwiegenden Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

20 I

A. Eine unergiebige Streitfrage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

B. Die Quasi-Kausalität

...............................

202

C. Die rechtspersonale Wirksamkeit der Unterlassung (Wolff, Kahlo)

204

D. Das Erfordernis der Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

§ 3 Exkurs: Nichtexistenz und Nichts nach P. Kanellopoulos . . . . . . . . . .

207

§ 4 Nochmals: Die Kausalität der Unterlassung

210

A. Die Epoche des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

2\0

B. Die Negationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

211

C. Das Erfordernis der Situationsabhängigkeit: ein Filtriermechanismus ..

213

D. Die Kontraposition des Konditionalsatzes; zureichende Mindestbedingung und Quasikausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

218

E. Äquivalenz

220

§ 5 Mehrfachkausalität von Unterlassungen und Erfolgsverhinderungsmöglichkeit oder: die Zurechnung beim Zusammenwirken mehrerer Personen und die Vermeidbarkeit des Erfolges . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

222

A. Mehrfachkausalität von Unterlassungen und die Garantenpflicht: zwei Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

B. Notwendige Bedingung? Die Norm- und Pflichtwidrigkeit (Vogel) . ..

224

C. Der korrespondierende Schutzanspruch (Erb)

227

D. Der Eindruck der Uneinsichtigkeit (Samson)

229

E. Die vorangegangene Mißachtung der Norm und ihre Einwirkung auf die Mitgaranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

230

§ 6 Die Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

233

§ 7 Die Entlastung von der Haftung bei feststehender bzw. kumulativer Unterlassungskausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234

A. Garantenpflicht zu sinnlosem Verhalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

B. Die Trennung konkurrierender Kausalerklärungen: die Annahme der kontrafaktischen Normkonformität des Verhaltens von Mitwirkenden bei feststehender bzw. kumulativer Unterlassungskausalität . . . . . . ..

245

C. Die notwendige kontrafaktische Normkonformität in Fällen feststehender bzw. kumulativer Unterlassungskausalität . . . . . . . . . . . . . . . .

253

D. Zufallsfaktoren einer Rechtsgutsverletzung und das Erfordernis der Situationsabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

255

12

Inhaltsverzeichnis

§ 8 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . .

261

Literaturverzeichnis

264

Namenverzeichnis

277

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280

Abkürzungsverzeichnis a.A.

anderer Ansicht

a.E.

am Ende

Anh.

Anhang

Anm.

Anmerkung

Art.

Artikel

AT

Allgememer Tell

Aufl.

Auflage

BayObLG

Bayensches Oberstes Landesgencht

Bd.

Band

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGE

Entscheidungen des schwelzenschen Bundesgenchts

BGH

Bundesgenchtshof

BGHSt.

Entscheidungen des Bundesgenchtshofes m Strafsachen

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes m Zivilsachen

bzw.

beziehungsweise

d.h.

das heißt

Dlss.

Dissertation

FS

Festschnft

Fn.

Fußnote

GA

Goltdammer's Archiv ftir Strafrecht

GG

Grundgesetz

GS

Gedächtmsschrift

h.L

herrschende Lehre

h.M.

herrschende Memung

Hrsg., hrsg.

Herausgeber, herausgegeben

I.d.R.

m der Regel

JA

Junstische Arbeitsblätter

JR

Junstische Rundschau

Jura

Junstische Ausbildung

JuS

Junstische Schulung

JZ

Juristenzeitung

Abkürzungsverzeichnis

14 LG

Landgericht

LK

Leipziger Kommentar

MDR

Monatsschrift für Del!tsches Recht

m.w.N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NK

Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

OLG

Oberlandesgericht

RG

Reichsgericht

RGSt.

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

Rn.

Randnummer

Rspr.

Rechtsprechung

s.

siehe

S.

Seite

SchwZStr

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

seil.

scilicet

SK

Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch

StGB

Strafgesetzbuch

StPO

Strafprozeßordnung

StV

Strafverteidiger

u.a.

unter anderem

vgl.

vergleiche

VersR

Versicherungsrecht

Vorb.

Vorbemerkung

VRS

Verkehrsrechts-Sammmlung

wistra

Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht

z.B.

zum Beispiel

zit.

zitiert

ZPO

Zivilprozeßordnung

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Erster Teil

Die Kausalität des positiven Tuns § 1 Kausalitätsprüfung nach der bis heute herrschenden Lehre Bei den schlichten Tätigkeitsdelikten, die lediglich eine Handlung des Täters umschreiben, ist der strafrechtliche Tatbestand erfüllt, wenn die Täterhandlung die vom Gesetz geforderte Qualität aufweist. So ist zur Begehung eines Meineides nach § 154 StGB lediglich erforderlich, daß der Täter falsch schwört. Dagegen verlangen die Tatbestände der Erfolgsdelikte über das Täterverhalten hinaus die Herbeiführung eines bestimmten Erfolges. Der Handelnde muß diesen Erfolg verursacht haben (z.B. §§ 212,222 StGB). Damit die Handlung dem Täter zugerechnet werden kann, wird vorausgesetzt, daß diese Handlung kausal für den Erfolg war. Die ursächliche Verknüpfung des Täterverhaltens mit dem Erfolg wird Kausalität (Kausalzusammenhang, Ursächlichkeit des Täterverhaltens) genannt. Die Feststellung der Kausalität der Handlung für den eingetretenen Erfolg führt zur Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit des Erfolgsdelikts. Ob der verursachte tatbestandsmäßige Erfolg endgültig zur Strafbarkeit des Handelnden führt, hängt von weiteren Voraussetzungen ab, die in späteren Stufen des Verbrechensaufbaus (Rechtswidrigkeit, Schuld) festgestellt werden müssen. Es ist also die Aufgabe der strafrechtlichen Kausallehre zu fragen, wann die Verknüpfung zwischen Handlung und Erfolg eine derartige ist, daß darauf beim Hinzutritt der übrigen Verbrechensmerkmale eine strafrechtliche Haftung des Täters gegründet werden kann. Nach der überwiegenden Meinung ist der strafrechtliche Kausalbegriff weder ein solcher der allgemeinen Philosophie noch ein solcher der Naturwissenschaft. I "Ursache" im philosophischen Sinne soll die Gesamtheit aller Erfolgsbedingungen bilden, "die gesamte Fläche des zum Erfolg hindrängenden Parallelogramms der Kräfte, aus dem sich die Täterhandlung nicht willkürlich herausbrechen läßt"2.

I Vgl. LK-Heimann-Trosien 9 , Einl. Rn. 89; Baumann/Weber/Mitsch, AT 'o , § 14 [ 2, Rn. 6, 7; Mau/'ach/Zipf: AT 11, § [8 [, Rn. 5; Roxin, AT), [997, § 1[ A [, Rn. 4; Jescheck, AT', § 28 [ 1; Wesse/s, AT, Rn. 155.

2

Maurach / Zipf; AT 11, § 18 [, Rn. 5.

16

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Und nach dem Stand der naturwissenschaftlichen Forschung gibt es Bereiche, in denen ein Zustand auf den anderen naturgesetzlich folgt, und solche Bereiche, die es nicht mehr zulassen, den künftigen Zustand eines Systems aus dem gegenwärtigen eindeutig festzulegen. Rückgriffe auf naturgesetzliche und philosophische Einsichten läßt man also beiseite und begnügt sich damit, daß es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der in Ermangelung einer besonderen Regelung nach dem systematischen Zusammenhang und der praktischen Verwendbarkeit zu bestimmen ist. "Ob das Recht von der naturwissenschaftlichen Kausalitätslehre ausgeht oder ob es eine eigene Kausalitätslehre entwickelt, ist allein eine Frage rechtssystematischer Erkenntnis und rechtlicher Praktikabilität. '" Die herrschende Kausalitätslehre, nach der auch die Rechtsprechung verfährt, ist die sogenannte Bedingungs- oder Äquivalenztheorie: Nur wenn ein bestimmtes Verhalten V gegeben ist, wird der Erfolg E herbeigeführt, oder anders ausgedrückt, der Erfolg E ist durch das Verhalten V dann verursacht, wenn das Verhalten nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele ("conditio-sine-qua-non-Theorie"). Nach dieser Theorie, welche bis heute die herrschende Kausalitätsformel im Strafrecht ausmacht, muß die Handlung eine conditio-sine-qua-non sein, um ursächlich zu sein. 4 Mit der herrschenden Meinung kann das betreffende Verhalten von den übrigen Antezedenzbedingungen isoliert werden; wenn es von dem betreffenden Verhalten abgehangen habe, ob der Erfolg eintreten würde oder nicht, brauchte man für die Kausalitätsbestimmung keine Angaben mehr zu erhalten, so daß der Erfolg dem Täter zugerechnet werden könne. Der Richter soll nämlich anhand dieser Formel den wirklichen Kausalverlauf mit einem hypothetischen vergleichen und fragen, ob der konkrete Erfolg auch ohne die Handlung des Täters eingetreten wäre. Da ein Erfolg immer auf einer Vielzahl von Bedingungen beruht, betrachtet die Äquivalenztheorie alle diese Bedingungen als gleichwertig (äquivalent), und deswegen entfällt die Ursächlichkeit des Täterverhaltens dadurch nicht, daß zu dieser andere Bedingungen treten können, etwa das Fehlverhalten des Verletzten oder eines Dritten. 5 Um mit Engisch zu sprechen, scheint sich die conditio-Formel ziemlich einfach handhaben zu lassen. 6 "Bei näherem Zu) Baumann/Weher/Mitsch, AT IO , § 14 I 2, Rn. 7. In Deutschland begründet von v. Buri (Mitglied des Reichsgerichts), Über Causalität und deren Verantwortung (1873), S. I; ders., Die Causalität und ihre strafrechtlichen Beziehungen (1885), S. I; vom RG vertreten in ständiger Rechtsprechung und vom BGH übernommen: RGSt. 1,373; 77, 18; BGHSt. 1,332; 2, 20; 3, 69; 7, 112; 24, 31; 31, 98; 37, 106. Im Schrifturn ist sie der Ausgangspunkt der herrschenden Meinung zur Bestimmung der Kausalität: Sch/Sch-Lenckner, Vorbem. zu §§ 13, Rn. 73 fT.; Schlüchter, Grundfälle zur Lehre von der Kausalität, JuS 1976, 312; Ehert / Kühl, Kausalität und objektive Zurechnung, Jura 1979. 563; Wesseis, Strafrecht, AT, § 6 I 2, 3. 4

5

Vgl. Schlüchter, JuS 1976,378.

6

Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände (1931). S. 8.

§ 1 Kausalitätsprüfung nach der bis heute herrschenden Lehre

17

sehen ist es aber auch mit der einfachen Handhabung nicht so bestellt, wie es den Anschein hat. ... Entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Erfolg auch ohne ein bestimmtes Verhalten eingetreten wäre, ist die Art und Weise, wie wir den Erfolg selbst ansetzen, mit Bezug auf den die Verursachungsfrage geprüft werden soll."7 Ein Beispiels macht dies deutlich: Ein Arzt soll Sterbehilfe (Euthanasie) leisten; danach stirbt der schwerleidende Patient einige Minuten, bevor er ohnehin auch ohne Eingreifen des Arztes seinem Leiden erlegen wäre. Damit könnte sich der Arzt darauf berufen, sein Verhalten sei nicht ursächlich geworden, denn der Patient wäre ja ohnehin alsbald gestorben. Und jeder Mörder könnte sich darauf berufen, sein Opfer wäre ohnehin gestorben, weil alle Menschen sterben müßten, so daß die Tötungshandlung nicht als ursächlich zu bezeichnen sei. Um solche absurden Ergebnisse zu vermeiden und die conditio-sine-qua-non-Forrnel zu retten, versucht die herrschende Lehre durch den Hinweis auf die Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner konkreten Gestalt Ersatzursachen auszuschließen, die den gleichen Erfolg ohne die Handlung des Täters herbeiführen könnten. Je genauer wir den Erfolg beschreiben könnten, desto weniger Ersatzursachen kämen daflir in Frage. Allein entscheidend sei also, ob der Erfolg in seiner individuellen, zeitlich-räumlichen Gestalt auf der Handlung des Täters beruht. 9 Der gleiche später eingetretene Erfolg sei eben ein anderer und nicht derselbe konkrete Erfolg in seiner individuellen, zeitlich-räumlichen Gestalt. Nach der im Schrifttum überwiegenden Meinung ist nämlich uninteressant, ob der abstrakte Erfolg auch ohne das Täterverhalten eingetreten wäre. Es sei unerheblich, ob der gleiche Erfolg später infolge anderer Bedingungen entstanden wäre. Es müßte also keine Rolle spielen, daß der schwerleidende Patient ohnehin später gestorben wäre; der Tod durch Euthanasie sei ein anderer konkreter Erfolg als der natürliche oder der infolge der Krankheit später eintretende Tod. Das Verhalten des Arztes könne nicht hinweggedacht werden, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele und deshalb sei die Handlung des Arztes ursächlich für den Tod des Patienten gewesen. Zweifelhaft bleibt aber, wie weit der Erfolg zu konkretisieren ist. Nach einer Auffassung ist eine Handlung dann kausal, wenn bei ihrem Wegfall der Erfolg entweder überhaupt nicht oder doch nicht auf dem Wege hätte eintreten können, wie er tatsächlich eingetreten ist. Nach dieser Auffassung muß man also danach fragen, ob ohne das zu prüfende Verhalten nicht nur der Erfolg als 7

Ellgiseh, Kausalität, S. 9.

x Mitgeteilt bei Schliichter, JuS 1976, 380. 9 Max Ludwig Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht (1912), S. 11; Engisch, Kausalität, S. 11 ff.; Sch / Sch-Lellckller, Vor §§ 13, Rn. 75; SK-Rudolphi, Vor § I, Rn. 41; Schlüchter, JuS 1976, 381, 382; Wesseis, AT, § 6 I 2; Roxin, AT, 11 / 17; Maurach I Zipf, AT 11, 18/54; Dreher I Tröndle, StGB, Vor § 13, Rn. 16; Walder, Die Kausalität im Strafrecht, SchZStrR 93 (1977), S. 113, 130.

2 Sofos

1. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

18

Endglied einer Kausalreihe, sondern auch die Zwischenglieder - dieser Kausalreihe - zwischen der zu prüfenden Handlung und diesem Erfolg eingetreten wären. lo Wie ist aber der Fall zu lösen, wenn ohne das betreffende Verhalten genau dieselbe untereinander kausal verbundenen Ereignisse eingetreten wären, an deren Ende der Erfolg steht? In einem Staat mit Todesstrafe soll beispielsweise ein Mörder hingerichtet werden. Der Vater des Mordopfers stößt bei der Hinrichtung des Mörders den Scharfrichter zur Seite und löst die Falltür selbst aus, um sein Kind zu rächen. I I Anhand der conditio-Formel müßte man die Kausalität der Handlung des Vaters leugnen, denn ohne das Verhalten des Vaters wäre der Erfolg auch mit den Zwischengliedern, die zu ihm hinführen, ganz gen au so eingetreten, wie er eingetreten ist, mit der Folge, daß der Erfolg "mitsamt den zu ihm hinführenden Zwischengliedern ursachlos eingetreten"12 wäre. Diese Absurdität - und damit eine endliche Preisgabe der conditio-Formel - kann nur so vermieden werden, daß man einen Unterschied in den konkreten Erfolgen findet: Man bezieht nämlich in die Zwischenstadien, die in die Erfolgsbeschreibung einbezogen werden, auch die Täterhandlung ein. Im Scharfrichterfall wäre also der Erfolg auf diese Weise, nämlich durch die Hand des Vaters, nicht eingetreten, wenn es nicht der Vater des Mordopfers gewesen wäre, der die Falltür ausgelöst hätte. So müßte in diesem Fall der Tod des Mörders durch die Hand des Vaters des Mordopfers ein anderer konkreter Erfolg als der Tod durch die Hand des Henkers sein; das Verhalten des Vaters könnte also nicht hinweggedacht werden, ohne daß der Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt - Tod durch den Vater - entfiele und deshalb wäre der Tod des Mörders dem Vater des Mordopfers zuzurechnen. Hier ist aber zweifelhaft, ob ein anderer individueller und damit ein anderer konkreter Erfolg deshalb anzunehmen ist, weil eine andere Person gehandelt hat. Engisch hat hier einen Zirkelschluß gezeigt. Man setze das bereits voraus, was man eigentlich erst habe prüfen wollen, nämlich die Kausalität. Wir wollen diesen Zirkelschluß mit den Worten Engischs darstellen: "Ich frage nach der Kausalität des Verhaltens des C (des Vaters des Mordopfers) und wünsche die Frage durch die Formel der c.s.q.n. beantwortet zu wissen und diese erklärt mir: auf dem Weg über die besonderen im konkreten Falle vorliegenden kausalen Zwischenglieder, nämlich auf dem Wege über das Verhalten des C wäre ohne dessen Verhalten der konkrete Erfolg nicht eingetreten. Daß eine solche Gedankenfolge unzulässig ist, liegt auf der Hand."11 Zur Vermeidung dieser methodischen Schwächen der 10 Ha/'tmann. Das Kausalproblem im Strafrecht (1900). S. 77 (zitiert bei Engisch, a.a.O .. S. 14).

11

Dieses Beispiel stammt von Engisch. Kausalität. S. 16.

12

Engi.l'ch, Kausalität, S. 16.

lJ Engisch. Kausalität. S. 16; wir wollen uns näher mit der Kritik an der Lehre der Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner konkreten Gestalt an einer späteren Stelle auseinandersetzen. Hier beschränken wir uns darauf, daß Engisch lediglich die Konsequenz zog. daß man da. wo man zu keinem Unterschied im konkreten Erfolg gelange. wenn man die Täterhand-

§ I Kausalitätsprüfung nach der bis heute herrschenden Lehre

19

Äquivalenztheorie hat Engisch die sog. Fonnel von der gesetzmäßigen Bedingung entwickelt. 14 Nach dieser Fonnel ist Kausalität dann anzunehmen, wenn sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung gesetzmäßig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen, wobei die Gesetzmäßigkeit nach unserem Erfahrungswissen zu beurteilen ist. 15 Durch die Fonnel von der gesetzmäßigen Bedingung wird also auf die empirische Gesetzmäßigkeit des Ursachenzusammenhangs abgestellt. Entscheidend für den Kausalzusammenhang zwischen einer Handlung und einem Erfolg sei danach nicht der Umstand, daß die Handlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele, sondern die Tatsache, daß zwischen Handlung und Erfolg ein naturgesetzlicher Zusammenhang besteht. Würde ein Täterverhalten die gesetzmäßige Bedingung für den eingetretenen Erfolg darstellen, so könne die Gesetzmäßigkeit nicht allein deshalb entfallen, weil ein hypothetischer Kausalverlauf zu demselben Ergebnis geführt hätte. Nach Engischs Fonnel von der gesetzmäßigen Bedingung können also bei der Frage nach der Kausalität Ersatzursachen nicht berücksichtigt werden. Die herrschende Lehre will mit der Fonnel der gesetzmäßigen Bedingung bei einer konsequent zu Ende geführten Konkretisierung des Erfolges bleiben. Man zählt zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt auch die "Art und Weise", wie er eingetreten ist, also eben die Ursachen, durch die er erklärt werden soll.16 Das hieße z.B. im Scharfrichterfall, daß der Tod des Mörders durch den Vater des Mordopfers ein anderer konkreter Erfolg als der Tod durch den Henker sei und damit stelle sich das Verhalten des Vaters als conditio-sine-qua-non für den eingetretenen Erfolg dar. Der Ursachenzusammenhang sei ein bloßer Bedingungszusammenhang, etwa im Sinne der Fonnel "ein Ereignis ist dann Ursache eines anderen, wenn es dessen Conditio sine qua non darstellt"; ob es diese Conditio sei, würde man aber nicht apriori wissen, sondern durch Erfahrungssätze. 17 Die herrschende Lehre hat aber die conditio-Fonnel auch bei den lung wegdenke, diesen Unterschied nicht in dessen Zwischengliedern herausfinden könne, vgl. Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863, 874. 14 Engisch, Kausalität, S. 21 ff. Ij Jescheck, AT, S. 254; vgl. auch SK-Rudolphi, Vor § I, Rn. 41; Samsan, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 31 ff.; Sch 1Sch-Lenckner, Vor § 13, Rn. 75, nach dem die conditio-Formel selbst als ein lediglich methodisches Hilfsmittel zur Auffindung von Kausalzusammenhängen nur von begrenztem Wert ist; Schlüchter, JuS 1976, 381; Wesseis, AT, § 6 I 2; Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863,874, in Welzel, Lehrbuch, S. 43; Baumann / Weher / Mitsch, AT, § 17 II a; Jescheck, AT, S. 254; Jakohs, AT, 7/15; Schlüchter, JuS 1976, 518; Ehert / Kühl, Jura 1979, 561, 564; Erh, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, S. 44 ff.; s. aber auch die ausführliche Kritik von Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 870 ff.

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Siehe Walder, Die Kausalität im Strafrecht, SchwZStrR 93 (1977). 113 (\ 24).

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

in der Literatur lB als Sonderfälle der Kausalität erschienenen Fallkonstellationen geltend gemacht; die Äquivalenztheorie wird also nach der herrschenden Meinung angewendet, wenn im Falle des Ausbleibens der Täterhandlung eine andere Ursache denselben Erfolg zeitlich später (überholende Kausalität) oder sogar zur gleichen Zeit und in gleicher Weise nach sich gezogen hätte (hypothetische Kausalität) oder wenn der Erfolg von zwei oder mehr gleichzeitig und unabhängig voneinander wirksamen Bedingungen herbeigeführt wurde (kumulative oder Doppelkausalität). In diesen Fällen hat die herrschende Lehre den Ursachenzusammenhang mittels der Äquivalenztheorie nicht verneint, obwohl dieser nach einem hypothetischen Eliminationsverfahren, wie die conditio-Forrnel, an sich zu verneinen gewesen wäre. Ein Beispiel überholender Kausalität ist folgendes: A hat zwei Feinde, den B und den C, die unabhängig voneinander handeln. B gibt dem A Gift. Ehe A an dem Gift stirbt, eilt C herbei und erschießt den A. Hat bei Abgabe des Schusses durch C das von B gegebene Gift noch nicht gewirkt, so überholt die Kausalkette "Schuß-Tod" die Kausalkette "Giftbeibringung-Tod". Die Bedingung "Schuß", also die Handlung des C, kann nämlich nicht hinweggedacht werden, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele. Dasselbe gilt nach der herrschenden Lehre auch für die Fälle der hypothetischen Kausalität, wobei nur die tatsächlich verwirklichten Umstände zu berücksichtigen seien. In einem Beispiel von Doppelkausalität sollen A und B unabhängig voneinander das Essen des C mit je einer tödlichen Menge Gift versetzen. Hätte einer von ihnen kein Gift gegeben, so wäre C wegen der Handlung des anderen in derselben Zeit gestorben. Gegen die Ansicht nämlich, die conditio-sine-qua-non-Forrnel versage in den Fällen, in denen mehrere Bedingungen zusammenwirkten, weil jede von ihnen ausgereicht hätte, den konkreten Erfolg zu verursachen, wendet die herrschende Meinung l9 ein, daß von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der konkrete Erfolg entfiele, jede für dessen Herbeiführung ursächlich ist. In dem oben genannten Beispiel entfiele also der Tod des C nicht, wenn A ihm kein Gift in das Essen gemischt hätte, weil C an dem von B gegebenen Gift gestorben wäre, und deshalb sei B für den Erfolg ursächlich. Auf dieselbe Weise, wenn B nicht gehandelt hätte, wäre C an dem von A gegebenen Gift gestorben, so daß auch A für den Tod des C ursächlich sei. 20 '" Vgl. Schlüchter, JuS 1976,320. Vgl. Welzel, Lehrbuch, § 9 " d; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14" 3 a)-d); Sch / Sch-Lenckner, Vor §§ 13. Rn. 83; Schlüchter, JuS 1976, 520; kritisch dazu Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863. 876 ff.; dies., Kausalität, SchwZStrR 107 (1990),141 ff.; dies., Naturalismus und Normativismus in der modernen Strafrechtdogmatik, GA 1994, 297 (303); Kindhäuser, Gefahrdung als Straftat, 1989, S. 83 ff.; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 147 ff. 20 Eine differenzierende Lösung will Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt. S. 74. vertreten, nach der in Fällen alternativer Kausali19

§ 1 Kausalitätsprüfung nach der bis heute herrschenden Lehre

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Auch der BGH sah sich neuerdings etwa gezwungen, die Verwendung der Bedingungstheorie in einem solchen Fall zu rechtfertigen. In der Entscheidung BGHSt. 39, 195 sollte der Fall beurteilt werden, in dem das Opfer am Zusammentreffen der Verletzungsfolgen zweier Schüsse stirbt, die beide vom Angeklagten abgefeuert wurden. Hier müßte die Conditio-Formel zu dem befremdlichen Ergebnis führen, daß die Kausalität eines jeden Schusses verneint werden müßte, weil der jeweils andere Schuß denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Obwohl der BGH die Formel von der notwendigen Bedingung anwenden will, verneint er diese Konsequenz ausdrücklich: ,,Insbesondere ... ist in den Fällen, in denen der Täter nach einer tötungstauglichen Handlung eine weitere, hinzutretende Bedingung für den Tod gesetzt hat, auch die erste Handlung für den Tod ursächlich."2! Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, wie sie von der herrschenden Lehre erfaßt wird, stimmt mit der Conditio-sine-qua-non-Formel in zwei Punkten überein: Erstens wird bei der Anwendung beider Formeln auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt abgestellt. Bei der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung versteht sich nach der überwiegenden Meinung die Konkretisierung von Erfolg (und Kausalverlauf) im Grunde genommen von selbst, weil die Veränderungen, die sich beispielsweise an die Abgabe eines tödlichen Schusses durch A angeschlossen haben, eben eine gesetzmäßig verbundene Kette von "ganz konkreten" Ereignissen darstellen, die mit dem "konkreten" Tod des B zum Zeitpunkt t am Ort x endet und nicht mit seinem Tod zu beliebiger Zeit an beliebiger Stelle. Zweitens führt diese "Konkretisierung" des Erfolges dazu, daß nicht nur die zu prüfenden Verhaltensweisen als kausal erfaßt werden, sondern eine Unmenge von vorangegangenen Ereignissen. Jedes Verhalten, das auch nur eine geringfügige zeitliche oder örtliche Verschiebung des Erfolgseintritts bewirkt hat, ist für den konkreten Erfolg als kausal anzusehen. Dieses "Ausufern" der Kausalität nimmt die ganz herrschende Meinung ohne weiteres in Kauf. Um mit den Worten Roxins zu sprechen, "es ist heute weitgehend anerkannt, daß bei Ermittlung des gesetzmäßigen Zusammenhangs auf den Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt unter Einbeziehung aller zu ihm hinführenden Zwischenglieder abzustellen ist (konkretisierende Äquivalenztheorie )',22. Allerdings bedarf der weitgefaßte Ursachenbegriff der Äquivalenztheorie nach der herrschenden Meinung eines haftungsbeschränkenden Korrektivs, wenn es um tät, wie er die hier als Doppelkausalität genannten Fälle bezeichnet, "die Kausalität bezüglich heider Täter abgelehnt werden" muß. "Entgegen der h.M. ist die nirgends näher begründete Zusatzannahme überflüssig. Auch bei fahrlässigem Handeln ist die Ablehnung der Kausalität gerechtfertigt. Daß man hier in bezug auf das jeweilige Erfolgsdelikt zum Freispruch käme. stellt kein kriminal politisch untragbares Ergebnis dar. Der Grund fur die Ablehnung der Kausalität besteht in der mangelnden Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung des Erfolges zu einem der unentwirrbar miteinander verbundenen Kausalbeiträge", a.a.O., S. 74. " BGHSt. 39, 198. ,2 Roxin, Strafrecht. AT'. II /20. S. 30 \.

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1. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

die Frage geht, ob dem Täter ein von ihm verursachter Erfolg als seine Tat zugerechnet werden kann. Umstritten ist aber heute noch, wie und an welcher Stelle im Deliktssystem eine solche Korrektur zu erfolgen hat. Nach der heute insbesondere noch von der Rechtsprechung vertretene Auffassung ergeben sich die notwendigen Beschränkungen erst bei Vorsatz und Fahrlässigkeit. 23 Die im Zivilrecht herrschende, aber auch in Teilen des strafrechtlichen Schrifttums vertretene Adäquanztheorie 24 versucht die Haftungsbegrenzung im Bereich der Kausalität zu erreichen, nach der ein Handeln zur Ursache nur dann wird, wenn es die objektive Möglichkeit eines Erfolges von der Art des eingetretenen generell in nicht unerheblicher Weise erhöht hat. Diese Haftungsbeschränkung versucht auch die sogenannte Relevanztheorie zu erreichen, die bezüglich der Erfolgszurechnung auf die strafrechtliche Relevanz des Kausalgeschehens abstellt. 25 Nach der Lehre der objektiven Zurechnung ist allerdings die Frage der imputatio nicht im Rahmen von Kausalitätsüberlegungen zu beantworten. Ein vom Handelnden verursachter Erfolg sei danach dem objektiven Tatbestand nur dann zuzurechnen, wenn das Verhalten des Täters eine nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckte Gefahr für das Handlungsobjekt geschaffen und diese Gefahr sich auch im konkreten Erfolg verwirklicht hat. 26

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von der Kausalität Wir haben bereits gesehen, daß eine Handlung dem Täter nur dann zugerechnet werden kann, wenn sie kausal für den Erfolg war. Und nach der herrschenden Meinung ist diese Kausalität im Sinne einer notwendigen Bedingung zu verstehen: Wenn es von dem betreffenden Verhalten abgehangen habe, ob der Erfolg eintreten würde oder nicht, braucht man für die Kausalitätsbestimmung keine Angaben mehr zu erhalten, so daß der Erfolg dem Täter zugerechnet werden könne. Die herrschende Meinung versteht die Kausalität der Täterhandlung als eine dynamische, erfolgsverursachende Wirkkraft, welche die zu prüfende Bedingung mit dem Eintreten eines bestimmten Erfolges verbindet, und bejaht die Kausalität der ersten bezüglich dieses Erfolges, falls der letztere eingetreten ist. Dies zeigt sich deutlich bei der Ausscheidung von Ersatzursachen durch die herrschende Lehre: Weil sie den Erfolg nicht bewirkt haben, sind sie aus der Kausalerklärung auszuscheiden; denn ein Hinzudenken derarti2l

24 2'

V gl. BGHSt. 4, 182; 7, 329; 12, 78. Begründet von v. Kries, Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1886), S. 75 ff. Vgl. Blei, AT, § 28 IV, S. 104.

26 Roxin, Pftichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74 (\ 962), 411 ff.; ders., Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, in: Honig-FS, S. 133 ff.; ders., ATJ , 11/39 ff. m.w.N. (\ 1/45,46).

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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ger Reserveursachen, die anstelle der wegzudenkenden Handlung wirksam geworden wären, sei unzulässig, "da ein tatsächlicher Geschehensablauf sein Dasein und seine Wirkung nicht dadurch einbüßt, daß ein anderer an seine Stelle hätte treten können, aber nicht getreten ist"27. Im Folgenden werden wir versuchen, die Existenz dieser Notwendigkeit bzw. dieser besonderen Kraft zu untersuchen; es wird gefragt, ob bei der KausalitätspTÜfung die Verwendung solcher Begriffe wie Kraft oder Energie, welche die kausalen Vorgänge beeinflussen, überhaupt zulässig oder brauchbar ist. Unser Ziel besteht also darin, wenn es überhaupt möglich ist, einen theoretisch bereinigten Ursachenbegriff zu explizIeren.

A. Wissenschaftstheoretische Überlegungen über die Kausalerklärung Bei jeder Abhandlung, ob strafrechtliche oder philosophische etc., die sich mit der Frage der Kausalität befaßt, ist von dem Kausalprinzip die Rede. Dieses lautet: Ex nihilo nihil fit, aus nichts wird nichts, alles hat seinen Grund, seine Ursache. In einer unbezweifelten Selbstverständlichkeit ist das Kausalprinzip Bestandteil der griechischen Mythologie. Bereits die homerische Sprache zeigt, daß die griechischen Helden sich nicht als Ursache ihres HandeIns empfunden haben. Sie fühlen sich von Mächten außerhalb ihrer selbst ergriffen, von den Mächten der Götter. An der griechischen Mythologie wird aber besonders deutlich, daß das Kausalprinzip nicht notwendigerweise Gesetzlichkeit der Verläufe bedeuten muß; nicht zu vergessen ist die Existenz der sogenannten Moiren, d.h. des Schicksals: Die Moiren sind erdhafte, chthonische, impersonale Mächte, der Nacht angehörig, die in der Vorzeit von der hellen Schar der Olympier besiegt worden sind, deren Macht verdrängt, aber nicht erloschen ist. Die griechische Tragödie schildert das Mißlingen der menschlichen Kräfte, das Scheitern am Unabwendbaren. Wenn man in aller Kürze nach den philosophischen Denkern fragt, die im Abendland zuerst den Gedanken der Kausalität zum Ausdruck gebracht haben, so ist es etwa demokrit, der mit hinreichender Deutlichkeit die ausnahmslose Verursachungslehre ankündigt, wenn er sagt, nichts werde ohne irgendeinen Grund, sondern aus Vernunft und Not. 28 Den Kausalitätssatz sieht man weiterhin besonders bei Platon, nach dem alles Geschehende infolge einer Ursache geschehe: "avaYKaiov dvat 1tuv'ta 'tU ytyvollEva ÖtU 'ttva ahiav yiYVEcr8at 29 • Aristoteles hat ferner einen allgemei27 WesseIs, AT, § 6 I 3 (Hervorhebung nicht original); vgl. auch Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 282; s.a. die Nachweise oben § I, Fn. 4. '" Stohaeus, Eclogae, I, 160: " ... ouötv XPT]JlU Jlatl'\V yiYVEtUl, ana 1taVm EK /..OYOU

Kat U1t' avaYKl'\C;." 29

2'

Philehos, 26 E; Timaios, 28, A.

24

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

nen Sinn der Veränderung angegeben, "ä1tuv tO KlVOU~EVOV lmo tlvo

Vgl. etwa WesseIs, AT, § 6 [ 3; Kahlo, a.a.O., S. 282; s. auch die Nachweise oben § I.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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Resultaten der modernen Philosophie und der Wissenschaftstheorie übereinstimmen sollte. 117 Wie wir gesehen haben, ist Ursache im philosophischen Sinne die Gesamtheit der Erfolgsbedingungen, also sämtliche relevante Bedingungen, nicht nur die ändernden, sondern auch die konstanten Bedingungen. "8 Dieser (philosophische) Kausalbegriff sei für die praktischen Bedürfnisse des Strafrechts nicht verwendbar, wie er es Z.B. im Rahmen der Forschungsarbeit der Kriminologie wäre, denn er könne sich wesensmäßig nicht auf den Ausgangspunkt der Kausalität beschränken, der für das Strafrecht allein interessant sei, nämlich auf die konkrete Handlung des Täters; wenn das Strafrecht die Verantwortlichkeit des Täters begründen wolle, "kann es für die Umreißung der diese Verantwortlichkeit bestimmenden Tat nur das Verhalten des Täters selbst zum Ausgangspunkt nehmen" 11 9. Jescheck hat den philosophischen Kausalbegriff mit ähnlicher Begründung zurückgewiesen, indem er geltend gemacht hat, daß in der Philosophie die Ursache einer Wirkung die Gesamtheit der Bedingungen sei, bei deren Vorliegen die Folge jeweils eintreten würde; " ... demgemäß sind (nach dem philosophischen Kausalbegriff) alle Bedingungen, die zusammen die Ursache einer Wirkung bilden, gleich notwendig und gleichwertig, so daß sich eine isolierte Betrachtung einzelner Bedingungen verbietet"l2O, was für die praktischen Bedürfnisse des Strafrechts nicht akzeptiert werden kann. Das trifft aber nicht zu. Denn auch nach der in der Lehrbuch- und Kommentarliteratur herrschenden conditio-Formel sind alle Erfolgsbedingungen gleich; daraus ergibt sich auch der "andere" Name dieser Formel: "Äquivalenztheorie". Geht die herrschende Lehre von der Äquivalenz aller Erfolgsbedingungen aus, um alsdann eine bestimmte Bedingung, nämlich die menschliche Handlung, herauszugreifen und zu prüfen, ob zwischen dieser und dem Erfolg ein Zusammenhang besteht, so gibt es zwischen dem strafrechtlichen Kausalbegr([( und dem philosophischen keinen Unterschied - zumindest im Ausgangspunkt. 121 Würde man selbst auch daran festhalten, daß der Kausalbegriff in Übereinstimmung mit dem Lebenssprachgebrauch zu bestimmen ist, so könnte man offensichtlich aus praktischen Gründen das Argument vorbringen, daß die Alltagssprache und nicht die Wissenschaftstheorie diejenige ist, welche den Ursa117 Diese Frage hat zuerst Engisch, Kausalität, a.a.O., S. 7, eingeführt; vgl. Baumann/WeherlMitsch, AT, § 14, Rn. 6, 7; Maurach/Zipf, AT, Bd. I, § 18 I, Rn. 5, 6. 11< S. oben § 2, A. IIQ Maurach / Zipf, AT, Bd. I, § 18 I, Rn. 5, S. 231. I~O leseheck, AT, S. 222, 223 (Hervorhebungen nicht im Original). 121 Vgl. Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, S. 120, der jedoch die Äquivalenz aller Bedingungen nur für jene Fälle rechtfertigt, in denen viele Personen in unterschiedlicher Form dazu beitragen, daß ein bestimmter Erfolg bewirkt wird. Das ändert aber nichts: Dasselbe gilt auch für den Kausalbegriff im philosophischen Sinne; vgl. auch Röh, Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, S. 54 f.; v. Wright. Explanation and Understanding (= Erklären und Verstehen). S. 45 ff.



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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

chenbegriff bestimmt. Da die Alltagssprache immer nach Realgründen fragte, müsse man auch "konsequenterweise" bei der Prüfung der Kausalität nach solchen Wirkursachen fragen. Es ist aber kein Grund ersichtlich, einen eigenständigen strafrechtlichen Ursachenbegriff aufzustellen. '22 Bei der Bestimmung des strafrechtlichen Ursachenbegriffs müssen auch die Resultate der modemen Philosophie und der Wissenschaftstheorie berücksichtigt werden. Es wäre jedoch besser, den Begriff der Ursache im Lebenssprachgebrauch selbst zu betrachten, um zu prüfen, ob die Behauptung zutrifft, daß die Wirkursache-Terminologie in der Alltagssprache tief verwurzelt sei. Der Begriff der Wirkursache ist auf die causa efficiens von Aristoteles zurückzuführen, der vier verschiedene Bedeutungen des Wortes Ursache dargestellt hatte '23 : Unter einer causae materiali sei der Stoff zu verstehen, aus dem eine Sache bestünde; causa formalis sei die Struktur eines Gegenstandes, causa finalis der Zweck, zu dem eine Sache geschaffen würde und unter einer causae efficienti der Grund einer Entwicklung zu verstehen. Diese causa efficiens "befriedigte" eine Vorstellung, daß es etwas am Anfang gäbe, das durch sein Wirken und seine Kraft (also seine Wirksamkeit) etwas anderes erzeugen würde. Das griechische Wort für Ursache heißt "Aitia"; "Aitia" hat eine normative Bedeutung: Der Satz "Man hat Aitian" heißt, daß einem etwas vorgeworfen wird und der Satz "Man bringt gegen jemanden Aitian vor" heißt, daß man jemandem etwas vorwirft, m.a.W. jemandem etwas zurechnet. Es ist wahr, daß das Wort "Aitia" mit dem ebenfalls griechischen Wort "Arche" eine Verwandtschaft hat. "Arche" heißt der Staat, das Herrschen, das Führen und der Anfang. "Aitia" ist aber mit dem Anfang nicht identisch. Die den Begriff "Aitia" beschreibenden Sätze bilden eine Unterklasse der Klasse der den Begriff "Anfang" bzw. "Arche" beschreibenden Sätze. Nur die "Arche", als Anfang verstanden, ist mit der causae efficienti identisch. Bei der philosophischen sowie bei der naturwissenschaftlichen elc. wie auch bei der strafrechtlichen Kausalitälsprüfung ist aber die "Arche" (= Anfang) von der "Aitia" (= Ursache) zu unterscheiden. die mit der causae efficienti und Termini wie Kraft. Wirkung. Energie elc. nichts zu tun haben muß. 124 Engisch hatte bereits in seiner für den strafrechtlichen Kausalitätsbegriff bahnbrechenden Arbeit '25 betont, daß in der Frage, ob wir in uns selbst das 122 Vgl. Vogel, Nonn und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 149 ff.; a.A. Walder, Die Kausalität im Strafrecht, SchwZStrR 93 (1977), 113, 136 ff.; Baumann I Weher I Mitsch, Strafrecht, AT, S. 2\9.

mAristoteies, Metaphysik, A, 983a, b. Das verkennt aber Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, S. 2 (Fn. 5), der die causa efficiens durch das griechische Wort "Aitia" bestimmt, weil die letztere "eine nahe Verwandtschaft zu Arche" hat. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 12, 1003b 25: 124

"rocrm;p apxii Kai ainov, an' oux ro~ Evi AOYrp ÖTjAOUIll:Va ... ". 125 Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 20 ff.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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Wirken einer Kraft als Ursache psychischer oder physischer Wirkungen erleben, noch nicht das letzte Wort gesprochen ist. Sicher aber sei, daß wir in der räumlichen Außenwelt das Wirken von Kräften und das Hervorgehen von Wirkungen aus Ursachen nicht erleben, sondern allenfalls dergleichen in anderweit festgestellte Kausalzusammenhänge per analogiam hineindeuten könnten: "Da aber die Frage nach dem Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg im Strafrecht überwiegend Vorgänge in der räumlichen Außenwelt betrifft, können wir danach die Begriffe des Wirkens und Verursachens nicht im Sinne einer erlebten Erscheinung verwenden, sondern müssen sie anders bestimmen und zwar so, wie sie uns praktisch die Feststellung der Kausalität ermöglichen."126

Der Vorschlag Engischs bestand darin, den juristischen Kausalbegriff aus dem naturwissenschaftlichen, philosophischen und nichtmetaphysischen (logischen) Ursachenbegriff zu entwickeln. 127 Als Synonymon des nicht metaphysisch verstandenen Verursachungsbegriffs sei der Wirkensbegriff im Sinne einer gesetzmäßigen Folge allenfalls "unschädlich"128. Die Formel der gesetzmäßigen Bedingung Engischs' ist genauso wie die oben dargestellte 129 deduktiv-nomologische Erklärung von Hempel zu verstehen. Es geht um einen intersubjektiv nachprüfbaren und damit metaphysikfreien Kausalbegriff, wie er als "Ziel der modemen Wissenschaftstheorie,,13o bestimmt worden ist. Daraus hat es sich ergeben, daß der strafrechtliche Kausalbegriff im Sinne einer gesetzmäßigen Folge mit dem philosophischen übereinstimmen kann; die Ursache- Wirkungs- Terminologie muß endgültig preisgegeben werden. Es gibt keinen Grund, von einem eigenständigen strafrechtlichen Kausalbegriff zu sprechen. J31 Außerdem ist flir die Zwecke gerade des Strafrechts die Beschränkung des Ursachenbegriffs auf Kräfte u.a. unbrauchbar: Als Begründung der Strafwürdigkeit menschlichen Verhaltens reicht nicht der Verweis auf 126 Engisch, Kausalität, S. 20 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch oben Humes Kritik des Kausalbegriffs. m Engisch, Kausalität, S. 21.

m Engisch, Kausalität, S. 20. 129 S. oben, § 2, A). 130 Vgl. Hilgendorf, Der ,gesetzmäßiger Zusammenhang' im Sinne der modemen Kausallehre, Jura 1995,514,516, nach dem die Entgegensetzung einer philosophischen oder naturwissenschaftlichen Begriffsbildung einerseits und der juristischen Begriffsbildung andererseits auf Mißverständnissen beruht: Mißverständlich ist zu Recht nach Hi/gendor(die Behauptung, der naturwissenschaftliche Kausalitätsbegriff sei empirisch, der juristische Kausalitätsbegriff dagegen nonnativ; in beiden Fällen beruhe die Fassung des Kausalitätsbegriffs auf einer von Wertungen geleiteten Entscheidung der jeweiligen Wissenschaftler. "Der Ausdruck ,nonnativ' macht in diesem Zusammenhang nur dann einen Sinn, wenn man ihn in der Bedeutung von ,wertausflillungsbedürftig' verwendet", Jura 1995, 516 ff. J31 Vgl. Vogel, a.a.O., S. 146, der die Kausalitätsfrage als eine "natürliche Verbindung zwischen Strafrechtsdogmatik und Philosophie oder Wissenschaftstheorie" darstellt.

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eine solche wirkende Kraft aus, sondern erst der Nachweis, daß dieses Verhalten tatsächliche Interessen anderer Menschen, eben "Rechtsgüter", verletzte. m Unglücklicherweise spielen allerdings immer noch metaphysische Begriffe, wie real wirkende Kräfte, Wirkungen etc., im Strafrecht eine protagonistische Rolle: "Daß man zwei Wirklichkeiten ... gedanklich miteinander verbinden kann, erweist ... noch nicht, daß beide wirklich so miteinander zusammenhängen, daß man die eine als realen Grund der anderen verstehen kann ... ,,133 Es bleibt also nur eine Kraft übrig, welche die eine Wirklichkeit mit der anderen verbinden soll. In diesem Sinne ist der strafrechtliche Kausalbegriff wirklich eigenartig; so verstanden hat natürlich letzterer mit dem heutigen naturwissenschaftlichen und philosophischen Kausalbegriff nichts gemeinsam. Obwohl es nunmehr allgemein anerkannt ist, daß der Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg mittels der von Engisch begründeten Formel der gesetzmäßigen Bedingung festzustellen ist 134 , sind die Details dieses "gesetzmäßigen Zusammenhangs" weitgehend ungeklärt. Gelegentlich wird der Ausdruck "gesetzmäßiger Zusammenhang" wie eine Leerformel verwendet, um einen intuitiv vermuteten Kausalzusammenhang ohne nähere Begründung zu behaupten. Die Formel der gesetzmäßigen Bedingung ist allerdings der richtige Ausgangspunkt zur Feststellung der Kausalität, aber sie ist unvollständig. Es bleibt nämlich ungeklärt, welche logische Beziehung mit Hilfe der Kausalgesetze zwischen Einzelursache und Folge hergestellt werden soll. Struensee hat beispielsweise bei der Formulierung seiner Kongruenz zwischen objektivem und ungeschriebenem subjektiven Tatbestand 135 (Sorgfaltswidrigkeit) dem naturgesetzlich definierten Zusammenhang wegen seiner "sinnlosen Weite" jede Berechtigung abgesprochen; der Begriff der Gefahr, die sich im Erfolgseintritt realisiert haben muß, hat jedoch nach der Auffassung von Struensee zum Inhalt "den Ausschnitt von Bedingungen eines Kausalgesetzes, das fur Ereignisse von der Art des tatbestandsmäßigen Erfolgs gilt. Dieser Ausschnitt realisiert sich im eingetretenen Erfolg dann, wenn die weiteren Voraussetzungen gerade desjenigen Kausalgesetzes erfüllt sind, das dem Gefahrbegriff zugrunde liegt"J36. Von welchem Kausalgesetz hier eigentlich die Rede ist, ist aus der Darstellung Struensees nicht nachzuvollziehen. Um was fur eine Bedingung es sich handelt, die zum Begriff der Gefahr gehören soll, ist ebenso kein Diskussionsthema. Der eingetretene Erfolg soll dann normzweckwidrig sein, 132

Vgl. Hassemer. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 22 ff.

Kahlo. Das Problem des PfIichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 311 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, S. 33. 134 S. die Nachweise oben § I. 133

m Struensee, Objektive Zurechnung und Fahrlässigkeit, GA 1987,97 ff. I)~ Struensee, GA 1987, 102.

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"wenn der Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg auf dem Kausalgesetz beruht, das das Urteil über die intolerable Gefahr der vom Handlungsprojekt umfaßten Erfolgsbedingungen trägt und so die Bildung der Sorgfaltsnorm motiviert"137. Die Begriffe "Kausalgesetz" und "Erfolgsbedingungen" haben in diesem Gedankengang eher einen symbolischen Charakter: Es würde nämlich nichts daran ändern, wenn man diese Begriffe aus der obigen Argumentation entzöge. Sie werden nur im Sinne von metaphysischen Wirkmechanismen verwendet: Kausalität ist eine "gesetzliche, d.h. allgemeingültige Relation zwischen zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen (Ursache und Wirkung; sog. generelle Kausalität)"l3R. So ausdrücklich auch Weisser: "Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ... untersucht allein den gegebenen, d.h. real vorhandenen Wirkmechanismus ( ... ) Damit ist auch der Zusammenhang zur Einzeldosis festgestellt: Sie entfaltete eine Wirkung innerhalb der Gesamtursache und wurde damit auch im Verletzungserfolg Tod des Opfers ursächlich." JJ9 Die hinreichende Bedingung, die sich aus den Kausalgesetzen ergibt, ist die Gesamtheit aller Einzelursachen (sog. Gesamtursache), sie kann nicht die gesuchte Einzelursache sein. 140 Es ist damit klar, welche Rolle ein Kausalgesetz bei der Feststellung eines einzelnen Kausalzusammenhangs nach der überwiegenden Meinung spielt: Es ist die Deckung einer bereits getroffenen Entscheidung darüber, daß das Bindeglied zwischen einer besonderen Kraft und dem herbeigeftihrten Erfolg festgestellt worden ist. Wenn aber eine solche Kraft das ist, was die Ursache und ihre Folgen verbindet, woftir braucht man dann eine empirische Gesetzmäßigkeit, um sodann mittels eines Natur- oder Kausalgesetzes oder wie auch immer diese Gesetzmäßigkeit zu nennen ist, den Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg festzustellen? Diesen Kausalzusammenhang will man dank jener Kraft ohnehin festgestellt wissen. Die Formel der gesetzmäßigen Bedingung, wie sie allenfalls von der herrschenden Meinung verwendet wird, läßt sich im Endeffekt als eine Leerformel darstellen; die Tatsache, daß die herrschende Lehre sich bei der Ausschaltung von ErsatzlJ7

13"

Struensee, GA 1987, 102. So Struensee, in: Stree/Wessels-FS, S. 141.

139 Weisser, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, S. 113, 114, 115; vgl. auch Jordan, Rechtmäßiges Alternativverhalten und Fahrlässigkeit, GA 1997, 349 ff., der noch einen Schritt weiter geht und behauptet, Kausalität könne auch von den Naturwissenschaften nicht präziser defniert werden als der bekannte Begriff vom gesetzmäßigen Zusanunenhang zwischen zwei als Anfangs- und Endzustand definierten Sachverhalten; "es fehlt damit nicht nur an einer mathematisch genauen und von Unsicherheiten nicht belasteten, sondern schlechthin an einer Möglichkeit, die einer (normativen) Gewichtung der Beiträge zum Kausalgeschehen zugrundeliegenden objektiven Tatsachen gedanklich zu erschließen", GA 1997, 359. 140 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 865 ff.; dies., Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgründe", in: Spendel-FS, S. 451,458 f.; zust. Hilgendor:{, Der ,gesetzmäßige Zusammenhang' im Sinne der modemen Kausallehre, Jura 1995,514,517.

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ursachen auf die Kraft beruft, die "wirklich gewirkt hat", macht die Formel der gesetzmäßigen Bedingung nur deshalb brauchbar, weil man in praxi eine metaphysische Kraft bei der Kausalerklärung nicht darstellen kann. Die Gesetze sollen daher nach der überwiegenden Meinung diese Rolle spielen. Puppe hat die Art, auf der die Formel der gesetzmäßigen Bedingung von der herrschenden Lehre gebraucht wird, erkannt und wie folgend dargestellt: "Was die Ursache mit ihrer Folge (nach der wohl noch herrschenden Meinung) im Einzelfall verbindet, ist eine Wirkung, eine Kraft, ein Agens, das wir unmittelbar nicht wahrnehmen können. Wir sind aber in der glücklichen Lage, das Wirken dieser Kräfte trotzdem feststellen zu können, weil die Kräfte belieben, sich stets nach allgemeinen strikten Gesetzen zu richten. Sind die Antezedensbedingungen eines solchen Gesetzes erfüllt und die von ihm vorgesehenen Folgen eingetreten, so waren eben die von den Antecedensbedingungen ausgehenden Kräfte am Werk und haben die Folge hervorgebracht. Das Wirken dieser Kräfte ist der Kausalzusammenhang zwischen Ursache und Folge im Einzelfall. Er kann auch ohne Angabe von Kausalgesetzen beschrieben werden"'4'. Beispielhaft gesprochen: Bei einer röntgenologischen Untersuchung hatte der behandelnde Arzt statt des üblichen Kontrastmittels Abrodil das absolut ungebräuchliche Urografin benutzt, und der Patient starb infolge des Eingriffs. Der Sachverständige konnte jedoch mangels experimenteller Erfahrung mit Urografin keine Aussage über die Gefährlichkeit des kunstwidrig verabfolgten Mittels bei diesem Patienten machen.'42 Nun: Es ist zu diesem Fall etwa bei Krümpelmann zu lesen: "Sollte wirklich ein Täter, ... weil er besonders abnorm vorgeht und ein völlig unberechenbares Risiko schafft, den Freispruch verdienen?"'4] Diese Frage richtet sich gewissermaßen auf das intutitive Gefühl ihres Empfängers, mit dem Zweck, dem "bösen Arzt" den unglücklichen Verlauf zuschreiben zu können. Das ist aber nicht so einfach. Die kausale Verknüpfung setzt das Bestehen und die Formulierung von Kausalzusammenhängen voraus. Man pflegt aber bei der Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg von einer empirischen Gesetzmäßigkeit, von einem Kausalgesetz, zu sprechen, ohne dieses Kausalgesetz verwenden zu können. Nach der Auffassung Erbs können wir beispielsweise von "Kausalität" in einem konkreten Einzelfall dann sprechen, wenn zwischen bestimmten Ereignissen ein naturgesetzlicher Zusammenhang besteht.'44 Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung Engischs kann nach Erb bei der Begründung von juri141 Puppe, ,Naturgesetze' vor Gericht, JZ 1994, 1147, 1148; vgl. auch dies., Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (\ 980), 863. 895 ff.; dies., Kausalität, SchwZStrR 103 (1990),141 ff. 142 S. den Fall bei von Brandis / Prihi/la, Arzt und Kunstfehler, S. 38 f. (Fall 63). 14] Krümpelmann, Zur Kritik der Lehre vom Risikovergleich bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten, GA 1984,491 (502). 144 Erh, Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994.449,452.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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stischen Entscheidungen über die Annahme eines Kausalzusammenhangs gut verwendet werden, da sie eine genaue Beschreibung dessen gibt, was wir als "Kausalität" empfinden: "Die Verwendung des Begriffs ,Bedingung' bei der Bezeichnung von Engischs Formel ist allerdings geeignet, Verwirrung zu stiften, weil sie in untechnischer und damit mißverständlicher Weise erfolgt: Mit ,Bedingung' ist hier die ,Einzel ursache für einen bestimmten Erfolg nach Naturgesetzen' gemeint und gerade nicht mehr die Komponente eines in der Form eines logischen Schlusses formulierten (und zur Erfassung der Kausalität ungeeigneten) ,Bedingungsverhältnisses' (,immer wenn a dann b' bzw. ,nur wenn a - dann b'). Zur Vermeidung von Mißverständnissen wäre es wohl besser, von ,Bedingungen' nur im letztgenannten, engeren Sinn ... zu sprechen"145.

Aber wie kann die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung Engischs "gut verwendet werden", wenn die Einzelursache nicht nach Naturgesetzen festzustellen ist? Es bleibt allerdings noch ungeklärt, was unter diesem Bedingungsverhältnis nach Erb zu verstehen ist. Außerdem werden in der alltäglichen Praxis allgemeine empirische Gesetze nicht einmal ausdrücklich in den Urteilsgründen erwähnt. 146 Was in diesem Zusammenhang dann noch der Ausdruck "gesetzmäßig" soll, ist unklar. Denn es wird von einer Bedingung schlechthin gesprochen, ohne näher zu erläutern, um was für eine Bedingung es geht; es gibt hinreichende oder (und) notwendige Bedingungen. Eine Bedingung schlechthin gibt es aber im Sinne einer logischen Abhängigkeit nicht. Wir haben an einer früheren Stelle l47 versucht darzutun, daß die Vorstellung vom Kausalzusammenhang als eine Kraftentfaltung in der Philosophie und Wissenschaftstheorie längst aufgegeben worden ist. Denn es verbindet sich mit Ausdrücken wie Kraft, Wirkung etc. kein klarer Sinn. Wenn man behauptet, daß A Ursache von E ist, heißt das vielmehr soviel wie zu sagen, daß allgemeine Gesetze existieren, die zusammen mit einer genauen Beschreibung von A die logische Ableitung einer Beschreibung von E gestatten. In der Lehrbuchund Kommentarliteratur wird zwar meistens von "Naturgesetzen" gesprochen, welche die Grundlage für die Feststellung des Kausalzusammenhangs bilden sollen, ohne jedoch diesen Gesetzestypus näher zu erläutern. 148 Es ist also nicht nur die Ursache-Wirkungs-Terminologie, die noch nicht preisgegeben worden ist. Trotz der Tatsache, daß Kausalität nach ganz herrschender Meinung im Schrifttum das Bestehen eines gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen der Täterhandlung und dem Erfolg voraussetzt und daß die 14;

Erh, JuS 1994,449,452 (Fn. 24).

'" Vgl. Puppe, JZ 1994, 1147. 147 § 2, A. 14' Vgl. Sch/Sch-Lenckner, Vorb. zu §§ 13, Rn. 75; SK-Rudolphi, Vor § I, Rn. 41; Jescheck, AT, § 28 11 4; Roxin, AT, § 11, Rn. 14; Jakohs, AT, 7 I 12, der von einer allgemeinen oder sachverständigen Erfahrung spricht.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Fonnel von der gesetzmäßigen Bedingung der Conditio-Fonnel überlegen sei, ist die letztere merkwürdigerweise noch "aktiv dienend". Man spricht manchmal von einer Abstützung der Conditio-Fonnel auf der empirischen Ebene durch die der gesetzmäßigen Bedingung; wie anders ist beispielsweise das Zitat Walders zu verstehen: "Der Ursachenzusammenhang ist kein bloßer Bedingungszusammenhang, etwa im Sinne der Fonnel ,Ein Ereignis ist dann Ursache eines andern, wenn es dessen Condicio sine qua non darsteIlt' . Ob es diese Condicio (sine qua non?) sei, weiss man nämlich nicht apriori, sondern nur durch Erfahrung."'49 Und an einer anderen SteIle schreibt Walder: " ... Dennoch ist die Condicio-sine-qua-non-Fonnel nützlich. Sie erlaubt bis zu einem gewissen Grad zu testen, ob die im konkreten FaIl aufgrund eines Naturgesetzes oder einer aIlgemeinen Erfahrung gefundene oder vennutete Kausalität ,gespielt' habe.,,'50 Diese Argumentation ist aber nicht mit der Begründung eines irrealen Konditionalsatzes durch Naturgesetze zu verwechseln. Denn im letzteren FaIl handelt es sich um irreale Konditionalsätze, die nicht notwendige, sondern hinreichende Bedingungen ergeben. 151 Die kausale Erklärung kann auch als irrealer Konditionalsatz ausgedrückt werden, der so lauten würde: "Wenn die Antezedensbedingungen gegeben wären, wäre der Erfolg eingetreten". Die ConditioFonnel setzt jedoch das Bestehen einer notwendigen Bedingung voraus, die durch den Satz ausgedrückt wird: "Nur wenn H gegeben ist, dann tritt E ein." Nach der Fonnel der gesetzmäßigen Bedingung ist eine Handlung H kausal für einen Erfolg E, wenn sich nach unserem Erfahrungswissen eine Gesetzmäßigkeit zwischen dem Auftreten von H und dem Auftreten von E annehmen läßt. Die Gesetzmäßigkeit läßt sich etwa als "immer wenn H, dann E" fonnulieren. Wie man von einer solchen Gesetzmäßigkeit im Sinne einer hinreichenden Bedingung zu einer notwendigen Bedingung von der Art "Nur wenn H, dann E" gelangen kann, ist aber entgegen Walder nicht zu verstehen. Für eine Abstützung der Conditio-Fonnel auf der empirischen Ebene durch Naturgesetze spricht auch Toepel, der aber diese nur für jene FäIle verlangt, in denen sich die Ennittlung des Kausalzusammenhangs zwischen Verhalten und Erfolg sehr schwierig gestaltet l52 ; bei den einfacheren FäIlen würde die Bejahung der Kausalität mittels der Conditio-Fonnel ohne die argumentative Abstützung durch Naturgesetze genügen. Bei einer Bestrafung wegen Körperverletzung des A beispielsweise, der dem B mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat, könne ohne Physikkenntnisse die Bejahung der Kausalität nicht anzuzweifeln sein, weil sie auf die Erfahrung von ähnlichen Situationen gestützt werden könne, in denen Ereignistypen wie der Faustschlag nicht stattgefunden hätten. 149 150 151

Walder, SchwZStrR 93 (1977), S. 113, 124. WaldeI., SchwZStrR 93 (1977), 113, 138. S. oben § 2, B.

15~ Toepel. Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusamrnenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt. S. 53 ff.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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In Fällen, in denen die Bejahung der Kausalität auf die Erfahrung von ähnlichen Situationen nicht - oder nicht befriedigend - gestützt werden könne, müsse die Conditio-Fonnel durch Naturgesetze ergänzt werden. Diese Auffassung ist abzulehnen. Denn sie verspricht zunächst kein sicheres Unterscheidungskriterium zwischen "schwierigen" und "einfachen" Fällen. I 5.1 Außerdem kann sie auf psychologische und intuitiv begründete Hypothesen hinauslaufen: Nur wenn wir aufgrund unserer Erfahrungsdaten an ähnliche "einfache" Situationen "erinnern können"ls4, in denen Ereignisse wie das zu prüfende stattgefunden haben, wären wir imstande, den Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg problemlos und ohne die Stützung auf Naturgesetze zu bejahen. Nach diesem Verfahren ist die Feststellung der Kausalität kein Fall rationalen Schließens, sondern bloß das Ergebnis einer gewohnheitsmäßigen Erwartung. Nach einer solchen gewohnheitsmäßigen Erwartung kann man aber ohne allgemeine empirische Gesetze nicht von hinreichenden oder notwendigen Bedingungen sprechen, sondern nur von Wiederholungen. Eine solche willkürliche Unterscheidung zwischen schwierigen und einfachen Fällen ist daher abzulehnen. 15s Die Erkenntnis. daß man nur anhand von empirischen Gesetzen von einem Kausalzusammenhang im Sinne einer hinreichenden oder notwendigen Bedingung sprechen kann. hat sich heute endlich durchgesetzt. 156 Es entspricht zugleich der allgemeinen Ansicht, daß die Conditio-Fonnel allenfalls henneneutischen, nicht jedoch definitorischen Wert hat, weil das Ergebnis, das beim Wegdenken der Bedingung eintritt, nur dann ennittelt werden kann, wenn vorab gewußt wird, ob die Bedingung kausal ist: Das Definiendum tritt im Definiens auf; solche zirkuläre Definitionen sind aber strikt verboten. 157 Jakobs fonnuliert es so: "Die Fonnel ist überflüssig, weil sie nicht einmal eine Definition, noch weniger eine Fonnel zur Ennittlung von Kausalität ist; denn das Resultat, das sich beim Wegdenken der Bedingung ergibt, kann nur ennittelt werden, wenn man schon vorab weiß, ob die Bedingung kausal ist."15R Es ist nämlich in der Strafrechtswissenschaft heute allgemein anerkannt, daß die Conditio-Fonnel die Kenntnis der Kausalgesetze nicht ersetzen kann. Nach I~) Toepel hat diese Unterscheidung zwischen schwierigen und einfachen Fällen von Makkie, The Cement of the Universe, S. 77 f. übernommen, der jedoch diese Unterscheidung nicht mit dem Ziel gemacht hat, nur bei schwierigen Fällen Kausalgesetze anzuwenden. 1~4 Toepel, a.a.O., S. 57.

I" ZU dieser Kritik zust. Namias, Die Zurechnung von Folgeschäden im Strafrecht, S. 44, Fn 69 (a.E.). 1~6 Vgl. Puppe, Anmerkung zu BGH, Urteil v. 2.8.1995 - 2 StR 221194, JZ 1996,318 (Fn. 2). 157

Herberger / Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, S. 332 f.

Jakobs, AT, 7/9; vgl. auch SK-Rudolphi, Vor § I, Rn. 40; Jescheck, AT, § 28 II 4; Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 865 ff.; dies., SchwZStrR 107 (1990), S. 141; Roxin, AT, § 11. Rn. 11, 12. I~K

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Puppe ist diese Fonnel nicht nur ohne empirischen Aussagegehalt, ihr eigentlicher Kardinalfehler besteht darin, daß sie in ihrem logischen Aussagegehalt falsch ist, weil sie das Bedingungsverhäl~nis zwischen Einzelursache und Folge nicht korrekt bestimmt, indem sie es als eine notwendige Bedingung beschreibt. 159 Während das Erfordernis einer notwendigen Bedingung (nur wenn e, dann v) als Kausalitätsbestimmung den Vorteil habe, daß das Verhalten von vornherein von den übrigen Antezedensbedingungen isoliert werden könne, erweise es sich aber als zu stark, es enthalte mehr, als wir als Mindestvoraussetzung für die objektive Zurechnung zu akzeptieren bereit seien: "Es fuhrt vor allem dazu, daß die Existenz von Ersatzursachen die Kausalität ausschließt,,16o. Dies zeige sich deutlich in den Fällen der überholenden oder kumulativen Kausalität l61 : Handeln Bund C beispielsweise unabhängig voneinander und hat auch bei Abgabe des Schusses durch C das von B gegebene Gift noch nicht gewirkt (überholende Kausalität), so liegt in der Konsequenz der Conditio-Formel, daß die Kausalität eines jeden Täters verneint werden müßte, weil der jeweils andere Täter denselben Erfolg herbeigeführt hätte. Dasselbe gilt, wenn A und B unabhängig voneinander dem C Gift geben (kumulative Kausalität). Toepel verteidigt die Conditio-Fonnel und damit das Erfordernis einer notwendigen Bedingung l62 , indem er ein Beispiel Mackies l63 geltend macht, um die Trivialität der hinreichenden Bedingungen zu zeigen: Eine Kastanie liegt auf einer he!ßen Eisenplatte. Jemand will die Kastanie mit einem Hammer zerschlagen. In dem Augenblick. als der Hammer die Kastanie berührt. zerplatzt diese. Die mangelnde Kausalität des Hammerschlages läßt sich schwer mit dem Hinweis erklären, der Hammerschlag sei unter den konkreten Umständen nicht hinreichend gewesen, um die Kastanie zerplatzen zu lassen. In einem trivialen Sinne ist bereits dieses Ereignis unter den konkreten Umständen für den Erfolg hinreichend. "Damit ist allerdings noch nicht die endgültige Entscheidung gegen die Ursache als hinreichende Bedingung gefallen"I64. Außer einem trivialen Sinn von "hinreichend" kann man nach Toepel auch einen "starken" Sinn von "hinreichend" verwenden. Im Anschluß an Richard Wright bezeichnet Toepel eine Bedingung dann als im starken Sinne hinreichend, wenn sie unter den gegebenen Umständen not159 Puppe. ZStW 92 (1980), 863, 865 ff.; dies .. SchwZStrR 107 (1990), 141 ff.; dies .. Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 88; dies .. JZ 1994,1147,1148. 11>0

Puppe. ZStW 92 (1980), 863, 868 (Hervorhebung nicht im Original).

161

S. wie die herrschende Lehre mit dieser Formel in solchen Fallen operiert, oben § I.

Toepel. Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusamrnenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 58 ff. 16) Mackie. The Cement of the Uni verse, S. 39. 162

164

Toepel. a.a.O., S. 60.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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wendig war, um eine Menge konkret gegebener Voraussetzungen zu einer hinreichenden Bedingung zu vervollständigen (sog. "NESS-Test", NESS=necessary element of a sufficient set).165 Bisher ist die Darstellung Toepels verständlich. Nicht zu verstehen ist jedoch die Behauptung, der NESS-Test könne als "Alternative zur condicio sine qua non" genannt werden: "Auch der NESS-Test kann durch einen kontra faktischen Konditionalsatz ausgedrückt werden. Es handelt sich um die genaue Umkehrung des die condicio-Formel vertretenden Konditionalsatzes: Wenn nicht der Erfolg Y stattgefunden hätte, dann auch nicht die Ursache X"I~6.

Die Behauptung, auch der NESS-Test könne durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz ausgedrückt werden, ist zwar richtig '67 , aber die Frage ist nicht, ob der NESS-Test durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz überhaupt ausgedrückt werden kann, sondern wie dieser kontrafaktische Konditionalsatz, der ein "necessary element of a sufficient set" beschreiben soll, formuliert werden muß. Durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz kann alles ausgedrückt werden; man kann eine hinreichende oder (und) eine notwendige Bedingung durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz ausdrücken. Die Formulierung des jeweiligen Konditionalsatzes variiert jedoch, je nachdem, was man beschreiben will, also eine hinreichende Bedingung etc. Der kontrafaktische Konditionalsatz, wodurch nach Toepel ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung ausgedrückt werden soll, ist falsch formuliert. Denn der Satz: "Wenn nicht der Erfolg Y stattgefunden hätte, dann auch nicht die Ursache X" ist zwar "die genaue Umkehrung des die conditio-Formel vertretenden Konditionalsatzes" 168, aber er hat mit der genauen Formulierung des NESS-Tests Wrights durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz nichts zu tun. Im folgenden stellen wir den NESS-Test dar, wie ihn Wright selbst beschrieben hat.

D. Der "NESS"-Test Richard Wrights Nach Wright kann der NESS-Test als ein Test von "Notwendigkeit im schwachen Sinne" oder als ein Test einer "im starken Sinne hinreichenden Bedingung" bezeichnet werden. Die "Stärke" der notwendigen oder hinreichenden Bedingungen kann danach wie folgt dargestellt werden: Das Erfordernis einer strikt notwendigen Bedingung bedeutet, daß Q generell notwendig für das Eintreten von Rist. 165 Vgl. Wright, Causation, Responsibility, Risk, Probability, Naked Statistics, and Proof: Pruning the Bramble Bush by Clarifying the Concepts, lewa Law Review 73 (1988), 100 I, 1020. 166 Toepel, a.a.O., S. 61. 167 16K

Vgl. Mackie, a.a.O., S. 39; Wright, lewa Law Review 73 (1988),1001,1020 (Fn. 108). Toepel, a.a.O., S. 61.

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Eine "im starken Sinne" notwendige Bedingung bedeutet andererseits, daß im Einzelfall Q notwendig flir das Eintreten von R ist, wenn man auch die im Einzelfall existierenden Umstände berücksichtigt. Und eine "im schwachen Sinne" notwendige Bedingung erfordert nur, daß Q ein notwendiges Element eines "Sets von aktuellen Bedingungen" ist, die hinreichend flir das Eintreten von Rist (NESS-Test). Eine strikt hinreichende Bedingung bedeutet, daß Q selbst hinreichend für die Herbeiflihrung von Rist. Eine "im starken Sinne" hinreichende Bedingung erfordert, daß Q ein notwendiges Element "eines Sets von Bedingungen", die hinreichend fur das Eintreten von R sind (NESS-Test). Und eine "im schwachen Sinne" hinreichende Bedingung erfordert nur, daß Q einfach Bestandteil "eines Sets von Bedingungen" ist, die hinreichend flir das Eintreten von R sind. Das Erfordernis einer strikt notwendigen oder einer strikt hinreichenden Bedingung ist nach Wright zu stark. Im Gegensatz zum Erfordernis einer strikt notwendigen Bedingung können einen Erfolg, z.B. den Tod eines Menschen, mehr als eine Bedingung herbeiflihren. Im Gegensatz zum Erfordernis einer strikt hinreichenden Bedingung kann nicht so einfach eine Bedingung als solche hinreichend flir das Eintreten eines Erfolges sein. Das Erfordernis einer "im schwachen Sinne" hinreichenden Bedingung ist andererseits zu schwach: Diese Voraussetzung kann von jeder Bedingung dadurch erflillt werden, daß man einem Set von hinreichenden Bedingungen eine beliebige andere Bedingung hinzufligt. Damit bleibt die Prüfung einer "im starken Sinne" notwendigen Bedingung auf der einen Seite und des Erfordernisses einer "im schwachen Sinne" notwendigen oder "im starken Sinne" hinreichenden Bedingung (NESS-Test) andererseits übrig. Das Erfordernis einer im starken Sinne notwendigen Bedingung, in kontrafaktischer Form ausgedrückt, ist nach Wright das in commonsense bekannte "but-for"-Test ( = conditio-sine-qua-non-Formel). Nach dem "but-for"-Test ist eine Bedingung Ursache des Erfolges, wenn und nur wenn, denkt man die Bedingung hinweg, der Erfolg unter Berücksichtigung der im Einzelfall existierenden Umstände nicht eingetreten wäre. Nach dem NESS-Test ist eine Bedingung Ursache des Erfolges, wenn sie notwendig daflir ist, daß ein Set von aktuellen Bedingungen als hinreichend bezeichnet werden kann; diese Bedingung ist also Ursache des Erfolges. selbst wenn sie - wegen des Vorliegens anderer aktueller oder hypothetischer hinreichender Sets - nicht notwendig flir den Erfolg ist.

§ 2 Zu einer Bereinigung unserer Vorstellung von Kausalität

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Der NESS- und der "but-for"-Test würden sich in dem Falle decken, daß im Einzelfall nur ein Set von Bedingungen vorliegen würde, das tatsächlich oder hypothetisch hinreichend fur das Eintreten des Erfolges wäre. Diese Formulierung Wrights hat auch Toepel den Anlaß dafur gegeben, daß letzterer den NESS-Test als Alternative zur Conditio-Formel bezeichnet; Wright hat jedoch nie den NESS-Test als Alternative zum "but-for"-Test dargestellt. Das NESSTest ist inhaltsreicher als der "but-for"-Test. An dieser Stelle wollen wir die Worte Wrights zitieren: "If R (result) had not occurred, then there could not have been any set of actuall conditions sufficient for the occurrence of R. If Q was a necessary element of a some sufficient set of actuall conditions, then, given the other circumstances that existed on the particular occasion - including the other elements of the sufficient set - Q could not have occurred. If on the other hand Q was not a necessary element of any actually sufficient set, its occurrence had no effect on R. So had R not occurred, Q still could have occurred. In sum, this reverse but-for test (strong sufficiency test in a counterfactuall form) has no independent utility, but rather, when properly applied, reduces to the NESS test."1~9 Wäre der Erfolg nicht eingetreten, so wäre auch keine Klasse von Tatsachen gegeben, die jeweils eine hinreichende Bedingung fur den Erfolg bildet; so wird also nach Wright der NESS-Test durch einen kontrafaktischen Konditionalsatz ausgedrückt, der hinreichende Bedingungen fur den Erfolgseintritt beschreibt. 170 Der Satz "Wenn nicht der Erfolg Y stattgefunden hätte, dann auch nicht die Ursache X" beschreibt aber eine notwendige Bedingung im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel. Diese Umkehrung des die Conditio-Formel vertretenden Konditionalsatzes, die mit der Inus-Bedingung Mackies oder sogar dem NESS-Test Wrights nichts zu tun hat, erlaubt einen Schluß vom Erfolg auf die Bedingung: Wenn nicht der Erfolg Y stattgefunden hätte, dann auch nicht die Ursache X; nur das brauchen wir zu erfahren, ob nämlich der Erfolg Y stattgefunden hat, um alsdann die Ursache zu finden. Der Erfolg Y ist nur deshalb eingetreten, weil die Ursache X stattgefunden hat. Einen solchen Schluß vom E~rolg auf die Bedingung erlauben nur Sätze. die notwendige Bedingungen beschreiben. 171 Die notwendigen Bedingungen sind zwar als Grundvoraussetzung der objektiven Zurechnung die "ideale Wetterlage" fur eine Kausallehre, die Ersatzursachen einfach ignoriert. Das Erfordernis einer notwendigen Bedingung fuhrt aber dazu, daß immer die Existenz von Ersatzursachen die Kausalität ausschließt. Es sieht daher so aus, daß man entgegen Toepel den NESS-Test nicht "ohne Schaden,,172 durch die Conditio-Formel ersetzen kann. Iowa Law Review 73 (1988), 100 I, 1020 (Fn. 108). Vgl. auch oben 2, B. Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 868. Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt,

1~9 Wright, 170 17\

m

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Damit man Ersatzursachen aus der Kausalerklärung ausscheiden kann, muß man, wie wir gesehen haben 17J, nach der noch herrschenden Lehre die Conditio-Formel durch die unentbehrliche theoretische Konstruktion des Erfolges in seiner konkreten Gestalt abstützen. Dies soll im folgenden Kapitel behandelt werden.

§ 3 Die Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner "ganz" konkreten Gestalt für die bisherige Ursachenermittlung im Strafrecht A. Der Gedanke der Erfolgskonkretisierung Wir haben bereits bei der Darstellung der in der strafrechtlichen Kausalitätsliteratur herrschenden Äquivalenztheorie gesehen l7\ daß es für die Beantwortung der Frage, ob ein Erfolg auch ohne ein bestimmtes Verhalten eingetreten wäre, eine wichtige Rolle spielt, wie wir den Erfolg selbst, mit Bezug auf den die Erfolgsverursachungsfrage geprüft werden soll, ansetzen. Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt ist rur die Conditio-Formel ein rettendes Rüstzeug, weil auf diese Weise der größte Teil der Ersatzursachen ausgeschieden werden kann. Wir wollen dies mit den Worten eines der Anhänger der herrschenden Meinung darstellen: "Würde man nicht auf den konkreten Erfolg abstellen, so könnte sich jeder Mörder damit entlasten, daß sein Opfer eines Tages sicher auch so gestorben wäre."l75 In Anlehnung an Müllers 176 Darlegungen hatte Engisch diesen Gedanken der Erfolgskonkretisierung als nötig für die Kausalerklärung gefördert. Man müsse nach der Ursächlichkeit des Verhaltens rur den konkreten - zu dieser Zeit, in dieser Art und Weise eingetretenen - Erfolg fragen, "und im übrigen (sind) nur die konkreten Tatsachen, deren Bedingtsein zu ermitteln ist, auszuwählen und abzugrenzen unter Hinblick auf die juristischen Erfolgskategorien des Todes, der Sachbeschädigung usw. ... Maßgebend ist stets die konkrete Tatsache, in welcher der Erfolgstypus des in Frage kommenden rechtswirksamen Tatbestandes in dem zu beurteilenden Geschehen verwirklicht ist."177 Diese konkrete BeS. 61, nach dem endlich die Conditio-Formel gegenüber dem NESS-Test entscheidende Vorteile hat. 17JS.oben§ I,S.17f. 174S.oben§ I,S.17f. m Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, AT 'o , § 14, Rn. 13, S. 220. 17. Müller, Die Bedeutung des Kausalzusammenhanges im Straf- und Schadensersatzrecht, S. 10 ff.; von einer konkreten Bestimmung des Erfolges hatte früher auch v. Liszt (Lehrbuch des Deutschen Strafrechts2., S. 157 ff.) gesprochen. 177 Engisch, Kausalität, S. 11.

§ 3 Die Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner "ganz" konkreten Gestalt

65

stimmung des Erfolges hatte Engisch der - auch damals nicht unbestrittenen sogenannten abstrahierenden Erfolgsauffassung gegenübergestellt. Nach dieser Auffassung wären die Verhaltensweisen nur darauf zu untersuchen, ob im Falle ihres Wegdenkens der Erfolg für die juristische Wertung ein anderer würde. Man müßte von gewissen Elementen eines konkreten Erfolges abstrahieren, die angesichts der betreffenden juristischen Erfolgskategorie (Tod, Körperverletzung, Sachbeschädigung usw.) irrelevant seien. 178 Engisch hatte zugleich verschiedene Beispiele vorgebracht, welche die Komplexität der Lehre des Erfolges in seiner konkreten Gestalt zeigen: (a) A sieht, daß B von hinten kommend zum tödlichen Schlag gegen C ausholt. Er warnt den C durch einen Ruf, was zur Folge hat, daß C sich umdreht und den Schlag, der ihm den Schädel zerschmettert, statt von hinten seitlich empfangt. (b) Wenn A eine Vase bemalt, die dann B herunterwirft, so daß sie in Stükke springt, hat hier nicht auch A eine conditio sine qua non zu dem Erfolg gesetzt, da statt unbemalter bemalte Scherben am Boden liegen? (c) Wenn A bei einer Überschwemmung den Inhalt eines Wassertrogs in die aus dem Damm hervorbrechenden Fluten auslaufen läßt, so daß sich die Wirkung um einen minimalen Bruchteil vergrößert, soll man auch A als kausal für die Überschwemmung ansehen? 179 Auf Grund einer abstrahierenden Erfolgsbetrachtung muß man in diesen Beispielen annehmen, daß A keine conditio sine qua non gesetzt hat, weil der Erfolg unter den Wertungsgesichtspunkten der entsprechenden Tatbestände in juristisch gleich erheblicher Weise ohne das Verhalten des A eingetreten wäre. Nach dieser Erfolgsbetrachtung soll nach Engisch als Notbehelf auch nur der Wille des Täters mit einbezogen werden, damit der Erfolg zugerechnet wird oder nicht. IRo Dies hat Engisch im Beispiel (a) gezeigt: Falls A den C ablenken wollte, dann handelte es sich um eine vorsätzliche Unterstützung der Tat und man wird selbst die geringfügigste Veränderung des Erfolges genügen lassen müssen, um in der Beihilfehandlung eine conditio sine qua non zu erblicken. IRI Wenn A den C nur warnen wollte, dann sei er nicht kausal für den Tod des C gewesen, weil letzterer ohne das Verhalten des A ebenso eingetreten wäre. Eine solche Abstraktion verschärft das Problem der Elimination von Ersatzursachen: Durch Beseitigung von zunächst vorgegebenen Bestimmungselementen des Erfolges erhöht diese Abstraktion die Zahl möglicher Ersatzursachen; deshalb wird man sie als unzweckmäßig verwerfen müssen. l7X

179

IHO

Vgl. Traeger, Der Kausabegriff im Straf- und Zivilrecht, S. 41. Engisch, Kausalität, S. 9, 10; das Beispiel (cl stammt von Traeger, a.a.O., S. 41. Engisch, Kausalität, S. 10 f.

I" Vgl. auch Traeger, a.a.O., S. 47. 5 Sofos

66

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Nach Engisch, der zusammen mit Müller als Repräsentant der konkreten Erfolgsbetrachtung genommen werden darf, sei vielmehr zu untersuchen, ob im Fall (a) der seitliche Schlag auf den Schädel des C, in dem sich die Tötung verwirklichte, auch durch den Ruf des A bedingt ist, und diese Frage sei uneingeschränkt zu bejahen; denn A habe den konkreten Erfolg, also den Tod des C, durch einen seitlichen Schlag bedingt, "einerlei, ob A mit seinem Ruf warnen oder ablenken wollte"IR2; ohne sein Verhalten hätte der Schlag das Opfer am Hinterkopf getroffen. Im Fall (b) hingegen gehörte das Bemaltsein der Vase nicht zu dem gemäß dem gesetzlichen Tatbestand der Sachbeschädigung abgegrenzten konkreten Erfolg; ebensowenig sei die winzige Wassermenge im Fall (c) "für menschlich natürliche Betrachtung ein Bestandteil des Sachverhalts, den wir als Überschwemmung bezeichnen, wie ein auf den Fluten schwimmender Kork"18J. Es ist eine Tatsache, daß bei einem hypothetischen Eliminationsverfahren die konkrete gegenüber einer abstrahierenden Erfolgsbetrachtung den Vorzug verdient: Letztere kann Ersatzursachen aus der Kausalerklärung nicht ausschalten. Dies war auch der Ausgangspunkt Engischs. Denn je bestimmter der Erfolg beschrieben ist, um so weniger Ersatzursachen kommen in Betracht. Das ist heute ein unzweifelhaftes Ergebnis. Dieses Ergebnis kann aber auch so ausgedrückt werden: Je beschreibbarer der Erfolg ist, desto weniger Ersatzursachen kommen in Betracht. Das Wort "beschreibbar" ist ein Prädikat der Metasprache und ergibt eine Disposition; es ist mit anderen Worten ein Dispositionsausdruck. Mit einem Dispositionsausdruck spricht man nur davon, was geschehen kann, und nicht, daß etwas Bestimmtes tatsächlich mit dem betreffenden Gegenstand geschieht. Das Besondere an den Dispositionsprädikaten ist also, daß sie auf Gegenstände im Hinblick auf mögliche und nicht wirkliche Ereignisse angewendet werden und mögliche Ereignisse sind ebensowenig als unerklärte Elemente zulässig wie verborgene Fähigkeiten. IR4 Bei einer aufmerksamen Betrachtung des Satzes "Je bestimmter ein Erfolg beschrieben ist, um so weniger Ersatzursachen kommen in Betracht" sieht man, daß sich zwei grundlegende Fragen ergeben: Erstens, wie kann man einen Erfolg vollständig beschreiben und mit welchen Kriterien wählen wir die Elemente, die diesen Erfolg beschreiben, m.a. W. was gehört zu dem Erfolg in seiner konkreten Gestalt? Das zweite Problem ist der zunächst von Engisch lg5 und später von PuppeiR!> dargestellte Zirkularitätsvorwurf gegen die Lehre der Erfolgsbeschreibung, welIx2

Engisch, Kausalität, S. 11.

Ix)

Engisch, Kausalität, S. 12.

1'4

Vgl. Goodman, Fact, Fiction, and Forecast (= Tatsache, Fiktion, Voraussage), S. 62.

I';

Engisch, Kausalität, S. 16.

I'" Zuerst in: Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863,

872 ff.

§ 3 Die Maßgeblichkeit des Erfolges in seiner "ganz" konkreten Gestalt

67

che bei Anwendung der Formel der Conditio sine qua non benötigt wird. Nach Engisch entsteht aUerdings der Zirkel nur dann, wenn man die Ursache selbst in die Erfolgsbeschreibung einbezieht. IR7 Wir werden uns zunächst mit diesem Zirkularitätsvorwurf auseinandersetzen, den wir auch an einer früheren SteUe anhand des ScharfrichterfaUs dargesteUt haben, um zu zeigen, daß die Abstützung der conditio-Formel durch die Konstruktion einer voUständigen Erfolgsbestimmung, wenn es überhaupt eine solche Erfolgsbestimmung geben kann, das endgültige Versagen der Äquivalenztheorie bedeutet. Dazu ist ein Beispiel angebracht, das Engisch gebildet hat l88 : (d) A verprügelt den sich heftig wehrenden B. Er fordert seine Freunde C und D auf, ihm einen in der Ecke stehenden Stock zu reichen. C und D laufen in die Ecke, C aber erwischt den Stock, indem er zugleich die Hand des D beiseite stößt, und reicht ihn dem A. B wird mit einem gefahrlichen Werkzeug, dem Stock, mißhandelt. Das ist der konkrete Erfolg, den § 223a StGB beschreibt. Wäre der konkrete Erfolg ohne das Verhalten des C eingetreten? Hier unterscheidet sich der eingetretene Erfolg in nichts von dem, der ohne das Verhalten des C eingetreten wäre. Denn in diesem FaII hätte 0 den Stock erreicht und ihn dem A gebracht, wenn C nicht gehandelt hätte. C soUte also nicht kausal für den eingetretenen Erfolg sein und dasselbe würde auch für D in dem FaIIe gelten, daß 0 vor dem C den Stock erreicht und ihn dem A gebracht hätte, weil ohne sein Verhalten C derjenige gewesen wäre, der den Stock dem A gereicht hätte. Einen Unterschied in den konkreten Erfolgen kann man dadurch finden, daß man danach fragt, ob ohne das zu prüfende Verhalten nicht nur der Erfolg als Endglied einer Kausalreihe, sondern auch die Zwischenglieder zwischen der zu prüfenden Handlung und diesem Erfolg eingetreten wären. IRq In diesem FaII (d), wie wir auch im ScharfrichterfaII lq () gesehen haben, wären aber ohne das betreffende Verhalten nicht genau dieselben untereinander kausal verbundenen Ereignisse eingetreten, an deren Ende der Erfolg steht. Hätte C den Stock nicht erwischt, so hätte D ihn gebracht. Einen anderen Erfolg findet man also nur in dem Falle, daß man in der konkreten Betrachtung des Erfolges auch das Verhalten des Täters als Zwischenglied mit berücksichtigt. Ohne das Verhalten des C wäre der "voIIständig" konkretisierte Erfolg, also das Verprügeln des B durch A mittels eines von C gereichten Stocks, nicht eingetreten. Bei einer solchen Erfolgsbetrachtung wird aber gar nicht der Versuch gemacht, die Einbeziehung des C in die Kausalreihe zwischen der zu prüfenden Handlung und dem Erfolg zu 1'7 Im Gegenteil entsteht der Zirkel nach Puppe bei einer konkreten Erfolgsbeschreibung immer, wie wir sehen werden. I" Engisch, Kausalität, S. 15. 1'9 Hartmann, Das Kausalproblem im Strafrecht. S. 77. 1"und das Wort "so" durch das Gleichheitssymbol ,,=" aus, so kann man die Aussage "so oder schlimmer" durch das in der Mathematik bekannte Symbol ~ (d.h. gleich oder größer) darstellen. Dieser Ausdruck (~) ist mit dem Vergleichssymbol ,,>" nicht identisch. Durch den ersten wird gemeint, daß der Erfolg mindestens so nachteilig oder schlimmer - als tatsächlich eingetreten - ausgefallen ist, also daß seine Richtung schadenssteigernd und nicht etwa schadensmindernd gewe326

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 885.

327

Dencker, Kausalität und Gesamtat, S. 102.

32'

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 884.

329

Siehe Dencker, Kausalität und Gesamttat, S. 103.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

sen ist. Das "Mindestens-so-eingetreten-sein" ist die "untere" Grenze des Erfolges, aus der und nach oben hin mit für das Rechtsgut nachteiligen Veränderungen zu rechnen ist. Die untere Grenze bleibt also festgelegt; wir interessieren uns nur für nachteilige Veränderungen von Zuständen und deshalb kommen nur schadenssteigernde Erfolge, mit anderen Worten, nach oben gerichtete Sc hadensgrößen in Betracht. Außerdem, und das ist der springende Punkt des Gedankengangs von Puppe, lassen wir diese nach oben gerichtete Schadensgröße offen, d.h. wir lassen bestimmte Angaben aus der Menge der zur Verfügung stehenden Tatsachen unbestimmt bzw. unberücksichtigt. Hier kann jedoch der Einwand erhoben werden, daß es in diesem Verfahren keine Maßstäbe für die Entscheidung gibt, ob es um schadenssteigernde oder -mindernde Eingriffe geht; deshalb könnte dieses Urteil jederzeit manipulierbar sein. Das trifft jedoch nicht zu. Denn diese Entscheidung über den schadenssteigernden oder -mindernden Charakter des Eingriffs gehört zur tatbestandlichen Erfolgsbeschreibung; den ausschlaggebenden Maßstab für diese Erfolgsbeschreibung liefert der jeweilige Tatbestand. So läßt sich also der tatbestandsmäßige Erfolg beschreiben. Denckers Einwände gegen die nach oben offen gelassene für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen sind nicht gerechtfertigt. Zu einer für ein Rechtsgut nachteiligen Veränderung gehört auch die Beschleunigung des bereits feststehenden Schadens an einem Rechtsgutsobjekt. 330 Das geschützte Interesse ist auch durch den Zeitraum bestimmt, in dem das Objekt dem Rechtgutsträger verfügbar ist. Die Beschleunigung etwa eines Sterbeprozesses durch Medikamente, die das Immunsystem zerstören, oder durch die Unterlassung der pharmazeutischen Behandlung eines Patienten, bildet eine für das Rechtsgut Leben nachteilige Veränderung von Zuständen, m.a. W. einen Tötungserfolg. 331 Eine für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen ist also der zu beschreibende tatbestandsmäßige Erfolg, der kausal zu erklären ist. Die Klarheit und normative Begründung dieser Erfolgsbestimmung bilden schon hinreichende Gründe dafür, daß man sie vorziehen kann. Eine für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen als Kriterium für die Erfolgsbeschreibung bildet eine dogmatische Lösung, die sich nicht ohne Auswertung der empirischen Befundtatsachen, gleichzeitig aber immer nur unter Anpassung an die spezifisch tatbestandsmäßige Problemstellung ermitteln läßt. Eine für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen als Kriterium für die Erfolgsbeschreibung bildet eine dogmatische Lösung, die sich nicht ohne Auswertung der empirischen Befundtatsachen, gleichzeitig aber immer nur unter Anpassung an die spezifisch tatbestandsmallige Problemstellung ermitteln läßt. JJO

Puppe. in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 81.

Vgl. BGH NStZ 1981,218 (mit Anmerkung Wolf~last); vgl. auch LK-Jahnke, § 212, Rn. 4. 3JI

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg Es ist aber noch nicht dargestellt worden, wie diese für das Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen erklärt werden soll. Puppe ist zu einer grundsätzlichen Ablehnung nicht nur schlechthin der Lehre des Erfolges in seiner ganz konkreten Gestalt gekommen; sie hat versucht darzutun, daß die herrschende Lehre überhaupt den Kausalitätsbegriff falsch erfaßt hat, indem sie ihn mittels der Conditio-sine-qua-non-Formel als eine notwendige Bedingung verstanden hat, was schon Engisch in seiner berühmten Abhandlung 332 betont hatte. Puppe hat inzwischen einen für die strafrechtliche Kausalitätstradition neuen Kausalbegriff eingeführt, der zum einen den Resultaten der modemen Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht entgegensteht; zum anderen hat dieser Kausalbegriff dazu beigetragen, bestimmte "haftungsbeschränkende Korrekturen" außerhalb des Rahmens der Kausalitätsprüfung zu vermeiden. Puppe hat keine neuen Ergebnisse vorgeschlagen, sondern die Regeln für die Feststellung der Kausalität eines Verhaltens für einen strafrechtlich relevanten Erfolg so formuliert, daß sie den bisherigen intuitiven Urteilen der überwiegenden Lehre "möglichst entsprechen"m. Bis jetzt ist nun klar, was ein tatbestandlieh relevanter Erfolg ist. Unser Ziel besteht darin, diesen relevanten Erfolg, also eine für ein Rechtsgut nachteilige Veränderung von Zuständen, mit einer menschlichen Handlung zu verbinden. Der Erfolg muß dem Täter als sein Werk, als ihm spezifisch zugehörig, zugerechnet (imputiert) werden. Die von Engisch begründete Formel der gesetzmäßigen Bedingung ist insbesondere von Puppe geltend gemacht und weiterentwickelt worden; Puppe hat die Ursache als eine gesetzmäßige Bedingung des Erfolges oder, mit der Ausdrucksweise der Wissenschaftstheorie übereinstimmend, als ,jeder Bestandteil einer kausalen Erklärung des Erfolges"334 dargestellt. Die Aufstellung eines allgemeinen Satzes der Form "immer wenn die Bedingungen von der Art p, q, r, ... , x gegeben sind, dann tritt e ein" und eines singulären Satzes (Tatsachenbehauptung, Sachverhalt) der Form "es sind Bedingungen von der Art p, q, r, ... , x gegeben", wie nach dem hempel-oppenheimischen Schema der Erklärung J35 , ergibt den ersten Schritt der Erklärung des Erfolges, der aus diesen beiden Sätzen logisch abgeleitet wird.

332

m 334 335

Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 17. Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 864. ZStW 92 (1980), 863, 874. S. oben § 2, A.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Die Tatsache, daß diese Beschreibung der Ursache mit den Sachverhalten auskommt, die wirklich gegeben sind und weder hypothetische Erfolge noch hypothetische Antezedenzien in ihr vorkommen, sei "der unschätzbare Vorteil dieses Verfahrens"336. . In dem Fall, daß ein Satz eine nach einem allgemeinen Gesetz zureichende Bedingung für irgendeinen Erfolg beschreibt, tut das gleiche auch jeder andere Satz, der diesen impliziert, auch wenn er darüber hinaus noch weitere Behauptungen enthält. 337 Kausalgesetze, die eine zureichende Bedingung tur einen Erfolg ergeben, können nämlich sogenannte redundante Gesetze sein. Redundante Gesetze können aber völlig irrelevante Bedingungen tur die Kausalerklärung ergeben 338 , wie das folgende Beispiel zeigt: "Immer wenn man einen Körper in der Luft losläßt und die Sonne scheint, fällt er zu Boden." Die Antezedensbedingung "wenn die Sonne scheint" ist für die Formulierung des Kausalgesetzes irrelevant. Es soll also verhindert werden, daß beliebige Sachverhalte und damit beliebige Personen in die Kausalerklärung einbezogen werden können339 ; sonst würde dieses Verfahren auch Kausalität begründen, wo sie nach intuitivem Urteil fehlt, und hätte damit die Kausalität keinen Sinn. Ursache oder Teilursache ist offensichtlich nicht jeder wahre Sachverhalt, der Bestandteil irgendeiner zureichenden und tatsächlich gegebenen gesetzmäßigen Bedingung ist. "In irgendeinem Sinne muß dieser Bestandteil notwendig tur die Kausalerklärung sein ... Jene Notwendigkeit darf (aber) nicht im Einzelfall gesucht werden"340; letzteres würde auf das Verlangen einer notwendigen Bedingung tur das Eintreten des Erfolges hinauslaufen. Und das Erfordernis einer notwendigen Bedingung ist zu stark, "es enthält mehr, als wir als Mindestvoraussetzung tur die objektive Zurechnung zu akzeptieren bereit sind"341, weil die Existenz von Ersatzursachen die Kausalität nicht ausschließt. Die gesuchte Notwendigkeit gehört also erst in die Formulierung des Kausalgesetzes, das zur Erklärung herangezogen wird. 342 Der Satz, die Notwendigkeit darf nicht im Einzelfall gesucht werden, ist dahingehend zu interpretieren, daß diese Notwendigkeit bereits in die Formulierung des zur Erklärung herangezogenen Kausalgesetzes festgestellt worden sein muß, ehe man sie auch im Einzelfall sucht. Es wäre andererseits absurd zu verlangen, die Notwendigkeit müsse in die Formulierung des anzuwendenden Kausalgesetzes, aber nicht im Einzelfall gesucht werden. Welchen Sinn hätte dann das zur Erklärung herangezogene Kausalgesetz? Die Notwen336

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 875.

337

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 867.

340

S. oben, § 2, A. Zustimmend Hilgendo~f, Jura 1995, 514, 516. Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 876.

341

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 868.

342

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 876 (Hervorhebungen nicht im Original).

33M 339

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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digkeit läßt sich im Einzelfall deshalb feststellen, weil sie in das jeweils fonnulierte Kausalgesetz gehört: Die Einzelursache ist ein notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen empirischen Gesetzen hinreichenden und wahren Mindestbedingung. 343 Notwendiger Bestandteil bedeutet, daß die Bedingung nicht mehr hinreichend ist, wenn der betreffende Bestandteil aus ihr gestrichen wird, es muß sich also "um einen notwendigen Bestandteil einer nach Naturgesetzen hinreichenden Mindestbedingung handeln"344. Hier habe die Methode des Wegdenkens ihre Berechtigung; dieses Wegdenken bezieht sich aber weder auf den konkreten Fall noch auf einen hypothetischen: Man müsse die Handlung nur aus einer "bereits projektierten kausalen Erklärung des Erfolges" hinwegdenken, die nur aus wahren Sätzen bestehen darf. "Wäre die projektierte Kausalerklärung bei Anwendung der ins Auge ge faßten Kausalgesetze ohne die Handlung unschlüssig, ... , so hat sich die Handlung als Bestandteil der Kausalerklärung und damit als Ursache erwiesen."345 Beim Wegdenken eines Bestandteils aus der projektierten Kausalerklärung sei es also nicht zulässig, an Stelle dieses (weggedachten) Bestandteils etwas anderes, nicht wahres, hinzuzudenken. Man darf den jeweils zu prüfenden Bestandteil aus der Gesetzesfonnulierung einfach entfernen, um zu prüfen, ob sich dann die Geltung des Gesetzes ändert; wenn nicht, dann ist der geprüfte Bestandteil überflüssig. Durch diese Fonnel können wir also überflüssige Bestandteile aus der Kausalerklärung ausschalten. Dies läßt sich im folgenden Beispiel zeigen: Jemand trinkt ein Glas Wein, in das ein anderer eine tödliche Dosis Strychnin getan hat und ein Photograph nimmt ihn mit seinem Fotoapparat auf. In diesem Beispiel können wir das (redundante) Gesetz zur Erklärung heranziehen, "immer wenn 343 So Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 876; dies., SchwZStrR 107 (1990). 141,151, nach der sich diese Bestimmung der logischen Beziehung zwischen Einzelursache und Erfolg mit der Erklärung des Begriffs der Einzelursache von mackie als inus-Bedingung deckt, die sich in der Wissenschaftstheorie inzwischen durchgesetzt hat; dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 96; dies., Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgriinde, in: Spendel-FS, S. 451, 457; dies., Probleme der Kausalität und Zurechnung, insbesondere im Umweltstrafrecht, S. 231 ff.; dies., Die Lehre von der objektiven Zurechnung dargestellt an Beispielsfallen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Jura 1997,408,415; zust. Kindhäuser, Gefahrdung als Straftat, S. 86; ders., Kausalanalyse und Handlungszuschreibung, GA 1982,477,485 ff.; Kleine Cosack, Kausalitätsprobleme im Umweltstrafrecht, S. 12 f.; Vogel, Nonn und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 150; Namias, Die Zurechnung von Folgeschäden im Strafrecht, S. 51; Neudecker, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder von Kollegialorganen, S. 224, 225; Hilgendo~r. Jura 1995,514,516; vgl. Mackie, The Cement of the Universe, S. 29 ff.; Stegmüller, Erklärung, S. 583 ff. 344 Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 96; dies., ZStW 92 (1980), 863, 876; über die Streichung des betreffenden Bestandteils aus der Kausalerklärung s.a. oben § 2, A,

P3)·

34; Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 97; dies., ZStW 92 (1980), 863, 876; dies., SchwZStrR 107 (1990), 141, 15\.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

jemand vergifteten Wein trinkt und ein Photograph ihn mit seinem Fotoapparat aufnimmt, stirbt er"; dieses Gesetz gibt uns zwar eine hinreichende, nicht aber eine Mindestbedingung für den Tod eines Menschen an. Der Bestandteil " ... ein Photograph nimmt ihn mit seinem Fotoapparat auf ... " erweist sich als überflüssig, denn nach seiner Streichung aus dem oben aufgestellten Gesetz verliert letzteres durchaus nicht seine Geltung. Das Gesetz "Immer, wenn jemand vergifteten Wein trinkt, stirbt er" bleibt ohne irgendwelche Information über die Tätigkeit des Photographs immer noch schlüssig. Dabei brauchen wir, indem wir nun den Bestandteil "vergifteten" aus der Kausalerklärung probeweise streichen, keine nicht wahre Ersatzursachen, also etwas anderes, nicht wahres, anstelle dieses Bestandteils hinzuzudenken, so daß nach Streichung des Bestandteils "vergifteten" aus der Kausalerklärung unser Kausalgesetz ungültig wird. Wie ist aber mit den (nicht überflüssigen) wahren Bestandteilen, den wahren Ersatzursachen oder den Fällen der Doppelkausalität zu verfahren? Hierbei geht es nicht um Mittäterschafts- oder Beteiligungsfälle; vielmehr handelt es sich um die sog. Problematik der Erfolgskausalität bei Nebentäterschaft. Vergiften beispielsweise A und B unabhängig voneinander das Essen des C mit je einer tödlichen Menge Gift und stirbt alsdann der C, so können wir folgendes Gesetz zur Erklärung heranziehen: Wenn jemand zwei tödliche Mengen Gift zu sich nimmt, stirbt er. Dieses Gesetz gibt uns wiederum eine hinreichende, nicht aber eine Mindestbedingung für den Tod eines Menschen an. Denn: Streichen wir den Bestandteil "eine tödliche Menge Gift" aus der Kausalerklärung, so verliert unser Gesetz seine Gültigkeit nicht. Weder die Handlung des A noch die des B bildet einen notwendigen Bestandteil der Erklärung des Erfolges, aber eine von ihnen brauchen wir unbedingt; "das ist der Grund dafür, daß beide Ursachen i.S. der zureichenden Mindestbedingung sind,,346. Nach Puppe können wir aus diesem Sachverhalt zwei verschiedene zureichende Mindestbedingungen entnehmen, die beide erflillt sind. Mindestbedingungen sind beide, weil keine alle Bestandteile der anderen enthält, wie es in den Konstellationen der Fall ist, in denen ein überflüssiger Bestandteil in das Naturgesetz aufgenommen wird, der ersatzlos gestrichen werden kann. In den Fällen der Doppelkausalität führt nach Puppe die Feststellung, daß das Kausalgesetz ohne eine von den beiden Tatsachen seine Gültigkeit nicht verliert, nicht notwendigerweise dazu, daß diese Tatsache nicht zu den Ursachen des Erfolges gehört. "Sie ist eine doppelt vertretene Ursache, wenn ich sie an die Stelle eines anderen Bestandteils meiner Erklärung setzen kann. Diesen anderen Bestandteil erkenne ich als Ursache, indem ich auch ihn, also beide, probeweise, aus der Erklärung streiche. Dann zeigt sich, daß die Erklärung nicht mehr gilt."347 Es ist also mit Puppe richtig die Formulierung des Satzes, zwei Tatsachen, die man alternativ, aber nicht 341>

Puppe, ZStW 92 (\ 980), 863, 877.

347

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 877.

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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kumulativ wegdenken kann, ohne daß die Erklärung unschlüssig wird, sind beide kausal; dieser Satz könne aber auf der Grundlage der conditio-sine-qua-nonFormel nicht akzeptabel sein, weil er dieser widerspricht. 34R Puppe hat versucht, darzutun, daß die bisherige kausale Verknüpfung zwischen Handlung und Erfolg noch nicht vollständig ist, wenn Antezedens und Konsequenz wahr sind und es eine Regel gibt, nach der das Antezedens zureichende Bedingung fUr das Konsequenz ist. 349 Dieses Verfahren der Ursachenexplikation fUhre uns dazu, Kausalität auch da festzustellen, wo sog. Reserveursachen bereitstehen, die bei Wegfall der wirklichen Ursache den gleichen Erfolg herbeigefUhrt hätten. "Nun sind aber diese Reserveursachen ebenfalls nach Kausalgesetzen hinreichende Bedingungen fUr den Erfolg."350 Demzufolge wäre auch deIjenige, der eine Reserveursache gesetzt habe, kausal fUr den Erfolg, weil er eine hinreichende Bedingung dafUr herbeigefUhrt habe, daß der Erfolg eintreten wird. Mit anderen Worten ist nach Puppe eine bereitstehende Ersatzursache ein notwendiger Bestandteil einer nach Naturgesetzen hinreichenden Erfolgsbedingung, "denn sie gestattet ja in Verbindung mit den anderen Bestandteilen dieser hinreichenden Bedingung eine Prognose auf den Erfolg"351. Wie ist also mit diesen bereitstehenden Ersatzursachen zu verfahren? Die bisherige Ursachenexplikation wäre unvollständig, wenn sie nicht in der Lage wäre, sie aus der Kausalerklärung auszuscheiden. Nun: Bereits an einer früheren Stelle 352 hatten wir eine detaillierte Analyse des Verlaufs verlangt, der von bestimmten Antezedensdaten zu dem zu erklärenden Vorgang fUhrt; diese Analyse hat den Vorteil, verschiedene Kausalverläufe zu trennen und bestimmte Tatsachen zu verwerten, und sie fUhrt dazu, daß die jeweils zu prüfende Tatsache das Glied einer Entwicklungsreihe bildet. Die Rede ist von der genetischen Kausalerklärung. Puppe hat die Eigenschaft der Kausalgesetze, sog. Nahwirkungsgesetze zu sein, erkannt und zuerst in die Strafrechtswissenschaft eine detaillierte Analyse der Kausalverläufe eingefUhrt: "Wir betrachten ein Ereignis durch ein erheblich früheres oder örtlich entferntes nicht schon dann als vollständig kausal erklärt, wenn ein allgemeiner Satz angegeben wird, wonach das letztere hinreichende Bedingung des ersteren ist. Wir fragen vielmehr weiter, auf welchem Wege, d.h. über welche zeitlich und örtlich benachbarten Ereignisse, Ursache und Erfolg miteinander verknüpft sind, und zwar dadurch, daß das jeweils frühere Stadium hinreichende Bedingung des späteren ist. So erhalten wir Ursachenketten und eine sog. genetische Kausalerklärung."JS3

)4" Für die Fälle der Mehrfachkausalität vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 878. 349 Vgl. auch oben § 2. )50

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 888 ff.; dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 10 I.

Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 101. m S. oben § 2, A. );1 Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 889. 351

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Nach Puppe müssen wir also bei zeitlicher oder örtlicher Entfernung den zum Erfolg führenden Kausalprozeß in Zwischenstadien unterteilen, die Handlung und Erfolg verbinden und auch wirklich gegeben sind. Finden wir, daß auch nur ein Teil dieser vermittelnden Veränderungen nicht wirklich gegeben ist, so müssen wir die Kausalerklärung als falsch verwerfen und "uns nach anderen Ereignissen und anderen Naturgesetzen umsehen, auf die wir den Erfolg zurückführen können,,354. Beispielhaft gesprochen 355 : Wir wollen prüfen, ob ein Bombenleger kausal für die Zerstörung eines Hauses geworden ist. Die Bombe war stark genug, um das Haus auseinanderzusprengen. Die Niederlegung der Bombe zwei Stunden vor dem Einsturz ist allerdings mit diesem nicht unmittelbar durch ein Nahwirkungsgesetz zu verbinden, sondern nur über eine Reihe von aufeinanderfolgenden Veränderungen (wie Auslösung der Zündung, verschiedene chemische Verbindungen, die zur Reaktion des Sprengstoffes führen etc.). Wir können den Einsturz des Hauses nicht mit der Handlung des Bomben legers kausal erklären, falls es kurz davor keine Explosion gegeben hat, trotz der Tatsache, daß der Bombenleger eine nach Naturgesetzen hinreichende Bedingung für den Hauseinsturz gesetzt hat. Stellen wir also fest, daß es keine Explosion gegeben hat, so müssen wir nach anderen Einsturzursachen fragen; dann finden wir, daß der Untergrund durch Bergbau ausgehöhlt war, "so daß das Haus langsam schräg absank, sich Risse in tragenden Wänden bildeten, bis diese schließlich zusammenbrachen"356. Man hat nun gegen dieses Modell der kausalen Erfolgserklärung den Vorwurf gemacht, mit der genetischen Kausalerklärung doch wieder zu den ganz konkreten Gestalten, zwar nicht des Erfolges, wohl aber des Kausalverlaufs zurückzukehren. Nach Erb erweist sich der von Puppe geforderte Verzicht auf die "Konkretisierung" des Erfolges und die damit verbundene Möglichkeit einer Eindämmung der "uferlosen Weite" der Kausalität als undurchftihrbar. 357 Denn: "Die Gesamtheit aller wirklich existierenden Zwischenursachen, die in ihrer Aufeinanderfolge und Vernetzung in den strafrechtlich relevanten Erfolg ausgemündet sind, ist nun einmal nichts anderes als der ganz konkrete Kausalverlauf, der mit einem ganz konkreten Erfolg endet."358

Ähnlich argumentiert auch Toepel, nach dem es hier rätselhaft bleibt, wie man diese ,zeitliche und örtliche Verbindung' prüfen soll, ohne auch die konkrete örtliche und zeitliche Bestimmung der bei den Endpunkte dieser Verknüpfung - Ursache und Erfolg - für die Prüfung der Kausalrelation als relevant (und sogar als erklärungsbedürftig) zu betrachten. 359 354

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 889.

ZStW 92 (1980), 863, 889. m Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 890. m Erb, Rechtmäßiges Altemativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, S. 42; ders., JuS 1994, 449, 452. ]SM Erb, JuS 1994,449,452. 355

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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Diese Einwände sind nicht gerechtfertigt. 360 Sie sind es deshalb nicht, weil in die genetische Kausalerklärung nicht beliebige Tatsachen als "Konkretisierung" aufgenommen werden dürfen, sondern nur die, die unter ein Mindestgesetz subsumierbar sind. In der Konsequenz der Conditio-Formel liegt es, daß bereitstehende Reserveursachen die Kausalität der betreffenden Handlung ausschließen; deswegen ist man genötigt, von dem Kausalverlauf in seiner konkreten Gestalt zu sprechen36I , um Ursachen und Reserveursachen unterscheiden zu können. Diese Lösung hat jedoch mit der genetischen Kausalerklärung nichts zu tun. Wir sind davon ausgegangen, daß auch im Falle von bereitstehenden Reserveursachen mehrere verschiedene nach Naturgesetzen hinreichende Bedingungen für den Erfolg tatsächlich gegeben sind; wir wollen jetzt versuchen, nach dem Verfahren von Puppe zu unterscheiden, welche davon Ursachen und welche bloße Ersatzursachen sind - und wann Mehrfachkausalität vorliegt. Haben wir mehrere hinreichende gesetzmäßige Bedingungen, so gibt es verschiedene Klassen von Tatsachen, die den entsprechenden genetischen Kausalerklärungen angehören. Diese Klassen von Tatsachen müssen wir zunächst trennen. Wir können jetzt Ursachen von bereitstehenden Ersatzursachen dadurch unterscheiden, daß wir zu den zu prüfenden genetischen Kausalerklärungen übergehen und prüfen, ob die jeweiligen Zwischenstadien gegeben sind, so d~ß zu jedem Zwischenstadium nur Tatsachen gehören müssen, die notwendiger Bestandteil der zureichenden Bedingung für das folgende Zwischenstadium sind usw. bis zu der betreffenden für ein Rechtsgut nachteiligen Veränderung. Die Einbeziehung von Tatsachen in eine Kausalerklärung ist nicht beliebig. Die Notwendigkeit einer Tatsache, Bestandteil der zureichenden Bedingung für das folgende Zwischenstadium zu sein, ist durch die Streichung aus der genetischen Kausalerklärung festzustellen. Danach ist jede dieser Tatsachen, die zu den Zwischenstadien der geprüften genetischen Kausalerklärung gehören, auch notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung für den Erfolg. Ersatzursachen erkennt man daran, daß die Zwischenstadien, über die sie nach Naturgesetzen zum Erfolg führen, mindestens teilweise nicht gegeben sind. 362

Es ist das Verdienst Puppes um die str~frechtliche Kausalitätslehre, daß man zur Auffindung und Erklärung des Unterschiedes zwischen wirklichen Ursachen und Ersatzursachen weder den Begriff der Kraft als Ursache noch beliebige Bestimmungselemente des Erfolges, also einen "Erfolg in seiner konkreten Gestalt", braucht. 159 Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, S.70. 160 Bereits in: ZStW 92 (1980), 863, 890 f. 161

S. die Kritik gegen die Maßgeblichkeit der konkreten Erfolgsgestalten oben § 3, A.

Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 869, 890; dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 101; dies., SchwZStrR 107 (1990),141,150 (Fn. 11). )61

8 Sofos

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Im obigen Beispiel des Bombenlegers kann man den Einsturz des Hauses nicht nach Naturgesetzen genetisch erklären, ohne zu behaupten, daß vor dem Einsturz eine Explosion stattgefunden hat. In diesem Beispiel haben wir die Niederlegung der Bombe von dem Täter (die zu prüfende Handlung), die Auslösung der Zündung, ... , die chemischen Verbindungen, ... , die Reaktionen des Sprengstoffes, ... , die Explosion der Bombe, ... und eine Druckwelle als die zu prüfenden Zwischenstadien und den Einsturz des Hauses als den Erfolg. Stellen wir fest, daß die Zwischenstadien teilweise fehlen, Z.B. die Explosion der Bombe, so ist der Erfolg bzw. der Einsturz des Hauses aus den verbleibenden Tatsachen nicht ableitbar. Diese Klasse von Tatsachen hat sich daher als Ersatzursache erwiesen. Die Notwendigkeitsprüfung jeder dieser Tatsachen wurde innerhalb derjenigen Klasse von Tatsachen gemacht, die zu der geprüften genetischen Kausalerklärung gehört. Bei dieser Notwendigkeitsprüfung dürfen nämlich nur Tatsachen aufgenommen werden, die zu derselben Klasse gehören, und nicht etwa solche Tatsachen, die zu einer anderen Klasse, m.a.W. zu einer anderen hinreichenden gesetzmäßigen Bedingung gehören. Das meint Puppe damit, daß man sich auf die Streichung der Handlung aus einer bereits gefundenen Kausalerklärung des Erfolges beschränken müsse und die Handlung nicht aus der WeIt hinwegzudenken brauchte. J6J Und das sei auch der wichtigste Unterschied zwischen der conditio-sine-qua-non-Formel und dem von Puppe entwickelten Verfahren der Kausalitätsfeststellung. Denn: Nach der Conditio-Formel muß die Handlung notwendig innerhalb der Klasse aller gegebenen Tatsachen sein, um den Erfolg überhaupt zu erklären; würde man die Handlung aus der Klasse aller gegebenen Tatsachen, also aus der WeIt, hinwegdenken, so könnten alle Ersatzursachen an ihre Stelle treten, mit der Folge, daß die Kausalität der Handlung ausgeschlossen würde: "Wie die Fälle kumulativer Kausalität zeigen, genügt es aber, wenn die Handlung notwendig innerhalb einer Unterklasse aller gegebenen Tatsachen ist. Im Falle der kumulativen Kausalität gibt es mehrere solcher Klassen. Eine Ersatzursache ist notwendiger Bestandteil einer genetischen Kausalerklärung durch eine Klasse von Sätzen, die teilweise nicht wahr sind.,,)04

Das Modell der zureichenden Mindestbedingung hat Dencker in seiner Untersuchung über die "Kausalität und Gesamttat" kritisiert. Es ist hier nicht zweckmäßig, den gesamten Gedankengang Puppes darzustellen. JM Auf der anderen Seite ist es aber mehr als notwendig, bestimmte Punkte der Kritik Denckers dem richtigen Verständnis der Auffassungen Puppes gegenüberzustellen: Es soll festgestellt werden, ob diese Kritik an dem Modell des notwendi1M Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 891; dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 97; dies., SchwZStrR 107 (1990), 141, 151 (Fn. 13). 3M Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 891, 892 (Hervorhebungen nicht im Original). 36, Außerdem würde so etwas die Grenze der hiesigen Darstellung überschreiten; vgl. nur Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 ( 1980), 863 ff.; dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 96 ff.

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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gen Bestandteiles einer nach Naturgesetzen hinreichenden Mindestbedingung gerechtfertigt ist. Dencker behauptet zunächst, bei der "Doppelkausalität" wäre die Kausalität bei der Handlungen mit Hilfe der Fonnel Puppes nicht problemlos anzunehmen, weil zwei zureichende Mindestbedingungen nicht denkbar seien. "Wie es möglich sein soll, zwei ,zureichende Mindestbedingungen' anzunehmen, erläutert Puppe nicht ausdTÜcklich.,,366 Ein Gerichtsmediziner, sagt Dencker, aufgefordert, eine exakte, für einen Menschen tödliche Mindestmenge Gift anzugeben, würde sich weigern müssen. Denn die exakte Mindestmenge hinge natürlich von allen möglichen Konkretisierungen ab, d.h. von der Konstitution des Opfers, den individuellen Resorptionsbedingen usw. Daraus zieht Dencker die Konsequenz, man solle aus dem konkreten Einzelfall ein Kausalgesetz fonnulieren, das alle maßgeblichen Einzelheiten des konkreten Falles in abstrakter Fonn enthält, seil. ein "konkretes Kausalgesetz", was aber kein Mindestkausalgesetz sein kann. 367 Diese Argumentation trifft aber nicht zu. Denn sie vernachlässigt die sog. generelle Kausalität, d.h. sie bestreitet, daß sich eine vennutete Regelmäßigkeit von Ursache und Folge durch eine große Zahl kontrollierter Experimente als allgemein gültig bestätigen kann. 368 Beispielhaft: A hat das Essen des 8 mit einer Menge Arsen vergiftet, die geeignet wäre, einen vollkommen gesunden Menschen zu töten. Der Organismus des "übennenschlichen" B trägt jedoch solche Eigenschaften bzw. Reaktionsmöglichkeiten, daß er zumindest dem Tod entgehen kann. Plötzlich aufgetretene, zufallig im Zusammenhang mit der Vergiftung stehende Komplikationen müssen aber bei B zum Tode führen. Nun: Wäre B nicht gestorben, so hätte man nach geltendem Recht und herrschender Lehre dem A keinen vollendeten Totschlag vorwerfen können. Das Mindestgesetz der für einen vollkommen gesunden Menschen tödlichen Giftmenge wäre allerdings gültig. Nun rechnet man aber dem A den Tod des B zu, unabhängig davon, daß nicht nur die Giftmenge, sondern u.a. auch Zufallsfaktoren zum Tode des B geführt haben. Man kann also ein Mindestgesetz fonnulieren, das sich als allgemein gültig bestätigen kann und das im Einzelfall Anwendung findet. Für die Bildung eines Mindestgesetzes stellt nämlich etwa eine außergewöhnliche Konstitution des Opfers kein Hindernis dar, denn letztere ist im Endeffekt auch einer der über die vom Mindestgesetz erfaßten Fälle hinausgehenden (Zufalls-)Faktoren, die den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfol)66

Dencker, Kausalität und Gesamttat, S. 112.

367

Dencker, a.a.O., S. 114 .

Dazu s. oben § 2; diese Argumentation läßt aber auch außer acht, daß der auf Grund eines Mindestgesetzes zu erklärende Eintritt eines tatbestands mäßigen Erfolges u.a. auch von Zu{allsjaktoren abhängt, obwohl letzterer dem Täter zugerechnet wird. Zum Begriff des Zufalls s. auch im Zweiten Teil. .16"

8*

116

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

ges mitbestimmen. Beim tatsächlichen Erfolgseintritt ist die Zurechnung wegen des Vorliegens derartiger Zufallsfaktoren nicht ausgeschlossen. Dencker behauptet, der Begriff des Minimalgesetzes sei deshalb nicht eindeutig, weil es von den Umständen des Einzelfalls abhängt, was als Minimalbedingung genügt. Sein Haupteinwand gegen die gesetzmäßige Mindestbedingung besteht darin, daß mit den Kausalgesetzen nur "unvollkommene Fallschilderungen" formuliert werden; danach könne "das Ausmaß der Unvollkommenheit beliebig festgesetzt werden", "methodisch also durchaus dem ... Verfahren, den Erfolg ,in seiner konkreten Gestalt' zu bestimmen, ebenbürtig ... Die Formulierung solcher ,Konkretisierungen' als ,Mindest'-Gesetze indes stößt aufSchwierigkeiten"369. Dencker hat daraus die Konsequenz gezogen, daß nicht nur die Lehre der konkreten Erfolgsgestalten, sondern auch die Mindestgesetze Puppes beliebig manipulierbar sein können. So hinge es Z.B. von der Konstitution des Opfers eines Giftanschlags ab, welches die Mindestdosis des Giftes ist. Sie ist bei einem gesunden Erwachsenen höher als bei einem Kind oder einem Kranken oder auch bei einer Person, die eine gewisse Menge des Giftes bereits inkorporiert hat. Daraus zieht Dencker die Konsequenz, daß es keine abstrakten Minimalgesetze gebe, die Kausalgesetze vielmehr nichts anderes seien als eine Abbreviatur des konkreten Sachverhalts. Die Konsequenz ist, daß es in die Willkür des Rechtsanwenders gestellt ist, welche Angaben des Sachverhalts er in diese Abbreviatur aufnimmt und damit zur notwendigen Bedingung im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel macht und welche nicht. Während er den Begriff des Erfolges in seiner konkreten Gestalt ablehnt370 , postuliert also Dencker stattdessen das Kausalgesetz in seiner konkreten Gestalt. Dazu sind jedoch zwei Gegenargumente vorzubringen: Erstens hat die genetische Kausalerklärung mit der Erfolgs- oder Verlaufskonkretisierung nichts zu tun: In dieser dürfen nicht beliebige, sondern nur anhand von Kausalgesetzen bestimmte Zwischenstadien vorkommen, die jeweils notwendiger Bestandteil einer zureichenden Mindestbedingung für das nächste Zwischen stadium sind. 371 Das Auswahlverfahren der Zwischenstadien kann dadurch nicht beliebig manipuliert werden, wie das immer bei der Beschreibung des konkreten Erfolges der Fall ist. Denn die Kausalgesetze werden nicht von dem jeweils Beschreibenden "hergestellt", was gerade die Kritiker der Konstruktion der zureichenden Mindestbedingung meinen. Die mit Hilfe von Experimenten als intersubjektiv nachprüfbar bezeichneten Kausalgesetze werden durch die jeweils "zuständigen" )1>9 Dencker, a.a.O., S. 113; so argumentiert auch Erb, Rechtmäßiges Altemativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, S. 42 ff.; ders., Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht, JuS 1994, 449, 452; Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 70 ff. Nur Dencker ist jedoch zum Ergebnis gekommen, die Lehre der konkreten Erfolgsgestalten abzulehnen. )70 Dazu s. später § 5. 371 Näher dazu s. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 ff.

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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Wissenschaften dem Rechtsanwender vorgegeben, so daß der letztere imstande sein und über die theoretischen Rüstzeuge verfügen kann, zwei Ereignisse miteinander kausal zu verknüpfen, was gerade das Erfordernis der Kausalität bzw. der vom Gesetz erforderten imputatio ausmacht. Zweitens ist man genötigt, wenn man die Formulierung des Kausalgesetzes als beliebig manipulierbar bezeichnet, die Anwendung von (Kausal-)Gesetzen in einer Kausalerklärung überhaupt abzulehnen. Ein "Mißtrauensvotum" gegen die Kausalgesetze muß nämlich immer "konstruktiv" vorgelegt werden, d.h. man muß eine Kausalerklärung ohne Anwendung von Gesetzmäßigkeiten überzeugend dargestellt und begründet haben. Im Gegensatz dazu nimmt beispielsweise Dencker an, nach dem die Formulierung von "Konkretisierungen als Mindestgesetze" auf Schwierigkeiten stößt, daß man für die Feststellung des Charakters einer Handlung als notwendiger Bedingung "auf Gesetzmäßigkeiten, Regeln zurückgreifen muß"m. Es wird nun gefragt: Wenn aber die Formulierung von Mindestgesetzen die Schwierigkeiten und die Manipulierbarkeit einer Konkretisierung darstellt, auf welche Weise will man dann den Charakter einer Handlung als notwendiger Bedingung aufgrund von "Fallschilderungen repräsentierenden" Gesetzmäßigkeiten oder Regeln festgestellt wissen? Dencker dürfte konsequenterweise nicht mehr von notwendigen Bedingungen reden. Der Widerspruch ist bereits ersichtlich. Hätte also Dencker damit recht, daß der Begriff des Minimalgesetzes nicht eindeutig ist, so wäre das der Bankrott der kausalen Erklärung. Indessen zeigen die Beispiele von Dencker lediglich, daß sich auf ein und denselben Sachverhalt unter Umständen verschiedene Minimalgesetze anwenden lassen, je nachdem, welche Informationen des Sachverhalts man unter die Gesetze subsumiert. Gibt man beispielsweise lediglich an, daß das Opfer des Giftanschlages ein Mensch ist, so ergibt sich als Mindestdosis diejenige, die ausreicht, um jeden Menschen zu töten. Ist diese Mindestdosis dem Opfer gegeben worden, so steht damit die Kausalität fest. Ist das Opfer nun ein Kind, so kann man, indem man diese Information wegläßt, auch das allgemeingültige Kausalgesetz anwenden, das die Mindestdosis für jeden Menschen angibt. Man kann aber auch ein zweites Minimalgesetz aufstellen, in dem man das Alter des Opfers angibt und dann die für dieses Alter geltende Mindestdosis errechnet. Daraus ergibt sich, daß ein Täter, der ihm diese Mindestdosis eingegeben hat, für seinen Tod kausal war. Hat der Täter ihm mehr als diese Mindestdosis eingegeben, so ist dies gänzlich irrelevant. Hat ein anderer ihm eine weitere Mindestdosis eingegeben, so lassen sich eben aus dem Sachverhalt unter Angabe des Alters des Opfers unter Umständen mehrere hinreichende Mindestbedingungen extrahieren, es liegt also entweder ein Fall von Mehrfachkausalität oder eine Ersatzursache vor. Die Ersatzursache ist nach den oben angegebenen Regeln auszuschalten. Hat das Opfer bereits eine Menge des Giftes inkorporiert, so reduziert sich ebenfalls die Mindestdosis. War die zuerst inkorporierte Menge allein noch m Dencker, a.a.O., S. 47.

1. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

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nicht tödlich, so ergibt sich aus diesem Minimalgesetz, daß eine weitere Giftgabe durch einen Zweittäter notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Erfolgsbedingung, also kausal ist. Hat das Opfer allerdings bereits eine tödliche Giftmenge inkorporiert und wird ihm jetzt von einem zweiten Täter eine weitere tödliche Menge verabreicht, so lassen sich eben aus dem Minimalgesetz, das die tödliche Menge für einen Menschen angibt, zwei kausale Erklärungen mit zwei verschiedenen Täterhandlungen extrahieren. Dann ist wie üblich darüber zu entscheiden, ob es sich um Mehrfachkausalität oder bei einer der beiden Handlungen um eine Ersatzursache handelt. Das Problem, an dem Dencker die Bestimmung der Einzelursache als notwendigem Bestandteil einer gesetzlichen Minimalbedingung scheitern lassen will, existiert also nicht. Daß es zwei zureichende Mindestbedingungen geben kann, ist bereits an einer früheren Stelle dargestellt worden. 373 Dencker sieht das Vorliegen zweier zureichenden Mindestbedingungen mit Mißtrauen an, ohne den Gedankengang der genetischen Kausalerklärung vollkommen wahrgenommen zu haben. Hier werden wir nicht das gesamte Verfahren erneut darstellen. Erforderlich ist aber eine kurze Demonstration und eine nähere Betrachtung dessen, was man unter zwei zureichenden Mindestbedingungen versteht. Wie ist mit einer Disjunktion zweier Aussagen in der klassischen Logik zu verfahren? Bekanntlich kann eine Disjunktion zweier Aussagen genau dann falsch sein, wenn beide Komponentenaussagen falsch sind. In allen anderen Fällen wird sie als wahr angesehen. Es wird also für eine wahre Disjunktion mindestens eine wahre Komponentenaussage vorausgesetzt. 374 Auf dieselbe Weise läßt sich die wahre Disjunktion zweier zureichender Mindestbedingungen (A oder B) darstellen, wenn A oder (und) B wahr sind: Als zureichende Mindestbedingung erweist sich die A sowie die B, indem man die jeweilige Kausalerklärung disjunktiv projektiert. Die Disjunktion betrifft nicht die Aufstellung der zureichenden Mindestbedingung - i.d.S., daß entweder die A oder die B eine zureichende Mindestbedingung sein kann -, sondern das Verfahren der Auffindung einer zureichenden Mindestbedingung: Die (genetische) Kausalerklärung der A wird mit Hilfe einer Klasse von Tatsachen projektiert, in der nicht alle Tatsachen vorkommen, die zu weiteren (genetischen) Kausalerklärungen gehören, scilicet es können sich mehrere zureichende Mindestbedingungen teilweise decken: Bei mehrfacher Kausalität sind beispielsweise mehrere ganz oder teilweise verschiedene hinreichende Bedingungen des Erfolges erfüllt. Eine Kausalerklärung können wir also mit Hilfe einer Unterklasse von Tatsachen projektieren, die sich mit anderen Unterklassen teilweise decken oder ganz verschieden sein können. Tatsachen einer Unterklasse können m.a. W. teilweise auch in einer anderen Kau373

Siehe § 4.

374

Vgl. etwa Friedrichsdor!, Einführung in die klassische und intentionale Logik. S. 3 ff.

§ 4 Die Kausalität zwischen einem positiven Tun und dem Erfolg

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salerklärung vorkommen. In den Fällen der Doppelkausalität prüfen wir nicht A und B innerhalb einer und derselben Kausalerklärung, will sagen innerhalb einer und derselben Klasse von Tatsachen, sondern mit Hilfe zweier ganz oder teilweise verschiedenen Klassen von Tatsachen. In diesem Sinne hat auch Puppe das Vorliegen zweier zureichender Mindestbedingungen dargestellt: "Sie ist eine doppelt vertretene Ursache, wenn ich sie an die Stelle eines anderen Bestandteils meiner Erklärung setzen kann. Diesen anderen Bestandteil erkenne ich als Ursache, indem ich auch ihn, also beide, probeweise aus der Erklärung streiche. Dann zeigt sich, daß die Erklärung nicht mehr gilt. Der Satz, zwei Tatsachen, die ich alternativ, aber nicht kumulativ wegdenken kann, ohne daß die Erklärung ungültig wird, der als Korrektur der conditio-sine-qua-non-Forrnel vorgeschlagen wird, ist also sachlich richtig. Aber er stellt einen Bruch mit dem Erfordernis der notwendigen Bedingung dar ... ,,375

Wenn Puppe in den Fällen der Doppelkausalität einen Bestandteil A der Erklärung an die Stelle eines anderen Bestandteils B setzt, dann bedeutet das, daß die Streichung des A aus der Kausalerklärung ohne das Hinzudenken von B stattfindet. Hat sich A als zureichende Mindestbedingung rur den Erfolg erwiesen, so wiederholt sich das gleiche Verfahren rur B: Die Streichung von Baus der Kausalerklärung findet ohne das Hinzudenken von A statt. Wenn auch B sich als zureichende Mindestbedingung rur den Erfolg erwiesen hat, so handelt es sich um eine doppelt vertretene Ursache, die in der Kausalerklärung disjunktiv bzw. alternativ vorkommt. Disjunktiv bzw. alternativ geprüft, hat sich sowohl A, als auch B als Ursache erwiesen. Der Unterschied zwischen der Conditio-sine-qua-non-Formel und dem von Puppe entwickelten Verfahren besteht darin, daß nach der Conditio-Formel die Handlung notwendig innerhalb der Klasse aller gegebenen Tatsachen sein muß. Das bedeutet, daß man sich gedanklich an die Stelle eines allwissenden Beobachters versetzt und im Zeitpunkt der fraglichen Handlung den gesamten Zustand der Welt beschreibt, also die Klasse aller gegebenen Tatsachen angibt. Die fragliche Handlung muß sich also nach der Conditio-Formel notwendig innerhalb "unserer Welt" erwiesen haben, um als kausal rur den Erfolg bezeichnet werden zu können. Die Fälle der Doppelkausalität zeigen aber, daß es genügt, "wenn die Handlung notwendig innerhalb einer Unterklasse aller gegebenen Tatsachen ist"376. Bei der Doppelkausalität gibt es mehrere solcher Klassen von Tatsachen. Hier zeigt sich auch, was die Anhänger der Conditio-Formel unter Notwendigkeit verstehen und was nach Puppe andererseits darunter zu verstehen ist: Die Notwendigkeit wird innerhalb einer bereits projektierten Kausalerklärung im Rahmen einer Unterklasse aller gegebenen Tatsachen geprüft und nicht "innerhalb der Welt", also innerhalb der Klasse aller gegebenen Tatsachen. m Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 877 (Hervorhebungen nicht im Original). 376 Puppe, ZStW 92 (1980), 863, 891 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. dies., in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 97; dies., SchwZStrR 107 (1990), 141, 151 (Fn. 13).

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Bei der Doppe/kausalität liegen mehrere disjunktiv bzw. alternativ zu projektierende genetische Kausalerklärungen vor, die bei der Kausalitätsprü(ung der fraglichen Handlung(en) strikt unterschieden werden müssen. Es macht wirklich einen entscheidenden Unterschied, ob man sich auf die Streichung der (evtl. einen von mehreren) Handlung(en) aus einer bereits gefundenen Kausalerklärung des Erfolges beschränkt oder ob man andererseits diese Handlung aus der Welt hinwegdenkt. Die Argumente gegen die bei der "Doppelkausalität" doppelt gegebenen zureichenden Mindestbedingungen, die zugunsten der Conditio-Fonnel vorgebracht werden, sind ungerechtfertigt und ungenügend begründet. Bei der Doppelkausalität ist die Kausalität beider Handlungen anzunehmen, wenn zwei disjunktiv bzw. alternativ zu projektierende schlüssige Kausalerklärungen des Erfolges vorliegen, so daß von zwei zureichenden Mindestbedingungen für das Eintreten des Erfolges auszugehen ist. Die nicht zu bestreitende Tatsache, daß zwei konjunktiv (bzw. kumulativ) zu betrachtende zureichende Mindestbedingungen niemals eine Mindestbedingung, sondern zwei zureichende Bedingungen ergeben können, ist der Grund des Mißverständnisses; es geht nicht um die Kumulation zweier zureichender Mindestbedingungen. Bei der Doppelkausalität handelt es sich vielmehr um verschiedene disjunktiv bzw. alternativ zu projektierende Kausalerklärungen, m.a. W. um verschiedene Klassen von Tatsachen, die sich zwar teilweise decken können, aber jeweils unabhängig voneinander in der Kausalerklärung miteinbezogen werden müssen. In dieser jeweils zu projektierenden Kausalerklärung - und nur in dieser! - muß die Eigenschaft der Handlung A gesucht werden, ein notwendiger Bestandteil dieser Kausalerklärung zu sein. Ist das der Fall, so hat sich die fragliche Handlung A als Ursache erwiesen. Dasselbe Verfahren wiederholt sich für die andere fragliche Handlung B, die in den Fällen der Doppelkausalität erscheint: Sie muß sich als notwendiger Bestandteil einer disjunktiv zu projektierenden Kausalerklärung erwiesen haben, also in einer Kausalerklärung, in der die Handlung A nicht vorkommt. Nach dieser disjunktiven bzw. alternativen Prüfung zweier Kausalerklärungen haben sich beide, also die Handlung A und die Handlung B, als zureichende Mindestbedingungen des Erfolges erwiesen. Bisher ist eine logisch korrekte Bestimmung des Bedingungszusammenhangs zwischen Einzelursache und Unrechtserfolg dargestellt worden, wie Puppe diesen Bedingungszusammenhang beschrieben hat, sowie ein empirisch logisches Verfahren zur Unterscheidung von Ursachen und Ersatzursachen ohne Rekurs auf angeblich von Natur aus vorgegebene "ganz konkrete Gestalten" von Erfolg und Kausalverlauf; außerdem ist es nun klar, daß die Methode der genetischen Kausalerklärung ohne metaphysische Begriffe wie Kraft, Wirkursache etc. auskommt. Wir haben auch die These Puppes übernommen, wie ein Unrechtserfolg zu bestimmen ist: Es handelt sich um eine im Sinne des geschützten Inter-

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esses (Rechtsgut) nachteilige Veränderung an einem gegebenen Rechtsgutsobjekt. Puppe hat aber dargetan, daß dieses Verfahren noch manipulierbar sein kann; m.a.w., wir haben die Manipulierbarkeit dieses Verfahrens durch die Auswahl einer bestimmten Beschreibung der Ursachen noch nicht gänzlich beseitigt: "Denn wir können bei der Beschreibung eines Sachverhalts nicht nur mehr oder weniger Einzelangaben machen, die man dann vielleicht als überflüssig und daher irrelevant ausscheiden kann, wir können auch mehr oder weniger allgemeine Begriffe verwenden. Davon hängt es dann ab, ob eine Angabe von einer anderen überhaupt trennbar ist. Eine Angabe läßt sich erst dann als eine überflüssige erweisen, wenn sie von einer notwendigen begrifflich getrennt ist."m Bei der Prüfung, ob eine Handlung notwendiger Bestandteil einer kausalen Erklärung ist oder nicht, können sich Schwierigkeiten ergeben, wenn nach der Streichung der betreffenden Handlung aus der Kausalerklärung zwar eine schlüssige Erklärung des Erfolges aus (wahren) Tatsachen zustandekommt, aber zweifelhaft ist, ob es sich dabei um den gleichen Kausalverlauf handelt oder um einen anderen. Wir wollen diese Schwierigkeit anhand des bekannten "Weichensteller"-Fallesm darstellen: Ein Weichensteller leitet einen Zug von einem durch einen Bergrutsch gesperrten Gleis auf ein anderes, ebenso gesperrtes, um, mit der Folge, daß der Zug nunmehr auf dem anderen Gleis mit den dort liegenden Felsbrocken kollidiert. Die Entscheidung, ob die Handlung des Weichenstellers notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung für den Tod der Zug in sassen ist, hängt davon ab, ob man die Kollision auf dem anderen Gleis als eine andere Zwischenursache des Todes der Zug insassen ansähe oder als dieselbe. 379 Gehen wir zu dem zum Erfolg führenden Kausalverlauf über und versuchen ihn in Zwischenstadien zu unterteilen, so stellen wir fest, daß es einerseits um denselben Kausalverlauf geht, wenn wir von einer Bahnstrecke und einem Bergsturz sprechen, so daß sich die Handlung des Weichenstellers nicht als notwendiger Bestandteil der hinreichenden wahren Bedingung erweist, falls wir sie aus der Kausalerklärung streichen. Wenn wir von zwei Gleisen und von den verschiedenen Steinen sprechen, aus denen der Bergrutsch besteht, dann geht es andePuppe, GA 1994,297,306. m Vgl. Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Kausalität der Beihilfe, S. 98 f. 379 Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 102 mit kritischen Nachweisen auf Jakohs, AT, 7/15 ff., und Erh, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht, S. 44 f., der dieses Beispiel "zum Anlaß nimmt", auf einer unbegrenzten Konkretisierung von Erfolg und Kausalverlauf zu bestehen. m

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

rerseits um zwei verschiedene Kausalverläufe, so daß sich die Handlung des Weichenstellers als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden wahren Bedingung erweist. Diese Unbestimmtheit resultiert nun nach Puppe daraus, daß "wir in der natürlichen Sprache verschieden weite oder enge Begriffe zur Verfügung haben um Sachverhalte, Verläufe und auch Kausalgesetze zu beschreiben. Nur in einer exakten Kunstsprache, in der alle Begriffe abschließend festgelegt sind und zwar so, daß es für jeden Sachverhalt nur eine zulässige Beschreibung gibt, wäre diese Unbestimmtheit von vornherein ausgeschlossen."38o Eine solche der Flexibilität der Sprache halber gegebene Manipulationsmöglichkeit der Erfolgszurechnung ist nach Puppe so zu beseitigen, daß jedes Kausalgesetz in der allgemeinsten Form anzuwenden sei, in der es überhaupt gültig iSt. 381 Formulieren wir also unser Kausalgesetz mit den Begriffen Gleis und Stein, so würde es so lauten: Wenn jemand einen Zug von einem durch einen Bergrutsch gesperrten Gleis auf ein anderes, ebenso gesperrtes umleitet, dann kollidiert der Zug mit den Felsbrocken auf dem zweiten Gleis; zur Erklärung des Kausalverlaufs ist die Umschaltung der Weiche erforderlich. Dieses Kausalgesetz enthält aber überflüssige Angaben; es kann in einer allgemeineren Form formuliert werden, in der etwa die Unterscheidung zwischen rechtem und linkem Gleis nicht vorkommt. Denn: Ist der Bergrutsch so breit, daß beide Gleise gesperrt worden sind, so braucht man in der Formulierung des Kausalgesetzes die Unterscheidung zwischen rechtem und linkem Gleis nicht, "obwohl man bei Berücksichtigung der Umstellung der Weiche eine schlüssige Kausalerklärung erhält, ohne die Tatsache, daß auch das andere Gleis gesperrt war, einzubeziehen"382. Dasselbe soll in dem Fall gelten, in dem der Täter den rettungslos abstürzenden Bergsteiger in der Luft umdreht, so daß er mit der anderen Seite auf den Boden aufschläge 83 : Wenn der Sturz des Bergsteigers so tief ist, daß er stirbt, unabhängig davon, wie er auf den Boden aufschlägt, brauchen wir die Drehbewegung in der Luft in die Kausalerklärung nicht aufzunehmen, wenn jemand diese Drehbewegung irgendwie beeinflußt hat.

Puppe, in: Nomos Kommentar. Vor § 13, Rn. 103; dies., GA 1994,297,306,307. Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 103; dies., Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgriinde, in: Spendel-FS, S. 451,458; dies., ,Naturgesetze' vor Gericht, JZ 1994, 1147, 1149; vgl. auch Stegmüller, Erklärung, S. 319 ff. m Puppe, in: Nomos Kommentar, Vor § 13, Rn. 103. m Beispiel von Jakohs, AT, 7/15 ff. 3RO 3RI

§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

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§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft. Die Gesamttat als Modell der Kausalitätsfeststellung in Fällen der Mehrfachkausalität Nach der Feststellung der Ungeeignetheit der Conditio-Formel, die bisher von der Literatur und der Rechtsprechung entwickelten, manchmal nicht leicht zu lösenden Problemfalle der Doppel- und Mehrfachkausalität zu lösen, trat ein Teil der strafrechtlichen Literatur mit einer neuen Konstruktion auf; das Ziel dieses neuen Ansatzes besteht darin, die Lösung der problematischen Fälle nicht im Rahmen reiner Kausalitätserwägungen oder (nur) im Bereich der objektiven Zurechnung, sondern letztendlich auf der Normebene auf Grund einer Normzweckargumentation zu finden. Von § 25 Abs. 2 StGB ausgehend, bemüht man sich um die Geltendmachung und Anwendung des seit dem Streit zwischen Schilling (Einzellösung) und Küper (Gesamtlösung) bekannten "Haftungsprinzips Gesamttat" nicht nur bei der Feststellung des Versuchsbeginns, sondern auch in den Fällen der sogenannten Doppel- bzw. Mehrfachkausalität. Zu der von der herrschenden Lehre abgeklärten Frage, wann bei geplanter mittäterschaftlicher Deliktsbegehung das Versuchsstadium erreicht ist3R\ findet man nach dieser Auffassung einen Ausweg, "um die Verlegenheiten einerseits zu beheben, in welche die Kausalitätslehre bei redundanten Erfolgsbedingungen gerät, ein ,Haftungsprinzip' , das andererseits erklären könnte, warum diese Verlegenheit dort nicht empfunden wird, wo Gesetz (§ 25 II StGB: "begehen ... gemeinschaftlich") und strafrechtliche Tradition von einer ,Gesamttat' (o.ä.) ausgehen"m. Die Grundlage für die Anwendung des Haftungsprinzips Gesamttat auch in Fällen der Doppel- und Mehrfachkausalität bilden die zwischen der Kausalitäts- und Beteiligungslehre festgestellten Zusammenhänge auf der einen Seite sowie der Hinweis der bekannten höchstrichterlichen Entscheidung BGHSt. 37, 106 darauf, Kausalität sei unzweifelhaft, wo der Erfolg erst durch die Gesamtheit der Einzelbeiträge herbeigeführt werde, auf der anderen; es handelt sich um einen Fall von Mehrfachkausalität, mit dem sich der BGH auseinandergesetzt hat und der die Frage der strafrechtlichen Produkthaftung im Rahmen des Abstimmungsverhaltens bei Kollektiventscheidungen in einer Unternehmensleitung aufgeworfen hat. Die Kausalität des Beitrages jedes einzelnen Geschäftsführers bzw. Gesellschafters kann nach dieser Entscheidung des BGH dadurch begründet werden, daß man seine Mittäterschaft behauptet. Mit andeJN4 Mittäterschaft an versuchter Tat liegt nach herrschender Meinung dann vor, wenn einer der Mittäter im Rahmen des gemeinsamen Tatentschlusses zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt (Gesamt/äsung); vgl. etwa Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, S. 69; Sch / Sch-Eser, § 22, Rn. 54; SK-Samson, § 25, Rn. 55; Welze/, Lehrbuch, S. 191; lescheck, AT, § 63 IV, S. 617. Die Gegenmeinung vertritt Schilling, Der Verbrechensversuch des Mittäters und des mittelbaren Täters, S. 104, der fiir jeden Mittäter den Versuch erst mit seinem eigenen Tatbeitrag beginnen läßt (Einzel/äsung). m Dencker, Kausalität und Gesamttat. S. 20.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

ren Worten ist er nicht deshalb Mittäter, weil er kausal ist, sondern deshalb mitkausal, weil er Mittäter ist. Nun: Zur Rechtfertigung der Tatsache; daß diese Auseinandersetzung mit der "Mittäterschaftslösung" erst geführt wird, nachdem die Formel vom notwendigen Bestandteil der hinreichenden Mindestbedingung von der hier vertretenen Auffassung bereits aufgenommen worden ist, ist auf die zeitliche Reihenfolge der Entstehung beider Theorien hinzuweisen. Denn die Idee mit der Mittäterschaft wurde erst nach der Darstellung des Modells der hinreichenden Mindestbedingung und unter Ablehnung dieses Vorschlages entwickelt. Es sind nur einige Fälle der Mehrfachkausalität, welche für die herrschende Kausalitätslehre die höchst problematischen sind; aus diesem Grund sei nach dieser Lehre unzweckmäßig, "im Hinblick auf nur denkbare Konstellationen von der Figur der notwendigen Bedingung abzurücken oder im Hinblick auf derart erdachte Fallfiguren von ,Mehrfach' - und ,hypothetischer Kausalität' die Kausalitätslehre zu verbiegen"386. Es wird sich aber im Folgenden zeigen, ob sich dieses "Verbiegen" wegen einiger Fälle der Mehrfachkausalität lohnt.

A. Darstellung des Problems Von Anfang an muß verdeutlicht werden, daß es sich hier um ein Kausalitätsproblem handelt. Das mag folgender Beispielsfall demonstrieren, der die Strukturen des Problems deutlicher werden läßt: Ein Gremium, bestehend aus drei Mitgliedern, faßt einstimmig den Beschluß, eine bestimmte schadensträchtige Maßnahme durchzuführen. Falls eine tatbestandsmäßige Rechtsgutsverletzung eingetreten ist, kann jedes Gremiumsmitglied versuchen, sich darauf zu berufen, daß seine Stimme für dieses Abstimmungsergebnis nicht ursächlich wurde. Dies ist ihm freilich in dem Falle unmöglich, daß der Abstimmungsmodus Einstimmigkeit verlangt und diese erzielt worden ist. Da aber in der Regel eine einfache oder qualifizierte Mehrheit verlangt wird, kann bei konsequenter Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel jedes Gremiumsmitglied zu seiner Verteidigung vorbringen, seine Stimme sei fur den rechtswidrigen Beschluß nicht kausal gewesen, denn auch wenn man sie hinwegdenke, wäre der Beschluß noch gefaßt worden. Diese Argumentation entspricht allerdings dem intuitiven Verständnis von Kausalität nicht. Niemand würde diese Art Verteidigung des Gremiumsmitgliedes, das an der Abstimmung beteiligt war, ernst nehmen; selbst auch intuitive Vorstellungen über die Kausalität weisen darauf hin, der "Obolus" jedes Gremiumsmitgliedes zur Fassung des Beschlusses ist unzweifelhaft. Das Problem verliert trotzdem seine theoretische und praktische Bedeutung nicht. Denn nach J~6

So Dencker, a.a.O., S. 226.

§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

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der Conditio-Fonnel ist das einzelne Votum nur dann kausal, wenn es nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele. Man ist also genötigt zu untersuchen, ob das Stimmergebnis sich geändert hätte, wenn das Votum des einzelnen rechtswidrig Stimmenden fehlte. Und auf der anderen Seite kann, darf und muß jedes Gremiumsmitglied die - sich aus der Anwendung der Conditio-Fonnel ergebende - Nichtursächlichkeit seiner Stimme für den rechtswidrigen Beschluß verteidigen. Denn die Kausalität des eigenen Stimmverhaltens rur die Fassung des Beschlusses zu bestreiten, ist nicht einfach eine denkbare Ausflucht rur das Gremiumsmitglied, sondern auch ein Grund darur, daß die Leistungsfähigkeit der Conditio-Fonnel geprüft wird.

B. Die Lösung des BGH Nach dem BGH ist in diesem Fall danach zu unterscheiden, ob die Gremiumsmitglieder durch ihre Entscheidung den Tatbestand eines Vorsatz- oder eines Fahrlässigkeitsdelikts erfüllt haben. Soweit es um den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung ging, rechnete zunächst der BGH das Abstimmverhalten der vier ersten Geschäftsruhrer aufgrund von Mittäterschaft zu: Jeder von ihnen müsse sich die Tatbeiträge aller anderen zurechnen lassen; es ginge hier um einen Fall von Mittäterschaft bei unechtem Unterlassungsdelikt: "Sie liegt unter anderem vor, wenn mehrere Garanten, die eine ihnen gemeinsam obliegende Pflicht nur gemeinsam erftillen können, gemeinschaftlich den Entschluß fassen, dies nicht zu tun". Außerdem traten nach dem BGH darüber hinaus auch zwei weitere Angeklagte ein, "wiewohl sie nicht Geschäftsftihrer der Muttergesellschaft waren und ihre Anwesenheit bei der genannten Sondersitzung nicht feststeht. Denn sie wurden Uedenfalls) im Anschluß an diese Sitzung über die dort getroffene Entscheidung umfassend informiert, billigten sie und machten sie sich jeweils ftir ihren Verantwortungsbereich auch zu eigen. Dadurch wurden sie Mittäter. Dem steht nicht entgegen, daß die Entscheidung gegen den Rückruf bereits in der Geschäftsführersitzung der Muttergesellschaft gefallen war, sie diese Entscheidung also nur noch nachträglich guthießen und ftir ihren Geschäftsbereich übernahmen"m. Denn zur Begründung der Mittäterschaft bedürfe es nicht einer vorherigen Verabredung, sondern nur eines erst während der Tat entstandenen Einverständnisses. 3RR

Bezüglich der fahrlässigen Körperverletzung setzt sich der BGH diesmal mit der Kausalität der Tatbeiträge auseinander und versucht mittels der Präzisierung 3X7 BGHSt. 37, 106, 129, 130; vgl. aber auch BGH NStZ 1997,272: "Nach der Rechtsprechung des BGH zieht bei einem Geschehen, welches schon vollständig abgeschlossen ist, das Einverständnis des später Hinzutretenden trotz Kenntnis, Billigung oder Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage eine strafbare Verantwortung flir das bereits abgeschlossene Geschehen nicht nach sich." 3XX BGHSt. 37, 106, 130; vgl. aber auch BGH NStZ 1997,336: "Mittäterschaft ist nicht schon im Falle des einseitigen Einverständnisses mit der Tat eines anderen und der Bestätigung eines solchen Einverständnisses gegeben."

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

der Äquivalenztheorie durch die kumulative Kausalität die Ursächlichkeit der Einzelstimme fur den Erfolg nachzuweisen. An dieser Ursächlichkeit fehle es nicht deshalb, weil ein pflichtgemäßes Bemühen des je einzelnen Gremiumsmitgliedes, eine Rückrufentscheidung der Gesamtgeschäftsfuhrung zustandezubringen, möglicherweise gescheitert wäre. "Im Bereich der strafrechtlichen Handlungsverantwortlichkeit ist nicht zweifelhaft, daß, wo mehrere Beteiligte unabhängig voneinander den tatbestandsmäßigen Erfolg erst durch die Gesamtheit ihrer Handlungsbeiträge herbeifuhren, jeder einzelne Beitrag im haftungsbegründenden Sinne ursächlich ist."389 Könne die zur Schadensabwendung gebotene Maßnahme, hier der von der Geschäftsfuhrung zu beschließende Rückruf, nur durch das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zustande kommen, so setze jeder, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu zu leisten, eine Ursache dafur, daß die gebotene Maßnahme unterbleibt. 390

C. Die herrschende Lehre Falls sich ein Gremiumsmitglied zu seiner Verteidigung darauf beruft, seine Stimme sei fur das Abstimmungsergebnis nicht ursächlich, wird zur Vermeidung von rechtsdogmatisch wie auch rechtspolitisch absurden Ergebnissen von der herrschenden Meinung wie folgt argumentiert: Die Kausalität eines jeden von den rechtswidrig Stimmenden für die eingetretenen Schäden läßt sich nach der Conditio-sine-qua-non-Formel bejahen; denkt man das Abstimmungsverhalten eines jeden Geschäftsfuhrers hinweg, so wären die Gesundheitsbeschädigungen der Verbraucher jedenfalls nicht auf diese konkrete Art und Weise herbeigefuhrt worden, wie die in der Tat realisierte. Das heißt, daß der Erfolg nicht aufgrund einer einstimmigen Entscheidung für die Unterlassung des Rückrufs und die Weiterproduktion eingetreten wäre. Diese Entscheidung wäre zwar tatsächlich auch beim Fehlen zweier Stimmen noch getroffen worden. In diesem Falle hätte es sich jedoch nicht um einen einstimmigen Beschluß, sondern um einen 4:2-Beschluß gehandelt. Die Stimme jedes einzelnen Gremiumsmitgliedes ist also fur die konkrete Entscheidung, also für den Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt ursächlich gewesen. 391 3"9

BGHSt. 37, 106, 131.

390

BGHSt. 37,106,131.

391 Weher, BayVBI. 1989, 166, 169; Kühl, AT, § 4, Rz 18; Schlüchter, JA 1984,673 (679); Ehert / Kühl, Jura 1979, 561, 564; Wesseis, AT, Rn. 160 ff. Im Rahmen des Normzweckzusammenhangs hat Jakohs darauf hingewiesen, die Risikoverwirklichung darf - parallel zur Lösung bei den Begehungsdelikten - auch beim Unterlassungsdelikt nicht durch Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe ermittelt werden. Denn jedes Gut sei dauernd einer Reihe von Risiken ausgesetzt, die dritten Personen oder dem Opfer selbst zugerechnet werden könnten. Eine Berücksichtigung dieser zurechenbaren Risiken würde dem Rechtsgut die normative Garantie nach dem Motto nehmen: "Wer mit sich selbst runiös umgeht, dürfte ruiniert werden." Könne der Erfolg nicht abgewendet werden, weil dieser auch bei pflichtgemäßem

§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

127

D. Das Echo in der Literatur Die "Lederspray"- oder sog. "Erdal"-Entscheidung des BGH hat in der strafrechtlichen Literatur einen zentralen Platz eingenommen. Sie ist sogar eine der "Ieading cases"392, wenn es sich um Kausalitäts- oder Zurechnungs fragen handelt. In der bisher erschienenen diesbezüglichen Literatur sind zwei Lösungsvorschläge dargestel1t worden. Diese stimmen zwar im Ergebnis überein, denn beide plädieren fur die Haftung der an einem Abstimmungsverfahren Beteiligten und rechtswidrig Stimmenden. Die Uneinigkeit besteht jedoch in der Rechtfertigung und Begründung dieses Ergebnisses. Die zwei Lösungsperspektiven können wie folgt dargestel1t werden: Kausalitätsnachweis durch reine Kausalitätserwägungen auf der einen Seite und durch ein Model1 mittäterschaftlicher Haftung auf der anderen. An dieser Stel1e werden wir nur die zweite darstel1en. Es ist aUerdings verständlich, daß es nicht so einfach sein kann, jeden einzelnen Ansatz der neuen strafrechtlichen Literatur, welcher dem Model1 des BGH folgt, unter den Titel "Kausalitätsnachweis durch ein Model1 mittäterschaftlichen Haftung" zu setzen. Denn nicht al1e ersetzen in der Tat die Kausalität durch die Mittäterschaft; manche Autoren sprechen nämlich von mittäterschaflticher Haftung jedes einzelnen Gremiumsmitgliedes beim Abstimmungsverfahren, ohne zugleich zu unterlassen, die Kausalität der Einzeltäter zu begründen. 393 Uns interessieren vielmehr al1 jene Ansätze, in denen die Argumentation über die Mittäterschaft für den Kausalitätsnachweis die Hauptrol1e spielt. Verhalten durch einen Dritten (Abbruch oder pflichtwidriges Nichtweiterleiten des rettenden Kausalverlaufs) herbeigeführt worden wäre, so bleibt nach dieser Ansicht die Zurechnung bestehen. Wer beispielsweise eine Baugrube nicht durch Lampen sichert, haftet beim Sturz eines Passanten in die Grube für die Verletzungsfolgen auch dann, wenn nicht auszuschließen oder gar gewiß ist, daß die Lampen vor dem Unfall gestohlen worden wären, so Jakobs, 7/ 90 ff., 21 / 19 ff. (interessant ist aber auch die frühere, gegenteilige, aber "auf einer Überschätzung der Erfolgsrelevanz für den expressiven Gehalt eines Verhaltens" beruhende Ansicht von Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S. 24, Fn. 23). Dieser Ansicht folgt auch Vogel; nach allgemeinen Regeln dürfen kontrafaktische (unwahre) Tatsachen zur Erklärung des Erfolges nicht eingeführt werden. Da es nicht wahr sei, daß im "Lederspray"-Fall die Mitverantwortlichen einen Rückruf ablehnten, dürfe die hypothetische Kausalität ihrer Stimmen in der wahren Kausalerklärung nicht berücksichtigt werden, so Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 159, 160. Hier stellt sich aber die selbstverständliche Frage, ob eine in der Tat bereits vorhandene Mehrheit nicht eine wahre Tatsache ist, die für den Kausalitätsnachweis hinreichend ist. 392

Hassemer, JuS 1991, 253.

SO etwa Weisser, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, S. 104 und 115, obwohl es bei ihr völlig unklar bleibt, was unter einem gesetzmäßigen Zusammenhang zu verstehen ist; wie beispielsweise der von ihr verlangte "real vorhandene Wirkmechanismus" oder die "Wirkung" zu beschreiben ist, die innerhalb einer Gesamtursache entfaltet wird, a.a.O., S. 114, 115, ist von der Autorin offengelassen. Die Behauptung Weissers, die von ihr dargelegte Argumentation zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung weise keine wesentlichen Unterschiede zu Puppes Ansicht auf, a.a.O., S. 119, trifft ferner nicht zu, da Puppe sich ausdrücklich (u.a.) gegen den Begriff der Wirkursache geäußert hat. J93

128

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Erwähnenswert ist auch hier, daß es sich nicht um den Streit über die Kausalität der Unterlassung handelt. 394 In diesem Zusammenhang spielt es überhaupt keine Rolle, ob die betreffende Gremiumsentscheidung zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg durch positives Tun oder durch Unterlassung fuhrt. Das Problem entsteht dadurch, daß sich nach einem Abstimmungsverfahren jeder der angeklagten Verantwortlichen darauf berufen kann, seine rechtswidrige Stimme sei nicht kausal gewesen, da kein rechtlich gewünschter Erfolg wegen der bereits bestehenden Mehrheit hätte eintreten können. Eine Hauptrolle soll nach der folgenden Auffassung dagegen spielen, ob die betreffende Gremiumsentscheidung den Tatbestand eines vorsätzlich oder fahrlässig begangenen Delikts erfullt. Beim Vorsatzdelikt ist nach dieser Auffassung "ein Nachweis der Kausalität zwischen den Einzelbeiträgen der Mittäter und dem Gesamttaterfolg nicht erforderlich"395. Der als Folge des Beschlusses des Kollektivorgans eingetretene Erfolg wird dem einzelnen Gremiumsmitglied, das für die Fassung dieses Beschlusses gestimmt hat, durch die Figur der Mittäterschaft zugerechnet. Zwar müsse auch bei der Mittäterschaft das Verhalten der einzelnen Beteiligten fur den Eintritt des Erfolges kausal sein, doch betreffe dies nur die Kausalität zwischen dem mittäterschaftlich konstituierten Verhalten insgesamt und dem Eintritt des Erfolges. 396 Das nur gemeinsam mögliche Unterlassen des Rückrufesim Falle der "Lederspray"-Entscheidung - aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses entspricht nach dieser Auffassung dem Leitbild der Mittäterschaft oder anders ausgedrückt, einem "Schulfall von Mittäterschaft"397, nämlich dem des arbeitsteiligen Zusammenwirkens aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses. Verletzen mehrere gleichberechtigte Garanten eine ihnen gemeinsam obliegende Handlungspflicht aufgrund eines gemeinsamen Tatentschlusses, so sei das Vorliegen von Mittäterschaft zu bejahen. Wenn die gemeinsame Tatausführung in dem durch diese Kollektiventscheidung manifestierten Unterlassen der Rückrufaktion besteht, dann könnte problematisch sein, ob man in diesem Verfahren zugleich den gemeinsamen Tatentschluß sehen kann. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob der objektive Tatbeitrag und der gemeinsame Tatentschluß zusammenfallen können; Schwierigkeiten soll diese Frage nach all den Auffassungen, die fur die Mittäterschaft plädieren, nicht darstellen: Die Abstimmung beinhaltet das gegenseitige EinverAuf diesen Streit ist noch später einzugehen. 395 Hilgendorj. NStZ 1994,563; vgl. auch Schmidt-Salzer, NJW 1990,2966,2971; ders., Produkthaftung, S. 183,282; Kuhlen, NStZ 1990,566,570; Brammsen, Jura 1991, 533, 537; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 60 ff.; Hasserner, JuS 1991, 253, 254; Hirte, JZ 1992, 257, 258; Joerden, Strukturen, S. 78 f.; BeulkelBachmann, JuS 1992, 737, 743, 744; bei Redakteurhaftung vgl. Franke, JZ 1982,579,582. 39' So formuliert von Hilgendorf, NStZ 1994, 563. 397 Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, S. 125. 394

~ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

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ständnis der Gremiumsmitglieder und zugleich die den Taterfolg herbeiführende Handlung, also auch den Tatbeitrag eines jeden rechtswidrig Stimmenden. Bei dem gemeinsamen Tatentschluß ginge es nicht um eine Verbrechensverabredung und deswegen wird nach den Befürwortern dieser Meinung nicht vorausgesetzt, daß der Abstimmung eine Absprache der künftigen Delinquenten vorausgeht. 398 Nach einer neueren Begründung ist für die Zurechnung der Tatbeiträge eine Vorsatzfassung über den objektiven Geschehensablauf nicht notwendig: Bei dem gemeinsamen Tatentschluß kommt es auf die Verfolgung eines überindividuellen gemeinsamen Zwecks an, der sich aus einer organisatorischnormativen Gemeinsamkeit oder aus einer "nur-normativen Gemeinsamkeit" ergeben kann.J9Q

Relevant ist nach diesen Auffassungen, daß sich das einzelne Gremiumsmitglied der Mehrheit anschließt und die getroffene Entscheidung und anschließende Durchführung auch von seinem Willen und seiner Entscheidungsbefugnis mitum/aßt wird. So hat es beispielsweise Ransiek formuliert: Es "beteiligt sich an der Tat durch Wahrnehmung seiner Kompetenzen,,4oo. Der objektive Tatbeitrag und der gemeinsame Tatentschluß können nach diesen Auffassungen zusammenfallen. Aufgrund der Mittäterschaft ist jedem rechtswidrig Stimmenden das Verhalten der jeweils anderen gern. § 25 11 StGB zuzurechnen, so daß die Kausalität eines jeden Tatbeitrages bejaht werden kann. Allerdings fehlt es nicht an Bedenken: Am Beispiel der zwei Geschäftsführer der Vertriebs-GmbH in der Leder)90 Vgl. Stein, Die strafrechtliche Beteiligungsformenlehre, S. 327: "Eine vorangehende Verabredung der Beteiligten (kann) nach der hier vertretenen Auffassung allenfalls indizielle Bedeutung haben." Nach Stein kommt es darauf an, daß in der Abgabe der einzelnen Stimme ein Verstoß gegen eine mittäterschaftliehe Verhaltensnonn (und nicht gegen eine unmittelbartäterschaftliche) liegt; denn die normrelevante Gefährlichkeit der einzigen rechtswidrigen Stimme liegt nach seiner Auffassung darin, daß der einzelne rechtswidrig Stimmende nicht unabhängig von dem Verhalten der anderen rechtswidrig Stimmenden den Erfolg herbeiführen könnte, S. 327 f. )99 Lesch, ZStW 105 (\ 993), 281 ff. Eine "nur-normative Gemeinsamkeit" betrifft nach Lesch eine Garantenstellung kraft Organisationszuständigkeit, die jedes einzelne rechtswidrig stimmende Gremiumsmitglied für die Ausführung mitzuständig macht.

400 Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 63; für die Mittäterschaftslösung auch Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 284; anders argumentiert etwa Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsde\ikt, S. 66, der folgendes Beispiel vorgebracht hat: Zwei Wilderer geben auf den Förster Schüsse ab. Die Kugeln dringen beide gleichzeitig in das Herz des Försters ein. Der Förster stirbt sofort. Jede Kugel hätte für sich bereits den sofortigen Tod herbeigeführt. Die beiden Wilderer wissen vom Tun des jeweils anderen und davon, daß der andere dies weiß. Ursache des Todes des Försters ist nach Toepel die aus bei den Schüssen bestehende Einheit, denn bei mittäterschaftlicher Begehungsweise ist Zurechnungsgegenstand nicht der einzelne Tatbeitrag der Beteiligten, sondern das gemeinsame Werk als Ganzes. Wirken die von beiden Mittätern gesetzten potentiellen Ursachen gleichzeitig wie bei den beiden Wilderem, "dann läßt sich die Kausalität eines Täters überhaupt nicht mehr herausfiltern", a.a.O., S. 71, 84.

9 Sofas

130

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

spray-Entscheidung, die erst nach dem Beschluß der Muttergesellschaft die Entscheidung ftir ihren Verantwortungsbereich konkludent übernahmen und mittrugen, ist festzustellen, daß sie am Ergebnis faktisch nichts hätten ändern können, "da sie der Muttergesellschaft untergeordnet waren und die Geschäftsftihrer der Mutter ebenfalls Geschäftsftihrer der Töchter-Gesellschaften mbH waren, also ohnehin bereits entschieden hatten"4o,. Es wird nämlich die Kausalität der Tatbeiträge dieser Gremiumsmitglieder ftir den Erfolg in Frage gestellt, die Ransiek jedoch endgültig - aufgrund der Wahrnehmung der den Gremiumsmitgliedern rechtlich zugewiesenen Entscheidungskompetenz über die im Unternehmen zu treffenden Maßnahmen - retten will: ,,Indem sie sich der Entscheidung ... anschlossen, steuerten sie den ihnen als Geschäftsftihrer der Gesellschaft zukommenden und zugewiesenen Beitrag zur Herbeiftihrung der Schadensfolgen bei. Es kann dabei keinen Unterschied machen, ob sie bei der tatsächlich entscheidenden Sitzung anwesend waren oder nicht."402 Nach diesen Auffassungen handelt es sich daher nicht um ein Problem der Kausalität des Abstimmungsverhaltens in einem Gremium, sondern um den Nachweis der kausalitätsersetzenden Mittäterschaft der rechtswidrig Stimmenden. Daß die Mittäterschaft zwar einen Tatbeitrag voraussetzt, ist allerdings unstreitig. Dieser Tatbeitrag müsse aber ftir sich genommen nicht notwendig kausal sein. 403 Der Grund dafür soll u.a. auch auf einer wichtigen Funktion der Figur der Mittäterschaft basieren, die in Fällen zweifelhafter Kausalität aller einzelnen Beiträge der Mittäter dem Richter das Auseinandergliedern dieser Einzelbeiträge erspart. 404 Nicht nur beim Vorsatzdelikt, sondern auch beim Fahrlässigkeitsdelikt soll die Kausalität der Einzelstimme in Kollektiventscheidungen unter Hinweis auf die Gesamtverantwortung sämtlicher rechtswidrig Stimmenden als Mittäter begründet werden. 405 Die herrschende Meinung lehnt allerdings die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft mit der Begründung ab, es fehle bei Fahrlässigkeitstaten an einem gemeinsamen Tatentschluß. 406 Wie es aussieht, ist die Situation auch beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht unproblematisch. Die Argumentation der Anhänger der Figur der fahrlässigen Mittäterschaft bei Kollektiventscheidungen läßt sich wie folgt darstellen: ~ 25 Abs. 2 StGB spräche nur von gemeinschaft40\

40~ 40) 404

Ransiek, a.a.O, S. 64. Ransiek, a.a.O., S. 64. So ausdrücklich Beulke / Bachmann, JuS 1992, 743. Beulke / Bachmann, JuS 1992, 743.

40' Vgl. Dito, "Mittäterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt", Jura 1990,47 f.; ders., Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich, in: Spendel-FS, S. 271, 284, 285; Brammsen, Jura 1991,537; Hilgendorf; NStZ 1994,561,563; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 67, 73; Beulke / Bachmann, JuS 1992, 744. 40. Baumann/Weher, AT, S. 527; leseheck, AT, S. 613; Sch/Sch-Cramer, ~ 25, Rn. 101; Herzherg, Täterschaft, S. 72; LK-Roxin, 25, Rn. 156; SK-Samson, 25. Rn. 54.

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§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

13 I

licher Tatbegehung, so daß der gemeinsame Tatentschluß nicht ohne weiteres als zwingend notwendiges Merkmal der Mittäterschaft angesehen werden kann. 407 Außerdem bilde es eine "Selbstverständlichkeit"408, daß die Täterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht mit den am Vorsatzdelikt entwickelten Kriterien begründet werden könne. Ein Nachweis der kausalen Verknüpfung der einzelnen Tatbeiträge mit dem Erfolg ist nach dieser Auffassung nicht erforderlich. Wenn mehrere Personen unter Mißachtung der Sorgfaltspflicht gemeinsam einen Balken aus einem Haus auf die Straße werfen, so haften sie wegen mittäterschaftlicher fahrlässiger Tötung, falls jemand vom Balken tödlich getroffen wird; wenn sie jeweils nacheinander mehrere Balken auf die Straße werfen, gilt dasselbe auch in dem Falle, daß es nicht feststellbar ist, wer den tödlichen Balken geworfen hat. 409 Die Funktion der Mittäterschaft liegt darin, zur Tatbestandsverwirklichung fremde Tatbeiträge dem zuzurechnen, der den Tatbestand nicht selbst durch eigenes Verhalten erfüllt. Das setzt voraus, daß der eine will, daß der andere für ihn handelt und daß dieser andere auch für den einen handeln will. Die Mittäter müssen auch objektiv gemeinsam an der Tatausführung mitwirken, "und jeder will das Verhalten des jeweils anderen reziprok als sein eigenes Verhalten gelten lassen - eine gegenseitige Vertretung, nicht nur eine einseitige ( ... ) Gegenseitigkeit liegt auch bei der Entscheidung eines mehrköpfigen Gremiums vor. Jeder zur Entscheidung Berufene, der für eine bestimmte Maßnahme stimmt, will, daß die Stimmen der ebenso Entscheidenden auch für ihn wirken, um gemeinsam ggf. die erforderliche Mehrheit zu bilden."4Io

Das relevante Kriterium für die Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich undfernerfür die Ha:ftung der Geschäftsführer in der Lederspray-Entscheidung - ist also das Bewußtsein der an der Abstimmung Beteiligten, gemeinsam eine sie treffende Pflicht zu einem bestimmten Verhalten nicht zu erfüllen. 411

407 40. 409 410

Vgl. Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 70. Duo, Jura 1990,47 (48); Ransiek, a.a.O., S: 70; Brammsen, Jura 1991,537. Das Beispiel kommt von Duo, in: Spendel-FS, S. 282. Ransiek, a.a.O., S. 73.

411 Duo, in: Spendel-FS, S. 283; im Anschluß an Otto ninunt die Figur der fahrlä,sigen Mittäterschaft neuerdings auch Weisser (Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, S. 151 ff., insb. S. 156, 158) an; vgl. auch die Entscheidung des Schweizerischen BG, BGE 113 IV 58; BayObLG NJW 1990,3032.

9'

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

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E. Conditio-Forrnel und Gesarnttat als Modell für den Kausalitätsnachweis, insb. in Fällen der Mehrfachkausalität - Litern Iite resolvere? Es ist bisher unzweifelhaft, das die oben genannten Überlegungen das Bestehen des Problems des Kausalitätsnachweises, insbesondere in Fällen der sog. Mehrfachkausalität bestätigt haben. Im Folgenden soll es untersucht werden, ob die Modifizierung der Äquivalenztheorie durch die kumulative Kausalität, oder die Figur der Mittäterschaft, welche die Kausalität ersetzen soll, in der Tat eine klare, verständliche und anderen Rechtssätzen nicht widersprechende Problemlösung zu erreichen vermag. 1. Kumulative Kausalität

Nach der durch die kumulative Kausalität modifizierten Äquivalenztheorie ist von mehreren Ursachen, die erst durch ihr Zusammentreffen den Erfolg herbeiführen konnten, jede kausal. So lautet auch die Lösung des BGH im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts, wie oben aufgeführt. 412 Der bloße Hinweis darauf, jede Einzelstimme sei ursächlich, wenn mehrere Stimmende erst durch die Gesamtheit ihrer Stimmen die Entscheidung und damit den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführen, kann jedoch die richtige Dimension des Problems nicht darstellen und unglücklicherweise die Kausalität jeder rechtswidrigen Stimme nicht nachweisen. Denn: Wenn für die Fassung eines Beschlusses von einem 6-köpfigen Gremium eine einfache Mehrheit ausreicht, dann sind nur die Stimmen vierer erforderlich und die Entscheidung wird dadurch getroffen. Das heißt, daß bei einem einstimmig gefaßten, aber mit einfacher Mehrheit zu treffenden Beschluß nicht jede Einzelstimme für den tatbestandsmäßigen Erfolg ursächlich ist, da nur die Stimmen zur Erfolgsherbeiführung erforderlich sind, die es zur Herbeiführung der ausreichenden Mehrheit bedarf. Zur Begründung der Kausalität jeder Einzelstimme ist also das Argument, die Gremiumsmitglieder hätten erst durch die Gesamtheit ihrer Stimmen die Entscheidung und somit den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt, nicht überzeugend. 4IJ Auf der anderen Seite ist das Argument, nur eine Bejahung der Kausalität werde der gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht414 , bedenkenlos richtig, aber dies macht den Kausalitätsnachweis nicht leichter.

412

S. oben § 5, B.

So bereits Ransiek, a.a.O., S. 68; Neudecker. a.a.O., S. 222; Röh. a.a.O., S. 48. Unklar bleibt die Auffassung von Kuhlen. NStZ, 1990, 570, der sich zwar der Begründung des BGH anschließBt, aber die Conditio-Forrnel "nicht allzu ernst nehmen" will. 414 BGHSt. 37, 106, 132. m

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Bei näherer Betrachtung der Argumentation des BGH über die kumulative Kausalität muß aber auch folgendes bemerkt werden: Der BGH gelangt zum Ergebnis, jedes Gremiumsmitglied setze eine Ursache dafür, daß die gebotene Maßnahme unterbleibt, durch einen Vergleich dieses Unterlassungsfalles mit einem Fall positiven Tuns: "Was aber hiernach für die Handlungsverantwortlichkeit gilt, muß ebenso auch im Bereich der strafrechtlichen Haftung für Unterlassungen gelten."415 Dieser Vergleich führt jedoch zum falschen Ergebnis. Dies läßt sich schon aus logischen Gründen416 demonstrieren: Wenn a notwendig für das Eintreten des Erfolges ist, dann ist, umgekehrt betrachtet, das Fehlen von a hinreichend für das Ausbleiben des Erfolges. Kann der Schaden nur duch das Zusammenwirken mehrerer abgewendet werden, so ist, umgekehrt betrachtet, das Untätigbleiben jedes einzelnen von ihnen hinreichend, den Schaden herbeizuführen. Nun ist der Vergleich logisch falsch, weil er nach dem BGH zur Annahme führen soll, das Untätigbleiben jedes Gremiumsmitglieds sei notwendig, den Schaden herbeizuführen ("setzt jeder, der ... unterläßt, ... eine Ursache"417), denn der Schaden könne nur durch das Zusammenwirken mehrerer abgewendet werden. 418 Nun stellt sich die folgende Frage: War das Untätigbleiben jedes Gremiumsmitglieds, also aller sechs Gesellschafter, notwendig, den Schaden herbeizuführen? Nicht wirklich! Eine Mehrheit von vier Gesellschaftern war bereits hinreichend, daß der Beschluß gegen den Rückruf gefaßt werden kann. Das Untätigbleiben aller sechs Gesellschafter wäre, wie bereits betont, in dem Falle notwendig, den Schaden herbeizuführen, daß die Entscheidung nur einstimmig getroffen werden mußte. Wäre das der Fall gewesen, so läge zweifellos kumulative Kausalität vor. 2. Mittäter und damit kausal Liegt keine kumulative Kausalität in unserem Beispielsfall vor, so bleiben nur noch folgende Alternativen übrig, um zur Tatbetsandsmäßigkeit des Verhaltens jedes einzelnen Gremiumsmitglieds zu gelangen: Entweder, wie bereits erwähnt, kann man jedes Gremiumsmitglied als mitkausal darstellen, indem man seine Mittäterschaft begründet419 ; oder man lehnt das Erfordernis der Kausalität jedes einzelnen Tatbeitrages überhaupt ab, denn in Fällen der Doppeloder Mehrfachkausalität könne keine der einzelnen Handlungen für den Erfolg kausal sein, will man auf die Lehre der Erfolgskonkretisierung verzichten. 42o 41;

BGHSt. 37,106.131.

41.

Vgl. Puppe. JR 1992,32.

417

BGHSt. 37,106,131.

m BGHSt. 37, 106, 131. 419

S. oben § 5, Bund D.

Den Kausalitätsnachweis mit Hilfe der Lehre der konkreten Erfolgsgestalten lehnt mit treffender Argumentation neuerdings Weisser, Kausalitäts- und Täterschaftsprobleme bei der 420

134

1. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

Diese Auffassung hat grundsätzlich Dencker vertreten. 421 Sie wird im nächsten Kapitel behandelt. 422 Ob die Kausalität jedes einzelnen Tatbeitrages in Fällen der Doppel- oder Mehrfachkausalität ersetzt oder überhaupt abgelehnt werden kann, bleibt also eine noch offene Frage.

3. Kausalität und Gesamttat Seine Untersuchung widmet Dencker den von ihm festgestellten Zusammenhängen zwischen der Kausalitäts- und der Beteiligungslehre; dementsprechend hat er auch seine Problematik in zwei Hauptteile eingeteilt: Im ersten Hauptteil befaßt sich der Autor ausschließlich mit der Definition .und Feststellung der Kausalität beim Individualdelikt; im zweiten Hauptteil soll eine bislang fehlende Verarbeitung des Begriffs "Gesamttat" insbesondere in Fallgruppen mehrfacher Kausalität vorgenommen werden. Die mit dem "gemeinschaftlichen Begehen" verbundenen Handlungen mehrerer können danach unter den sich aus einer "konstitutiven Bedeutung" des § 25 Abs. 2 StGB ergebenden sogenannten "Gesamttatbeständen" subsumiert werden und erst über diese ihren ursächlichen Zusammenhang zum Erfolg finden. a) Kausalität; Ablehnung der Doppel- oder Mehrfachkausalität

Was die Kausalitätsfrage betrifft, ist zunächst nach Dencker auf eine grundlegende Unterscheidung zwischen der Definition und der Feststellung der Kausalität hinzuweisen. Nach seiner Auffassung gehört nun die Definition der Kausalität "durch die c.s.q.n.-Formel" wie der Begriff "Kausalität" auf die Ebene der Norm, "alles hingegen was die Feststellung der Kausalität im Einzelfall betrifft, ist Teil der unter die Norm zu subsumierenden Tatsachenwelt (also auch die von Engisch insoweit zu Recht hervorgehobenen Naturgesetze - als strafrechtlichen Würdigung pflichtwidriger Kollegialentscheidungen, S. 108, ab: "Der Erfolg, auf dessen konkrete Gestalt es ankommt, ist nicht das Abstimmungsergebnis an sich, denn Anknüpfungspunkt fiir den strafrechtlichen Schuldvorwurf ist nicht die getroffene Mehrheitsentscheidung selbst, sondern vielmehr die durch die Ausfiihrung dieser Entscheidung ... verursachte Körperverletzung bei den Produktkonsumenten. Maßgeblicher Erfolg ist allein diese eingetretene Körperverletzung". Weisser prüft sodann die Kausalität des EinzeIabstimmungsverhaltens fiir die Verletzungsfolge nicht danach, was passiert wäre, wenn einzelne Umstände nicht vorgelegen hätten, sondern auf Grund des real erfolgten Geschehensablaufs. "Und bei diesem realen Geschehensablauf besteht kein Zweifel an der Ursächlichkeit der Einzeldosen fiir die tödliche Gesamtursache ( ... ) Damit ist auch der Zusammenhang zur Einzeldosis festgestellt: Sie entfaltete eine Wirkung innerhalb der Gesamtursache und wurde damit auch im Verletzungserfolg Tod des Opfers ursächlich", a.a.O., S. 115 (Hervorhebung nicht im Original). Daß die Einzelstimme eine Wirkung entfaltet hat, besagt aber nichts fiir ihre Kausalität, wie sie nach dem hier vertretenen Konzept nachvollzogen wird. 421 Dencker. Kausalität und Gesamttat. 422

und zugleich kritisiert.

§ 5 Eine neue Tendenz: Kausalität durch die Mittäterschaft

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Spezialfall allgemeiner Erfahrungsregeln) und ihres Beweises"m. Die Kausalität sei als eine notwendige Bedingung zu definieren und anhand von Gesetzmäßigkeiten im Sinne Engischs festzustellen und zu beweisen. Das kann aber nicht zutreffen. Die Norm kann nicht verlangen, daß ein menschliches Verhalten notwendig den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigefiihrt hat; die Norm enthält schlechthin den Begriff Kausalität - und hier ist Dencker zuzustimmen - als analytischen Hilfsbegriff zu den Verben der Tatbestände, also die Voraussetzung, daß der tatbestandsmäßige Erfolg dem Täter zugerechnet werden kann: Die Norm verlangt mit anderen Worten die imputatio. Für ihre Definition wird auf die dafiir "zuständigen" (Natur-, oder wie auch immer sonst zu nennenden) Wissenschaften "verwiesen", die einen Obersatz geben, der beschreibt, wie die Verknüpfung eines Ereignisses mit einem anderen generell kausal zu erklären ist (sog. generelle Kausalität). An dieser Stelle sei an die Teilung ("partitio") von Begriffen erinnert: Bei der partitio eines Begriffes sehen wir, was in ihm enthalten ist; es geht um eine Einteilung eines Begriffes im engeren Sinne, also die Anfiihrung der unter einem gemeinsamen Gattungsbegriff fallenden Artbegriffe, wobei nicht vorauszusetzen ist, daß sich diese letzteren gegenseitig ausschließen. 424 Bei der partitio des Begriffes "Bedingung" zeigt es sich also, daß es entweder hinreichende oder (und) notwendige Bedingungen gibt; eine "Bedingung" schlechthin kann nicht existieren. Wenn man von Gesetzmäßigkeiten zu sprechen pflegt, dann stellt man bestimmte Sätze auf, die eine notwendige oder (und) eine hinreichende Bedingung ausdrücken. Das "Wie" der imputatio, also deren Feststellung durch eine sich aus empirischen Gesetzmäßigkeiten ergebende hinreichende oder (und) eine notwendige Bedingung, gehört auch nicht auf die Ebene der Norm, sondern zu der unter die Norm zu subsumierenden Tatsachenwelt425 ; die Berufung auf einen "gesetzmäßigen Zusammenhang" bedeutet nämlich den Rekurs auf eine empirische Gesetzmäßigkeit, welche die Täterhandlung und den Erfolg nicht nur im Einzelfall, sondern auch generell verknüpft (generelle Kausalität). Diese generelle Kausalität ist durch Kausal- oder Naturgesetze festzustellen (m.a.W. mit Hilfe 42J

Dencker. a.a.O., S. 47.

Näher dazu s. Engisch, Begriffseinteilung und Klassifikation in der Jurisprudenz, in: Larenz-FS (1973 l, S. 125 ff., wo Engisch darauf hingewiesen hat, daß die partitio mit der Zerlegung des Begriffes in seine "Merkmale" nicht zu verwechseln ist, was Sache der definitio ist. 414

425 S. dazu aber auch Maiwald, Kausalität und Strafrecht, S. 107 f. Die unter den gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu subsumierenden Tatsachen sind Teil der TatsachenweIt und die Kausalgesetze die - sozusagen - Urteilsbasis der Kausalitätsfeststellung. Die Feststellung der Kausalität ist nach Maiwald Feststellung einer Wirklichkeitsstruktur. auf die sich die Rechtsnorm beziehe, die aber nicht deren Bestandteil sei: Die Wirklichkeitsstruktur werde vom Rechtssatz vorgefunden, sei aber nicht dessen Bestandteil.

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I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

der Naturwissenschaften, oder wie auch immer sie zu nennen sind). Danach ist die Tatsachenwelt unter diese Kausalgesetze zu subsumieren und dadurch die fragliche Kausalität bejahend oder verneinend festzustellen. Die generelle wie auch die konkret im Einzelfall festgestellte Kausalität gehören nicht auf die Ebene der Norm, sondern zu dem Beweis dessen, was die Norm als Mindestvoraussetzung der objektiven Zurechnung enthält, der imputatio; der Unterschied zwischen der generellen und der konkreten Kausalität besteht darin, daß die generelle Kausalität durch die (Natur-)Wissenschaften, welche das jeweils zur Erklärung herangezogene Kausalgesetz liefern, während die konkrete Kausalität durch die Subsumtion des jeweils zu prüfenden, tatbestandlich interessierenden tatsächlichen Sachverhaltes unter das Kausalgesetz zu ermitteln ist (Hempel-Oppenheimer-Schema der Kausalerkärung). Das bedeutet, daß die generelle Kausalität durch die Kausalgesetze als gesicherte (bzw. determinierte) naturwissenschaftliche Erkenntnisse vom Richter ohne weiteres zugrundezulegen ist. [Deshalb ist das Argument widersprüchlich, nach dem zwar von der Bindung des Richters an gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse gesprochen wird, aber der Richter sich eine eigene Überzeugung von der Frage bilden müsse, ob es sich um in der Tat gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse handelt. 426 ] Das ist (noch) keine Argumentation gegen die notwendigen Bedingungen als Mittel für die Feststellung der Kausalität. Aber eine "Definition der Kausalität mit Hilfe der Figur der notwendigen Bedingung"427, die "wie der Begriff Kausalität ... auf die Ebene der Norm"42H gehören soll, führt zu einer willkürlichen und nicht vorgesehenen "Überladung" der Norm. GenereIl soll nach Dencker Kausalität durch die Figur der notwendigen Bedingung definiert werden: "Kausal ist die Handlung, die notwendige Bedingung des Erfolges ist."4247 MK

M9 MO MI

Röh, a.a.O., S. 179.

Für die Jakobssehe Lösung s. oben § 6. Röh, a.a.O., S. 181. Röh, a.a.O., S. 181. Röh, a.a.O., S. 182.

13 Sofos

194

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

B. Kritische Auseinandersetzung mit den Darlegungen Röhs Besteht ein perfekt gewordenes Risiko, so sind zeitlich später erschienene, für die Rechtsgutsverletzung perfekt werdende Risiken Begleitbedingungen des ersten und damit für den Erfolgseintritt zurechnungsirrelevant; es sei denn, es bestünde gemeinsame Zuständigkeit zwischen den Garanten mit der Folge, daß das Wann des Perfekt-Werdens der Risiken keine Rolle mehr spielen kann. Die Festsetzung von Zuständigkeitsbereichen ist allerdings nicht nur letzterenfalls notwendig. Sie ist auch bei nacheinander perfekt werdenden Risiken unentbehrlich; denn es muß auch in solchen Fällen nachgewiesen werden - wenn überhaupt vom perfekten Risiko gesprochen werden soll -, daß es sich für den Letzthandelnden bei dem perfekten Risiko, das er nur variiert, um ein fremdes, also in einen anderen Zuständigkeitsbereich fallendes Risiko handelt. Einerlei, ob früher perfekt gewordenes Risiko oder gemeinsame Zuständigkeit, erweist sich im Einzelfall das Urteil über die Verteilung von Zuständigkeitsbereichen als für die strafrechtliche Zurechnung entscheidend. Es sieht nämlich so aus, daß die Feststellung der jeweiligen Zuständigkeiten, welche die den Einzelfall betreffenden Personen haben, zugleich die "Präambel aller Zurechnung" ausmacht. Nun: Abgesehen davon, daß das "Zuständigkeitskollektiv" viele Ähnlichkeiten mit den "Gesamttatprojekten" Denckers hat652 , stößt man auf ein grundsätzliches Problem, das jene Lehre charakterisiert, die für die Teilung der Gesellschaft in Zuständigkeitsbereiche plädiert: Ihr fehlt eine feste Grundlage, die jeweils den Grund für die - sei es auch nonnative - Umschreibung bzw. Zuschreibung von Zuständigkeiten angeben soll. Eine solche Grundlage hat jedenfalls Röh nicht angegeben. 653 Demzufolge muß jede Aussage über Zuständigkeiten zu Manipulationen führen, je nachdem, wie der jeweilige Henneneutiker den "kommunikativen Kontext"654 ansieht. Die WiIlkürlichkeit zeigt sich dort deutlich, wo die nacheinander perfekt werdenden Risiken von den Fällen gemeinsamer Zuständigkeit unterschieden werden: Mangels eines "verbindenden kommunikativen Kontextes"655 oder eines "gemeinsamen Bedeutungskontextes"656 sei im ersteren Fall eine Distanzierung des zuletzt unterlassenden Garanten von vorangegangenem Unterlassen anderer Garanten durchaus möglich. "Sein Handeln mag mit dem in fremder Zuständigkeit entstandenen Risiko faktisch verknüpft sein, es hat jedoch nicht die Bedeutung einer Zustimmung zu M2

Es gelten damit die gleichen Einwände, s. oben § 5, E.3.b) .

•,1 Obwohl er zahlreiche "Regeln" fonnuliert hat, die - jenseits ihrer schwierigen Handhabung bei der Zurechnung im Strafrecht - eher tautologischen als definitorischen Charakter haben . •,4 Röh, a.a.O., S. 182.

m Röh, a.a.O., S. 182. 6,6

Röh, a.a.O., S. 196.

§ 9 Erfolgsüberbedingung und Zuständigkeitskollektive

195

dem vorangegangenem Fehlverhalten des/der anderen."657 Letztere soll immer dann vorliegen, wenn ein verbindender kommunikativer Kontext besteht, nach dem der Letzthandelnde zusammen mit den übrigen Tätern ein Zuständigkeitskollektiv bildet. Je nachdem, welche kommunikative Relevanz dem Verhalten des Letzthandelnden zukommt, wird also im Einzelfall von gemeinsamer Zuständigkeit und damit von allseitiger Zurechnung, oder von voneinander unabhängigen, perfekt werdenden Risiken und damit von Befreiung der Letzthandelnden von der Erfolgszurechnung gesprochen. Ist dies aber möglich? Jedenfalls nicht ohne eine begriffliche Festsetzung des Erfordernisses der kommunikativen Relevanz des Verhaltens: Hinter diesem Erfordernis wird immerhin die eigentliche Zurechnungsfrage versteckt, scilicet ob das Verhalten in der Kausalerklärung aufzunehmen ist; gibt es einen Kontext, der das zu prüfende Verhalten für kommunikativ relevant erklärt und bei Mehrfach- bzw. kumulativer Kausalität für die "Gemeinsamkeit" der jeweiligen Zuständigkeiten spricht, so liegt ein Zuständigkeitskollektiv vor, womit jedes kommunikativ relevante Verhalten im Kontext des Verhaltens der anderen Kollektivmitglieder steht. Quid? Die kommunikative Relevanz im Sinne Röhs kann kein Zurechnungskriterium sein, denn es hängt immer von dem jeweiligen Empfanger des Kontextes ab, ob in Fällen der Mehrfach- bzw. kumulativen Kausalität die in diesem Kontext enthaltenen Verhaltensweisen bestimmte, in einer zeitlichen Reihenfolge stehende, perfekte Risiken gesetzt haben oder sie zu einem Zuständigkeitskollektiv gehören. Das Kriterium der Zuständigkeitskollektive ist daher als beliebig manipulierbar abzulehnen. [Jakobs, der letztendlich die kommunikative Relevanz der Verhaltensbedeutung im strafrechtlichen Sinne ausgedacht hat, hat sie in einem anderen Sinne bestimmt. So liest man bei ihm: "Eine Tat ist ein Geschehen, von dem man in sich objektiv schlüssig berichten kann, und zwar beurteilt nach einem objektiven, sozial relevanten Urteil. Es ist dabei keine Perspektive ex ante gegen eine solche ex post auszuspielen, und die Eigenschaften der urteilenden Maßstabspersonen lassen sich nicht variieren: Die Ausgangsgestalt der Welt wird ... durch Erfahrung gewonnen, auch aus Erfahrenem mit richtigen Regeln erschlossen. "658] Nun befinden wir uns am wunden Punkt der Untersuchung Röhs: Das Mitglied eines Geschäftsführergremiums, das seine Stimme bzw. Einverständnis nach der Bildung der erforderlichen Mehrheit abgegeben hat, soll unzweifelhaft kraft "gesellschaftlicher Gesamtverantwortung"659 einem Zuständigkeitskollektiv angehören und somit das von den anderen bereits gesetzte perfekte Risiko zurechnungsrelevant erweitern. Auf der anderen Seite ist hiervon der Fall zu un657

Röh, a.a.O., S. 181.

m Jakobs, Tätervorstellung und objektive Zurechnung, in: Annin Kaufmann-GS, S. 271,

281 (Hervorhebung nicht im Original) . •'9 Röh, a.a.O., S. 179. 13'

196

1. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

terscheiden, in dem das Beschlußverfahren formell abgeschlossen ist, der zuletzt Unterlassende nachträglich befragt wird und den rechtswidrigen Beschluß billigt. Hier "handelt es sich ... lediglich um eine persönliche Meinungskundgabe, die für die Beschlußfassung als solche nicht mehr kausal werden kann"660. Trotz des formellen Abschlusses des Beschlußverfahrens hört aber der zuletzt Unterlassende nicht damit auf, Mitglied des Zuständigkeitskollektivs zu sein; warum sollte ihm der formelle Abschluß des Verfahrens zugute kommen? Dann sollten diejenige Gremiumsmitglieder Glück gehabt haben66I , die nach der formellen Beschlußfassung ihre rechtswidrige Stimme abgegeben haben. Es zeigt sich also, daß die Abgrenzung der Fälle überbedingter Erfolge von denen der gemeinsamen Zuständigkeit nicht ohne Willkür erfolgt: In bestimmten Fällen wird der als Mitglied eines Zuständigkeitskollektivs Letzthandelnde wegen "Formalitäten" von der Erfolgszurechnung ausgeschlossen (etwa weil das Beschlußverfahren formell abgeschlossen ist); und in anderen Fällen haftet wiederum der als Mitglied eines Zuständigkeitskollektivs Letzthandelnde nur aufgrund seiner Eigenschaft, Mitglied dieses Kollektivs zu sein, für den eingetretenen Erfolg. 662 Wie sind denn diese Fälle zu unterscheiden? Wären vielleicht hier die Bestimmungen des Gesellschaftsrechts hilfreich? Gegen die Zuständigkeitsverteilung ist einzuwenden, daß sie mit den Zielen des Systems des Strafrechts überhaupt nichts zu tun hat; sie kann dafür sogar auch gefahrlich werden. Konkret: Die Aufzählung von Zuständigkeiten, die aus einem anderen Rechtsbereich abgeleitet werden, etwa aus dem Gesellschaftsrecht66" macht die Gefahr unübersehbar, daß den Zwecken des Strafrechts entweder solche fremder Rechtsbereiche beigemessen oder sie sogar durch jene ersetzt werden können. Nach der hier vertretenen Ansicht ist natürlich nicht die völlige Befreiung des Strafrechts etwa von dem Zivilrecht zu propagieren. Die Kriterien der Zurechnung im Strafrecht können jedoch keinesfalls nach einer tatunabhängigen, auf die Einzelheiten der Handlungssituation nicht achtenden Orientierung formuliert werden. Konkret: Die Geschäftsführer eines Unternehmens gehören unzweifelhaft einem gesellschaftsrechtlichen Zuständigkeitskollektiv an; vom in einem solchen Sinne zu verstehenden Kollektiv ausgehend ein strafrechtlich zurechnungsrelevantes Zuständigkeitskollektiv ins Leben zu rufen, dessen Mitglieder von einer zurechnungsbegründenden (gemeinsamen) Zuständigkeit erfaßt werden, widerspricht nicht nur verfassungsrechtlichen nulla-poena-Grundsätzen, sondern unterschätzt überhaupt die strafrechtliche 660

Röh, a.a.O., S. 183 (Fn. 30).

Auf den Begriff und die Bedeutung des Zufalls werden wir für die vorliegende Problematik wir später zurückkommen. 662 Hierbei geht es um ungleiche Behandlung, auch wenn man nicht an der Funktion strafrechtlicher Sanktionsnormen als Güterschutznormen festhält, vgl. Röh, a.a.O., S. 198. 61» S. nur den Verweis Röhs auf gesellschaftsrechtliche Literatur zwecks Konkretisierung der "gesellschaftlichen Gesamtverantwortung", a.a.O., S. 179, Fn. 26. 661

§ 10 Zwischenergebnis

197

Wissenschaft. "Eine Zurechnung zum Kollektiv ist unserem Strafrecht fremd und muß ihm so lange fremd bleiben, wie in seinem Namen Menschen bestraft werden. ,,664

§ 10 Zwischenergebnis Auch wenn es Anfang der 90er Jahre den Anschein hatte, als werde sich die Kritik von Engisch an der logischen Richtigkeit der Lehre von der notwendigen Bedingung endlich durchsetzen, hat sich diese Erwartung also nunmehr als trügerisch erwiesen. Es kann weniger denn je davon die Rede sein, daß über die theoretisch richtige Bewältigung des Problems der Mehrfachkausalität Einigkeit erzielt worden sei. Aus diesem Grund besteht trotz der zahlreichen Diskussionsbeiträge, die der Lederspray-Fall ausgelöst hat, das Bedürfnis nach der Untersuchung der empirischen und logischen Grundlagen der Bestimmung der Einzelursache anhand der Fälle der Mehrfachkausalität. In den Naturwissenschaften, in der Technik, in der Physik, in der Medizin, in der Psychologie, in der Philosophie und Wissenschaftstheorie, in der Soziologie etc. ist das Fundament des Kausalbegriffs eins und dasselbe: Man hat keine meßbare "Wirkkraft", sondern Gesetzmäßigkeiten festzustellen. Es ist kein Grund ersichtlich, der für die Notwendigkeit des Bestehens eines speziellen und unabhängigen juristischen Kausalbegriffs spricht, mit dem der Jurist arbeiten muß. Mittels des oben dargestellten im Strafrecht anzuwendenden und immer mehr an Boden gewinnenden Zurechnungsmodells wird die Ursache-Wirkungs-Tenninologie und jede Art von Metaphysik aus der Kausalerklärung ausgeschieden. Diese Erkenntnis stimmt auch mit dem an einer früheren Stelle665 dargestellten Ergebnis der modemen analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie überein. Die Kausalerklärung besteht darin, einen Satz, der das zu erklärende Vorkommnis beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen logisch abzuleiten. Dieses Vorkommnis bildet das Endglied einer Entwicklungsreihe, die durch zeitlich und örtlich benachbarte Ereignisse gekennzeichnet wird, so daß man Ursachenketten und die genetische Kausalerklärung erhält.

Die Bestimmung des Begriffs der Einzelursache als eines notwendigen Bestandteils einer nach allgemeinen empirischen Gesetzen hinreichenden und wahren Mindestbedingung deckt sich mit dem wissenschafts theoretischen Begriff der Einzelursache. Kausalität zwischen einem Tun und einer für ein Rechtsgut nachteiligen Veränderung von Zuständen (Erfolg) besteht nicht nur dann, wenn das Verhalten notwendige Bedingung fur den Erfolg ist, wie sie sich aus der conditio-sinequa-non-Fonnel ergibt. Gibt es mehrere konkurrierende Kausalerklärungen, so oM 06'

Hassemer, Produktverantwortung im modemen Strafrecht, S. 66. S. oben § 2, A.

198

I. Teil: Die Kausalität des positiven Tuns

sind Eintritt und Nichteintritt des Erfolges nicht mehr vom Verhalten einer einzigen Person abhängig. Mit der Conditio-Formel wird aber dem Täter der Erfolg dann und deshalb zugerechnet, wenn es von ihm abhängig ist, ob er eintritt oder nicht. Die Conditio-Formel verlangt für die Erfolgszurechnung zu viel, während die Versuche, dieses "Zuviel" zurückzunehmen, wie es vor allem die Lehre der konkreten Erfolgsgestalten leisten soll, zirkelschlüssig und widersprüchlich sind. Bei Mehrfachkausalität kann weder der Begriff der Wirkursache noch der des Erfolges in seiner konkreten Gestalt helfen, um die mehrfach vertretene Ursache doch als notwendig darzutun, es sei denn, man zählt zum Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt die mehrfach vertretene Ursache selbst, wie es der BGH in seiner Lederspray-Entscheidung (BGHSt. 37, 106 ff.) getan hat. Engisch hatte zuerst in seiner berühmten Abhandlung "über die Kausalität666 die conditio-sine-qua-non-Formel scharf kritisiert; auf Grund dieser Kritik hat die moderne Kausalitätslehre die von Engisch dargestellte Formel von der gesetzmäßigen Bedingung in Übereinstimmung mit den Resultaten der Wissenschaftstheorie und der Philosophie präzisiert, den Kausalbegriff von der metaphysischen causa efficiens gereinigt und einen logisch-empirischen Kausalzusammenhang zwischen Verhalten und Erfolg in die Strafrechtswissenschaft eingeführt: Es genügt für die Feststellung der Kausalität, daß das Verhalten notwendiger Bestandteil einer tatsächlich erfüllten und nach strikt deterministischen (Nahwirkungs-)Gesetzen hinreichenden Mindestbedingung für den Erfolg ist. Das Verhalten muß nämlich zu den Antezedensdaten gehören, die zusammen mit anwendbaren Naturgesetzen den Erfolgseintritt ableitbar machen.

666

Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände.

Zweiter Teil

Die Kausalität der Unterlassung § 1 Die Unterlassung: Allgemeines Neben dem positiven Tun bildet die Unterlassung die zweite Erscheinungsform zurechenbaren Verhaltens. Bereits am Anfang unserer Untersuchung war eindeutig, daß nach ganz einhelliger Ansicht im Bereich des positiven Tuns die Grundlage für die Zurechenbarkeit bestimmter Geschehensabläufe ein positiver Energieeinsatz ist, durch den der Täter einen Geschehensablauf ausgelöst hat. Das Erfordernis eines solchen positiven Energieeinsatzes kann bei der Unterlassung nicht vorliegen: Die Zurechnung von Geschehensabläufen ließe sich nicht darauf stützen, daß der (Unterlassungs-)Täter einen Erfolg durch Be-wirken eines Kausalverlaufs herbeigeführt hat. Das Unterlassungsverbrechen ist nach der herkömmlichen strafrechtsdogmatischen Unterscheidung667 der Inbegriff der Verletzung einer Gebotsnorm, oder m.a. W. einer Verhaltensnormverletzung. Verhaltens- und Sanktionsnormen668 enthalten in kontradiktorischer Formulierung alle Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB669 , indem sie ein positives Tun ver- oder gebieten. Während das tatbestandsmäßige Verhalten im Falle des vollendeten Begehungsdelikts verbotswidrig ist, ist es beim Unterlassungsdelikt gebotswidrig. Im Besonderen Teil des StGB werden teilweise Verstöße gegen Gebotsnormen, also gebotswidrige Verhalten, gesetzlich formuliert und damit ausdrücklich für strafbar erklärt; es handelt sich um die als echte bezeichneten670 Unterlassungsdelikte, deren Unrecht in der Nichtvornahme einer vom Gesetz geforderten Handlung besteht. 671 Dadurch wird zugleich eine Verletzung der allgemeinen Mindestsoli667 Die Rechtsnonnen sind entweder Verbots- oder Gebotsnonnen: Durch eine Verbotsnonn wird ein positives Tun untersagt, durch eine Gebotsnonn wird eine bestimmte Handlung anbefohlen.

1>6~ Durch diese wird festgelegt, unter welchen Voraussetzungen eine Person für ein bestimmtes Verhalten verantwortlich ist und die genannte Strafe eintreten soll; s. etwa Kindhäuser, GA 1989, 493 ff., 505.

Binding, Die Nonnen und ihre Übertretung, Bd. I, S. 36 ff. "Einfache" nach JeschecklWeigend, AT, S. 606; "primäre" nach Jakobs, AT, 28 / 9. ~71 BGHSt. 14,280,281; dabei kommt es für die Strafbarkeit (etwa gern. § 323c StGB) nicht auf das Verhindern des Erfolges, sondern allein auf das Unterlassen des geforderten Handeins an. Das Merkmal der echten Unterlassungsdelikte besteht also darin, "daß sie eine 1>69

670

200

2. Teil: Die Kausalität der Unterlassung

daridät bei Gefahr für höchst wichtige Güter poenalisiert. Nach der wörtlichen Formulierung der Straftatbestände des BT des StGB werden jedoch überwiegend Verstöße gegen Verbotsnormen, also verbotswidrige Verhalten, gesetzlich vorgesehen und bestraft. Diese Strafvorschriften drücken aber nicht nur Begehungsdelikte, sondern, über die "generelle Transformationsnorm"672 des § 13 Abs. I StGB, auch die als unechte bezeichneten673 Unterlassungsdelikte aus; bei den unechten Unterlassungsdelikten wird die Verbotsnorm des Begehungsdelikts durch die Gebotsnorm des Unterlassungsdelikts ergänzt und der Garant wird mit einer Pflicht zur Erfolgsabwendung und mithin mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit für das Eintreten des tatbestandsmäßigen Erfolges belastet. Trotz der nicht einheitlichen und unklaren Begriffsbildung674 erfolgt die Bestrafung wegen Vollendung der Tat bei den echten Unterlassungsdelikten unabhängig vom Eintritt des schädlichen Erfolges, während die Strafbarkeit eines Unterlassens nach § 13 Abs. I StGB seine Erfolgsbezogenheit voraussetzt im Hinblick auf einen Tatbestand, der an sich ein bestimmtes Handeln verbietet. Uns interessiert im hiesigen Zusammenhang nicht die ontologisch betrachtete Echtheit der Unterlassungen in beiden Fällen, also welche Unterlassung "echter" ist als die andere, sondern vielmehr daß bei den unechten Unterlassungsdelikten bestimmungsgemäß die Erfolgsbezogenheit ein Differenzierungskriterium bildet. Die unechten Unterlassungsdelikte sind daher Straftaten, die "ein Gegenstück zu den Erfolgsdelikten"675 bilden. Nach § 13 Abs. I StGB wird vorausgesetzt, daß der Täter einen Erfolg, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, nicht abwendet, obwohl er rechtlich daflir einzustehen hat. Für das unechte Unterlassungsverbrechen ist also der Eintritt eines Erfolges erforderlich. Als Erfolg, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist der Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte zu verstehen. So meint auch der BGH in verschiedenen Entscheidungen, mehrere Personen könnten einen strafrechtlichen Erfolg auf unterschiedliche Weise verursachen, nämlich durch aktives Tun oder bloße Unbotmäßigkeit gegen einen gesetzlichen Handlungsbefehl enthalten, ohne daß der Täter mit der Verantwortung rur den Erfolg beschwert wird, ja ohne daß ein solcher Erfolg überhaupt eingetreten zu sein braucht". so Jescheck. Die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte. ZStW 77 (1965), 122; SK-Rudolphi, Vor § 13. Rn. 8 - 10; NK-Seelmann, § 13. Rn. 12; s. die ausfiihrliche Aufzählung der echten Unterlassungsdelikte bei Jescheck / Weigend, AT. S. 607 . •n Jakohs. AT. 28/12 . • 71 "Sekundäre" nach Jakohs, AT. 28/ 12; "qualifiziert" nach Jescheck / Weigend. AT, S.606 . • 74 Vgl. etwa Arl71in Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 277; Androulakis, Studien, S. 162; Dedes. GA 1977.230 ff.; Stratenwerth. AT. Rn. 987; Sch/Sch-Stree, Vor § 13. Rn. 137; Jakohs. AT. 28 / 9; Androulakis. Unterlassungsdelikte. S. 162.

m Und die echten Unterlassungsdelikte sind das Gegenstück zu den reinen Tätigkeitsdelikten, so die überwiegende Ansicht. vgl. Jescheck / Weigend. S. 605; SK-Rudolphi. Vor 13, Rn. 8-10; Blei, AT, S. 309 f.; Mall/"Qch. AT4 • S. 578 ff.; NK-Seell71unn. § 13. Rn. 12 f.

*

§ 2 Die Kausalität der Unterlassung nach der überwiegenden Ansicht

20 I

pflichtwidriges Unterlassen. 676 Unterlassungstäter (eines unechten Unterlassungsdelikts) ist also deIjenige, der einen tatbestandlichen Erfolg durch sein Unterlassen herbeigeruhrt hat.

§ 2 Die Kausalität der Unterlassung und ihre Begründung nach der überwiegenden Ansicht A. Eine unergiebige Streitfrage? Der Unterlassungstäter, der bei Vorliegen einer Garantenstellung seine Erfolgsabwendungspflicht verletzt hat, wird mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit rur den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges belastet. Zur Tatbestandsmäßigkeit des Unterlassungsverbrechens gehört also die Verursachung eines bestimmten Erfolges, der dem Unterlassungstäter imputiert wird. Es handelt sich um die mehr als viel diskutierte Frage der Kausalität der Unterlassung. An dieser Stelle läßt sich die Reaktion des Strafrechtlers ohne Schwierigkeiten beschreiben: "Nicht schon wieder!"; oder man kann entsprechende Kommentare der strafrechtlichen Unterlassungsliteratur auswählen: Die Kausalität der Unterlassung "ist das große Rätsel, das am Beginne der Lehre vom sog. unechten Unterlassungsdelikt steht"677; sie "gehört zu den wirklichkeitsfremden und unergiebigen Streitfragen, die die deutsche Strafrechtswissenschaft unnötig belasten"678; der Streit um die Kausalität der Unterlassung ist "einer der unfruchtbarsten, welche die strafrechtliche Wissenschaft je geruhrt hat"679; er "lehrt, wie schwer dem Strafrecht die Abnabelung von naturalistischen Kategorien fallt"680. Nach der überwiegenden Meinung 681 wird die Eigenschaft einer Unterlassung, kausal zu sein, überhaupt abgelehnt. In einem Kausalprozeß kann danach 676 Vgl. BGHSt. 2, 150, 151; 3,203,204; 4, 20, 21; (BGH NJW 1953,551); BGH NJW 1960,1821; BGH NJW 1966, 1763; BGHSt. 24,342,343; VRS 12, 197, 198.

m Mezger; Lehrbuch M, § 28 11, S. 76. 67K

Maurach/GÖssel. Strafrecht, AT, Tb 26, § 46 I C 2 a), S. 150.

m Jescheck / Weigend. AT, S. 618, die v. Liszt-Schmidt. Lb 26 zitieren. 6MO

Jakobs. AT, 29/15.

Vgl. Baumann/Weber/Mitsch. AT, § 18 11 2; Schmidhäuser. AT, 5/60; Kahlo. Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 310 ff.; Walder; SchwZStR 93 (1977), 113, 126, 153 ff.; Bockelmann. AT, § 17 A III; ders .. Betrug verübt durch Schweigen, in: Eberhard Schmidt-FS, S. 437,452; Jakobs. Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 22 ff.; ders .. AT, 29/ 15 und bereits 7/26; Sch / Sch-Stree, § 13, Rn. 61; SK-Rudolphi, Vor § 13, Rn. 43; Stratenwerth. AT, Rn. 2024; Welzel. Lehrbuch, § 28 A I 3 c; Schlüchter; JuS 1976, 793; Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, in: Eberhard Schmidt-FS, S. 200,214; Armin Ka"!fmann. Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 61 ff., der die Kausalität des Unterlassens leugnet, weil es keine Kausalbeziehung zwischen dem Unterlassenden und der unterlassenen Handlung gibt; Frisch. Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, S. 21. I>MI

202

2. Teil: Die Kausalität der Unterlassung

etwas nur von real wirklichen Gegebenheiten verursacht werden. Daß die Problematik der Kausalität der Unterlassung keine neue ist, zeigt sich daraus, daß Radbruch bereits 1904 in seiner berühmten Abhandlung über den Handlungsbegriff schrieb: "Daß Kausalität zwischen dem Ausbleiben einer Körperbewegung und einem positiven Ereignisse nicht vorliegen kann, haben andere zur Genüge nachgewiesen; ich habe ihren Argumenten nichts hinzuzufügen. ,,682 Diese Kontroverse kann mit Gössel nur durch den Einbruch eines naturwissenschaftlichen Denkens in die Strafrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts verständlich werden. 683 Die Schriftsteller, welche die Kausalität der Unterlassung leugnen, fußen zum größten Teil auf einer Auffassung von der Ursache als einer den Erfolg erzeugenden causa efficiens, von der Kausalität als einer den Dingen innewohnenden Kraft und sprechen nach dem Satz "ex nihilo nihil fit" der Unterlassung, die als etwas Unwirkliches, als reines Nichts betrachtet wird, die Fähigkeit ab, "Wirkungen" hervorzubringen. 684 So schreibt etwa Wolff: "Wie sollte etwas, das nicht ist, teil haben an den Strukturen, die etwas Wirkliches hervorbringen?"m. Und heute Jakobs: "Ungeachtet des Umstands, daß im Sinn der Logik das Fehlen von etwas Folgen haben kann (im Sinn von ,Folgerungen zulassen', nicht von ,Erfolg haben'), hat in derjenigen Wirklichkeit, in der die Folgen des Strafrechts belegen sind, dasjenige, was nicht ist, auch keine Folgen (im Sinn von ,Erfolg') ... Da nur ein Ereignis einen Erfolg bedingen kann, nicht aber das Fehlen eines Ereignisses, ist eine Unterlassung für einen Erfolg nicht kausal. ,,686 Die Vertreter dieser Lehre gehen in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht so weit, daß sie mit der ursächlichen Bedeutung der Unterlassung ihre Tatbestandsmäßigkeit und damit ihre Strafbarkeit verneinen; sie konstruieren aber die Kausalität als eine Voraussetzung der Tatbestandsmäßigkeit in anderer Weise.

B. Die Quasi-Kausalität Die objektive Zurechnung des Erfolges stelle eine normative Voraussetzung der Strafbarkeit dar und sei nicht an den naturwissenschaftlichen Kausalbegriff gebunden, der für die juristische Betrachtungsweise nicht maßgebend sei. Außerdem wird "in § 13 selbst das Bestehen einer ,Kausalbeziehung' zwischen Unterlassung und Erfolg ohne weiteres vorausgesetzt. Gemeint ist hier jedoch 6.2

Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, S. 132 .

•• 3

Maurach I Gössel, AT 2, S. 150 mit Nachweisen der mittlerweile historischen Positio-

nen .

• H4 Vgl. Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, S. 25,63; ders., Das Problem der Unterlassungsdelikte im Straf und Zivilrecht, in: Eneccerus-FS, S. I ff., 28, 34 . • H5 Wo!ff, Kausalität von Tun und Unterlassen, S. 12, Fn. 4 . ... Jakobs, AT, 7/25, 26 u. 29/15 ff.; ders., Studien, S. 22.

§ 2 Die Kausalität der Unterlassung nach der überwiegenden Ansicht

203

nicht eine Kausalbeziehung im Sinne der Mechanik, sondern es kommt allein darauf an, ob die dem Unterlassenden mögliche Handlung den Erfolg abgewendet hätte."687 Das Unterlassen gilt danach in der Form einer normativen, hypothetischen oder Quasi-Kausalität als erfolgsursächlich, wenn bei Vornahme der unterlassenen und gebotenen Handlung der Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Es gilt nämlich die auch bei den Begehungsdelikten angewandte conditio-sine-qua-non-Formel, jedenfalls modifiziert: Wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, dann wird letzterer dem Unterlassungstäter zugerechnet. 688 "Das Verhalten, das weggedacht werden muß, ist beim positiven Tun ein ganz bestimmter, konkreter Energieeinsatz, es ist beim Unterlassen die Negation eines solchen; denke ich diese letztere Negation weg, so gelange ich nach dem Grundsatz ,duplex negatio est affirmatio' zur hinzugedachten Handlung, die also vollkommen sinnidentisch ist mit der weggedachten Unterlassung."689 Jakobs hat der Formulierung Engischs entgegengehalten, eine Unterlassung sei das Weggedachte selbst und aus diesem Grund ist sie nicht nochmals wegzudenken. Dem Wegdenken einer Unterlassung entspricht ein Substraktionsverfahren, während der zur Lösung bemühte Grundsatz der doppelten Verneinung für die Multiplikation gilt. Bei der Unterlassung geht es nach Jakobs nicht um Wegdenken, sondern um Negation: "Die Unterlassung als Negation einer bestimmten Handlung kann wiederum negiert werden, und das ergibt die Position.,,69o Die Negation, also die negierende Bedingung eines Erfolgs, die Jakobs nicht als Etwas negativer Größe versteht, ist zwar nach seiner Auffassung im logischen Verständnis vorhanden, sie kann sich aber nicht ereignen. Aus diesem Grund können negative Bedingungen, da sie physisch, psychisch 6H7

Jescheck/Weigend, AT, S. 619 .

SO die h.M.: Armin Kaufmann, Unterlassungsde1ikte, S. 64 ff.; Sch / Sch-Stree, § 13, Rn. 61; Kühl, AT, § 18, Rn. 38; Wesseis, AT, Rn. 713; Spendei, in: Eberhard Schmidt-FS, S. 183, 190; Dreher / Tröndle, Vor § 13, Rn. 20; Baumann /Weber / Mitsch, § 15, Rn. 23; Jakobs, AT, 29/ 15; Jescheck / Weigend, AT, S. 619; LK-Jescheck, § 13, Rn. 16 ff.; und die Rechtsprechung: RGSt. 63, 393; 75, 50; BGH NJW 1953, 1838; NJW 1990, 2565; VRS 10, 359; 19, 128; BGHSt. 37, 106 ff. 6'9 Engisch, Buchbesprechung, MonSchrKrim. 1939, S. 414 ff., 426. Dies war einer der ersten ernsthaften Versuche, die Unterlassung als die Negation eines Tuns anzusehen. Darauf werden wir aber nochmals später zurückkommen. 690 Jakobs, AT, 29/16 und ders., Studien, S. 22 ff. unter Berufung auf Spendei, Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, JZ 1973, 137, 139, der aber die Unterlassung als ein Negativum, als eine negative Größe bestimmt, mit der wie mit positiven Größen zu rechnen ist. Spendel folgt einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Unterlassung: Nach seiner Auffassung kann man sowohl in einem positiven Tun, als auch in einem Unterlassen eine physikalisch zu verstehende Energie feststellen; beim ersten Fall geht es um "aktuelle", beim zweiten um "potentielle Energie". Spendel unterläßt außerdem auch nicht, den Begriff der Kraft mit einzubeziehen: Bei der aktuellen Energie eines positiven Tuns liegt eine "Iebendige, entfesselte oder befreite", bei der potentiellen Energie der Unterlassung eine "gebundene Kraft" vor. • KR

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2. Teil: Die Kausalität der Unterlassung

oder geistig nicht gegenständlich seien, im strafrechtlichen Kausalzusammenhang nicht berücksichtigt, sondern "als Abbreviatur dafür verwendet werden, daß unter der Hypothese, das Negierte s~i gegeben, die Hinderung des negativ bedingten Erfolgs bedingt wäre"691. Letzten Endes soll nach Jakobs eine in verschiedenen Arten definierbare Kausalität der Unterlassung, seil. im Bereich sozialer Interaktion oder Bejahung der Kausalität gemessen an der Fähigkeit des Täters, "durch Verhaltensalternativen den Status quo zu ändern", "keinen Gewinn sondern terminologische Wirrnis"692 versprechen; problematisch sei nicht die Kausalität, sondern vielmehr die Zurechnung durch Handeln oder Unterlassen vermeidbarer Erfolge.

C. Die rechtspersonale Wirksamkeit der Unterlassung (Wolff, Kahlo) Kahlo bezieht sich auf die herrschende Ansicht über die Kausalität der Unterlassung in der Weise, daß er zwar nicht den Begriff des Bewirkens ablehnt, aber den Begriff der Ursache davon unterscheidet: Letzterer sei nicht in seiner natur- und erfahrungswissenschaftlichen Wortbedeutung zu verstehen. Als eine äußere Gegebenheit, die nach der Vorstellung einer von ihr ausgehenden Kraft eine Veränderung in der Außenwelt bewirkt, sei der Ursachenbegriff nicht nachzuvollziehen. Die Kausalitätskategorie ist nach Kahlo nicht etwa dahin zu verstehen, daß sie eine logische Verhältnisse wiedergebende gedankliche Verknüpfung zwischen verschiedenen Wirklichkeitsbereichen ermöglichen kann. 693 Die Tatsache, daß die Strafrechtstheorie die Kausalität als einen naturhaften Kausalverlauf versteht, zeigt den realitätsfremden Charakter der Begriffsbildung der Strafrechtswissenschaft. 694 "Soll dieser Wirklichkeitsverlust vermieden werden, ist die Kausallehre des Strafrechts als eine Theorie des menschlichen Bewirkens zu entwickeln."695 Die Ursache kann nach den Ausführungen Kahlos im Sinne einer spezifisch personalen Kausalität aus Freiheit verstanden werden, die der Autonomie und Allgemeinheit des Willens unterworfen ist. 696 [Ausgangspunkt für diese Formulierung soll die Kantsche Kausalitätslehre 697 bilden: "91

Jakobs. AT, 29/16.

"92

Jakobs. AT, 29/ 18.

Kahlo. Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, S. 310. 694 Ibid, S. 312. 695 Ibid, S. 312. 693

696 Ähnlich Köhler, der auf der Strafrechtslehrertagung 1995 in Rostock die Auffassung vertrat, eine nicht notwendig mit dem freien Subjekt verbundene Gesellschaft wirke inhaltsleer. Auf eine Metaphysik im Kantischen Sinne könne nicht verzichtet werden, so auch zitiert bei Toepel, Tagungsbericht, Strafrechtslehrertagung 1995 in Rostock, JZ 1996, 28. 697 Im folgenden soll es nicht um eine "kurze Skizzierung" des Kausalitätsbegriffes von

§ 2 Die Kausalität der Unterlassung nach der überwiegenden Ansicht

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Die erforderliche Grundlage der für das personale Handeln gültigen Gesetze muß in den Personen selbst verankert sein, so daß die Frage nach der Richtigkeit der Handlung von dem Einzelnen als einem praktischen Subjekt aus eigener Urteilskraft beantwortet werden muß. Die Selbstausrichtung eines personalen Willens wird durch verpflichtende Gebote ermöglicht, deren Verbindlichkeit sich aus der Notwendigkeit einer bestimmten Handlung für die Erreichung eines gewollten Zwecks ergibt. "Dann nämlich wird ein weiterer Gesetzestyp erkennbar, der ,außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime, diesem Gesetz gemäß zu sein', enthält, d.h. ,die Allgemeinheit des Gesetzes überhaupt'. Dieser Gesetzestyp .. , ist ... die Formel des kategorischen Imperativs: ,Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde'." Autonomie und Allgemeinheit des Willens begründen den kategorischen Imperativ als ein unbedingt verpflichtendes, für alle menschlichen Subjekte gültiges ethisches Prinzip. Freiheit darf freilich nicht abstrakt und absolut begriffen werden. Alles, was geschieht, setzt entweder eine naturhaft zu verstehende Ursache voraus, auf die es nach dem Kausalprinzip folgt, oder ist das Ergebnis einer personalen Handlung, durch die ein Subjekt die Wirklichkeit nach einem praktischen Gesetz der Freiheit gestaltet.] Die Autonomie als grundlegendes Prinzip des personalen Willens "muß zum (Straf-)Recht hin erweitert werden"698. Die bisherige Kausalitätslehre reduziere den Begriff der Ursache auf das Verständnis einer logischen Bedingung, um die Möglichkeit einer Begründung der Bewirkensqualität unechter Unterlassungen eröffnen zu können. Soll jedoch Unterlassen wirklich begründet werden können, so ist nach Kahlo eine "Grundlegung der einzelnen Bewirkenswesen in einer alle konstituierenden Wirklichkeit,,699 erforderlich. Unter Berufung auf Wolffoo weist Kahlo darauf hin, daß die Gestalt der Wirklichkeit nicht als durchgehend festgelegt begriffen werden darf. Wolff hat dazu folgendes Beispiel vorgebracht: Ein junger Vogel, der keine Nahrung zu sich nimmt, stirbt. Das Fehlen des Futters ist zwar isoliert betrachtet eine negative Bedingung für den Tod des Vogels, aber man kann "über diese Isolierung hinausgehen" und die Beziehung zwischen Vogel und seiner Umwelt mit berücksichtigen. Dann stellt man fest, es sei zwar das Nichtfüttern eine negative Bedingung für den Tod des jungen Vogels, aber das hieße nicht, daß die Vogeleltern dafür verantwortlich sind. "Denn ... in dem konkreten Fall waren sie zum ,Nichtfüttern' festgelegt. Das einzige, was man feststellt, ist eine ,reale Disharmonie'. Die äußere Wirklichkeit weicht ab von dem, was ihr durch die Naturordnung beKant gehen, sondern um die Darstellung der von Kant ausgehenden personalen Freiheit, wie sie von Kahlo nachvollzogen ist. '9X Kahlo, a.a.O., S. 298. '99 Kahlo, a.a.O., S. 311. 700 Kausalität von Tun und Unterlassen, S. 38.

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stimmt ist"70'. Daß die Gestalt der Wirklichkeit nicht als durchgehend festgelegt begriffen werden darf, soll also jetzt dahin interpretiert werden, daß der Mensch frei über die Entwicklung eines Geschehens entscheiden kann und nicht naturhaft festgelegt ist in dem, was er tut. Was also ein Bewirken durch Unterlassung kennzeichnet und bestimmt, das ist nach Wolff und Kahlo die freie Entscheidung. "Es ist Voraussetzung dafür, daß (der Einzelne) eine echte Möglichkeit hat und sie im dynamischen Prozeß ausschlägt, folglich auch Bedingung für ein Unterlassen als Verhalten ... Klammert man die subjektive Seite aus dem Begriff des Unterlassens aus, dann verliert es jedenfalls alle Realität, wie Radbruch richtig dargestellt hat. Es fehlt nicht nur an einem Bewirken durch Unterlassen, sondern das Unterlassen überhaupt hat seine einzige Realität in den Köpfen der anderen.''702 So fahrt auch Kahlo mit der "rechtspersonalen Kausalität aus Freiheit" fort; diese Theorie basiert auf der Bedeutung rechtssubjektiver Handlungen als in Autonomie ausgedrückten "Äußerungen personaler Selbst-Verwirklichung"703. Sie nimmt zwar die "an der Natur erfahrenen Strukturgesetzlichkeiten" auf, aber sie unterliegt ihnen doch nicht: Die rechtspersonale Unterlassungskausalität aus Freiheit macht sich die naturhaften Strukturgesetzlichkeiten für ihre eigene Aufgabe der Selbstverwirklichung zunutze. Die freie Entscheidung bewirkt also durch die Unterlassung eines Tuns den tatbestandsmäßigen Erfolg.

D. Das Erfordernis der Kraft Fassen wir nun zusammen, so ergibt sich das Bild der Kausalität der Unterlassung, wie sie heute von der herrschenden Ansicht erfaßt wird: Aus dem Nichts kann nichts werden. Wie auch im ersten Teil gezeigt wurde, spielt der Begriff der Kraft eine ausschlaggebende Rolle; sie ist mit dem Begriff der Ursache "im strafrechtlichen Sinne" verbunden, und da ein Unterlassen keine Kraftentfaltung darstellen kann, ist es um dessentwillen als nichtursächlich anzunehmen. Die strafrechtliche Kausalitätsliteratur ist aber längst an Gedankenoperationen gewöhnt; die Denkformeln sind die zumeist passenden und geeigneten Rüstzeuge, die man insbesondere dann aufbietet, wenn es um etwas "nicht Seiendes" geht: Sieht man etwas nicht, so denkt man daran. Das ist auch bei der Kausalität der Unterlassung der Fall; man denkt sich statt des fehlenden einen hypothetischen Kausalzusammenhang aus, scil. wie die Lage gewesen wäre, wenn der Angeklagte die gebotene positive Handlung doch vorgenommen hätte. Fehlt der Kausalzusammenhang zwischen der hypothetisch hinzugedachten Handlung und dem Erfolg, so ist dem Angeklagten die Unterlassung nicht zuzurechnen. Dadurch hält man an dem Erfordernis der Wirkkraft fest, denn 701 702 70)

Wo/ff, a.a.O., S. 38. Wolff, a.a.O., S. 46. Kah/o, a.a.O., S. 313.

§ 3 Exkurs: Nichtexistenz und Nichts nach Kanellopoulos

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bei diesem hypothetischen Kausalitätsexperiment "quid quid fit, ex alio fit" und nicht "ex nihilo". Dieses Erfordernis wird übrigens auch durch die der freien menschlichen Entscheidung zugrundeliegenden Autonomie und Allgemeinheit des Willens ergänzt: Der Mensch vermag die kraftentfaltenden Kausalverläufe zu überblicken und planend zu gestalten. Der hypothetische Kausalzusammenhang der Unterlassung bringt wiederum - wie beim positiven Tun - das Erfordernis einer notwendigen Bedingung zum Ausdruck. Das (gebotene) hinzugedachte positive Tun müßte notwendige Bedingung für das Ausbleiben des Erfolges sein, damit letzterer dem Angeklagten zugerechnet werden kann. 704

§ 3 Exkurs: Nichtexistenz und Nichts nach P. Kanellopoulos "Als Jurist und Rechtsheoretiker in den Riesenkomplex, der sich um ,Nicht', ,Nichts' und ,Negation' (und was alles damit zusammenhängt) auftürmt, im Rahmen einer kleinen Abhandlung eindringen zu wollen, wäre gewiß vermessen."705 So hatte Engisch ein solches Unternehmen charakterisiert und zugleich jedem sich für das Problem des Nichts interessierenden Juristen eine schwierige, aber jedenfalls optimistische Perspektive angeboten, nämlich daß es überhaupt sinnvoll ist, zumindest die Frage nach dem Nichts in ihrem juristischen Rahmen und die seiner Unterscheidung von dem Sein zu stellen. Es kann sein, daß die letztere Frage zu stellen sinnvoll ist, aber es muß zugleich andererseits hervorgehoben werden, daß die hiesige Auseinandersetzung mit dem "Riesenkomplex der Frage nach dem Nichts" keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; es versteht sich nämlich, daß es unmöglich wäre, - sei es nur - die höchst repräsentative Literatur darzustellen und dazu Stellung zu nehmen, und insofern ist Engisch Recht zu geben, daß es gewiß vermessen wäre, im Rahmen einer kleinen Abhandlung in eine solche Problematik eindringen zu wollen. Die Frage nach dem Nichts weist jedoch eine Besonderheit auf: Sie kann immer auf eine derartige Weise gestellt werden, als ob sie noch kaum, oder besser zu sagen, nicht genug dargestellt worden wäre, denn es geht nach der hiesigen Optik um einen unerschöpflichen Versuch, das Dunkle klarzumachen. Für das letztere spricht die Tatsache, daß die historischen Anfänge dieser Frage bei den Vorsokratikern, insbesondere bei Anaximander, Parmenides und Melissos liegen. Plato sowie Aristoteles haben später dem Begriff des Seins eine neue Dimension 704 Dazu wird (nach ständiger Rechtsprechung) eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt: RGSt. 15, 151, 153; 51, 127; 58, 130, 131; 74, 350, 352; 75,49,50; 75, 372,374; BGHSt. 6,1,2; 7, 211, 214; BGH NStZ 1981,218 (m. Anm. Wolf~last); BGH NStZ 1986,217; NJW 1987,2940; BGHSt. 37,106,126. 705 Engisch, Über Negationen in Recht und Rechtswissenschaft, S. 220.

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verliehen. Dem Nichts und der Negation haben die großen Philosophen Kant, Hegel und Schopenhauer besondere Aufmerksamkeit zugewendet. In jüngerer Zeit waren im deutschsprachigen Raum vor allem Martin Heidegger, in Frankreich Jean-Paul Sartre und in Griechenland u.a. Panayiotis Kanellopoulos diejenigen, welche die Seinsfrage in das Zentrum der Philosophie gerückt haben. Daß es bei der Frage nach dem Nichts um einen unerschöpflichen Versuch geht, das Dunkle klarzumachen, zeigt also schon das "Alter" dieser Fragestellung. Und sie ist eine die Regel bestätigende Ausnahme, daß manchmal das Alter die Reife nicht indiziert. Denn niemand wäre bereit anzunehmen, daß die Frage nach dem Sein und dem Nichts in dem Sinne reif geworden ist, daß sie schon ausgeforscht ist. "Any effort in philosophy to make the obscure obvious is likely to be unappealing, for the penalty of failure is confusion, while the reward of success is banality."706 Es mag sein, daß die Bestrafung des Versagens eine Konfusion ist, aber diese Konfusion wird vorgezogen, wenn man daran denkt, daß das Gelingen in der Formulierung von Banalitäten bestünde. Plato hatte bereits vor dieser Konfusion gewarnt: "Da nun wir keinen Rat wissen, so macht doch ihr selbst uns recht anschaulich, was ihr doch andeuten wollt, wenn ihr Seiendes sagt. Denn offenbar wißt ihr doch dies schon lange, wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt aber stehen wir ratlos.,,707 Außerdem wären viele imstande, den Versuch, sich mit der Frage nach dem Nichts in seinem juristischen Rahmen auseinanderzusetzen, wegen einer verbreiteten Enttäuschung an derartigen metaphysischen Problemen als vergeblich zu bezeichnen. "Ja es entstand eine wachsende Enttäuschung an der Metaphysik überhaupt, wohl nicht zuletzt gerade wegen der schweren Verständlichkeit, ja der weitgehenden Unverständlichkeit des dem ersten Anschein nach größten metaphysischen Werkes des Jahrhunderts, Heideggers Sein und Zeit; und diese Enttäuschung wurde zweifellos zu einem bestimmenden Faktor, der über die letzten Jahrzehnte hinweg zu einer gewissen Verdrängung der ontologischen Grundfragen aus der gegenwärtigen philosophischen Diskussion in Deutschland und zu einer Wende der deutschen Philosophie in Richtung analytische Philosophie geführt hat. So kommt es, daß heute linguistische und logische Probleme weitgehend die ontologische Frage nach dem Wesen und Sein des Seienden verdrängt haben. ,,708 Eine Auseinandersetzung mit Werken wie "Sein und Zeit" Heideggers oder etwa "Das Sein und das Nichts" Sartres, oder mit den früheren Kants, Hegels und Schopenhauers und die theoretische Abstützung durch die platonische oder 706 Goodmann, The Structure of Appearence, S. XV, zitiert nach Patzig, Tatsachen, Normen, Sätze, S. 13. 707 Plato, Sophistes 244a: . E1ttIOf] tOivuv ti~ti