Lassen und Tun: Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken [1. Aufl.] 9783839424759

Theories of performativity and numerous cultural studies rudiments of philosophical thought in culture - such as that of

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Lassen und Tun: Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken [1. Aufl.]
 9783839424759

Table of contents :
Inhalt
Gabe und kulturelle Praktiken im Spannungsfeld zwischen Lassen und Tun Eine Einleitung
Quo maius pati nequit. Komparative des Leidens und ihre Eskalationen
Aktivität und Passivität der visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles
Müßiger Widerstand? Vom subversiven Nichtstun der Philosophie am Ende der Geschichte
Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen
»Aber das Gedicht spricht ja!« – Ethik und Textualität in Celans Gedichten Schibboleth und Du liegst
Gabe und Performativität. Von der performativen Kraft leerer Versprechen
Übertreibung und Zweideutigkeit: Derrida und Merleau-Ponty über Passivität und Aktivität im Performativen
Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit
Tun und Lassen im Mund. Anthropologische Dimensionen des Mundraums
Autor_innen

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Steffi Hobuß, Nicola Tams (Hg.) Lassen und Tun

Edition Moderne Postmoderne

Steffi Hobuß, Nicola Tams (Hg.)

Lassen und Tun Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken

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Inhalt

Gabe und kulturelle Praktiken im Spannungsfeld zwischen Lassen und Tun. Eine Einleitung

Nicola Tams & Steffi Hobuß | 7 Quo maius pati nequit. Komparative des Leidens und ihre Eskalationen

Philipp Stoellger | 29 Aktivität und Passivität der visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles

Steffi Hobuß | 57 Müßiger Widerstand? Vom subversiven Nichtstun der Philosophie am Ende der Geschichte

Martin G. Weiss | 79 Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen

Sabine Hark | 99 »Aber das Gedicht spricht ja!« – Ethik und Textualität in Celans Gedichten Schibboleth und Du liegst

Martin Schierbaum | 119 Gabe und Performativität. Von der performativen Kraft leerer Versprechen

Nicola Tams | 159

Übertreibung und Zweideutigkeit: Derrida und Merleau-Ponty über Passivität und Aktivität im Performativen

Marie-Eve Morin | 183 Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit

Pascal Delhom | 209 Tun und Lassen im Mund. Anthropologische Dimensionen des Mundraums

Hartmut Böhme | 231

Autor_innen | 259

Gabe und kulturelle Praktiken im Spannungsfeld zwischen Lassen und Tun Eine Einleitung N ICOLA T AMS & S TEFFI H OBUß »Die kurze Antwort auf die Frage nach der sozialen Konstruktion ist die folgende: Wenn Konstruktion bedeutet, dass auf die Materialität des Körpers einseitig die Gewalt der Konstruktion wirkt […], haben wir es mit einem falschen Konzept von Konstruktion zu tun. […] Es handelt sich um eine chiastische Situation, in der die Sprache […] an der Herstellung des Körpers beteiligt ist, der Körper anderseits von keiner dieser Herstellungsversuche je ganz erfasst oder erschöpft werden kann.«1

Das Thema dieses Sammelbands ist die Verschränkung von Gabe und kulturellen Praktiken aus philosophischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Der Ausgangspunkt ist eine gelegentlich geäußerte Kritik daran, dass sich die Kulturwissenschaften und die Kulturphilosophie zu stark auf die Bereiche der kulturellen Praktiken fixierten.

1

Butler, Judith: »Körper in Teilen«, in: Deuber-Mankowsky, Astrid/Holzhey, Christoph F.E./Michaelsen, Anja: Der Einsatz des Lebens, Berlin: b_books 2009, S. 49-54, hier: S. 50f.

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Theorien der Performativität und zahlreiche weitere kulturwissenschaftliche Ansätze kulturphilosophischen Denkens betonen die Rolle kultureller Praktiken. Wenn etwa Wittgenstein den Begriff des Gebrauchs statt denjenigen der Bedeutung ins Zentrum rückt, wenn Austin performative Sprechhandlungen und unterschiedliche Sprechakte untersucht, wenn Butler die Performativität des Geschlechts und anderer Identitätskategorien als »unablässig vollzogene Tätigkeit«2 beleuchtet, und wenn Kulturtheorien sich mit der Rolle kultureller Praktiken beschäftigen, dann wird, so scheint es, jeweils der Aspekt des aktiven Handelns besonders betont. Hierbei kann, so die Kritik, die Bedeutung passiver Schattierungen des Handelns wie das Nichttun, das Schweigen, das Unterlassen oder Lassen aus dem Blickfeld geraten. Auch der Gegenstand der Kulturwissenschaften scheint auf den »Bereich menschlicher Tätigkeiten«3 beschränkt zu sein. Ein Blick durch die gegenwärtige Literatur zum Thema zeigt: Was als unbeachtet diagnostiziert wird, ist ›Pathos‹, ›Widerfahrnis‹, ›Erleiden‹, ›Lassen‹, ›Unterlassen‹, ›Nichttun‹ oder ›Schweigen‹. Möglicherweise streichen manche Bereiche der Kulturphilosophie das Gespräch über das Lassen zugunsten von Reflexionen über das Tun ein.4 Wenn Busch und Därmann die Einschränkung des Gegenstands der Kulturwissenschaften auf den gesamten »Bereich menschlicher Tätigkeiten«5 kritisieren, ist damit die Forderung verbunden, den Bereich des Pathischen nicht unberührt zu lassen. Der performative turn könnte Grund oder Spiegel6 dafür sein, dass der Schwerpunkt solcher Arbeiten eher auf der Frage dazu lag, was wir mit der Sprache tun als auf dem, was diese Sprache mit uns macht. Die Sprechakttheorie würde dann in der Tradition einer Überbetonung von »Praxis« und »Technik« verstanden.7 Im Vorwort der kürzlich erschienenen »Theorien der Passivität« von Busch und Draxler heißt es: »Gemeinhin verbindet man mit dem Begriff der Kultur den gesamten Bereich menschlicher Handlungen und Hervorbringungen. […] Das Vermeiden der Tat, das Zögern oder Zweifeln, aber auch Faulheit, zielloses Abschweifen, Schlaf und Langeweile, kurzum: die

2

Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 9.

3

Busch, Kathrin/Därmann, Iris: Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen

4

Vgl. Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Studien zur praktischen und theoretischen

Grundbegriffs, Bielefeld: Transcript 2007, S. 7. Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 279. 5

K. Busch/I. Därmann: Pathos, S. 7.

6

Vgl. ebd., S. 14.

7

Vgl. ebd., S. 15f.

E INLEITUNG

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vielfältigen Zustände und Formen von Passivität scheinen […] kaum von gesellschaftlichem Wert [...].«8

Aktivität, Handeln oder Herstellen würden eindeutig bevorzugt, so die These. Es gehe um eine Umkehrung der Betrachtungsweise im Schreiben über menschliches Leben, das nicht erschöpfend darin beschrieben werden kann, dass es ein aktives ist. Stoellger formuliert diesen Mangel wie folgt: »Für die Performanz-Frage heißt das jedenfalls: Auf das Tun, Wirken und die Wirklichkeit zu schauen, übersieht alles, was dem ›Engel der Geschichte‹ wichtig ist; alles ungelebte Leben, alles Gelassene.«9

Hier wird unterstrichen, dass auch das Abwesende, was uns schon in Form der Geschichte vorausgeht, eine Wirkung zeigt, das, was vielleicht nicht nur dem ›Engel der Geschichte‹, sondern auch aus der Perspektive des jeweils aktuell gelebten Leben wichtig ist. Es wird gezeigt, »dass wir nicht nur die Dinge adressieren, sondern dass das Ensemble der Dinge etwas mit uns tut.«10 Ein Text, den wir schreiben, Praktiken, die wir beschreiben oder tun, beeinflussen nicht nur das, was folgt, sondern sie bestimmen auch selbst wiederum unsere Lebensmöglichkeiten, das Erleben oder unsere Weise, auf die Dinge zu schauen. Wenn die Begriffe der Performativität und der Gabe jedoch als Gegensatz aufgefasst werden, wird vorausgesetzt, dass es im Ereignis der Gabe um die Einseitigkeit eines Lassens gehe, während in der Performativität das aktive, konstruierende Handeln (eines Tuns) betont zu werden scheint. Dem Tun wird in solch einer Gegenüberstellung Aktivität zugeschrieben, dem Lassen hingegen Passivität. Aus der Perspektive dieses Bandes wird gefragt, ob die Aktivität-PassivitätAlternative nicht zu sehr an einem Subjekt-Objekt-Gegensatz hängt, wie Derrida vermutet.11 Die Begriffe der Gabe und der Performativität zusammen zu denken heißt eine Unruhe zulassen, die »ontologische Unruhe, die uns zwischen den Polen der

8

Busch, Kathrin/Draxler, Helmut (Hg.): Theorien der Passivität. München: Fink 2013,

9

P. Stoellger: »Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz«, in: Barbara

S. 5. Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 89-102, hier: S. 90. 10 H. Lethen: Evidenz, S. 82. 11 Vgl. Derrida, Jacques: Geschlecht (Heidegger), Wien: Passagen; Böhlau 1988 [1987], S. 35.

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konstruktiven und phänomenologischen Wahrnehmung pendeln lässt«.12 Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass auch innerhalb der Performativität, wie bei Butler gezeigt, das Augenmerk nicht nur auf das aktive Tun gelegt wird. In Kritik der ethischen Gewalt diskutiert Butler bezugnehmend auf Levinas, welche Aspekte einer jeder Handlung vorausgehenden Passivität zum Verständnis performativen Sprechens und Handelns hinzugehören.13 Diese Verbindung ist für ein verantwortungsvolles Denken und Handeln zentral. Für Butler beispielsweise besteht das verantwortungsvolle Handeln darin, dass wir uns als grundsätzlich abhängig voneinander und empfänglich füreinander wahrnehmen (vgl. auch den Beitrag von Nicola Tams in diesem Band).14 Weitere erste Hinweise bieten die innerhalb der Performativitätstheorie kontrovers diskutierte Theorie der Anrufung15 mit ihren Momenten der Unverfügbarkeit sowie Shoshana Felmans Hinweis auf die Rolle des Körpers im Ausführen von Sprechakten,16 die Felman wegen ihrer Unkontrollierbarkeit als »skandalös« bezeichnet. Umgekehrt weist Derrida wiederholt darauf hin, welche Möglichkeiten des performativen Tuns und Nichttuns es in der Gabe gibt.

AUSGANGSPUNKT P ERFORMATIVITÄT

UND

G ABE

Die Thematik um das Lassen und das Tun berührt in zentraler Weise die Gebiete der Performativität (sprachphilosophischer Herkunft) und der Gabe, die vor allem in der französischen neueren Phänomenologie und Philosophie eine Rolle spielt. Austin hat in Aufsätzen und seinen Vorlesungen How to Do Things with Words den Begriff des Performativen entwickelt und darauf aufmerksam gemacht, dass eine performative Dimension die menschliche Sprache kennzeichnet. Er beginnt mit der Auszeichnung bestimmter Sprechhandlungen, denen er,

12 Lethen, Helmut: »Der Stoff der Evidenz«, in: Michael Cuntz et al. (Hg.): Die Listen der Evidenz, Köln: DuMont 2006, S. 82. 13 Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 120. 14 J. Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 120. 15 Vgl. Althusser, Louis: Über die Ideologie, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg: VSA 1977, S. 130153; dazu Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 29f. und 41-47. 16 Vgl. Felman, Shoshana: Le scandale du corps parlant. Don Juan avec Austin, ou, la séduction en deux langues, Paris: Seuil 1980.

E INLEITUNG

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wie dem Taufen eines Schiffs, dem Geben eines Versprechens oder dem Aussprechen einer Drohung, eine performative Handlungskraft zuspricht, wird jedoch im Laufe seiner Untersuchung zeigen, dass sich die Fallunterscheidung zwischen konstativ-beschreibenden und performativen Äußerungen nicht halten lässt.17 Stattdessen ersetzt er sie durch die Aspektunterscheidung unterschiedlicher Sprechakte, die in ein und derselben Äußerung vollzogen werden können.18 Der illokutionäre Akt steht nun für die performative Dimension jedes Sprechens. Austins Aufdecken dieser Handlungsmacht jeder sprachlichen Äußerung hat im Folgenden weite Kreise geschlagen, hatte er doch interdisziplinär die Grundlage für verschiedene sich mit der Kultur beschäftigende Debatten gelegt. Zur Beschäftigung mit dem Gegenstand der Gabe ist auf Mauss zu verweisen, der in den 1920er und 1930er Jahren die Betrachtungen indigener Praktiken des Geschenkeverteilens in eine Theorie der Gabe zusammenführt. Aufgrund seiner Einteilung der Gabe in ein System aus reziproken Praktiken vielfach kritisiert, wurden seine Beobachtungen dennoch zu einem Inspirationsquell für Philosophie und Kulturwissenschaften. Die Betrachtung der Gabe wird bei Derrida in einer dem ›Ereignis‹ ähnlichen Form gedacht, das ihm zufolge das menschliche Handeln ebenso auszeichnet wie seine Handlungsmacht. Bestimmte Bereiche des Handelns lassen sich nicht allein auf die Dimension des Aktiven reduzieren, wie sich im Gabentausch zeigt. Die Gabe wäre keine, bliebe sie auf den bloßen Tausch oder auf das absichtsgeleitete Handeln beschränkt. Auch andere kulturelle Praktiken scheinen mit einer ausschließlichen Rückleitung auf aktives, geplantes Handeln zu kurz gegriffen. Deshalb spielt in diesem Sammelband einerseits die Debatte darum eine Rolle, in welchem Maße Dimensionen des Passiven kulturelle Praktiken prägen. Lethen zufolge gerät der »Stoff der Evidenz«19 Philosophie und Kulturwissenschaften aus dem Blick, weil sie Evidenz als etwas Nachträgliches betrachten, um sich vom Magischen abzugrenzen. Aber auch Verfahren der Dekonstruktion und der kritischen Entnaturalisierung sind nicht darauf festgelegt, Evidenzen und das Widerfahrende auszuschließen. Beinhaltet schon der Begriff der Evidenz einerseits einen etymologischen Hinweis auf eine sichtbare (evideri), unmittelbare, zugrundeliegende Gewissheit, die andererseits immer in jeweilige diskursive Zusammenhänge eingebettet ist, ist auch der philosophische Begriff der Dekon-

17 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words), Stuttgart: Reclam 1979, S. 150. 18 Vgl. das Austin-Kapitel in Savigny, Eike von: Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt/M: Suhrkamp, 21974, vor allem S. 130-135. 19 H. Lethen: »Der Stoff der Evidenz«, S. 81.

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struktion nicht einfach dem Denken der Evidenz entgegengesetzt. Dekonstruktion und Evidenz können wie Performativität und Gabe in einem Wechselverhältnis gedacht werden, wenn ein unverfügbares Moment als Bedingung für Dekonstruktionen einerseits und andererseits die historische und gesellschaftliche Herstellung von Evidenzen in den Blick genommen wird.20 In diesem Band wird der Kritik an der Überbetonung des Aktiven als theoretischem Anstoß nachgegangen, die Kritik soll im Hinblick auf die vielfältigen Bereiche kultureller Praktiken aber auch geprüft werden. Dabei liefert dieser Band kein vorschnelles Bekenntnis zu einer phänomenologischen oder konstruktivistischen Sichtweise. Es soll die produktive Spannung genutzt werden, die dadurch entsteht, dass sich ein Text nicht von vornherein auf eine der philosophischen Ausrichtungen, oder auf eines ihrer Themen – Phänomen oder Konstruktion – festlegt.

N EUUNTERSUCHUNG DES P ERFORMATIVE T URN Möglicherweise halten die verschiedenen Debatten auch unterschiedliche Benennungen auseinander. Aus interdisziplinärer Perspektive auf das so facettenreiche Gebiet menschlichen Lassens zu schauen berührt die Schwierigkeit der Übersetzung. Daher stellt sich die Frage, ob sich möglicherweise auch aus bisherigen Kulturtheorien dieser Bereich stärker heraus destillieren lässt, aber jeweils in andere Kontexte übersetzt werden muss. Lagaay und Gronau haben in ihrem gleichnamigen Sammelband von den Performanzen des Nichttuns gesprochen.21 Sie kritisieren und erweitern die vorrangige Beschäftigung performativer Theorien mit dem Tun im Gegensatz zum Nichttun. Diese Erweiterung soll hier fortgeführt werden, ohne jedoch die Spannung von Tun und Lassen zugunsten einer einseitigen Betrachtung passiver Bereiche des Lebens aufzugeben. Wie im Hinblick auf die Evidenz wäre hier gerade das Wechselspiel zwischen Konstruktion und Widerfahrnis ausschlaggebend.22 Im Folgenden wird aus interdisziplinärer Perspektive gefragt, inwieweit schon der performative turn Bereiche des Lassens thematisiert, und wie grundsätzlich eine Kritik der binären Unterscheidung in Aktivität-Passivität, Lassen-

20 Vgl. Thomas, Tanja/Hobuß, Steffi/Kruse, Merle-Marie/Hennig, Irina (Hg.): Dekonstruktion und Evidenz. Ver(un)sicherungen in Medienkulturen, Sulzbach/Ts: Ulrike Helmer Verlag. 2011. 21 Gronau, Barbara/Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008. 22 Vgl. H. Lethen: Evidenz, S. 82.

E INLEITUNG

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Tun, und Geben-Nehmen angestoßen werden kann. Inwiefern lassen sich Lassen und Tun voneinander unterscheiden und lassen sich die aktiven und passiven Bereiche des Handelns bestimmen? Dabei stellt sich auch die Frage des Akts. Was ist als Akt überhaupt zu bezeichnen und ist es kennzeichnend für den Akt, dass er aktiv ist (vgl. auch den Beitrag von Philipp Stoellger in diesem Band)? An Austin gewendet ließe sich fragen, was den Akt eines Sprechakts überhaupt ausmache.23 Austin selbst hat diese Problematik nicht übersehen. Er sieht, warum es schwierig ist, von einem Akt zu sprechen, wenn er über den Minimalakt nachdenkt. Was ist der Minimalakt beim Sprechen? Ein körperlicher Akt des Geräuschemachens? Oder ist dieser wiederum eine Folge des Bewegens bestimmter Organe?24 Eine körperliche Minimalhandlung scheint er insofern auszuschließen, als dass die Handlung immer bereits einen Teil ihrer Folgen, ihrer Absicht mit einschließe.25 Eine Handlung ist deshalb nur in einem gewissen Interpretationsspielraum und nie kontextunabhängig zu bestimmen. Das Ereignis hingegen erscheint zunächst als das Andere des Akts und erfüllt möglicherweise das, was einen Mangel des Akts darstellt. Wenn über die Gabe gesprochen wird, geht es nach dieser Vorstellung nicht in erster Linie um den Akt des Schenkens, sondern um sein Ereignis. Es heißt »Ereignis (wir sagen nicht Akt) von Gabe«26. Das Ereignis ist dann die Schattierung dessen, was eine Wirkung zeigt, aber dennoch nicht zielgerichtet ausführbar ist. Ein Akt muss von jemandem oder etwas ausgeführt werden, während ein Ereignis geschieht, ohne an ein Subjekt oder Objekt gebunden sein zu müssen.27

AM

DRITTEN

O RT

Nicht nur bei Stoellger taucht das Lassen außerdem an einem dritten Ort auf. Dieses Lassen sei am Übergang zwischen Tun und Nichttun, aber näher am Tun

23 Vgl. Dreisholtkamp, Uwe: »Die Gabe der Gabe und das Versprechen«, in: Gondek, Hans-Dieter/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 291. 24 Vgl. J.L. Austin: Theorie der Sprechakte, S. 130. 25 Vgl. ebd., S. 129. 26 Rapaport, Herman: »Derridas Gaben«, in: H.-D. Gondek/B. Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens, S. 47. 27 Vgl. etwa Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 35.

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als am Nichttun zu denken.28 Kann es ein vom Tun ganz zu unterscheidendes Nichttun geben, eines, das sich nicht wieder auf ein Tun zurückführen lässt?29 Es geht hier um das Denken einer Dimension, die nicht in einer binären Unterscheidung zu denken ist; »Wenn es überhaupt eine Urpassivität ›gibt‹, dann steht sie quer zu den Korrelationen.«30 Auch die Grenzen des performativen Sprechakts lassen diese Ebene erahnen. Butler, die Austins Beobachtungen kulturtheoretisch aufbereitet, stellt diese Dimension heraus: »Die Handlung, die man ausführt, der Akt, den man performiert, ist in gewissem Sinn ein Akt, der schon eingesetzt hat, bevor man auf dem Schauplatz erschienen ist«.31 Es ist ein Akt, der nicht nur vom eigenen Zutun abhängt. An folgendem Beispiel zeigt sie, dass die Handlung bereits stattgefunden hat, ehe wir die Chance haben, sie zu bestimmen: Ein Transvestit auf der Bühne könne Applaus und Spaß hervorrufen, im Bus neben einem aber Angst oder Gewalt.32 Es kann hier nicht mehr von individuellen Akten gesprochen werden, denn, so wird es bei Butler deutlich, der Akt geht über das Eigene (individuelle) hinaus, ist bereits bestimmend. Im Vorhinein sind so die Möglichkeiten, etwas Bestimmtes zu sein, abgesteckt. Der Akt geht über die Intention hinaus. Oder sollte besser im Derridaschen Sinne von Ereignis statt über-individuellem Akt gesprochen werden? Gemeint ist ein Überschuss, der jedes Sprechen und Handeln begleitet. Arendt spricht von einer Maßlosigkeit des Handelns, das Beziehungen stiftet, und von diesen Beziehungen determiniert wird, weil Menschen Gemeinschaftswesen sind.33 Das Handeln ist daher immer gesellschaftlich zu denken. Handlungen reihen sich aneinander, wodurch Geschichte entsteht. Ihr zufolge sind die Menschen immer Täter und Erduldende zugleich, und können die Zahl der von ihnen Affizierten nicht determinieren.34 Davon unbeeinflusst bleibt, dass Menschen immer eines Anderen Gegenüber sind, dass der dem Einzelnen Fremde

28 Vgl. Stoellger, Philipp: »Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz«, in: Gronau, Barbara/Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 90. 29 Vgl. P. Stoellger: Pathosperformanz, S. 97. 30 Ebd. 31 Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 312. 32 Ebd., S. 314. 33 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1981, S. 183. 34 Vgl. ebd., S. 180ff.

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sein Tun und Lassen mitbestimmt. In diese Richtung geht auch die Überlegung, wie die Möglichkeit der Gabe durch das Zutun oder Lassen Anderer bedingt ist: »Es mag sein, daß die Möglichkeitsbedingung einer jeglichen meiner Intentionen gerade in einer apriorischen Fremdheit zu suchen ist, die alle Intention und jede Aktivität von vornherein und unaufhebbar gegen ein Selbst desselben verschiebt, welches erst in dieser dezentrierenden Bewegung sich bilden kann.«35

Diese dezentrierende Bewegung führt über das Andere des Tuns hin (da der_dem Handelnden diese Fremdheit immer voraus geht, zu der Möglichkeit überhaupt des Tuns. Dieses Dritte, ›Lassen‹, wird bei Busch »›Archi-Passi– vität‹«36 oder »Radikale Passivität«37 genannt. Sie verweist dabei auf Blanchot, Levinas und Derrida. Bei Blanchot zeige sich, dass diese dritte Ebene nicht lediglich negativ, sondern auch ermöglichend ist. So gilt Schlaf sogar als Ressource für das Tätigsein des Tages.38 Busch unterscheidet Theorien der Passivität, die auf ein Aussetzen des Tuns abzielen und solche, für die Passivität das Tun ermöglicht oder ein notwendiges Element des Tuns ist.39 Dass die Bedingungen dessen, was möglich ist, immer außerhalb meiner Selbst gegründet sind, figuriert Blanchot, indem er sich erst mit Foucaults Tod freundschaftlich an ihn wendet. Erst mit dem Tod ist es möglich geworden, sich an den Freund zu richten.40 Die Abwesenheit des Anderen (als Unverfügbarkeit gemeint) ist hier die Grundlage für das eigene Sprechen, und dafür, dass das Sprechen überhaupt Aussagekraft hat. Damit kann sich eine ethische Haltung verbinden, wie sie Blanchot formuliert. Wenn ich spreche, muss ich zum Anderen sprechen, »non pour l‘informer ou lui transmettre un savoir – tâche de langage ordinaire –, plutôt pour l‘invoquer (cet autrui si autre que son mode d‘être appelé n‘est pas le ›tu‹, mais le

35 Dreisholtkamp: Die Gabe der Gabe, S. 293. 36 Busch, Kathrin: Elemente einer Philosophie der Passivität, in: Busch/Draxler: Theorien der Passivität, S. 17. 37 Ebd., S. 24. 38 Ebd., S. 28. 39 Ebd., S. 31. 40 Blanchot, Maurice: Michel Foucault tel que je l'imagine, Fontfroide-le-Haut: Ed. fata morgana 1986, S. 63.

16 | NICOLA T AMS & STEFFI HOBUß ›il‹), lui rendre témoignage par une manière de Dire qui n‘efface pas la distance infinie, mais soit parole par cette distance, parole d‘infini.«41

Es ist die Ansprache, die er dem Sprechen über einen Freund (in der Freundschaft) vorzieht. Freundschaft soll hier aufgrund einer immer anwesenden Abwesenheit völlig ohne Teilhabe und ohne Gegenseitigkeit, und ohne jegliche Gewissheit bestimmt werden.42 Levinas' Haltung gegenüber einem Mitmenschen geht bis hin zur Substitution des Anderen, sodass ihm das Angebot eröffnet wird, an seiner Statt zu sterben: »La proximité du prochain – la paix de la proximité – est la responsabilité du moi pour un autre, l‘impossibilité de le laisser seul face au mystère de la mort. Ce qui, concrètement, est la susception de mourir pour l‘autre.«43

Levinas zufolge hat der Tod des Anderen immer Priorität über meinen eigenen, was dann eindringlich wird, wenn jemand (anderes) stirbt.44 In Paix et Proximité fordert Levinas diese Bereitschaft sogar als Basis einer europäischen Politik ein. Levinas sieht über Heidegger hinausweisend eine mögliche Fundierung der Ethik darin, ein Denken zu finden, das über meinen eigenen Tod hinweg zum Tod des Anderen führt. Aus dieser Perspektive antworten wir nicht nur auf den Tod des Anderen, sondern auch auf sein Leben. Und wenn wir auf sein Leben antworten, seien wir bei ihm in seinem Tod.45

P OLITISCHE K ONSEQUENZEN Diese starke Form der ethischen Gebundenheit durch eine grundlegende Anrufung berührt die Frage des Politischen. Wenn es diese vom Tun und vom Lassen zu unterscheidende, dritte Ebene gibt, eröffnet sich das Problem, darüber sprechen zu wollen, etwas damit ›tun‹ zu wollen. Derrida führt in diese Richtung, wenn er danach fragt, wie ich vom

41 Blanchot, Maurice: Notre compagne clandestine. In: Laruelle, François: Textes pour Emmanuel Lévinas. Collection SURFACES, Nr. 2, Paris: Éd. Jean-Michel Place 1980, S. 83. 42 Vgl. Blanchot, Maurice: Die Schrift des Desasters. München: Fink 2005, S. 39. 43 Levinas, Emmanuel: Altérité et transcendance. Paris: Fata Morgana 1995, S. 145. 44 Vgl. ebd., S. 167. 45 Vgl. ebd., S. 170.

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Sprechakt als Gabe sprechen kann, wenn doch die Gabe gerade kein Akt ist, sondern ein Ereignis.46 In der Kritik an der Betonung von Technik und Praxis der Performativität sowie in Theorien eines dritten Orts geht es um ein gemeinsames Problem: Das Hervorbringen und Verändern von Bedeutung wird nicht als von einem souveränen Subjekt ausführbar und kontrollierbar gedacht. In der Kritik an der scheinbaren Bevorzugung der aktiven Seite des Handelns scheint die Befürchtung auf, dass die Theorie der Sprechakte von dem Glauben an die Intentionalität eines souveränen Subjekts bestimmt wird. Ziel einer kritischen Kulturtheorie wäre es, mit möglichst wenigen Ausschlüssen zu operieren und im gleichen Atemzug die Anzahl an Möglichkeiten dessen zu erhöhen, was als menschliches Handeln angenommen wird. Dabei muss menschliches Handeln hier als weder nur passiv, noch aktiv bestimmt begriffen werden. Martha Nussbaum hat mit ihrem Capability Approach eine Liste universeller menschlicher Fähigkeiten erstellt. Butler wendet in ihrer Antwort auf Nussbaums Forderungen ein, dass universelle Normen nicht außerhalb ihrer Kontexte zu denken seien.47 Butler schlägt im Gegenzug vor, verschiedene Vorstellungen dessen, was als universell betrachtet wird, zu sammeln.48 Diese endlose Aufgabe verdeutlicht die Gebundenheit partikularer Überzeugungen an einen bestimmten Ort und Kontext. Die grundlegende Gebundenheit an Lebensbedingungen liegt hiernach den Fähigkeiten der Menschen voraus, die Nussbaum aufzählt, vor dem Handeln der Menschen und vor den Einteilungen ihres Handelns in Passives oder Aktives. Die Bedingtheit der Menschen (im Sinne einer Passivität, die ermöglicht) ist gar nicht davon abhängig, wie aktiv oder passiv ein Mensch sich verhält. Menschen sind, »was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen.«49 Arendt zufolge erklären die Bedingtheiten aber nicht die ›Natur des Menschen‹. Ein Mensch könne von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen bedingt leben, und wäre immer noch ein Mensch. Aufgrund dieser einem in Dualismen getrennten menschlichen Handelns noch vorgeordneten Ebene, seiner Geschichtlichkeit und Kontextualität, verfehlt das individuelle Handeln auch immer seinen Zweck bzw. erreicht nicht das, was es zu erreichen glaubt.

46 Vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 29. 47 Vgl. Butler, Judith: »Universality in Culture«, in: Martha C. Nussbaum/Cohen, Joshua: For Love of Country? – Debating the Limits of Patriotism. Boston: Beacon Press 1996, S. 48ff. 48 Ebd., S. 50. 49 H. Arendt: Vita Activa, S. 16.

18 | NICOLA T AMS & STEFFI HOBUß »Das ursprünglichste Produkt des Handelns ist nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden, und die sich für den Handelnden selbst erst einmal wie nebensächliche Nebenprodukte seines Tuns darstellen mögen.«50

Wenn zu handeln immer erst das Verfehlen eigener Ziele bedeutet: Wie lässt sich noch eine politische Haltung einnehmen, die keine Enthaltung ist? Ist eine Rechtfertigung bestimmter politischer Ideen noch möglich? Und zudem: Wie kann das Verantwortungsproblem gelöst werden, wenn angenommen wird, dass Geschichte durch das Handeln von Menschen entsteht, diese aber nicht eigentlich richtungsweisend in ihre Geschichte eingreifen könnten?51 Wenn politisches Handeln sein Ziel grundsätzlich verfehlt, erscheint es aussichtslos. Wie sinnvoll kann ein Handeln sein ohne die Versicherung einer Letztbegründung sowie ohne die Absicherung, dass das eigene Handeln sein Ziel erreicht? Arendt antwortet darauf, dass mutig bereits sein muss, wer überhaupt handelt und sich exponiert, weshalb auch Theater als die politische Kunst gesehen werden könne.52 Eine Möglichkeit zeigt auch Derrida im Dialog mit Elisabeth Roudinesco auf. Wir müssen demnach situativ entscheiden, ein »zeitweiliges vorsichtiges Bündnis akzeptieren, dessen Grenzen ich allerdings herausstelle. Indem ich sie so explizit und intelligibel mache wie möglich.«53 Politische Anliegen weiterhin zu unterstützen sei vertretbar, »bis die Logik der erhobenen Forderung potentiell pervers oder gefährlich erscheint. Der Kommunitarismus oder der staatliche Nationalismus sind die offensichtlichsten Gestalten dieser Gefahr und damit dieser Grenze in der Solidarität. Die Gefahr muß jeden Augenblick in den sich ändernden Kontexten, die jedes Mal zu eigensinnigen Transaktionen führen, neu bewertet werden. Darin liegt kein Relativismus, es ist im Gegenteil die Bedingung für eine wirkliche Verantwortung, sofern etwas derartiges existiert.«54

Dann läuft man allerdings anderen Gefahren in die Hände, die Roudinesco aufscheinen lässt, wenn sie sich an Derrida wendet:

50 H. Arendt, Vita Activa, S. 174. 51 Vgl. ebd., S. 176f. 52 Ebd., S. 179f. 53 Derrida, Jacques/Roudinesco, Elisabeth: Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog, Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 44. 54 Ebd.

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»Sie bejahen, wenn ich richtig verstehe, die Notwendigkeit, stets der Avantgarde der Kämpfe gegen die bedrohlichsten unter den Fesseln der Freiheit anzugehören, um anschließend bereit zu sein, die Exzesse zu kritisieren, die von diesen Kämpfen hervorgerufen werden.«55

Die Binarität von Tun und Lassen aufrecht zu erhalten scheint hier für politisches Handeln notwendig, um immer dann entgegenzuwirken, wenn sich eine der Richtungen sich zu verfestigen droht. Dabei ist es wichtig, dass Handeln nicht lediglich als vorwiegend aktiv oder vorwiegend lassend verstanden wird, sondern gerade in der Verschränkung von beidem besteht. Davon unberührt bleibt die Einsicht, dass es Bereiche der Erkenntnis gibt, die uns entgleiten, also jenseits unserer aktiven oder passiven Bemühungen sind. Eine Möglichkeit besteht auch darin, sich nicht auf die Kriterien des Nichttuns, sondern vor allem auf seine Wirksamkeit und Folgen zu konzentrieren, wie Gronau/Lagaay vorschlagen.56 So könnte die Bewertung einer politischen Situation als ›verändernswert‹ auf der Grundlage ihrer Konsequenzen vorgenommen werden.

E IN

INTERDISZIPLINÄRES

F ORSCHUNGSFELD

Im Durchgang durch die bisherigen Überlegungen hat sich das Nachdenken über Lassen und Tun, das in der Philosophie von Performativitätstheorie und Phänomenologie ausgeht, schon als ein interdisziplinäres Fragen angekündigt. Berührt sind neben den bereits genannten Feldern unter anderem auch die folgenden (Teil-)Disziplinen, die in diesem Band zu Wort kommen: die Theologie, die Kritische Theorie, die Literaturwissenschaft und Texttheorie, die Feministische Theorie und die Postkoloniale Theorie sowie die Erkenntnistheorie mit der Frage, ob die Erkenntnis und/oder die Wahrnehmung eine letztlich passiv zu empfangende ›Basis‹ haben. Aus ganz unterschiedlichen disziplinären Perspektiven kann jeweils mit Gewinn gefragt werden, auf welche Weise der Vermutung stattzugeben wäre, dass sowohl die Analyse performativer Praktiken ein Moment des Lassens enthält als auch die Gabe performative Aspekte. Besonders in feministischen und postkolonialen Theorien steht ein Denken der Ermächtigung in einem Spannungsverhältnis zur Souveränitätskritik, wie sie etwa bei Butler formuliert wird und einen gewissen Akzent auf das Lassen und

55 J. Derrida/E. Roudinesco: Woraus wird morgen gemacht sein?, S. 47f. 56 Vgl. B. Gronau/A. Lagaay: Performanzen des Nichttuns, S. 13.

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die Unverfügbarkeit legt. Hier findet sich auf der einen Seite die Betonung der Autonomie des Handelns. Politisch handlungsmächtig scheint zu sein, wer sein Handeln absichtsvoll bestimmen kann. Auf der anderen Seite machen feministische und postkoloniale Argumentationen die Verletzbarkeit, Abhängigkeit, precariousness der Existenz und des Handelns sichtbar. Wenn etwa Butler in der Einleitung zu ihrem Buch Raster des Krieges schreibt, wir bräuchten eine »neue Ontologie des Körpers«,57 meint sie eine Einstellung, die einherginge mit »einem neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit«.58 Butler geht es hier um eine fundamentale Bedingung des menschlichen Lebens und der Körper, die trotzdem nicht als überhistorisch gedacht wird, und vor allem nicht als etwas Individuelles, nichts, was einfach vorhanden wäre und einer oder einem Einzelnen als Prädikat zugesprochen werden könnte, sondern als »jederzeit relational« und in der Tradition nach Jean-Luc Nancy als sozialontologisches »Mit-Sein«59 mit anderen. Dieser existentielle Begriff der precariousness erscheint bei Butler zuerst in dem Aufsatzband Precarious Life (Dt.: Gefährdetes Leben).60 Die deutsche Übersetzung von precariousness/precarious als »Gefährdetheit« und »gefährdet« lässt leider die Verbindung zu internationalen Debatten zum Prekären verschwinden, andererseits wird gerade in der Übersetzung der Akzent auf der Abhängigkeit und dem Ausgeliefertsein deutlich. In diesem Buch ist der Begriff des Prekärseins vor allem durch Levinas angeregt. Von Levinas bezieht Butler den Entwurf »einer Ethik, die auf einer Erkenntnis der Gefährdetheit des Lebens beruht, die Konzeption einer Ethik, die bei dem gefährdeten Leben des Anderen ansetzt«61. Es geht hier um eine nicht zu hintergehende und damit auch nicht absicherbare Gefährdetheit und Abhängigkeit lebendiger Körper, »nicht nur, weil sie sterblich, sondern gerade weil sie sozial sind«.62 Zu zeigen wäre aber auch im Anschluss an die feministischen Debatten um Handlungsmacht und Ausgeliefertsein, dass das Denken dieser Gegensätze auf

57 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, Frankfurt/M.: Campus 2010, S. 10. 58 J. Butler: Raster, S.10. 59 Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Berlin: diaphanes 2004. 60 Vgl. Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. 61 Ebd., S. 13. 62 Ebd., S. 73.

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der wechselseitigen Abhängigkeit der Begriffe beruht und sowohl der Begriff der Performativität als auch der der Gabe jeweils die Gegenseite in Anspruch nimmt. Die Vorstellung eines intentional handelnden, souveränen Subjekts muss von einer performativen Perspektive abgezogen werden, die gleichzeitig nicht völlig willkürlich oder wahllos wird, da sie dem Handeln seine Macht nicht abspricht. Die Möglichkeit zur Verantwortung und zum Handeln eröffnet sich jeweils im Blick auf Gabe oder Performativität, obwohl ein Subjekt seine Ziele nicht kontrolliert und zweckgerichtet umsetzen kann und bei seinem Tun zunächst prinzipiell scheitern muss. »Eine Gabe ist nur möglich, wo jemand etwas gibt, das er nicht zu geben intendiert«.63 Performatives Sprechen beruht auf ebendiesem Widerspruch: Die Vorstrukturierung durch das Subjektwerden macht sprachliches Handeln überhaupt erst möglich. Theorien sozialer Praktiken im Kontext der Kultur- und Sozialphilosophie, die seit einiger Zeit auch als »Praxistheorien« angesprochen werden, haben sich dem eingangs aufgenommenen Vorwurf zufolge zu wenig mit dem Lassen beschäftigt. Aber auch hier lässt sich differenzierter hinsehen. Hilmar Schäfer weist zum Beispiel in Die Instabilität der Praxis darauf hin, welche Rolle der Begriff der Wiederholung in den Theorien von Wittgenstein, Austin, Bourdieu, Foucault, Butler und Latour spielt.64 Auch wenn unterschiedliche Formen des Lassens in solchen Theorien kaum explizit thematisiert werden, diskutiert Schäfer vor allem unter den Begriffen »Trägheit des Körpers«,65 »Affektivität«,66 »Materialität«67 und »Dezentrierung des Subjekts« solche Analysekategorien der Praxistheorien, die die Dimension des Lassens im Begriff der Wiederholung sichtbar werden lassen könnten. Das Ziel dieses Bandes ist es also weder, in eine (vielleicht) dominante Betonung der Praktiken in ihrer Dimension des aktiven Tuns einzustimmen, noch einfach komplementär dazu die Seite des Lassens und der Passivität zu privilegieren. Vielmehr wäre die Komplexität der Diskussion um Tun und Lassen innerhalb kultureller Praktiken zu allererst anzuheben. Zu fragen wäre daher, inwieweit Praktiken schon immer vom Lassen mit- und vorbestimmt, sowie Lassen, Nichttun und Passivität ihrerseits durch performative Dimensionen mit- und vorbestimmt sind. Solche Wechselverhältnisse in ihrer Komplexität grundlegend

63 U. Dreisholtkamp: Die Gabe der Gabe, S. 300. 64 Schäfer, Hilmar: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2013. 65 Vgl. ebd., S. 335-338. 66 Vgl. ebd., S. 338-340. 67 Vgl. ebd., S. 353.

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oder an einzelnen Beispielen zu erörtern und dabei die wechselseitige Bedingtheit der beiden Seiten nicht verkürzend aufzugeben, ist das Anliegen der Beiträge dieses Bandes.

D IE B EITRÄGE Dass die Unterscheidung zwischen Tun und Lassen nicht parallel zu der Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität verläuft, davon geht Philipp Stoellger in seinem Beitrag Quo maius pati nequit. Komparative des Leidens und ihre Eskalationen aus. Formulierungen dieses Umstands aus grammatischer, juristischer und philosophischer Sicht sind für ihn der Anlass, ein »Gespräch zwischen Phänomenologie und (protestantischer) Theologie« aufzunehmen. Hier zeigt sich, unter anderem im Anschluss an Levinas und Ricœur, dass die Theologie der dort gut begründeten Kritik an der Passivität, wo es sich um Fremdbestimmung und Unterdrückung handelt, die Perspektive hinzufügen kann, dass Passivität nicht dasselbe sein muss wie Schmerz oder Unlust, ohne dass eine simple Affirmation oder Rehabilitation von Passivität vorgenommen würde. Denn dann läge die Gefahr der Funktionalisierung der Opferrolle, einer Opferkonkurrenz oder einer Komparatistik des Leidens nahe. Sowohl die Eskalation der Aktivität bei Nietzsche als auch der Passivität bei Levinas diagnostiziert Stoellger als Übertreibungen der Immanenz mit dem Ziel, Transzendenz zu sagen und zu denken, wogegen er die theologischen Denkmöglichkeiten der Vermittlung einer ›immanenten‹ und einer ›absoluten‹ Passivität erkundet. Steffi Hobuß wendet sich in ihrem Artikel Aktivität und Passivität der visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles Fragen der Erkenntnis zu und liest vier Passagen aus den Platonischen Dialogen Theaitetos und Timaios und drei Kapitel des zweien Buchs aus Aristoteles' De Anima auf die Fragestellung einer möglichen Unterscheidung von Elementen des Tuns und des Lassens hin. Ihr Analyseergebnis dieser Passagen lautet, dass es unzutreffend wäre, Platon in Form einer Sendetheorie und Aristoteles in Form einer Empfangstheorie zu lesen. Ihr Unterfangen bringt aber auch zutage, dass Platon eine Differenzierung innerhalb der Wahrnehmung ermöglicht, ohne eine hierarchische Abwertung von passiven oder aktiven Aspekten vorzunehmen, und dass Aristoteles zwar von Passivität spricht, jedoch mit Gründen dafür zu plädieren ist, dass Sehen für ihn Tun und Lassen zugleich ist. Je nach Kontext bedinge im Sehen sogar aktiv passiv oder umgekehrt. Wenn sie zeigt, »dass die Zuschreibungen von Wirken und Erleiden nicht simpel mit Aktivität und Passivität gleichgesetzt werden können, und dass von einer simplen passiven Empfangstheorie bei Aristoteles nicht die

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Rede ist«, eröffnet ihre Argumentation auch die Einsicht, dass das Bild vom großen Gegensatz der beiden Philosophen in Fragen der visuellen Wahrnehmung nicht aufrecht zu erhalten ist. Das Nichts-tun als Handlungsmöglichkeit angesichts der allfälligen Vereinnahmung von Kritik untersucht der Beitrag von Martin G. Weiss Müßiger Widerstand? Vom subversiven Nichtstun der Philosophie am Ende der Geschichte am Beispiel der Occupy-Wallstreet-Bewegung. In einer geschichtsphilosophischen Perspektive beschreibt er das linear-teleologische Geschichtsmodell in seiner Funktion für die Entstehung der Vorstellung des in dauernden Innovationen herzustellenden Neuen als positivem Wert. Nach der säkularisierten Version der Heilserwartung mit dem Ziel einer gerechten Gesellschaft ist es nach Vattimo das Kennzeichen der Spätmoderne, dass das Ziel des geschichtlichen Fortschritts entfällt und in einem rastlosen Tätigsein der Prozess der endlosen Erneuerung zum Selbstzweck wird. Diese Entwicklung beschädige die Idee des widerständigen Handelns. Als mögliche Weisen post-utopischen Widerstands werden nach Žižek, Agamben und Vattimo Verweigerung, Nichts-tun und Urteilsenthaltung erörtert. Sabine Hark liest in ihrem Beitrag Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen ein kurzes Prosastück Kafkas, seine Version der Sirenenepisode aus Homers Odyssee, als »Versuchsanordnung« zur Überprüfung seiner eigenen These, »dass auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können«. Gemäß der Interpretation aus feministischer und postkolonialer Perspektive im Anschluss an Toni Morrison, Spivak, Butler und Wendy Brown taugt die Figur des Odysseus freilich nicht mehr zur Verkörperung souveränen Handelns. Vielmehr zeige sie exemplarisch, wie die Herstellung eines bestimmten Schweigens konstitutiv für die Sprache und die Ordnung des Sagbaren ist, und zwar nicht nur als die einfache Ausschließung bestimmter Bereiche, sondern als die Weise, wie wir in die Sprache und das Sein hereingeholt werden und andere gewaltvoll nur in entstellter Form platziert werden. Wenn feministische Kritik im Einspruch gegen bestimmte epistemische Anordnungen besteht, aber die Sprechpositionen nicht beliebig vermehrbar sind, wird die Berücksichtigung gerade des Schweigens für feministischen Aktivismus und feministische Theorie entscheidend. Martin Schierbaum fragt in Aber das Gedicht spricht ja! mit zwei Gedichten Celans nach der Möglichkeit eines ethischen Sprechens nach der Shoah, das sich gegen Vergessen und Stummwerden aufrichtet. Am Beispiel der Shoah zeigt sich die unüberbrückbare Differenz zwischen unzugänglicher Erfahrung der Opfer und ihrer nachträglichen Interpretation durch Andere, die Schierbaum zufolge einen ethischen Raum entstehen lässt. Er zeigt, dass der Tod fester Bestand-

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teil von Literatur ist, da durch ihre Formen wie das Gedicht, der Instanz, »die innehält, wo andere weitermachen«, Normalität unterbrochen wird. Barthes und Derrida verknüpfend, entsteht die Textualität als Zwischenraum. Das Unterlassen begrenzt eine Ethik der Verausgabung. Damit trägt er die Gedichte Celans über ihren rein inhaltlichen Aspekt hinaus zu einer ethischen Bewegung hin, die performative Gegenbilder für das Jetzt erschaffen. Das Ineinandergreifen der performativen Kraft sprachlichen Handelns und der Gabe als unverfügbarem Moment steht im Mittelpunkt des Beitrags Gabe und Performativität. Von der performativen Kraft leerer Versprechen von Nicola Tams. In drei Schritten wird die Argumentation entfaltet: Erstens wird mit Derridas Schriften über die Gabe gezeigt, wie Übertreibung und Übermaß als Merkmale der Gabe überhaupt gesehen werden können und die Passivität in allen Sprechhandlungen als hereinbrechende Gabe zu verstehen ist. Zweitens wird erläutert, wie Derrida bei Heidegger anknüpft, der die Sprache ereignishaft durch die Zusage ermöglicht sieht, und dass dem Gegensatz von Sprechen und Schweigen ein gewisses Schweigen als Passivität vorausliegt. Drittens geht es um die Subjektwerdung durch die Sprache bei Butler, die ebenfalls von einer Passivität des Subjekts als Ausgesetztsein ausgeht, das nicht als ahistorischtranszendent, sondern durchweg sozial und historisch gedacht wird. Damit wird nicht nur die Unverfügbarkeit der Gabe in allen Sprechhandlungen, sondern es werden zugleich die performativen Aspekte der Gabe deutlich, wenn die Möglichkeit der Gabe ihrerseits auf sozialen und historischen Bedingungen des performativen sprachlichen Handelns beruht. Marie-Eve Morin entzieht in ihrem Beitrag Übertreibung und Zweideutigkeit einer scharfen Trennung zwischen dem Konstativen und dem Performativen und den zugehörigen Unterscheidungen von Passivität und Aktivität sowie Spontaneität und Rezeptivität den Grund. Mit Derridas Überschreitung des Performativen durch das Performative und über Derrida hinausgehend mit Merleau-Ponty zeigt sie, dass in Wahrnehmung, Handlung und Ausdruck diese scheinbaren Gegensätze eng miteinander verflochten sind. Abseits von Referenztheorien der Sprache und Vorstellungen eines souveränen Subjekts sucht sie nach einer alternativen Betrachtungsform für künstlerisch-schöpferischen und sprachlichen Ausdruck. Das Konstative erfasst dann nicht mehr nur, das Performative ist nicht ausschließlich erschaffend, wenn sie beispielsweise die Hand beim Malen eines Gemäldes von Matisse beobachtet. Pascal Delhom zeigt in Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit, dass die Bedingungen einer solchen Gastlichkeit, wie Derrida sie formuliert, mit der Gabe von Geduld und Zeichen der Geduld, mit zeitlichen und räumlichen Zugehörigkeiten und Notwendigkeiten zusammenfällt, die sie so

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herausfordernd gestalten. Auch ein bedingungslos aufgenommener Gast darf sich nicht völlig verausgaben: »Die Gastlichkeit befindet sich auch konstitutiv in einem schwierigen Verhältnis zwischen einem aktiven Empfangen und einer gleichzeitigen Zurückhaltung.« An Camus' Texten untersucht Delhom die ambivalente Szene, in der die Aufnahme eines Gasts damit einhergeht, sich auszusetzen und sich der Frage nach der Identität der oder des Anderen zu stellen: Nach der Aufnahme eines Gasts ist der Mensch ein anderer. In Hartmut Böhmes Tun und Lassen im Mund lässt sich der Autor auf einen ganz besonderen Gegenstand der kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Komponenten des Lassens und des Tuns ein. Im Innen der Mundhöhle lokalisiert er das anthropologische Relikt fremder und vergangener Zeiten und untersucht, welche aktiven und passiven Momente in den Möglichkeiten des Mundes aufzuspüren sind. Er tritt für die Aufnahme dieses Körperbereichs in einen anthropologischen Diskurs ein. Für die Unterscheidung von Tun und Lassen schlägt er eine Perspektive auf das Handeln vor, indem die Grundlage des Handelns bereits in aktiven und passiven Aktivitäten im Mund geschaffen wird. Das Bemühen um eine gendergerechte Schreibweise kommt in den einzelnen Beiträgen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck. Viele Autor_innen verwenden die Unterstrich-Schreibweise, es werden aber auch andere Möglichkeiten wie der eher in den USA übliche absatzweise Wechsel zwischen weiblichen und männlichen Formen eingesetzt. Wir danken dem Präsidium der Leuphana Universität Lüneburg, dem Alumni e.V. der Universität Freiburg und dem Alumni- und Förderverein der Leuphana Universität Lüneburg, die durch ihre finanzielle Unterstützung den Druck dieses Bandes ermöglicht haben. Rebecca Ardner, Felicitas Arnold, und Sami Qaiser danken wir für ihre Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage.

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L ITERATUR Althusser, Louis: Über die Ideologie, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg: VSA 1977, S. 130-153. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper 1981 Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart: Reclam 1979. Berger, Armin: »Das philosophische Problem der Unterlassungen in Kunst- und Kulturwissenschaft«, in: Gronau, Barbara/Lagaay, Alice: Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008. Birnbacher, Dieter: Tun und Unterlassen, Stuttgart: Reclam 1995. Blanchot, Maurice: Notre compagne clandestine. In: Laruelle, François: Textes pour Emmanuel Lévinas. Collection SURFACES, Nr. 2, Paris: Éd. JeanMichel Place 1980, S. 79-87. Blanchot, Maurice: Michel Foucault tel que je l'imagine, Fontfroide-le-Haut: Ed. fata morgana 1986. Blanchot, Maurice: Die Schrift des Desasters. München: Fink 2005. Busch, Kathrin: Elemente einer Philosophie der Passivität, in: Busch, Kathrin/Draxler, Helmut: Theorien der Passivität, München: Fink 2013, S. 15-31. Busch Kathrin/Därmann, Iris: Pathos. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: Transcript 2007. Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin Verlag 1998. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. Butler, Judith: Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Butler, Judith: »Körper in Teilen«, in: Deuber-Mankowsky, Astrid/Holzhey, Christoph F.E./Michaelsen, Anja: Der Einsatz des Lebens, Berlin_ b_books 2009, S. 49-54. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, erste Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 301-322. Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern. Frankfurt/M.: Campus 2010.

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Butler, Judith: »Universality in Culture«, in: Martha C. Nussbaum/Cohen, Joshua: For Love of Country? – Debating the Limits of Patriotism. Boston: Beacon Press 1996, S. 45-52. Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink 1993. Derrida, Jacques: Geschlecht (Heidegger), Wien: Passagen; Böhlau 1988 [1987]. Derrida, Jacques/Roudinesco, Elisabeth: Woraus wird morgen gemacht sein? Ein Dialog, Stuttgart: Klett-Cotta 2006. Dreisholtkamp, Uwe: »Die Gabe der Gabe und das Versprechen«, in: HansDieter Gondek; Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Felman, Shoshana: Le scandale du corps parlant. Don Juan avec Austin, ou, la séduction en deux langues, Paris: Seuil 1980. Gronau, Barbara/Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008. Lethen, Helmut: »Der Stoff der Evidenz«, in: Michael Cuntz et al. (Hg.): Die Listen der Evidenz, Köln: DuMont 2006. Levinas, Emmanuel: Altérité et transcendance. Paris: Fata Morgana 1995. Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Berlin: diaphanes 2004. Rapaport, Herman: »Derridas Gaben«, in: Hans-Dieter Gondek, Bernhard Waldenfels (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 40-59. Savigny, Eike von: Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt/M: Suhrkamp, 21974. Schäfer, Hilmar: Die Instabilität der Praxis. Reproduktin und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2013. Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Studien zur praktischen und theoretischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Stoellger, Philipp: »Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz«, in: Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 89-102. Thomas, Tanja/Hobuß, Steffi/Kruse, Merle-Marie/Hennig Irina (Hg.): Dekonstruktion und Evidenz. Ver(un)sicherungen in Medienkulturen, Sulzbach/Ts.: Ulrike Helmer Verlag 2011.

Quo maius pati nequit Komparative des Leidens und ihre Eskalationen P HILIPP S TOELLGER

1. V ORAB : T UN UND L ASSEN – AKTIVITÄT UND P ASSIVITÄT ? Umgangssprachlich liegt es nahe, Tun und Lassen mit der Unterscheidung von Aktivität und Passivität gleichzusetzen. Ist doch das Lassen eben kein Tun, sondern dessen Anderes: ein Nicht- oder Nichtstun. Man kann sich selbst bestimmen, oder sich bestimmen lassen. So naheliegend diese Gleichsetzung ist, sie würde einiges verkennen (lassen). Denn bestimmt zu werden, gar fremdbestimmt (sei es in Liebe oder Gewalt) ist etwas gründlich anderes, als sich bestimmen zu lassen. Das heißt schlicht: Lassen ist kein Passiv, sondern ein transitives Aktiv. Zugespitzt: Lassen ist ein Tun, wenn auch ein besonderes. Das gilt grammatisch eindeutig: »jemand lässt etwas« ist ein Aktiv. Das gilt juristisch, sofern das Lassen wie Unterlassen eine Form des Tuns sei.1 Es gilt auch philosophisch in mehrfacher Weise: Lassen und Rezeptivität sind noch vom aktiven Subjekt aus rekonstruierbar, Passivität hingegen, gar reine Passivität nicht. Seitens der Theologie ist das bereits in der deutschen Mystik und verschärft bei Luther geklärt worden.2

1

Vgl. Birnbacher, Dieter: Tun und Unterlassen, Stuttgart: Reclam 1995; Stoellger, Philipp: Sterbenlassen. Für und Wider eine Unvermeidlichkeit, Teil I und II, in: PrimaryCare, (2007) 20/21, S. 337-340; (2007) 22, S. 367-371.

2

Vgl. Stoellger, Philipp: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer categoria non grata, Tübingen: Mohr Siebeck 2010.

30 | P HILIPP STOELLGER

Ergo: Die Differenz von Aktiv und Passiv ist nicht parallel zu Tun und Lassen, sondern Tun und Lassen sind zwei Formen der Aktivität, von der die Passivität zu unterscheiden ist.3 Und weiter noch, es gilt zweierlei Passiv zu unterscheiden: die unendlichen Korrelationen von Aktiv und Passiv, also ein korrelatives Passiv, mehr oder weniger; und davon unterschieden ein ›reines‹ oder ›absolutes‹ Passiv, etwa der Tod, das Gottesverhältnis oder möglicherweise der unbedingte Anspruch des Anderen. Die Differenz von Lassen und Passivität lässt sich an einer paradoxen Formulierung der deutschen Mystik Johannes Taulers zeigen: »Soll Göttliches (in den Menschen) hinein, so muß notwendigerweise das Geschöpfliche (zuerst) den Menschen verlassen. Alles Geschöpfliche muß heraus, es sei von welcher Art auch immer; es muß alles weg, was in dir ist und was du empfangen hast. Die tierische, unvernünftige Seele muß da fort, damit im Menschen die vernünftige Seele erscheine. So muß der Mensch sich fassen lassen, sich leeren und vorbereiten lassen. Er muß alles lassen, dieses Lassens selbst noch ledig werden und es lassen, es für nichts halten und in sein lauteres Nichts sinken. Andernfalls vertreibt und verjagt er sicher den heiligen Geist und hindert ihn, in der höchsten Weise in ihm zu wirken«4.

Da jedes Lassen noch ein Tun ist, führt dies mit der Verdopplung des Lassens zu einem infiniten Regress: das Lassen des Lassens des Lassens… Soll auch das Lassen noch gelassen werden, wird perpetuiert, was doch gelassen werden soll. Nichts mehr zu tun im Sinne einer ›Nichtung‹ des Tuns ist selber noch Tun und wird es immer bleiben. Damit wird das Problem der Eigenaktivität nicht nur verschoben, sondern verewigt – woraus sich der Erweis der Unmöglichkeit ergibt, mit dem Lassen dasjenige Andere des Tuns in den Blick zu bekommen, das bei Luther oder Levinas Passivität heißt.

3

Vgl. Stoellger, Philipp: Was man nicht lassen kann. Grammatische Bemerkungen zum

4

Tauler, Johannes: Predigten. Vollständige Ausgabe, übertragen und herausgegeben

›Lassen‹, in: Hermeneutische Blätter: Lassen, (2003) 2, S. 59-67. von Georg Hofmann, Einsiedeln: Johannes 31987, S. 170f (Hervorhebungen: P.S.); vgl. ebd., S. 177ff.

Q UO

2. L EVINAS ’

PASSIVERE

MAIUS PATI NEQUIT

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P ASSIVITÄT

Levinas erklärte etwas paradox oder hyperbolisch: »Die Subjektivität […] vollzieht sich als eine Passivität, die passiver ist als jede Passivität. Der diachronen Vergangenheit […] entspricht oder antwortet die unübernehmbare Passivität des Sich«5.

Dieser ›Vollzug‹ der Subjektivität wird in Aufnahme einer Figur von Husserls ›Analysen zur passiven Synthesis‹ entfaltet: »›Se passer‹ – sich vollziehen – denkwürdiger Ausdruck, in dem das sich sich gleichsam abzeichnet in der Vergangenheit, die vergeht und so sich vollzieht wie das Altwerden – ohne ›aktive Synthesis‹«6.

Subjektivität, die üblicherweise als Aktivität und Vermögen bestimmt wurde, erfährt hier eine Schubumkehr: Sie wird, was sie sein wird, in passiver Genese. Die wesentlichen Metaphern für diese ›passivere Passivität‹ sind bei Levinas (der Mystik verwandt) leibliche: »Verwundbarkeit, Ausgesetztsein der Beleidigung, der Verletzung«7. Und diese Metaphorik des Leibes bestimmt auch die grammatische Näherbestimmung: »Passivität, die passiver ist als jede Geduld, Passivität des Akkusativs, des Anklagefalls, Trauma einer Anklage, unter der eine Geisel bis hin zur Verfolgung zu leiden hat, Infragestellung der Identität […] der Geisel, die an die Stelle der Anderen gesetzt wird: Sich – Niederlegung oder Niederlage der Identität des Ich. Genau das ist, radikal gedacht, die Sensibilität. In diesem Sinne Sensibilität als die Subjektivität des Subjekts«8.

5

Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992, S. 49. Vgl. ders.: Das sinnlose Leiden, in: ders., Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Carl Hanser 1995, S. 117-131.

6

E. Levinas: Jenseits des Seins oder als anders als Sein geschieht, S. 49f. »Die Antwort, die Verantwortung ist – für den Nächsten einzustehen – erklingt in dieser Passivität, in diesem Sich-vom-Sein-Lösen der Subjektivität, in dieser Sensibilität oder Empfindlichkeit der Sinne« (ebd., S. 50).

7

Ebd.

8

Ebd.

32 | P HILIPP STOELLGER

Die ostentativ theologische Fortbestimmung der ›Sensibilität‹ lautet dann: »Stellvertretung für den Anderen – der Eine an der Stelle des Anderen – Sühne«9. Dem näher nachzugehen wird im Folgenden zu einem Gespräch zwischen Phänomenologie und (protestantischer) Theologie führen – in Form eines Chiasmus wechselseitigen Anspruchs und Antwortens, die auf je ihre Weise differieren. Um einen Verdacht vorab zu benennen: Es geht nicht um eine Kompetition und Konkurrenz im Passivitätsdenken zwischen Theologie und Phänomenologie; auch nicht um eine theologische Indienstnahme der Phänomenologie; noch weniger um eine ›fundamentalanthropologische‹ Fusion beider. Es geht vielmehr darum, wie beide einander förderlich sein können in ihrer Aufmerksamkeit und Entfaltung der Phänomene und Probleme von Pathos und Passivität. Denn – für all das haben wir kaum noch Worte, nachdem ›Passivität‹ im Prozess der Moderne (um nicht Tribunal zu sagen) als vormodern verurteilt wurde. Es geht daher um einen wechselseitigen Wahrnehmungs- und Sprachgewinn.

3. P ATHOSREGISTER : D IFFERENZEN

DER

P ASSIVITÄT

Passivität ist eine riskante, wenn nicht sogar eine gefährliche Kategorie. Die Kritik daran und die transzendentaltheoretische Reduktion auf minimale Aktivität (wie Empfangen oder Rezeptivität) ist normativ begründet und verständlich, wenn es um die Zurückweisung repressiver Fremdbestimmung geht. Daher ist auch die Fremdbestimmung durch Trauma, Gewalt, Tyrannei, Schmerz oder Krankheit negativ besetzt. So kann man die Medizin als universale Heilsveranstaltung (und Heilsökonomie) der Moderne verstehen, um sich gegen die schmerzlichen Passivitäten der Natur, die wir sind, zu wehren. Allerdings kann die Aufmerksamkeit für Passivität/-en nicht schlicht Affirmation suchen, als ginge es darum, solche schmerzlichen Fremdbestimmungen zu rehabilitieren oder gar zu feiern. Das ist trivial, aber doch ein untriviales Problem. Denn die Pauschalisierung von Passivität als Negativum (als modernes malum) provoziert Kritik, wenn Passivität differenzierter gesehen wird. Damit ergibt sich eine naheliegende Hermeneutik des Verdachts gegenüber ›Passivitätsforschungen‹, als würde damit wiederholt und affirmiert, was doch in der

9

E. Levinas: Jenseits des Seins, S. 50. Vgl. ders., Humanismus des anderen Menschen. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang. Intention, Ereignis und der Andere, Hamburg: Meiner 1989, S. 85-104.

Q UO

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Moderne im Zeichen von Autonomie und Selbstbestimmung errungen und abgearbeitet worden war. Pathos und Passivität aber sind nicht mit ›Leiden‹ und ›Schmerz‹ identisch, wodurch sich (im Deutschen) Sprachprobleme ergeben. Das zeigt sich, wenn vom Leiden zur Verletzbarkeit, dem Pathischen, der Leidenschaft, dem Begehren und dem Mitleid übergegangen wird. Gäbe es diesseits der ›Antwortregister‹10 auch Pathosregister, wären die beunruhigend vielfältig. Denn ›Pathos und Passivität‹ werden auf vielerlei Weise ausgesagt. Diese Vieldeutigkeit sollte man erinnern und zu wahren suchen gegenüber der nächstliegenden Vereindeutigung. Denn Leiden ist nicht gleich Schmerz und Unlust. Das Pathische oder Passive humanen Daseins kann man in seiner Vielsinnigkeit an polaren Figuren verdeutlichen. Widerfahren oder erlitten werden: Geburt und Tod ebenso wie lustvolle und unlustvolle Fremdbestimmung (heilsame oder unheilvolle), die Alterität (Eigenleib, Andere), ebenso lust- wie unlustvoll, Glück wie Leid (i.e.S.), die sich beide in Überwältigung und Aphasie zeigen können, Träume wie Traumata oder Lust wie Schmerz. Das heißt: Erlitten wird nicht nur Leidliches, sondern auch Glückliches und Lustvolles. Nennenswert ist zudem, dass diese Antagonisten durchaus gemischt auftreten können, in ›gemischten Gefühlen‹, wenn die Polaritäten ineinander spielen, und es ist keineswegs immer klar, ob eine Fremdbestimmung so oder so ›ist‹, ›wirkt‹ und aufzufassen ist. Von Pathos und Passivität zu sprechen geht einher mit der Frage nach dem Blick bzw. der Nähe und Distanz. Darüber entscheidet bereits die Art und Weise der Thematisierung von Passivität, sei es in Generalisierung (in der reinen Kategorie), der Individualisierung (Innenperspektive) oder Spezialisierung (der Diagnostiker und Therapeuten) oder der Differenzierung in hermeneutischer oder phänomenologischer Perspektive, sei es in Beobachterdistanz oder Teilnehmeridentifikation. In Ordnungsfragen kategorialer Art werden entscheidende Selektionen getroffen: Zunächst einmal ist Pathos oder Passivität schlicht eine Kategorie, allerdings mit der Frage, ob sie – mit Aristoteles unterschieden – zu den ›großen‹ oder ›kleinen‹ Kategorien gehört (wie Relation, bzw. Ort, Zeit, Lage, Haben), die Kontingentes (bzw. Akzidentelles) bezeichnen. Wenn hingegen Sein wesentlich geschichtlich ist, Menschsein stets ›mehr unsere Zufälle als unsere Wahl‹11 oder wenn der Mensch wird, was er sein soll, kraft des Zufallens von Gabe und

10 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 11 Vgl. Marquardt, Odo: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam 1986, S. 118.

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Gnade, werden diese vermeintlichen Kontingenzen und marginalen Aspekte höchst wesentlich. Dann ändert sich auch die Ordnung und Wertung der Kategorien, also der Aspekte unter denen ›etwas als etwas‹ bestimmt wird. Was im Aristotelismus als eher ›marginaler‹ Aspekt galt, kann in der Theologie seit Luther oder der Phänomenologie bei Levinas und Waldenfels basal und gewichtig werden, wenn sich der Blick wendet. Bereits in der Ordnung der Kategorien wird über die Wahrnehmungsordnung der ›Dinge‹ entschieden. In maximaler Abstraktion ist die Ordnung der Kategorien Ausdruck der Kompetition um Relevanz und Konsequenz der Leitdifferenzen, unter denen wahrgenommen und ausgewählt wird, was wichtig ist und was vielmehr nicht. Analoges gilt grammatisch: Die Passivität der Verbform ist so selbstverständlich wie erstaunlich ungeklärt (gegenüber dem Aktiv). Als vorzüglich gilt oft die Vermittlung im Medium (aus dem Griechischen), Diminutive wie die der Rezeptivität, oder vermeintliche Passivitätsformen wie das Lassen (des Lassens, Sichbestimmenlassen12). Nochmals Analoges kehrt in der Anthropologie wieder: Wenn der Mensch vor allem dann Mensch sei, wenn er autonomer Agent ist, kraft seiner Selbstbestimmung setzt, was er ist, werden die Passivitäten und Kontingenzen entweder negativiert als Fremdbestimmung oder marginalisiert als bestenfalls irrelevant. Die Perspektiven als Pathosregister ließen sich in diverser Hinsicht weiterführen. Dabei fällt auf, dass bestimmte disziplinäre Perspektiven einen besonderen Sinn für Pathos und Passivität aufweisen: beispielsweise Medizin und Psychologie, Hermeneutik und Phänomenologie sowie Metaethik und Theologie. Nimmt man die Theologie zum Beispiel, ist der Sinn für Passivität allerdings mitnichten immer wünschenswert in Bestimmtheit und Wertung. Wie man es mit ›Passivität‹ hält, entscheidet sich erst in der näheren Bestimmung der nach- und vorlaufenden semantischen Qualifizierung – oder Disqualifizierung. Eine alte Denkgewohnheit ist, Passivität mit schmerzlichem Leiden gleichzusetzen und zu rationalisieren: Leiden als Strafe zu verstehen, als gerechte Strafe – durch die Götter (Antike wie Judentum und Christentum), oder durch Menschen, als Rache, Vergeltung oder aber durch Recht und Gesetz. Das hält sich in verwandelter Form bis in die zeitgenössischen Gesundheitsdiskurse: Wer leidet, an Krebs oder

12 Das Problem zeigt sich in der (sehr hilfreichen) Studie von Martin Seel über das Sichbestimmenlassen, mit der er seinen Sinn für das Andere der Selbstbestimmung zeigt – und doch in deren Horizont verbleibt. Ist doch das ›Lassen‹ die Minimalform der Aktivität und das Sichbestimmenlassen immer noch Wahl und indirekte Selbstbestimmung (vgl. Seel, Martin: Bestimmen und Bestimmenlassen. Anfänge einer medialen Erkenntnistheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 46 (1998) 3, S. 351-365).

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Herzerkrankungen zum Beispiel, habe höchstwahrscheinlich nicht gesund genug gelebt. Der Zynismus dieses Tun-Ergehens-Denkens liegt auf der Hand, spätestens seit der sog. ›Krise der Weisheit‹ Israels, wie sie das Hiobbuch vor Augen führt. Seitdem ist Leiden nicht mehr als Strafe durch Gott verständlich – auch wenn sich diese Vorstellung nach wie vor durchhält. Theologisch ist das ein Grammatikfehler: weil Gott damit zum Urheber des Übels und das Übel zum (heilspädagogischen) Instrument gemacht würde. Die jüngere Alternative zum Strafmodell ist Leiden als Gnade, als Auszeichnung. Wenn der Tun-Ergehens-Zusammenhang zerfiel wie modrige Pilze, kann die Korrektur dieses Irrtums zu einer irrigen (wenn nicht irren) Korrektur führen. Der Leidende ist nicht mehr der Ungerechte, sondern gerade der Gerechte – der leidende Gerechte. Das Gerechte am Leiden ist dann die Auszeichnung des Leidenden. Christus, die Märtyrer und ›alle‹ Heiligen sind die Exempla dieses Verständnisses. Die Mystik hat das exzessiv ausagiert. Und dazu ist das Nötige seit langem gesagt, prägnant vor Augen geführt in Seuses Fußtuchvision: »Da sah er einen Hund, mitten im Kreuzgang, der hatte ein verschlissen Fußtuch im Maul und spielte damit auf seltsame Weise: Er warf es in die Höhe und wieder zu Boden und zerrte Löcher hinein«13.

Eine deutende Stimme in der Vision meint zu ihm: »Solch ein Spielzeug wirst du in deiner Brüder Gerede werden«14. Nach dieser sogenannten Fußtuchvision verzichtete Seuse auf seine autoaggressiven Bußübungen. Die visionäre Kehre führte ihn dazu, von seiner Leidenssucht zu lassen, weil sie im Grunde Selbstsucht sei. Wer Leiden will und sucht – wird darin bestenfalls sich selbst finden und verlieren. Die Eskalation der immer aktiver gesuchten Leiden führt letztlich nur in die Steigerung der Selbstbezüglichkeit und kann nur unterbrochen werden von Außen in einer widerfahrenden Vision.

13 Seuse, Heinrich: Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und herausgegeben von Georg Hofmann, Zürich/Düsseldorf: Benziger 1999, S. 86. 14 Ebd.

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4. S PRACHPROBLEME

DER

P ASSIVITÄT

Die Unvermeidlichkeit des Logos, des Sprechens von Passivität, und damit des unvermeidlichen Sinns solchen Sprechens provoziert die dreifaltige Frage: Wie sprechen, wie nicht sprechen, wie nicht nicht sprechen von Passivität? ›Denk nicht, sondern schau!‹ könnte man mit Wittgenstein einwenden. Aber der Anspruch des Sagens und Zeigens bleibt auf Dauer unausweichlich. Angesichts von leid- oder lustvollen Passivitäten stellt sich früher oder später die ›Passion der Deutung‹ ein: eine Unvermeidlichkeit von ›Sinn‹ im Sagen und Denken. Es stellt oder schleicht sich ein ›Zusammenhang‹ ein, und sei es liminal in passiver Synthesis von Sinn in Assoziation oder Konnotation. Die Frage ist dann, welcher Sinn wie zu verantworten ist, und was für ein Verhältnis insbesondere zum Leiden, zum Leidenden und damit zum Anderen eingenommen wird. Das lässt sich modellhaft unterscheiden in Dual, Korrelation, Kreuzung und Komparativ. Das Standardverfahren der Bearbeitung von ›Passivität‹ ist die Korrelation, die sich abgrenzt gegenüber den (vermeintlich vormodernen) Dualismen. Angeblich, so die retrospektive Konstruktion, habe von Aristoteles über Descartes bis zu Leibniz ein (metaphysischer) Dual von aktiv-passiv geherrscht, der transzendentaltheoretisch zu vermitteln sei, um überhaupt Passivität denken und von ihr intelligibel sprechen zu können.15 Seit der Passivitätskritik der Aufklärung (Kant, Schelling etc.) herrscht daher das Modell einer Korrelation (Schleiermacher, Cohen, Cassirer und Tillich z. B.). Dem entspricht die Umbesetzung der Passivität durch Rezeptivität, Empfänglichkeit, Aufnahmevermögen oder Fassungsvermögen. Die Gegebenheitsweise von Widerfahrungen ist dann die stets ›selbst gemachte‹ Erfahrung. Was auch immer widerfährt, das Subjekt ist darin rezeptiv – und das heißt: minimal aktiv, bei noch so großer Passivität. Das kann auf zwei Weisen gefasst werden: entweder wird nur von der basalen Aktivität des Subjekts ausgegangen. Dann ist Passivität nur eine Hemmung oder Minimierung dieser Aktivität. Oder Passivität ist das polar Andere der Aktivität, wird aber begriffen nur als deren korrelativ anderes (so wie das ›alter ego‹). Korrelation dominiert auch die dialektische Tradition (Hegel) wie die semiotische (Peirce). Nur was in reflexiver Weise vermittelbar sei, könne überhaupt gedacht und gesagt werden. Demgegenüber ›gibt es‹ aber durchaus Alternativen. Husserls passive Synthesis als ein ›Erkennen‹ ohne Ichaktivität oder -beteiligung ist das eine Modell. Eine Art Ausschaltung oder ›Epoché‹ der Subjektaktivität könnte man das nen-

15 Dass das historisch so nicht zutrifft, dass auch bereits in der Scholastik (bei Thomas v. Aquin etwa) die Passivität als Rezeptivität vermittelt wurde, sei nur notiert.

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nen, in den Grenzfällen von Konnotation, Affektion, Assoziation etc. Das ist bereits ein Hinweis auf die negativistische Tradition, mit dem Problem der Passivität umzugehen. In theologischer Tradition wurde das Modell der Kreuzung in der Mystik wie bei Luther problemgeschichtlich weitergeführt: Es gibt immanent immer Korrelationen von Aktivität und Passivität, aber das Gottesverhältnis sei rein passiv (schöpfungstheologisch, soteriologisch). Das kann negativistisch verfasst sein (und klingt dann für viele ›pessimistisch‹); es kann auch emphatisch verfasst werden (schöpfungs- und neuschöpfungstheologisch). Diese Tradition scheint auch bei Levinas noch wirksam zu sein, auch wenn das eine quaestio disputanda ist. Dabei geht es um die Frage, wie die eingangs angeführte ›passivere Passivität‹ heißen soll. Ist das eine Kreuzung, eine Passivität, die quer steht zur Korrelation von aktiv-passiv? Oder ist das doch eine Steigerung, Übertreibung, Hyperbolé oder Entschränkung der (anfänglich noch korrelativen) Passivität? Der Wortlaut legt die Anknüpfung und Entschränkung nahe. Die Sprache wäre dann die der Eminenz oder Exzellenz, der Überschreitung. Dafür spricht auch der Sprachduktus von Levinas. Im Unterschied zu Husserls Passivität der Nichtbeteiligung des aktintentionalen Ich ist Levinas’ passivere Passivität »nicht Untätigkeit oder Antriebslosigkeit, sondern die Tatsache [?], daß angesichts des anderen Menschen das Bewußtsein seine erste Stelle verliert, seine Funktion als Initiator aller geistigen Bewegungen«16.

›Anstelle‹ des Selbstbewusstseins tritt ein vorreflexives Gewahrwerden, nicht meiner selbst, sondern des Anderen, und zwar in einer unabweisbaren »Dringlichkeit, durch die der Imperativ, ›nach dem Ende aller Dinge‹ noch kategorisch und die Unterwerfung unwiderruflich ist, das heißt, daß diese Passivität sich nicht in Akti-

16 Wenzler, Ludwig: Einleitung. Menschsein vom Anderen her, in: Emmanuel Levinas: Humanismus des anderen Menschen, Hamburg: Meiner 1989, S. VII-XXVII, XI. Das oben notierte Fragezeichen bezieht sich auf den Ausdruck ›Tatsache‹: wäre damit ein factum brutum gemeint, wäre das sonderbar. Es könnte sein, dass hier ein ethisch anspruchsvoller Sinn der Tatsache gemeint ist. Allerdings zeigte sich dann auch, dass Levinas dominant im Register des Ethos denkt und spricht, auch wenn das in ›Jenseits des Seins‹ durch die ›passivere Passivität‹ umgeformt wird.

38 | P HILIPP STOELLGER vität ummünzen läßt, wie das die Verstandesrezeptivität auszeichnet, die sich immer in spontanes Aufnehmen umkehrt«17.

Wenn es der Anspruch des Anderen ist, der ›mich bewegt‹ und erst als Subjekt ›erweckt‹, ist erstens diese ›Urstiftungsrelation‹ all meiner Ichaktivität vorgängig, und zweitens bin ich darin in einer Weise passiv, die jeder korrelativen Passivität vorausgeht. Denn die korrelative Passivität wäre synchron, die Passivität gegenüber diesem vorgängigen Anspruch steht quer dazu und ist diachron, ein Verhältnis zur Vorvergangenheit des Worauf meiner Antwort. Der Ursprung der Ethik und mit ihr auch der Bildung des ›ethischen Bewusstseins‹ ist in dieser Perspektive kein ›Wissen von …‹, sondern Antwort in Form der affiziertbegehrenden Wahrnehmung des Anderen und darin meiner selbst als in die Verantwortung gestellt, schon bevor ich darauf antworte. Diesen ›Ursprung‹ (ex post und metaphorisch) als ›Anspruch‹ zu verstehen heißt, ihn a limine ›auf mich‹ zu beziehen, nicht aber, ihn als krudes ›an sich‹ vorauszusetzen. So bleibt dieses Angesprochen-, In-Anspruch-Genommen- bzw. Beanspruchtwerden meiner Antwort gegenüber uneinholbar vorgängig. Erst aus meinem Getroffensein geht die Artikulation meiner Beteiligung hervor, die sich in der Antwort zeigt. Darin manifestiert sich die Kreativität solch einer passiveren Passivität: »Es ist die Passivität und Ohnmacht des Subjekts, die es fähig macht, die Passivität und Ohnmacht des anderen Menschen wahrzunehmen, von ihr angesprochen zu werden«18. Hier bestätigt sich der ›andere Anfang‹ eines ›anderen Ethos‹, mit Waldenfels gesagt: »Spuren eines Ethos, das dem Pathos eingezeichnet ist«19 – und vice versa kann man theologisch formulieren: Spuren eines Pathos, das dem Ethos eingezeichnet ist. Eine prägnante Gestalt dieses Pathos ist die Passion, in theologischer Perspektive die Passion Christi, in Levinas’ Perspektive die jedes Anderen. Das

17 Levinas, Emmanuel: Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, in: ders.: Zwischen uns, S. 167-193, 189. Vgl. ebd., S. 180: »Das Nicht-Intentionale ist von allem Anfang an Passivität, der Akkusativ ist gewissermaßen sein erster Fall. (Genaugenommen beschreibt diese Passivität, die das Korrelat keiner Handlung ist, nicht so sehr das ›schlechte Gewissen‹ des Nicht-Intentionalen, als sie selber von ihm charakterisiert wird.)«. 18 L. Wenzler: Einleitung. Menschsein vom Anderen her, S. XII. Hier von ›fähig‹ und ›machen‹ zu sprechen, ist allerdings recht misslich. 19 Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 98.

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kann auch die Natur sein, die wir sind (wie in Merleau-Pontys ›Fleisch‹ des inkarnierten Ich), also unsere eigene Alterität im Selbstverhältnis: »Wenn das konstituierende Ich an eine Sphäre stößt, wo es fleischlich eingebunden ist in das, was es selbst konstituiert hat, dann ist es dort in der Welt wie in seiner Haut, entsprechend der Intimität der Inkarnation«20.

Die hermeneutische Rätselfrage ist dabei, ob Levinas christologische Figuren übernimmt – und anthropologisch wendet. Nicht einer ist der ›leidende Gerechte‹, nicht Christus exklusiv ein für allemal, sondern jeder Mensch ist in dieser Weise gefordert. Nicht einer steht vor dem Gesetz, sondern jeder. Jenseits einer Kontroverstheologie ist diese gefährliche Nähe oder ›freundliche Übernahme‹ christologischer Inventionen eine abgründige hermeneutische Komplikation. Theologisch meldet sich Skepsis, ob – falls dem so wäre – nicht eine unendliche Überforderung des Menschen die Folge wäre. Im Zeichen des ›Humanismus des anderen Menschen‹ indes wäre genau das die Pointe. Phänomenologisch meldet sich Skepsis, ob damit nicht das Undenkbare schlechthin zur Urstiftung von Ethik und Metaethik würde. Im Zeichen eines Denkens des ›Jenseits‹ indes wäre genau das intendiert. Ein hermeneutischer Vorschlag der ›Nichtverbindung von Verbindung und Nichtverbindung‹ muss die Differenz wahren: bei Levinas wird nicht Christologie übernommen oder gegenbesetzt, sondern es gibt eine irritierende Nähe bei immer noch größerer Differenz (oder umgekehrt?). In einem Punkt aber scheint mir die Nähe zur engsten Verwandtschaft zu werden: Es geht darum, die Immanenz der Transzendenz zu zeigen und zu sagen (und denkbar zu machen).

5. P ATHOS ALS F IGUR L OGOS UND E THOS

DES

D RITTEN

ZU

Dieser kategoriale Dreischritt von Pathos, Ethos und Logos ist in der rhetorischen Tradition seit Aristoteles nur zu vertraut. Theologisch so zu differenzieren ist hilfreich, seit die Passion Christi zum Anfang der Theologie geworden ist. Das entsprechende Pathosdenken fand seine besondere Prägnanz in der deutschen Mystik und bei Luther. Auch bei Descartes etwa (im Traktat über die ›Passionen der Seele‹) war es noch prominent präsent. Von der Aufklärung und dem Idealismus hingegen wurde es zurückgewiesen (als nonsense oder absurd),

20 E. Levinas: Vom Einen zum Anderen, S. 176.

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bis es dann wiederkehrte in Husserls Analysen zur passiven Synthesis und von neuem besondere Prägnanz fand v.a. bei Levinas, Ricœur21 und Bernhard Waldenfels. Sie begegnen in der theologischen Tradition der ›reinen Passivität‹ des Geschöpfs; der negativierten Passivität des Sünders (bis zur Akedie); dem mere passive der Rechtfertigung und der vita passiva christlichen Lebens (in Differenz zur vita activa vs. contemplativa) – bis zum ›leidenden Gott‹ in der Theologie des 20. Jahrhunderts (H. Jonas, H. Blumenberg, J. Moltmann, E. Jüngel). Überhaupt derart zentral von Passivität zu sprechen, ist neuzeitlich ungewöhnlich. Fragte Hans Blumenberg in seiner Passionsmeditation doch kritisch, warum Nietzsche die Passion nicht verstehen konnte:22 In gewisser Weise verfing Nietzsche sich noch in den ›Eskalationen‹ Gottes und des Gottdenkens, die mit Anselms Argument angezeigt wurde: quo maius cogitari nequit. Diese Steigerungslogik zehrte von einer Dialektik, wie sie im Idealismus auf die Spitze getrieben wurde. Und dieselbe ist noch wirksam in der gegenläufigen Negativistik von Nietzsches Gottesüberwindungspathos. Dieser Verzicht auf eine dialektische Steigerungslogik fällt schwer, wenn man sich an Hegel misst, was selbst Derrida zum Problem wurde. Das einmal dahingestellt, geht es doch um die Frage des Unaufhebbaren, einer widerständigen Kontingenz, oder aufhebungsresistenten Negativität, wie sie die Urszene des Kreuzestodes vor Augen führt. Sowenig das malum ›aufzuheben‹ ist und die Dialektik hier versagen muss, sowenig lässt sich dem (nicht auf das malum reduziblen) Pathos mit einem dialektischen Logos zureichend begegnen. Eine steigerungslogische Dialektik, freier formuliert: Ein Logos, der gegenüber dem Pathos das erste und letzte Wort behält, prätendiert Macht: den Willen zur Macht, zur Deutungsmacht über das Pathos. Nur, eine Kreuzestheologie kann nicht zureichend als Logoschristologie verfasst sein – wenn sie vor allem Pathoschristologie zu sein hat: Passionstheologie.

21 Mit seinem ›Dreifuß der Passivität‹: vgl. Stoellger, Philipp: Selbstwerdung. Ricœurs Beitrag zur passiven Genesis des Selbst, in: Dalferth, Ingolf U./ders. (Hg.): Krisen der Subjektivität – Problemfelder eines strittigen Paradigmas, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 273-316. 22 Vgl. Blumenberg, Hans: Matthäuspassion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 306.

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6. K OMPETITION

UND

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K OMPARATISTIK

Nur zu schnell gerät man im Sprechen und Denken von Passivität in eine Kompetition und Komparatistik von Logos und Pathos. Und das ist prekär, zumal auch hier ›im Text‹ das Pathos im Medium des Logos thematisch ist. Die hermeneutische Frage ist daher, wie vom Pathos (seinen Phänomenen und Problemen) die Rede sein kann, ohne in eine solche Dialektik zu geraten, in der der Logos als Universalmedium und Vermittlungsinstanz herrscht. Die gelegentliche Kryptik und Opazität von Levinas’ Art zu sagen, zu sprechen, zu stottern und emphatisch zu stammeln, scheint darin ihren Sprachsinn zu haben: im Ringen um ein Sprechen, das nicht dem stets schon Gesagten (der dialektischen Tradition) das erste und letzte Wort überlässt. Um dieses Problem selbst dialektisch zu begreifen, ist der Hinweis auf die rhetorische und phänomenologische Tradition des Chiasmus hilfreich. Bildet er doch ein Verhältnismodell, das nicht triadisch und nicht steigerungslogisch verfasst ist (mit Valéry, Merleau-Ponty, Waldenfels). Wird der Chiasmus zudem diachron und asymmetrisch konzipiert, erlaubt er eine Verhältnisbestimmung von ego und alter wie von Erfahrung und Widerfahrung, ohne damit bereits eine Teleologie oder einseitige Dominanz mitzusetzen. Er ist diskreter, zurückhaltender und damit phänomensensibler als eine solche Dialektik, die mehr prätendiert. Es geht darin auch um die Diskretion und Zurückhaltung von Deutungsmachtansprüchen. Ein davon zu unterscheidendes Problem ist, ob Pathos bzw. Pathosereignisse stets ›in Ordnung‹ gehen oder gebracht werden. Eine anthropologische, soziologische, phänomenologische oder theologische Ordnung kann und wird in der Regel versuchen, alles Widerfahrende in Ordnung zu bringen: in die Ordnung des Seins, Denkens, Lebens etc. Waldenfels wagt man kaum zu widersprechen, wenn er ›Ordnung‹ als phänomenologische Möglichkeitsbedingung von Außerordentlichem begreift: ›Es gibt Ordnung‹, schon immer. Denn ›gibt es‹ immer schon Kultur, symbolische Form, Tradition, Vorgaben etc. Die Frage ist nur, ob Außerordentliches immer schon in einer Ordnung auftritt einerseits; und wenn dem nicht so wäre, ob es stets ›in Ordnung gebracht‹ wird oder werden muss. Das Problem lässt sich theologisch verdeutlichen: Passion und Kreuz Jesu waren offenbar schlechthin außerordentlich gegenüber der Ordnung des römisch-jüdischen Religionsrechts, wider die Ordnung der dominanten Theologien der Zeit und auch wider die Ordnung des Politischen der Zeit. Christlich hingegen galt sein Leben wie Sterben weder als ›in Ordnung‹ noch als nur ›wider die Ordnung‹, sondern als Anfang einer neuen Ordnung (Neues Testament und Christentum).

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Damit ergibt sich ein gravierendes Problem: Selbst wenn dieses außerordentliche Ereignis nicht ›auf die Reihe‹ einer schon bestehenden Ordnung gebracht werden konnte – wurde es gleichsam ›zur Strecke gebracht‹, indem es zum Anfang einer neuen Ordnung wurde – und damit in einer höheren Ordnung aufgeht: der Heilsökonomie. Eine alte Ordnung galt als non capax Christi. Die neue Ordnung Christi wurde dann aber so konzipiert, auf dass man ihn fassen und einordnen konnte. Nur wird damit das Außerordentliche ›in Ordnung gebracht‹, gleichsam normalisiert und um seine Widerständigkeit gebracht. Im Extremfall kann dann gelten, dass die Institution qua Institution suisuffizient ist und des Außerordentlichen (namens Geist Christi) nicht bedarf, um heilsökonomisch korrekt zu funktionieren (wie es Augustin in seiner späten Amts- und Sakramentslehre vertrat). Dagegen insistieren die Reform- und Revolutionsbewegungen des Christentums auf dem Ungenügen, der Suiinsuffizienz der Institution – im Namen eines Außerordentlichen, das nicht in der Ordnung aufgeht, auch wenn es von ihr symbolisiert wird. Dieser Einspruch wird dann allerdings regelmäßig ›unglücklich‹, wenn durch eine andere Ordnung das Andere der Ordnung repräsentiert werden soll. Eine weitere Ordnung kann die Spannung von Ordnung und Außerordentlichem nicht ›aufheben‹ und integrieren. Das Pathos als Figur des Dritten zu Ethos und Logos ist zunächst ein Widerlager gegen logische wie dialektische Aufhebungsprätentionen und Ordnungsversuche. Aber dergleichen kehrt wieder am Ort des Logos des Pathos. Krankengespräche können so verlaufen, dass man den Eindruck gewinnt, es ginge darum, wer ›mehr‹ gelitten habe, ›kränker‹ sei oder die aufwendigere Behandlung benötige. Vielleicht gibt es dergleichen auch als Arztgespräche, wer die spektakuläreren Fälle habe, in einer Art Wettkampf der Heilungskompetenz. Von religiösen Wundertätern wird dergleichen ja erzählt, und die Geschichten aller Heiligen (wie in der Legenda Aurea) machen gelegentlich den Eindruck einer religiösen Olympiade über die Zeiten hinweg. ›Opfergespräche‹ könnte man das nennen, im Zeichen der Frage: Wer ist das größere Opfer? Zu diesem religiösen Wettkampfsport hat das Christentum nicht wenig beigetragen. Quo maius pati nequit – war für die ersten Christen klar: Niemand hat je mehr gelitten oder könnte mehr leiden als Christus selbst. Das Kreuz sei das Pathosereignis, über das hinaus nichts Größeres erlitten werden könne. Aber kaum ist das formuliert, das Kreuz Christi sei ›mors turpissima crucis‹,23 ist schon das

23 Vgl. Hengel, Martin: Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die »Torheit« des »Wortes vom Kreuz«, in: Friedrich, Johannes/ Pöhlmann, Wolf-

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proton pseudos präsent: der sprachliche Sündenfall. Denn das provozierte umgehend 1. Imitationen und 2. Kompetitionen der Imitatoren und schließlich 3. die umfassende Kritik dieser Opferlogik, sei es kulturtheoretisch (Girard) oder historisch als Moderation und Relativierung des Außerordentlichen. Wenn über Pathos und Passivität gesprochen wird, kann sich eine Variation von Kompetition und Komparation einstellen: wer der mehr Leidende oder das größere Opfer ist – nicht ohne den prekären Hintersinn, damit Aufmerksamkeit zu erzeugen und in eine Position von Bedeutung und Deutungsmacht zu kommen. Denn die Opferrolle ist bei noch so großer Ohnmacht immer noch mächtiger als gedacht: Die Leidensgeschichte Israels war auch eine Geschichte von (exklusiver) Erwählung; die Leiden des Gottesknechts waren Symptom seiner Auszeichnung; die Passionsgeschichte war die Erscheinung der Hoheit in Niedrigkeit; die Schwäche und Leiden des Paulus waren Zeichen seiner apostolischen Vollmacht; die Leidenssuche und -sucht der Mystiker (wie des jungen Seuse) galten als von Gott geschickt (zur Prüfung und Auszeichnung) – und so geht es immer weiter mit Kompetitionen und Komparativen. Die christliche Urimpression dessen ist der Gekreuzigte. Um es mit Eberhard Jüngel zu exemplifizieren: Am »Kreuz Jesu Christi wird jene Ohnmacht erfahren, die als Ohnmacht der Liebe die Allmacht der Liebe nicht destruiert, sondern allererst konstituiert«.24 Damit wird ein metaphysischer Allmachtsbegriff zerstört und die Macht des ›leidenden Gottes‹ neu zu begreifen versucht: als Macht der Liebe. So schleicht sich von neuem ein Komparativ ein: bei noch so großer Ohnmacht eine immer noch größere Macht zu postulieren, kraft derer letztlich die Macht des Todes gebrochen wird. Seit Christus oder schon seit der Leidensgeschichte Israels wie des Gottesknechts steht das Opfer unter Machtverdacht – wenn es als Gottes Bote, Gottes Sohn oder Samariter gesehen und ausgestellt wird. Darin gründet der religiöse Reflex der Compassion und der affektiven Identifikation mit dem Leidenden. Diese Ambivalenz sollte nicht übersehen werden. Nicht nur Diakonie und Spendenwesen, sondern vordem die Sozialdynamik der Gemeinden und Kirchen ken-

gang/Stuhlmacher, Peter (Hg.): Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Tübingen: Mohr Siebeck 1976, S. 125-184. 24 Jüngel, Eberhard: Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ›Gottesbegriff nach Auschwitz‹, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München: Mohr Siebeck 1990, S. 151-162, 160.

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nen daher einen beinahe instinktiven Reflexbogen: sich für den einzusetzen, der als Opfer erscheint, und sich kraft dessen zu vergemeinschaften. Opfer vergemeinschaften seit jeher, nur christlich nicht mehr gegen das Opfer (wie Girard meinte), sondern für und mit dem Opfer. Das Leiden des Anderen wird zum Grund der ›kommenden Gemeinschaft‹, des Mit-Seins mit ihm und miteinander. Dass dabei erhebliche Exklusionen und Blindheiten drohen, kann leicht vergessen werden. In politischen Kontexten wird die Rolle des Opfers und des Leidenden ebenso funktionalisiert wie in Verbreitungsmedien. Das gilt nicht nur für die Rhetorik der Vergebung (wie sie Derrida problematisierte), sondern auch für die von Leid und Opfer. Dass die Inszenierung des Leids, der Opfer, die Ausstellung von potentiellem Leid wie der Verletzlichkeit auch zur medialen und ästhetischen Strategie geworden ist, braucht kaum erwähnt zu werden. Leiden (im Wartezimmer) wie Verletzlichkeit (etwa Nacktheit auf der Theaterbühne) dient auch der Aufmerksamkeitsgenerierung. Der ›Ecce homo‹ wie der leidende Gottesknecht sind ›cultural patterns‹ geworden. Damit ist noch nichts über Sinn und Geschmack solcher Expositionen gesagt. Aber es weckt Zweifel an einer fraglosen Rezeption und Attraktion solcher Strategien. Wenn ein ›heiliger Vater‹ sein Leiden ausstellt oder ausgestellt wird, kann solche Exposition auch gewollt wirken. Und sie wird theologisch abgründig, wenn ein ›heiliger Vater‹ als Haupt der ›sündlosen Kirche‹ selbst nur als sündlos gelten kann – so dass sein Leiden das Leiden eines Sündlosen ist. Abgründig, denn das kann nicht mehr exemplarisch, sondern muss theologisch sakramental aufgefasst werden: Wer nicht um seiner Sünden willen leidet, muss doch für andere leiden. Den Strategien der Aufmerksamkeitsgenerierung entspricht, was psychologisch ›Opferidentifikation‹ genannt wird. Es ist spätestens seit dem Samaritergleichnis ein kultureller Reflex im Christentum, sich mit dem Opfer zu identifizieren – steht er doch unter ›Christusverdacht‹: als einer der Geringsten unter seinen Brüdern, der ihm nachfolgt im Leiden. So plausibel das prima facie ist und eine gewichtige Intuition christlichen Ethos darstellt, so prekär ist der Nebeneffekt: Wer sich mit dem Opfer identifiziert, steht auf der richtigen Seite, so scheint es. Dass damit eine Selbstermächtigung und eventuell auch Exkulpation einhergeht, ist die appräsente Seite dessen. Ethisch ergibt sich hier ein weiteres Problem: Wenn das Leiden des Anderen ›im Affekt‹ zum Mitleiden und zum Eingreifen bzw. zur Hilfe führt – wem wird dann geholfen und warum? Warum hilft der Samariter dem unter die Räuber Gefallenen? Um seine Haltung zu zeigen, oder allein um Gottes willen (um Gott zu gefallen?), um eines Wertes wie der Nächstenliebe willen, oder schlicht um des Anderen willen, der da zum Opfer geworden ist? Wenn es ihm vor allem darum

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ginge, seine Haltung zu zeigen – wäre das dubios. Denn dann ginge es erst sekundär um den Anderen, primär aber um das Zeigen der eigenen Haltung. Das wäre in kantischer Tradition eine äußerliche Güte, die vor allem so scheinen, erscheinen und gesehen werden will. Sie mag noch so gut und richtig sein, wenn sie zu zeigen das primum movens der guten Tat wäre – würde diese zur Selbstdarstellung. Die Hermeneutik des Verdachts würde darin vielleicht nur eine Selbsthilfe sehen, auch wenn dabei dem Anderen etwas zugute kommt. Theologisch ist es subtiler: Wird dem Anderen nur ›um Christi willen‹ geholfen (vom Lohnkalkül einmal abgesehen)? Ist dann die Zuwendung zum Anderen (wie die entsprechende Vergemeinschaftung) nur auf das Eine aus: auf Christus- bzw. Gottesgemeinschaft? Dann würde der Andere zum Vehikel oder Medium zu diesem Zwecke – und nicht ›um seiner selbst willen‹ relevant werden. Die Komplikation zeigt sich auch im Glaubensverständnis: Der Sinn des Glaubens, der Liebe zu Gott, ist nicht Gott selbst, auch nicht der Glaube selbst, sondern der Nächste bis zum Äußersten, zum Feind. Das heißt, nicht das Gottesverhältnis selber ist Sinn und Zweck des Glaubens, sondern dessen Unwucht und Wendung zum Dritten und Nächsten. Der Sinn Gott zu lieben, ist den Nächsten zu lieben. Schärfer formuliert: Der Sinn Gott zu lieben, ist nicht ihn zu lieben, sondern wie er zu lieben (den Nächsten). Denn der Glaube trifft in Gott auf den Inbegriff von Gemeinsinn, der von Gott weg weist in die Sozialverhältnisse. Diese Wendung, gleichsam das Exzentrische, die Unwucht in der Wendung zu Gott hinaus zum Nächsten, ist entscheidend. Sonst könnte sich der Glaube in seiner Hingabe an Gott genügen – und Gott in der Hingabe des Glaubens. Es wäre ein heiler Zirkel, der darüber die Welt vergessen ließe. So könnte eine Grenzform von mönchischer oder mystischer Lebensform enden und den Sinn des Glaubens wie Gottes verfehlen.

7. H OMO CAPAX

PASSIVITATIS ?

Die Kompetitionen um Passivität finden einen Fokus in der Anthropologie (bzw. Subjektivitätstheorie). Denn wenn Widerfahrung als zu bewältigende in den Blick genommen wird, dann ist die Frage, ob und wie das Subjekt oder Selbst dazu in der Lage ist, Widerfahrung in Erfahrung zu transformieren, sei es epistemisch oder ethisch. Damit steht das Vermögen des Subjekts in Frage. Der homo capax bildet das Standardmodell – reflexiv, handlungstheoretisch, vermögenstheoretisch oder schöpfungstheologisch –, um mit den Widrigkeiten und Widerfahrungen umzugehen, die sich in der Passivität versammeln.

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Im Hintergrund dieser Formulierung steht Ricœurs anthropologischer Grundsatz des homo capax (in Das Selbst als ein Anderer, den Gifford-Lectures, und insbesondere den beiden theologischen Vorlesungen, die ›abgesondert‹ publiziert wurden).25 Ricœur notierte, »daß die phänomenologische Entsprechung zur Meta-Kategorie der Andersheit in der Varietät der Passivitätserfahrungen sind […] Der Begriff ›Andersheit‹ bleibt dann dem spekulativen Diskurs vorbehalten, während die Passivität zur Bezeugung der Andersheit selbst wird«26.

Die Ebenendifferenz von Spekulation und Phänomenologie provisorisch zugestanden, wird dann der spekulative, dialektische Diskurs beim (späten) Ricœur durch die Alterität reguliert, mit einer gravierenden These: »Der wichtigste Vorzug einer solchen Dialektik besteht darin, es dem Selbst zu verbieten, die Stelle des Grundes einzunehmen«27. Ricœur entwarf seinen ›trépied de la passivité‹ erstens als die »Erfahrung des Eigenleibes« (corps propre) bzw. des Leibes (chair), der als »Vermittlung zwischen dem Selbst und einer Welt« verstanden wird, die ihrerseits als fremd erfahren wird (étrang[èr]ité); zweitens als die Fremderfahrung des Selbst im Verhältnis zum ›Anderen als es selbst‹ (la relation de soi à l’étranger, au sens précis de l’autre que soi); und drittens als die Passivitätserfahrung im Selbstverhältnis im Gewissen.28 Dieser »Dreifuß der Passivität, mithin der Andersheit«29 (le trépied de la passivité, et donc de l’altérité) sucht die »disparaten [disparates] Erfahrungen« der Andersheit bzw. die »Verschiedenheit der Brennpunkte« (diversité de foyers) zusammen zu denken. Gegen das ›verherrlichte Cogito‹ ebenso wie gegen das ›gedemütigte Cogito‹ spricht Ricœur vom »gebrochenen Cogito«, um verständlich zu machen, dass es hier seine »ihrerseits gebrochene Bezeugung«30 finde. Und dennoch bleibt dieses ›Selbst als ein Anderer‹ bei Ricœur ein

25 Vgl. Ricœur, Paul: Le sujet convoqué. A l’école des récits de vocation prophétique, in: Revue de l’Institut Catholique de Paris, 28 (1988), S. 83-99; ders.: Phénoménologie de la Religion (1), in: Revue de l’Institut Catholique de Paris, 45 (1993), S. 59-75. 26 Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, München: Wilhelm Fink 1996, S. 383. 27 Ebd. 28 Vgl. ebd., S. 384. 29 Ebd. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 286f. 30 P. Ricœur: Das Selbst als ein Anderer, S. 383.

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homo capax, der es vermag, mit diesen drei Passivitäten mehr oder minder souverän umzugehen. Dass es in Ricœurs Religionsphilosophie dabei nicht geblieben ist, ist das Bemerkenswerte. War seine Theorie des Selbst noch von einem homo capax bestimmt, dem ›vermögenden‹ Menschen, der letztlich seine Selbstwerdung bestimmt, so zerbricht diese gut humanistische Voraussetzung in Ricœurs Arbeit am Tod (›Lebendig bis in den Tod‹)31 – auch wenn er selbst dort noch Lebendig bis in den Tod zu denken versucht. Das ›mysterium‹ der Passivität, sei es tremendum oder (zugleich) fascinosum, ist, dass sie als Widerfahrung immer die eigenen Vermögen ebenso herausfordert, wie sie sie überfordert, wenn es ›ernst‹ wird. Gegenüber Gott und Tod, Geschichte wie Zukunft, Kontingenz oder Unmöglichkeiten erweist sich der homo capax letztlich immer als überfordert. Levinas’ Hyperbolé des Anspruchs des Anderen ist ein Paradigma dessen, aber eben nicht das einzige. Geht es doch mit der Passivität im Grenzwert um das, was den Horizont des Logos überschreitet, des dialektischen Logos (bei Ricœur). Eine Figur dessen ist die Störung, der Riss – oder, auch ausgespart in seinem früheren ›Dreifuß‹, der Tod. Solch ein Riss macht sich bemerkbar, wenn einem die Worte fehlen (nicht nur sprachkritisch, wenn sie einem zerfallen wie modrige Pilze, sondern wenn Aphasie, also Sprachlosigkeit sich einstellt). Statt der Bilder und der Imagination des Todes, der Toten und des eigenen Todes verweist Ricœur auf das Ringen mit dem Tode, weil »im Laufe dieses Ringens selbst das Wesentliche auftaucht«, die »innere Gnade«, und zwar »[d]as Religiöse […] das Allgemeinreligiöse«32. »Es handelt sich vermutlich dabei um die einzige Situation, in der man von einer religiösen Erfahrung sprechen kann«, bekennt Ricœur. Denn in diesem Ringen komme es – nicht zur Aphasie, zum Zusammenbruch aller Sprache, sondern zur »Mobilisierung der tiefsten Lebensquellen im Aufscheinen des Wesentlichen«33. Der homo capax kommt an seine Grenze – über die er auch in der Reflexion der Grenze mit keiner Dialektik hinaus und hinweg kommt. Daraus wird Ricœurs Ikonoklasmus und Imaginationskritik verständlich: nicht über den Tod

31 Vgl. zu diesem Wandel im Denken des Subjekts bei Ricœur: Gutjahr, Marco: Das Imaginäre und der Tod. Ricœur und der Exorzismus der Schreckensbilder, in: Stoellger, Philipp/ders. (Hg.): An den Grenzen des Bildes. Zur visuellen Anthropologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 247-284, 263ff. 32 Ricœur, Paul: Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass, übersetzt und herausgegeben von Alexander Chucholowski, Hamburg: Meiner 2007, S. 17. 33 Ebd., S. 19. Zu den »Sackgassen der Erfahrung« bei Ricœur: vgl. M. Gutjahr: Das Imaginäre und der Tod, S. 259ff.

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hinaus – sondern in überraschender Schubumkehr hinein ins Leben: das Sterben als ultimative Intensivierung des Lebens im Ringen mit dem Tod. Kein heroisches Ergreifen des Todes (gegen Heidegger), sondern – eine Intensivierung des letzten Lebens, noch der letzten Schwäche, bis zum letzten Atemzug. Wenn das ungefähr die Urimpression fasst, um die Ricœur kreist, ist auch seine Frage entscheidbar: »ist der Tod […] tatsächlich realer als das Leben«34? Aber wenn jede Einbildung eines jenseitigen Weiter- oder Überlebens ikonoklastisch zerschlagen35 wird – was bleibt dann? Ricœurs Antwort klingt zunächst von neuem spekulativ und unerschwinglich: »die Übertragung der Liebe zum Leben auf den Anderen. Den Anderen, der mich überlebt, lieben«36. Und Ricœur verweist hier auf die ›großen rheinischen Mystiker‹, um diesen Gewinn in der »Entsagung gegenüber dem eigenen Überleben«37 zu verstehen. Abel reformuliert das so: »die Übertragung meines Verlangens zu leben auf die anderen […], insofern es sich als unverletzbar, als stärker als der Tod erweist«38. Das hieße: stark wie der Tod und darum stärker ist das Verlangen zu leben – allerdings nur das lebendige eigene Verlangen, nicht das eigene Leben. Aber – kann das auf andere ›übertragen‹ werden? Es ist nur bemerkenswert, dass Ricœur dies zu einer Überschreitung von ›Soi-même‹ führt: »Selbst der Ipseität entsagen?«39 fragt er, oder: »Dem ipse für eine Vorbereitung auf den Tod entsagen?«40. Als Möglichkeitsbedingung dessen gilt ihm das »Vertrauen in die Sorge Gottes, ›schematisiert‹ als Gedächtnis Gottes und dauerhafte […] Bewahrung des Gewesen-seins?«41 Vorbildlich dafür gilt ihm der Gehorsam Jesu im Dienst für die Anderen – und zwar vorbildlich für eine »positive Ethik der Abgeschiedenheit«42. Das ermöglicht dann ein »Mourir au bénéfice de«43, ein »Sterben zum Wohle von«44 – also Ricœurs Version der Sub-

34 P. Ricœur: Lebendig bis in den Tod, S. 35. 35 Vgl. ebd., S. 59. 36 Ebd. Vgl. weiterhin ebd., S. 61, und die Einleitung von Oliver Abel in: Vorwort, in: P. Ricœur: Lebendig bis in den Tod, S. XIX-XXXI, XXIV und XXXI. 37 P. Ricœur: Lebendig bis in den Tod, S. 59. 38 O. Abel: Vorwort, S. XXXI. 39 P. Ricœur: Lebendig bis in den Tod, S. 69. Vgl. die ausführliche Herleitung dieser »Überschreitung« in: M. Gutjahr: Das Imaginäre und der Tod, v. a. S. 282f. 40 P. Ricœur: Lebendig bis in den Tod, S. 69. 41 Ebd., S. 71. 42 Ebd., S. 73. 43 Ebd., S. 74. 44 Ebd., S. 75.

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stitution (gegen Levinas)45 als Gabe. Im Rückblick auf die oben genannte Schubumkehr des Glaubens als ›Begehren Gottes‹ in das Begehren des Nächsten kehrt hier philosophisch die Frage wieder, ob der Mensch so ›capax‹, so vermögend sein kann, angesichts des Todes ›sein Leben auf das der Anderen zu übertragen‹ – es hin- und wegzugeben à fonds perdu? Ricœurs Weg vom spekulativen Diskurs über sein Bekenntnis, ›auf Hegel zu verzichten‹, zum Chiasmus führt in einen finalen Bruch in Lebendig bis in den Tod. Hier gerät Ricœur an die Grenze dessen: was ihm vorausgeht und ›was bleibt‹ oder auch nicht bleibt. Der symmetrische Chiasmus von ego und alter wie von idem und ipse gerät aus dem Lot, kommt in eine Schieflage. Er wird – in Levinas verwandter Weise – asymmetrisch: Der Primat des Anderen zeigt sich als Silberstreif am Horizont des eigenen Lebens, nicht eigentlich als Primat, sondern als das Wofür und Worumwillen des eigenen Lebens ›bis in den Tod‹.

8. Q UO NIHIL MAIUS

PATI :

N IETZSCHE

CONTRA

L EVINAS ?

Die ›Niedrigkeit‹ zu denken und vom Widerfahrenen zu sprechen, entkommt am Ort des Selbst oder Subjekts keineswegs dem Problem einer Kompetition und Komparation. Die religiösen, sozialen wie politischen Diskurse sind voll von dieser prekären Logik. Und es fragt sich auch, ob nicht Levinas’ eingangs angeführte Wendung von der ›passiveren Passivität‹ an derselben Teil hat? »Die Subjektivität […] vollzieht sich als eine Passivität, die passiver ist als jede Passivität. Der diachronen Vergangenheit […] entspricht oder antwortet die unübernehmbare Passivität des Sich«46.

Eine Hermeneutik des Verdachts fände hier vermutlich eine sublimierte Selbststeigerung im Leiden, eine Selbstvergrößerung im Opfer – und damit eine Selbstverschließung in der Kompetition mit anderen. Nietzsche würde die Geste der passiveren Passivität geradezu heroisch erscheinen – gegenüber dem natürlichen Hang des Menschen, dem Leiden ›auszuweichen‹: »Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehr der Deutung des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er das dahinten Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sich gegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese

45 Vgl. ebd., S. 77; vgl. O. Abel: Vorwort, S. VIIff., bes. XIIff. 46 E. Levinas: Jenseits des Seins oder als anders als Sein geschieht, S. 49.

50 | P HILIPP STOELLGER rauheste Küste des Daseins warf, so will auch er sich nur betrügen: er mag nicht in das tiefe Auge hineinsehen, das ihn aus der Mitte seines Leidens fragend anblickt, als ob es sagen wollte: ist es dir nicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen?«47

Levinas notierte: »Die eigene Passivität des Aushaltens, der Geduld – die passiver ist als alle zum Freiwilligen korrelative Passivität – bedeutet in der ›passiven‹ Synthesis ihrer Zeitlichkeit«48. Nur – was soll das bedeuten und was kann ›Bedeuten‹ bedeuten in dieser passiven Synthesis? Es wird jedenfalls alles, nur nicht ›leichter gemacht, das Dasein zu begreifen‹, wenn man Levinas folgt. Und wenn einer dem Leiden nicht ausgewichen ist, dann er. Hier begegnen sich seltsamerweise Nietzsche und Levinas – Nähe aus einer immer noch größeren Ferne. Das könnte daran liegen, dass beide gegen die Eskalationen des Gottesbegriffs andachten und -schrieben: gegen den Gott des quo nihil maius cogitari nequit Anselms (der, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann). Nietzsche schrieb vom Menschen in einer Konkurrenz gegen Gott; Levinas hingegen in einer Rekurrenz und kenotischen Logik: Als könne Kleineres und Niedrigeres nicht gedacht werden. Nur deutet sich auch bei Levinas ein fast ›heroisch‹ zu nennender Gestus an: wenn einem die unausweichliche Übernahme unendlicher Verantwortung für den Nächsten zugemutet wird – als hätte auch der ›Humanismus des anderen Menschen‹ einen ›anderen‹ Übermenschen im Sinn. Das wiederum könnte daran liegen, dass Nietzsches Übermensch wie Levinas’ ›Geisel‹ Verwandte der Christologie sind: der eine in rigoroser Selbststeigerung, der andere in rigoroser Fremderhaltung? Der eine in Konkurrenz und Kompetition; der andere vielleicht nicht weniger kompetitiv, als ginge es darum die vita passiva Christi in radikaler Weise als ethische Lebensform einsichtig zu machen. Ich halte diese hermeneutischen Vermutungen für unentscheidbar. Aber sie sind dennoch nicht grundlos. Beide Eskalationen – einmal der Aktivität in Nietzsches eskalierender Selbststeigerung, einmal der Passivität in Levinas’ ›Fremdsteigerung‹ – artikulieren sich hyperbolisch, exzessiv und unendlich übertreibend. Es sind Übertreibungen der Immanenz, in denen Transzendenz zu sagen und zu denken gesucht wird (darin der mystischen Sprachlogik verwandt), sei es die Selbsttranszendenz des Subjekts, sei es die Transzendenz des anderen Menschen.

47 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, in: ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 7, herausgegeben von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzimo, München/Berlin/New York: dtv 1980, S. 822. 48 E. Levinas: Jenseits des Seins oder als anders als Sein geschieht, S. 124.

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Die Theologie protestantischer Provenienz (genauer: in Luthers Spuren) würde hier anders sprechen. Sie macht eine kategoriale Differenz zwischen der korrelativen Passivität (immanent) und der ›absoluten‹, ›reinen‹, quer zu den Korrelationen stehenden Passivität Gott gegenüber. Dann kann gesagt werden, der Mensch sei ›rein passiv‹ in Schöpfung und Versöhnung, die seine ›Kapazität‹ schlechthin überschreiten. Aber diese kategoriale Differenz muss dann am Ort der Lebensvollzüge dennoch vermittelt werden: wenn es um die Lebensform aus dieser Passivität geht (vita passiva). Das Problem ist ursprünglich verdichtet reflektiert in der Figur Jesu, in der Koinzidenz von Immanenz und Transzendenz.

9. K OMPETITIONEN : K OMPARATIVE

UND

D IMINUTIVE

Komparative sind in der Regel leistungsfähiger und langlebiger als Superlative. Die Geschichte des ontologischen Arguments Anselms zeigt das. Sein raffiniertes quo nihil maius bzw. maius quam ist immer noch größer als ein maximus. Ähnlich steht es um das Gottesprädikat der Perfektion (ens perfectissimum), dessen prozesstheologische Weiterführung als perfectibilitas immer noch weiter trägt. Nur ist man mit dieser Logik in dem, was Blumenberg eine Eskalation Gottes nannte oder »Gottesvergrößerung«: »Gott hatte sich den Menschen geschafften, daß dieser ihn ›großmache‹«49. Theologie zu treiben, sollte dann heißen, »Gott hochtreiben, ihn zu übertreiben«50, wozu er auf Anselms Argument verweist. Die Spätform (oder schon antike Vorform?) seien die »Exzesse des Philosophengotts«51 mit der »Eskalation des Gottesbegriffs« und deren Konsequenzen im ›theologischen Absolutismus‹ des Nominalismus, dem gegenüber nur humane Selbstbehauptung noch helfen konnte. Der Gottestod ist der Tod des zu Perfekten – der im Perfekt immer gewesen sein wird.52 Die Gegenbewegung war erwartbar: des Menschen Eskalationen in komparativer Selbststeigerung (bis in demütig hybride Programme wie ›Bewahrung der Schöpfung‹). Dazu gehörte die Aktivitätssteigerung und die Exklusion der Passivität als eines Menschen unwürdig oder unmöglich. Mit Schelling formuliert:

49 H. Blumenberg: Matthäuspassion, S. 100. 50 Ebd., S. 100f. 51 Vgl. ebd., S. 295ff. 52 Vgl. ebd., S. 302.

52 | P HILIPP STOELLGER »Absolute Passivität […] ist ein Begriff, der gar keiner Construktion fähig ist. Receptivität, Capacität u.s.w. an sich sind sinnlose Begriffe, und haben nur insofern Bedeutung, als man sich darunter nicht eine absolute Negation, sondern nur ein Minus von Activität denkt«53.

Oder: »Absolute Passivität aber ist ein völlig sinnloser Begriff. Passivität gegen irgend eine Ursache bedeutet nur ein Minus von Widerstand gegen diese Ursache«54. Die Aktivitätssteigerung bedeutet Passivitätsminderung bis zur Negation. Quo maius pati nequit ist demgegenüber eine Umbesetzung, eine Formvarianz von Anselms Wendung quo maius cogitari nequit: Gott sei der, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden könne. Eine ›Umbesetzung‹ ist die Passivitätsformel, weil sie nicht im Horizont des Logos formuliert, sondern des Pathos. Eine Formvarianz ist sie, weil sie die Komparativik übernimmt. Damit wird eine Sprachlogik zu umschreiben gesucht, die sich im Sprechen von Passivität findet: die Kompetition zwischen Steigerung und Minimierung, wie in Nietzsche versus Levinas gegenläufigen Komparativen. Wer hat mehr gelitten, wer größeres, wer länger, tiefer, weiter – als ginge es um Leidenssport. Verwendbar ist die Wendung vom quo maius pati zunächst als christologische Formel und damit in Differenz zur theistischen Steigerungslogik von Anselms Argument. So ruft sie zugleich die zweite Hälfte seines Arguments auf, wenn auch implizit: Gott sei maius quam cogitari possit.55 Damit sind zwei We-

53 Schelling: Friedrich Wilhelm Joseph, Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Nebst einer Abhandlung über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts, 1798/21806/31809, in: ders.: Ausgewählte Werke, Schriften von 1794-1798, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 399-637, 465 (zur Wärmekapazität von Körpern). 54 Ebd., S. 556; vgl. ebd., S. 558f. »Etwas schlechthin-Passives […] ist in der Natur ein Unding. Nimmt man aber den Begriff als synthetisch an, so drückt er nichts aus als das Gemeinschaftliche (den Complexus) aller negativen Bedingungen des Lebens […]« (ebd., S. 560). 55 Vgl. Anselm von Canterbury: Proslogion. Lateinisch-deutsche Ausgabe von Schmitt, Franziscus Salesius, Stuttgart: frommann-holzboog 1995, c. 15: »Herr, Du bist also nicht nur, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, sondern bist etwas Größeres, als gedacht werden kann. Weil nämlich etwas derartiges gedacht werden kann: wenn Du das nicht bist, kann etwas Größeres als Du gedacht werden, was nicht geschehen kann.«

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ge des Denkens und Sprechens angezeigt: die Negativik und die Eminenz oder Exzellenz der Selbstüberschreitung. Die eine endet in der Aphasie, die andere eher in der Plerophorie. Was theologisch gesehen christologisch gilt, muss auch im Blick auf das Leiden des Menschen etwas erschließen: Quo maius pati nequit und maius quam pati possit – sind die beiden Bewegungen der Passivität: die intensive Steigerung (in Eminenz) oder die Übersteigerung und Negativität – bei der einem die Worte fehlen und die Fassungskraft überschritten wird. Die eine Bewegung geht noch vom homo capax aus, dessen Kapazität steigerungsfähig ist. Es wäre ein im Grenzwert heroisches Modell (der Selbststeigerung Nietzsches verwandt; imaginär ausgelebt in den Märtyrern und Heiligen). Die andere Bewegung bricht, zerbricht an dem Unfassbaren, das den Menschen hoffnungslos überfordert. Diese anthropologische Negativik kann in der Szene des Kreuzes oder anders in der unendlichen Überforderung durch den Anspruch des Anderen oder der Tora vorstellig werden. Wäre da noch eine Verbindung dieser beiden nichtverbundenen Bewegungen? Dialektisch formuliert führt das in eine Nichtverbindung von Verbindung und Nichtverbindung. Leiden mag im Normalfall der Logik des quo maius pati folgen; wird aber im Grenzwert maius quam pati possit werden. Das zeigt die Maximalpassivität, der Tod als maius quam pati possit – und daher auch maius quam loqui oder cogitari possit. Auch wenn die christliche Theologie eine noch passivere Passivität bezeugt: Die Errettung aus dem Tod in der Neuschöpfung und Auferweckung. Ist das nur der Gipfel der Kompetition: Stark wie der Tod ist die Liebe, und damit letztlich schon immer stärker? Jedenfalls wechselt hier das Register – von der dunklen Passivität zu ihrem Antagonisten. Eingangs wurde notiert, dass Passivität nicht auf Leiden zu reduzieren ist und Leiden nicht auf schmerzliches Leiden in aller Unlust. Das wird für diese letzte Andeutung wieder relevant: Die Passivität, von der die Theologie ausgeht und auf die sie zudenkt (und zuspricht), ist nicht der Schmerz. Das bliebe negativistische, dunkle Passivitätsphänomenologie und -theologie: die dark sides of life. Unbedacht blieben damit die bright sides: von Schöpfung und Geburt über Geschichte und Treue bis zur Liebe und Versöhnung, gar der Vollendung der Kreatur. All das kann man lichte, helle, lustvolle und kreative Passivitäten nennen. Es sind jedenfalls die Passivitäten, von denen wir leben, auf die wir hoffen und die wir lieben – und die wir nicht lassen können und wollen.

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L ITERATUR Abel, Oliver: Vorwort, in: Ricœur, Paul: Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass, übersetzt und herausgegeben von Alexander Chucholowski, Hamburg: Meiner 2007, S. XIX-XXXI. Anselm von Canterbury: Proslogion. Lateinisch-deutsche Ausgabe von Schmitt, Franziscus Salesius, Stuttgart: frommann-holzboog 1995. Birnbacher: Dieter, Tun und Unterlassen, Stuttgart: Reclam 1995. Blumenberg, Hans: Matthäuspassion, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Gutjahr, Marco: Das Imaginäre und der Tod. Ricœur und der Exorzismus der Schreckensbilder, in: Philipp Stoellger/ders. (Hg.): An den Grenzen des Bildes. Zur visuellen Anthropologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 247-284. Hengel, Martin: Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die »Torheit« des »Wortes vom Kreuz«, in: Johannes Friedrich/Wolfgang Pöhlmann/Peter Stuhlmacher (Hg.): Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Tübingen: Mohr Siebeck 1976, S. 125-184. Jüngel, Eberhard: Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ›Gottesbegriff nach Auschwitz‹, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, Tübingen: Mohr Siebeck 1990, S. 151-162. Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen als Anhang. Intention, Ereignis und der Andere, Hamburg: Meiner 1989, S. 85-104. Levinas, Emmanuel: Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, in: ders.: Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Carl Hanser 1995, S. 167-193. Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München: Alber 1992. Levinas, Emmanuel: Das sinnlose Leiden, in: ders.: Zwischen Uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Carl Hanser 1995, S. 117-131. Marquardt, Odo: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam 1986. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1869-1874, in: ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 7, herausgegeben von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzimo München/Berlin/New York: dtv 1980. Ricœur, Paul: Le sujet convoqué. A l’école des récits de vocation prophétique, in: Revue de l’Institut Catholique de Paris, 28 (1988), S. 83-99.

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Aktivität und Passivität der visuellen Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles S TEFFI H OBU ß

L ASSEN

UND T UN IN DER T HEORIE DER VISUELLEN W AHRNEHMUNG Die Frage nach Lassen und Tun, nach Aktivität und Passivität spielt in der Theorie der visuellen Wahrnehmung eine wichtige Rolle.1 Hier geht es unter anderem um die Frage, welcher Charakter dem Lassen im Verhältnis zum Tun zugesprochen werden soll: Wird unter dem Lassen eher ein Zulassen oder ein Nichttun verstanden, oder gerade ein unverfügbares, notwendiges Moment und eine Bedingung der Möglichkeit des Tuns, oder – dies ist besonders in der Wahrnehmungstheorie wichtig – wird das Lassen womöglich in einer Stufenfolge als ein erster Schritt, eine Vorstufe eines darauf aufbauenden aktiven Wahrnehmungsgeschehens verstanden?2

1

In diesem Beitrag kann nur eine kleine Auswahl der Texte und Kontexte aus Platons und Aristoteles‘ Werken und der zugehörigen Forschungsliteratur behandelt werden. Für eine ausführliche Behandlung der Texte, der Kontexte der interpretierten Passagen und der Forschungsliteratur vgl. Steffi Hobuß: Visuelle Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles (in Vorbereitung). Für Kritik und Anregungen danke ich Jan Opsomer und Nicola Tams.

2

Im Rahmen dieser wahrnehmungstheoretischen Überlegungen berührt der Gegensatz von Lassen und Tun also nicht so sehr die Unterscheidung zwischen Handeln und Nichthandeln oder Unterlassen, wie es in den meisten anderen Beiträgen in diesem Band der Fall ist.

58 | STEFFI H OBUß

In Peter Høegs Erzählung Spiegelbild eines jungen Mannes im Gleichgewicht entdeckt der Ich-Erzähler, ein Ingenieur und Spiegelbauer, dass ein von ihm gebauter und von einer berühmten Glasschleiferin polierter Hohlspiegel lebendig zu sein scheint. Der Mann reist der Frau um die halbe Welt nach, und sie zeigt ihm schließlich einen von ihr geschaffenen Spiegel, der der Tatsache Rechnung tragen soll, dass, wer in einen Spiegel blickt, das sieht, was er zu sehen wünscht oder fürchtet. Daher müsse ein Spiegel, der die Wirklichkeit zeige, selbst lebendig sein, »ein Organismus, der die Stimmung des Betrachters spürt und ein um diese Stimmung korrigiertes Bild zeigt.«3 Der Ich-Erzähler fasst sein Erlebnis mit diesem Spiegel schließlich in die folgenden Worte: »Die Geschichte der Wissenschaft in Europa hat die Diskussion zwischen den Anhängern von Aristoteles und Galen nicht entscheiden können. Die Frage, inwieweit der Sehende passiv einen optischen Abdruck der Wirklichkeit empfängt oder selbst formt, was er sieht. Angesichts der Frau vor mir verstand ich, dass der Dialog immer sinnlos gewesen war, weil die Frage falsch gestellt war. Sie setzt voraus, dass es eine stabile Wirklichkeit zu beobachten gibt. Die gibt es nicht. In dem Augenblick, in dem wir die Welt betrachten, beginnt sie sich zu verändern. Und wir mit ihr. Die Wirklichkeit ansehen heißt nicht, eine Struktur begreifen. Es heißt vielmehr, sich unterwerfen und eine unüberschaubare Ver4

wandlung einzuleiten.«

Aristoteles und seine Anhänger werden hier als Vertreter der Auffassung angegeben, dass »der Sehende passiv einen optischen Abdruck der Wirklichkeit empfängt«, während den Anhängern Galens die Theorie zugeschrieben wird, dass der Sehende »selbst formt, was er sieht«. Zwei gegensätzliche Theorien stehen sich in einer Kontroverse gegenüber, die sich darum dreht, ob das Sehen ein passives Empfangen eines Abdrucks der Außenwelt oder aber ein aktives Gestalten eines Bildes von der Außenwelt sei. Beide Theorien stimmen aber darin überein, dass der Sehende einer gesehenen Wirklichkeit gegenübersteht wie einem (gewöhnlichen) Spiegel. Høegs Erzähler kommt schließlich zu einer Kritik beider Theorien in Form einer Kritik dieser ihrer zugrunde liegenden Vorstellung eines Gegenübers von gesehener Welt und sehendem Menschen. Die für ihn wichtigere Kontroverse dreht sich dann um die Frage, ob gesehene Welt und sehender Mensch einander gegenüber stehen und der Mensch eine (zu empfangende oder

3

Høeg, Peter: Spiegelbild eines jungen Mannes im Gleichgewicht. In: Ders.: Von der Liebe und ihren Bedingungen in der Nacht des 19. März 1929, München: Hanser 1996, S. 223.

4

Ebd., S. 226.

A KTIVITÄT

UND

P ASSIVITÄT

DER V ISUELLEN

W AHRNEHMUNG

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aber gestaltete) Struktur begreift, oder ob nicht vielmehr das Sehen darin besteht, sich innerhalb der Welt Veränderungen zu unterwerfen und Teil von Veränderungen zu werden.5 Solche Gegenüberstellungen von Sende- und Empfangstheorien des Sehens beruhen auf dem Bild des Sehens als Spiegel, dessen Kritik bei Høeg formuliert wird, wenn der Erzähler die Einsicht äußert, die »Wirklichkeit ansehen heißt nicht, eine Struktur begreifen«. Hier ist die Kritik am Bild des Sehens als Spiegelung verknüpft mit der allgemeineren Kritik am Erkennen als dem Begreifen einer dem erkennenden Subjekt gegenüberstehenden Struktur. Die Vorstellung vom Erkennen als einem »Spiegel der Natur«, d.h. der den Erkennenden gegenüberstehenden Welt, hat Richard Rorty als klassische Vorstellung der meisten Philosoph_innen bezeichnet;6 John Dewey hat sie die »Zuschauertheorie«7 des Erkennens genannt. Solche Erkenntnistheorien korrelieren also mit bestimmten Vorstellungen vom Wahrnehmungsgeschehen. Diese folgen nach Lambert Wiesing dem »Paradigma des Zugangs«.8 Høegs Ich-Erzähler merkt, was der Spiegel tut; anstatt aber als Konsequenz die Spiegelmetapher überhaupt aufzugeben, will er sich absolut ruhig, also stimmungslos verhalten – in der Erwartung, dass der Spiegel dann »die Wahrheit« über ihn zeigen werde. Seine Stimmungen, Wünsche und Phobien denkt er immer noch als Verfälschungen einer zu spiegelnden Realität und muss daher feststellen, dass seine Erwartung nicht aufgeht: »Ich selbst aber war fort, der Raum war nicht mehr naturalistisch, statt dessen schraubte er sich spiralförmig

5

Høegs Erzähler erlangt diese Einschätzung, dass die Kontroverse um passives Empfangen oder aktives Gestalten sinnlos sei, erst durch den Dialog mit einem anderen Menschen; es ist keine Einsicht, die er in einsamem Nachdenken entwickelt haben könnte. Zum Ungenügen der Selbstreflexion eines autonomen Subjekts und zur Notwendigkeit des Dialogs und des passiven Angeblicktwerdens durch ein Gegenüber vgl. Hobuß, Steffi: Fremderfahrungen und Fremddarstellungen: von hier nach dort und zurück. in Därmann, Iris/Hobuß, Steffi/Lölke, Ulrich (Hg.): Konversionen. Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive, Amsterdam: Rodopi 2004, S. 7-32.

6

Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 13.

7

Dewey, John: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln [1929], Frankfurt/M.: Suhrkamp 32001, S. 27.

8

Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 61-70.

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in die Unendlichkeit.«9 Der Spiegel lässt sich durch das erkennende Subjekt, das sich so gern als unabhängiges Gegenüber der Welt begreifen würde, nicht überlisten und führt es mit dieser Erwartung an den Rand des Wahnsinns. Die Kritik am Paradigma des Zugangs soll hier aber nicht weiter verfolgt werden, sondern es geht um den Gegensatz von Aktivität und Passivität. Hat Aristoteles tatsächlich eine ›passive Empfangs‹-Theorie des Sehens vertreten? Und ist es zutreffend, von einem scharfen Gegensatz zu einer Theorie des Sehens als aktiver Formung des Gesehenen auszugehen? Wie bei Høeg gibt es ein mittlerweile zwar diskutiertes,10 aber immer noch starkes und wirkmächtiges Bild, Aristoteles habe die Theorie eines passiven Sehens oder der visuellen Wahrnehmung als im ersten Schritt bloßes Empfangen von Empfindungen vertreten11 – wenn auch schon bei flüchtigem Hinsehen die Texte zeigen, dass das nicht stimmt. Die Auffassung, die_der Sehende empfange nach Aristoteles in passiver Weise einen optischen Abdruck der Wirklichkeit, verdankt sich der gängigen Kontrastierung mit antiken Sehstrahltheorien, wie sie in Platons Dialog Timaios beschrieben werden, denn so etwas wie Sehstrahlen gibt es bei Aristoteles tatsächlich nicht. Auch in Abhandlungen zur Geschichte der Theorie des Sehens wird Aristoteles’ Theorie als ›Empfangstheorie‹ des Sehens etikettiert, während etwa Plato und Galen als ›Sendetheoretiker‹ bezeichnet werden. Zutreffend ist freilich, dass Platon im Timaios die namensgebende Figur von Sehstrahlen sprechen lässt, und dass Galen eine Theorie formuliert, nach der die_der Betrachter_in eine Wahrnehmungskraft aussendet, die von ihr_ihm zum gesehenen Körper führt, und sich gegen die Vorstellung wendet, die gesehenen Körper sendeten etwas zur

9

P. Høeg: Spiegelbild, S. 224.

10 Vgl. dazu vor allem Welsch, Wolfgang: Aisthesis, Grundzüge und Perspektiven der aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart: Klett-Cotta 1999; Johansen, Thomas K.: Imprinted on the Mind: Passive and Active in Aristotle’s Theory of Perception«. In: Saunders, Barbara/van Brakel, Jaap (Ed.): Theories, Technologies, Instrumentalities of Color. Anthropological and Historiographic Perspectives.- Lanham, New York, Oxford (University Press of America) 2002, S. 169-188; Herzberg, Stephan: Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles. Zur epistemologischen Funktion der Wahrnehmung, Berlin/New York: de Gruyter 2010. 11 Vgl. exemplarisch Münch, D.: Artikel »Wahrnehmung, philosophische Aspekte«, in: Strube, Gerhard (Hg.): Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, Stuttgart: Klett-Cotta 1996, S. 792.Vgl. auch Lindberg, David C.: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 89 und 114.

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Betrachter_in hin.12 Im Unterschied zu solchen Modellen gibt es bei Aristoteles keine Annahme von Sehstrahlen. Aber ist seine Theorie der visuellen Wahrnehmung eine des passiven Empfangens, nimmt sie womöglich ein Stufenmodell an, das auf einem reinen Empfangen von Eindrücken oder Sinnesdaten als einer ersten Stufe basiert? Und lässt sich Platon im Gegensatz dazu eine Theorie des aktiven Sehens zuschreiben? Aristoteles soll dabei nicht gegen die Empfangstheorieunterstellung, Platon nicht gegen die Sendetheoriezuschreibung und beide für eine ›fortschrittlichere‹ moderne Interpretation ›gerettet‹ werden. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass sich bei beiden die Frage nach Sinnesdaten und dem ›eigentlich Gesehenen‹ im modernen Sinne gar nicht stellt. Insofern handelt es sich hier um unterschiedliche Ordnungen des Wissens. Deshalb ist es mir vor allem darum zu tun, worauf sich die Zuschreibungen von Lassen und Tun in den Theorien tatsächlich beziehen, wie sich Lassen und Tun zueinander verhalten, und dass das Bild vom ›großen Gegensatz‹ zwischen beiden Philosophen ihren Theorien nicht gerecht wird.

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BEI

P LATON

Im Folgenden greife ich vier Passagen aus den Dialogen Theaitetos und Timaios auf, um die Frage nach Lassen und Tun der Wahrnehmung bei Platon zu beantworten. 1. Die Diskussion um den Sensualismus: In Platons Dialog Theaitetos geht es primär um die Definition und Grundlage der Erkenntnis/des Wissens (epistême). In diesem Rahmen wird die Rolle der Wahrnehmung thematisiert, denn es steht als die erste von drei vorgebrachten Definitionen des Wissens seine Gleichsetzung mit der Wahrnehmung zur Debatte. Im engeren Sinne geht es dabei um die Rolle und die Widerlegung einer sensualistischen Theorie der Wahrnehmung. Unter »sensualistisch« wird hier eine solche Theorie verstanden, die zum einen jedes Wissen aus der Wahrnehmung ableitet und zum anderen die Wahrnehmung gleichsetzt mit dem jeweils aktuellen individuellen sinnlichen Empfinden. Am Ende des ersten Dialogteils wird eine Differenzierung innerhalb des Begriffs der Wahrnehmung eingeführt, deren eine Seite Sokrates als Dialogfigur explizit vertritt und die sich durchaus auch Platon zuschreiben lässt. Es gibt insofern nicht die platonische Wahrnehmungstheorie, sondern es wird bei Platon eine Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Verständnissen von »Wahrnehmung« vorgenommen. Der Fehler des Sensualismus besteht in der

12 Vgl. D.C. Lindberg, Auge und Licht, S. 33-35.

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Gleichsetzung der Wahrnehmung in einem ganz bestimmten, eingeschränkten Sinne mit dem Wissen. In der ersten Sequenz des Dialogs, die die Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung erörtert (vgl. 151d3-200d), wird immer wieder auf drei Sätze zurückgegriffen, die sich thesenartig folgendermaßen formulieren lassen: • (T) Wissen ist Wahrnehmung (vertreten von der Dialogfigur des Theaitetos). • (P) Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind (Protagoras zugeschrieben). • (H) Alles fließt/ alles befindet sich in ständigem Wandel (Heraklit zugeschrieben). Sokrates nimmt im Dialog eine intrikate Kombination dieser Sätze vor, die dazu führt, dass ein spezifisches Verständnis von (T) erörtert wird. Er verbindet nämlich die drei Sätze so miteinander und suggeriert ihre Äquivalenz, dass andere, nichtsensualistische Lesarten von (T) gar nicht mehr in den Blick gelangen. Der Ausgangspunkt besteht in (T), Theaitetos‘ Identifikation von epistême mit aisthêsis, Wahrnehmung. Er sagt nämlich: »Mir also scheint, wer etwas erkennt, dasjenige wahrzunehmen, was er erkennt; und wie es mir jetzt erscheint, ist Erkenntnis nichts anders als Wahrnehmung.« (151 e 1-3) Und wenn im weiteren Verlauf des Dialogs ausführlich geprüft wird, ob diese These (T) zutrifft, hängt das Ergebnis durchweg davon ab, welcher Wahrnehmungsbegriff jeweils – meistens implizit – ins Spiel gebracht werden wird. Die Verbindung von (T), (P) und (H) führt für die von Sokrates konstruierte Position zu der Annahme, dass die Dinge immer jeweils das wären, als was sie einem einzelnen Menschen an einem bestimmten Punkt seiner körperlichen und seelischen Existenz in der Wahrnehmung erscheinen. Diese Verknüpfung der drei Sätze durch Sokrates macht deutlich, dass er hier Wahrnehmung allein mit sinnlicher Wahrnehmung gleichsetzt,13 und sinnliche Wahrnehmung wiederum mit jeweils aktueller Sinnesempfindung eines einzelnen Menschen. Und sie erst ist es, die zusammengenommen die Wahrnehmungstheorie des Sensualismus ergibt, die dann im Dialog zurückgewiesen wird. 2. Die »Zwillingstheorie der Wahrnehmung«: Im folgenden Text macht Sokrates die Flusstheorie (H) zum Ausgangspunkt einer »ausführlichen Darlegung der Theorie der Wahrnehmung« (156a3): der »Zwillingstheorie«. Sie ist hier besonders interessant, denn es geht um Leidendes und Wirkendes in der Wahrnehmung. Sokrates nimmt den Satz (H) wieder auf, dass alles Bewegung (kinêsis) sei. Zunächst werden zwei Arten der Bewegung unterschieden, »Wir-

13 Vgl. Hauskeller, Michael: »Erkenntnis und Wahrnehmung in Platons Dialog Theaitetos, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23.2 (1998), S.167-179, hier: S. 168.

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ken« (poiein) und »Leiden« (paschein, vgl. 156a7).14 Aus der Begegnung und Reibung dieser beiden Arten entsteht dieser Theorie zufolge alles, was ist, aber stets in Form zwillingsförmiger Erzeugnisse. Im besonderen Fall der Wahrnehmung entstehe aus der Begegnung von Wirken und Leiden das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung. So trete die Wahrnehmung »immer zugleich hervor« (156b2) mit dem Wahrnehmbaren, dem aisthêton. Der gesamte Vorgang der Wahrnehmung ist also unter der Prämisse des Satzes (H) als Vorkommnis von Bewegung gedacht, wobei kinêsis hier natürlich nicht so sehr Bewegung im Sinne von Ortsveränderung, sondern eher im Sinne von Geschehen, Werden, Prozess bedeutet. Wie wäre unter diesen Voraussetzungen das Wahrnehmungsgeschehen aufzufassen? Es erscheint als ein Ereignis des jeweils aktuellen Zusammenspiels zweier Pole, wodurch die beiden Punkte als jeweilige Gegenstände benennbar werden, nämlich als Holz, Stein oder was auch immer, und als Auge (156e). Die Gegenstände unserer wahrnehmenden Aufmerksamkeit sind also nicht einfach ›da draußen‹, um von uns entdeckt zu werden, sondern sie werden für uns jeweils im Moment unserer Begegnung mit ihnen. Das bedeutet auch, dass keine zwei Fälle eines solchen Zusammentreffens jemals gleich sein können, und keine zwei Wahrnehmungen jemals miteinander in Konflikt geraten können. 3. Das Verhältnis von Wahrnehmungsorganen und Seele und von Eindrücken und Schlüssen im Theaitetos: In einer komplizierten Widerlegungspassage mit dramatischem Aufbau führt eine Steigerungsdynamik dazu, dass der Komplex aus (T), (P) und (H) zunächst gestärkt wird, bis in 184b4 – 186e die endgültige Widerlegung des Satzes (T), Erkenntnis sei Wahrnehmung erfolgt. Dafür agiert Sokrates stärker als zuvor als Lehrer, der selbst bestimmte Auffassungen vertritt. Dieser Wechsel korrespondiert mit einem veränderten Gebrauch von »wahrnehmen«, denn Sokrates fragt nicht mehr danach, was wir wahrnehmen, sondern wie wir wahrnehmen. Er stellt die Frage: Sind die Augen dasjenige, »womit« wir sehen, oder das, »vermittelst« dessen wir sehen (vgl.184c5-7)?15 Das bedeutet: Ist das Auge selbst die sehende Instanz, oder ist das Auge nur das Instrument, wodurch (dia) gesehen wird? Theaitetos gibt die erwartete Antwort:

14 Hardy übersetzt die beiden Arten der Bewegung mit »aktive und passive Bewegungen (oder Vermögen)«, vgl. Hardy, Jörg: Platons Theorie des Wissens im »Theaitet«, Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht 2001, S. 65. 15 Wie im Deutschen ist die Bedeutung dieser Unterscheidung auch im Griechischen nicht leicht verständlich, denn beide Formulierungen bezeichnen ein instrumentelles Verhältnis; für »womit« steht der instrumentell gebrauchte Dativ, für »vermittelst« die Präposition »dia« mit dem Genitiv.

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Das Auge ist das, wodurch wir sehen, sonst würden vielerlei Wahrnehmungen in uns wie in einem trojanischen Pferd nebeneinander herumliegen und nicht, wie es in Wirklichkeit sei, in einer einheitlichen Form/Weise (idea) zusammenlaufen, z.B. der Seele, oder wie immer wir diese Instanz nennen würden (vgl. 184d1-4). Zusammengefasst verläuft die Argumentation in den folgenden Schritten: Wenn die Augen dasjenige wären, womit wir sehen, d.h. bestünde die Wahrnehmung darin, was die Sinnesorgane tun, dann lägen die einzelnen Eindrücke unverbunden nebeneinander vor. Da wir aber Eindrücke verbinden und das den Dingen Gemeinschaftliche, die koina (in 186a9 vor allem das Gute und Böse und das Schöne und Schlechte) kennen, kann die Wahrnehmung nicht allein aus den Sinnesorganen stammen, die jeweils auf eine bestimmte Art von Eindrücken beschränkt sind. Und schließlich kommt Sokrates zu den entscheidenden Konklusionen hinsichtlich der Wahrheit und der Erkenntnis: »Es ist keine Erkenntnis (epistêmê) in den Eindrücken (pathêmata), wohl aber in den Schlüssen (syllogismoi) daraus« (186d2f.). Wenn die Wahrnehmung das ist, was in den Organen zustande kommt, kann Wissen daher nicht mit Wahrnehmung gleichzusetzen sein, und (T) ist falsch. Wahrnehmung in diesem Sinne und Erkenntnis sind also »auf keine Weise« (186e9) dasselbe. Freilich beruht dieses Ergebnis auf der sensualistischen Gleichsetzung von Wahrnehmung und Empfindung des je einzelnen Menschen beziehungsweise auf einem ganz bestimmten Verständnis der Wahrnehmung, das man ein »organischinstrumentelles Verständnis«16 nennen könnte. Das heißt, wir haben hier keine direkte Widerlegung des Sensualismus, sondern eine reductio ad absurdum von (T) unter den Prämissen der sensualistischen Theorie. Am Ende des ersten Dialogteils wird dafür eine Differenzierung innerhalb des Begriffs der Wahrnehmung eingeführt, deren eine Seite Sokrates explizit vertritt. Es gibt insofern nicht die platonische Wahrnehmungstheorie, sondern eine Unterscheidung zwischen »Wahrnehmung« in einem organisch-instrumentellen Verständnis einerseits und im Sinne der urteilenden Tätigkeit der Seele andererseits.17 Es ist also auch nicht der Fall, dass Platon die Bezeichnung »Wahrnehmung« nur für das organischinstrumentelle Verständnis reserviert und das zweite nicht als Wahrnehmung bezeichnet. Vielmehr bezieht die Dialogargumentation gerade ihren Witz daraus, dass Unterschiedliches »Wahrnehmung« genannt werden kann. Mit dem organisch-instrumentellen Verständnis führt Platon im Theaitetos einen neuen engen

16 Becker, Alexander: Platon: Theätet. Übersetzung durchgesehen und überarbeitet und mit einem Kommentar versehen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 313. 17 Vgl. ebd.

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Sinn von aisthêsis ein, in dem es ›mit den Sinnen wahrnehmen‹ bedeutet.18 Dieser Sinn wird im Gegenüber zu früheren, weiteren Bedeutungen, die im Theaitetos ebenfalls noch präsent sind, von Platon zuallererst entwickelt. Damit wird die Frage nach der Aktivität und Passivität der Wahrnehmung berührt: Wenn die Wahrnehmung im einen Sinne im Haben von Eindrücken besteht und im anderen Sinne im Ausführen von Schlüssen, könnte Platon eine Unterscheidung zwischen passivem Eindruck und aktiver Interpretation durch den Geist zugeschrieben und dabei neuzeitliche Kategorien angewendet werden.19 Solche Interpretationen sind aber insofern misslich, als die Gegenüberstellung von aktiv und passiv an den Text herangetragen und Platon zudem in Vernachlässigung der Dialogizität des Texts unterstellt wird, er verfechte eine Einschränkung der Verwendung von aisthanesthai auf die neu etablierte enge Bedeutung. Platon legt es gerade nicht nahe, dass die eingeschränkte Verwendung nunmehr die einzig richtige sei. Auch wenn Sokrates als Dialogfigur die betreffende Theorie explizit unterschreibt, bleibt die weite Bedeutung von »wahrnehmen« im Dialog zugleich präsent. Es ist außerdem nicht angemessen, Platons neue Wahrnehmungstheorie als (a) basierend auf der Unterscheidung von Eindruck und Urteil und (b) diese Unterscheidung bei Platon als Stufenfolge von ›bloßen‹ Eindrücken und Verstandestätigkeit zu verstehen. Die zentralen abschließenden Formulierungen in 186c1-d5 sind in dieser Frage nicht eindeutig. Es gibt nichts, das klar als passiv empfangenes Ausgangsmaterial oder Basis der von der Seele aktiv durchgeführten Schlüsse bezeichnet würde.20 Wird die Rolle des Verstandes so beschrieben, dass er für die »Interpretation der sinnlichen Eindrücke als Eindrücke von einer objektiven Wirklichkeit, von Objekten mit Attributen« zuständig sei, wodurch sie »einen propositionalen Gehalt« erhalten und wahrheitsfähig werden,21 dann wird Platon zudem eine Objekt-AttributOntologie zugeschrieben, für die sich im Text keine Anhaltspunkte finden. Freilich ist gerade im Theaitetos die Frage nach dem Erkenntniswert der Wahrneh-

18 Vgl. Frede, Michael: »Observations on Perception in Plato’s Later Dialogues«, in: ders: Essays in Ancient Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1987, S. 3-8, hier: S. 4. 19 Auf die entsprechenden Interpretationen kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden; vgl. Hardy: Platons Theorie, S. 130-138; und M. Frede: Observations, S. 5. 20 Dass die Formulierungen nicht eindeutig sind, zeigt sich an den Übersetzungen von 186b11-c3, die stärker als in vielen anderen Passagen voneinander abweichen, vgl. dazu Hobuß: Visuelle Wahrnehmung, Kap. 3. 21 Kutschera, Franz von: Platons Philosophie. II Die mittleren Dialoge, Paderborn: mentis 2002, S. 221.

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mung zentral, aber sie wird nicht durch eine solche Ontologie fundiert, und auch nicht durch eine Theorie der Unterscheidung zwischen Einbildungskraft und Verstand. Wenn im Text die Eindrücke und die Urteile unterschieden werden, dann gerade um den Erkenntnisbezug der Wahrnehmung zu erörtern. Zwischen Eindrücken und Urteilen zu unterscheiden, muss keine festgelegte Stufung oder Abfolge in einem empiristischen Sinne bedeuten.22 4. Die Theorie der Sehstrahlen: Im Timaios lässt Platon Timaios naturphilosophische und kosmologische »Geschichten erzählen« (mythologein); zur Theorie des Sehens enthält der Text zwei Passagen, 45b2-46c6 und 67c4-68d8. Im Vergleich zum Theaitetos enthalten sie eine überraschend physiologische Theorie der Wahrnehmung mit den Augen. Der Text besteht nahezu vollständig aus dem Monolog des Timaios über die Weltentstehung. Zunächst spricht er über die Erschaffung der Welt, der Planeten, Götter und schließlich der Menschen. Beim Menschen wird die Erschaffung des runden Kopfs nach dem Vorbild des Alls hervorgehoben, wobei an der Vorderseite des Kopfs als der besseren Seite das Gesicht angebracht worden sei inklusive aller der Voraussicht der Seele dienlichen Werkzeuge (vgl. 45a2-b2). Damit ist die Rede bei den Augen angelangt, und damit beginnt der erste der beiden Abschnitte, die der Theorie des Sehens gewidmet sind (45b2-46c6). Diese Passage besteht aus vier Sinnabschnitten. Erstens werden grundsätzliche Bestimmungen vorgenommen: In uns Menschen gibt es Timaios zufolge ein der Sonne verwandtes Licht oder Feuer, das durch die Augen »glatt und dicht« nach außen strömt (vgl. 45b2-c3). Zweitens wird das Zustandekommen des Sehens bei Tageslicht beschrieben: Bei Tage umgibt das Tageslicht den »Strom des Sehens« (opseôs rheuma, 45c4), der aus dem Auge kommt.23 Damit fällt Ähnli-

22 Auch die Erörterung des Wachstafel-Modells später im Dialog bestätigt die Interpretation. Als es um den Definitionsvorschlag geht, Erkenntnis sei richtige Vorstellung/Meinung (doxa, vgl. 187a-201c), thematisiert Sokrates den Umgang der Seele mit den Wahrnehmungen und führt das berühmte Wachstafel-Modell der Seele ein: »Setze nun in unsern Seelen einen wächsernen Guß (kêrinon), welcher Abdrücke aufnehmen kann« (191c8f.). Dieses Modell wird aber als falsch zurückgewiesen. 23 Böhme, Gernot: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 207 vergleicht diese Passage mit der Zwillingstheorie aus dem »Theaitetos« und formuliert, anstelle der »aktiven« und »passiven« Kinesis treten nun die zwei Feuerströme, die einerseits vom äußeren Gegenstand, andererseits vom Auge ausgehen. In dieser Formulierung ist der vom Auge ausgehende Sehstrahl dann etwas Aktives; damit ist sie exemplarisch für das Zustandekommen des Topos, dass Platon im Gegensatz zu Aristoteles eine »Sendetheorie« oder »aktive Theorie« des Sehens vertreten habe.

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ches auf Ähnliches; das von innen Herausdrängende und das Licht, das von außen kommt (vgl. 45c7) verbinden sich zu einem einheitlichen Körper in gerader Richtung der Augen. Als neues Ganzes verbreitet er die Bewegung des von außen Gekommenen durch den ganzen Körper bis zur Seele und erzeugt die Wahrnehmung. Drittens wird die Situation bei Nacht beschrieben: Ohne Tageslicht kommt dieser Prozess nicht zustande; das innere Feuer bleibt von der Vereinigung mit der äußeren Bewegung abgeschnitten und verbleibt im Inneren, wo es den Schlaf herbeiführt und die inneren Bewegungen glättet. Bleiben doch welche von diesen übrig, entstehen Traumbilder (vgl. 45d3-46a2). Viertens geht die Passage auf die Entstehung von Spiegelbildern ein: Auch im Falle von Spiegelungen entsteht das vereinigte Feuer; die seitenverkehrte Spiegelung wird damit erklärt, dass entgegengesetzte Teile des Sehstrahls sich berühren (vgl. 46a2-c6). Nach einigen übergeordneten Überlegungen geht es um die Farben. Damit ist in 67c4-68d8 die zweite Passage erreicht, die zur Theorie des Sehens zugehörig betrachtet werden kann; Timaios liefert eine Theorie der Partikelströme. Als Grundlage aller wahrnehmbarer Farben identifiziert er »eine sämtlichen Körpern entströmende Flamme« (67c6f.). Diese von den Körpern ausgehenden Ströme bestehen aus Teilchen, die teils kleiner, teils größer und teils gleich groß sind wie die Teilchen des Stroms des Sehens (vgl. 67d3-5). Wenn sie gleich groß sind, ist das Ergebnis nicht wahrnehmbar, weil die Partikel des Sehstroms und diejenigen, vom Objekt ausgehen, ununterscheidbar sind, und dadurch scheint das Sehen auf gar keinen Gegenstand zu treffen; er scheint vollkommen durchsichtig. In den anderen Fällen kontrahieren sie oder zerteilen das Sehen (vgl. 67d6f.), und je nach Mischung werden unterschiedliche Farben, Flimmern oder bei einem besonderen Feuer auch Tränen erzeugt (67e4-68d2). Die Erklärung des Sehens besteht vollständig in der Herstellung von Korrelationen zwischen unterschiedlichen Arten von Partikelströmen einerseits und unterschiedlichen Farbbegriffen andererseits. Als Korrelat der Partikelbewegungen wird keine Empfindung im Bewusstsein oder irgend etwas derartiges angegeben, sondern das Korrelat ist das, »was wir Farben nennen«. Wie verhält sich die physiologische Theorie des Sehens, wie sie Timaios liefert, zur im Theaitetos erörterten Wahrnehmungstheorie? Wenn die Wahrnehmung als Fluss zwischen Sinnesorgan und Objekt dargestellt wird, scheint es zunächst eine Parallele zwischen der im Timaios diskutierten Theorie des Sehens und der Zwillingstheorie der Wahrnehmung aus dem Theaitetos zu geben. Es ist aber höchst fraglich, ob sich beides tatsächlich deckt.24 Liest man den Theaitetos

24 Vgl. McDowell, John: Plato: Theaetetus. Translated with Notes, Oxford: Oxford University Press 1973, S. 139; außerdem Hardy: Platons Theorie, S. 67.

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so, dass Platon jegliche Theorie der Wahrnehmung als eines sinnlichen Geschehens zurückweist, dann besteht ein Widerspruch zwischen den in beiden Dialogen gegebenen Theorien. Dagegen lässt sich aber geltend machen, dass im Theaitetos die Differenzierung innerhalb der Wahrnehmung das Hauptziel der Argumentation bildet. In diesem Zusammenhang wäre die Rolle der Rhetorizität der Dialoge Platons zu beachten: Es gibt nicht die platonische Wahrnehmungstheorie, sondern Platon trifft eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsbegriffen, die an unterschiedlichen Stellen formuliert werden. Was lässt sich im Ganzen über die Frage nach der Aktivität und Passivität der Wahrnehmung bei Platon sagen? Lässt sich eine Antwort geben, die ihm eindeutig eine Theorie des Tuns im Gegensatz zu einer Theorie des Lassens oder des Empfangens zuschreibt? Die Interpretation hat gezeigt, dass Platons Ausgangspunkt im Theaitetos die Darstellung und Entfaltung des Sensualismus ist, der schließlich zurückgewiesen wird. Es wird eine Theorie vorgetragen, die ein Wechselspiel von Erleidendem und Wirkendem in der Wahrnehmung annimmt; die Formulierung dieser Theorie erfolgt aber unter der Prämisse von (H), die wiederum zurückgewiesen wird. Trotzdem gibt es keine explizite oder eindeutige Argumentation für eine Privilegierung der Aktivität, genauso wenig wie in der Unterscheidung zwischen den Eindrücken in den Wahrnehmungsorganen und den Schlüssen in der Seele, und genauso wenig wie in der im Timaios vorgetragenen Theorie. Auch die Theorie der Partikelströme hebt kein aktives Sehen im Gegensatz zu einem passiven Vorgang hervor. Im Ganzen zeigt die Interpretation, dass es sowohl zu simpel wäre, Platon eine Wahrnehmungstheorie des nur aktiven Sendens zuzuschreiben, als auch die beiden im Theaitetos diskutierten Wahrnehmungsbegriffe auf den Gegensatz von passivem Empfangen und aktivem Schlussfolgern oder Interpretieren zu reduzieren.

P ASSIVITÄT UND AKTIVITÄT BEI A RISTOTELES

DER

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Die empiristische Tradition hat eine gewisse Emphase auf die Passivität im Wahrnehmungsgeschehen gelegt und diese häufig auch bis zu Aristoteles (als Gegenspieler Platons) zurückverfolgt.25 In Lockes Essay concerning human understanding heißt es etwa im Kapitel »Of Perception«: »For in bare naked perception, the mind is, for the most part, only passive, and what it perceives, it

25 Vgl. T. K. Johansen: Imprinted on the Mind, S. 169.

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cannot avoid perceiving.«26 Und über das Empfangen der simple ideas schreibt Locke: »In this part the understanding is merely passive […]. These simple ideas, when offered to the mind, the understanding can no more refuse to have, nor alter, when they are imprinted, nor blot them out, and make new ones itself, than a mirror can refuse, alter, or obliterate the images or ideas which the objects set before it do therein produce.«27

Wie bei Høeg und Rorty steht auch hier der Spiegel für das Paradigma des passiven Empfangens. Die Verbindung zwischen Aristoteles und der empiristischen Tradition kommt aber nicht über das Bild des Spiegels zustande, sondern wird üblicherweise durch die Verwendung des Bildes vom Geist oder der Seele als Wachstafel hergestellt, das sich sowohl bei Aristoteles (der sich damit wiederum auf Platon bezieht)28 als auch bei Locke findet: »Aristotle regards perception as essentially passive, a mode of being affected, like, in his own simile, wax being impressed with a signet ring; in this he resembles Locke.«29 Ist aber das gängige Bild zutreffend, Aristoteles habe eine »Empfangstheorie« des Sehens vertreten? Formuliert er eine Theorie der Passivität der Wahrnehmung? Findet sich im Gegensatz zu Platon bei ihm eine situationsunabhängige Stufung des Wahrgenommenen, die als Vorläuferin einer Theorie der Sinnesdaten oder Qualitäten gelesen werden kann? Die umfangreichste Behandlung des Sehens und der Wahrnehmung gibt Aristoteles in seiner Schrift De Anima im Rahmen seiner systematischen Behandlung der Wahrnehmung als einer der wichtigsten Tätigkeiten der Seele. Hier geht es im zweiten Buch zuerst um einen allgemeinen Grundbegriff des Wahrnehmens (Kapitel fünf), dann um eine Typologie des Wahrnehmbaren (Kapitel sechs), und schließlich um den Gesichtssinn im engeren Sinne (Kapitel sieben). Diese drei Kapitel werden im Folgenden betrachtet. 1. Die Überlegungen zu einem Grundbegriff des Wahrnehmens setzen damit ein, dass Aristoteles das Wahrnehmen als eine Tätigkeit der Seele bestimmt als »Bewegtwerden und Erleiden«, wie meist übersetzt wird (kai kineisthai te kai

26 Locke, John: Essay Concerning Human Understanding. Works in Ten Volumes, Vol. I.- London 1823 (Reprint Aalen 1963), S. 129 (II.ix.1). 27 Ebd., S. 98 (I.ii.25). 28 Vgl. oben Anm. 27 und Platon: Theaitetos, 191c8f. Dieser Verbindung kann hier nicht ausführlich nachgegangen werden, vgl. dazu Hobuß: Visuelle Wahrnehmung. 29 Hirst, R.: Form and Sensation. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Suppl. 39, 1965, S. 155-172. Vgl. auch T.K. Johansen, S. 169.

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paschein, DA II 5, 416b34). Die Wahrnehmung erfolge als Bewegtwerden und Erleiden, denn sie bestehe in einer Veränderung (alloiôsis). Hier holt Aristoteles aus und knüpft an seine Unterscheidung von energeia (Akt) und dynamis (Potenz) an.30 Im Text von De Anima nimmt die Unterscheidung die folgende Form an: Das Wahrnehmungsfähige (aisthêtikon) ist für Aristoteles zunächst nicht in Akt tätig, sondern nur in der Potentialität. Deshalb gebe es zwei Redeweisen, in denen man über die Wahrnehmung und das Wahrnehmen sprechen kann: der Potenz nach oder aber in Wirklichkeit (417a13). Zunächst (417a15) schlägt Aristoteles aber vor, so über die Wahrnehmung zu sprechen, als ob das »Bewegtwerden und Erleiden« dasselbe seien wie Tätigsein. Die Bewegung sei ja auch eine Art Tätigkeit, wenn auch eine unvollendete. Alles Bewegtwerden und Erleiden gehe vom Wirkfähigen (poiêtikon) und in Akt Befindlichen (energeia ontos) aus (417a18). Insofern erleide es einerseits durch das ihm Gleiche, andererseits durch das ihm Ungleiche; es erleide das Ungleiche, nach dem Erleiden sei es dann ein Gleiches. Diese knappen und zunächst schwer verständlichen Bestimmungen erläutert Aristoteles nun im weiteren Verlauf des Kapitels. Man müsse nämlich über die vorläufige Auffassung des Bewegtwerdens und Erleidens als Tätigsein hinausgehen und einen Unterschied machen zwischen etwas, das dem Vermögen nach (dynameôs) und etwas, das in Vollendung (entelecheias) bestehe (417a21). Diese Unterscheidung kommt also zur Unterscheidung zwischen Akt und Potenz hinzu. Als Beispiel nennt Aristoteles das Wissen: Jeder Mensch sei grundsätzlich wissensfähig, und dieses Vermögen, wissen zu können, sei zu unterscheiden erstens vom tatsächlichen Wissen und zweitens von der Anwendung dieses Wissens. Nicht nur zwischen Vermögen und Vollendung wird hier unterschieden, sondern diese Unterscheidung lässt sich wiederum auf zwei Ebenen treffen:

30 Die wichtigste Textpassage für die Unterscheidung ist Aristoteles: Metaphysik IX, 13. Zur systematischen Bedeutung der Unterscheidung für Aristoteles vgl. James, Susan: Passion and Action. The Emotions in Seventeenth-Century Philosophy.- Oxford 1997, S. 30-37; Schiffers, Juliane: Passivität denken. Aristoteles – Leibniz – Heidegger.- Freiburg 2014 (in Vorbereitung), Kap. II; knapp auch T.K. Johansen: Imprinted on the mind, S. 171. Manchmal wird auch mit »Wirklichkeit/Möglichkeit« übersetzt. Dieser Variante wird hier nicht gefolgt.

A KTIVITÄT

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P ASSIVITÄT

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W AHRNEHMUNG

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Tabelle 1: dynamis und entelecheia 1. Ebene

dynamis Vermögen, wissen zu können (die_der Lernfähige31)

2. Ebene

entelecheia



Wissen (die_der Ausgebildete32)

dynamis



entelecheia (die_der Ausübende)

»Wissensfähig« könne man nämlich einen Menschen auf zweierlei Weise nennen: In einem ersten Sinne kann jemand wissensfähig genannt werden, wie man alle Menschen als wissensfähig bezeichnen kann, weil die ganze Gattung der Menschen von der Art sei. Derjenige, der bereits ausgebildet ist, kann ebenfalls als wissensfähig bezeichnet werden, weil er ja jederzeit zur Anwendung seines Wissens im Sinne der ausgeübten wissenschaftlichen Betrachtung (theôrein) übergehen könnte. In der Übersicht kann das Vermögen (dynamis) also ein Aspekt der linken Spalte in Relation zur mittleren, oder auch ein Aspekt der mittleren Spalte in Relation zur rechten sein. Ebenso kann der Ausgebildete als Stufe der Vollendung in Relation zum Lernfähigen betrachtet werden, oder aber der Ausübende kann als die Vollendung des Ausgebildeten gesehen werden. Wenn man nun auch die in diesem Beispiel vor sich gehenden Veränderungen durch den Übergang vom Vermögen zur Vollendung als »Erleiden« bezeichnen will, so sieht das jeweilige »Erleiden« (paschein) entsprechend auch unterschiedlich aus. Es ergeben sich für Aristoteles zwei unterschiedliche Arten des »Erleidens« (417b2-16): Eine, die er als »Untergang durch das Entgegengesetzte« bezeichnet, nämlich dass das Kind wirklich wissend wird, und eine andere, die er als »Bewahrung des in Möglichkeit Seienden durch die Vollendung« charakterisiert, dass z.B. ein Baumeister sein Wissen anwendet und tatsächlich baut, oder dass ein Denker zu einem gegebenen Zeitpunkt tatsächlich denkt. Diese andere sei im Gegensatz zu jener nicht mehr als Belehrung aufzufassen. Es sei entweder gar nicht als Veränderung aufzufassen oder als eine andere Gattung

31 W. Welsch: Aisthesis, S. 107. 32 Ebd.

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von Veränderung. Der Baumeister verändere sich ja schließlich nicht, wenn er baut. Und nun folgt eine besonders interessante Bemerkung: Im Fall dessen, der aus dem ersten Zustand des in Möglichkeit Seienden heraustritt, indem er lernt und ein Wissen erwirbt, das ihn dann wiederum zur Lehre befähigt, dürfe man entweder nicht mehr von »Erleiden« (paschein) sprechen (417b13/14), oder aber man müsse zwei Arten der Veränderung benennen (wie oben entweder als Wechsel zu entgegengesetzten privativen Verfassungen oder als Wechsel zum Haben der eigentümlichen Natur). Das ist eine auffällige Bemerkung, denn schließlich war Aristoteles ja gerade von unterschiedlichen Formen des »Erleidens« ausgegangen. Aristoteles setzt seinen Gedankengang aber fort, indem er die Übertragung des Beispiels vom Wissen auf die Wahrnehmung vornimmt (417b16-19): Beim Wahrnehmenden geschehe ein erster Wechsel »vom Erzeuger her« (damit ist die Entstehung der Menschen und ihrer Sinnesorgane im Mutterleib gemeint), und wenn es dann geboren wird, verhalte es sich wie die schon erworbene Wissenschaft – die Wahrnehmung muss bloß noch ausgeübt werden. Das ausgeübte Wahrnehmen entspricht dann dem ausgeübten wissenschaftlichen Betrachten. Nun aber schränkt Aristoteles im nächsten Schritt die Gültigkeit seines Beispiels für den eigentlichen Gegenstand, die Wahrnehmung, wieder ein (417b1928). Es bestehe nämlich der folgende Unterschied zwischen dem Wahrnehmen und dem wissenschaftlichen Betrachten: Das, was die jeweilige Ausübung der Tätigkeit bewirke, liege beim wissenschaftlichen Betrachten beim Selbst, denn das wissenschaftliche Betrachten richte sich aufs Allgemeine, bei der ausgeübten Wahrnehmung liege es, das Sichtbare, Hörbare usw., aber außerhalb, weil die Wahrnehmung sich auf das Einzelne richtet. Und daher, eben weil die Wahrnehmung auf das Einzelne gehe, sei es für die Ausübung notwendig, dass das Wahrnehmbare vorliege. Und nun erklärt Aristoteles, der Begriff der Potenz/des Vermögens sei mehrdeutig. Im Fall des Wissens lasse sich unterscheiden zwischen dem zur Ausbildung Fähigen und dem schon Ausgebildeten (417b30-a3): Ein Knabe vermag ein Feldherr zu sein (er kann es lernen), oder aber ein erwachsener ausgebildeter Feldherr kann in Möglichkeit Feldherr sein (er übt es bloß gerade nicht aus). So sei es auch mit dem Wahrnehmungsfähigen, aber im Bereich der Wahrnehmung fehle für diesen Unterschied die Bezeichnung. Daher müsse man die Begriffe des Erleidens und des Verändertwerdens verwenden, als wären sie die eigentlichen. Das aber heißt, der Begriff des »Erleidens« ist hier gar nicht in »eigentlicher« (kyriois) Verwendung gebraucht, nur ersatzweise, in Ermangelung einer anderen Bezeichnung. Mit einer Zusammenfassung (418a36) beschließt Aristoteles das fünfte Kapitel des zweiten Buchs: Das Wahrnehmungsfähige (aisthêtikon) sei der Potenz nach von der Art, wie das Wahrnehm-

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bare (aisthêton) schon in Vollendung (entelecheia) sei. Es erleide als noch nicht Gleiches, erlitten habend sei es angeglichen und wie jenes. (Verkürzt: Das Wahrnehmende ist von der Art wie das Wahrnehmbare.) Aus dieser komplexen Bestimmung erhellt, dass die Zuschreibungen von Wirken und Erleiden nicht simpel mit Aktivität und Passivität gleichgesetzt werden können, und dass von einer simplen passiven Empfangstheorie bei Aristoteles nicht die Rede ist. 2. Das sechste Kapitel von DA II ist ziemlich kurz (418a7-25) und von seiner äußeren Struktur klar und übersichtlich, enthält aber einige der größten Interpretationsschwierigkeiten des gesamten Textes. In diesem Kapitel geht es um das Wahrgenommene (peri tôn aisthêtôn), denn darüber müsse man bei jedem Wahrnehmungssinn zuerst sprechen.33 Nach dieser einleitenden Erklärung unterteilt er den Begriff des Wahrgenommenen; es gebe dreierlei, was so genannt werde. Zuerst gebe es an sich selbst (kath’auta) Wahrgenommenes und »hinzukommend« (»akzidentell«, wie meistens übersetzt wird; kata symbebêkos) Wahrgenommenes. Das kath’auta Wahrgenommene unterteilt Aristoteles noch einmal in zwei Klassen, dasjenige, was jedem Wahrnehmungssinn eigentümlich sei (idia aisthêta), und dasjenige, was allen Wahrnehmungssinnen gemeinsam sei (koína aisthêta). Daraus ergibt sich die folgende Einteilung: Tabelle 2: Einteilung der aisthêta aisthêta aisthêta kath’auta

a) idia aisthêta

c) aisthêta kata symbebêkos

b) koina aisthêta

Aristoteles behandelt und erklärt diese Bezeichnungen für Typen von Wahrgenommenem in der bezeichneten Reihenfolge.

33 Diese Erklärung des Aristoteles im allerersten Satz des Kapitels mag überraschen; man hätte alternativ auch erwarten können, dass er sich nun direkt den unterschiedlichen Sinnen zuwendet, oder dass er die Sinne ausgehend von ihren Organen charakterisiert. Aber an die Ausführungen zum Grundbegriff der Wahrnehmung schließen sich zunächst Bemerkungen über die wahrnehmbaren Dinge an. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Aristoteles die Sinne durch das jeweils von ihnen Wahrgenommenen her definiert.

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a) Die idia aisthêta (418a11-13): Dies sind die jedem Wahrnehmungssinn eigentümlichen Gegenstände, das heißt, sie können nicht durch einen anderen Sinn wahrgenommen werden. Als Beispiele nennt Aristoteles die Farbe für den Gesichtssinn, den Klang für das Gehör und das Schmecken für den Geschmackssinn. Und er erläutert, inwiefern hier keine Täuschung möglich sei: Jeder Sinn täusche sich darüber nicht, dass es z.B. Farbe oder dass es Klang sei (418a15), wohl aber könne er sich darüber täuschen, was oder wo das Gefärbte oder Klingende sei. b) Die koina aisthêta (418a17-20): Beispiele für sie sind Bewegung, Ruhe, Anzahl, Gestalt oder Größe. Die koina aisthêta seien keinem einzelnen Sinn eigentümlich, sondern sie seien mehreren oder allen gemeinsam, denn Bewegung sei z.B. dem Tastsinn und dem Sehen wahrnehmbar. c) Die aisthêta kata symbebêkos (418a20-24): Die Passage zur Erklärung dieser Art von Wahrgenommenem ist mit knapp fünf Textzeilen extrem kurz, dunkel und erklärungsbedürftig. Vom hinzukommenden Wahrgenommenen spreche man, »wenn z.B. das Weiße der Sohn des Diares wäre, denn dieses wird hinzukommend (kata symbebêkos) wahrgenommen, weil dem Weißen das hinzukommt, was wahrgenommen wird. Daher erleidet man34 auch nichts irgendwie Derartiges durch das Wahrgenommene.« Die Situation scheint die zu sein, dass ich z.B. aus der Ferne einen Menschen entweder als ein Weißes als auch als eine bestimmte Person sehen kann, die ich kenne. Dabei wird es von der Situation abhängen, etwa wie genau ich sie_ihn sehen kann, oder ob eine Verwechslung mit einer ähnlichen Person möglich ist usw., welche von beiden Möglichkeiten ich sehe. Diese Stelle könnte als Beleg für eine Theorie der situationsunabhängigen Stufung des Wahrgenommenen gelesen werden, dass das Weiße immer ›unmittelbar‹ wahrgenommen würde und die Zuschreibung »Sohn des Diares« immer eine zweite Stufe der Wahrnehmung sei. Aber auf eine solche Stufung ist der Text nicht festgelegt. 3. Kapitel sieben beginnt mit der Feststellung, worauf sich der Gesichtssinn richte, das sei das Sichtbare; dieses aber sei die Farbe (418a25-29). Das heißt, hier wird der Gesichtssinn über die Farbe definiert. Das, worauf sich der Sinn richtet, macht ihn aus. Mit der Untersuchung der Bedingungen der Sichtbarkeit von Farben setzt Aristoteles daher fort: Jede Farbe sei das Bewegende des wirklich (kat’ energeian) Durchsichtigen, und dies sei ihre Natur. Daher sei sie nicht ohne Licht sichtbar, sondern die Farbe von allem werde im Licht gesehen

34 Wie diese Stelle zu verstehen ist, gibt den Interpret_innen bis heute Rätsel auf. Das Subjekt der Verbform in der 3. Person Singular ist nicht genannt und unklar; zur Interpretation vgl. S. Hobuß: Visuelle Wahrnehmung, Kap. 4.

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(418b2-3). Dann er setzt neu an: Es gebe etwas Durchsichtiges. Beispiele dafür seien die Luft, das Wasser und viele Festkörper. Das Licht sei die Wirklichkeit (energeia) des Durchsichtigen als Durchsichtiges. Wo sich das Licht in Potenz befinde, da sei Dunkel. Das Licht ist für ihn gleichsam die Farbe des Durchsichtigen, wenn es der Vollendung nach durchsichtig ist, z.B. durch Feuer oder Sonne. Und so betrachtet Aristoteles das Licht nicht als Feuer noch als einen Körper noch als einen Ausfluss eines Körpers, sondern als die Anwesenheit von Feuer oder etwas Ähnlichem im Durchsichtigen (vgl. 418b4-17). Den nächsten Schritt bildet die Aussage: Das, was Farbe aufnehmen könne, sei das Farblose, so wie Schall durch Schallloses aufgenommen werden könne (vgl. 418b26-27). Zum Farblosen zähle u.a. das Durchsichtige. Der Regelfall der Wahrnehmung besteht darin, dass im Licht die eigene Farbe jedes Dings gesehen werde. Es handelt sich hier um einen Definitionszusammenhang (419a7-11): Die Farbe werde nicht ohne Licht gesehen, denn es ist das Sosein der Farbe, das Durchsichtige bewegen zu können; und die Vollendung des Durchsichtigen ist das Licht (419a11). Kurz zusammengefasst lautet die Erklärung: Die Vollendung des Durchsichtigen ist das Licht. In ihm ist das Durchsichtige in Wirklichkeit durchsichtig und farblos und kann Farbe aufnehmen. Wo sich das Licht aber nur in Potenz befinde, da ist es dunkel, und der Regelfall der Wahrnehmung kann nicht vorliegen. Hier macht Aristoteles auf der Grundlage seiner Akt-Potenz-Unterscheidung so etwas wie eine zugrundeliegende Ebene geltend, die Seiendes erst ermöglicht, die aber nicht einfach als Passivität begriffen werden kann, sondern eher performativ oder als Gabe angesprochen werden könnte.35 Wie lautet das Ergebnis für die Frage nach der Passivität und der Empfangstheorie? Einerseits findet sich tatsächlich so etwas wie die Rede von der Passivität der Sinne, insofern Aristoteles zumindest einen Teil des Wahrnehmungsvorgangs als »Erleiden« bestimmt. Andererseits sei aber gerade im Falle der erfolgten Wahrnehmung dieses »Erleiden« nicht im eigentlichen (kyriois) Wortsinne zutreffend. Diese Beobachtung deckt sich damit, dass Aristoteles auch sonst sehr sorgfältig darauf hinweist, dass die Wörter »Tun« und »Erleiden« häufig nicht sehr klar verwendet werden, und dass grammatische Aktivität nicht auch kausale Aktivität bedeuten muss. Dass die grammatische Form keine Auskunft über die kausale Aktivität gibt, macht er in seinen Sophistischen Widerlegungen für das Verb »sehen« deutlich:36

35 Zur Verschränkung von Performativität und Gabe vgl. den Beitrag von Nicola Tams in diesem Band. 36 Für diesen Hinweis vgl. T.K. Johansen: Imprinted on the mind, S. 176.

76 | STEFFI H OBUß »Ist einer von den leidenden Zuständen auch ein thuender Zustand? Antwort: Nein. Nun werden aber die Ausdrücke: Es wird zerschnitten, es wird verbrannt, es wird wahrgenommen in gleicher Weise gesprochen und bezeichnen alle ein Leiden. Ferner werden die Worte Sprechen, Laufen, Sehen in gleicher Weise eines wie das andere gesprochen; nun ist aber das Sehen ein Wahrnehmen, und somit ist ein und dasselbe zugleich ein Leiden und ein Thun.«37

Insofern erinnert Aristoteles daran, dass die Kontexte der Verwendung der Wörter stets zu berücksichtigen sind, wenn über aktive und passive Vorgänge gesprochen wird. Und außerdem steht die »uneigentliche« Bezeichnung des passiven, erleidenden Moments der Wahrnehmung in einer Spannung dazu, dass die Wahrnehmung von Aristoteles durchaus als so etwas wie ein Kognitionsakt begriffen wird, wenn er die Wahrnehmung als eine Form der Unterscheidung (krisis) bestimmt (DA 424a1-10). Aber richtig verstanden sind beide Bestimmungen, der Aktivität und der Passivität der Wahrnehmung sogar verträglich, wenn man im Blick behält, dass Aristoteles darauf hinweist, dass aktiv/passiv sehr Unterschiedliches bedeuten kann und sich Aktivität und Passivität auf unterschiedliche Beschreibungsebenen beziehen können, und in gewisser Weise das als »aktiv« Beschreibbare hier gerade die Bedingung für das als »passiv« Beschreibbare ist (und umgekehrt).

S CHLUSS Was lässt sich auf der Basis der Interpretation und der Kontrastierung von Platon und Aristoteles über die eingangs gestellten Fragen sagen? Es ist auf jeden Fall unzutreffend, Platon eine Sendetheorie des aktiven Sehens und Aristoteles eine Empfangstheorie des passiven Sehens zuzuschreiben. Bei Platon werden unterschiedliche Theorien der visuellen Wahrnehmung vorgetragen und erörtert; in ihnen kommen unterschiedliche Bezugnahmen auf Aktivität und Passivität vor, aber es liegt keine Theorie des aktiven Sehens vor. Eine Stufung des Wahrgenommenen im Sinne von passiv empfangenen Qualitäten als Basis höherstufiger Qualitäten wird bei Platon nicht im Sinne neuzeitlicher Theorien thematisch. Aristoteles‘ Bestimmung des Wahrnehmens als »Bewegtwerden und Erleiden« ist nicht im Sinne eines passiven Empfangens zu lesen. Auch wenn die

37 Aristoteles: Sophistische Widerlegungen, übersetzt von J.H. Kirchmann [Heidelberg 1883], Hamburg: Meiner 1968, Nr. 22, 178a10-17.

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Wahrnehmung als »Bewegtwerden und Erleiden« bestimmt wird, liegt ein komplexes Wechselverhältnis von Wirken und Erleiden vor. Seine Unterscheidung unterschiedlicher Typen von Wahrgenommenem stellt keine empiristische oder proto-empiristische Stufung von Qualitäten dar. Eine solche Stufung des Wahrgenommenen ist bei Aristoteles gar nicht thematisch, wird von ihm also weder vertreten noch ausgeschlossen. Der Ausdruck »Empfangstheorie« als Beschreibung der aristotelischen Auffassung sowie die ihm zugeschriebene Auffassung von der Passivität des Sehens können auf der Grundlage dieses Ergebnisses insofern reinterpretiert werden, dass Aristoteles sehr sorgfältig sowohl auf die Kontextgebundenheit der Begriffe »aktiv« und »passiv« hinweist als auch in gewisser Weise auf der Grundlage seiner AktPotenz-Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv vermittelt.

L ITERATUR Aristoteles: Über die Seele [De Anima], griechisch-deutsch. Mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar hg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner Verlag 1995. Aristoteles: Metaphysik. Bücher I (A)-VI (E), griechisch-deutsch. Mit neubearbeiteter Übersetzung, Einleitung und Kommentar hg. von Horst Seidl, Hamburg: Meiner Verlag 31989. Aristoteles: Sophistische Widerlegungen, übersetzt von J.H. Kirchmann [Heidelberg 1883], Hamburg: Meiner 1968. Becker, Alexander: Platon: Theätet. Übersetzung durchgesehen und überarbeitet und mit einem Kommentar versehen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007 Böhme, Gernot: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000. Dewey, John: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln [1929], Frankfurt/M.: Suhrkamp 32001. Frede, Michael: »Observations on Perception in Plato’s Later Dialogues«, in: ders: Essays in Ancient Philosophy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1987, S. 3-8. Hardy, Jörg: Platons Theorie des Wissens im »Theaitet«, Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht 2001. Hauskeller, Michael: »Erkenntnis und Wahrnehmung in Platons Dialog Theaitetos«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23.2 (1998), S.167-179. Herzberg, Stephan: Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles. Zur epistemologischen Funktion der Wahrnehmung, Berlin/New York: de Gruyter 2010.

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Müßiger Widerstand? Vom subversiven Nichtstun der Philosophie am Ende der Geschichte M ARTIN G. W EISS

1. D IE G IER DER M ANAGER UND W ACHSTUM DES K APITALS

DAS UNENDLICHE

Slavoj Žižek hat es auf den Punkt gebracht: Die moralische Empörung über die Gier der Manager dient allein der Verhinderung der Systemkritik. Denn die Ursache der immer noch andauernden größten Wirtschaftskrise seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist nicht die Gier irregeleiteter Manager, sondern der Kapitalismus. Jeder Diskurs über das angebliche moralische Fehlverhalten bestimmter Individuen zielt darauf ab, den Zwang zur Gewinnmaximierung als psychologisch-moralisches Problem Einzelner beiseite zu schieben, obschon es das grundlegende Prinzip des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst ist und nur mit diesem überwunden werden kann: »The self-propelling circulation of Capital remains more than ever the ultimate Real of our lives, a beast that by definition cannot be controlled.«1 Trotz der nicht nur vom Club of Rome wiederholt aufgezeigten Grenzen des Wachstums in Bezug auf die sozialpolitischen und ökologischen Folgeschäden einer naiven Gleichsetzung von quantitativem Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Wohlstand scheint das im Kapitalismus als prinzipiell unbegrenzt konzipierte und auf Innovation gründende Wachstum von Unternehmen, Ein-

1

Žižek, Slavoj: The year of dreaming dangerously. London/New York: Verso 2012, S. 78.

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kommen, öffentlichen Haushalten und des Bruttosozialprodukts (trotz Wirtschaftskrise) kaum etwas von seiner betörenden Attraktivität eingebüßt zu haben. Doch nicht erst seit dem Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der die Innovation zum Motor des endlosen Wachstums wurde, spielt das Konzept der Neuerung eine bedeutende Rolle. Vielmehr war das Neusein schon lange vor der Innovationstheorie zum Wert schlechthin geworden, also schon lange bevor Joseph Schumpeter die unternehmerische Innovationstätigkeit als Mittel zur Erreichung von Wachstum theoretisierte – eines Wachstums freilich, das Schumpeter zufolge durch zunehmende Monopolbildung und Bürokratisierung über kurz oder lang zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen wird. Woher aber stammt diese oftmals inhaltlose Neuerungswut? Gianni Vattimo zufolge bricht die Neuzeit, also jene Epoche, in der das Neusein zu einem Wert wird, mit der Erfindung des linear-teleologischen Zeitverständnisses durch das Christentum an, denn mit dem Christentum setzt sich die Idee eines positiv konnotierten Zieles der Geschichte durch. In der klassischen Moderne, dem Zeitalter der Utopien, wird das transzendente Ziel der christlichen Heilsgeschichte dann ins Diesseits hereingeholt und zum herstellbaren und herzustellenden Ziel der Weltgeschichte säkularisiert. In der Spätmoderne, die spätestens nach dem zweiten Weltkrieg beginnt, kommt dann auch dieses innerweltliche Ziel abhanden, so dass der Fortschritt zunehmend zum Leerlauf wird. Das Lebensgefühl der so verstandenen Spätmoderne fasst eine Figur Helmut Qualtingers in folgende prägnante Maxime: »Zwar hab ich ka Ahnung wo ich hinfahr, aber dafür bin i g’schwinder durt!« Die Postmoderne schließlich ist die Epoche, in der die Spätmoderne selbstreflexiv wird, d.h. sich bewusst wird, dass es mit dem Neuen nichts ist, dass, wo der Glaube an ein Ziel der Geschichte geschwunden ist, auch das Neusein kein Wert mehr ist. Im Folgenden möchte ich daher zunächst verdeutlichen, wie es zur Identifikation des Wertes mit dem Neuen kam, wobei ich besonders auf die Rolle des linear-teleologischen Geschichtsmodells des Christentums und auf dessen Säkularisierung in der Politik der Utopie eingehen möchte. Sodann will ich zu erklären versuchen, was die Philosophie meint, wenn sie im Zuge der Analyse der Spätmoderne vom Ende der Geschichte spricht, um dann zu erläutern, welche Konsequenzen die Auflösung der Geschichte und das damit verbundene Ende der Utopien für unsere ethisch-politische Handlungsfähigkeit bedeutet. Abschließend will ich anhand der Occupy-WallstreetBewegung skizzieren, wie ein zeitgemäßer, also postmoderner Widerstand gegen die bestehende Ordnung der Dinge aussehen könnte, der ohne unhinterfragbares Wissen vom Ziel der Geschichte auskommt.

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2. N EU - ZEIT : D AS LINEAR - TELEOLOGISCHE Z EITMODELL DES C HRISTENTUMS ODER DIE E NTDECKUNG DER G ESCHICHTE Zwar gab es bereits in der Antike Überlegungen zur zyklischen Aufeinanderfolge von Weltentstehung und Weltuntergang. Bei der Idee einer linearen, zielgerichteten Entwicklung der Welt bzw. der Menschheit, d.h. bei der Vorstellung von Geschichte im landläufigen Sinne des Wortes, handelt es sich aber um eine genuine Errungenschaft des Judentums und des Christentums, denn diese definieren die Weltzeit ausdrücklich als Zwischenzeit zwischen anfänglicher Schöpfung und endzeitlicher Erlösung. »[…] Was Geschichte im imminenten okzidentalen Sinn des Wortes bedeutet, lässt sich allein aus ihrem Frist- und Zwischencharakter verstehen. Zwischenzeit kann es nur geben, wo ein Geschehen in der Zeit auf ein letztes Ziel oder einen Schlusstermin hinstrebt, von dem aus es als Frist überschaubar wird. Eben dies sind die grundlegenden Merkmale des spätjüdischen und des christlichen Geschichtsdenkens, das für das Phänomen Europa konstitutiv ist.«2

Hatte es in der Antike Wiederholung, Veränderung und auf bestimmte Bereiche beschränkte funktionale Verbesserungen gegeben, so taucht in der Entwicklung des Christentums zum ersten Mal die Idee eines Zieles der Geschichte auf und damit die Vorstellung eines unaufhaltsamen Fortschrittes in Richtung dieses Zieles, d.h. das Konzept einer linearen, teleologischen Entwicklung. Da dieses Ziel der Geschichte als Erlösung begriffen wird, wird der Prozess der Annäherung an diesen zukünftigen Endpunkt zu einer Geschichte der Annäherung an das ultimativ Gute und damit zur Fortschritts- und Heilsgeschichte. Das Verhältnis zum Endpunkt der Entwicklung, auf den die christliche Heilsgeschichte sich zubewegt, war aber von Anfang an ein doppeldeutiges, da das Ziel des Fortschritts schon bald zwischen unbeeinflussbar eintreffender Notwendigkeit und durch Missionierung aktiv herbeizuführendem Ziel zu changieren begann. Zwar schreibt der Apostel Paulus im Ersten Brief an die Thessalonicher »Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht« (1. Thess 5, 2), also völlig überraschend und nicht willentlich herbeiführbar, gleichzeitig ergab

2

Sloterdijk, Peter: Nach der Geschichte. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin: Akademie 1994, S. 262-275, hier S. 267.

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sich aber aus der Verbindung der Naherwartung der Endzeit mit der Überzeugung, dass nur erlöst werden könne, wer an den Auferstandenen glaube, die Verpflichtung zur aktiven Bekehrung der gesamten Menschheit. »Vermutlich ist Paulus der erste Mensch, der prinzipiell in Eile lebte, weil es ihm darauf ankam, in der vermeintlich kurzen Frist seinen universal verstandenen Missionsauftrag zu erfüllen.«3

Die Frage, ob sich das Paradies am Ende der geschichtlichen Entwicklung gleichsam von selbst einstellen werde oder ob man dessen Realisierung aktiv betreiben müsse, kehrt später im Marxismus wieder.4 Etwas verkürzend kann vielleicht gesagt werden, dass nach der Enttäuschung der Naherwartung – ansatzweise bereits im Christentum selbst, dann aber vollends im Zuge der Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte – die passive Erwartung des erlösenden Endes der Geschichte immer mehr in das Bestreben überging, das erlösende Ziel der Geschichte aktiv herbeizuführen. Aus Heilserwartung wurde messianischer Aktivismus, aus der Naherwartung der ersten Christen die Politik der Utopie, also eine Politik »mit der Bereitschaft, die jetzt Lebenden als bloßes Mittel für ein Ziel nach ihnen zu benützen oder als Hindernis dafür zu beseitigen – wovon der revolutionäre Marxismus das prominenteste Beispiel ist«5, wie es bei Hans Jonas heißt.

3. M ODERNE : D IE P OLITIK DER U TOPIE ODER WIE DIE E RLÖSUNG SELBST IN DIE H AND NIMMT

MAN

Was im christlichen Geschichtsverständnis zumindest implizit angelegt war – die Herrschaft der Toten über die Lebenden, genauer die Herrschaft der noch nicht Geborenen über die jetzige Generation – wird Hans Jonas zufolge in den neuzeitlichen Utopien virulent:

3

P. Sloterdijk: Nach der Geschichte, S. 269.

4

»Gerade in den entschieden weltlichen und atheistischen Flügeln der Aufklärung erwacht der ein Jahrtausend lang gezügelte messianische Impuls wieder zu Offensivität. Er wird vor allem im Marxismus zur Weltpolitischen Gewalt und gibt dem modernen Fortschrittsdenken die messianische Perspektive auf einen Anfang vom Ende zurück […].« Ebd., S. 271.

5

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 39.

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»Mit dem modernen Fortschritt […] tritt die Möglichkeit auf, alles Frühere als Vorstufe zum Jetzigen und alles Jetzige als Vorstufe zum Künftigen aufzufassen. Wenn sich diese Vorstellung […] mit einer säkularisierten Eschatologie verbindet, die dem diesseitig definierten Absoluten eine endliche Stelle in der Zeit anweist, und dazu die Vorstellung einer teleologischen Dynamik des Prozesses kommt, der zum endgültigen Zustand hinführt – dann sind die begrifflichen Voraussetzungen für die utopische Politik gegeben. ›Das Himmelreich auf Erden schon errichten‹ (Heine) setzt eine Vorstellung davon voraus, worin ein solches irdisches Himmelreich bestehen würde […], und in jedem Fall, selbst in Ermangelung einer solchen Vorstellung, eine Auffassung von menschlichem Geschehen, die alles davor radikal mediatisiert, d.h. zur Vorläufigkeit verurteilt, seiner Eigenständigkeit entkleidet oder bestenfalls zum Vehikel für die Erreichung des erst noch bevorstehenden Eigentlichen macht, zum Mittel für den allein geltenden zukünftigen Zweck.«6

Problematisch an diesem futuristischen Geschichtsverständnis, sowohl am christlichen, das das Ziel der Geschichte im Hereinbrechen des Reiches Gottes sieht, als auch an seiner säkularisierten Version, die der Errichtung einer endzeitlichen gerechten Gesellschaft entgegenfiebert, ist die diesem Geschichtsmodell immanente Entfremdung der Gegenwart. Denn wenn der Sinn, die Bedeutung und die Erfüllung der Geschichte in der Zukunft liegt, dann bedeutet das, dass die Vergangenheit und die Gegenwart nicht in sich selbst sinn- und bedeutungsvoll sind, sondern allein in Bezug auf das zu erreichende Ziel der Geschichte. Wenn die Geschichte auf einen Zustand absoluter Vollendung zusteuert, dann hat das Hier und Jetzt seinen einzigen Sinn darin, überwunden zu werden. In der futuristischen Konzeption der Geschichte ist die Gegenwart lediglich Vorstufe, d.h. bloß Vorläufiges. Auf die die Gegenwart entwertenden, nihilistischen Implikationen der christlichen Vorstellung der Geschichte als heilsgeschichtliche Zwischenzeit, in der sich das Diesseits zum trostlosen Jammertal verdüstert, hat als erster Friedrich Nietzsche hingewiesen. In Anlehnung an den Pfarrersohn aus Röcken bezeichnet Gianni Vattimo das linear-teleologische Zeitmodell der Moderne als »ekstatisch-funktional« und als »ödipal«. Ekstatisch-funktional ist die moderne Zeitkonzeption deshalb, weil in ihr der gegenwärtige Augenblick nicht in sich selbst erfüllt, sprich bedeutungsvoll ist, sondern seine Bedeutung allein von der Zukunft her bezieht. Ödipal ist dieses Zeitverständnis deshalb, weil der jeweils neueste, der gerade aktuelle Augenblick als relativer Kulminationspunkt aller vorangegangener Momente gesetzt wird. Das je aktuelle Jetzt hebt alle voraufgegangenen Jetzte auf, negiert sie in ihrer Eigenständigkeit, indem es sich

6

H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 45.

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selbst als aktuelles Ziel der Entwicklung setzt, dem gegenüber alles Voraufgegangene nur Mittel war – doch nur, um im nächsten Augenblick das selbe Schicksal zu erleiden und vom neuesten Augenblick selbst negiert zu werden. In der linearen Zeitkonzeption tötet jeder Augenblick seinen Vater. Diese ödipale Zeitstruktur ist die Zeitstruktur der Moderne – im Sinne von Neuzeit –, insofern sie sich als jene Epoche definieren lässt, in der die Geschichte als Prozess und dieser näherhin als Fortschritt, d.h. als »eine kumulative Annäherung an die Wahrheit der Dinge«7 gedeutet wird. Konsequenterweise ist dann auch das Neueste, verstanden als das jeweilige Resultat alles Vergangenen, auch das Beste. Dabei bleibt es letztlich gleichgültig, ob das Ziel der Geschichte, auf das dieser Prozess zusteuert, das christliche Paradies oder die klassenlose Gesellschaft ist. Wichtig ist, dass in diesem Modell es das Neue, das Kommende ist, das dem Gewesenen und dem jetzt Seienden seinen Sinn verleiht. Als einzelne sind die Momente des Prozesses nichtig, erst vom Resultat her sind sie gerechtfertigt. In diesem insofern totalitären Verständnis sind die Teile nur Mittel zum Zweck und müssen sich als Teile negieren und sich dem Endzweck unterordnen. Daran wird deutlich, welcher strukturelle Zusammenhang zwischen der linearen Zeitkonzeption und den den Einzelnen unterdrückenden totalitären Herrschaftsstrukturen besteht, auf die Hans Jonas in seiner Kritik der utopischen Politik aufmerksam gemacht hat. Wenn das bisher Gesagte richtig ist, dann handelt es sich beim Fortschritt um die säkularisierte – d.h. ihres Bezuges auf ein außerweltliches Transzendentes beraubte – Form der christlichen Heilserwartung. In einem ersten Säkularisierungsschritt wurde das Ziel der Geschichte in die Geschichte selbst hereingeholt. Das telos ist nun nichts Transzendentes mehr sondern etwas Innerzeitliches (die utopische Gesellschaft). Die Funktion, die zuvor der Transzendenz zukam, wird nun vom Ziel des innerweltlichen Fortschrittsprozesses übernommen. In einem zweiten Säkularisierungsschritt wird dann auch noch das konkrete Ziel des Fortschrittes gestrichen und der Prozess der endlosen Erneuerung zum Selbstzweck. Gianni Vattimo erläutert diesen Gedanken wie folgt: »Ein erster […] Bezug zwischen Moderne, Säkularisierung und Wert des Neuen zeigt sich, wenn man Folgendes klarstellt: (a) die Moderne ist, als die Epoche der Diesseitigkeit, […] d.h. insgesamt als die Epoche der Säkularisierung charakterisiert; (b) der Kernpunkt der Säkularisierung auf begrifflicher Ebene ist der Glaube an den Fortschritt (oder die Ideologie des Fortschritts), der sich aufgrund einer Wiederaufnahme der jüdischchristlichen Betrachtungsweise der Geschichte bildet, aus der alle Aspekte und transzen-

7

Vattimo, Gianni: Das Ende der Moderne. Stuttgart: Reclam 1990, S. 99.

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denten Bezüge ›schrittweise‹ eliminiert werden; seitdem wird […] der Fortschritt immer mehr als ein Wert an sich charakterisiert; der Fortschritt ist ein solcher, wenn er auf einen Zustand der Dinge hinsteuert, bei dem weiterer Fortschritt möglich ist, und nichts Anderes. (c) Diese extreme Säkularisierung der providentialistischen Betrachtungsweise der Geschichte bedeutet einfach die Bejahung des Neuen als eines Wertes, und zwar als eines grundlegenden Wertes.«8

Demgegenüber ist die Postmoderne nun jene Epoche, in der das Neue kein Wert mehr ist, in der der Glaube an die Identität von Wert und Neuheit schwindet.

4. S PÄTMODERNE : F ORTSCHRITT I NNOVATION IM L EERLAUF

OHNE

Z IEL

ODER

Für Vattimo zeichnet sich die Postmoderne zunächst dadurch aus, dass in ihr die Idee des Fortschritts und damit die Idee des Neuen als Wert obsolet wird.9 Vattimo begreift die Postmoderne allerdings nicht als die neueste »Überwindung« der Moderne, denn dieses Denken in »Überwindungen« ist Vattimo zufolge gerade der Grundzug der Moderne:

8

G. Vattimo: Das Ende der Moderne, S. 101.

9

»Wer weiterhin der Meinung ist, das der Begriff der Postmoderne nicht sinnlos ist und nicht glaubt, dass er sich durch die Popularität, die er bis vor kurzem genoss, völlig abgenutzt hat, gründet seine Überzeugung auf folgende theoretische Überlegungen: 1. Auf die Hypothese, dass die Moderne, trotz der Vielgestaltigkeit ihrer Aspekte, nicht nur die Bezeichnung eines geschichtlichen Zeitraumes ist, sondern auch die Bezeichnung für ein implizites oder explizites charakteristisches Selbstverständnis dieser Geschichtsperiode: Schwerlich werden wir denn auch all das ›modern‹ nennen, was nach 1492 geschah; vielmehr hat der Begriff ›modern‹ für uns auch eine wertende und normierende Bedeutung. Diese Bedeutung aber setzt die Idee des Fortschrittes voraus, d. h. die Überzeugung, dass die Geschichte zum Besseren strebe, so dass dasjenige, welches auf dem Weg des Fortschritts bereits weiter fortgeschritten ist und so dem Zeitgeist angemessener ist, auch das Bessere ist. 2. Die Idee, dass man zur ›Postmoderne‹ dann übergeht, wenn – wie es tatsächlich in unserer Epoche geschehen zu sein scheint – die Idee der Geschichte als Fortschrittsprozess eine nicht mehr akzeptable Vorstellung ist; dann verliert der Begriff der Moderne seine normative Bedeutung, womit, wenigstens in diesem Sinne, die Moderne zu Ende ist.« Vattimo, Gianni: Che gran fatica uscire dal moderno. In: La Stampa, 8. Mai 1993, Beilage Tuttolibri, S. 6. (Übersetzung M.G.W.).

86 | M ARTIN G. W EISS »Darin liegt, wie ich meine, der Sinn der Postmoderne, sofern diese sich nicht auf ein Faktum der kulturellen Mode im pejorativen Sinne reduzieren lässt. Von der Architektur bis hin zum Roman, zur Dichtung, zu den darstellenden Künsten weist die Postmoderne als den ihr gemeinsamen und überragenden Grundzug das Bemühen auf, sich der Logik der Überwindung, der Entwicklung und der Innovation zu entziehen.«10

Darauf, was es bedeutet, in einer a-futuristischen, post-utopischen »Epoche« zu leben und was das Ende der linear-teleologischen Geschichtskonzeption für unser Handeln bedeutet, werden wir noch zurückkommen. Zunächst sei aber eine kurze Bemerkung zum Verhältnis von Neuem und Vergangenem in der neuzeitlichen Zeitkonzeption gestattet, die der Einfachheit halber bei der Beschreibung des linear-teleologischen Zeitmodells ausgespart wurde. Denn im linear-teleologischen Zeitmodell des Christentums und der Politik der Utopie schreibt sich der jeweils neue Augenblick nicht nur von der Zukunft her, sondern hat immer schon einen wesentlichen, wenn auch negativen Bezug zur Vergangenheit, die er negiert. Als alles vor ihm Gewesene negierend ist der jeweils jetzige Augenblick aber eben nicht nur vom Ziel her gedacht, nicht nur Etappe auf dem Weg zum Endzweck, sondern immer auch Resultat, Ergebnis aller ihm vorangehenden Augenblicke und damit im Grunde überhaupt nichts Neues im starken Sinne des Wortes. Im linear-teleologischen Zeitmodell ist der neue Augenblick im Grunde gar nicht neu, sondern das Resultat des Alten. Daraus erhellt das Verhältnis zwischen Innovation und Vergangenheit im linearen Zeitmodell. Denn in diesem Zeitverständnis ist das Neue immer nur als Ergebnis einer Entwicklung, als zumindest im Nachhinein auf seine Vergangenheit rückführbare Entfaltung des Vorgängigen gefasst. Wirklich radikal Neues, also etwas, das in keiner Weise aus dem ihm vorhergehenden ableitbar und daher in keiner Weise vorhersehbar ist, ist in diesem Modell nicht denkbar. Das Neue der Neuzeit ist immer nur Ergebnis, Entwicklung, Ausfaltung, Entdeckung von Vorgängigem, nicht aber radikale Neuheit im emphatischen Sinne des Wortes. Was mit dieser Neuheit im eigentlichen Sinne gemeint ist, lässt sich Vattimo zufolge am Begriff des Kunstwerks exemplifizieren, denn was am Kunstwerk zunächst auffällt, ist gerade seine »radikale Neuheit«, denn das Kunstwerk ist nicht deduzierbar. Es lässt sich von nichts anderem ableiten als von sich selbst. Das, was also am Kunstwerk zunächst fraglich wird, ist nicht seine Konstitution oder Struktur, sondern seine Existenz überhaupt. Die erste Frage, die angesichts des Kunstwerks aufbricht, ist diejenige nach der Möglichkeit eines Seienden, das

10 G. Vattimo: Das Ende der Moderne, S. 160.

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auf nichts anderes als es selbst zurückgeführt werden kann. Das Kunstwerk ist per definitionem unbegründbar, abgründig, Produkt radikaler Freiheit. Das Kunstwerk lässt sich nicht auf ihm Vorgängiges zurückführen. In diesem Sinne ist das Kunstwerk wesentlich unerklärlich, ganz anders als das sogenannte Neue der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung. In dieser Gegenüberstellung von evolutivem Fortschritt der Wissenschaft und revolutionärer Kreativität der Kunst wird sichtbar, dass es zwei konkurrierende Begriffe davon gibt, was Neusein und damit was Geschichtlichsein bedeutet. Der erste versteht Geschichte als kumulative Evolution hin zu einem zukünftigen Ziel auf der Grundlage zu überwindender Vorstufen; der zweite begreift Geschichte als Abfolge revolutionärer, nicht aufeinander zurückführbare Ereignisse. Auf der einen Seite scheinen nur Wissenschaft und Technik eine Geschichte zu haben, weil »sie eine fortlaufende, kumulative Entwicklung nehmen, der man den Namen Fortschritt beilegen kann«11; auf der anderen Seite scheint nur die Kunst »Geschichtlichkeit im eigentlichen Sinne – nämlich als Neuheit und nicht nur als Kontinuität oder Entwicklung«12 zu besitzen. In der Spätmoderne hat sich das evolutionäre Verständnis von Neuheit endgültig gegen das revolutionäre durchgesetzt, denn in der Spätmoderne hat »Neuheit […] nichts ›Revolutionäres‹ und Erschütterndes an sich. Sie erlaubt, daß die Dinge in derselben Weise weitergehen. […] Die Geschichte, die aus christlicher Sicht als Erlösungsgeschichte erschien, verwandelt sich zuerst in die Suche nach einem Zustand innerweltlicher Perfektion und dann nach und nach in die Geschichte des Fortschritts: aber das Ideal des Fortschritts ist leer, sein Endzweck besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen ein immer neuer Fortschritt möglich sein soll. Wenn aber das ›Wohin‹ entfällt, führt die Säkularisierung auch zur Auflösung des Fortschrittsbegriffs selbst – was in der Kultur zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert geschieht.«13

Wenn der Fortschritt leerläuft, die Geschichte kein Ziel mehr hat, gibt es aber auch keine Möglichkeit mehr, ihr einen einheitlichen Sinn, eine feste Bedeutung zuzuschreiben: Die Geschichte löst sich auf. Auflösung der Geschichte bedeutet hier vor allem das Zerbrechen einheitlicher Deutungen der Geschichte. Die eine große moderne Metaerzählung vom Sinn der Menschheitsgeschichte löst sich in eine Vielzahl konkurrierender Erzählungen, konkurrierender Interpretationen auf.

11 G. Vattimo: Das Ende der Moderne, S. 102. 12 Ebd., S. 202. 13 Ebd., S. 12.

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1961, also fast zwanzig Jahre, bevor Jean-François Lyotard in seiner Studie Das Postmoderne Wissen die These vom Ende der großen welterklärenden Erzählungen aufgestellt hat, hat Arnold Gehlen in seiner Schrift Über kulturelle Kristallisation das Ende der Weltanschauungen und den Beginn des Posthistoire ausgerufen. Gehlen geht zunächst vom Bedürfnis des Menschen nach Weltanschauungen aus, d.h. vom Bedürfnis nach universalen deskriptiven und normativen Welterklärungsmodellen, die neben einer Weltinterpretation auch konkrete Handlungsanweisungen liefern. In der Vergangenheit hätten unterschiedliche Ideologien diesem Bedürfnis genüge getan: Das Christentum, Darwins Evolutionstheorie, deren »Grundgedanken vom Kampf ums Dasein und vom Überleben des Geeigneten, mit denen er den Artwandel erklärte, [...] zugleich als eine biologische und ethische Rechtfertigung der englischen Kokurrenzwirtschaft verstanden«14

wurden, die Psychoanalyse Freuds und schließlich der Marxismus. Gehlen zufolge ist das Entstehen solcher umfassenden deskriptiven und normativen Weltanschauungen heute schlichtweg nicht mehr möglich: »So etwas kann heute nicht mehr neu entstehen.«15 Dafür, warum es heute keine Weltanschauungen im skizzierten Sinne des Wortes mehr geben kann, führt Gehlen praktische und theoretische Gründe an. Der praktische Grund für die Unmöglichkeit des Aufkommens neuer Weltanschauungen liegt Gehlen zufolge darin, dass ihre Verwirklichung ein Ausmaß an physischer Gewalt erforderte, zu dem zumindest in den westlichen Demokratien heute niemand mehr bereit sei: »Nach zwei Weltkriegen […] scheinen nur noch diejenigen Ideen und Weltanschauungen die Zukunft für sich zu haben, die bereits in die […] Betriebsgesetze großer Industriegesellschaften eingegangen sind […], und die also jetzt als teuer bezahlte Wirklichkeit jeder Diskussion entrückt sind.«16

Die noch bestehenden Weltanschauungen halten sich also nur, weil und insofern sie sich institutionalisiert haben.

14 Gehlen, Arnold: Über kulturelle Kristallisation. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin: Akademie 1994, S. 133-144, hier S. 135. 15 Ebd., S. 136. 16 Ebd., S. 136.

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Als theoretischen Grund für die gegenwärtige Unmöglichkeit des Aufkommens neuer Weltanschauungen gibt Gehlen die mittlerweile eingetretene hochgradige Spezialisierung der Einzelwissenschaften an, die heute ihre Verallgemeinerung zur Weltanschauung unmöglich mache: »Jede seriöse Wissenschaft ist so weit in ein Geäst von Einzelfragestellungen auseinandergegangen, daß sie sich gegen die Zumutung einer Allkompetenz aufs entschiedenste wehren würde, sie hätte dann nämlich überhaupt keine Sprache.«17

Was Gehlen hier anspricht, ist der Umstand, dass die hochgradige Spezialisierung in allen Teilgebieten der Wissenschaft und die damit einhergehende Hyperkomplexität unserer Gesellschaft heute eine umfassende Metasprache verunmöglicht. Ein Universalgelehrter, der das gesamte Wissen seiner Zeit auf dem Niveau der aktuellen Forschungsergebnisse überschaute, wie es Leonardo da Vinci und vielleicht auch noch Goethe gewesen sein mögen, ist heute, wo selbst zwischen Unterdisziplinen einzelner Wissenschaften Verständigung kaum mehr möglich ist, schlichtweg undenkbar. Das Ende der Möglichkeit des Aufkommens neuer Weltentwürfe, neuer Weltanschauungen, bezeichnet Gehlen terminologisch als »kulturelle Kristallisation«, womit er »denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet bezeichne[t], der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle verwirklicht sind. […] Es sind Neuigkeiten, es sind Überraschung, es sind echte Produktivität möglich, doch nur in dem schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundansätze, diese werden nicht mehr verlassen.«18

Was Gehlen meint, ist, dass wir in einer Epoche leben, in der alle überhaupt möglichen Paradigmen bereits auf dem Tisch liegen, alle überhaupt möglichen großen Weltentwürfe bereits verkündet wurden. Innerhalb dieser bestehenden Paradigmen geht die Entwicklung, die Entfaltung, Ausfaltung der Prämissen zwar weiter, aber neue Paradigmen, wirklich neue Weltentwürfe, revolutionäre neue Weltanschauungen sind keine mehr zu erwarten. Was heute noch möglich ist, ist Evolution im Rahmen und in den Grenzen der bestehenden Paradigmen, aber eine Revolution, d.h. die Aufstellung einer noch nicht dagewesenen Ordnung der Dinge, kann es keine mehr geben. Gehlen vertritt also die These,

17 A. Gehlen: Über kulturelle Kristallisation, S. 137. 18 Ebd., S. 140.

90 | M ARTIN G. W EISS »daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind […] Die Erde wird demnach in der gleichen Epoche […] in der kein unbeachtetes Ereignis von größerer Wichtigkeit mehr vorkommen kann, auch in der genannten Hinsicht überraschungslos. Die Alternativen sind bekannt […], und sind in allen Fällen endgültig.«19

Wenn es nach dem Ende der Geschichte, dem Ende der Utopien und dem Ende der Weltanschauungen zum Bestehenden keine radikale Alternative mehr gibt, stellt sich die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit von Widerstand. Wenn die bisher angeführten Theoretiker der Postmoderne Recht haben, es tatsächlich nichts Neues unter der Sonne mehr geben kann und nach dem institutionellen Ende der marxistischen Weltanschauung, das nach Gehlen auch deren theoretisches Ende bedeutet, auch noch der letzte alternative Weltentwurf zum herrschenden Kapitalismus abhandengekommen ist, stellt sich die Frage, ob eine andere, und das meint immer auch eine bessere, Welt überhaupt möglich ist.

5. W AS ( NICHT ) TUN ? B ARTLEBY UND DIE O CCUPY W ALL S TREET B EWEGUNG ODER POSTMODERNER W IDERSTAND Vielleicht gibt es doch noch eine radikale Alternative zur bestehenden Ordnung der Dinge und vielleicht stellt die in Deutschland von höchster Stelle belächelte Occupy Wall Street Bewegung eine ihrer ersten Manifestationen dar. Auf den vor allem von der traditionellen Linken erhobenen Vorwurf, die Occupy Wall Street Bewegung dürfe sich nicht aufs bloße Neinsagen beschränken, sondern müsse konkrete Forderungen und konkrete Alternativen ausarbeiten, hat Slavoj Žižek in einer Rede an die New Yorker Demonstranten geantwortet: »Man sollte in dieser Phase der Versuchung widerstehen, die Energie der Proteste auf die Schnelle in eine Reihe ›konkreter‹ Forderungen zu übersetzen. Ja, die Proteste haben ein Vakuum geschaffen – ein Vakuum im Feld der vorherrschenden Ideologie. Man braucht Zeit, um dieses Vakuum in angemessener Weise zu füllen, denn es ist ein bedeutungsschwangeres Vakuum, es eröffnet wahrhaft Neues […]. Es braucht Zeit, die neuen Inhalte in Stellung zu bringen. Alles, was wir jetzt sagen, kann uns weggenommen werden – alles,

19 A. Gehlen: Über kulturelle Kristallisation, S. 141.

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nur nicht unser Schweigen. Dieses Schweigen, diese Verweigerung des Dialogs […] ist unser ›Terror‹ – bedrohlich und gefährlich, ganz so, wie es sein muss.«20

In einer Zeit, in der die Herrschaft über das Individuum immer mehr die Form internalisierter Normierung annimmt, gesellschaftlicher Zwang als Regierung des Selbst auftritt, und Abhängigkeiten als selbstverantwortlich zu wählende Optionen erscheinen, plädiert Žižek für den Gestus der schlichten Verweigerung. Im Zeitalter des »unternehmerischen Selbst«21 sieht Žižek in der OccupyWallstreet Bewegung das Gegenmodell einer skeptischen Enthaltung von jeglicher Entscheidung. In einem System wie dem kapitalistischen, das sich jeden Widerstand einverleibt – seien es anarchistische Punkbands, die den Umsatz von Plattenfirmen in die Höhe treiben oder südamerikanische Revolutionäre, die zu Werbeträgern für Wassereis werden – plädiert Žižek für ein »terroristisches« Nichts-tun. Die Betonung liegt dabei auf dem »Tun«. Denn während die klassische antike Skepsis streng unterschied zwischen dem Bereich der Theorie, in dem man sich in Ermangelung zwingender Argumente jeglichen Urteils zu enthalten hatte, und dem Bereich der Praxis, in dem man den überkommenen Normen gemäß handeln sollte, da keine Gründe angeführt werden können, dies nicht zu tun, fordert Žižek die Enthaltung nicht mehr nur auf dem Gebiet theoretischer Überlegung, sondern auch im Reich der Praxis, wodurch das Nichtstun von einer theoretischen Urteilsenthaltung zu einer praktischen Handlung wird. Hatten die antiken Skeptiker die Enthaltung lediglich zum Prinzip der Theorie erhoben, fordert Žižek die Enthaltung auch zum Prinzip des Handelns zu machen.22 In Anlehnung an Nietzsche, der in seiner Machtontologie aufgezeigt hat, dass Macht, verstanden als Kraftverhältnis, nur als Gegenkraft gedacht werden kann, hatte bereits Michel Foucault darauf hingewiesen, dass Widerstand oft genug der Macht in die Hände spielt, weil Macht nur dort möglich ist, wo es Widerstand gibt: »Machtverhältnisse [...] können nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten,

20 Žižek, Slavoj: Lasst Euch nicht umarmen! In: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2011, S. 11. 21 Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. 22 Ich verdanke diesen Hinweis Alice Pechriggl.

92 | M ARTIN G. W EISS Einfallstoren spielen. [...] Die Widerstände [...] sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.«23

Wenn Foucault Recht hat und Widerstand letztlich der Erhaltung der Macht dient – insofern er im Erfolgsfall lediglich zur Ersetzung der alten Macht durch eine neue führt, und damit Politik als Machtpolitik perpetuiert, – könnte die Enthaltung vielleicht wirklich eine Form von Widerstand darstellen, die eine radikale Alternative zum Modell von Herrschaft und Widerstand, Macht und Gegenmacht darstellt. Der vor allem durch seine Thesen zur Biopolitik bekannt gewordene italienische Philosoph Giorgio Agamben sieht in der Möglichkeit der Enthaltung gar das Proprium des Menschen, d.h. die den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnende wesentliche Fähigkeit. Für Agamben ist der Mensch primär Möglichkeitswesen, also ein Wesen, dessen Lebensvollzug darin besteht frei zu sein, d.h. Möglichkeiten ergreifen oder verwerfen zu können. Worauf Agamben unter Berufung auf Aristoteles hinweist ist, dass zur Potenz etwas zu tun (oder zu sein) gleichzeitig immer auch die Potenz nicht zu tun (oder nicht zu sein) gehört, will man Potenz als Potenz, d.h. Möglichkeit als Möglichkeit denken: »Was […] [Aristoteles] im Buch Theta der Metaphysik zu denken versucht, ist mit anderen Worten nicht die Potenz als reine Möglichkeit, sondern es sind die effektiven Modi ihrer Existenz. Deswegen – d.h., weil sie sich nicht jedesmal unmittelbar in der Handlung verflüchtigt, sondern einen eigenen Bestand hat – muß die Potenz auch nicht zum Akt übergehen können; sie muss konstitutiv auch Potenz nicht zu (tun oder sein) sein […].«24

Die genuin menschliche Potenz, sich zu enthalten, untätig zu sein, die Potenz, eine Möglichkeit nicht in den Akt zu überführen, die Möglichkeit, eine Möglichkeit nicht zu verwirklichen, ist es, was es zu erhalten gilt, soll der Mensch frei und d.h. wahrhaft Mensch bleiben. Denn wenn der Mensch alles tun müsste, was er tun kann, wenn jede Möglichkeit in Wirklichkeit überführt werden müsste, gäbe es keine Freiheit, denn diese besteht ja gerade darin, dass man das, was man tun könnte, auch nicht tun kann.

23 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M.:. Suhrkamp 1983, S. 117. 24 Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt a.M.:. Suhrkamp 2002, S. 55.

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Agamben äußert diesen Gedanken nicht nur in seinem Buch Das Offen, der Mensch und das Tier, wo er die »Untätigkeit« und das Nichtstun »als höchste […] Form des Lebens« definiert, sondern vor allem im Nachwort zu seiner Schrift Die kommende Gemeinschaft, wo es in Anspielung auf jüdische theologische Spekulationen heißt: »Am Sabbat soll man sich […] jeglicher produktiven Arbeit enthalten. […] Eine rein destruktive Tätigkeit jedoch, eine Tätigkeit rein destruktiven oder unschöpferischen Charakters käme […] der sabbatischen Muße [gleich] und wäre daher nicht verboten. Nicht die Arbeit, sondern die Untätigkeit und die Ent-schaffung stellen das Paradigma der kommenden Politik dar […]. Die Erlösung […], um die es in diesem Buch geht, ist kein Werk, sondern eine bestimmte Art der sabbatischen Leere. […] Deshalb geht es in diesem Buch nicht um die Frage ›was tun?‹, sondern um die Frage ›wie es tun?‹. […] Untätigkeit bedeutet nicht Trägheit, sondern […] eine Operation, in der das Wie das Was vollständig ersetzt […].«25

Agamben greift hier einen Gedanken Adornos auf, der an einer der wenigen Stellen, wo er sich konkreter zur Gestalt der utopischen gerechten Gesellschaft äußert, von der aus er die bestehenden Verhältnisse kritisiert, ebenfalls das Ende der Produktivität als den wesentlichsten Zug der (kommenden) gerechten Gesellschaft bezeichnet und deren größten Unterschied zum herrschenden Kapitalismus als ein kaum merkliches Anderssein, ein unscheinbares anderes Wie-sein der Tätigkeit, beschreibt: »Dem Kinde, das aus den Ferien kommt, liegt die Wohnung neu, frisch, festlich da. Aber nichts hat sich geändert, seit es sie verließ. Nur daß die Pflicht vergessen ward, […] stellt ihren sabbatischen Frieden wieder her. […] Nicht anders wird einmal die Welt, unverändert fast, im stetigen Licht ihres Feiertages erscheinen, wenn sie nicht mehr unterm Gesetz der Arbeit steht, und dem Heimkehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in den Ferien.«26

Beide, Agamben und Adorno, identifizieren die Erlösung von Entfremdung und Herrschaft also nicht mit einer völligen Einstellung jeglicher Produktivität und jeglichen Tuns – was auch gar nicht möglich ist, wenn Hegel und Marx in ihrer Deutung der produktiven Arbeit als Wesen des Menschen Recht haben –, son-

25 Agamben, Giorgio: La communità che viene. Torino: Bollati Boringhieri 2001, S. 92. 26 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Gesammelte Schriften Bd. 4. Darmstadt: WBG 1998, §72.

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dern mit einer Veränderung der Bedeutung von Arbeit, die in der gerechten Gesellschaft nicht mehr als Zwang zur Produktionssteigerung, also letztlich als entfremdende Arbeit, sondern als (selbst)verwirklichendes »Spiel« vollzogen wird. In seiner Schrift Bartleby oder die Kontingenz definiert Agamben die reine Potenz, also die Möglichkeit, die verwirklicht oder nichtverwirklicht werden kann, als Unbestimmbarkeit »zwischen der Potenz zu sein (oder zu tun) und der Potenz nicht zu sein (oder zu tun).«27 Als Illustration für diesen Schwebezustand zieht Agamben den bekannten Ausspruch des Melvilleschen Schreibers Bartleby heran: »I would prefer not to«; »Ich möchte lieber nicht«. Dieser Satz ist nicht nur die Formel, mit der sich Melvilles Bartleby, der Angestellte einer New Yorker Rechtsanwaltskanzlei in der Wall Street, jeglicher Tätigkeit und Untätigkeit entzieht, sondern mittlerweile auch einer der Slogans der Occupy-Aktivisten. Tatsächlich kann man in diesem Satz die Formel eines post-utopischen Widerstands jenseits des machtpolitischen Karussells von Herrschaft und Knechtschaft sehen, in dem die Positionen von Herr und Knecht zwar gewechselt werden können, Herrschaft als solche aber unangetastet bleibt, denn »Bartleby stimmt zwar nicht zu, aber er verweigert auch nicht einfach, und nichts liegt ihm ferner als das heldenhafte Pathos der Verneinung«28, wie Agamben betont. Martin Heidegger hat diese Einstellung, die er vor allem gegenüber der Technik einfordert, terminologisch als »Gelassenheit« gefasst und als »Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein«29 beschrieben. Mit dem Ausdruck »Gelassenheit«, »abbandono« bezeichnet Agamben dann auch den utopischen Zustand sabbatischer Erlösung, den er anhand eines Tiziangemäldes aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien näher erläutert, auf dem ein Schäfer und eine Nymphe in postcoitaler (tierischer) Gelassenheit dargestellt sind. Auch hier lehnt sich Agamben offenbar an Adorno an, der den Zustand der Erlösung – in der sich der Mensch des Tuns zu enthalten und wie ein Tier30 »friedlich in den Himmel [zu] schauen« vermag –, wie folgt beschreibt: »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenutzt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften,

27 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz. Berlin: Merve 1998, S. 37. 28 Ebd., S. 38. 29 Heidegger, Martin: Gelassenheit. Stuttgart: Clett-Kotta 2008, S. 23. 30 Zur Bedeutung der tierischen »Gelassenheit«, bzw. »Benommenheit« bei Agamben vgl. Weiss, Martin G.: Das Maß aller Dinge! Wider die Vertierung des Menschen. In: Der blaue Reiter 34 (2013), S. 20-26.

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Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzieren. […] Rien faire comme un bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllung treten […].«31

In Vom naturalistischen Fehlschluss zur Ethik der Endlichkeit spricht auch Vattimo von der Notwendigkeit des »Schritts zurück«, worunter er die »Distanzierung von den uns in einer konkreten Situation entgegentretenden Optionen« versteht. Was Vattimo fordert, ist eine genuin Bartlebysche Urteilsenthaltung: »Wenn die Rede vom ›Schritt zurück‹ Sinn macht, dann nicht deshalb, weil es möglich oder geboten wäre, eine ›universelle‹ Perspektive außerhalb des Systems einzunehmen, sondern lediglich deshalb, weil die Situation selbst, wenn man sie ohne metaphysische Scheuklappen betrachtet (d.h. wenn man sich die Mühe macht, ihre Offenheit und Vielschichtigkeit ernst zu nehmen), nach einer Distanznahme von den Alternativen, die sie unmittelbar anzubieten scheint, verlangt.«32

Doch Vattimo betont, man dürfe »›den Schritt zurück‹ [nicht] als einfache Enthaltung […] begreifen«, da eine solche bloße Enthaltung Gefahr laufe in einer »Apologie des Bestehenden« zu enden. Tatsächlich scheint diese Kritik zumindest in Bezug auf Agambens Konzept der »Un-Tätigkeit« durchaus berechtigt, da die kontemplative Haltung, die es intendiert, keinen Raum für Entscheidungen oder Taten lässt. Vattimo hingegen weiß um die Notwendigkeit der Entscheidung, die vollzogen werden muss, »als ob« das Ende des Glaubens an die Begründbarkeit einer Alternative nicht jegliche (begründete) Entscheidung zu Gunsten einer bestimmten Alternative unmöglich gemacht hätte. Während Agamben unter Berufung auf die messianische Tradition des Judentums die Alternative in einem Verbleiben in der Enthaltung sieht, sehen Vattimo und Žižek in der Enthaltung nur ein Moment der Verzögerung, ein Innehalten vor der dann doch irgendwann notwendigen Entscheidung über die Zukunft. Žižek spricht von der Enthaltung als von einem ideologischen Vakuum zwischen dem Protest (der in bloßer Anwesenheit/Besetzung besteht) und den zukünftigen Forderungen.

31 T.W. Adorno.: Minima Moralia, §100. 32 Vattimo, Gianni: Vom naturalistischen Fehlschluss zur Ethik der Endlichkeit. In: Bios und Zoe. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. von Martin G. Weiss. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 179-191, hier S. 185.

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Und auch Vattimos Schritt zurück ist kein Erstarren in Untätigkeit, sondern eher ein Anlaufnehmen, ein Zeitgewinnen. Wenn die Enthaltung, die Žižek und Vattimo predigen, aber dann doch wieder in konkrete Forderungen mündet – wenn auch nach längerer untätiger Bedenkzeit –, worin liegt dann der Unterschied zwischen der zunächst zurückgehaltenen Forderung nach einer anderen Welt und der konkreten Forderung nach anderen Verhältnissen, die die klassische Politik der Utopie vertrat? Der Unterschied liegt im Wie des Zustandekommens der Forderungen. Während die Politik der Utopie davon ausging, das notwendige, allein gerechtfertigte Ende der Geschichte zu kennen und daraus ableitete, diesem zukünftigen Ziel die Gegenwart opfern zu dürfen, handelt der post-utopische Widerstand von einer Position der Schwäche aus. Denn wenn wir nicht mehr mit absoluter Gewissheit sagen können, was das Ziel der Geschichte ist, dann heißt das, dass jede unserer Forderungen nach einer anderen Welt sich auch als falsch herausstellen könnte. Das post-utopische, postmoderne Wissen um die Unwissbarkeit des Zieles der Geschichte nötigt uns zu äußerster Vorsicht und dazu, darauf zu achten, dass unsere Entscheidungen stets revidierbar bleiben. Die absolute Wahrheit der Utopie ist zur menschlicheren Wahrscheinlichkeit der revidierbaren Möglichkeit geworden. Kurz: Die post-utopische, postmoderne Weltanschauung ist eine Weltanschauung der revidierbaren Entschlüsse, d.h. der politischen Nachhaltigkeit. Worum es geht, ist den Spielraum der Möglichkeit, zu der immer auch ihre mögliche Nichtverwirklichung gehört, offen zu halten. Worum es der postmodernen, post-utopischen Politik, die nicht mehr glaubt, das Ziel der Geschichte zu kennen, gehen muss, ist zu gewährleisten, dass erhalten bleibt, was den Menschen als Menschen ausmacht, d.h. seine Freiheit, die immer Freiheit zu und Freiheit nicht zu ist. Wie aber ist diese reine Freiheit, d.h. die Möglichkeit als Möglichkeit vor jeder Verwirklichung denkbar? Wie soll man die Möglichkeit als Möglichkeit, also von sich selbst her und nicht von ihrer möglichen Verwirklichung (oder Nicht-Verwirklichung) her denken? Vielleicht als bloße Anwesenheit: Als die bloße Anwesenheit Bartlebys oder die bloße Anwesenheit der Occupy-Aktivisten, vor bzw. jenseits jeder konkreten Forderung. In diesem Sinne bliebe jeder Widerstand zwecklos.

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L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Gesammelte Schriften Bd. 4, Darmstadt: WBG 1998. Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz, Berlin: Merve 1998. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Agamben, Giorgio: La communità che viene, Torino: Bollati Boringhieri 2001. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Gehlen, Arnold: Über kulturelle Kristallisation. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Berlin: Akademie 1994, S. 133-144. Heidegger Martin: Gelassenheit, Stuttgart: Klett-Cotta 2008. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Sloterdijk, Peter: Nach der Geschichte. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin: Akademie 1994, S. 262-275. Vattimo, Gianni: Che gran fatica uscire dal moderno. In: La Stampa, 8. Mai 1993, Beilage Tuttolibri. Vattimo, Gianni: Das Ende der Moderne, Stuttgart: Reclam 1990. Vattimo, Gianni: Vom naturalistischen Fehlschluss zur Ethik der Endlichkeit. In: Bios und Zoe. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. von Martin G. Weiss. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 179-191. Weiss, Martin G.: Das Maß aller Dinge! Wider die Vertierung des Menschen. In: Der blaue Reiter 34 (2013), S. 20-26. Žižek, Slavoj: Lasst Euch nicht umarmen! In: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2011, S. 11. Žižek, Slavoj: The year of dreaming dangerously, London/New York: Verso 2012.

Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen S ABINE H ARK We die. That may be the meaning of life. But we do language. That may be the measure of our lives. TONI MORRISON 1

V ERSUCHSANORDNUNG Es ist ein eigentümlicher Text, den Franz Kafka in seinen Zürauer Heften im Herbst 1917 notiert,2 – eine Zeit, die dieser gegenüber Max Brod als die Zeit beschreibt, in der er das, was er zu tun habe, »nur allein« tun könne: »Über die letzten Dinge klar werden«3. Das gerade einmal 56 Zeilen lange, titellose Prosastück – Kafkas Version des 12. Gesangs aus Homers Odyssee4, in dem Odysseus von seiner gefahrvollen Begegnung mit den Sirenen berichtet – findet sich zwi-

1

Toni Morrison: Rede zur Verleihung des Nobelpreis für Literatur, 7. Dezember 1993 http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1993/morrisonlecture.html. Zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2013.

2

Notiert im ›Oktavheft G‹ (18. Oktober 1917 – Ende Januar 1918), in: Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 40-42. Im Folgenden zitiert als F. Kafka: Beweis.

3

Zitiert nach Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 252.

4

http://www.digbib.org/Homer_8JHvChr/De_Odyssee?k=Zw%F6lfter+Gesang. Zuletzt aufgerufen am 02. Dezember 2013.

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schen den erratisch anmutenden Eintragungen »früh im Bett«5 und »Nachmittag vor dem Begräbnis einer im Brunnen ertrunkenen Epileptischen«6. Kafka ist es dabei nicht um eine traditionskonforme Wiedergabe des Mythos zu tun, im Gegenteil. Nicht nur macht er den Mythos zum Material seiner eigenen Zwecke, revidiert er mehrfach die Narration, verschiebt die Erzählung vom Indikativ in den Konjunktiv, vielmehr stellt er darüber hinaus, und das gleichsam en passant, auch den Wahrheitswert der Ich-Erzählung des Homerschen Odysseus in Frage. Für diesen hegt Kafka ohnehin wenig Sympathie. Als Verkörperung souveränen Tuns taugt er jedenfalls nach der Lektüre dieser 56 Zeilen nicht mehr. Walter Benjamin interpretierte Kafkas »Märchen für Dialektiker«7 vor diesem Hintergrund denn auch als einen Text, der radikal mit dem Mythos bricht. Für Bertolt Brecht stellt er eine »Berichtigung«8 des Sirenenmythos dar, Bettine Menke9 spricht von Lektüre, von dessen Auslegung, Winfried Menninghaus davon, dass Kafka »Klartext«10 spricht und Alexander Honold11 von einer Korrektur am Mythos. Am präzisesten hat ihn allerdings der Kafka-Biograph Reiner Stach charakterisiert. Stach spricht von »Versuchsanordnung«12 beziehungsweise, in einer selbstreferentiellen Wendung, von »aus Bildern gewonnenen, zu Bildern geronnenen Denkbewegungen«13. Eine Versuchsanordnung also. Kafka führt den Text im ersten, titel-analogen Satz als ›Beweisführung‹ ein: »Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindi-

5

F. Kafka: Beweis, S. 40.

6

Ebd., S. 42.

7

Benjamin, Walter: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band II.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 409-438, hier: S. 415.

8

Brecht, Bertolt: Odysseus und die Sirenen, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 11,

9

Menke, Bettine: Das Schweigen der Sirenen. Die Rhetorik und das Schweigen. In:

Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 207. Liebrand, Claudia (Hg.): Franz Kafka. Neue Wege in der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 116-130, hier S. 117. 10 Menninghaus, Winfried: Kafkas Klartext, in: Vöhler, Martin / Seidensticker, Bernd (Hg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin/New York 2005, S. 297-316. 11 Honold, Alexander: Odysseus in korrigierter Haltung. Entstellungen des Mythos bei Kafka, Brecht, Benjamin und Adorno/Horkheimer, in: M. Vöhler/B. Seidensticker (Hg.): Mythenkorrekturen, S. 317-329. 12 Stach: Kafka, S. 252. 13 Ebd.

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sche Mittel zur Rettung dienen können«.14 Er folgt damit, indem er, wie Honold ausführt, »die Szene vollständig aus ihrem Kontext und ihrer logisch-kausalen Einbettung in den Gang der Handlung«15 herausschält, eher dem »Ethos naturwissenschaftlichen Experimentalverhaltens«16 als der narrativen Struktur des Mythos. Und tatsächlich erzählt Kafka uns streng genommen auch keine Geschichte, er experimentiert mit verschiedenen Anordnungen und führt einen Beweis: eben den, dass ›auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen‹. Kafka reduziert den Mythos dadurch auf den Status eines Exempels für s/eine These und lässt – anders als in Homers Epos, in dem Odysseus selbst erzählt –, hier eine auktoriale, scheinbar über dem Geschehen schwebende und dieses nicht nur in Gänze überschauende, sondern auch kommentierende und bewertende Erzähler_in berichten. Dabei scheinen die textuellen Bewegungen freilich einer logischen Beweisführung zumindest vordergründig zu widersprechen. Satz für Satz, Absatz für Absatz wendet Kafka die Perspektive, wechselt die Blickrichtung, wägt ab, changiert zwischen Behauptung und Mutmaßung, lässt in der Schwebe, schlägt Finten, täuscht, suspendiert, suggeriert, es könnte so oder so gewesen sein, referiert konträre Überlieferungen, deren Status zudem ungeklärt bleibt, deutet das Geschehen aus dem off, um dieses schließlich am Ende gar als ohnehin von »Menschenverstand nicht mehr zu begreifenden Scheinvorgang«17 auszustellen.

E PISTEMISCHE G EWALT Während Kafka vordergründig die Rettung oder vielmehr die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Rettung (vor was?) zu umkreisen scheint, akzentuierte Max Brod mit seiner posthumen Titelgebung, »Das Schweigen der Sirenen«, das Schweigen und schickt die Leser_in damit auf eine andere Spur.18 Stachs Bilder der Versuchsanordnung und Denkbewegung aufgreifend, will ich dieser von Brod gelegten Spur folgen. Aus der zunächst vielleicht überraschend erscheinenden Perspektive feministischer, postkolonial informierter Theorie

14 F. Kafka: Beweis, S. 40. 15 A. Honold: Odysseus, S. 320. 16 Ebd. 17 F. Kafka: Beweis, S. 42. 18 Kafka, Franz: Das Schweigen der Sirenen, in: ders.: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hg. von Max Brod, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 58-59.

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nehme ich Kafkas literarische Experimentalanordnung zur Vermessung des Schweigens zum Anlass, über Schweigen, nicht als Gegenteil von, sondern gerade als Modus der Sprache und damit des Tuns und Lassens nachzudenken. Nun war Kafka keine feministische Denker_in. Aber vielleicht ja doch. Jedenfalls hoffe ich zeigen zu können, dass er, gleichsam avant la lettre, in diesem kurzen Prosastück eine Frage untersucht, die für die feministische wie für die postkoloniale Kritik gleichermaßen von existentieller Bedeutung ist. Nämlich die Frage, wie Schweigen in Sprache und in die Ordnung des Sagbaren eingelassen ist. Und vielleicht genauer noch: Kafkas Versuchsanordnung zielt auf die Untersuchung der Frage, wie die Ordnung des Sagbaren, das »Gitter der Lesbarkeit«19, nicht nur auf Schweigen aufruht, sondern im Modus der Sprache allererst hergestellt wird, Schweigen also konstitutiv für jene Ordnung ist. »Silence and speech are not only constitutive of but also modalities of one another« konstatiert auch Wendy Brown.20 Dabei kann die Fabrikation von Schweigen verschiedene Formen annehmen. Etwa die, dass die Artikulation nur bestimmter Sachverhalte ermöglicht wird, während andere aus der Sprache ausgeschlossen beziehungsweise nur in entstellter Weise in sie eingeschlossen werden. Die Herstellung von Schweigen im Modus der Sprache umfasst aber auch und vielleicht vor allem die Formen sprachlicher Adressierung, die wir erfahren, das heißt die Weisen, wie wir je unterschiedlich in Sprache und Sein hineingeholt werden. Weisen, die es den einen erlauben, »zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben«21, während die anderen im Bereich des Nichthörbaren, Nichtverstehbaren, der Nichtanerkennbarkeit und damit der Unlebbarkeit platziert werden. Auf diese Dimension von Schweigen, nämlich in entstellter Weise in Sprache eingeschlossen, auf gewaltvolle Weise adressiert zu werden und gerade dadurch unhörbar, un(an)erkennbar zu sein, hat Toni Morrison wiederholt hingewiesen. Als »schwarze Schriftstellerin«22, schreibt Morrison, kämpfe sie daher

19 Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 73. 20 Brown, Wendy: Freedom’s Silences, in: dies.: Edgework. Critical Essays on Knowledge and Power, Princeton: Princeton University Press 2005, S. 83-97, hier S. 83. 21 J. Butler: Geschlechternormen, S. 20. 22 Morrison, Toni: Im Dunkeln spielen. Weiße Kultur und literarische Imagination. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, S. 13.

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»mit einer und durch eine Sprache, die versteckte Anzeichen rassischer Überlegenheit, kultureller Hegemonie und abfälliges Ausgrenzen von Menschen und ihrer Sprache […] machtvoll beschwören und noch verstärken«23

könne. Es sei deshalb, fährt Morrison fort, erforderlich, »Wege zu finden, um die Sprache von ihrer manchmal unheimlichen, oft trägen und fast immer voraussagbaren Verwendung von rassisch geprägten und festgelegten Ketten zu befreien«24.

Aus feministischer Sicht geht es damit um zwei distinkte, gleichwohl aufs Engste miteinander verknüpfte Aspekte epistemischer Gewalt: Erstens die Tatsache, dass das Gehört-werden nicht-hegemonialer – beispielsweise feministischer – Inhalte »strukturell fragil ist«25. Das heißt, gehört zu werden, ist »ganz entscheidend von der in einer Gesellschaft vorherrschenden hegemonialen Wahrheitspolitik«26 abhängig. Denn diese ›Wahrheitspolitik‹, das, mit anderen Worten, Ensemble hegemonial gewordener Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsschemata, reguliert, welche Inhalte, das heißt welche feministischen Ansichten und Haltungen in der Öffentlichkeit als ›vernünftig‹, als ihrer Zeit ›angemessen‹ gelten können. Jene Wahrheitspolitik hat damit Teil an der Strukturierung des Möglichkeitsraums für Feminismus und feministische Kritik, insofern sie organisiert, welcher Feminismus innerhalb der Grenzen ›unserer‹ Gemeinschaften tolerierbar ist und welcher nicht und wie wir über dessen Zukunft nachdenken und über seine Vergangenheit sprechen können. Insofern in und durch jenes Ensemble hegemonial gewordener Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsschemata aber auch die Regeln des Gehört-Werdens organisiert werden, geht es darüber hinaus um die Frage, welche »Anforderungen an politische und gesellschaftliche Hörbarkeit«27 erfüllt sein müssen, um Gehör zu finden. Anders herum gesagt: Wie müssten die Regeln des Sagbaren

23 T. Morrison: Im Dunkeln spielen, S. 13. 24 Ebd., S. 14. 25 Maihofer, Andrea: Virginia Woolf – Zur Prekarität feministischer Kritik, in: Hünersdorf, Bettina/Hartmann, Jutta (Hg.): Was ist und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit? Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 281-301, hier: S. 292. Siehe hierzu auch Hark, Sabine: Feministische Theorie heute: Die Kunst, ›nein‹ zu sagen, in: Feministische Studien 1_2013, S. 65-71. 26 A. Maihofer: Virginia Woolf, S. 283. 27 Ebd., S. 292.

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verändert werden, damit marginalisierte, subalterne Stimmen gehört werden können? Und damit ist zweitens »die enge Verbindung zwischen dem Status der Subalternität und dem Schweigen«28 angesprochen, die Gayatri Chakravorty Spivak in die Frage gekleidet hat, ob sich aus den »auf groteske Weise falsch transkribierten Namen«29 je eine »Stimme zusammensetzen«30 lässt. Spivak macht hier auf einen wichtigen Aspekt aufmerksam: Die Subalterne wird nicht deshalb nicht gehört, weil sie schweigt. Im Gegenteil: Sie führt eine Rede. Doch diese Rede kann nicht gehört werden, weil sie nicht unter eigenem beziehungsweise nur unter verzerrtem Namen geführt werden kann, weil die Stimme der Subalternen diffus und ausgefranst ist, weil sie verkürzt und verballhornt wurde, weil sie außerhalb des hegemonialen logos und ohne auctoritas31 ist.

S OUVERÄNE S UBJEKTE Kehren wir an genau dieser Stelle zu Kafkas Experimentalsystem zurück. Noch vor dem Schweigen geht es Kafka zunächst um den Gesang der Sirenen und die Frage, wie sich vor diesem zu schützen wäre. Bevor uns freilich die Mittel, die Odysseus zur Rettung wählt, zur Kenntnis gebracht wurden, hat die scheinbar allwissende Erzähler_in diese bereits als zugleich unzulängliche – kindische – und doch zweckdienliche, eben rettende Mittel kommentiert. Odysseus, so wird berichtet, verschließt die eigenen Ohren mit Wachs und lässt sich am Mast festschmieden – und dies obwohl, fährt Kafka unvermittelt und diesen ersten Satz deutlich relativierend fort, »in der ganzen Welt (und somit auch Odysseus) bekannt war, daß das unmöglich helfen könnte«32. Denn zum einen durchdränge der Gesang der Sirenen alles, zum anderen hätte »die Leidenschaft der Verführ-

28 Steyerl, Hito: Die Gegenwart der Subalternen. Einleitung, in: Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia + Kant 2008, S. 7-16, hier S. 12. 29 Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 81. 30 Ebd. 31 Zur Frage der auctoritas siehe besonders Hassauer, Friederike: Die Matrix des Wissens. Autorität und Geschlecht, in: Freiburger Frauenstudien 12 (2002), S. 49-77 sowie dies.: Festrede: Die schlauen Frauen. Dignitas. Veritas. Nobilitas. Wie geschlechtsreif ist die Wissenschaft? Feministische Studien 2_2009, S. 7-21. 32 F. Kafka: Beweis, S. 40. In Homers Odyssee werden den Ruderern die Ohren mit Wachs verstopft, während Odysseus, der den Sirenengesang hören möchte, am Mast lediglich angebunden wird.

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ten mehr als Ketten und Mast gesprengt«33. Kindische Mittel wie Wachs und Anketten – die sich zudem ja gegenseitig kommentieren, sich letztlich wechselseitig dementieren – helfen mithin vielleicht gegen den Gesang der Sirenen, gegen die ›Leidenschaft der Verführten‹, die vielleicht durch den Gesang stimuliert wurde, lässt Kafka uns wissen, helfen sie gewiss nicht. Hat Odysseus also gesiegt? Den Gesang überhört, nicht nur die Sirenen, sondern auch seine Leidenschaft bezwungen? Oder ist dieser paradigmatische Held der westlichen Zivilisation, der Prototyp moderner männlicher Subjektivität, die Verkörperung von autark gedachter Souveränität schlechthin, schlicht (zu) überheblich, wenn er glaubt, die Sirenen mit solch einfacher List, mit »Mittelchen«, wie Kafka schreibt, überwinden zu können? Am Ende des ersten Absatzes von Kafkas Parabel weiß die Leser_in nicht, was mit Odysseus geschehen ist. Nahe gelegt wird beides: Dass er untergegangen ist, wie, dass die ›kindischen Mittel‹ ihn errettet haben – weil er schlicht, wider besseres Wissen, schließlich war doch in der ganzen Welt bekannt, dass dies unmöglich helfen könnte, an sie glaubte. Denkbar aber ist auch, dass er seiner eigenen Hybris auf den Leim ging, er seine Handlungsmacht gerade deshalb einbüßt – er verschließt seine Ohren und lässt sich fest an einen Mast schmieden –, weil er verkennt, dass diese erst durch unsere sprachliche Konstituierung entsteht, also dadurch, dass wir adressiert werden – und sei es in gewaltvoller, entstellter Weise. Das aber würde bedeuten, dass wir zu Handelnden gerade erst dort werden, wo (autark gedachte) Souveränität schwindet, wo wir an/erkennen, dass wir, wie Judith Butler schreibt, »von Anfang an soziale Wesen und von dem abhängig sind, was außerhalb unserer selbst liegt, von anderen, von Institutionen und von abgesicherten und sichernden Umwelten«34. Wie Butler wiederholt gezeigt hat, bedürfen wir daher dringend der Anrede, um zu sein, auch wenn die Sprache uns in subordinierte oder subalterne Positionen ruft, sie uns in eine Geschichtlichkeit hineinholt, die »diejenige des sprechenden Subjekts übersteigt«35. Denn insofern »das Subjekt durch die Anrede ins Sein kommt«, fährt Butler fort, »läßt es sich dann unabhängig von seiner oder ihrer sprachlichen Haltung vorstellen? Ein solches Subjekt wäre in der Tat unvorstellbar, oder die Subjekte wären nicht, was sie sind, abgelöst von der konstitutiven Möglichkeit, andere anzusprechen oder von anderen ange-

33 F. Kafka: Beweis, S. 40. 34 Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 29. 35 Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik der Performativen. Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 46.

106 | S ABINE H ARK sprochen zu werden. Wenn diese Subjekte ohne die sprachliche Haltung zueinander nicht sein könnten, wer sie sind, dann ist diese Haltung hierfür offenbar wesentlich oder etwas, ohne das man nicht sagen könnte, daß die Subjekte existieren. Ihre sprachliche Haltung zueinander, ihre sprachliche Verletzbarkeit durch einander, tritt nicht einfach zu ihren sozialen Beziehungen zueinander hinzu. Vielmehr ist sie eine der ursprünglichen Formen, die diese sozialen Beziehungen annehmen.«36

Butler weist hier auf die Prekarität hin, die jeder Subjektwerdung innewohnt. Es ist die Prekarität, die aus der intimen Verbindung zwischen Subjektivität und Subjektion resultiert: Wir werden durch sprachliche Adressierung ins Leben geholt, es ist die Bedingung der Möglichkeit von agency. Angesprochen zu werden bedeutet aber auch, dass wir immer schon in der Hand der anderen, dass wir verletzbar sind. Verletzbarkeit, so Butler, ist eine der ursprünglichen Formen, die soziale Beziehungen annehmen. Denn Gefährdung sei »nicht einfach als Merkmal dieses oder jenes Lebens zu begreifen; sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird«.37

Ist es das, worauf Odysseus verzichtet, weil er es vorzieht, nicht hören zu wollen?

D AS S CHWEIGEN

DER

S IRENEN

Schweigen also. Der Gesang war nur das Vorspiel. Das Experiment ist noch nicht zu Ende. Denn die Sirenen, fährt Kafka fort, haben »eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen«38. Vor dem Gesang, schreibt er, sei es, wenn auch nicht geschehen, so doch immerhin denkbar, »daß sich jemand vor ihm gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht«39. Kafka schont Odysseus also nicht. Dieser täuscht sich, so scheint Kafka hier zu sagen, über seine eigene Kraft sowie darüber, dass sein Handeln, einmal in das Kraftfeld der Sirenen eingetaucht, immer bedingt sein wird durch deren Handeln. Odysseus aber wähnt sich unabhängig. Der aus »dem Gefühl aus eigener Kraft

36 J. Butler: Haß spricht, S. 49f. 37 J. Butler: Raster, S. 29. 38 F. Kafka: Beweis, S. 40. 39 Ebd.

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sie besiegt zu haben«40 resultierenden »fortreißenden Überhebung«41, fährt Kafka fort, kann Odysseus nicht widerstehen. Wir als Leser_innen glauben indes, zumindest vorläufig, es ohnehin besser zu wissen: Odysseus schützt sich vor etwas, was gar nicht stattfand. Die List hat die Seiten gewechselt. Nicht Odysseus ist in Kafkas Version des Sirenenmythos der Listige, die Sirenen sind es. Denn, so macht Kafka uns nun glauben, »tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen Sängerinnen nicht«42. Doch auch die Entspannung dieser Auflösung gönnt Kafka der Leser_in nicht. Ob die Sirenen tatsächlich willentlich schwiegen, also ihre »noch schrecklichere Waffe«43 einsetzten, oder sie ob Odysseus’ Anblick das Singen schlicht vergaßen, lässt er erneut im Ungefähren. Er bietet uns vielmehr beides als gleichermaßen gültige Hypothesen an: »sei es dass sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es dass der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ«.44

Freilich bekümmert Kafka auch die Antwort auf diese Frage nicht, abermals wendet er sich Odysseus zu. Dieser nämlich »hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen und nur er sei behütet es zu hören«45. Auch diese Aussage kleidet Kafka in eine hypothetische Form: »um es so auszudrücken«46. Ob Odysseus also etwas hörte oder er tatsächlich davor behütet war, etwas zu hören, ist unentscheidbar. Aber gäbe es überhaupt etwas zu hören? Wogegen schützt die »Handvoll Wachs«47? Gegen den Gesang oder gegen das Schweigen? Gegen das Hören oder das Nicht-hören-wollen? Gegen das Wissen-können oder das Begehren, nicht wissen zu wollen? Und was hört Odysseus (nicht)? Den Gesang? Das Schweigen? Und was hätte er hören können, hätte er das Schweigen gehört? Wen täuscht Odysseus? Die Sirenen? Sich selbst? Wen überlisten die Sirenen? Uns? Odysseus? Und ist ihr Schweigen listig? Subversiv? Die Sirenen jedenfalls

40 F. Kafka: Beweis, S. 40. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 41. 45 Ebd. Hervorhebung sh. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 40.

108 | S ABINE H ARK »[…] wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewusstsein, sie wären damals vernichtet worden, so blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.«48

Aber wenn Odysseus nichts hört, so ist doch unentscheidbar, ob er den machtvollen Gesang nicht hört oder das Schweigen, das Ausbleiben des Gesanges. Das Wachs schützt dagegen, dass das Schweigen gehört werden muss; die verstopften Ohren machen es ebenso unmöglich, den Gesang wie das dass des Schweigens zu hören. Die Nicht-Hörende kann nicht entscheiden, ob sie nicht hört, dass etwas gesungen wird oder dass nicht gesungen wird. Und unentscheidbar bleibt zunächst auch, ob das Schweigen einfach ›nichts-zu-hören‹ oder das Ausbleiben oder Verstummtsein eines Gesangs ist. Das Schweigen aber, dem Odysseus entkommen will, dem er entkommt, nicht, weil er es nicht hört, sondern weil er nicht weiß, dass er es hätte hören können, ist mehr als dass einfach nichts zu hören ist. Und die Sirenen? Kafka schildert sie uns, obgleich »gewaltige Sängerinnen«49 und »schöner als jemals«50, als subalterne Figuren. Es sind »schaurige«51, gepeinigte Kreaturen, sie sind ohne klare Gestalt und Bewusstsein, ohne gemeinsame Sprache und Repräsentation und bleiben damit letztlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Sie sind nicht intelligibel insofern sie außerhalb der historischen Schemata situiert sind, die das »Erkennbare als solches konstituieren«.52 Auch Odysseus wusste, »gerade als er ihnen am nächsten war, … nichts mehr von ihnen«53. Kafkas Sirenen haben »weder Heimat noch Gesetz«54 und »auch kein Wort«55; sie werden »gleichzeitig gejagt, verleugnet und zum Schweigen gebracht«56. Dass sie es sind, die schweigen, scheint vordergründig

48 F. Kafka: Beweis, S. 41. 49 Ebd., S. 40. 50 Ebd., S. 41. 51 Ebd. 52 J. Butler: Raster, S. 14. 53 »Bald aber glitt alles an seinen [d.i. Odysseus‘] in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden ihm förmlich und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.« F. Kafka: Beweis, S. 41. 54 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 12. In diesen Worten beschreibt Foucault bekanntlich das Schicksal der Sexualität im Zeitalter des legitimen, sich fortpflanzenden Paares. 55 Ebd. 56 Ebd.

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unstrittig, gleichwohl ja auch Odysseus in Kafkas Versuchsanordnung nicht spricht. Dabei lässt Kafka, wie wir gesehen haben, die Antwort auf die Frage, ob sie überhaupt geschwiegen haben und vor allem welcher Art ihr Schweigen ist, entschieden im Ungefähren. Ob ihr Schweigen ein Name für ein Tun ist, das heißt ein Name für das, was wir tun und zugleich für das, was wir bewirken, wird nicht geklärt. Ebenso gut könnten wir es mit einem Nichttun, gar einem Lassen zu tun haben. Können wir das Schweigen der Sirenen daher tatsächlich, wie ich zuvor angedeutet habe, als das Schweigen der Subalternen im Sinne Spivaks verstehen? Ist es die Rede, die sehr wohl gehalten wird, die aber nicht gehört werden kann? Oder bezeichnet Schweigen hier einen Gegensatz zur Rede, statt, wie Bettine Menke argumentiert, eine »Sache der Sprache«57 zu sein, also in Sprache eingelassen, in ihr ver-, aber eben auch geborgen zu sein? Und schließlich wäre noch denkbar, dass Kafka hier die Macht des Schweigens – die Macht der Sirenen – verhandelt. Welcher Art aber wäre diese Macht? Ist sie gebieterisch? Verführerisch? Aufrührerisch? Verstörend? Bietet das Schweigen der Sirenen der Macht ein Obdach oder schützt es vor Macht? Odysseus scheint ihr jedenfalls entgangen zu sein; es gelingt ihm, nicht hören zu müssen. Spricht Kafka stattdessen von der Subversion des Schweigens? Von Schweigen als Subversion? Doch wer oder was würde subvertiert? Odysseus, der nichts hört, allerdings davon ausgeht, dass die Sirenen singen, da er das, was er sieht, nämlich Mimik und Gestik der Sirenen, als Zeichen ihres Gesangs deutet und deshalb nicht nur ihr Schweigen nicht hört, sondern die Sirenen selbst nicht einmal wahrnimmt? Oder die Sirenen, die nicht wissen können, ob Odysseus sie hört oder nicht und darüber vielleicht schlicht zu singen vergaßen? Es ist mithin unklar, ob das Schweigen die von Odysseus zur Rettung eingesetzten ›kindischen Mittel‹ desavouiert oder das Schweigen selbst die Rettung ist. Nicht nur Odysseus kommt davon, auch die Sirenen blieben – weil sie ohne Bewusstsein waren.

ARCHÄOLOGIE

DES

S CHWEIGENS

Was aber wäre das Mehr des Schweigens, das anderes ist, als dass einfach nichts zu hören ist? Was wird hier verschwiegen? Könnten wir als Leser_innen von und Leser_innen in Kafkas Text das Schweigen der Sirenen hören, wenn wir wollten? Es hörbar machen? Und was würden wir dann hören? Lesen wir Kafkas Parabel mit einer an Foucault und Butler, Morrison und Spivak geschärften Bril-

57 B. Menke: Schweigen, S. 117.

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le, so bietet sich folgende Lesart an: Das Schweigen der Sirenen, das Schweigen, das Kafka hier umkreist, ist nicht die Abwesenheit von Sprache, im Gegenteil. Das Schweigen der Sirenen ist in der Tat, wie Bettine Menke sagt, eine Sache in der Sprache. Schweigen ist in die Ordnung des Sagbaren eingelassen, ja mehr noch: Es fundiert, ermöglicht das, was sagbar ist. Schweigen, argumentiert Wendy Brown in anderem Zusammenhang, ankert in Sprache und Bedeutung wiederum ankert in Schweigen.58 Kafka geht es daher letztlich nicht um die Frage, wer mächtiger, listiger ist: Odysseus oder die Sirenen. Unerheblich ist auch, ob die Leser_innen auf der Erzählebene »wissen«, ob die Sirenen geschwiegen haben oder nicht, ob sie sangen oder nicht und ob Odysseus hörte oder nicht. Denn das Schweigen ist in jedem Fall anwesend. Und uninteressant ist letztlich auch, dass Kafka von Homers Bericht abweicht. Erinnern wir uns, dass Kafka ohnehin nichts erzählen wollte, sondern ein Experiment durchführt, in dem er immer wieder neue Anordnungen vornimmt. Indem in diesen Zeilen in letzter Instanz unentschieden bleibt, ob gesungen oder geschwiegen wurde, ob etwas gehört wurde oder nicht, ob Odysseus wusste, dass er etwas hätte hören können oder nicht, weist Kafka vielmehr auf etwas anderes hin: Markiert wird hier nicht die Grenze zwischen Sprechen und Schweigen, zwischen Gesang und Verstummtsein. Worum es ihm in seiner Versuchsanordnung zur ›Klärung der letzten Dinge‹ tatsächlich zu tun ist, ist, die Faktizität von Schweigen innerhalb der Sprache zu markieren – eine Faktizität, die mehr ist als dass vergessen wurde zu sprechen. Im Schweigen der Sirenen, mit anderen Worten, sucht Kafka eine abwesende Anwesenheit: das Schweigen, das in Sprache okkludiert und nicht jenseits von Sprache angesiedelt ist. Denn Schweigen ist eine Möglichkeit der Sprache, und zwar nicht im Sinne des Nicht-Gesagten, sondern im Sinne des NichtIntelligiblen, das, was aus der Ordnung des Vernünftigen zugleich ausgegrenzt und in ihr verborgen wurde. Kafka umkreist, anders gesagt, in seinem Experiment – und darin Michel Foucault insbesondere in seinen archäologischen Schriften nicht unähnlich – die Frage, wie etwas anzusprechen wäre, das zu einer unmöglichen Möglichkeit der Geschichte geworden, gleichwohl eine Möglichkeit gewesen ist. Was Kafka hier in dieser kurzen Parabel versucht, ist also ge-

58 »Speech harbors silences; silences harbor meaning. When silence is broken by speech, new silences are fabricated and enforced; when speech ends, the ensuing silence carries meaning that can only be metaphorized by speech, thus producing the conviction that silence speaks.« W. Brown: Freedoms’s Silences, S. 83.

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wissermaßen eine literarische »Archäologie dieses Schweigens«59, eine Archäologie, die darauf zielt, die aus der Ordnung der historischen Wirklichkeit, der Ordnung des Sagbaren, dem historischen Apriori ausgeschlossenen Sätze, jene Fülle der Äußerungen, die gar nicht Quelle hat werden können, freizulegen – allerdings im Wissen darum, dass diese niemals rehabilitiert werden können. Noch anders gesagt: Kafka will die Sprache für dasjenige Schweigen öffnen, das sie selbst herstellt und das sie zugleich ermöglicht. Zudem erprobt er mit seiner Experimentalanordnung verschiedene Möglichkeiten, ob überhaupt und wenn ja wie dies bewerkstelligt werden könnte. Ohne Bezug auf Kafka hat Foucault jenes Schweigen, wie es spricht und sprechen könnte, im Vorwort der Originalausgabe von Folie et Déraison (1961) folgendermaßen umschrieben: »Seitdem sie erstmals formuliert worden ist, bringt die historische Zeit etwas zum Schweigen, das wir im Weiteren nur mehr in den Kategorien des Leeren, des Vergeblichen und des Nichts aufgreifen können. Die Geschichte ist allein auf dem Grund einer Abwesenheit von Geschichte möglich, inmitten dieses großen Raumes murmelnder Stimmen, denen das Schweigen als Berufung und Wahrheit auflauert. … Die Fülle der Geschichte ist allein möglich in dem zugleich leeren und bevölkerten Raum all jener sprachlosen Worte, die dem, der ihnen ein Ohr leiht, einen dumpfen Lärm von unterhalb der Geschichte vernehmbar machen, das hartnäckige Gemurmel einer Sprache, die ganz allein sprechen würde – ohne sprechendes Subjekt und ohne einen Mitsprechenden, über sich selbst gebeugt, mit zugeschnürter Kehle, zusammenbrechend, bevor sie überhaupt zu einer Formulierung gelangt ist, und glanzlos ins Schweigen zurückkehrend, von dem sie sich niemals befreit hat. Ausgedörrte Wurzel des Sinns.«60

Hätte Odysseus dieses Schweigen, ›das glanzlose Gemurmel einer Sprache, die ganz allein sprechen würde‹, hören können? Und was wäre geschehen, hätte er es gehört?

59 Foucault, Michel: Vorwort, in: ders. Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Band I, 1954-1969. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 223-234, hier S. 225. Dieses Vorwort findet sich vollständig nur in der französischen Originalausgabe. 60 M. Foucault: Vorwort, S. 228f. Hervorhebung im Original.

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T UN UND L ASSEN – F EMINISTISCHE H ERAUSFORDERUNGEN Verlassen wir an dieser Stelle Kafkas Bericht. Wie Kafka den Sirenen-Mythos zum Material für seine Zwecke machte, habe auch ich seine Versuchsanordnung zur Vermessung des Schweigens für meine Zwecke benutzt. Und zwar, indem ich diese 56 Zeilen insbesondere in zwei Hinsichten gelesen habe: zum einen als machtkritische Archäologie des Schweigens, als es Kafka darum zu tun ist, die abwesende Anwesenheit von Schweigen innerhalb von Sprache aufzuspüren. Und zum anderen als Lehrstück über Formen epistemischer Gewalt, in dem Kafka die Herstellung von Schweigen im Modus der Sprache und damit die »enge Verbindung zwischen dem Status der Subalternität und dem Schweigen«61 zu begreifen sucht. Meine Argumentation lässt sich dergestalt zusammenfassen, dass Kafka in seiner Experimentalanordnung, in der er, wie ich zu verdeutlichen versucht habe, mit der Frage, wie das Schweigen der Sirenen gehört werden könnte, danach fragt, wie wir von ihnen wissen könnten, zwei Aspekte epistemischer Gewalt fokussiert: erstens die Abhängigkeit des Gehört-Werdens von den Anforderungen an Hörbarkeit und zweitens die Verbindung zwischen Subalternität und Schweigen. Kafka untersucht im Schweigen der Sirenen nichts weniger als den Zusammenhang von Macht, Wissen und Seinsweisen. Ich möchte nun abschließend die Herausforderungen umreißen, die sich daraus für das feministische Denken ergeben. Denn die Aufhellung dieses Zusammenhangs, die Befragung der Regime der Verständlichkeit daraufhin, wessen und welches Sein und Sprechen ermöglicht und wessen und welches Sein und Sprechen verunmöglicht wird, wer unter eigenem Namen sprechen und gehört werden kann, ist für feministisches Denken entscheidend, ist es doch Wissen, das die Grenzen bestimmt, innerhalb derer wir uns haben begreifen können und haben begreifen lassen, das bestimmt, was lebbar ist.62 Was zu tun ist, erschöpft sich daher nicht darin, jene epistemologischen Anordnungen, die verfügen, wer wahr sprechen kann, aufzuhellen, sondern auch Einspruch gegen sie zu erheben. Es gilt, in den Worten Foucaults, den Preis zu bestimmen, den ein Subjekt »für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat«63. Dieser Einspruch gegen epistemologische Anordnungen ist deshalb notwendig, weil

61 H. Steyerl: Gegenwart der Subalternen, S. 12. 62 Siehe hierzu auch Hark, Sabine: Was ist und wozu Kritik? Über Möglichkeiten und Grenzen feministischer Kritik heute, in: feministische studien 1_2009, S. 22-35. 63 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 32.

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sich, wie Butler wiederholt angemerkt hat, unsere epistemologischen Gewissheiten immer wieder als Unterstützung einer Strukturierungsweise der Welt herausstellen, die alternative Möglichkeiten des Ordnens – und damit alternative Weisen des Seins – un(an)erkennbar machen. Man fragt dabei, so Butler, allerdings gerade deshalb »nach den Grenzen von Erkenntnisweisen, weil man bereits innerhalb des epistemologischen Feldes in eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist, in dem man lebt«64. Denn die »Kategorien, mit denen das soziale Leben geregelt ist, bringen eine gewisse Inkohärenz oder ganze Bereiche des Unaussprechlichen hervor«65. Diese Inkohärenz der Kategorien ist freilich nicht einfach ausbeutbar; Sprechpositionen sind nicht, wie Spivak gezeigt hat, beliebig vermehrbar. Odysseus weiß nichts von den Sirenen. Die Rede der Subalternen wird zwar geführt, aber nicht gehört, vernehmbar allenfalls als jener ›dumpfe Lärm von unterhalb der Geschichte‹, wie Foucault sagt. Macht operiert zudem nicht nur durch die Regulierung des Sagbaren, sondern auch und gerade durch die Verknappung autorisierter Sprechpositionen. Zudem müssen sich auch emanzipatorische Projekte bewähren an der Aufgabe, den Mechanismen der Einschließung in die Kategorien und Verständnispraktiken moderner Macht zu widerstehen. Wie kann dann aber dissident gedacht werden, wenn auch im kritischen Denken Ordnung erzeugende Macht präsent ist, wenn Diskurse prinzipiell durch Praktiken des Ausschlusses organisiert sind, die Artikulation von Wahrnehmungsmöglichkeiten immer zugleich andere Wahrnehmungsmöglichkeiten verunmöglicht; kurzum: wenn das, was tatsächlich gedacht und gesagt wird, immer gestaltet ist von dem, was nicht (mehr) gedacht und gesagt werden kann? Noch anders gesagt: Welche Praktiken der Reflexion über die sozialen und diskursiven Bedingungen der Artikulation sowie über den Geltungsbereich von Aussagen sind nötig, um zu verstehen, dass, wie Michel de Certeau argumentiert, immer eine Auswahl getroffen wird »zwischen dem, was ›verstanden‹ werden kann, und dem, was vergessen werden muss, um die Darstellung einer gegenwärtigen Intelligibilität zu erreichen«66? Was Feminismus angesichts solcher Zusammenhänge zunächst und vielleicht zu allererst braucht, ist Mut. Mut, sich einzumischen und zu widersprechen. Mut

64 Butler, Judith: Was ist Kritik. Ein Essay über Foucaults Tugend, in: Jaeggi, Rahel/ Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 221-246, hier S. 226. 65 Ebd. 66 Certeau, Michel de: Das Schreiben der Geschichte. Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S. 13.

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zum Dissens. Mut zur Unterscheidung. Mut zum Urteil. Es bedeutet, immer wieder zu fragen, wie der Bereich des Sag- und Fragbaren organisiert ist und was aus dem Bereich des Vernünftigen ausgegrenzt wird. Es heißt aber auch, zu fragen, wie Feminismus – beziehungsweise das, was in seinem Namen behauptet wird – selbst daran beteiligt ist, diese Sag- und Sichtbarkeiten zu organisieren, daran, »seitliche Stimmen«67 zu produzieren. Und es heißt schließlich zu fragen, wie unsere Regierbarkeit eingegrenzt und in andere Bahnen gelenkt werden kann, wie wir nicht so, nicht dermaßen – und vielleicht überhaupt nicht – regiert werden können. Denn insofern die Aufgabe von Kritik weniger darin besteht, Handlungsanweisungen zu geben, als Unterscheidung und Urteil zu ermöglichen, muss kritische feministische Theorie heute kontinuierlich danach fragen, welche feministischen Fragen und welche Antworten als vernünftig, als ›wahr‹ erachtet werden und umgekehrt, welche Antworten als feministische etikettiert werden. Warum zum Beispiel scheinen Kopftuch- und Burkaverbote in westlichen Demokratien – und damit der Eingriff in das Recht, sich ungehindert in der Öffentlichkeit zu bewegen – vernünftig, während das Verbot von Gewaltpornografie als ein Eingriff in die Meinungsfreiheit gilt und eine gesetzlich fixierte Quote für die Privatwirtschaft als deren Gängelung verstanden wird? Warum gilt, wie jüngst in Indien, der Ruf nach der Todesstrafe als angemessene Antwort auf sexuelle Gewalt gegen Frauen? Wieso war über lange Zeit die hierzulande meist diskutierte frauenpolitische Forderung die nach einer Quotierung der DAX-Vorstände und nicht etwa die Tatsache, dass sich zu 97 % männlichen Vorständen – um nur zwei Branchen zu nennen – mehr als 90 % Frauen in der ambulanten Pflege und rund 93 % Frauen im Friseurberuf gesellen? Ein Beruf, den die Innung der Friseure aufgrund seiner »Vielseitigkeit« als »Traumberuf« anpreist, in dem Stundenlöhne von unter 3,- EURO in einigen Regionen Deutschlands jedoch die Realität sind? Dass Frauen weltweit zwar 70 % der unbezahlten Arbeit verrichten und sie in den Ländern des globalen Südens 80 % der Grundnahrungsmittel produzieren, sie aber nur 10 % der Anbauflächen besitzen? Welches Wissen, mit anderen Worten, welche Praxen und welche Horizonte sich unter dem Namen Feminismus wiederfinden können und sollen, ist mithin für dessen Zukunftsfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Unabdingbar ist es daher, kontinuierlich Rechenschaft darüber abzulegen, wie Welt und Sozialität imaginiert, geformt und aufrechterhalten werden. Und das heißt auch zu fragen, an welchen Werten, welchen Stimmen und Erfahrungen sich feministischer Aktivismus und feministische Theorie orientieren wird, an wem und welchen Inte-

67 Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1992, S. 27.

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ressen Feminismus sich orientieren sollte, welchen Kämpfen er Rechnung trägt, von wem aus feministisch gedacht und gehandelt wird, wessen und welches Handeln ermöglicht und wessen und welches Handeln verunmöglicht wird. Und es heißt die Frage zu stellen – und sich stellen zu lassen –, welche Erfahrungen und welche Körper, welches Begehren und welche Bedürfnisse, welche Gefühlsund Seinsweisen und welche Verwandtschaften lebbar sind und welche nicht – und nicht zuletzt, welche Allianzen über die Grenzen des Geschlechts hinweg ermöglicht und welche sabotiert werden. Schlicht gesagt: Von welchen ›Frauen‹ und welchen Bedürfnissen spricht Feminismus und will er sprechen? Judith Butler hat in diesem Zusammenhang jüngst an Kants drei Ziele der Kritik erinnert: was kann gewusst, was soll getan und auf was gehofft werden.68 Sie hat damit erneut den auch für das feministische Denken zentralen Zusammenhang von Wissen, Tun und Sein, das heißt den Konnex der materiellen Bedingtheit und diskursiven Regulierung von Wissen, der (auch) epistemischen Bedingtheit von Sein und schließlich der ethischen Fundierung von Tun, in den Vordergrund gerückt. Einer kritischen feministischen Theorie, deren Zentrum dieser Konnex bildet, geht es dabei gerade nicht nur darum, »die Beziehung zwischen den Grenzen der Ontologie und der Epistemologie« zu erkunden, sondern darüber hinaus auch den Zusammenhang zu untersuchen »zwischen den Grenzen dessen, was ich werden könnte, und den Grenzen des Wissens, das ich riskiere«69. Die epistemischen Raster des Lebbaren sind, mit anderen Worten, nicht nur darauf hin zu befragen, welches und wessen Sein sie ermöglichen, fragen müssen wir beständig auch, auf welches andere Sein zu hoffen ist. Insofern Feminismus die Fähigkeit zu der dafür nötigen Reflexion und Revision auch grundlegender eigener Annahmen und Perspektiven dabei vor allem den widersprüchlich organisierten gesellschaftlichen Erfahrungen von ›Frauen‹ – wer immer diese sein mögen – und dem oft konflikthaften Dialog mit den »Anderen« des feministischen Diskurses verdankt, kommt es vor diesem Hintergrund mehr denn je darauf an, das Bündnis mit anderen macht- und herrschaftskritischen Bewegungen und Erkenntnisperspektiven zu suchen. Und dies, um soziale Verhältnisse, Institutionen und Diskurse in all ihrer widersprüchlichen Komplexität nicht nur besser verstehen zu können, sondern vor allem, um sie so zu verändern, dass die von ihnen erzeugten ›Gitter der Lesbarkeit‹ auch jene »Subjekte, die leben, aber noch nicht als ›Leben‹ betrachtet werden«70, im Leben halten. Entscheidende Bedeutung kommt hier, wie jüngst Gudrun-Axeli Knapp

68 Butler, Judith: Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich: diaphanes 2011, S. 37. 69 J. Butler: Kritik, S. 237. 70 J. Butler: Raster, S. 37.

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ausgeführt hat, nicht zuletzt der »Verstehbarkeit der Dissense«71 zu. Dies schließe, so Knapp, wesentlich die »Reflexion und vor allem das Aussprechen der Geltungsgrenzen des eigenen Ansatzes«72 als »eine der Voraussetzungen für das Gehörtwerdenkönnen«73 ein. Nur im Horizont eines so verstandenen »›Weltbegriffs‹ feministischer Kritik als einer kontrafaktischen regulativen Idee«74, fährt Knapp fort, »könnten sich im zugewandten Widerstreit die Konturen dessen herausschälen, woran es mangelt und was wir in die Waagschale zu werfen haben«75. Wenn freilich gerade das, woran es mangelt, die Fähigkeit ist, zu hören und Gayatri Spivak uns gelehrt hat, dass Gehört-werden-können etwas anderes ist als Sprechen-können, wenn Michel Foucault uns gezeigt hat, dass Schweigen eine Möglichkeit in der Sprache ist und wir von Wendy Brown lernen konnten, dass Schweigen im Modus der Sprache hergestellt wird, so können wir von Franz Kafkas Experimentalanordnung nicht nur lernen, dass wir – im Wissen um die Unabschließbarkeit dieser Aufgabe – die Bedingungen der Hörbarkeit verändern müssen, sondern auch, dass wir sie verändern können. Gemessen werden wir jedenfalls daran, woran uns Toni Morrison erinnert, wie wir mit Sprache handeln.

71 Knapp, Gudrun-Axeli: Für einen Weltbegriff feministischer Kritik, in: Feministische Studien 1_2013, S. 105-112, hier S. 111. Hervorhebung im Original. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd.

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»Aber das Gedicht spricht ja!« – Ethik und Textualität in Celans Gedichten Schibboleth und Du liegst M ARTIN S CHIERBAUM

Friedrich Schiller hat 1784 in seinem ›Schaubühnenprogramm‹ eine Linie der ethischen Interpretation von Literatur zusammengefasst, die heute noch in manchen Punkten gebräuchlich ist. Sie etabliert das Theater als moralische Instanz im Staat.1 Die Kunst fungiert als Verstärker und Transmissionsriemen der Prin-

1

Schiller, Friedrich: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?, in: Ders. Werke und Briefe, Bd. 8, Theoretische Schriften, hg. v. Janz, Rolf-Peter, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 185-200. Der Text ist besser bekannt unter dem Titel: Die Schaubühne als moralische Anstalt. »Aber hier unterstützt sie [die Schaubühne; MS.] die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden, wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit und die Religion. Aus dieser reinen Quelle schöpft sie ihre Lehren und Muster und kleidet die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand. Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie unsere Seele, welche göttliche Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus!« S. 191f. Schiller bezieht hier Position in der Debatte um die Mittel der Aufklärung als Bildungsinstanz. Er verteidigt das Theater als Institution zur Beförderung der Moral neben Staat und Kirche gegen eine Kritik am schönen Schein und wendet sich gegen den Platonismus eines Rousseau. Vgl. dazu Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, hg. u. kommentiert von Wiedemann, Barbara, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 42012, S. 1247-1254. Seine theoretischen Perspektiven hat er bekanntlich bis hin zu seinem

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zipien, die die staatliche Ordnung garantieren. Darüber hinaus – so argumentiert er – rege sie den Rezipienten durch eine ansprechende Gestaltung emotional an. Oftmals ist unter dieser ethischen Prämisse einer »strenge[n] Pflicht«, die in ein »reizend lockendes Gewand« gekleidet ist, die Frage nach der Ethik an die Literatur gerichtet worden. Eine solche Interpretation bezieht sich auf die Inhaltsebene literarischer Texte.2 Dabei erweist es sich als problematisch, dass sich die Argumente der Kunst, der Moralphilosophie und der Religion kaum voneinander unterscheiden: Sie schöpfen, um Schillers Metapher zu gebrauchen, aus einer Quelle; eine Differenzqualität der Kunst und damit eine explizite Legitimität ist hiermit nicht zu begründen. Judith Butler trägt heute Argumente vor, die das Verhältnis von Staat und Kunst diametral anders angehen, dennoch bleibt auch sie bei der Begründung des ethischen Charakters der Literatur primär auf der Inhaltsebene sowie beim Status der Autoren stehen. Sie hebt in ihrer Auseinandersetzung mit in Guantanamo entstandenen Gedichten einerseits hervor, dass die U.S.-amerikanische Regierung diese Texte wegen ihrer »Inhalte und Form« beschlagnahmen und vernichten ließ, zum anderen weist sie auf den Kontrast zwischen den Erfahrungen der Folter und der Subtilität der erhaltenen literarischen Texte eines Folteropfers hin. Sprache und Inhaltsebene der Texte entscheiden über deren Bewertung durch die Leser sowie über Verbreitung oder Vernichtung durch den Staat. Der Akzent hat sich vom Staat auf das Individuum verlagert, dennoch markiert für Butler die Form des sprachlichen Ausdrucks im Kontrast zum Erleben des Autors und seiner Darstellung den Sonderstatus ethischer Literatur. Die Gedichte eines Folteropfers liest sie deshalb als Zeugnisse der Überlebensfähigkeit der Opfer. Dies ausdrücken zu können stellt für Butler das ethische Substrat dieser Literatur dar.3 Nicht allein für Schiller, auch für Butler bilden Inhalt und sprachliche Umsetzung den Maßstab für die ethisch wesentliche Literatur. In beiden Fällen werden die Perspektiven, die besonders heute die Literatur von anderen Texttypen differenzieren, gar nicht zum Thema gemacht. Gerade von den Aspekten, die die Literatur von anderen Formen des Sprechens trennen, sind aber alternative Perspektiven auf Fragen der Ethik zu erwarten, wie gezeigt werden

Grundriss der Ästhetik der Klassik im sogenannten Horenprogramm immer weiter entwickelt. 2

Kants Konzept des Schönen liegt nicht ganz fern. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, hg. v. Vorländer, Karl, Hamburg: Meiner 1990, § 59, B 258. Auch Kant verbindet Schönheit und moralische Pflicht.

3

Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M. u.a.: Campus 2010, S. 59f.

»A BER DAS G EDICHT

SPRICHT JA!«

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soll. Zu nennen sind dabei die Fiktionalität, die Literarizität, zu der u.a. die Arbeit mit und an anderen Texten und Medien gehört, und die besonderen Aspekte der literarischen Textualität, die Aussagen und Effekte generieren kann, die über Inhalt und Form hinausgehen. Diskutiert werden sollen hier ethische Aspekte, die nicht mehr allein auf der Inhaltsebene der Texte angesiedelt sind und deshalb eine Dimension in die Diskussion bringen, die die Kunst von anderen (Bildungs-)Instanzen wie Staat, Kirche und Schule differenziert. Insbesondere zwei Gedichte von Paul Celan (geb. 1920, gest. 1970) und auch seine theoretischen Überlegungen in der Büchnerpreisrede Der Meridian sollen als Beiträge zu dem thematischen Feld gelesen werden, das vielleicht die spezifische literarische Ausprägung der in diesem Band titelgebenden Begriffe von ›Tun und Lassen‹, von ›Gabe und kultureller Praktik‹ umfasst: zum Feld der Textualität. Besondere textuelle Verfahren unterscheiden eine Reihe von literarischen Texten von den rein inhaltlichen Debatten und denen, die sich auf die Sprache und ihre Bedeutungsbildung beziehen. Zusammen mit der Theorie und Praxis der Montage, auf die gerade Georges Didi-Huberman hingewiesen hat,4 stellen Aspekte der Textualität jenseits der Inhaltsebene und mit ihr zusammen besondere ästhetische Perspektiven dar. Didi-Huberman bezieht eine Position jenseits von historischer Fixierung und Konstruktivismus. Er betont u.a. die Differenz zwischen einem historischen Ereignis und seiner Aktualisierung. Das historische Ereignis – man könnte diese Perspektive auch auf die personale Alterität übertragen – ist in seiner Konzeption durch eine Unzugänglichkeit gekennzeichnet; er verwendet den auf Leibniz zurückgehenden Begriff der Monade. Besonders künstlerische Montagen seien aber in der Lage, durch fiktionale und individuell produzierte Bilder Zugänge zu der monadischen Abgeschlossenheit der vergangenen Ereignisse zu generieren, die eine adäquate Auseinandersetzung erlauben.5 Besondere ästhetische Verfahren – und in dieser Hinsicht ist die Textualität hier von Interesse – sind gerade dann von Bedeutung, wenn die Referentialität oder die begriffliche Fixierung der nicht fiktionalen Kommunikation an den Grenzen der Monade scheitert. Besonders die textuelle Ebene der Literatur soll zu solchen Verfahren gerechnet werden, die die ästhetischen Räume im Spannungsfeld von historischer Fixierung und der fiktionalen Selbstbezüglichkeit herzustellen in der

4

Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem, München 2007, Ders.: Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I, München: Fink 2011. Zur Montage: Ders.: Bilder trotz allem, S. 53, 56, 116, 179.

5

Vgl. G. Didi-Huberman: Position, er spricht vom dokumentarischen Lyrismus, S. 198202.

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Lage sind.6 Kurz, es sind nicht allein die Inhalte und deren Artikulation, die uns die Auseinandersetzung mit der Shoah ermöglichen. In den mit ästhetischen Verfahren generierten Räumen, die bei Didi-Huberman wie in den hier gewählten Beispielen im Mittelpunkt stehen, geht es um die ethische Frage nach der Menschlichkeit.7 In der Auseinandersetzung mit Celans Texten soll die Art und Weise der Inszenierung der Inhalte oder des Sprechens durch spezielle Formen der Regie – wie das Verschleiern der Sprecher – oder der Typographie – sowie Einschnitte und Fragmentarität im Zentrum stehen. Es geht um ein Feld, das an der Semiose beteiligt ist und mit der Inhaltsebene interagiert, ohne diese allein zu repräsentieren.8 Didi-Huberman spricht in diesem Kontext von einer spezifischen ›Dialektik‹ von Text und Bild im Sinne Walter Benjamins.9

6

Für die Auseinandersetzung mit Celans Texten wird also ein Textbegriff vorgeschlagen, der in der Skala, die Kammer und Lüdeke aufgestellt haben, mit dem offenen Textbegriff des Poststrukturalismus in Verbindung steht und der gegen einen autorund werkbezogenen sowie gegen einen materiell-medialen Begriff der Medien und Kulturwissenschaften abzugrenzen ist. Vgl. Kammer, Stephan/Lüdeke, Roger Hg.: Einleitung, in: Dies. Hg.: Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart: Reclam 2005, S. 921, 11-16.

7

Diese Auffassung von Textualität betont Aspekte, die die Forschung oftmals übergeht. Wergin weist auch mit Blick auf die Textualität auf eine Polarität von Kraft und Bedeutung hin, vgl. Wergin, Ulrich: Sprache und Zeitlichkeit bei Derrida, Celan und Nietzsche, in: Ders. und Schäfer, Martin Jörg Hg.: Die Zeitlichkeit des Ethos. Poetologische Aspekte im Schreiben Paul Celans, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 31-88, 47f.

8

Mit der Krise der Repräsentation, die Kittler um 1800 ansetzt, verstärkt die Literatur ihre Aufmerksamkeit für Phänomene, die jenseits eines simplen rhetorischen Kommunikationsmodells (Schmuck der Rede) liegen, das z.B. Schiller geltend macht. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800-1900, München: Fink 31995, S. 23.

9

G. Didi-Huberman: Position, S. 50 u. 291: »Die Befremdlichkeit der Bilder liefert uns einem Übermaß an Erkenntnis aus, das abwechselnd Offenbarung (Hellsichtigkeit) und Ärgernis (Delirium) ist. Mit Bildern umzugehen heißt, das Risiko eines solchen Hochseilakts zu akzeptieren, bei dem stets der Absturz droht. Brechts Widersprüchlichkeit den Bildern gegenüber wäre also genau an der Stelle zu verorten, die Benjamin die Dialektik des Bildes genannt hat und die Blanchot als die ›Doppelzüngigkeit des Imaginären‹ bezeichnet.«

»A BER DAS G EDICHT

SPRICHT JA!«

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Ein Ansatzpunkt für Celans Literatur liegt im Sprechen nach der Shoah,10 damit ist bereits ein deutlicher ethischer Aspekt gesetzt und problematisiert.11 Denn ebenso deutlich wie die Schuld ist auch das Scheitern aller kulturellen Sicherungsmaßnahmen geworden, die Überschreitung äußerster Grenzen des Verbrechens und der Brutalität z.B. durch Bildung zu verhindern. Beide Aspekte konfrontieren die Kultur mit ihrer Sprachlosigkeit. Celans Lyrik muss sich zuerst gegen dieses Verstummen durchsetzen. Vor diesem Hintergrund kommt der besondere monadische Charakter der Geschichte in seinem Werk als historisches Datum und als Grenze der Einfühlung zum Ausdruck. Das Inkommensurable dieser Wirklichkeit ist der Literatur schwer zugänglich.12 Schweigen tritt an die Stelle der Anklage und der Aussage über das eigene Erleben. Beide Aspekte fordern die Literatur heraus, Möglichkeiten zu finden, das Schweigen zu brechen.13 Unter diesen Voraussetzungen sind zentrale Begriffe, die die heutige Diskussion über Ethik und Politik mitbestimmen – Ereignis, Gabe –, für Celan in die Diskussion gekommen, allerdings kontextualisiert er sie anders. Vor jeder ethischen Entscheidung bleibt für ihn die Trennung in Täter und Opfer unüberwindbar.14 Eine Gabe, die im Sinne der Ökonomie auf verzinste Rückkehr des Einsatzes hofft, wie auch im ethisch-anökonomischen Sinne – etwa von Derrida in seinem Text Falschgeld – verstanden als Verausgabung, ist für ihn deshalb wohl kaum als Überschreitung dieser Grenze denkbar. Celan steht in einer Diskussion, die deutlicher von Aspekten des Verlustes und der individuellen Trauer um die

10 Vgl. Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt a.M.: Syndikat 1976, S. 99f. 11 Auf die besonderen sprachpoetischen Aspekte hat besonders U. Wergin: Sprache, S. 31-88 hingewiesen. 12 Zuletzt hat G. Didi-Huberman: Bilder trotz allem, S. 37, diese Problematik des Verstummens hervorgehoben. Mit Primo Levi betont er »daß da, wo dem Menschen Gewalt zugefügt wird, auch der Sprache Gewalt angetan wird«. Er analysiert mit den Zeitzeugen nicht so sehr das Verstummen der Kultur angesichts der Grausamkeit, sondern die durch institutionelle Eingriffe veränderte Sprache, die keine Ausdrucksmöglichkeit mehr für die Verbrechen zur Verfügung hat. 13 Derrida arbeitet an dieser Stelle mit Begriffen der Unmöglichkeit, mir geht es dagegen um die Möglichkeit der Literatur, durch textuelle Verfahren Räume der Rezeption und der Lektüre zu erzeugen. Vgl. Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Wien: Passagen 1986, S. 59f. u.ö. 14 Derrida betont mit dem Durchlässigwerden der Grenzen und dem »Losungswort im Kampf gegen die Unterdrückung« die politische Dimension des Gedichts, Schibboleth, S. 64-66.

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Opfer und später von der Verdrängung der Schuld durch die Täter geprägt ist als heutige kulturwissenschaftliche Debatten der Erinnerungskultur.15 Die ›kulturelle Praxis‹ der Verdrängung bildet für Celan besonders in seinen letzten Lebensjahren primär Anlass zur Besorgnis. Einen wesentlichen Teil seiner Lyrik platziert er gegen solch eine Verdrängung. In der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, an seine Entstehungsgeschichte und in der kritischen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Alltag seiner Gegenwart ist der ethische Aspekt seiner Lyrik als spezifisch literarischer Akt zu bestimmen. Die folgenden Überlegungen sind bestrebt, zwei textuelle Gesten an Celans Gedichten herauszuarbeiten und als Position eines lyrischen Sprechens sowie seiner textuellen Umsetzung zu beschreiben. Dabei sollen textuelle Handlungen des Tuns – am Beispiel von Schibboleth – und Lassens – am Beispiel von Du liegst – in einem ethischen Sinn deutlich werden. Besonders Derrida hat in seiner Auseinandersetzung mit Celan darauf hingewiesen, dass Celans Lyrik einen Raum der Deutung zu öffnen bestrebt sei, der sich zwischen dem Aspekt des Persönlichsten – Celan spricht von der »allereigenste[n] Enge«, Derrida von »innere[r] Datierung«16 – und einer gewissen Allgemeingültigkeit der Texte öffne. Innerhalb dieses Spannungsfelds situierten sich das lyrische Sprechen Celans und seine Textualitätskonzeptionen.17 Es geht dabei um ein Sprechen, das den Zwischenraum zwischen dem Individuellen und Allgemeingültigen, den Tätern und den Opfern, der Vergangenheit und der Gegenwart eröffnet und dabei die Differenzen offenhält. Fragt man nach der Textualität und den spezifischen Gesten des Textes, stellt sich das Paradox als eines der entscheidenden Mittel einer

15 Astrid Erll hat mehrfach die Veränderungen in der theoretischen Diskussion dargestellt, vgl. u.a. zum Thema der ›Mimesis des Gedächtnisses‹ und zum sozial konstruierten Gedächtnis: Erll, Astrid, Artikel: Gedächtnistheorien der Literaturwissenschaft, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Positionen – Grundbegriffe, hg. v. Nünning, Ansgar, Stuttgart Weimar: Metzler 42008, S. 240f. 16 Celan, Paul: Der Meridian, in: Ders. Gesammelte Werke, hg.v. Allemann, Bela, Reichert, Stefan u. Bücher, Rolf, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 S. 187-202, S. 200, künftig zitiert mit der Sigle M. Derrida: Schibboleth, S. 41 u.ö. 17 Wenn ich richtig sehe, hat sich die Forschung mit diesem Aspekt kaum befasst. Der Text ist bei Celan vielmehr in seiner Genese oder im engeren philologischen Sinne behandelt worden. Vgl. die Beiträge in Gellhaus, Axel, Herrmann, Karin Hg.: ›Qualitativer Wechsel‹. Textgenese bei Paul Celan, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010.

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Sprache dar, die von Verstummen und Sinnlosigkeit bedroht ist.18 Das Gedicht tritt dabei an den Ort, von dem das Sprechen seinen Ausgang nimmt, in den Raum, der sich erst im Sprechen öffnet, es verkörpert ihn in einer textuellen Geste. »Aber das Gedicht spricht ja!« formuliert Celan in Der Meridian.19 Wie ist dieser Ort des Sprechens zu bestimmen? Die besondere Textualität von Celans Lyrik nimmt, so soll gezeigt werden, eine Position jenseits der konventionellen Grenzziehung von Subjekt und Objekt, von Täter und Opfer ein und gibt dadurch dem lyrischen Sprechen einen Ort jenseits eines eindimensionalen Verständnisses.20

18 Hier ist eine Verbindungslinie zu Theorien der Gabe und der Textualität zu ziehen. So wendet er sich in Der Meridian mit der philologisch-geographischen Doppelbedeutung des Wortes ›Tropen‹ gegen eine auf der rhetorischen Interpretation basierenden Schließung der Deutungszusammenhänge und öffnet die Literatur für imaginäre Überkreuzungs- und Wendepunkte. M 199, 202. 19 M 196. Vgl.: Derrida: Schibboleth, S. 20f. 20 Bereits in den 1980er und 1990er Jahren sind Celans Texte unter dem Thema der ›Gabe‹ und der Ethik der Gabe diskutiert worden. Jacques Derrida und seine Schüler haben unter der Perspektive einer Philosophie der Differenz die Kommunikation unter ethischen Gesichtspunkten diskutiert und dazu auf Celans Texte zurückgegriffen. Derrida: Schibboleth, S. 69 nennt ausdrücklich Jean-Luc Nancys Theorem des »partage«, das auf dem Differenz-Theorem basiert. Die Gabe wird dabei zunächst unter dem Aspekt der Zeitlichkeit aufgefasst. Datum und Eigenname werden als Zeichen der Differenz in jeder Hinsicht hervorgehoben. Diese Differenz kann nicht durch Prozesse der Identifikation wie etwa in der Hermeneutik eingeebnet werden, vielmehr arbeitet diese Lektüre Celans Momente der Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit vornehmlich in Texten heraus. Derrida deutet Celans Satz »Aber das Gedicht spricht ja!« als ein lyrisches Sprechen einer solchen Singularität als Gabe des Anderen, des Fremden und lehnt damit z.B. die kontextualisierende Interpretation Peter Szondis von Celans Du liegst ab. Ebd., S. 36f., 39. Primär für die Interpretation formuliert Derrida eine Konsequenz: »Es gibt keine Bedeutung, keine einzige ursprüngliche Bedeutung mehr, seit es ein Datum gibt und das Schibboleth.«, ebd., S. 58. Den Begriff des Schibboleth übernimmt er aus Celans Bezugnahmen auf die Bibel, dort entscheidet die Aussprache des Wortes über die Zugehörigkeit zum Volk Israel, über Freund und Feind. Das Schibboleth als Zeichen stellt sich für ihn deshalb als »Chiffre der Chiffre«, als Zeichen der Unlesbarkeit dar. Ebd., S. 59f. vgl. auch 63. Kommunikation findet in diesem Kontext auf dem Wege der Anerkennung der Differenz statt, die sich im literarischen Text besonders durch seine Unzugänglichkeit ausdrückt. Derrida zieht die Konsequenz für die Lyrikinterpretation und folgert »in der dichterischen Schreibung der

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Die ethischen Momente der Texte sind dabei kaum von dem zu trennen, was Derrida als spezifischen literarischen Überschuss beschreibt. Textualität könnte man insofern als Inszenierungsform auffassen, die Performativität sowie Gabe beinahe von vornherein zur Verfügung hat. Drei theoretische Relationen sollen zunächst erarbeitet werden: das Verhältnis von Literatur, Ethik und Gabe bezieht sich auf die Einbindung der Literatur ins Feld der Ethik, während die Beziehungen von Textualität und Performativität und schließlich von Literatur und Tod die theoretische Grundlage der konzeptionellen Aspekte der Analyse liefern.

1. D ER THEORETISCHE K ONTEXT DER D EBATTE G ABE , T EXTUALITÄT , T OD UND L ITERATUR (D ERRIDA , B ARTHES , F OUCAULT )

UM

Mit den Begriffen Gabe, Textualität und Sprechen gegen den Tod werden heute ethische und literaturtheoretische Konstellationen verbunden, die auf die textuelle Dimension von Celans Lyrik aus der Mitte der 1950er und dem Ende der 1960er Jahre zu beziehen sind. Die Gabe als ethischer Akt, wie ihn Derrida am Beginn der 1990er Jahre auffasst, soll deshalb auf ihre literarische Dimension befragt werden. Um Celans Texten gerecht zu werden, sind zwei weitere Konstellationen einzubeziehen: die Textualität als besonderes Verfahren der Literatur und die Relation von Literatur und Tod. Beide öffnen einen Raum für eine Bewegung gegen Verdrängung, Verschweigen und Verstummen. Sie fügen sich in der Thematik eines ethischen Sprechens nach der Shoah zusammen, das keine Sinnangebote mehr machen kann, sondern auf der Seite der Sprache und des literarischen Textes ansetzt. Die ethische Position, die mit dem Begriff der ›Gabe‹ verbunden wird, ist besonders durch Derridas Werk Falschgeld. Zeit geben I (1991) neu angestoßen worden.21 Roland Barthes hat mit seiner These vom Tod des Autors (1968) provozieren wollen, beinahe übersehen worden sind dabei seine Überlegungen zur Textualität, die er in diesem Gedankengang entwickelt. Diese Aspekte erweitern die theoretische Basis um die Verbindungslinie von

Sprache gibt es nichts als lauter Schibboleths.« Ebd., S. 73. Eine Krise des Verstehens tritt an die Stelle des moralischen Nachvollzugs der Inhaltsebene. Damit setzt sich Derrida von konventionellen Modellen der ethischen Literatur ab, er bleibt allerdings auf der Ebene der sprachlichen Zeichen und der konventionellen Kommunikation, wenn das Nichtverstehen die Brücke zum Verstehen liefert. 21 Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink 1993.

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Performativität/Gabe zur Textualität.22 Celans Texte sind kaum ohne die Sprechsituation nach Auschwitz zu analysieren, weder Derridas Gabe-Theorem noch die Performativitätsüberlegungen von Barthes setzen diesen Schwerpunkt explizit. Foucaults Text über Das unendliche Sprechen (1963) eröffnet eine Perspektive auf das Verhältnis von Tod und Literatur. 1.1 Anökonomie, Gabe und Text Derrida verbindet in Falschgeld eine Ethik der Gabe mit der Logik der Verausgabung. Seine Grundfigur ist ökonomiekritisch konzipiert: Das (sprachliche) Handeln in der Gesellschaft wird auf die Momente hin analysiert, die nicht auf den ökonomischen Vorteil ausgerichtet sind. Er untersucht das anökonomische Moment der Beziehungen von Individuen,23 dazu stützt er sich auf eine Interpretation von Baudelaires Erzählung Das falsche Geldstück. Die Gabe wird dabei von einer paradoxen performativen und kommunikativen Bewegung auf der Inhaltsebene des Textes abgeleitet. Diese Argumentation führt eine ethische Komponente in die Kommunikation ein und arbeitet mit paradoxen Momenten. Diese Gabe ist in erster Linie ein kommunikatives Konstrukt, das durch den Mangel oder das Schwinden der Referenz – Geben, was man nicht hat – einen literarischen Raum öffnet. Derrida führt deshalb das Spezifische der Gabe als das ein, »was die Unterscheidung zwischen nehmen und geben außer Spiel setzt«.24 Dabei bezieht er sich auf den Rest sowie den Überschuss in der Kommunikation. Er sondiert insbesondere Arten der Kommunikation, die die Funktionsweise einer konventionellen Ökonomie durchbrechen.25 Die aus anderen Werken bekannte

22 Wahrgenommen worden ist Barthes’ texttheoretische Position in: Vom Werk zum Text, in: Kammer, Stephan, Lüdeke, Roger Hg.: Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart: Reclam 2005, S. 40-51. Er richtet sich gegen den konventionellen autorzentrierten Werkbegriff und setzt ihm einen offenen Textbegriff entgegen. 23 Es findet sich bereits im Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari, allerdings ohne das ethische, stattdessen ergänzt um ein politisches Moment. Vgl. die Konzeptionen des Schizo, der Anökonomie, der Anti-Produktion und der Institutionellen Analyse in: Deleuze, Gilles, Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 51988. 24 J. Derrida: Falschgeld, S. 12. 25 J. Derrida: Falschgeld, S. 68, 136. In der Gegenwartsliteratur hat u.a. Wolfgang Hilbig solche Ansätze in seinen literarischen Texten wie Die Kunde von den Bäumen erprobt. Roland Barthes hatte bereits 1970 in S/Z solche Gedankengänge bei Balzac analysiert. Barthes, Roland: S/Z, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52007.

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Figur der ›Dissemination‹, die Vervielfältigung des Sinnes im Gegensatz zur Fixierung gehört in das weitere Umfeld der »Rückkehrlosigkeit der Gabe«.26 Die ethische Dimension besteht für Derrida in einem Handeln, das nicht mehr auf die Vermehrung seiner Geltung oder seiner Effekte ausgerichtet ist.27 Deshalb legt er in seiner Baudelaireinterpretation den Akzent nicht allein auf die Inhaltsebene, auf der es um das außergewöhnlich große Geschenk an einen Bettler geht – es handelt sich vermutlich um Falschgeld –, sondern auch auf die theoretische Einordnung der Literatur als solch eine paradoxe Gabe. Der literarische Text fixiere einen Überschuss an Fiktion, Sinn und Zeit, der aber mit rationalen und ökonomischen Mitteln nicht zu fassen sei. Es geht ihm dabei um eine durchaus positive – beinahe metaphysische – Komponente, die den spezifischen Überschuss der Literatur wahrnimmt und damit die Position ausfüllt, die aus konventioneller Perspektive die Intentionalität innehat.28 Literarische Texte werden deshalb in Falschgeld als »eine Maschine, um Ereignisse zu bewirken« beschrieben.29 Das akzidentelle und den Alltag unterbrechende Moment verbindet Derrida mit dem literarischen Ereignis der Gabe.30 Er parallelisiert Körper, Text und Geld31 und hebt besonders die Störung der Kontinuität hervor.32 Die Fiktionalität verbinde und trenne gleichermaßen Literatur und Ökonomie als die imaginäre Komponente und als der spezifische Modus des Kredits, er sei auf das Schenken eines Glaubens angewiesen.33 Ebenso wie er

26 J. Derrida: Falschgeld, S. 68. Vgl. Ders.: Dissemination, Wien 1995. 27 Andererseits knüpfen sich daran nicht ganz unproblematische Schemata einer Entleerung der Begriffe und Institutionen, wenn Derrida von einem »Sollen jenseits des Sollens«, einer »Wahrheit ohne Wahrheit, Gesetz ohne Gesetz«, einer »Schuld ohne Schuld« spricht. J. Derrida: Falschgeld, S. 200, 203, 215. 28 Vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 196 (Fiktion), 67 (Sinn) u.128f. (Zeit). 29 J. Derrida: Falschgeld, S. 128. Der Maschinenbegriff wäre zu diskutieren, etwa in Relation zu den Vorstellungen der Maschine in Heiner Müllers postdramatischem Stück Hamletmaschine (1977), das die maschinenhafte Komponente menschlichen Handelns etwa im Wiederholungszwang betont. 30 J. Derrida: Falschgeld, S. 128f. präzisiert: »Zunächst das Ereignis des Textes, der dasteht als Erzählung, die der Lektüre übergeben oder ihr dargeboten wird [...] aber auch und konsequenterweise [...] ein Ereignis, das weitere bewirken kann, ohne daß sich in endloser Serie, ein Ende abzeichnet«. 31 Vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 196f. 32 Vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 160. 33 Vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 193: Als wesentliches Moment hebt er die Verbindung mit dem utopischen Potential der Fiktion und dem Raum, der dadurch entsteht, hervor.

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den Handlungs- und Erzählprozess als Aufschubstruktur begreift, die sich der Logik der Ökonomie entzieht, ordnet er auch die Fiktionalität der Figuren der »(Nicht-)Wahrheit der Literatur« zu. Das Besondere der Literatur markiert für ihn den entscheidenden Punkt: »ein Geheimnis, dessen Möglichkeit die Möglichkeit der Literatur sicherstellt.«34 Dieser ins Utopische hineinreichende Kommunikationsaspekt hat gewiss Grenzen, die gerade an der Dichtung Celans deutlich werden. Anders als Derridas Auseinandersetzung mit Celans Texten, basiert diese Konzeption nicht mehr auf konkreten, wenn auch unzugänglich gewordenen Daten, sondern auf einer grenzüberschreitenden Performativität. Deshalb ist dieses Konzept um Aspekte zu erweitern, die die Textualität als Zwischenraum beschreibbar machen und sich in den Kontext der Endlichkeit stellen. 1.2 Sprache, Textualität und Tod bei Barthes und Foucault Die Theorie der Textualität gehört zu den wichtigen Themenfeldern der Postmoderne, gerade wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit auf philosophische und literarische Phänomene zu lenken, die jenseits der Metaphysik (im Sinne von Sinn, Bedeutung und Authentizität) situiert sind. Für Roland Barthes gehört sie in den Kontext der Verabschiedung des Autors, für die systematisch zwar die Schrift eine große Rolle spielt,35 deren literaturtheoretisch bedeutendere Komponente aber in der Verbindung von Textualität und Performativität liegt. Sein Essay zum Tod des Autors gehört in die establishmentkritische Phase der Postmoderne. Mit Mallarmé lässt Barthes eine Verschiebung des Akzents in der Literatur vom Autor zur Schrift beginnen.36 Mit dem ›linguistic turn‹ konstatiert er, nicht das Subjekt, sondern die Sprache handle, sie trete an die Stelle der konventionellen metaphysischen Autormodelle. Dieses Handeln bringt Barthes mit der

Die »Ent-Aneignung«, die Bewegung der Veränderung und Verschiebung auf der Inhaltsebene verhindert dabei »die Rückkehr zu sich oder die Schließung des Kreises«. 34 J. Derrida: Falschgeld, S. 196. 35 Vgl. dazu u.a. Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 61996, Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1997 u.a. Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Wirth, Uwe Hg.: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 42007, S. 104-110, 104. 36 R. Barthes: Tod, S. 105: »Für Mallarmé (und für uns) ist es die Sprache, die spricht, nicht der Autor. Schreiben bedeutet, mit Hilfe einer unverzichtbaren Unpersönlichkeit – die man keineswegs mit der kastrierenden Objektivität des realistischen Romanschriftstellers verwechseln darf – an den Punkt zu gelangen, an dem nicht ›ich‹, sondern nur die Sprache ›handelt‹ [›performe‹].«

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Performativität in Zusammenhang. Den Textbegriff knüpft er deshalb an die linguistische Definition des Performativs, er erscheint nunmehr als ein Handeln37 und wird als ein »vieldimensionale[r] Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [...] vereinigen und bekämpfen«, metaphorisch beschrieben.38 Barthes fasst deshalb den Text als Raum auf, in dem Divergenzen ausgetragen werden, darin besteht der Ansatzpunkt der performativen Geste des Textes: »Der Raum der Schrift kann durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen. Sie führt zu einer systematischen Befreiung vom Sinn. Genau dadurch setzt die Literatur (man sollte von nun an besser sagen: die Schrift), die dem Text (und der Welt als Text) ein ›Geheimnis‹, das heißt einen endgültigen Sinn verweigert, eine Tätigkeit frei, die man gegentheologisch und wahrhaft revolutionär nennen könnte.«39

Barthes hebt in dieser Argumentation primär die Schriftproblematik hervor, die er Derrida verdankt – die Schrift und nicht die Literatur hat für ihn eine maschinelle Komponente, wenn sie ›unentwegt‹ Sinn bildet. Die wesentliche Aussage dieser Passage ist aber auf den Text bezogen. Ein erster Aspekt besteht in der Immanenz der Schrift, deren Durchstoßen unmöglich sei, da sie keine höhere metaphysische Ordnung repräsentiert. Das Grundmodell dieser Sätze, die Bewegung der Dekonstruktion – etwa im Sinne Derridas – als Produzieren und Auflösen von Sinn, läuft auf das Unterminieren einer metaphysischen Basis hinaus. Die äußeren Komponenten Autor und Sinn werden irrelevant, ja sogar vom Text selbst eliminiert. Die Vervielfachung des Sinns in der Interpretation als Folge der textuellen Divergenzen tritt an die Stelle der eindimensionalen Autorintentionalität. Durch diese Vervielfältigung lässt Barthes einen Antagonismus zwischen der Literatur, die er in dieser Arbeitsphase als revolutionäre Kunst ansieht – weil sie die festgefügten Bedeutungen aufzulösen in der Lage ist –,40 und der Schrift einsetzen, der im Text ausgetragen werde. Die Verweigerung des endgültigen Sinns setzt die Tätigkeit, also die performative Dimension des Textes, frei: »die Sprache handelt«, sie führt nicht mehr auf die Einheit und Metaphysik zurück. Textualität wird durch den historischen und systematischen Entzug einer metaphysischen Aufladung des Textes mit Bedeutung als ein performativer Akt

37 R. Barthes: Autor, S. 107. 38 Ebd., S. 108. 39 Ebd., S. 109. 40 Vgl. Barthes, Roland: Leçon / Lektion. Antrittsvorlesung im Collége de France. Gehalten am 7. Januar 1977, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21988.

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beschrieben. Er richtet sich gegen die Fixierung einer Bedeutung und soll die Ordnungen der Sprache und des Denkens, schließlich der Gesellschaft erschüttern.41 Die wesentliche performative Geste des Textes besteht für Barthes nicht darin, den Sinn zu stiften, sondern Fixierungen zu verweigern – Sinn zu dekonstruieren. Die performative Dimension literarischer Texte liegt deshalb in der Vervielfältigung und nicht in der Vereinheitlichung der Sinnpotentiale der Texte. Während Derridas Gabe-Theorem den Überschuss hervorhebt, betont Barthes‘ Theorie des Performativen das ›Lassen‹ von Sinnproduktion in der Auseinandersetzung mit den Fixierungen der Kommunikation. Der vielleicht wesentliche Aspekt dieses Essays besteht in den Ansätzen einer Theorie der Dynamisierung auf der Basis der Performativität scheinbar festgefügter Strukturen als einer wesentlichen Komponente des (literarischen) Textes selbst.42 Barthes kritisiert jede Art von Fixierung, er integriert sie aber in seine These der Performativität des Textes als einen Aspekt des Konfliktfeldes, als das er den literarischen Text liest. Mit Didi-Hubermans Terminologie kann man auch hier ein Montageverfahren wahrnehmen und das Modell nicht allein auf die kommunikative Seite von Fixierung und Dekonstruktion beziehen, sondern auch die Frage des historischen Datums und der Alterität einbeziehen. Michel Foucaults Modell eines autorlosen Diskurses kann als Antwort auf die Schulen des Denkens gelesen werden, die metaphysische Erwartungen an die Kommunikation richten. Wenn bei Derrida in Gabe und Überschuss wieder eine beinahe metaphysische Dimension aufscheint und bei Barthes um 1970 die Literatur als die revolutionäre Kraft erscheint, so argumentiert Foucault besonders in Das unendliche Sprechen mit Bezugspunkten jenseits einer transzendenten Ethik.43 Dieser Text gehört in eine Reihe seiner Arbeiten zur Literatur, die an ästhetischen Gegenständen Aspekte seiner Diskurstheorie entwerfen und erproben.

41 Vgl. auch R. Barthes: Leçon, S. 21-23. 42 Michel Foucault übt – freilich indirekt formuliert – Kritik an Barthes’ These. Er kritisiert, dessen Modell entferne sich durch seine Ablösung des Autors durch den scripteur sowie das Schreiben und seine Frage nach dem Werk noch nicht weit genug von den konventionellen Theorien der Autorschaft. Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, in: Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234-270, 240f. 43 Deutlich wird natürlich bei dieser Anordnung der Texte die ethische Wendung der postmodernen Theoriebildung. Im Hintergrund steht bei diesem Verfahren auch die Frage, welche Argumente durch die Konzentration auf die Ethik zwischen 1963 und 1991 zurückgetreten sind, konkreter, ob nicht der Wechsel zur Ethik, den Derrida mitinitiiert hat, den Blick auf politische Fragen, die die früheren Texte prägten, trübt.

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Er betont den nihilistischen Akzent des Diskursmodells. Foucault geht es um die Strategie des Sprechens gegen die Leere und den Tod. Er gelangt über die Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Diskurs zur Frage nach der Rolle der Literatur. Das Performative und das Paradoxe sind auch für ihn Herausforderungen, die er mit Blick auf die Sprache analysiert. Ihn interessiert die Rede, insofern er ihr »die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten in einem Bruchteil von Zeit« zuschreibt.44 Die Sprachimmanenz als zweiter wesentlicher Gedanke, den er u.a. mit Barthes teilt, nimmt von hier seinen Ausgang: »An der Grenzlinie des Todes reflektiert sich das Sprechen: es trifft so auf etwas wie einen Spiegel; und um den Tod aufzuhalten, der es aufhalten wird, hat es nur eine Möglichkeit: in sich, in einem Spiegel mit Spiegeln, das selbst keine Grenzen hat, sein eigenes Bild entstehen zu lassen. In der Tiefe des Spiegels, da, wo das Spiel wiederbeginnt, um wieder an den Punkt zu kommen (den des Todes), um ihn jedoch wieder zu umgehen, gewahrt man ein anderes Sprechen – das Bild des wirklichen Sprechens, aber als winziges, inneres, virtuelles Modell [...].«45

Mit Blick auf dieses »virtuelle« Bild spricht er vom Tod als »essentiellste[r] der Sprachakzidenzien«.46 Das Akzidentelle besteht für ihn nicht in der Unterbrechung der Alltagswirklichkeit, wie für Derrida, sondern der Tod erst ermöglicht die Sprache als Rede, die sich gegen ihn stellt. Auf diesem Punkt basiert Foucaults nihilistisches Modell des Diskurses.47 Die Sprache lässt den Raum als Innenraum – Immanenz und Spiegelrelation zugleich – entstehen. Er wird als Effekt der Bedrohung/Endlichkeit beschrieben, die die Sprache zu einer Selbstreflexion zwinge. Kein Bild der Transzendenz entsteht, sondern ein Bild des entgöttlichten virtuellen Innenraums der Sprache als (aleatorisches) Spiel.48 Die Li-

44 Foucault, Michel: Das unendliche Sprechen, in: Ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 90-103, 90. 45 Ebd., S. 91. 46 Ebd., S. 92. 47 U. Wergin: Sprache, S. 32 hat auf die nihilistischen Aspekte in Celans Werk hingewiesen. 48 Nietzsches Über Wahrheit und Lüge liegt nicht fern. Wergin diskutiert Celans Sprache vor dem Hintergrund der Sprachphilosophie und Ästhetik Nietzsches. Vgl. U. Wergin: Sprache. Foucault markiert einen Wechsel für die Literatur: bis ins 18. Jahrhundert – er nennt Hölderlins Empedokles (1797-1800) – werde der Anspruch auf »Allgemeingültigkeit« gestellt, im Zentrum der reflexiven Verdopplung der Sprache werde Metaphysik als Bedingung der Repräsentation angenommen; heute aber werde

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teratur ab ca. 1800 liest er deshalb nicht als Vermittlerin von Wahrheit, sondern als die Modulation dieser Sinnlosigkeit. Einerseits beschreibt er das Grundmodell seiner späteren Diskurstheorie – Sprache moduliert die Sinnlosigkeit, sie drückt keine Wahrheit aus, deren Produkte sind einer Dynamik unterworfen. Andererseits wird der Literatur die Rolle zugeschrieben, tatsächlich in das Murmeln – ein Sprechen ohne metaphysischen Bezug – einzugreifen. Unter diesen Bedingungen nimmt das Sprechen insgesamt die Position der Sinnlosigkeit ein, die durch die Literatur bearbeitet und verändert wird, ohne allerdings in Sinnhaftigkeit vorzudringen. Literatur gibt in diesem Modell eine Antwort auf die Sinnlosigkeit als Spiegelrelation, nicht als Sinn.49 Die Rollen von Sprache und Literatur verändern sich unter diesen Vorzeichen grundlegend.50 An die Stelle der Vermittlung von Sinn tritt bei ihm – radikaler als Barthes es konzipiert – das Sprechen gegen diese Sinnlosigkeit. Die klassische Rhetorik, die auf solch eine Sinnvermittlung angelegt ist, sieht er durch das Sammeln und Aneinanderreihen von Aussagen überwunden. Foucault hebt die Monotonie einer »sich selbst ausgelieferten Sprache« hervor; damit betont er wie Barthes, dass die Sprachimmanenz nicht mehr verlassen werden kann, sie kann sich nicht mehr auf Metaphysik, »auf das Wort aus dem Unendlichen beziehen«.51 Diese Immanenz führe zum Dilemma der Wiederholung. Alle Aussagen sind Wiederholungen im Feld der Sprache, sie sind nicht mehr originär oder authentisch, außerdem dementieren sie sich durch ihre Austauschbarkeit gegenseitig. Die Literatur hingegen ist für ihn »der Ort, an dem alle Bücher wiederaufgenommen und vollendet werden: ein Ort ohne Ort, denn er beherbergt alle vergangenen Bücher in einem einzigen unmöglichen ›Band‹, der sein Murmeln unter so viele andere reiht – nach allen anderen, vor allen anderen.«52

der ununterbrochene Lärm des Sprechens – auch von individuellen Stimmen wie der Kafkas – verwendet, »um seine Sinnlosigkeit durch jenes endlose Murmeln zu modulieren, das man Literatur nennt.« M. Foucault: Sprechen, S. 95-97. 49 Ebd., S. 96. 50 Die Sprache des Exzesses, die er unter anderem an de Sades Werk beschreibt, und das »Weiterblöken« – die unendliche Wiederholung – bestimmen die Möglichkeiten dieser Sprache. Die »Unausgewogenheit« kennzeichnet das defizitäre Moment dieses Sprechens gegen den Tod im übergeordneten Sinne. Für Foucault tritt die Vielfalt an die Stelle der Rhetorik des Sinns, die Bibliothek und das Archiv lösen die Geschichte ab. Ebd., S. 100-102. 51 Ebd., S. 102. 52 Ebd., S. 103.

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Die Literatur wird als besonderer Ort definiert, der das Paradox – im Gegensatz zum Dilemma – der unendlichen Wiederholung und des immanenten Widerspruchs, wenn nicht lösen, so doch aushalten kann. Auch Foucault traut der Literatur viel zu, er erwartet von ihr keineswegs die Restitution des durch die Umakzentuierung des Kommunikationssystems verlorengegangenen Sinns, vielmehr die Etablierung eines eigenen Ortes, der ein anderes Bild der Welt eröffnet, hier durch die Begriffe ›Dilemma‹ für die Sprache und ›Paradox‹ für die Literatur gekennzeichnet.53 Diese Modellierung des Raums, den der Text entstehen lässt, ist radikal gegen jede Form der Metaphysik konzipiert, dennoch privilegiert er die Literatur in ihrer Differenz zur Sprache. Sprache ist für Foucault in diesem Text rhetorisch determiniert und auf Sinnvermittlung aus, die von ihm interpretierten literarischen Texte hingegen überschreiten die Grenzen der Sprache durch ihre Wiederholung, die die Sinndimension porös macht und gleichzeitig als Archiv fungiert, das Sprache enthält, allerdings ohne die Aspekte von Immanenz und Metaphysik. Gabe als selbstlose Handlung des Sinn- und Zeitgebens, Performativität als textuelle Geste der Dynamisierung der Lektüre durch die Verweigerung von Sinn und Literatur als Medium, das das Paradox des unendlichen Sprechens gegen den Tod aushält und bearbeitet, liefern die Bezugspunkte für die weiteren Überlegungen. Fragt man nach einer ethischen Dimension der Literatur, kann man sie auf der Grundlage dieser theoretischen Perspektiven abgelöst von Handlungsebene und Appellstrukturen wahrnehmen. Die Frage nach der Gabe kann man mit Blick auf die Textualität, gestützt auf Barthes als textuelle Geste verstehen, durch die die Literatur in besonderem Maße gekennzeichnet ist: die Unterbrechung von eindimensionalen Sinnmustern, die Öffnung von Denkräumen und die Dynamisierung der Sprache und des Denkens. Wenn man dabei die Bedeutung des Todes für die Literatur einbezieht, wäre das spezifische Paradox des unendlichen Sprechens als Bewegung in einer Immanenz der Sprache und als spezifische Form des Aushaltens der paradoxalen Konstellation von Wiederholung und Widersprüchlichkeit hervorzuheben. Wie kann eine solche ethische

53 Vgl. dazu Foucault, Michel: Von anderen Räumen, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4 1980-1988, hg. v. Daniel Defert, François Ewald u.a., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 931-942 und Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans, in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen v. Haverkamp, Anselm, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 47-73 zum Wirklichkeitsbegriff.

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Geste des Textes, die keine Sinndimensionen mehr durchsetzen möchte, sich darstellen?

2. C ELANS P OETIK

DES

›G EGENWORTS ‹ IM M ERIDIAN

Celans Rede Der Meridian (1960) widmet dem Raum, der durch das spezifische Vermögen der Dichtung in der Auseinandersetzung mit dem Tod eröffnet wird, eine zentrale Argumentation. Sie stellt die Themen Kunst und Dichtung sowie die Probleme der Kunst in Gegenwart und Vergangenheit ins Zentrum. Seine Büchnerlektüren bestimmen die Überlegungen zur Vergangenheit, seine eigene Poetik und seine Standortbestimmungen für die Dichtung orientieren sich an der Gegenwart. Die Literatur im Zwischenraum zwischen Tod und Utopie, zwischen der Endlichkeitshermeneutik und Sprachphilosophie des späten Martin Heidegger und der Dialektik und Ästhetik Theodor W. Adornos, bildet dabei den philosophischen Bezugspunkt.54 Das Sprechen über die Kunst in Büchners Werken liefert Celan einen Anknüpfungspunkt. Seine Reflexionen kreisen um die Sterblichkeit, zugespitzt im Sterben der Protagonisten der Französischen Revolution auf der Guillotine. Damit verbunden ist die Sinnlosigkeit auch der Worte in dieser Situation. Zweitens spielt die moderne Literatur, in der die Worte nur noch auf sich selbst und nicht mehr auf einen höheren Sinn verweisen, eine wesentliche Rolle. Drittens fragt Celan nach den Möglichkeiten der Literatur und der Dichtung angesichts des Scheiterns und der Kontingenz.55 Lucilles Ausruf »Es

54 Vgl. dazu zuletzt Schäfer, Martin Jörg: »Weg des Unmöglichen« – Celans Gespräch mit Heidegger im Meridian, in: Wergin, Ulrich u. Ders. Hg.: Die Zeitlichkeit des Ethos, S. 113-163. Schäfers Beitrag kann als repräsentativ für die neuere Forschung zum Meridian gelten, er kann Berührungspunkte zu Heideggers Philosophie in der Terminologie zur Sprache und zur Existenz nachweisen und deutlich machen, dass der gesamte Kontext der ›Weltöffnung‹ und der Nation bei Heidegger unbeachtet bleiben. Zur Auseinandersetzung mit Adorno vgl. u.a. M. Janz: Engagement, S. 115-122. Zu den Differenzen, ebd. S. 121f. Sie vertritt eine dezidiert politische Interpretation der Autorpoetik Celans, ebd. S. 99-127, bes. 108, 110f. und setzt sich kritisch mit der Deutung besonders Pöggelers auseinander 122-127. Damit steht sie stellvertretend für die ältere politische Interpretation Celans. 55 Celan bezieht sich auf Georg Büchners Stücke, M 188. So formuliert er mit Blick auf Büchner und sein eigenes Projekt: »Ein Problem, das einem Sterblichen, Camille, und einem nur von seinem Tod her zu Verstehenden, Danton, Worte und Worte aneinanderzureihen erlaubt. Von der Kunst ist gut reden.«

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lebe der König« kurz vor ihrer Hinrichtung in Büchners Dantons Tod hebt er als ein »Gegenwort« hervor, »das den ›Draht‹ zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den ›Eckstehern und Paradegäulen der Geschichte‹ bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.«56 Er fasst das Durchbrechen der starren und tödlichen Ordnung und das Aufscheinen des Menschlichen im Absurden als »die Dichtung« auf und verbindet sie mit einer charakteristischen Geste: dem »Akt der Freiheit«. Das Gegenwort wäre als ethischer Akt zu bestimmen, der mit der Dichtung in engster Verbindung steht. Wie Foucault situiert Celan den Ansatz des Sprechens im Tod, in der Sinnlosigkeit; dennoch modelliert diese dichterische Sprache ein Paradox, das den Alltag unterbricht, das das Denken dynamisiert und das als literarisches Sprechen das Paradox des Diskurses inszeniert. Diese Funktion des Gegenworts und des Einspruchs im Namen des Menschlichen ist für ihn mit der Dichtung wesentlich verbunden. Der Akt der Freiheit manifestiert sich in einer zunächst absurd erscheinenden sprachlichen Geste, der Huldigung des Abwesenden und des scheinbar überwundenen Regimes. Er bezieht diese Definition der Dichtung auf die Gegenwart (M 190). Celan nimmt in den Reflexionen über die Kunst in Büchners Lenz etwas Unheimliches wahr: »Das ist ein Hinaustreten aus dem Menschlichen, ein Sichhinausbegeben in einen dem Menschlichen zugewandten und unheimlichen Bereich [...]« (M 192). Diese Perspektive auf die Kunst und die Dichtung zielt auf die Kunst als »einem Vorgegebenen und unbedingt Vorauszusetzenden«.57 »Kunst schafft Ich-Ferne. Kunst fordert hier in einer bestimmten Richtung eine bestimmte Distanz, einen bestimmten Weg« (M 193). Dichtung wird dabei als Instanz angesehen, die diese durch die Kunst verursachte Selbstalienation zu durchbrechen in der Lage ist.58 Die Dichtung wird als ein handelndes Subjekt eingeführt, dem zugetraut wird, die Selbstentäußerung der Menschen sowie der Kunst mitzugehen, dabei aufzubrechen und einen Blick auf die Menschlichkeit zu eröffnen. Zentral ist die Doppelbewegung: Die Kunst entrückt den Menschen seiner selbst, die Dichtung führt den so Entrückten zu sich zurück. Diese erste

56 M 189. Celan präzisiert: »Gehuldigt wird hier der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden.« M 190. 57 M 193. M. Janz: Engagement, S. 100f. liest diesen Gegensatz primär formengeschichtlich. 58 M 193: »vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu einem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? wieder frei?« M.J. Schäfer: Weg, S. 122f. betont sowohl die Rolle der Dichtung als Unterbrechung wie auch deren Absage an eine technische und mechanische Form der Kunst.

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Bewegung der Störung hatte Barthes mit dem Antagonismus von Textualität und Sprache verbunden, der performative Impuls setzt sich frei, wenn die Sprache gegen die Bedeutungsfixierung arbeitet. Celan resümiert vorsichtig Büchners Lenz und dessen literarische Strategien des Fremd-Machens, er äußert die Hoffnung, »zwischen Fremd und Fremd zu unterscheiden«, zwischen dem Automatenhaften und dem menschlichen Abgrund.59 Diese Differenz ist konstitutiv für sein Werk, der Weg zu anderen ist immer von der Frage nach der Menschlichkeit geprägt. In diesem Sinne interpretiert er den von Büchner datierten Weg des J.M.R. Lenz durch das Gebirge. Die Dichtung der Gegenwart möchte er durch den Versuch charakterisiert wissen, »solcher Daten eingedenk zu bleiben« (M 196). Das Datum steht hier für ein außergewöhnliches Durchbrechen des Alltäglichen durch die Dichtung – als Akteurin auf dem Felde des Textes –, wodurch eine besondere Art des Menschlichen zutage treten kann, der Abgrund. Das Menschliche des anderen, kaum kann man es als Transzendenz auffassen, vielmehr als das »Natürliche und Kreatürliche« (M 191) freizusetzen, das sich nicht der Organisation und Routine unterwirft, ist die höchste Aufgabe der Dichtung. Für Foucault endet die Erfahrung der Individualität und der Sinnlosigkeit in einem Sprachstrom; Celan setzt der Todeserfahrung ein Gegenbild des Menschlichen in der Dichtung entgegen. Es entsteht in einem Raum zwischen den monadischen Konzeptionen der Einmaligkeit der Geschichte und des anderen und der Arbeit der Dichtung. Deshalb erweitert er die Zuschreibungen an die Dichtung: »Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt der Daten eingedenk, aber – es spricht. Gewiß, es spricht immer nur in seiner eigenen allereigensten Sache« (M 196). Er präzisiert »in eines Anderen Sache« (M 196). Das Gedicht wird hier als eine eigene Instanz eingeführt, die einerseits einen Bezug auf die Ereignisse der Vergangenheit – konkret auf das Freisetzen eines Anderen, Menschlicheren – verweist, andererseits als Instanz selbst spricht und schließlich eine ethische Position bezieht, die »allereigenste[...] Sache« des Gedichts wird zu »eines Anderen Sache«. Gerade diese Präzisierungen erlauben es, den Gedanken nicht allein als Metapher für das Sprechen des Autors zu verstehen. Drei Bewegungen des Wechsels sind hier zu beobachten – Celan führt sie mit dem Titel seiner Gedichtsammlung »Atemwende« ein (M 195, 200) –, der Wechsel von der Alltäglichkeit auf das andere, der Wechsel des Sprechens von einem lyrischen Ich auf das Gedicht und der Wechsel vom Sprechen des Gedichts in eigener Sache, die sich schließlich als die Sache »eines Anderen« zu

59 M 196: »Vielleicht wird hier, mit dem Ich, [...] – vielleicht wird hier noch ein Anderes frei?«

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erkennen gibt. Celan betont den utopischen Aspekt dieses poetischen Entwurfs, wenn er diesen Gestus des Hoffens ebenfalls auf das Gedicht überträgt: »Das Gedicht verweilt oder verhofft – ein auf die Kreatur zu beziehendes Wort – bei solchem Gedanken« (M 197). Nochmals zugespitzt wird das Eingedenken an die individuelle Erfahrung des Durchbrechens der gesellschaftlichen Automatismen als Gestus des Gedichts beschrieben, ergänzt um die Richtung, in die sich das Gedicht bewegt: auf die Kreatur zu. Damit wird eine utopisch-ethische Perspektive auf das Sprechen des Gedichts übertragen. Celan geht es dabei nicht um eine Transzendenz, vielmehr um eine Begegnung innerhalb der Sprache als Gespräch.60 Das Gedicht kann die Sprachimmanenz nicht verlassen, sondern es kann durch die Sprache einen Raum eröffnen und seinen Adressaten auf diese Weise selbst erzeugen. Foucault hat auf die Spiegelrelation im Sprechen gegen den Tod hingewiesen. Versteht man das Ich als das lyrische Ich, das auf ein im Gedicht und außerhalb des Gedichts Angesprochenes zugeht, dann werden hier zwei wichtige Voraussetzungen deutlich; die Sprache kann nicht verlassen werden, aber sie kann die Kommunikation herstellen. Außerdem ist dem lyrischen Ich oder dem Ich des Gedichts eine Öffnung des Raumes durch das Gedicht vorgelagert, die dieses Sprechen in den Figuren auch der Umkehrung, des Wechsels vom Ich zum anderen erst möglich macht.61 Das Gedicht konstituiert seinen Angesprochenen mit den Mitteln der Sprache, es eröffnet einen Raum, in dem sich ein Ich – das lyrische Ich – und das Du des Angesprochenen erst durch Sprache bilden können.62 Mit dem Gedicht wird hier eine dritte Instanz verankert, der die eigentliche Initiative und das Verhältnis – »der Daten eingedenk« – zum Kreatürlichen angesichts seiner Auslöschung zugeschrieben wird. Der Meridian, der Titelbegriff des Textes, steht bei Celan als eine solche Verbindungslinie, die die ›Tropen‹, d.h. die rein technisch betrachte-

60 M 198: »Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und es nennende Ich.« 61 M. Janz: Engagement, S. 106 verweist dabei auf die »gesellschaftliche[...] Funktion« der Kunst und definiert sie »als Kritik an Unmenschlichkeit«, die die Dichtung formuliere. 62 Gegen Ende macht er noch einmal auf den Rahmen seiner poetologischen Überlegungen aufmerksam, auf die Spannung von »Utopie« und der »Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst« (M 200) durch die Dichtung. Er nimmt konkret Bezug auf Büchners Texte, allerdings ist poetologisch zwischen dem nihilistischen Gegenwartsbefund und der Utopie das Sprechen der Dichtung noch vor dem Ich anzusetzen, als raumöffnende Geste der Kommunikation, die innerhalb der Sprache Sprecher und Angesprochenen »konstituiert«, zu unterscheiden.

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te Sprache einer ›klappernden‹ Rhetorik durchkreuzt.63 Diese Schlussvolte der Rede kann man gut mit Barthes' Überlegungen zur Performativität und der damit verbundenen Durchkreuzungsbewegung von bestimmten Sinndimensionen beschreiben. Die Aspekte der Autorpoetik im Meridian gehen nicht von einer Reintegration der Gegensätze in einer Normalität aus, sondern von einer Störung und Durchkreuzung dieser Normalität in Richtung auf das Individuum und die Spur seines Leidens. Diese Bewegung kann man mit Derridas Theorem der Gabe in Beziehung setzen. Im poetologischen Text bildet das Sprechen gegen den Tod, Foucaults unendliches Sprechen, den Ausgangspunkt. Er wird nicht in Richtung auf eine Transzendenz weitergeführt, sondern wie bei Barthes und Foucault ist die Sprachimmanenz nicht zu verlassen. In dieser Immanenz hält das Gegenwort – die Atemwende – und auch das Gespräch als Geste das Inkommensurable wach; das Individuelle und Kreatürliche bildet für Celans Poetik den Bezugspunkt der ethischen Geste des Gedichts.

3. S CHIBBOLETH – D AS G EDICHT LYRISCHEN S PRECHENS

ALS I NSTANZ

Celans Gedicht Schibboleth entstand 1954 und wurde 1955 zuerst veröffentlicht, einige historische Markierungen situieren es im Spanischen Bürgerkrieg.64 Für die hier gestellte Frage sind der Ort des Sprechens und das lyrische Sprechen als ethisches Handeln wesentlich.65 Gelesen werden soll das Gedicht im Sinne der Beschreibung des Sprechens gegen den Tod. Wenn Foucault formuliert

63 M 202. Celan setzt nicht das Wissen, den Diskurs und die Bibliothek dagegen wie Foucault, sondern die Menschlichkeit und Kreatürlichkeit. 64 Buck, Theo: Schibboleth. Konstellationen um Celan. Celan-Studien III, Aachen: Rimbaud 1995, bezieht sich besonders auf die historischen und philologischen Hintergründe des Gedichts und arbeitet Anspielungen auf den spanischen Bürgerkrieg heraus. Die neuere Forschung nimmt weniger das Gedicht und seine Interpretation wahr, sondern setzt sich mit Derridas Thesen auseinander, die sich nicht dezidiert auf dieses Gedicht beziehen. 65 Diese Frage geht U. Wergin: Sprache S. 37, jenseits der Textualität an und diskutiert auch Lacoue-Labarthes Vorschläge, die ebenfalls in eine andere Richtung deuten. Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe: Dichtung als Erfahrung, Stuttgart: Patricia Schwarz 1991, S. 86-90. Ich lese hier das Gedicht primär als textuelle Instanz.

140 | M ARTIN SCHIERBAUM »[...] um wieder an den Punkt zu kommen (den des Todes), um ihn jedoch wieder zu umgehen, gewahrt man ein anderes Sprechen – das Bild des wirklichen Sprechens, aber als winziges, inneres, virtuelles Modell [...].«66

Deutlich werden soll besonders die textuelle Komponente, mit dem Meridian formuliert, die Art, wie das Gedicht spricht.67 Dabei geht es um einen Moment, in dem der literarische Text »die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten in einem Bruchteil von Zeit«, umkreist.68 Schibboleth69 Mitsamt meinen Steinen, den großgeweinten hinter den Gittern,

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schleiften sie mich in die Mitte des Marktes, dorthin, wo die Fahne sich aufrollt, der ich keinerlei Eid schwor.

Flöte, 10 Doppelflöte der Nacht: denke der dunklen Zwillingsröte in Wien und Madrid. Setz deine Fahne auf Halbmast, 15 Erinnrung. Auf Halbmast für heute und immer.

66 M. Foucault: Sprechen, S. 91. 67 Vgl. z.B. T. Buck: Schibboleth, S. 24, der sich die Frage auch gestellt hat, er vergleicht Schibboleth mit In eins, diskutiert aber die besondere Sprechsituation von Schibboleth nicht intensiver. 68 M. Foucault: Sprechen, S. 90. 69 Zitiert nach: P. Celan: Gedichte, S. 83f.

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Herz: gib dich auch hier zu erkennen, 20 hier, in der Mitte des Marktes. Ruf’s, das Schibboleth, hinaus in die Fremde der Heimat: Februar. No pasarán. Einhorn: 25 du weißt um die Steine, du weißt um die Wasser, komm, ich führ dich hinweg zu den Stimmen 30 von Estremadura. Der Titel steckt einen semantischen Raum ab und greift in ihn ein. Die unterschiedliche Aussprache des Titelbegriffs ›Schibboleth‹ konnte im biblischen Mythos die Zugehörigkeit zum israelitischen Volk beweisen.70 Das Wort wandelt sich so zu einer Art Kassiber und Erkennungszeichen. Mit diesem ambivalenten Zeichen der Zugehörigkeit und der Bedrohung zugleich wird die Frage nach der Situation des Sprechens sowie nach der Rolle der Sprache im Gedicht einbezogen. Das Schibboleth fungiert sogar als das Zeichen der Differenz schlechthin, das die Felder der Nichtidentität, des Todes und der Abwesenheit von Sinn einschließt. Ein besonderer Raum entsteht bereits durch dieses Wort. Er wird aufgenommen in der Differenz des lyrischen Sprechens, die mit einem Wechsel des Sprechers vom lyrischen Ich zum Gedicht selbst verbunden ist. Celan hat sie im Meridian als Differenz der Kunst und der Dichtung beschrieben. Gezeigt werden soll, dass im Gedicht beinahe unmerklich der Sprecher wechselt, dass das Sprechen des Gedichts selbst als ein performativer Akt des Textes hervortritt. Aus der Perspektive des Meridian wird die textuelle Geste der Dichtung deutlich. Die Eingangsszene ist durch die Metapher des Steins an den letzten Vers geknüpft und stellt eine Art von Rahmung dar. Sie differenziert ein lyrisches Ich,

70 Das hebräische Wort bedeutet übersetzt Ähre oder Strom und ist biblisch (Richter 12,6) als Erkennungszeichen im Krieg belegt. Als Erkennungszeichen entscheidet ein einfaches Wort über Tod und Leben. Vgl. P. Celan: Gedichte, S. 638. Vgl. J. Derrida: Schibboleth, passim, der sich auf eine andere Stelle bezieht (Celans Gedicht In eins). Vgl. dazu T. Buck: Schibboleth, S. 7f.

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das »in die Mitte des Marktes« (V 5) geschleift wird, und »sie«, die Täter. Beide werden zunächst nicht weiter zugeordnet. Das Gedicht beginnt mit der metaphorischen Wendung der ›großgeweinten‹ Steine, mit denen zusammen das lyrische Ich aus dem Gefängnis geführt wird, der Titelbegriff trägt die Assoziation einer Hinrichtung. Die Steine korrespondieren in ihrer Eigenschaft mit der wörtlichen Bedeutung von Estremadura, ›äußerst hart‹, dem letzten Wort des Textes, das auf eine Landschaft verweist, die sowohl durch einen Hauptstützpunkt des Kampfes gegen den Faschismus, wie auch durch die Assoziation mit Hirtengesang verbunden ist.71 Mit diesen beiden Assoziationen der Härte und der Hoffnung ist auch die Spannweite des Gedichts selbst abgesteckt. Isolation, Abschied, Trauer und Todesangst dominieren diese erste Szene, das Ende ist durch die entgegengesetzte Konnotation bestimmt. Man kann die Einsamkeit der ersten beiden Strophen in den Steinen metaphorisiert sehen. Die Fahne, »der ich keinerlei Eid schwor«, kann als Zeichen einer kollektiven Identität angesehen werden, auf deren Seite das Ich gerade nicht steht. Damit ist die Machtkonstellation des biblischen Schibboleth umgekehrt und die Situation von Büchners Lucille aktualisiert.72 Das lyrische Ich ist zunächst derjenige, der nicht passieren kann, sein Schicksal scheint analog zur biblischen Geschichte besiegelt.73 Deutlich erinnert wird in der dritten Strophe an den Kampf gegen den Faschismus und Nationalsozialismus in der Zeit bereits vor dem Beginn des 2. Weltkriegs.74 Die dritte bis sechste Strophe wenden sich nicht von der ausweglosen Situation ab, sondern sie setzen anders an und formulieren jeweils eine Apostrophe an Flöte, »Erinnrung«,75 Herz und Einhorn. Alle vier können als Symbole unterschiedlicher Aspekte der Dichtung interpretiert werden. Die Doppelflöte wird in der Forschung mit einer Hirtenflöte in Verbindung gebracht.76 Sie würde auf die Hirtenszenerie der Estremadura, einer Landschaft in Galizien, Spanien,

71 Vgl. P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638. 72 Auffällig sind Parallelen zu den von Butler zitierten Gedichten, vgl. Raster, S. 59-62, Stichworte, wie ›Tränen‹, ›Paradox‹ und die Nähe des anderen fallen auch hier. 73 T. Buck, Schibboleth, S. 9-28 betont die Bedeutung der Ereignisse des spanischen Bürgerkriegs für das Gedicht. 74 Ebd., S. 9 spricht Buck von einem »Prüfstein für das Vordringen des Faschismus in Europa«. 75 Vgl. U. Wergin: Sprache, S. 37 zur »Poetik der Apostrophe« im Meridian und der Lyrik unter Rückgriff auf M 198. 76 P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638.

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vorausdeuten, mit der das Gedicht schließt.77 Die »Doppelflöte der Nacht« (V 10) wird aufgefordert, der »Zwillingsröte in Wien und Madrid« (V 13) zu gedenken, im Bewahren in der Erinnerung – im Meridian heißt es »der Daten eingedenk« – besteht eines der Vermögen der Dichtung. Die Flöte wäre dann als ein erster Hinweis auf ein poetisches Vermögen zu lesen. Das, was hier aufbewahrt wird, sind die Siege der Revolution, der Wiener Arbeiteraufstand gegen das austrofaschistische Regime am 13. und 14. Februar 1934 und der Wahlsieg der spanischen Volksfront in einem Wahlkreis in Madrid gegen das Regime Francos.78 Die Flöte konfrontiert das Tragisch-Ausweglose der Eingangssituation in den Strophen 1f. mit der Erinnerung an die Feuer, die ihm entgegenstehen, sie konfrontiert faschistische Gleichschaltung und Widerstand. Das Gedicht fasst das Schreckliche und führt über die Apostrophe der Flöte zur Erinnerung und zur Aktualisierung der Erinnerung im Sprechen. Die angesprochene Flöte folgt einer Inversionsbewegung. Aus der Klage wird die Erinnerung, aus dem Dunkel das Feuer. Diese Verse enthalten nicht allein Zuspruch in aussichtsloser Lage, sie beschreiben nicht allein die Lyrik, sondern auch das Verfahren, das das Gedicht in seinem eigenen Sprechen anwendet. Doch wer spricht hier? Ich meine, das lyrische Ich hat gewechselt. Alle Apostrophen werden mit Aufforderungssätzen verbunden. Die Flöte wird aufgefordert zu denken (V 11). Dieses Denken als Andenken – als sich seiner selbst bewusst zu werden und für seine Sache einzustehen – korrespondiert mit dem Gedicht selbst. Die Rolle der Flöte in der Umschlagfigur von der individuellen Bedrohung zu Erinnerung und Revolution entspricht nicht allein wesentlichen Aspekten des Gedichts, hier spricht auch das Gedicht selbst als Text.79 Die Divergenz der Sprecher im Text, eingeleitet durch

77 P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638 verweist auf ein Fresco von Simone Martini in der Martinskapelle der Basilika von Assisi, das Celan gesehen habe, dort sind allerdings primär Darstellungen aus dem Leben des Franciscus von Assisi abgebildet. 78 Vgl. ebd., S. 638. Derrida: Schibboleth, S. 67 bezieht die beiden Namen im Gedicht auf das »Überschreiten der Schwelle«, also einen »Übergang«, eine »Übersetzung«. Deutlich wird an dieser Stelle, dass in diesem Gedicht eine Performativität im Sinne Barthes nicht als Einäscherung einer fixierenden Interpretation allein wahrzunehmen ist, sondern an der Spannung zwischen dem, was decodierbar ist und dem, was sich einer Deutung entzieht. Die konkrete Apostrophe als Sprechhaltung zieht diese Art von Semioseformen nach sich. 79 Diese Bewegung hat auch Der Meridian als wesentlich für die Dichtung festgehalten: »vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu einem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? wieder frei?« M 193.

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den Titel, eröffnet einen Raum des Sprechens. In dieser Weise beschreibt Barthes wesentliche Kriterien der Textualität. Celans Gedicht nutzt diesen Raum zu seinen Inversionsfiguren, die Deutung der Szene wird so durch einen performativen Akt, die Apostrophe, stark umakzentuiert. Die Apostrophe der Erinnerung fügt der Inversionsfigur den Aspekt der Trauer hinzu. Sie wird, und darin besteht eine erneute Inversion, auf Gegenwart und Zukunft bezogen. Wenn das Eingedenken durch Trauer gekennzeichnet wird, liegen eine geschichtsphilosophische Teleologie, Utopie oder die Erinnerung an ein ›goldenes Zeitalter‹ fern. Allerdings wird damit ein eigener Raum des Sprechens eröffnet. Wenn im Gedicht die Inversionsbewegung der Flöte Geltung hat, dann in den Bahnen der Sprache und der Dichtung. Die Immanenz der Sprache, die Bewegung, die sie in ihrer Spiegelrelation ermöglicht, gerade weil sie nie in Form der Repräsentation zum Außen vordringt, lässt andere Bilder entstehen, die nicht als einfache Utopie auf direkte Umsetzung drängen. Die Herzapostrophe in der 5. Strophe stellt die Frage nach dem Sprecher noch deutlicher als die beiden zuvor, die Szenerie des Beginns wird aufgerufen.80 Aber wer spricht? Die Metapher des Herzens ruft die Dimension des Mutes in einer Situation der Aussichtslosigkeit ab. Das wäre als eine erste Umkehrungsfigur zu deuten, aufgenommen wird die Trauer, eingeführt wird der Gedanke des Widerstands. Der Mut soll sich angesichts der Aussichtslosigkeit zu erkennen geben, soll das Zeichen des Aufstands gegen den Nationalsozialismus, das Schibboleth – als ›Gegenwort‹ – rufen, für das es keinen Adressaten in dieser Hinrichtungssituation mehr gibt. Das Sprechen und auch die Angesprochenen sind auf verschiedenen Ebenen situiert, sonst wäre wohl ein Sprechen in der ersten Person zu erwarten. Diese Art der Apostrophe allerdings weist auf zwei Sprecher, das Opfer wird vom Gedicht angesprochen, die Identität zu wahren, für die gemeinsame Sache in den Tod zu gehen und die gemeinsame Hoffnung auf den Sieg der Republik gegen den Faschismus nicht sinken zu lassen. Zu Apostrophe und Zeichen tritt wiederum die Inversion von Fremde und Heimat. »no pasarán« war eine Parole, ein Losungswort der internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg.81 Damit wäre zunächst eine erste Dimension zu fassen, die Brigaden finden im Kampf für die zweite spanische Republik und gegen den späteren Franco-Faschismus eine gemeinsame (politische) Heimat. Die Überzeugung, dass diese Faschisten den Sieg nicht davontragen dürfen, kondensiert sich in diesen Worten. Mindestens eine weitere Dimension tritt hinzu: Schibbo-

80 J. Derrida: Schibboleth, S. 68, weist auf die Verbindung zu Celans Gedicht In eins hin, dort ist von »Herzmund« die Rede. 81 Vgl. P. Celan: Gedichte, Kommentar S. 638.

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leth ist auch der Titel des Gedichts, durch die Inszenierung kann das Gedicht selbst an die Stelle des Losungswortes treten, als Gedicht des Eingedenkens und als ›Gegenwort‹. Auch hier liegt der Satz aus dem Meridian nicht fern, das Gedicht spricht »in seiner eigenen allereigensten Sache«.82 Im Meridian findet sich auch die Aufforderung: »geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei« (M 200). Die Szenerie auf dem Marktplatz konfrontiert die individuelle Verlassenheit mit der Öffentlichkeit der Situation.83 Die Position des Sprechens ist nicht primär als das Sprechen des Delinquenten zu beschreiben, mit diesem Satz aus dem Meridian kann man sie als Stimme der Dichtung ansehen, im Angesicht des Todes, der »allereigenste[n] Enge«, steht sie für eine Öffnung der Situation, bestärkt darin, auf der richtigen Seite zu stehen, für die richtige Sache zu sterben. Durch dieses Sprechen des Gedichts wird die Verkehrung der Not in die Revolutionshoffnungen des Februar übertragen und damit verkehrt, geöffnet. Freilich ohne die im Zeichen der auf Halbmast stehenden Fahne vereinigten Aspekte zu vergessen. Diese Bewegung wiederholt und konkretisiert sich in den letzten Versen, die mit der Apostrophe an ein Einhorn (V 24-30) beginnen. Sie verweisen auf ein Wissen, »du weißt um die Steine / du weißt um die Wasser« und wiederholen damit die »großgeweinten Steine« vom Beginn (V 1f.). Im zweiten Teil der Strophe taucht ein lyrisches Ich auf, das kaum mit dem Delinquenten identisch sein kann. »ich führ dich hinweg / zu den Stimmen / von Estremadura« (V 2830). Es ist zu fragen, was man unter der Metapher des Einhorns verstehen könnte. Celan selbst hat eine Erklärung gegeben, »Das Einhorn ist auch die Dichtung«84; blickt man allerdings auf die Aussagen der Büchnerpreisrede Der Meridian, muss man hier die Unterscheidung von dem Gedicht, das spricht, der Dichtung und der Kunst sehr ernst nehmen. Blicken wir auf den Meridian, dann wäre

82 Die Überschneidung von Gedicht und Schibboleth wäre eine Realisationsform von Barthes' Modell einer performativen Textualität. 83 Bertold Brecht bildet in seiner 1955 zuerst erschienenen Kriegsfibel einen Zeitungsausschnitt ab, der die Erschießung eines Franzosen durch deutsche Soldaten zeigt und zitiert auch den Kommentar in englischer Sprache, in dem das Verbinden der Augen des Delinquenten vor der Erschießung ironisch hervorgehoben wird. Brecht kommentiert Bild und Kommentar mit einem Epigramm und hinterfragt dabei auch die Kommunikationsleistung des Fotos: »So haben wir ihn an die Wand gestellt: / Mensch unsresgleichen, einer Mutter Sohn / Ihn umzubringen. Und damit die Welt / Es wisse, machten wir ein Bild davon. Brecht, Bertold: Kriegsfibel, Berlin: Eulenspiegel 62012, S. 12f. 84 P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638. Anders Buck: Schibboleth, S. 25f.

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Dichtung als das Vermögen zur Inversion von Enge in Öffnung zu beschreiben, diese Inversion konnte bereits am Gedicht beschrieben werden (M 193). Freigesetzt wird dadurch die Menschlichkeit gerade in der Notsituation. Für die Enge steht zunächst die individuelle Seite dessen, worum das Einhorn weiß, Steine und Tränen. Die zweite Hälfte der Strophe (V 28-30) steht für die Öffnung, für das Wiederfreisetzen. Ein zweiter Aspekt fällt bei dieser Einhornmetapher auf: Bereits das Wort vereinigt zwei Komponenten, die als einzelne durchaus vorkommen und in der Phantasie zusammengebracht werden. Insofern steht das Einhorn auch für ein dichterisches Verfahren und seine Richtung, die Öffnung der Phantasie, durch scheinbar unmögliche Inversionen der Wirklichkeit. Eine solche inszeniert auch der Schluss. Dabei tritt ein Ich auf, das nach meiner Interpretation als Sprechen des Gedichts selbst beschrieben werden kann. Dieses »in eins«-Denken85 mit dem Ziel der Umkehrung zeichnet bereits das Gedicht Schibboleth aus. Wie kann man aber das »auch« in Celans Selbstinterpretation zum ›Einhorn‹ verstehen? Einerseits tritt das Einhorn in die Reihe der weiteren Metaphern der Dichtung und setzt sie fort. Auch in dieser Dimension spricht das Gedicht in seiner »allereigensten Sache«, andererseits greift natürlich jede Interpretation und jeder Versuch, eine Metapher mit einem Begriff zu fixieren, an der Komplexität des Textes vorbei, insofern ist das »auch« im Zeichen solcher Einschränkungen zu verstehen, als Punkt, an dem die Arbeit des Textuellen an die Stelle der Bedeutungsfixierung tritt. Die Dichtung bleibt der »Daten eingedenk«, gerade wenn sie für die politischen Konfrontationen am Beginn des Faschismus stehen (M 196), und erzeugt eine ›Atemwende‹, konkret durch das Sprechen des Gedichts im Satz: »ich führ dich hinweg«. Der direkte Sprechakt als performative Geste konstituiert ein Ich und ein Du in der Sprache, davon war in den Strophen zuvor nicht die Rede. Die Einsamkeit wird durchbrochen, eine Perspektive eröffnet sich, zunächst durch das Gedicht – als Sprecher – und im Gedicht – für den Leser, die die gegebene Situation vollständig verändert. Damit bleibt dieses Sprechen der letzten Strophe in der Konzeption, die auch das Gedicht insgesamt bestimmt. Wenn das Gedicht selbst – als Text – spricht, führt es den Angesprochenen in seinen letzten Augenblicken zu den Stimmen, die Celan mit den Hirtenstimmen aus einem von Germaine Montero gesungenen Lied in Verbindung bringt.86 Celan betont, dass

85 Celans Gedicht In eins zitiert ebenfalls das Schibboleth und die Parole »no pasarán«, es ist um 1962 entstanden. P. Celan: Gedichte, S. 153. 86 Vgl. P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638. Es handelt sich um Gesänge, die in der Landschaft Estremadura gesungen werden, dort hatte 1936 die Volksfrontregierung einen ihrer Hauptsitze. Zu Lage und Geschichte vgl. T. Buck: Schibboleth, S. 25f.

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diese Stimmen »Fast unerreichbar« seien.87 Die äußerste Härte, die der Name als eine Konnotation trägt, führt in Verbindung mit den fernen Stimmen eines anderen, auf das das Gedicht zuhält und den Angesprochenen mitnimmt – »ich führ dich hinweg« –, und der politischen Konstellation, die mit dem Ort in Verbindung steht, den Angesprochenen aus seiner Einsamkeit heraus. Auch wenn das Gedicht nur eine Szene der Todesnähe aus dem spanischen Bürgerkrieg in Erinnerung behält, so kann es daraus nicht nur die Nähe zu diesem Opfer stiften, sondern auch, als Akzent auf Gegenwart und Zukunft, einen Raum öffnen und durch die extreme Enge führen. Darin liegt vielleicht eine weitere Dimension von Estremadura, das Gedicht führt durch diese Enge und es führt hinaus. Hier platziert sich das Gedicht durch den textuellen Akt der Apostrophe mit seinem Sprechen, in dem Moment der vollständigen Aussichtslosigkeit und Verlassenheit des lyrischen Ich. Das Sprechen des Gedichts wird im Meridian als Auseinandersetzung mit der »Ichferne« beschrieben, die Erinnerung, die Identifikation mit der richtigen Seite und die Kunst als Unterbrechung der scheinbar einförmig ablaufenden Handlungen konstituieren dieses Sprechen besonders in seinen Inversionsfiguren. Die ›Gabe‹ des Gedichts wäre so als ethisches Handeln im Medium des Textes zu verstehen. Es verlässt keineswegs die Sprache in Richtung auf eine Transzendenz oder Utopie, es schafft angesichts des Todes, gleichsam im unendlichen Sprechen des Gedichts das Paradox, das die Verhältnisse noch einmal in Bewegung bringen soll und sei es auch nur in der Phantasie. Ethisch wäre dieses Handeln des Gedichts zu nennen, da es sich auf die Seite der Opfer in deren größter Not stellt und mit dieser Geste bis zu einem gewissen Grad das scheinbar Unabänderliche unterbricht. Der damit verbundene Appell richtet sich über die historische Situation des spanischen Bürgerkriegs hinaus noch in der Mitte der 1950er Jahre daran, nicht aufzugeben, dem Faschismus und Nationalsozialismus zu widerstehen. Darin besteht für Celan eine Aufgabe der Dichtung. Das Gedicht als Medium der Erinnerung hält die Stimmen von Estremadura als Stimmen der Opfer und als Stimmen gegen den Faschismus aufrecht. Das Sprechen des Schibboleth ist ein unmögliches unautorisiertes Sprechen in einer aussichtslosen Situation, genau in dem Moment der ›größten Enge‹ des lyrischen Ich. Es ist ein Sprechen, das im Text und nicht in einer ihm äußeren Instanz seinen Ursprung hat. Der spezifische Sprechakt als Handeln des Gedichts ist in dieser Situation als ethischer Akt zu beschreiben, der auf das Menschliche in einer unmenschlichen Situation gerichtet ist. In den 1970er Jahren verändert sich der Akzent entscheidend.

87 P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 638.

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4. D U LIEGST – T EXTUELLE G ESTEN DES E INGEDENKENS JENSEITS DER S PRACHE Wenn es gelingt, in Celans Gedicht ein Handeln als Sprechen des Gedichts selbst aufzuzeigen, das genuin ethisch determiniert ist und mit seiner Bewegung auf die Menschlichkeit zielt, ist zu fragen, ob auch ein ethisches ›Lassen‹ auf dieser Ebene zu beschreiben ist. Das Gedicht Du liegst (22.-23.12.1967) läuft, so soll gezeigt werden, auf eine spezifische textuelle Geste des Lassens als Einhalten und Eingedenken zu.88 Wie das Gedicht Schibboleth kreist es um die Verbrechen des Nationalsozialismus. Es setzt einen ersten historischen Akzent bereits 1919. Zwei Zugangsweisen sind besonders hervorzuheben: Einerseits ist es möglich, die Entstehungsumstände in vielen Punkten zu rekonstruieren und dadurch Anspielungen inhaltlich zu deuten. Peter Szondi begleitete Celan in der Vorweihnachtszeit 1967 durch Berlin und hat versucht, die Kontexte vieler Verse des Gedichts zu rekonstruieren.89 Andererseits hat Derrida auf die Tilgung der Angabe des Entstehungsortes und des Datums sowie des Titels durch Celan vor der

88 Die Forschung hat das Gedicht zunächst (erinnerungs-)politisch gelesen: M. Janz: Engagement, S. 193. Sie nimmt die besondere Funktion des Schlusses für das Gedicht wahr und deutet sie zunächst als ausdruckssprachlichen Akt: »Das Gedicht stockt und will auf diese Weise zum Ausdruck bringen, daß der Widerstand von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht noch nicht vergessen sei.« Ebd. Aus dieser Perspektive liest sie Luxemburg als Adressatin der ersten beiden Verse und deutet alle Gegenstände und Symbole in Richtung auf diesen Doppelmord. Außerdem hat die Forschung auf Peter Szondis Text Eden reagiert: Vgl. Berthold, Jürg: »Wir müssen’s wohl leiden«. Formen ›autobiographischen‹ Schreibens, Paul Celan: DU LIEGST / Peter Szondi: Eden, in: Poetica 24 (1992), S. 90-101, der die historischen und topographischen Anspielungen und nicht die textuelle Arbeit hervorhebt. Szondis Kommentierung und die damit verbundene Vereindeutigung der von Celan benutzten Metaphern und Anspielungen hat die Lektüre des Textes deutlich beeinflusst. So z.B. die Erklärungen für die ersten beiden Verse, die auf Celans Blick auf den verschneiten Tiergarten in Berlin hinweisen. Berthold setzt das ›Stocken‹ des Gedichts mit dem Schrei Lucilles in Büchners Dantons Tod gleich, also gerade nicht mit dem Innehalten, vgl. ebd.: S. 101. Vgl. zuletzt auch Speier, Hans-Michael: Du liegst, in: Ders. Hg.: Reclam Interpretationen. Gedichte von Paul Celan, Stuttgart: Reclam 2002, S. 175-196, der die historischen Hintergründe weiter rekonstruiert und ein dezidiert unpolitisches Bild des Gedichts entwirft. 89 Der kurze Text ist leider ein Fragment geblieben. Szondi, Peter: Eden, in: Ders.: Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 390-398 u. 428-431.

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Veröffentlichung hingewiesen und dadurch auch den Aspekt der Öffnung der Deutung ganz im Sinne von Barthes hervorgehoben.90 In einem Punkt hat Derrida sicher recht, die Kontextualisierung schränkt die Deutung u.U. ein. Heute fällt es allerdings schwer, dieses Gedicht ohne die Assoziationen und Semantisierungen zu lesen, die Szondi herausgearbeitet hat.91 Für die Frage nach Gabe, Textualität und Tod ist aber ein Aspekt von Bedeutung, der nicht primär auf der Inhaltsebene zu situieren ist. DU LIEGST im großen Gelausche,92 umbuscht, umflockt.

5

Geh du zur Spree, geh zur Havel, geh zu den Fleischerhaken zu den roten Äppelstaken aus Schweden – Es kommt der Tisch mit den Gaben, er biegt um ein Eden –

Der Mann ward zum Sieb, die Frau 10 mußte schwimmen, die Sau, für sich, für keinen, für jeden – Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts stockt. Fragt man nach dem Sprechen des Gedichts, liefert das Ende einen entscheidenden Ansatz. »Nichts / stockt« (V 13f.). Die typographische Gestaltung des Textes unterbricht die Kontinuität nicht allein durch den Zeilensprung, sondern auch

90 In der zunächst veröffentlichten Fassung war das Gedicht mit »Berlin 22./23. 12. 1967« datiert und in Abschriften für Freunde direkt nach der Entstehung mit dem Titel »Wintergedicht« überschrieben. Vgl. P. Szondi: Eden, S. 391f. Zur Tilgung von Titel und Datum vgl. Derrida: Schibboleth, S. 38-42. 91 Vgl. zur Problematisierung auch J. Berthold: Formen, S. 95. 92 Zitiert nach: P. Celan: Gedichte, S. 315f.

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durch eine deutliche Einrückung des letzten Wortes.93 Textuell markiert wird ein performativer Selbstwiderspruch, der Text scheint in seiner typographischen Form innezuhalten, obwohl die Inhaltsebene konstatiert, dass gerade ›nichts stockt‹.94 Ich spitze diese Beobachtung zu und interpretiere sie mit Blick auf die Textualität. Nicht das Gedicht spricht hier, sondern es hält im Sprechen ein, während seine gesamte Umgebung unablässig der Zerstreuung nachgeht. So könnte man diese Differenz von textueller Geste und sprachlicher Äußerung deuten. Auch wenn man das Gedicht als Instanz des Sprechens ansieht, muss man dennoch auf die Ebene der Textualität als wesentliche Schicht hinweisen. Diese Geste und nicht der Inhalt führt über die Alltagsrealität hinaus. Auch hier liegt die Poetik des Meridian nicht fern, in Du liegst tritt die textuelle Geste an die Stelle des Wortes, als ein Innehalten und Eingedenken im unablässigen (sprachlichen) Handeln. Auch dieses Stocken des Gedichts geschieht in seiner »allereigensten Sache« und in »eines Anderen Sache«. Die ›Sache des Gedichts‹ kann dabei als Eingedenken und Gegenwort aufgefasst werden. Allerdings steht auch die Möglichkeit des poetischen Sprechens selbst zur Debatte. Wenn nicht so sehr das Wort, sondern vielmehr das Schweigen die Alltagskommunikation unterbricht, stellt sich erneut die Problematik des Verstummens der Lyrik, nunmehr angesichts der alles nivellierenden Alltagskommunikation. Die paradoxe Konstellation zwischen der Ebene des Textes und dem lyrischen Sprechen ist Ausdruck von Verstörung und Kritik. Eine weitere Beobachtung kann diese Hypothese stützen. Das Gedicht weist einen beinahe symmetrischen Aufbau auf,95 die ersten und die letzten Verse des Gedichts werden durch Reime aufeinander bezogen, die zweite, dritte und vierte Strophe werden dadurch verbunden, dass jeweils das letzte Wort sich reimt (»Schweden«, »Eden«, »jeden«). Diese Worte werden außerdem durch Gedankenstriche vom folgenden Strophenbeginn noch einmal getrennt. Damit wird als sprachlich kaum realisierbare Spur – im Sinne Derridas – das Stocken der letzten beiden Verse, das sprachlich nicht realisiert wird, präludiert. Ferner liefert die

93 H.-M. Speier: Du liegst, S. 192 bezieht das Fehlen des Reims im vorletzten Vers auf das Stocken des Gedichts. 94 Szondi formuliert in einer nachgelassenen Notiz zu seinem Aufsatzfragment: »Darüber, daß nichts stockt, stockt das Gedicht. Daß nichts stockt, macht das Gedicht stocken.« Szondi, Peter: Nachträge zu den Celan Studien B zu Eden, in: Ders.: Schriften Bd. 2, Frankfurt a.M. 1986, S. 428-430, 429. 95 P. Szondi, Nachträge, S. 429 hat auf die klangliche Verbindung der ersten beiden und der letzten drei Verse hingewiesen. Vgl. auch H.-M. Speier: Du liegst, S. 185.

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mittlere Strophe sowohl durch die Ambiguität des Begriffs ›Eden‹ und durch den Begriff des Umbiegens einen Wendepunkt im Gedicht, der auch durch die drei Reimworte gekennzeichnet ist, wie zu zeigen sein wird. Insgesamt erweckt das Gedicht auch in formaler Hinsicht durch Symmetrien und klangliche Bezugnahmen der Verse aufeinander zunächst einen recht harmonischen und geschlossenen Eindruck, den das Einhalten am Schluss stört. Nimmt man Szondis Schilderungen und ihre Ausarbeitungen durch die Forschung als Grundlage, finden sich in den Oppositionen, die das Gedicht auf der Inhaltsebene aufstellt, eine Reihe von Ansatzpunkten, die die Deutung dieser textuellen Geste weiterführen. Spree und Havel machen deutlich, dass Berlin eine wichtige Rolle spielt. Die Vorweihnachtszeit wird nicht unmittelbar deutlich, nachdem Celan den Titel und den Hinweis auf das Entstehungsdatum getilgt hat, sie wirkt aber als ein Verstärkungseffekt für die Kontraste, die den Text durchziehen. Einen Ansatzpunkt bilden die »Fleischerhaken« (V 4), die Celan wohl an der Hinrichtungsstätte der Hitlerattentäter vom 20. Juli 1944 gesehen hat, der touristische Weg – »geh du (V 3)«96 – führt ihn zum Weihnachtsmarkt, auf dem Weihnachtsschmuck aus Schweden angeboten wird, als den Szondi die »Äppelstaken« (V 5) identifiziert. Sie reimen sich nicht nur auf die »Fleischerhaken«, sondern sie verhalten sich semantisch und ästhetisch gegenbildlich zur Hinrichtungsstätte. Im folgenden Doppelvers scheinen der »Tisch mit den Gaben«, das Kommen des christlichen Weihnachtsfestes und das »Eden« als religiöser Paradiesgarten zu korrespondieren. Das »Eden« ist aber nicht allein als Paradies auf Erden zu verstehen, sondern ebenso als das historische Hotel in der Budapester Straße in Berlin. Dort wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. März 1919 vor ihrer Ermordung verhört und gefoltert. Diese beiden sozialistischen Kämpfer stehen im Mittelpunkt der Schlusspassagen.97 Szondi hatte Celan eine Dokumentation über den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu lesen gegeben.98 Celans Kontrastmontage lebt zunächst von der Ambivalenz des

96 Auch mit dieser Aufforderung ließe sich die Interpretation von Schibboleth bestätigen, wenn man fragt, Wer spricht?, könnte man auch hier das Gedicht als textuelle Instanz des Sprechens beschreiben. 97 H.-M. Speier, Du liegst, S. 177 sieht in der Montage der Ereignisse von 1919 und 1944 mit den religiösen Ritualen den Hauptaspekt des Gedichts. 98 P. Szondi: Eden, S. 395f., es handelt sich um Hannover-Drück, Elisabeth und Hannover, Heinrich (Hg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Frankfurt a.M. 1967. P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 832f. Bereits Szondi weist auf die Korrespondenz der Morde an Liebknecht und Luxemburg und der Verschwörer des 20. Juli 1944 hin, Ebd. S. 121.

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Begriffes Eden und der historischen Konnotation des Gebäudes, das nach dem zweiten Weltkrieg einem noblen Appartementblock seinen Namen gegeben hat. Darauf hat Szondi Celan besonders hingewiesen.99 Diese doppelte Konnotation liefert einen entscheidenden Ansatzpunkt für die beiden Ebenen des Textes, nämlich die für die Verbrechen der Vergangenheit vollständig desensibilisierte Alltagsrealität und ihre Durchkreuzung durch das Gedicht. Deutlich wird, dass die Arbeit des Textes die alltagspraktische Deutung der Wörter dynamisiert und aufzulösen trachtet. Im Text könnte man diese Perspektive in der Vorstellung des ›Biegens um ein Eden‹ in der Mittelachse des Gedichts mitreflektiert sehen.100 Die Wirklichkeit zerfällt in zwei Formen ihrer Wahrnehmung, das Gedicht bricht die geschlossene Oberfläche auf und kritisiert sie. Eine Schicht des christlich geprägten vorweihnachtlichen Konsumalltags wird mit historischen Fakten, die sie zu überdecken und vergessen zu machen scheinen, konfrontiert.101 Auch hier ist die Relation von Monade und Montage geltend zu machen. Auf diese vergessene historische Dimension machen die drei Verse der vorletzten Strophe aufmerksam. Der Schluss des Gedichts arbeitet weiter mit dem Kontrast. Szondi kann auch die Kernbegriffe aus der vorletzten Strophe – »Sieb«, »schwimmen«, »Sau« – auf die Lektüre des Buches über Liebknecht und Luxemburg zurückführen.102 Ähnlich wie in Schibboleth wird der Tod der beiden nicht als bedeutungslos dargestellt »für sich, für keinen, für jeden« (V 9-11). Der letzte Vers dieser Strophe kann als Antwort auf die Frage »für wen?« gelesen werden. Drei Dimensionen werden dabei berührt, der erste Bestandteil sieht die Toten als Singularitäten, verlassen von allen, wie im Schibbolethgedicht. Der zweite bringt die Sinnlosigkeit der Tat in die Diskussion, reicht aber weiter. Bereits der Meridian bringt das Nahen des Todes mit der Ichferne zusammen. Unter diesem Aspekt könnte man diesen Vers etwa paraphrasieren: Nicht einmal für sich selbst, für die eigenen Überzeugungen sterben sie, sie gehen ›durch die eigene Enge‹ hindurch. Von dieser Inversionsbewegung aus, die im Meridian der Kunst zugeschrieben wird, ist auch das dritte Kolon zu verstehen: Auf diese Ich-ferne Enge folgt die Öffnung, die dem Tod einen Sinn gibt als Zeichen des Widerstands gegen die Unterdrückung, insofern sterben sie

99

P. Szondi: Eden: S. 394, Szondi betont auch die Nähe des Eden zum Europacenter mit seinen weihnachtlich geschmückten Geschäften, ebd. S. 394.

100 Vgl. H.-M. Speier: Du liegst, S. 185f., allerdings mit einem anderen Ergebnis. 101 Ebenso: Ebd., S. 183. 102 P. Szondi: Eden, S. 393f.

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»für jeden«.103 Diesen Weg zu gehen, hatte sich unter anderem das Gedicht Schibboleth mit seinem Eingedenken zum Ziel gesetzt. Eine solche Bewegung im Sinne des Meridian zu vollziehen wäre die ethische Aufgabe der Dichtung, sie wird besonders im Stocken deutlich. Dagegen steht in der Gegenwart des Gedichts aber der gänzlich zur Normalität übergegangene Konsumalltag. Das Gedicht konfrontiert die Spuren der Gewalt und des Terrors in Berlin mit dieser homogenen Oberfläche. Der Text endet desillusioniert mit der Feststellung, dass sich keine Veränderungen, keine Überschreitungen ergeben werden. »Der Landwehrkanal wird nicht rauschen«. Dieser Satz betont die Normalität, Kanäle sind gewöhnlich stehende Gewässer, ein Rauschen, eine Bewegung ist nicht ernsthaft zu erwarten.104 Man wird sich, so kann man die Metapher lesen, mit diesen ungesühnten Morden, die für die Unterdrückung der Revolution stehen, schnell und auf Dauer abfinden. Im Land der Täter sind alle Spuren der Taten bereits musealisiert und entschärft, eine Kultur der Erinnerung an die Opfer ist nicht erkennbar. Eine weitere Brisanz entsteht sicher dadurch, dass es hier um eine Situation 1919 geht, in der die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus noch hätte verhindert werden können. Darin liegt ein weiterer Korrespondenzpunkt von Luxemburg, Liebknecht und den Verschwörern des 20. Juli. Dem erinnerungslosen Konsumalltag setzt das Gedicht sein eigenes Stocken entgegen. Es ist kaum wahrnehmbar in einem Zeilensprung situiert. Dort, wo der christliche Konsumalltag unbeeindruckt fortgesetzt wird, gedenkt das Gedicht in einer komplexen textuellen Geste. Der performative Selbstwiderspruch »Nichts stockt« und die textuelle Markierung des Stockens lässt diesen Zwischenraum zwischen den Worten und dem Text deutlich werden. Durch die geringstmögliche Form der Intervention wird eine Unterbrechung der fatalen Normalität inszeniert, die beinahe unmöglich scheint. Auf dieser Ebene liegen auch die Aspekte, die Barthes und Derrida für Textualität und Gabe hervorheben, beide sind Inszenierungen von Störungen der Normalität, ihr Spektrum reicht von der Geste bis hin zur Revolution. Im Gedicht selbst ist diese Unterbrechung nicht allein an das Gedenken angesichts einer christlich überformten Normalität geknüpft, sondern es bezieht auch Position

103 M. Janz: Engagement, S. 194 nimmt dabei primär die politischen Ziele Luxemburgs und Liebknechts wahr und setzt sie mit dem schwedischen Sozialismus in Beziehung. Ihre dezidiert politische Deutung wendet sich gegen Gadamers das Gedicht entpolitisierende Lektüre, ebd. S. 196f. 104 P. Celan: Gedichte, Kommentar, S. 833, weist auf Celans Lesespuren in Büchners Dantons Tod hin, Celan markiert die Verse: dass »alles stockt, sich nichts weiter regt«. Ebenso J. Berthold: Formen, S. 90f.

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für die Sache von Luxemburg und Liebknecht. Das »für jeden« des Schlussverses der vorletzten Strophe bringt eine Öffnung vom persönlichen Schicksal auf das der Gesellschaft in die Diskussion. Das Beiseiteschieben der Erinnerung an diese Zusammenhänge in der weitgehend homogenisierten westdeutschen Gesellschaft löst ein Schockerlebnis aus, darin besteht sicher eine weitere Dimension des Stockens. Nicht allein der Erinnerungsverlust, sondern auch der Gesellschaftstypus – symbolisiert im Gabentisch und im Eden –, der dadurch gekennzeichnet wird, gibt Anlass zum Abweichen. Das Gedicht selbst kann als die Instanz beschrieben werden, die innehält, wo andere weitermachen. Damit wird auch eine Grenze der Ethik der Verausgabung deutlich. Diese textuelle Geste des Gedichts weist in die verdrängte Vergangenheit und mit der Vergangenheit in die Gegenwart. In Frage steht der Raum, der sich dazwischen auftut, er wird im Modus der Frage durch das Gedicht konstituiert. Das Gedicht konturiert ihn durch eine Geste der Unterbrechung, durch ein ›ethisches Unterlassen‹.

5. S CHLUSS Misst man Celans Satz aus dem Meridian, der dem Gedicht ein eigenes Sprechen zubilligt, eine nicht allein metaphorische Bedeutung zu, eröffnet sich ein Spielraum von Konnotationen und Deutungspotentialen, die gerade die Textualität zur Verfügung stellt. Die untersuchten Texte Celans weisen auf dieser Ebene eine ethische Dimension auf, die nicht nur mit Derridas Ethik der Verausgabung zu beschreiben ist. Vielmehr liefern die theoretischen Modelle, die von einer Polarität ausgehen, zu der auch ein nicht kommunikativ konstruierter Pol gehört, weitere Aufschlüsse. Hinzu tritt für diese Ethik die Bedeutung des Todes, die sich in der Shoah nochmals auch mit Blick auf die Literatur dramatisiert. Die Auseinandersetzung mit Celans Gedicht Schibboleth vor diesem Hintergrund mache seine besondere textuelle Dimension deutlich, die in Korrespondenz mit der Poetik des Meridian ein eigenes Sprechen des Gedichts in den Vordergrund treten lässt. Es konstituiert sich ein Raum, in dem sich die Stimme der Menschlichkeit erhebt, obwohl auf der Inhaltsebene keine Spur der Hoffnung mehr wahrzunehmen ist. Aus dem Meridian lassen sich der Weg durch die »allereigenste[...] Enge« und die Öffnung als ›Gegenwort‹, als theoretische Konzeptionen beschreiben und im Sprechen des Gedichts deutlich machen. Zu diesen Aspekten tritt außerdem der poetologische, die Apostrophen in Schibboleth haben immer auch die (klassischen) Legitimationszusammenhänge der Dichtung zum Thema: Eingedenken, Ansprache und Phantasie. Eine aktive sprachliche Geste als Dynamisierung dort zu vollziehen, wo Handeln nicht mehr möglich er-

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scheint, zeichnet die ethische Dimension des Gedichts als Text aus. Das Gedicht konstituiert seine Gegenstände und seinen Adressaten im unendlichen Sprechen gegen den Tod. Beinahe gegenbildlich verfährt Du liegst. Nicht das Handeln, sondern das Einhalten im Strom des Alltagskonsums bildet die Geste des Textes jenseits der Inhaltsebene. Sie wird nicht nur im performativen Widerspruch organisiert, sondern auch als vielleicht letzte Möglichkeit, Widerspruch gegen die Einebnung der Differenz, die Schibboleth durchzog, zu leisten. Das Innehalten im Konsumalltag kann als ein ›Gegenwort‹ gelesen werden, das allein als textuelle und nicht mehr als sprachliche Bewegung artikuliert werden kann. In dieser Konnotation deckt sich diese Funktion der Textualität mit den Überlegungen von Roland Barthes, als Dynamisierung gegen festgefügten Sinn und Bedeutung. Der Antrieb eines Sprechens gegen den Tod bildet das Movens aller dieser textuellen Strategien. Gabe wäre weniger mit Derrida als Überschuss der anökonomischen Verausgabung zu verstehen, sondern als Sprechen vor dem Hintergrund der Auflösung aller kulturellen Sinnzusammenhänge auch und gerade durch die Verbrechen der Nationalsozialisten. Nur auf dieser Basis der Störung von scheinbar unhinterfragbaren Kontinuitäten und der Verabschiedung jeglicher metaphysischer Sinnhorizonte ist diese Art von Überschuss in der Geste möglich, die Derrida als ethische Gabe beschrieben hat. Der Blick auf die Textualität macht deutlich, dass die Sprachimmanenz durch dieses Handeln nicht überwunden wird, dass die Effekte aber über die Texte und deren Inhaltsebene hinausgreifen. Diese ethischen Textualitätskonzeptionen Celans zielen nicht auf die Einebnung von Differenzen durch Momente der Grenzüberschreibung oder des Opfers im konventionellen christlich-ethischen Sinne – verstanden als Ausgleichen eines Mangels –, sie stehen vielmehr im Zeichen des Eingedenkens und der Kritik an der Nivellierung von Schuldzusammenhängen. Ähnlich wie die Montageverfahren bringt die Relation der Inhaltsebene der Gedichte zu ihren textuellen Bewegungen und Perspektivierungen eine zusätzliche Dimension in die Kunstwerke, die einen Raum der Deutung eröffnet. Dieser wäre zwischen dem historischen Faktum wie auch der Singularität der Opfer – dem monadisch-Unzugänglichen – und deren Wahrnehmung und Interpretation durch andere zu beschreiben. Besonders im Kontext der Auseinandersetzung mit den Opfern des Nationalsozialismus ist es ein ethischer Raum. Didi-Huberman spricht in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Montage von einer Ethik des Bildes. Die textuellen Konstellationen der beiden Gedichte können als ethische Gesten insofern beschrieben werden, weil sie nicht allein die auf der Inhaltsebene der Texte gesetzten Grenzen radikal überschreiten, sondern auch ein menschliches Gegenbild zur Alltagspraxis etablieren wollen.

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Gabe und Performativität Von der performativen Kraft leerer Versprechen1 N ICOLA T AMS Jede Frage antwortet bereits dem Ruf des Seins: dort, wo Sprache aufkommt, wo etwas zur Sprache kommt, ist schon Versprechen, trifft man schon auf das Versprechen als Ereignis. Die Sprache ist stets Versprechen und kehrt stets zum Versprechen zurück, vor der Frage, in der Frage selbst. JACQUES DERRIDA: VOM GEIST

Derrida schreibt in Falschgeld. Zeit geben I von der Erfahrung, die er beim Schreiben über die Gabe macht: »Die theoretische und vorgeblich konstative Dimension dieses Versuchs über die Gabe ist a priori ein Stück, ist nur ein Teil, eine Partie oder Partei, ein Moment einer performativen, präskriptiven und normativen Handlung, die gibt oder nimmt, sich verschuldet, gibt und nimmt, zu geben ablehnt oder akzeptiert – oder beides zugleich gemäß einer Notwendigkeit, auf die wir noch zurückkommen werden.«2

Hierin beschreibt er jenes Ineinandergreifen von performativer Kraft sprachlichen Handelns und der Gabe, die für ein unverfügbares Element im Handeln

1

Dieser Beitrag ist aus meiner Magisterarbeit (2011) mit dem Titel »Gabe und Performativität. Widersprüchliches Handeln zwischen Lassen und Tun« hervorgegangen. Ich danke Steffi Hobuß und Choong-Su Han für kritische Lektüre und Kommentar.

2

Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink 1993, S. 85.

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steht, auf das ich für diesen Moment mein Augenmerk richten möchte. Wenn ich über die Gabe spreche, rufe ich die Benennung von Marcel Mauss auf, der damit sowohl das »Ding« beschreibt, das man als Geschenk erhält, als auch die Praktiken, die Geber und Nehmer miteinander verbinden. Die von Mauss zusammengetragenen und unter den Oberbegriff der Gabe subsumierten Praktiken melanesischer, polynesischer und nordwestamerikanischer Gesellschaften zielen auf sozialen Zusammenhalt ab,3 sind sie doch freiwillig und verpflichtend zugleich.4 Zum Beispiel sei es die Vorstellung der Maori, dass die empfangene Sache ein lebendiger Teil vom Geber ist, der eine Rückgabe erfordert und die nicht zurückgegebene Sache bestraft.5 Eigentum habe bei den Maori eine geistige Macht, die sie hau nennen und die dafür sorgt, dass Gaben erwidert und Netzwerke gesponnen werden.6 Mauss stellt sich anhand seiner Fremdbeobachtungen zweiter Stufe (er beobachtet nicht selbst) die Frage: »Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?«7 Auch die Gabe der Brahmanen erzeuge von sich aus ihren Lohn.8 Damit scheint es zunächst, als ob Mauss die Praktiken so interpretiert, dass die Kraft aus der Sache selbst kommt. Die die Gabe bestimmende Kraft wäre somit nicht außerhalb, sondern innerhalb der gegebenen Sache vorzustellen. Die Gabe erscheint eigenständig. Beim Potlatsch, einer Form der Gabe, die im Folgenden noch näher betrachtet werden soll, wohne den »ausgetauschten Sachen eine bestimmte Kraft inne [...], die sie zwingt, zu zirkulieren, gegeben und erwidert zu werden«.9 Liegt das Risiko oder die Chance, welche als hau beschrieben werden, also für Mauss tatsächlich in der Sache selbst? Das liegt zunächst nahe, wenn er von der Kraft der gegebenen Sache spricht, die Einfluss auf die oder den Beschenkten nehme. Mauss erklärt aber des Weiteren, dass die Gabe deshalb diese Kraft ausübe, weil das taonga (das Gegebene) einen Eigentümer habe, zu dem das hau wieder zurück wolle.10 Busch spricht von einer »Durchwirkung [des Gegebenen, nt] mit

3

Vgl. Busch, Kathrin: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, Phänomenologische Untersuchungen, Band 18 (hg. v. Bernhard Waldenfels), München: Fink 2004, S. 29.

4

Vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, erste Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 77.

5

Vgl. ebd., S. 33.

6

Vgl. ebd.

7

Ebd., S. 18.

8

Vgl. ebd., S. 140.

9

Ebd., S. 103.

10 Vgl. ebd., S. 33.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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der geistigen Macht des Gebers«11. Einerseits komme die Kraft der Gabe nur aus dem Gegebenen selbst. Andererseits ist diese Kraft Mauss zufolge auch nicht unabhängig vom Geber und kann damit nicht als eigenständige Kraft gedacht werden. Auf der einen Seite geht es Mauss darum zu zeigen: »Im Grunde ist es das hau, das zu dem Ort seines Ursprungs, zur geheiligten Stätte des Waldes und des Clans und zum Eigentümer zurückkehren möchte.«12 Auf der anderen Seite zeigen seine Beobachtungen auch, dass ein System aus Gaben nur deshalb aufrecht erhalten werden kann, weil es ein intersubjektives Geschehen ist. Nicht erst durch die Tauschhandlung entsteht eine Schuld, sondern, wie sich zeigt, sind die Gebenden und Nehmenden mit ihrer Geburt bereits eingelassen in ein System der Verschuldung. Durch das ständige Begleichen und Aufnehmen neuer Schuld entstehen neue Verbindungen und werden Verpflichtungen eingegangen. Wenn jede Gabe mindestens eine Gegengabe erfordert, wird eine Dynamik aus strukturierten Praktiken eröffnet, die ein soziales System bilden, das sich aus einem »Strom aus Gaben«13 speist. Dabei wird nicht zuletzt die Zeit gegeben und die Zeitspanne eröffnet, in der eine Verbindlichkeit erfüllt, also eine Gabe erwidert werden muss.14 Sozialität ist nicht einfach vorhanden, sie entsteht und wandelt sich im Umlauf der Gaben.15

G ESELLSCHAFT ENTSTEHT R AUSCH UND V ERLUST

IN DER

Ü BERWINDUNG

VON

Eine wichtige Dimension jeder Gabe zeigt sich in einer ihrer extremen Formen, dem Potlatsch. Der Potlatsch ist nach Mauss ein ausschweifendes, oft den gesamten Winter überdauerndes Fest sehr reicher Gesellschaften nahe der Rocky Mountains, findet sich jedoch auch in Nordostasien.16 Der Potlatsch könne als Gabe beschrieben werden, obgleich er diese an »Heftigkeit, [...] Übertreibung

11 K. Busch: Geschicktes Geben, S. 27. 12 M. Mauss: Die Gabe, S. 34. 13 Ebd., S. 70. 14 Vgl. Gondek, Hans-Dieter: »Zeit und Gabe« in: Ders./Waldenfels, Bernhard (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 195f. 15 Vgl. Därmann, Iris: Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg: Junius 2010, S. 25. 16 Mauss spricht von den »indianischen Gesellschaften Nordwestamerikas« (M. Mauss: Die Gabe, S. 77, 43) und macht darauf aufmerksam, dass der Potlatsch nicht nur in diesen Gesellschaften Beachtung findet.

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und [...] Antagonismus«17 übertrifft. Für ihn ist er eine monströse Form des Schenkens.18 In abgeschwächter Form kann hierbei an das Zerschlagen von Porzellan vor einer Hochzeit gedacht werden, das auf Rituale zurückgeht, die das Glück in der Ehe sicherten oder sichern sollten. Auch im Potlatsch erhalten die Teilnehmenden durch das rituelle Ausschütten und Zerstören von Eigentum (auch geistige) Privilegien. Es verausgaben sich insbesondere die Repräsentanten einer Gesellschaft, die Mauss als Häuptlinge bezeichnet.19 Um seine Macht zu erhalten, muss der Häuptling zeigen, dass er »von den Geistern begünstigt wird, daß er Glück und Reichtum besitzt und von diesem besessen ist.«20 Die Besessenheit ist Zeichen dafür, dass er seinen Stand vor den Geistern erfolgreich verteidigt hat und so Beweis für seine Autorität und Glaubwürdigkeit. Durch das Prinzip des Potlatsch versichert sich eine Gesellschaft der Versprechen ihres Stellvertreters, der zeigt, dass er alles von sich hingeben würde, um für seine Gruppe einzustehen und um das zu werden, was er ist: Repräsentant. Die Verausgabung oder Ohnmacht eines Häuptlings in der Besessenheit wird so zum Pfand dafür, dass er auch in Zukunft als Machthaber eingesetzt werden kann. Im Ritual des Potlatsch hält er eine aristokratische Form ein, da die Hoffnung auf Gegengabe nicht thematisiert werden darf,21 obgleich die Möglichkeit der Rückgabe diese Verausgabung zu allererst stimuliert. Er ist Teil eines Kreditsystems, wo nicht nur Schulden aufgenommen und beglichen werden, sondern auch investiert wird. Da jeder Potlatsch mit Zinsen erwidert werden muss, und die zwangsläufige Rückgabe über den Tod hinaus wirkt, verausgaben sich Menschen auch für ihre Kinder.22 Es werden Beziehungen geknüpft, die über den Tod eines Einzelnen Bestand haben können. Selbst die größte Zerstörung ist nicht ohne Eigennutz möglich, so resümiert Mauss.23 Die scheinbare Selbstaufgabe im Potlatsch garantiert also den Überfluss und das Überleben einer Gesellschaft in Zukunft. Wie der Potlatsch zieht der Kula, eine zirkulären Form des Gabentauschs, »den Stamm in seiner Gesamtheit aus dem engen Kreis seiner Grenzen, seiner Interessen und seiner Rechte«24 hinaus. Die »obsessive Fremd-

17 M. Mauss: Die Gabe, S. 81. 18 Vgl. ebd., S. 101. 19 Nicht bei allen, aber bei den meisten Formen des Potlatsch stehen sich die Häuptlinge gegenüber (vgl. ebd., S. 91). 20 Ebd., S. 92. 21 Vgl. ebd., S. 87. 22 Vgl. ebd., S. 82, 100. 23 Vgl. ebd., S. 170. 24 Ebd., S. 69.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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erfahrung«25 scheint dabei gerade der Grund, auf dem sich eine Gruppe von Menschen neu als solche formieren und etablieren kann. Mauss verbindet sich hier mit der Forschung seines Lehrers und Onkels Durkheim, für den der Rausch Grundlage der Gesellschaft ist.

U NMÖGLICHE G ABE , G ABE

DES

U NMÖGLICHEN

Derrida knüpft daran an, wenn er herausarbeitet, dass die Übertreibung das primäre Maß und nicht das Maßlose der Gabe ist. Übertreibung und Übermaß beim Potlatsch sind nicht wie Mauss zufolge ein sekundäres Attribut dieser besonderen Art der Gabe, sondern die Übertreibung beim Potlatsch ist hier Merkmal der Gabe überhaupt: »Eine Gabenerfahrung, die sich nicht a priori irgendeinem Unmaß überließe, eine gemäßigte oder maßvolle Gabe wäre keine Gabe«26. Dieses Unmaß mündet bei Derrida in einer Unmöglichkeit, einer Ambivalenz der Gabe. Die Gabe ist demzufolge »[n]icht unmöglich, sondern das Unmögliche, die Figur des Unmöglichen selber. Die Gabe kündigt sich an als das Unmögliche, sie gibt sich als dieses zu denken, weshalb wir denn mit ihm beginnen sollten.«27

Derrida weist hier darauf hin, dass es sich bei der Gabe um einen Ausgangspunkt für seine eigene Reflexion handelt. Anfangen heißt hier nicht, eine Entscheidung zu treffen, die darin bestünde, über die Gabe nachzudenken, sondern der Ausgangspunkt ist, dass sich die Gabe uns auf irgendeine Weise, genauer, auf eine unmögliche Weise, ankündigt. Wie kann sich uns etwas ankündigen, das nicht erscheint, das nicht präsent wird? Hierauf antwortet Derrida in diesem Zitat damit, dass die Gabe sich zu denken gebe; »damit es Gabe gibt, darf die Gabe nicht erscheinen, sie darf nicht als Gabe wahrgenommen werden«28. Derrida scheint daran zu zweifeln, dass sich ein als Präsenz gedachtes »Wesen der Gabe«29 denken lässt, dass von ihr ein »Begriff« gebildet werden könnte. Er weist mit der Wahl des Wortes »reconnaître«30 darauf hin, dass der Empfänger der Gabe diese

25 I. Därmann: Theorien der Gabe, S. 23. 26 J. Derrida: Falschgeld, S. 55. 27 Ebd., S. 17. 28 Ebd., S. 28. 29 Ebd., S. 75. 30 Ebd., S. 24.

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nicht als Gabe erkennen oder anerkennen dürfe, womit er auf den Spielraum zeigt, der in der Gabe offen gehalten wird: Sie ist zwischen Phänomen und Konstruktion angesiedelt, zwischen etwas, das erkannt werden kann, und etwas, das Anerkennung benötigt. Sobald die Gabe in diesem Sinn erscheine, gebe es sie nicht mehr.31 Sobald die Gabe (an-)erkannt wird, gibt es sie nicht mehr. Sprechen von einer solchen idealen Gabe wird damit unmöglich (auch in diesem Text), da auch das Sprechen eine Form des An-/Erkennens ist. Trotzdem fordert Derrida dazu auf, »das Unmögliche [zu] tun«32. Das Unmögliche tut beispielsweise der Freund des Erzählers in der Erzählung Falschgeld von Baudrillard. Er gibt einem Bettler Falschgeld und widersetzt sich damit einer kapitalistischen Logik der reziproken Gabe, bei der eine Rückgabe erwartet wird (beispielsweise die Befreiung von Schuld, aber auch ein Lächeln, eine Danksagung...).33 Derrida zeigt über Mauss hinaus die Unmöglichkeit einer selbstlosen, oder uneigennützigen Gabe auf, hebt aber hervor, dass diese Unmöglichkeit sie überhaupt bedingt und ermöglicht. In dieser ambivalenten Figur kritisiert er Mauss, für den die Gabe als Tauschakt gilt, während sie bei Derrida als ereignishaft, als Potenz beschrieben wird.34 Eine Gabe als Ereignis aber ist nicht gebbar, sie kann nicht im souveränen Akt übergeben werden;

31 J. Derrida: Falschgeld, S. 26. 32 Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 28. 33 Derrida führt in »Falschgeld. Zeit geben I« verschiedene Möglichkeiten auf, dieses Falschgeld zu denken, die ich hier aus Gründen des Umfangs nicht aufzählen kann, die aber nachzulesen sind (vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 192 ff.). 34 Vgl. J. Derrida: Ereignis, S. 27, 31 sowie J. Derrida: Falschgeld, S. 29. Es wird deutlich, dass Derrida Gabe und Ereignis nicht vollkommen synonym verwendet, dass sie aber einige Gemeinsamkeiten haben: das sind Gesetzlosigkeit, Überraschung, Abwesenheit einer Antizipation oder eines Horizontes (»Unbedingtheit« – vgl. J. Derrida: Falschgeld, S. 160) und der Überschuss hinsichtlich jeder Vernunft (vgl. ebd., S. 200). Über das Verhältnis von Gabe und Ereignis vgl.: »Es muß Ereignis geben – folglich Appell zur Erzählung und Ereignis der Erzählung – , damit es Gabe gibt und es muß Gabe geben oder Phänomene der Gabe, damit es Erzählung und Geschichte gibt« (ebd., S. 161).

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»Wir werden uns also dem Versuch hingeben und uns auf ihn einlassen, eine Art transzendentale Illusion der Gabe zu denken oder neuzudenken. Denn eine Theorie der Gabe ist wesensmäßig außerstande, die Gabe zu denken.«35

Derridas Art, die Gabe zu denken, ist sich einzulassen und sich hinzugeben. Möglich »ist dieses Denken nur, indem man sich auf es einläßt (il faut s'engager), ihm etwas von sich läßt und zum Pfand gibt«36. Die Gabe verschiebt sich damit von einem Tun, was sie zunächst und offensichtlich ist, zu einem SichEinlassen auf etwas Abwesendes. Deshalb mag er es kaum aussprechen, kaum schreiben: Wenn es die Gabe gibt, gibt es sie vielleicht, schreibt er mit Bezug auf Nietzsche.37 Und er zeigt, dass dieses Zweifeln die Möglichkeit der Gabe, des »ich gebe«, überhaupt erst gibt. Damit wird das Einlassen auf die Gabe zur Möglichkeit, überhaupt etwas zu tun. Er möchte hervorbringen, was er nicht nur konstativ beschreibt: die Möglichkeit der Gabe, abseits von Berechnungen und Ökonomie.

G ABE , S PRACHE

UND PASSIVE

ANRUFUNG

Über Gabe denkt Derrida in einer sprachlich-strukturellen Lesart nach. Ihn lässt das eigentliche Ding des Gegebenen scheinbar kalt, während er versucht, an die Struktur der Gabe als Kommunikationsgeschehen heranzukommen. Dabei interessiert ihn auch der erste Bestandteil der Formulierung »Ich gebe«: das Ich. »Ich« sagen zu können hängt für Derrida damit zusammen, dass mir Sprache gegeben ist, dass diese »vertikal über mich hereinbricht«38. »Vertikal« ist diese Gabe der Sprache deshalb, weil sie keiner reziproken, horizontalen Beziehung zwischen gleichwertigen Tauschpartnern entspricht. Für Derrida ist die Gabe keine Frage von freiem Willen.39 Gerade die Unfähigkeit, Dinge zu wollen, zu entscheiden oder zu erzwingen ist hiernach dafür verantwortlich, dass wir Möglichkeiten, einen Handlungsspielraum, erhalten und dass wir überhaupt jemandem etwas geben können. Insofern sprechen alle Sprechhandlungen zunächst von dieser Gabe, dieser Sprache, die hereinbricht:

35 J. Derrida: Falschgeld, S. 44 f. 36 Ebd., S. 45. 37 Vgl. J. Derrida: Ereignis, S. 51. 38 Ebd., S. 35. 39 Vgl. ebd., S. 42.

166 | NICOLA T AMS »Bevor man selbst von irgendwelcher Gabe oder Teilung der Sprache spricht, spricht man auf nicht unbedeutende Weise von der Sprache als von einem Gegebenen, einem System, das notwendigerweise vor uns da ist, das wir ausgehend von einer fundamentalen Passivität empfangen.«40

Derrida nennt dieses Vorgängige »Passivität«, spricht an anderer Stelle von in diesem Zusammenhang auftretendem »absoluten Vergessen«41. Er trennt damit die Gabe auf, fasst sie einerseits als Passivität, von der ausgehend die Möglichkeit zu sprechen gegeben wird, und andererseits als etwas, über das gesprochen werden kann. Auch über die Bestimmung einer Gabe als Gabe, eines Gebens als Gebens, kann nur aufgrund einer Sprache gerichtet werden, die bereits da ist.

D IE G RUNDLAGE

DES

S PRECHENS

IST DAS

S CHWEIGEN

Ein Umweg über Heideggers Unterwegs zur Sprache, auf das sich Derrida in Falschgeld bezieht, erlaubt es, Derridas Vorstellung der fundamentalen Passivität zu präzisieren und besser zu verstehen.42 Für Heidegger verschafft das Wort »dem Ding erst das Sein«43. Und er fügt hinzu: »Das Sein von jeglichem, was ist, wohnt im Wort. Daher gilt der Satz: Die Sprache ist das Haus des Seins«44. Der Mensch kann nur durch die Sprache seine Welt erfahren. Wenn aber das Sein in der Sprache liegt, dann ist es unmöglich, außerhalb der Sprache mit diesem in Berührung zu kommen. Für ihn ist es unmöglich, dieses Sein wie einen Akt zu vollziehen, die Sprache ist ereignishaft. Seine drei Vorträge zum Wesen der Sprache in diesem Band »möchten uns vor eine Möglichkeit bringen, mit der Sprache eine Erfahrung zu machen. Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt.«45

Es geht ihm darum, dass eine Erfahrung jenseits absichtsvollen Handelns gemacht wird, die im passiven Annehmen einer Berührung durch etwas, was uns

40 J. Derrida: Falschgeld, S. 108. 41 Ebd., S. 28. 42 Vgl. z.B. ebd., S. 19. 43 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart: Cotta 1959, S. 164. 44 Ebd., S. 166. 45 Ebd., S. 159.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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zustößt, besteht, bevor jegliches Handeln oder Sprechen überhaupt möglich ist. Erfahren meint hier »im Gehen, unterwegs etwas erlangen«46. Eine Erfahrung »machen« bezieht sich auf »durchmachen, erleiden, das uns Treffende empfangen«47. Mit dieser Vorstellung von der Sprache als prozessualem Wechselspiel zwischen Tun und Lassen setzt er sich von Sprachtheorien ab, die »Worte wie Griffe«48 sahen. Nach Heidegger, erneut das Bild der Hand bemühend, hat das »Glück«, diese Erfahrung zu machen, »niemand von uns in der Hand«49, denn: »die Sprache spricht«50. Die Sprache sage aber nicht etwas Bestimmtes, sondern eröffne einen Raum von möglichen Beziehungen.51 Die Sprache sei eine Unterscheidung, die unterscheidet,52 und von der wir uns bestimmen lassen. Worte können deshalb nicht in einem Verhältnis zum Ding betrachtet werden, sondern seien das Verhältnis selber.53 Hier muss anerkannt werden, woraus Derrida bei seiner Beobachtung einer fundamentalen Passivität der uns vor der Sprache angehenden Sprache schöpft: »Wenn wir bei der Sprache anfragen, nämlich nach ihrem Wesen, dann muß uns doch die Sprache selber schon zugesprochen sein.«54 Sprechen wie auch Denken seien dann keine im Modus der Aktivität angeeigneten Tätigkeiten, sondern ein Zuhören, das Hören einer Zusage.55 Alles, was gesagt

46 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 169. 47 Ebd., S. 159. 48 Ebd., S. 171, Worte wie Griffe: wie bei Aristoteles – vgl. Flatscher, Matthias: »Derridas ›coup de don‹ und Heideggers ›Es gibt‹. Bemerkungen zur Un-Möglichkeit der Gabe«, in: Peter Zeilinger, Matthias Flatscher (Hg.): Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie, Wien: Turia und Kant 2004, S. 45. 49 M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 161. 50 Ebd., S. 254. 51 Vgl. Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Studien zur praktischen und theoretischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 156. 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 188. 54 Ebd., S. 175. Ich möchte hier nicht von zwei verschiedenen Arten der Sprache sprechen, wie beispielsweise alltäglicher und ursprünglicher Sprache, da Derrida m.E. über dieselbe Sprache zu sprechen scheint. Es ist eine Unterscheidung von Aspekten der Sprache, die nicht in die Unterscheidung klar voneinander trennbarer Ebenen mündet. 55 Vgl. ebd., S. 179.

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wird, ist schon ein Antworten auf diese dem Sprechen vorausgehende Zusage.56 Heidegger zeigt, dass es um eine Erfahrung mit dem Wort geht, die darin besteht, dass das Wort nicht ist, sondern gibt,57 und den Sprechenden die Aufgabe gibt, sich auf diese Erfahrung einzulassen oder einzustimmen.58 Es geht folglich darum, das Sprechen zuzulassen. Hier scheinen zwei Ebenen unterschieden zu werden. Das Sprechen geht im Sinne einer Sprache, die sich selbst gibt, voraus, aber im alltäglichen Sprechen berühren wir diese Ebene gerade nicht, und können gerade durch diesen ›Verlust‹ sprechen, und im Sprechen handeln.59 Wie kann diese Art von Sprache zugelassen werden? Der spätere Heidegger beruft sich auf das Schweigen. Die Sprache könne uns nur bewusst werden, wo wir ihrer nicht mächtig sind, zum Beispiel in solchen Momenten, wo uns das richtige Wort fehlt.60 Und auch: »Das Gesprochene entstammt auf mannigfache Art dem Ungesprochenen«61. Es sei das Schweigen, welches die Ereignisse der Sprache ermöglicht.62 Von diesem Schweigen zu reden ist unmöglich, weil es allem Denken und Sein vorausgeht. Es ist die Grundlage dafür, überhaupt sprechen zu können.

S PRECHEN

IM

R HYTHMUS

Es liegt hier die Vorstellung zugrunde, dass die Sprache sich nur selbst zur Sprache bringen kann, weil alles, was jemand ausdrückt, innerhalb der Sprache geschieht, und damit nichts über sie aussagt. »Jenes Brauchen und dieses Nachsagen beruhen in jenem Fehlen, das weder ein bloßer Mangel noch überhaupt etwas Negatives ist«63. Mit »Brauchen« und »Nachsagen« bezieht sich Heidegger auf das, was wir tun, wenn wir nachsprechen, was uns die Sprache zuvor schon zugesagt hat. Schwarte spricht in Bezug auf Heideggers Unterwegs zur Sprache von einem Rhythmus, der jedem Sprechen vorausgeht. Das Nichts, das Heideg-

56 Vgl. M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 260. 57 Vgl. ebd., S. 195. 58 Vgl. ebd., S. 167, 169. 59 Vgl. ebd., S. 161. 60 Vgl. ebd., S. 161. 61 Ebd., S. 251. 62 Vgl. ebd., S. 266. 63 Ebd., S. 265.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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ger hier »Brauchen« nennt, ist Teil von diesem Rhythmus.64 In diesem Sinne ist jedes Sprechen ein Nachsagen, ein Befolgen eines Rhythmus'. Das SichEinlassen auf die Sprache bedeutet wahrzunehmen, dass sie vorausgeht, und nicht in der Gemeinschaft von anderen Worten, von anderen Äußerungen entsteht, sondern in der Stille des Schweigens. Ein wahres Schweigen gebe es aber nicht, da auch das Schweigen schon ein Entsprechen sei.65 Wenn die Sprache als etwas anerkannt wird, das nicht getan wird, sondern das als Vorbedingung gegeben ist, besteht das eigentliche Tun im Sprechen für Heidegger in einem Lassen, also in einer Hingabe an diese Möglichkeiten, die die Sprache gibt. Damit wird eine Bevorzugung entweder des Tuns oder aber des Lassens in der Sprachtheorie hinfällig: Sprechen kann nur, wer zugleich spricht und entspricht.66 Lassen darf hier nicht als Gegenteil von Tun oder Tätigsein, sondern muss als Bedingung des Gegensatzes aufgefasst werden. Für Heidegger kann es kein Nichttun im Sprechen im Sinne eines Schweigens geben, auch das Schweigen spricht. Ich bin diesen kurzem Umweg gegangen, um zu vermitteln, wie sich Derrida in dieser dem Sprechen ›vorgeordneten Instanz‹ bei Heidegger abstützt. Derrida wie auch Heidegger geht es bei der Ebene der Anrufung durch ein Gegebenes um ein »Ja«, also eine Zusage, die vor dem Gegensatz überhaupt von Ja und Nein liegt: »Jede Frage antwortet bereits dem Ruf des Seins: dort, wo Sprache aufkommt, wo etwas zur Sprache kommt, ist schon Versprechen, trifft man schon auf das Versprechen als Ereignis. Die Sprache ist stets Versprechen und kehrt stets zum Versprechen zurück, vor der Frage, in der Frage selbst.«67

Es geht um ein »vor der Frage«, welches »in der Frage selbst« stattfindet. Derrida setzt sich allerdings davon ab, dieses »vor« ausschließlich logisch oder ontologisch zu verstehen, da es weder zeitlich vorgeordnet noch als Objekt (als Ausgangspunkt etc.) einzuholen wäre.68

64 Vgl. Schwarte, Ludger: »Die Kunst der Leerstelle. Sprachlosigkeit als Voraussetzung der Verständigung«, in: Gronau, Barbara/Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008, S. 34. 65 Vgl. M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache, S. 262. 66 Hier kann auf den Text von Sabine Hark verwiesen werden, worin sie auf diesen Punkt hindeutet; vgl. oben S. 119. 67 J. Derrida: Vom Geist, S. 110. 68 Vgl. auch M. Flatscher: Derrida und Heidegger, S. 38.

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P ASSIVITÄT

BEI

B UTLER

Judith Butler fasst diese Dimension als Passivität. Auch sie nimmt eine solche Unterscheidung vor, wenn sie den Zusammenhang von Subjektwerden und Sprache beschreibt. Ich füge hier Butler der Betrachtung hinzu, weil sie es ermöglicht, den Zusammenhang von Performativität und der benannten Ebene des Passiven herauszuschälen. Dafür ist zunächst die Verbindung von Subjekt und Sprache relevant, die sie entwirft. Während manche Theorien das Subjekt als der Sprache vorausgehend betrachteten, ist es für sie der Sprache auch ausgeliefert. Nicht das Subjekt konstituiert demnach eine Sprache, sondern das Sprechen konstituiert das Subjekt.69 Trotz Butlers performativem Sprachverständnis geht die Anrufung dem Subjekt voraus.70 An anderem Ort spricht Butler nicht von Anrufung, sondern mit anderem Schwerpunkt von Passivität. In der Kritik der ethischen Gewalt unterscheidet sie auf der Grundlage von Levinas und Laplanche zwei Bedeutungen von Passivität. Der Passivität als Gegensatz von Aktivität stellt sie die Passivität vor jeder Passivität, die auf Levinas zurückverweist, gegenüber.71 Parallel zu ihrer Lektüre von Louis Althussers unterschiedlichen Ebenen der Anrufung eines Subjekts stellt sie hier zwei Ebenen der Passivität heraus. Einerseits sei das Subjekt immer bereits angerufen, bevor es auf die Welt kommt, und andererseits werde diese Anrufung tagtäglich und innerhalb menschlicher Beziehungen ständig erneuert. »Ein passives Verhältnis zu anderen Wesen geht der Formierung des Ego oder ›moi‹ voraus bzw., anders formuliert, ein solches passives Verhältnis wird zum Instrument jener Formierung«72. Für sie hängen diese beiden Ebenen der Anrufung zusammen: Die Passivität vor jeder Passivität ist für sie die Bedingung des Subjektwerdens. Sie beschreibt diese Passivität aber wiederum auch als eine bestimmte Form der Anrede.73 Obwohl dieses passive Verhältnis als dem jeweiligen Subjekt vorgängig gedacht wird, ist ihr wichtig zu betonen, dass es keinen Vorrang gibt, dass das Individuum trotz dieser Anrufung in seinen späteren Möglichkeiten, eine eigene Geschichte zu entwerfen, nicht beschnitten wird.

69 Vgl. J. Butler: Haß Spricht, S. 32. 70 Vgl. ebd., S. 67. 71 Vgl. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 106. 72 Ebd., S. 118. 73 Vgl. ebd., S. 122.

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»Dieses Selbst wird zwar geschichtlich geformt, aber die Geschichte eines individuellen Selbst, die Geschichte der Individuation ist genau das, was nicht gegeben ist: Es gibt hier keine Kindheit, keinen Vorrang der Prägung durch den Anderen«74.

Interessanterweise verwendet sie den Begriff der Passivität in der Gegenüberstellung zu Handlung, und nicht zu Aktivität.75 Ihr Anliegen ist es zu zeigen, dass die primäre Passivität nicht nur als passiv zu bezeichnen ist,76 und folglich nicht in einem Gegensatz zu aktiv steht. Sie schafft damit keine neue Ontologie in dieser Aspektunterscheidung und zeigt eine Schattierung des Passiven oder Vorgängigen auf, die es auf das Handeln hin öffnet. Was ist also gemeint, wenn Butler von Passivität spricht? Unsere Beziehung zu einer oder einem Anderen ist Butler zufolge immer eine im Grunde gewalttätige, da Menschen anderen gegenüber verletzbar sind. So führt sie das Denken der Passivität hinüber zu einer Passivität aufgrund der Verletzbarkeit durch andere. Indem sie argumentiert: »Besonders wichtig ist nun, dass diese Situation des Übergriffen Ausgesetztseins zugleich eine bestimmte Form von ›Anrede‹ darstellt«77, zeigt sie, dass die Passivität auch die Voraussetzung dafür bilde, dass wir durch Andere ansprechbar sind.78 Während das Ausgesetztsein, Subjektwerden, oder die Passivität das Subjekt vor-subjektiv strukturieren, ist diese Passivität selbst eine Anrede, die dem Anderen verantwortet ist. Butler spricht von einem vor-ontologischen Zustand,79 aber sie bindet den Begriff der Passivität in einen Kreislauf des Ausgesetztseins gegenüber Anderen ein, womit sie hervorhebt, dass Passivität keine Exteriorität ist. Nicht nur ist die Passivität die Grundlage dafür, wie wir ansprechbar sind, sondern auch dafür, dass wir überhaupt ›jemand‹ sind. Für sie bin ich »gleichsam dieses Ausgesetztsein, in dem meine Singularität liegt. Ich kann dieses Ausgesetztsein nicht willentlich ausschalten, denn es ist ein Zug meiner Körperlichkeit selbst, und in diesem Sinne ist es mein Leben, und doch ist es nichts, was ich unter Kontrolle haben könnte.«80

74 Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 171. 75 Vgl. ebd., S. 118. 76 Vgl. ebd., S. 132. 77 Ebd., S. 122. 78 Vgl. ebd., S. 119. 79 Vgl. ebd. 80 Ebd., S. 47.

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Singularität ist möglich, aber sie beruht nicht auf Isolation. Hiermit stellt sich die Frage nach der Verantwortung gegenüber Anderen.

V ERANTWORTUNG

UND

P ASSIVITÄT

Mauss hat verdeutlicht, worin der soziale Sinn der Gabe liegt: »In Wirklichkeit bringt dieses Symbol des sozialen Lebens ‒ der permanente Einfluß der ausgetauschten Dinge ‒ nichts anderes zum Ausdruck als die Art und Weise, wie die Untergruppen dieser segmentierten Gesellschaften archaischen Typs ständig ineinandergreifen und fühlen, daß sie einander alles schulden.«81

Das ist der Ausgangspunkt, von dem Derrida die fundamentale Passivität dahin führt, eine transzendent gedachte Gabe durch den/die/das Andere zu substituieren. Ersetzt wird hiermit die Vorstellung einer Transzendenz, die nicht durch Subjekte einzuholen ist, durch die historische Gewordenheit dieses Subjekts aufgrund seiner und durch seine Bedingtheit durch Andere. Es geht darum, eine dem Zugriff des oder der Einzelnen entzogene Dimension aufzuzeigen, die trotzdem nicht außerhalb gesellschaftlicher Praktiken zu verorten wäre. Hiermit weitet sich eine zunächst strukturell-sprachliche Beobachtung zu einer Theorie des Sozialen aus und macht Mauss' Beobachtung, dass Gesellschaften einander »alles schulden« zu einem Imperativ: »All das, was die Erfindung, die Ankunft, das Ereignis betrifft, legt nahe, dass das Sprechen durch diese Unmöglichkeit selbst entwaffnet wird, dass es angesichts der stets einzigartigen, außerordentlichen und unvorhersehbaren Ankunft des Anderen, des Ereignisses als des Anderen, absolut macht- und hilflos bleibt oder bleiben muss: Ich muss absolut machtlos bleiben.«82

Der Hinweis Derridas, dass »ich« absolut machtlos bleiben »muss«, ist als Kritik an einem Subjekt zu verstehen, das souverän Einfluss auf die Gabe nehmen kann, die ihm geschieht. Das Sprechen werde durch das Ereignis entwaffnet, das Ich ohnmächtig. Mauss rief in Erinnerung, dass ein Grund dafür, dass wir beim Schenken einen Teil von uns selbst aufgeben müssen, darin liegt, dass wir uns

81 M. Mauss: Die Gabe, S. 77. 82 J. Derrida: Ereignis, S. 35.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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anderen schulden.83 Daran anschließend stellt sich jedoch die Grenzfrage, ob es möglich ist, zu »geben, ohne sich anderen zu opfern«84? Die hierin implizierte Frage ist die, ob eine eigene Entscheidung frei von der eines Anderen getroffen werden kann, und ob ein Geben ohne Verausgaben möglich ist. Derrida verneint diese Frage. Eine persönliche Entscheidung sei immer bereits die Entscheidung des Anderen.85 Auch wenn Heidegger und Derrida die Vorstellung gemein ist, dass das Subjekt von der Sprache entmachtet wird, sind die Konsequenzen unterschiedlich gedacht. Derrida führt den Bezug hin zu einer Ethik des Sozialen aus, die für Heidegger nicht von Interesse ist. Auch für Butler ist Passivität sowohl Bedingung dafür, dass wir durch Andere ansprechbar sind, und dass wir Verantwortung für sie übernehmen können, und gleichzeitig ist ›der Andere‹ Bedingung unserer Existenz selbst. Wenn das Leben nicht unter der Kontrolle der Einzelnen liegt, wie kann es dann verantwortungsbewusstes Handeln geben? Butler macht deutlich, dass wir verantwortungsvoll handeln können, nicht weil wir in Freiheit sind, sondern aufgrund dieser Gefangenschaft oder aufgrund der Passivität: »Ganz im Gegenteil bin ich nicht primär aufgrund meiner Handlungen verantwortlich, sondern aufgrund meiner Beziehung zum Anderen, die sich auf der Ebene meiner primären und irreversiblen Empfänglichkeit bildet, meiner Passivität, die jeder Möglichkeit zu handeln oder zu entscheiden vorausgeht.«86

Sie zeigt, dass Verantwortung auch übernehmen kann, wer nicht souveräner Urheber seiner Handlungen ist. Es wird deutlich, dass ein Denken der Performativität keines sein muss, das einer aktiven Dimension des Handelns Vorrang gibt, denn bei Butler geht der Aufruf zur Verantwortung der Unterscheidung von aktiv und passiv voraus. Die Notwendigkeit des Handelns wird hier verteidigt, auch wenn eine universelle Rechtfertigung der einzelnen Akte ausgeschlossen wird. Verantwortung ist in vertikaler Dimension gedacht, aber sie ist nicht ihrer sozialen Herkunft enthoben. Dadurch entsteht die Möglichkeit, von Verantwortung (als ethischer Idee) zu sprechen, sie aber auch gleichzeitig ständig zu hinterfragen und sie als veränderbares Produkt sozialer Auseinandersetzung zu betrachten.

83 M. Mauss: Die Gabe, S. 118. 84 Ebd., S. 182. 85 Vgl. J. Derrida: Ereignis, S. 42. 86 Ebd., S. 120.

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P ERFORMATIVE ASPEKTE

DER

G ABE

Verantwortung zu übernehmen ist passiv oder aktiv möglich, indem wir uns zu unserer sozialen Grundsituation und mit dem Wissen um die eigene Abhängigkeit Anderen gegenüber verhalten. Hierin besteht auch der Zusammenhang von Anrufung und Gabe, ihr ethisches Moment. Um diese Verbindung klarer fassen zu können, soll zunächst ein kurzes Zitat von Derrida hinzugezogen werden: »[I]st das, was gegeben wird, ob nun Almosen oder nicht, eigentlich der Inhalt, das heißt das ›reale‹ Ding, das man darbietet oder über das man spricht? Oder ist es nicht eher der Akt, der an den anderen gerichtet ist, ihm etwas geben soll, also zum Beispiel das textuelle oder dichterische Werk als performativer Akt?«87

Derrida fragt danach, was das Gegebene der Gabe ausmacht, und ob es überhaupt als gegebenes Ding angemessen zu beschreiben ist, oder vielmehr in einem performativen Akt besteht. An anderer Stelle sprach er anders vom Ereignis der Gabe. ›Akt‹ ist hier in der Form gemeint, wie Butler ihn versteht, als ein Akt, der über sich hinaus weist, wie sie es am Akt der Geschlechterzugehörigkeit zeigt: »Der Akt der Geschlechterzugehörigkeit, der Akt, der jeder verkörperte Handelnde ist, sofern jeder von ihnen dramatisch und aktiv gewisse kulturelle Bedeutungen verkörpert und diese in der Tat wie Kleidungsstücke trägt, ist eindeutig niemals nur allein mein Akt. Gewiß vollziehe ich meine Geschlechterzugehörigkeit individuell und mit eigenen Nuancen, aber daß ich dies tue, und zwar in Übereinstimmung mit bestimmten Sanktionen und Vorschriften, ist ganz klar keine bloß individuelle Angelegenheit.«88

Der Akt, hier der Geschlechterzugehörigkeit, verweist auf eine zweite Dimension, die nie nur individuell zu beschreiben wäre. Der Akt der Performativität ist immer zweifach, individuell und darüber hinausgehend. Für die Gabe lässt sich analog zeigen, dass sie zwiegespalten ist. Es gibt

87 J. Derrida: Falschgeld, S. 79. 88 Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 311f.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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»einerseits die Gabe, die etwas Bestimmtes gibt [...]; und andererseits die Gabe, die nicht ein bestimmtes Gegebenes gibt, sondern die Bedingung für ein präsent Gegebenes im allgemeinen, eine Gabe also, die das Element des Gegebenen überhaupt gibt.«89

Um diese Verbindung von zweischneidiger Gabe und Performativität genauer zu beleuchten, gehe ich nochmals zu Derridas Falschgeld zurück. Mit dem Untertitel Zeit geben spielt Derrida darauf an, dass das, was bei der Gabe gegeben wird, vor allem eine Möglichkeit zu weiteren Gaben und zu weiterem Handeln ist; »Die Zeit, den Tag oder das Leben geben, heißt nichts zu geben, jedenfalls nichts Bestimmtes, gegeben wird vielmehr das Geben alles möglichen Gebens, die Bedingung des Gebens«90.

In diesem Text nennt Derrida die Möglichkeit, die die Gabe gibt, Zeit. Außerdem behauptet er: Was gegeben wird, ist nichts.91 Gleichzeitig ist damit aber nicht ›das Nichts‹ an sich gemeint, sondern einfach ›nichts‹ als Verneinung einer Bestimmtheit von ›etwas‹ (also ist das ›nichts‹ hier gemeint als ›nicht etwas‹). Dieses ›nichts‹ ist nicht rein negativ zu denken: »Heidegger und Derrida verweisen gleichermaßen auf das, was niemals vergegenständlicht oder in die Präsenz überführt werden kann. Obwohl es sich der menschlichen Verfügungsgewalt entzieht, ist es nicht nichts, sondern das, dessen wir stets eingedenk bleiben sollen: dass es überhaupt etwas gibt (der Akzent liegt auf dem ›dass‹ nicht auf dem ›etwas‹).«92

Somit denkt Derrida in der Gabe nicht nur ›nicht etwas‹, sondern insbesondere ›nicht etwas Bestimmtes‹, und erinnert so daran, ›dass‹ es gibt. Beuthan spricht auch von einer »nicht-produktionslogisch vereinnahmte[n] [...] Distanz«93 bei Derrida (wobei herausgehoben werden muss, dass diese Distanz auch nicht außerhalb der Ökonomie zu verorten ist). Ohne diesen Aufschub wäre die Gabe nur

89 J. Derrida: Falschgeld, S. 76. 90 Ebd., S. 76. 91 Schon bei Heidegger werde eine Gabe gedacht, die nichts gibt und von niemandem gegeben werde, vgl. K. Busch: Geschicktes Geben, S. 84. 92 M. Flatscher: Derrida und Heidegger, S. 49f. 93 Beuthan, Ralf: Das Undarstellbare. Film und Philosophie. Metaphysik und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 164.

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mehr als Tausch zu bezeichnen.94 Dieses ›nichts‹ ist demnach zentral dafür, dass es die Gabe gibt. ›Nichts‹ ist, wie Schwarte hinzufügt, was Sprechen ermöglicht: geteilte Sprachlosigkeit.95 Vor dem Hintergrund einer Sprachlosigkeit könne überhaupt erst Nichtsprechen oder Sprechen von Bedeutung sein.96 Und für das Denken der Performativität ergänzt er: »Dass wir etwas mit Worten tun können, ist daher nur dann möglich, weil ein Nicht-Tun uns unsere Sprecherposition zuweist«97. Abwesenheit, Leerstellen oder Pausen werden hier nicht im Gegensatz zu Sprechhandlungen gedacht, sondern begründen sie und stellen die Möglichkeit des Sprechens überhaupt erst her. Schwarte meint beispielsweise die Sprachlosigkeit, die die Rede des Einen von der des Anderen trennt.98 Es kann auch an die notwendigen Leerzeichen zwischen einem Wort und dem nächsten gedacht werden, oder Satzzeichen, also an Pausen, die Sinneinheiten herstellen. Die Leerstelle ermöglicht, dass eine Äußerung überhaupt performative Wirkung entfalten kann. Selbst die Sprachlosigkeit hat so gesehen performative Wirkung.99 Ebenso setzt die Gabe immer als performativer Akt ein, der möglich ist, da wir als Subjekte bereits angerufen sind. Was gegeben wird, ist also nicht nur ›nichts‹, sondern die Möglichkeit zum performativ wirkungsvollen Handeln. Damit geraten Gabe und Performativität in ein chiastisches Verhältnis, in dem die Gabe der Sprache die performative Kraft des Sprechens bedingt. Und Performativität gründet auf dieser Leerstelle innerhalb des Handelns, dem Spalt, der sich beim Sprechen öffnet, das immer ein Zitieren und ein Abweichen ist, und der als Gabe des Nichts oder Passivität bezeichnet werden kann. Deshalb ist die Notwendigkeit von performativer Kraft des Sprechens und Handelns auch der Möglichkeit der Gabe vorgängig; Das Handeln von Einzelnen eröffnet Möglichkeiten für Andere und ermöglicht es zu geben. Derrida zeigt mit dem Hinweis, dass die Gabe nichts gibt, dass jedes Nachdenken über die Gabe eine Praxis ist, die nichts gibt außer sich selbst, also der Aufforderung, zu handeln und sich jedes Mal aufs Neue zu vergeben. Somit bestünde die eigentliche Unmöglichkeit in dem Versuch, sich der Gabe be-

94 Vgl. R. Beuthan: Das Undarstellbare, S. 164. 95 Vgl. Schwarte, Ludger: »Die Kunst der Leerstelle. Sprachlosigkeit als Voraus- setzung der Verständigung«, in: B. Gronau/A. Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, S. 33. 96 Vgl. ebd. 97 Vgl. ebd., S. 41. 98 Vgl. ebd.. 99 Vgl. ebd., S. 42.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

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schreibend oder auf konstatierende Weise anzunähern, den sie jedes Mal wieder übersteigt. Hierzu die Aufforderung von Derrida: »Man darf sich nicht damit zufriedengeben, über die Gabe zu sprechen und sie zu beschreiben – ohne zu geben und ohne zu sagen, daß man geben muß, ohne zu geben, indem man sagt, daß man geben muß, ohne zu denken zu geben, daß man geben muß, wobei dieses Denken aber nicht bloß darin bestünde, das, was man geben nennt, zu denken, sondern es zu tun, also ein Denken wäre, das dazu aufriefe, wirklich und eigentlich zu geben, das heißt mehr zu tun, als bloß dazu aufzurufen, im eigentlichen Sinne des Wortes zu geben, sondern eben zu geben über den Ruf und das bloße Wort hinaus.«100

Die Gabe wäre dann nicht mehr als ein Aufruf zur Gabe selbst, aber gleichzeitig auch immer über diesen Aufruf hinausgehend ein Versprechen. Die Verbindung von Gabe und Performativität stellt sich als der Mechanismus heraus, der diesen Umlauf der Gaben, der den Tausch übersteigt, am Leben hält.

P ERFORMATIVITÄT UND G ABE : G RUNDLEGENDE ANSTÖßE FÜR DES T UNS UND DES L ASSENS

EINE

S OZIALTHEORIE

Die Möglichkeit der Gabe gründet in der Anrufung als Subjekte, in ein Eingebundensein in eine (Sprach-)Gemeinschaft, die die performative Kraft jeder Gabe herstellt. Hier wurde versucht zu zeigen, dass in einer Gabe nicht in erster Linie ›etwas‹ gegeben wird. Zentral ist, dass überhaupt gegeben wird. Damit wird die Gabe als Ereignis gefasst, das Kreuzungspunkt vielfältiger Möglichkeiten des Handelns ist. Wenn Derrida Akt und Ereignis voneinander unterscheidet, weil ein Akt an Subjekt oder Objekt gebunden sei, das Ereignis dagegen nicht, lässt sich mit Butler der performative Akt über diese Gebundenheit hinausgehend fassen. Performativität ist ohne das intentionale, aber scheiternde Handeln eines Subjekts nicht möglich, wäre aber auch als reiner Akt nur unzureichend begriffen. Gabe wie auch performative Anrufung lassen sich jeweils in zwei Aspekte unterscheiden, die chiastisch miteinander in Verbindung stehen. Die Form des Chiasmus bietet den Vorteil, dass sie den beidseitigen Bezug der Konzepte aufeinander abbildet, ihre Verbundenheit verdeutlicht, aber nicht eine Seite auf die jeweils andere reduziert. Die Gabe ist erstens vorgängige, an einem Ideal orien-

100 J. Derrida: Falschgeld, S. 86.

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tierte Gabe und zweitens die alltägliche Gabe von etwas Bestimmtem. Die Anrufung geht jedem performativen Akt voraus, sie wird aber auch durch jede sprachliche Äußerung aufgerufen und erneuert. Die Gabe, primär gedacht als Passivität oder Ereignis, wird durch den Spalt einer nicht ganz gleichen Wiederholung ermöglicht.101 Die Notwendigkeit, zu sprechen, oder zu geben, gibt ihr daher erst ihre Möglichkeit. Die Gabe in ihrer sekundären Lesart ist nur aufgrund dieser ersten Gabe möglich, die in der Form von Wortbedeutungen oder Geschichte jeder möglichen Handlung vorausgeht. Die Kraft der Gabe rührt damit von einem der Sprache inhärenten Überschuss her. Die Verbindung zwischen Gabe und performativer Anrufung ist ein dynamisches Geschehen, eine Bewegung, die Zeit, Veränderung, Wandel ermöglicht. Ohne dass wir uns zu der grundlegenden Angerufenheit durch Andere verhalten, ist eine Gabe nicht realisierbar. Das zeigt Derridas Schwierigkeit auf, diese Gabe zu fassen. Denn wenn der grundlegende Sinn eines Geschenks der ist, dass ein Mensch einer oder einem Anderen etwas geben, etwas übermitteln will, wird dieser Sinn immer verfehlt. Darüber hinaus müsste sogar anerkannt werden, dass das ›Ich‹ gar nicht geben kann, im Gegenteil müsste es sich eigentlich unaufhaltsam für die grundlegende Gabe der Anderen, die ›mich‹ anrufen, bedanken. Die verschiedenen Ebenen oder die Widersprüchlichkeit der Gabe, wie sie von Derrida aufgezeigt wird, kann verstanden werden als ein Widerspruch von ethischer Theorie und sozialer Welt, der nicht aufgetrennt oder aufgelöst werden kann. Die Gabe Derridas ist ambivalent, weil sie diesen Widerspruch nicht aufhebt. Er entscheidet sich weder für eine horizontal gedachte, noch vertikal gedachte Sichtweise.102 Bei Derrida beziehen sich diese beiden Ebenen homöostatisch aufeinander: Obwohl Derrida die Gabe als Überschuss betrachtet, ist dieser ständig von ökonomischen Praxen herausgefordert und umgekehrt: Damit die Gabe möglich ist, ist es wichtig, dass die Idee der Gabe gewahrt wird, nämlich, dass sie uneigennützig geschieht. So ist die Gabe selbst in Geben und Nehmen eingeflochten, wie auch Performativität sich nicht ohne performative Effekte sagen lässt; »[...] in all diesen Fällen ist dieser diskursive Akt [der Gabe, nt] von Anfang an ein Beispiel für das, worüber er zu sprechen vorgibt.«103

101 Bei Derrida ist das die différance, vgl. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 291-362. 102 Vgl. auch: Die Überschreitung hin zur Maßlosigkeit bedeute nicht das Überschreiten der Ökonomie, in die sie selbst auch eingebunden ist, R. Beuthan: Das Undarstellbare, S. 165. 103 J. Derrida: Falschgeld, S. 85.

G ABE UND P ERFORMATIVITÄT

L ASSEN

UND

T UN

IN

G ABE

UND

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P ERFORMATIVITÄT

Zum einen wurde das Lassen als Nichttun im Gegensatz zum Tun bestimmt. Dieses wird beispielsweise dem ›untätigen‹ Schreiber Bartleby von seinem Umfeld zugeschrieben. Auch Vagabunden trifft dieses Vorurteil häufig. Es sind Varianten des Lassens, welche sich nur in Bezug auf einen bestimmten Kontext als solche bezeichnen lassen. Ähnliche Praktiken können in einem Kontext als Tun, in einem anderen als Lassen gelten. Es besteht daher nicht ohne Referenz zu einem Subjekt oder Objekt. Diese Zusammenhänge werden in sozialen Praxen ausgehandelt und sind – oft auf lange Sicht hin – veränderbar. Zum anderen ist Nichttun Bestandteil performativer Sprechhandlungen, da die Anrufung einer Unterscheidung in Lassen und Tun vorweg geht. Hierin findet sich eine weitere Variante des Lassens. Es ist das Zulassen einer Anrufung, worin das Gegenüber anerkannt wird, welches allem subjektiven Leben und Erleben vorausgeht. Es ist Auslieferung, aber auch Chance, sich als gesellschaftlich handelndes Subjekt zu begreifen, welches auf der Grundlage der Wiederholung und Zitation, aber auch der Abweichung beruht. Obwohl diese Anrufung, oder dieses Lassen vorweg geht, ist das nicht zeitlich vorgängig oder hierarchisch im Sinne eines Ursprungs zu denken, da es eine Überschreitung ist, die immanent passiert.104 Es ist die wiederholte Bedingung des Subjektwerdens, das nur durch Gesellschaft und Geschichte denkbar ist. Folglich geht es in performativen Ansätzen nicht lediglich um aktive Bereiche des Handelns. Obgleich Sprechakte performative Handlungsmacht haben, sind sie, wie Butler dargelegt hat, nicht auf Aktivität begrenzt, sondern beziehen sogar zwei Ebenen des Lassens mit ein. Handlungsmöglichkeiten sind nicht nur mit Aktivitäten verbunden, sondern bestehen auch im Bereich des Passiven, des Schweigens, und somit auch in der Möglichkeit, nichts zu tun. Dieses Nichttun ist aber nicht ohne Folgen, es hat performative Kraft, und muss deshalb als Handeln verstanden werden. Die Verbindung von Gabe mit Theorien der Performativität zeigt, dass jegliches Handeln immer auf eine grundlegende Dimension verweist, in der auf eine Anrufung geantwortet wird, und sich handelnden Anderen verdankt, die die Möglichkeiten des eigenen Tuns mitbestimmen. Und jede

104 Vgl. hierzu Deleuze, der einen transzendentalen Bereich der Immanenz annimmt, einen Bereich, der die Kategorien dessen übersteigt, was uns zugänglich ist, aber dennoch nicht Exteriorität ist, sondern der Welt inbegriffen bleibt. Zur Immanenz bei Deleuze sei hier beispielhaft verwiesen auf Deleuze, Gilles: »Die Immanenz – Ein Leben«, in: Balke, Friedrich/Vogl, Joseph (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München: Fink 1996, S. 29-33.

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Gabe verweist wiederum darauf, dass die Möglichkeit zu geben durch performative Kraft entsteht, die Kennzeichen der sozialen und historischen Bedingtheit des sprachlichen Handelns ist.

L ITERATUR Beuthan, Ralph: Das Undarstellbare: Film und Philosophie. Metaphysik und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Busch, Kathrin: Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, Phänomenologische Untersuchungen, Band 18 (hg. v. Bernhard Waldenfels), München: Fink 2004. Butler, Judith: Hass Spricht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, erste Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Butler, Judith: »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 301-222. Därmann, Iris: Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg: Junius 2010. Deleuze, Gilles: »Die Immanenz – Ein Leben«, in: Balke, Friedrich/Vogl, Joseph (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München: Fink 1996, S. 29-33. Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003 [2001]. Derrida, Jacques: Falschgeld. Zeit geben I, München: Wilhelm Fink 1993. Derrida, Jacques: »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien (Passagen) 1988b, S. 291-362. Derrida, Jacques: Vom Geist. Heidegger und die Frage, erste Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992 [1987]. Flatscher, Matthias: »Derridas ›coup de don‹ und Heideggers ›Es gibt‹. Bemerkungen zur Un-Möglichkeit der Gabe«, in: Zeilinger, Peter/Flatscher, Matthias (Hg.): Kreuzungen Jacques Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie, Wien: Turia und Kant 2004, S. 35-53. Gondek, Hans-Dieter; Waldenfels, Bernhard: »Derridas performative Wende« in: Dies. (Hg.): Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 183-225. Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart: Cotta 1959.

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Mauss, Marcel: Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, erste Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Schwarte, Ludger: »Die Kunst der Leerstelle. Sprachlosigkeit als Voraussetzung der Verständigung«, in: Gronau, Barbara/Lagaay, Alice (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien: Passagen 2008. Seel, Martin: Sich bestimmen lassen. Studien zur praktischen und theoretischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002.

Übertreibung und Zweideutigkeit Derrida und Merleau-Ponty über Passivität und Aktivität im Performativen M ARIE -E VE M ORIN

Sowohl in manchen Varianten der Sprechakttheorie als auch in den diversen Theorien der sozialen Akte (wie zum Beispiel Reinachs) wird das performative Moment oft als eine Handlung verstanden, die einem selbstbewussten und autonomen Subjekt entspringt.1 Obwohl die Erfolgsbedingungen des performativen Aktes vom Kontext der Äußerung und vom Verständnis des Hörers abhängen, wird die wichtigste Erfolgsbedingung darin gesehen, dass die oder der Handelnde zu sich selbst präsent ist und die ausdrückliche Absicht hat, den angestrebten Akt auch auszuführen. Dieses Verständnis einer Theorie der Performativität beruht also auf einem Begriff des Subjekts, das als selbstbewusstes und autonomes Ich verstanden wird, und das nicht nur als Urheber seiner Taten fungieren kann, sondern sich auch als solches kennt. Konstative Äußerungen hingegen werden in den konventionellen Theorien als bloß passive Aufzeichnung oder Beschreibung gegebener Tatsachen aufgefasst. In diesem Beitrag möchte ich diese Trennung zwischen dem Konstativen und dem Performativen und die dazugehörigen Gegenüberstellungen von Passivität/Aktivität und Spontaneität/Rezeptivität in Frage stellen. Dazu untersuche ich

1

Auch bei Austin muss die Sprechhandlung von »thought, feelings, or intentions« begleitet werden. Also muss ein selbstbewusstes Subjekt der Handlung vorliegen (vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words. Cambridge, MA: Harvard University Press 1962.1956, hier: Vorlesung IV). Austin selbst kritisiert die Trennung zwischen dem Konstativen und dem Performativen auch; seine Theorie steht hier aber nicht im Mittelpunkt.

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zwei verschiedene Strategien. Die erste kann in Jacques Derridas Suche nach einem »reinen« Performativen gefunden werden. In seinen Analysen des Begriffs der Gabe oder der Institution eines neuen Gesetzes ist Derrida an performativen Handlungen interessiert, die nicht aus einem Subjekt entspringen, das innerhalb eines gewissen Kontextes eine neue Tatsache hervorbringen kann, sondern einem Subjekt, das selbst das Produkt des performativen Moments der Gesetzesschaffung ist. Das Performative verwandelt hier das Subjekt so grundsätzlich, dass dieses Subjekt nicht mehr als ein vorliegender Urheber des Schaffensaktes gesehen werden kann. An dieser Stelle ist es unmöglich zu bestimmen, ob das Performative passiv oder aktiv ist, da es kein fixes Subjekt mehr gibt, das handeln oder leiden könnte. Im Unterschied zu Derridas Übertreibungsstrategie zeigt Merleau-Ponty, wie sich auf der Ebene der Wahrnehmung, der gewöhnlichen Handlung und des Ausdrucks Passivität und Aktivität, Rezeptivität und Spontaneität miteinander verflechten. Kausale oder mechanistische Handlungen (z.B. Reflexe) können als passiv verstanden werden, während die freien, spontanen Handlungen des Subjekts als aktiv begriffen werden. Diese Kategorien sind aber unzulänglich, um eine Reihe von menschlichen Verhaltensweisen zu beschreiben. Während Derridas Konzeption eines reinen Performativen uns dazu auffordert, den Begriff des Subjekts aufzugeben, gewährt Merleau-Pontys Theorie des Ausdrucks die Möglichkeit einer Handlung, die schöpferisch und sogar emanzipatorisch ist. Obwohl diese Handlungen noch in einem Subjekt begründet sind – Merleau-Ponty würde statt Subjekt »Leib« sagen – ist dieses ›Subjekt‹ nicht durch Spontaneität und Selbstbewusstheit, sondern durch Zweideutigkeit gekennzeichnet.

1. P ERFORMATIVITÄT IN S PRECHAKTTHEORIE T HEORIEN DER SOZIALEN AKTE

UND

Bevor wir uns an Derrida und Merleau-Ponty wenden, sollen zuerst einige Grundlagen der Sprechakttheorie dargelegt werden, da die Begriffe des Performativen und Konstativen zuerst dort verwendet wurden.2

2

Da die Absicht dieses Teils ist, ein begriffliches Aufbauschema, das dann als Leitfaden in unserer Besprechung von Derrida und Merleau-Ponty hilfreich sein wird, aufzuzeichnen, gehe ich auf die Einzelheiten der Entwicklung von Austins Theorie und ihre Übernahme bei Searle nicht ein. Mir ist bewusst, hier eine grobe Lektüre (und Verschmelzung) Austins und Searles zu bieten. Für eine Einführung zum Begriff des Performativen im Zusammenhang mit der Sprechakttheorie, vgl. Recanati, François:

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UND

ZWEIDEUTIGKEIT

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Die Sprechakttheorie wurde als Gegenrichtung zu solchen Sprachphilosophien entwickelt, die sich ausschließlich auf Aussagesätze richteten, deren Bedeutung zudem von der psychischen Vorstellung des Sprechers abhängig gemacht wird. Für diese Theorien sind Sätze, die nicht analytisch, d.h. tautologisch sind, nur dann bedeutungsvoll, wenn sie mit einer empirisch oder wissenschaftlich nachweisbaren Tatsache übereinstimmen. Alle Sätze, die diese Bedingung nicht erfüllen, sind bedeutungslos. Diese Auffassung der Sprache hat sich ausdrücklich gegen jegliche Art von metaphysischen Sprachverwendungen gestellt, dabei wurde aber auch ein Großteil unserer alltäglichen Sprachmuster übersehen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, setzen Sprechakttheoretiker_innen beim alltäglichen Sprachgebrauch an, anstatt allen Sprachgebrauch auf deskriptive Sätze zurückzuführen. Für diese Theoretiker_innen ist die Sprache also nicht bloß ein »Mittel«, mit dem wir etwas, das der Fall ist, aufzeichnen und mitteilen, sondern ein Instrument, mit dem wir handeln. Mit Hilfe der Sprache können wir vielerlei tun: bezweifeln, befehlen, versprechen, fragen, heiraten, aber auch feststellen, usw.3 Sprachgebrauch ist also immer ein Tun, trotzdem sind Sprechakttheoretiker vornehmlich an sogenannten performativen Äußerungen interessiert, da in diesen Fällen die handelnden, schaffenden oder wirksamen Momente, also die illokutionäre Kraft, besonders im Vordergrund steht. Performative Äußerungen widersprechen also dem »deskriptiven Vorurteil«4 der traditionellen Theorien. Auf der Ebene der Worte und Propositionen gelten performative Sätze den traditionellen Theorien nicht als darstellend, da sie keine bestehenden Umstände oder Tatsachen einfach wiedergeben. Daher gelten sie als bedeutungslos. Trotzdem benutzen wir solche Sätze täglich in bedeutungsvoller Weise, und sie sind wirksam: Sie wirken auf die soziale Wirklichkeit, indem sie neue Tatsachen zustande bringen.5 Folglich haben performative Äußerungen einen zusätzlichen Aspekt der Aktivität. Performative Sätze stellen also nicht dar, sie bewirken et-

Les Énoncés performatifs, Paris: Éditions de Minuit 1981. Vgl. auch Austin, John L.: How to do Things with Words, Cambridge, MA: Harvard University Press 1962.1956. 3

Dass mit einer bestimmten Äußerung etwas »getan« wird ist, was Austin den illokutionären Akt nennt. Vgl. J.L. Austin: How to Do Things, Vorlesungen VIII-XII.

4

J.L. Austin: How to Do Things, S. 3. Vgl. Auch Austin, J.L.: Truth. In: Philosophical Papers, hrsg. von J.O. Urmson und G.J. Warnock. Oxford: Oxford University Press 1961, S. 85-101, hier: S. 99. Vgl. auch Austin: Performative Utterances. In Ebd., S. 220-239, hier: S. 231.

5

Diese ontologische Sprechweise passt mit Searles Aneignung von Austins Theorie besser zusammen als mit der Theorie Austins selbst. Searle, John R.: How Performatives Work. In: Linguistics and Philosophy 12 (1989), S. 535-558.

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was: Durch das »Ja sagen« bin ich jetzt verheiratet, durch die Taufe ist jetzt das Schiff benannt und so weiter. Konstative Sätze hingegen erfassen lediglich eine schon gegebene Tatsache. Sie sind, oder so scheint es zunächst, passiv: Sie bewirken nichts Neues, da sie aufzeichnen, was schon vorhanden ist. Ich bin von den Dingen innerhalb und außerhalb affiziert und lege sie in der Sprache nieder. Keine Umwandlung scheint zu geschehen. Natürlich können solche Sätze perlokutionäre Auswirkungen haben (indem sie z.B. dem Hörer etwas zur Kenntnis bringen), aber an sich bewirken sie selbst nichts, sie ändern nicht, was der Fall ist. Im Gegensatz dazu tun performative Sätze etwas. Hier muss betont werden, dass es das Aussprechen der Wörter selbst ist, das handelt. Wenn ich jemandem etwas verspreche, dann wird mit der Äußerung der Worte »Ich verspreche« das Versprechen selbst vollzogen. Die Wörter bekunden also nicht bloß die Tatsache, dass ich etwas versprochen habe oder dass ich den Gedanken des Versprechens in meinem Kopf habe. Dies kann mithilfe von einigen Beispielen weiter verdeutlicht werden. Obwohl ich jemandem ›innerlich‹ verzeihen kann, kann ich mich nicht entschuldigen, ohne herkömmliche Formeln zu verwenden. Genauso kann ich auch nicht nur in meinem Herzen heiraten. Ich muss zur rechten Zeit, im rechten Zusammenhang und in voller Überzeugung die Worte »Ich will« von mir geben. Ebenso kann ich zwar in meinem Herzen hoffen, dass jemand etwas tut, aber ich kann ihn nur dadurch dazu bringen, dass ich bestimmte Wörter (oder Gesten) verwende. Die Äußerung bestimmter Wörter (den angemessenen Kontext vorausgesetzt) kann eine Wirkung auf die soziale Wirklichkeit haben. Somit rückt die Theorie der Performativität nicht nur von Referenztheorien der Sprache ab, sondern auch von expressivistischen. Die Sprache wird nicht, oder nicht nur dazu benutzt, innerliche psychische Akte, Begierde oder Vorhaben zu bekunden. Austin argumentiert daher grundsätzlich gegen die Vorstellung, dass das »Innere« bedeutungskonstitutiv sei.6 Aufgrund dieser Entpsychisierung könnten wir versucht sein festzustellen, dass die Theorie der Performativität, im Gegensatz dazu, was in der Einleitung behauptet wurde, sich des Subjekts entledigt hat: Es gibt kein im Subjekt verborgenes Versprechen oder Verpflichten vor dem performativen Sprechakt, da dieser ja erst das Versprechen ermöglicht. Das Performative erscheint wie eine Schöpfung ex nihilo. Genau deswegen wird Judith Butler, die sich von einer wesenhaften Auffassung des Subjekts und besonders des geschlechtlichen Subjekts

6

Vgl. u.a., J.L. Austin: Performative Utterances, S. 233.

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ZWEIDEUTIGKEIT

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entfernen möchte, den Begriff des Performativen übernehmen.7 Geschlechtsperformanz8 drückt die innerliche Wahrheit meines Geschlechtes nicht aus, sondern bringt meine Geschlechtsidentität erst zustande. An dieser Stelle ist es aufschlussreich, sich Reinachs Theorie der sozialen Akte zuzuwenden, da sie interessante Parallelen zur Sprechakttheorie aufweist, 40 Jahre bevor diese artikuliert wurde. Reinach beginnt seine Untersuchung der sozialen Akte, indem er zwischen spontanen und nichtspontanen Akten unterscheidet, um einen Gegensatz zwischen einem »Tun des Ichs« und der Passivität des Empfindens oder Erleidens durch Fremdes zu benennen.9 Während spontane Akte im phänomenologischen Sinne intentional sind, genügt diese Intentionalität nicht, um sie von nichtspontanen Akten zu unterscheiden. Empfindungen sind passive, rezeptive Akte, die aber auch gegenstandsgerichtet sind. Zudem sind spontane Akte nicht bloß durch ihre Aktivität charakterisiert. Reinach betont dies wie folgt: »So kann ich eine Empörung, die von mir ausgeht, als aktiv bezeichnen, im Gegensatz zu der Betrübnis, die mich beschleicht oder plötzlich überfällt. Oder ich nenne das Haben eines Vorsatzes aktiv, insofern ich es bin, der den Vorsatz trägt.«

7

Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of identity, New York and London: Routledge 1999. Für Butlers Kritik der expressivistischen Theorie der Geschlechter, vgl. auch Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Theatre Journal 40.4 (1988), S. 519-531. Ann Ferguson hat aber im Gegenteil behauptet, dass Butlers performative Theorie der Geschlechter (wegen ihrer Ablehnung des Behaviorismus und ihrer Aneignung Freuds) noch Spuren einer expressiven Theorie beinhaltet, und daher noch auf eine Art Subjekt angewiesen ist. Vgl. Ferguson, Ann: Butler, sex/gender and a postmodern gender theory. In Andrew, B.S./Keller, J.C./Schwartzman, L.H. (Hrsg): Feminist Interventions in Ethics and Politics: Feminist Ethics and Social Theory, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2005.

8

»Performanz« wird in diesem Beitrag verwendet, um die Aufführung des Aktes selbst zu betonen, während »Performativität« verwendet wird, um von der Struktur (eines Aktes oder eines Subjektes) zu sprechen.

9

Alle Zitate sind aus Reinach, Adolf: Zur Phänomenologie des Rechtes. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes, München: Kösel Verlag 1953, §3 entnommen. Für einen Vergleich Reinachs mit Austin vgl. Laugier, Sandra: Actes de langage et états de choses: Austin et Reinach. In: Les Études philosophiques 72.1 (2005), S. 73-97. Das ganze Heft ist Reinachs Sprachphilosophie gewidmet.

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In solchen spontanen Akten ist das Subjekt also nicht bloß aktiv in dem Sinne, dass es einen Akt vollzieht, sondern weil »[sich] in ihnen das Ich als der phänomenale Urheber des Aktes erweist«. Innerhalb der spontanen Akte sind also diejenigen Akte sozial, die nicht bloß innerlich vollzogen werden können (wie zum Beispiel das Sich Entschließen oder das Verzeihen), sondern die »fremdpersonal« (d.h. an Andere gerichtet) und »vernehmungsbedürftig« sind. Deswegen wird Reinach auch behaupten, und dies in ähnlichen Worten wie Austin, dass ein Befehl nicht nur »die kundgebende Äußerung eines [innerlichen] Erlebnisses« ist. Demzufolge sollten soziale Akte nicht als innerliche psychische Akte verstanden werden, die noch eine zusätzliche Dimension der Veräußerlichung benötigen um erfolgreich oder vollkommen zu sein. Zugleich, und trotz dieser radikalen Entpsychisierung der sozialen Akte, sagt Reinach deutlich, dass solche Akte auf dem Willen des Subjekts beruhen. Hier scheint demnach die Verwerfung einer expressivistischen Theorie der performativen Äußerung und des sozialen Aktes die Rolle des Subjekts als »Urheber des Aktes« sogar noch zu stärken, statt von ihr abzurücken. So fasst Reinach zusammen: »Man darf die Äußerung sozialer Akte nicht verwechseln mit der unwillkürlichen Weise, in der allerlei innere Erlebnisse, Scham oder Zorn oder Liebe, sich nach außen hin spiegeln können. Sie ist vielmehr durchaus willkürlicher Natur.«

Der Akt muss also willentlich vollzogen werden und die entsprechenden Worte müssen mit Absicht gewählt werden. Wenn ich gezwungen werde, bestimmte Worte auszusprechen, oder wenn ich zufällig in einer Sprache, die ich nicht verstehe, bestimmte Worte, die ein Versprechen bilden, von mir gebe, so habe ich nichts versprochen. Selbst wenn wir eine radikalere Theorie der Performativität betrachten, wie Butlers zum Beispiel, stoßen wir auf eine Art Subjekt, das mit einem Willen versehen ist. So sagt Butler ausdrücklich: »gender is always a doing, though not a doing by a subject who might be said to preexist the deed.«10 Und dann zitiert sie Nietzsches Genealogie der Moral: »es giebt kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.«11 Ich bin demnach kein weibliches Subjekt, bevor ich eine bestimmte Geschlechtsidentität performativ hervorbringe oder bestätige, auch wenn diese Performanz durch die Handlungen Anderer (z.B. die Benennung)

10 J. Butler: Gender Trouble, S. 33. 11 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Leipzig: Verlag von C.G. Neumann 1887, §13.

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und durch soziale Normen, die mir auferlegt sind, mitgestaltet ist. Ich bin also genauso kein weibliches Subjekt vor dem performativen Akt wie ich kein entschuldigendes Subjekt bin, bevor ich willentlich ein »Ich entschuldige mich« geäußert habe. Die Realität und Identität des Subjekts wird also durch seine Handlungen geschaffen und aufrechterhalten, Handlungen, die nie privat sein können, weil sie stets auch eine öffentliche Bedeutung haben. Diese Handlungen werden als intentional behandelt, auch wenn sie innerhalb der Sphäre von unerkannten diskursiven Strukturen stattfinden. Dank dieser Art der Intentionalität können sie auch dazu benutzt werden, Strategien der Subversion zu artikulieren.12 Trotzdem kann nicht behauptet werden, dass es nichts vor der performativen Handlung gibt: Mein Geschlecht, mein Versprechen oder meine Entschuldigung sind zwar nicht vorhanden, aber die Konventionen und Institutionen des Geschlechtes, des Versprechens oder Entschuldigens sind gegeben, bevor ich diese Handlungen performativ ausführe, und sie beschränken auch was als Durchführung und Ausprägung von X zählen kann und was nicht. Demzufolge sollten wir die »willkürliche Natur«, die Reinach dem sozialen Akt zuspricht, nicht als Willkür oder Zufälligkeit verstehen. Konventionen und Normen sind zwar nichts Natürliches, und daher etwas Veränderbares, aber sie bestimmen trotzdem die Lesbarkeit meiner Performanz. Außerdem muss, angesichts der nicht-zufälligen Natur des Performativen, ein ›Subjekt‹ meiner Performanz vorausliegen. Wenn nicht als Träger wesentlicher Prädikate, dann mindestens als ein spontaner Wille.13 Wie könnte sonst die Performativität meine Geschlechtsidentität erschaffen? Wenn Intention nun so verstanden wird, dass sie vor der Handlung vorhanden ist, wobei die Handlung diese Intention dann bekundet und verwirklicht, oder so, dass Intention und Handlung als gleichzeitig und koextensiv gesehen werden, so scheint der Unterschied zwischen beiden nur eine Verschiebung der Stellung der Intention zu sein. Unser Verständnis des Subjekts als etwas Zugrundeliegendes und als Urheber wurde nicht radikal verändert. Das Subjekt hat zwar kein vorliegendes Wesen mehr, das es durch Worte und Taten äußerlich bekunden könnte, trotzdem ist das Subjekt aber noch ein spontanes, selbstbe-

12 Vgl. J. Butler: Gender Trouble, Teil III, §4: Bodily Inscriptions, Performative Subversions. Vgl. auch A. Ferguson: Butler, sex/gender, S. 63-65. 13 Dieser Wille muss nicht apriorisch verstanden werden, sondern kann auch, wie für Butler, erst durch einen Prozess der Subjektivierung entstehen. So verstanden ist das Subjekt frei, weil es diskursiven Machtstrukturen unterworfen ist, so dass die Möglichkeit spontaner Handlungen von einer früheren Unterwerfung abhängt. Wie auch immer der spontane Wille entstanden ist, muss ihm aber die Performanz zugrunde liegen.

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wusstes Ich, das Urheber seiner Taten sein kann. Dieses Ich kann spontan (wenn auch nicht expressiv oder rezeptiv) agieren, die Bedeutung der Handlungen, die es ausübt, wird aber durch den performativen Kontext bestimmt. Die Lesbarkeit und Verständlichkeit dieser Handlungen hängen also von Konventionen, Normen und von herkömmlichen Formeln ab. Zwar kann ich immer durch meinen Eingriff in diskursive Strukturen diese Normen zu verwandeln suchen, solch ein Eingriff läuft aber immer Gefahr, als Unsinn oder Untat (d.h. als etwas, das Andere gar nicht verstehen könnten) bezeichnet zu werden. Der Erfolg meiner performativen Handlung beruht auf einem spontanen Willen, aber einem solchen, der sich die vorliegenden Konventionen und Normen aneignen muss.

2. D ERRIDAS Ü BERTRAGUNG DES P ERFORMATIVEN Wenn Derrida sich mit der Theorie der Performativität befasst, z.B. in seiner Untersuchung der Gabe oder der Institution eines neuen Gesetzes, dann sucht er nach einem reinen Performativen, d.h. einem Performativen, das weder durch vorliegende Konventionen und Normen, noch durch ein vorliegendes Subjekt beschränkt wird. Die Kraft performativer Sätze, etwas zustande zu bringen, hängt von der Spontaneität des Subjekts und der Konventionalität des Zusammenhangs ab. Solch performatives Tun ist jedoch nicht dazu imstande, radikal neue Konventionen oder Normen zu generieren. Deswegen ist innerhalb des bis jetzt besprochenen Begriffsbereichs ein reines Performativ undenkbar, da alle performativen Handlungen von vorliegenden Konventionen und von einer bestimmten sozialen Wirklichkeit abhängen, welche das spontane Subjekt nicht transzendieren kann, sondern sich aneignen muss. Deswegen sind performative Sätze ohne Folge, wenn sie auf einer Bühne zitiert oder in eine andere soziale Wirklichkeit verlagert werden. Wenn ich auf der Bühne »ja« sage bleibe ich de facto unverheiratet. Derrida fragt deshalb, wie ein Performativ im strengen Sinne des Wortes ein Ereignis sein kann. Solch ein performatives Ereignis müsste radikal mit dem Kontext brechen, in dem es sich abspielt, so dass seine Lesbarkeit und Verständlichkeit nicht von schon vorliegenden und gegebenen Konventionen und Gesetzen abhängen. In diesem Sinne untersucht Derrida ein performatives Ereignis, das einem performativen Sprechakt zwar ähnlich ist, diesen aber dennoch übertrifft. Statt sich im Kontext schon vorliegender Normen zu bewegen, erschafft das Derridasche Performative ein neues, noch nie dagewesenes Gesetz [loi]. Es muss hier betont werden, dass es kein Gesetz, keine herkömmlichen Praktiken gibt, die die Entstehung dieses Gesetzes leiten könnten. Demzufolge sind solche

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performativen Ereignisse durch keine vorliegende Tradition im Voraus gerechtfertigt, sondern sie bringen gerade jenes Gesetz hervor, das sie im Nachhinein rechtfertigen oder lesbar machen wird. Nehmen wir eine Revolution als Beispiel. Innerhalb des Bereichs der vorliegenden Gesetze sind die Taten und Worte der Revolutionäre unverständlich und unverantwortlich (oder sie sind nur als Hochverrat verständlich), so dass sogar das Dasein eines revolutionären Subjekts infrage gestellt wird. Ebenso sind die Gemälde oder Gedichte eines avantgardistischen Künstlers unlesbar mittels der herkömmlichen Normen der Malerei oder Dichtung. Avantgardistische Kunstwerke sind nicht im Voraus gerechtfertigt. Sie müssen vielmehr den Kontext, in dem sie als Kunstwerke erkennbar werden, zuerst schaffen. Dazu wird das mit dem Kontext brechende Ereignis sich in wiederholbaren (somit erkennbaren, lesbaren) Formen oder Normen stabilisieren müssen, und gibt damit aber auch seine Singularität und Neuheit wieder auf. Paradoxerweise wird das Ereignis sich nur dann ereignet haben, d.h. als anwesend anerkannt sein, wenn seine eigentliche, sich ereignende Qualität verdrängt wird. Hier haben wir es mit einer Temporalität der Verzögerung und Nachwirkung zu tun: Es wird eine (politische, künstlerische) Revolution gegeben haben. Die Temporalität performativer Ereignisse und die Weise, in der solche Ereignisse die Beständigkeit des Subjekts beeinträchtigen, ist am deutlichsten in Derridas Interpretation der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten formuliert.14 Derrida zeigt wie das Subjekt (wir, die »anständige Bevölkerung dieser Kolonien«), welches erklärt »that these united colonies are, and of right ought to be free and independent states«15, nicht als rechtmäßiger Verfasser der Erklärung verstanden werden kann, als wäre die Erklärung nur die Bekundung einer schon vorliegenden Freiheit. Das Volk kann nicht der Urheber der Erklärung sein, da es de jure vor der Äußerung der Erklärung noch nicht vorhanden ist. Die Erklärung bewirkt nicht nur die Befreiung eines schon gegebenen Volks, sondern durch eine tour de force wird dieses Subjekt zum ersten Mal konstituiert. Demnach ist die Unabhängigkeitserklärung weder eine typisch konstative noch eine typisch performative Äußerung. Derrida nennt solche Sätze teleiopoetisch: Um erfolgreich (vollkommen, teleios) zu sein, müssen sie ihr Ziel (telos) vorwegnehmen.16 Diese Sätze sind nur verständlich, wenn sie die Zeit zusammendrücken, wenn sie sich mit unbeschränkter Geschwindigkeit bewegen, so-

14 Vgl. Derrida, Jacques: Déclarations d’Indépendance. In Otobiographies: L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris: Galilée 1984. 15 Zitiert in J. Derrida: Ebd., S. 26. Eine Niederschrift der Unabhängigkeitserklärung ist unter http://www.archives.gov/exhibits/charters/declaration_transcript.html zu finden. 16 Vgl. Derrida, Jacques: Politiques de l’amitié, Paris: Galilée 1991, S. 50, 95.

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dass das Ziel des Satzes am Anfang schon erreicht ist, um diesen Anfang zu ermöglichen. Mit anderen Worten, das Volk muss so tun, als wäre es schon vorhanden und seine Freiheit einfach bekunden, um den Satz, der am Ende das Volk als frei und selbstständig erschaffen wird, anstoßen zu können. Wegen der merkwürdigen Zeitform der Performanz (es wird geschehen sein, vielleicht) haben wir es mit einem Tun ohne bestimmbaren Täter zu tun. Wenn solch ein Tun erfolglos (und folgenlos) bliebe, so wäre es nicht einmal als Beispiel einer bestimmten Art missglückter Performativität identifizierbar (ein erfolgloses Versprechen oder eine gescheiterte Heirat), da einfach nichts geschehen sein wird. Die Art und Weise, wie das reine Performative nicht nur wesenhafte Auffassungen des Subjekts, sondern auch Vorstellungen von spontaner, vorsätzlicher Subjektivität in Frage stellt (wie Butler versuchte), ist in Derridas Untersuchung der Gabe noch deutlicher sichtbar.17 In ihrem alltäglichen Sinne wird die Gabe aus dem sozialen Brauch des Schenkens her verstanden. Wie alle performativen Handlungen impliziert die Gabe Regeln und Normen, die sich zum Beispiel von den Konventionen des Austausches oder des Ausleihens unterscheiden. Die Gabe verlangt eine ernsthafte Intention des Gebers, das darauffolgende Erfassen dieser Intention, und schließlich die Annahme ihrer durch den Empfänger. Derrida zeigt jedoch, wie die Bedingungen der Möglichkeit der Gabe auch die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit bilden, da diese Konventionen das Geben stets in eine Art von Austausch und Handel verwandeln. Dies kann an einem alltäglichen Beispiel erläutert werden. Sie laden mich zu Ihrem Geburtstag ein. Ich kaufe etwas, packe es ein, und schenke es Ihnen mit den Worten »Herzlichen Glückswunsch«. Sie packen das Geschenk aus und sagen »Danke«. Ohne hier auf Einzelheiten von Derridas Untersuchung des Gebens weiter eingehen zu können, genügt dieses Beispiel dennoch, um darauf hinzuweisen, wie Derrida in dieses herkömmliche Verständnis der Gabe eingreifen wird. Zunächst, im Unterschied zu Befehl oder Aufforderung, die dem Empfänger eine Verpflichtung auferlegen, scheint es eine wesentliche Eigenschaft der Gabe zu sein, im Gegensatz zum Austauschen und zu anderen Vertragsarten, dass die Gabe keine Verpflichtung und keine Verschuldung nach sich zieht. Falls die Gabe den ökonomischen Kreislauf des Austauschs brechen soll, kann der Empfänger keine Gegenleistung erbringen (z.B. dadurch, dass er etwas in Tausch gibt, sich bedankt, oder auch die Gabe empfängt). Der Empfänger darf also in diesem Sinne nichts von der Gabe wissen, da er ja selbst mit Undankbarkeit oder Ablehnung eine Gegenleistung erbringt, und mir auf diese Weise etwas »zurückgibt«

17 Vgl. Derrida, Jacques: Donner le temps. 1. La fausse monnaie, Paris: Galilée 1991, u.a. S. 22-31.

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oder gar »heimzahlt«. Etwas geben bedeutet es anbieten, und wie Jean-Luc Nancy erklärt, ein Anbieten bleibt immer an der Schwelle der Freiheit des Anderen aufgehoben.18 Indem ich etwas gebe, erfahre ich meine Machtlosigkeit im Angesicht des Anderen, während eine Aufforderung oder ein Befehl Versuche darstellen, diese Machtlosigkeit zu überwinden. Wir können also sehen, wie das Geburtstagsgeschenk zu weiteren Gaben schon verpflichtet und diese vorprogrammiert, da noch bevor dem Empfänger eine Verpflichtung des Zurückgebens auferlegt wurde, vom Geber schon erwartet wurde, dass er freigebig sei. Indem der Geber ein Geschenk übergeben hat, ist er auf seine soziale Rolle in impliziten Konventionen der Gabe und Gegengabe festgelegt, die zwischen Freunden bestehen. Sogar indem der Geber nur die Absicht formuliert, etwas zu geben, und insofern als diese Absicht dem Geber in seiner sozialen Bedeutung als Geschenk bewusst wird, selbst wenn diese Absicht nicht vollzogen wird, wird eine Art symbolischen Austauschs stattgefunden haben, da der Geber sich als freigebig gezeigt haben wird. Es wird also selbst dann kein Bruch im Kreislauf des Austauschens geschehen sein. Soll der Geber dann spontan, absichtslos, und ohne Anlass geben? Würde diese Absichtslosigkeit aber nicht ebenfalls die Bestimmung der Gabe als solcher verfehlen? Wenn meine Handlung tatsächlich keinen Grund hat, kann nicht behauptet werden, dass ich mich entschieden habe, dieses statt jenes zu tun. Es scheint aber auch der Fall zu sein, dass ich mich im strengen Sinne auch dann nicht entscheide, wenn das Ergebnis meiner Überlegung schon im Voraus durch soziale Konventionen, meine Vergangenheit, meine Erziehung, meinen sozialen Stand usw. vorprogrammiert ist. Die Entscheidung scheint eine wesentliche Eigenschaft des performativen Ereignisses des Gebens: Ich muss wissen, was ich tue, und darf es nicht aus Versehen tun. Dennoch neutralisiert der Begriff der Entscheidung, solange er mit einer Theorie des Subjekts verbunden bleibt, den radikalen Einbruch des Ereignisses. Es ist also unklar, so Derrida, wie ein Subjekt eine Entscheidung treffen könnte, die weder als Folge einer Ursache noch als Ergebnis einer Berechnung erscheint, sofern das Subjekt als etwas Verbleibendes, Unterliegendes verstanden wird. Derrida erklärt dies wie folgt: »Sans doute la subjectivité d’un sujet, déjà, ne décide-t-elle jamais de rien; son identité à soi et sa permanence calculable font de toute décision un accident qui laisse le sujet indifférent. […] Car si rien n’arrive jamais à un sujet, rien qui mérite le nom d’événement, le schème de la décision tend régulièrement, du moins dans son acception commune et hégémonique […] à impliquer l’instance du sujet, d’un sujet classique, libre et volontaire,

18 Vgl. Nancy, Jean-Luc: L’expérience de la liberté, Paris: Galilée 1988, S. 188-189.

194 | M ARIE-E VE M ORIN donc d’un sujet auquel rien n’arrive, pas même l’événement singulier dont il croit, par exemple en situation d’exception, prendre et garder l’initiative.«19

Da die Entscheidung den ökonomischen Kreislauf unterbrechen muss, um als solche zu gelten, muss das Subjekt von der Entscheidung ausgenommen werden. Eine Entscheidung im strengsten Sinne, eine Entscheidung die wirklich »scheidet«, ist gezwungenermaßen immer die Entscheidung des Anderen in mir, und nie meine Entscheidung. Demzufolge kann die performative Handlung nur dann den Charakter eines Ereignisses haben, wenn dieser Charakter nicht der Macht und Herrschaft des Subjekts unterworfen ist.20 Was lehrt uns Derridas Übertreibung des Performativen über Passivität und Aktivität? Der Begriff des Performativen ist mit Aktivität oder (um Reinachs Unterscheidung zwischen Aktivität und Spontaneität zu bewahren) mit Spontaneität verbunden, insofern als es das willentliche »Tun eines Ichs« beschreibt. Gleichermaßen ist das Performative für Derrida mit einer Art Passivität verbunden, insofern das Subjekt seine Absichten im Rahmen vorliegender Konventionen und Regeln ausspielen muss. Die Aporie in Derridas Verständnis des Performativen besteht darin, dass es sowohl passiver als die Dimension der Subjektivität, die »spontan« und mit »Absicht« handelt, zugleich aber auch aktiver ist, als die andere Dimension der Subjektivität, die sich in der Handlung nach Konventionen und Regeln richtet. Solch ein Performatives ist so radikal schöpferisch, dass es seinen Kontext und sein Subjekt erschafft. Dies heißt aber, dass es weder von einem Subjekt gewollt noch von ihm vollzogen werden kann.

3. M ERLEAU -P ONTY In seiner Radikalisierung des Performativen versucht Derrida das Performative von seiner Abhängigkeit von einem spontanen Subjekt und von einem vorliegenden Kontext zu lösen. Diese Strategie, wie schon gezeigt wurde, kompliziert

19 J. Derrida: Politiques de l’amitié, S. 86-87. 20 Für eine kurze Besprechung der Entscheidung des Anderen in mir in Bezug auf das Performative vgl. Derrida, Jacques: Performative Powerlessness: A Response to Simon Critchley. In: Constellations 7.4 (2000), S. 466-468. Über den Begriff der Entscheidung, neben dem obenerwähnten Absatz in Politiques de l’amitié, vgl. u.a. Derrida, Jacques: Une certaine possibilité impossible de dire l'événement. In: Derrida, Jacques/Nouss, Alexis/Soussana, Gad: Dire l’événement, est-ce possible? Séminaire de Montréal, pour Jacques Derrida, Paris: L’Harmattan 2001.

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unser Verständnis des Performativen als Aktives, da Derridas Denken des Performativen dies zugleich als aktiver und passiver als die performative Sprachhandlung oder den sozialen Akt sieht. Es gibt aber noch eine weitere Strategie, die verfolgt werden kann, um das Verständnis der Performativität entlang der Linie der Aktivität/Passivität und der Spontaneität/Rezeptivität zu denken. Statt den Begriff des Performativen zu radikalisieren, bis er ohne Theorie des Subjekts denkbar wird, wendet sich Merleau-Ponty dem leiblichen Subjekt zu, um zu zeigen, wie sich die leibliche ›Subjektivität‹ der Entgegensetzung Aktivität/Passivität oder der Dichotomie von Spontaneität/Rezeptivität verweigert. Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception bietet einen Ansatz, sowohl das Verständnis der Wahrnehmung als passives Aufzeichnen und der Äußerung als passives Wiedergeben des Wahrgenommen, als auch das Verständnis des performativen Ausdrucks als aktiven Vollzugs einer Absicht, in Frage zu stellen. Indem er die Unzulänglichkeit der empiristischen und intellektualistischen Theorien der leiblichen Handlungen aufzeigt, sucht Merleau-Ponty nach einer angemesseneren Weise, die Entstehung der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Bewusstsein und Natur zu beschreiben. Sowohl der Empirismus als auch der Intellektualismus erfassen die Welt als ein in sich eigenständig Vorhandenes, welches aus ausgedehnten Gegenständen partes extra partes besteht. In einer solchen Welt ist das Subjekt entweder eine Art Objekt, das kausal von den es umgebenden Gegenständen affiziert wird und sie auch affizieren kann, oder das Subjekt wird zu einem reflektierenden Cogito, einem sich vollkommen anwesenden mens, das seine Bedeutung der sonst bedeutungslosen Welt auferlegt (z.B. indem es Sinnesdaten synthetisiert). Der Grund für MerleauPontys Betonung der leiblichen Existenz liegt darin, dass auf dieser Ebene weder ein reflektierendes Cogito, noch eine aus völlig geformten Gegenständen bestehende Welt vorhanden ist. Leib und Gegenstand sind in einem dialektischen Bezug verflochten, wo das eine nur durch den Bezug auf ein anderes sein kann. Sinn entsteht dank diesem Zusammentreffen von Leib und Welt und die Wahrnehmung ist das primäre bedeutungsvolle Zusammentreffen. Für Merleau-Ponty hat die Wahrnehmung also weder in einem psychischen noch in einem physiologischen Ereignis ihren Ursprung. Etwas wahrzunehmen bedeutet nicht, Sinnesdaten durch einen bloß kausalen (d.h. passiven) Mechanismus zu empfangen. Der wahrnehmende Zustand wird nicht durch die Anwesenheit bestimmter Stimuli verursacht (denken wir nur an Joseph Jastrows Hasen-Enten-Kopf21). Der

21 Die berühmte Zeichnung erschien erst in Fliegende Blätter (23. Oktober 1892, S. 147) und wurde in Harper's Weekly (19. November 1892, S. 1114) wieder abgedruckt. Der amerikanische Psychologe Joseph Jastrow (1864-1944) griff die Zeichnung auf in

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Wahrnehmende ist aber auch nicht aktiv, insofern damit gemeint ist, dass er selbstständig, von der Welt abgesondert entscheidet, dies oder jenes wahrzunehmen (z.B. indem er in seinem Verstand Stückchen bedeutungsloser Sinnesdaten synthetisiert und sich dann entscheidet, das sinnlich Gegebene unter den Begriff »Ente« oder »Kaninchen« zu fassen). Das Wahrgenommene ergibt sich weder aus meiner Spontaneität, noch aus meiner Rezeptivität, aber auch nicht aus einer Verbindung beider. Die Beziehung zwischen Leib und Welt wird bei Merleau-Ponty vielmehr als Erregen und Antworten verstanden. Es muss noch einmal betont werden, dass dieser Bezug dialektisch ist, da das eine nur durch das andere sein kann, was es ist. Die sinnliche Welt erregt meine Bewegung (sie verursacht sie nicht), und eine »stillschweigende« Entscheidung, was diese Erregung anbetrifft, eröffnet ein visuelles Feld. Eine der aufschlussreichsten Besprechungen dieser Dialektik der Erregung/Antwort als »Tun und Lassen« findet sich in Merleau-Pontys Analogie der zweideutigen Natur der Leiblichkeit, d.h. der Dialektik zwischen Leib und Welt, in Bezug auf die Weise wie wir uns zum Einschlafen vorbereiten. Wenn wir schlafen wollen, liegen wir im Bett, wir schließen die Augen, atmen langsam, zählen Schafe, usw. Hier jedoch endet die Kraft unseres Willes. Durch willentliche Handlungen laden wir den Schlaf ein. Der Schlaf setzt weder als Ergebnis unseres bewussten Vorhabens ein noch unwillentlich. Demzufolge ist das Einschlafen sowohl ein Tun als auch ein Lassen. Die Zweideutigkeit dieser Situation, in der wir nicht untätig aber trotzdem machtlos sind, da wir den Schlaf nicht absichtlich erzeugen, weist auf die zweideutige (passive/aktive) Natur unserer leiblichen Existenz hin. »Le sujet de la sensation n’est ni un penseur qui note une qualité, ni un milieu inerte qui serait affecté ou modifié par elle, il est une puissance qui co-naît à un certain milieu d’existence ou se synchronise avec lui. Les rapports du sentant et du sensible sont comparables à ceux du dormeur et de son sommeil: le sommeil vient quand une certaine attitude volontaire reçoit soudain du dehors la confirmation qu’elle attendait. […] De la même manière, je prête l’oreille ou je regarde dans l’attente d’une sensation, et soudain le sensible prend mon oreille ou mon regard, je livre un partie de mon corps, ou même mon

»The mind’s eye«. In: Popular Science Monthly 54 (1899), S. 299-312. Sie ist aber berühmt geworden dank Wittgensteins Analyse in seinen Philosophischen Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, Teil II, Abschnitt XI.

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corps tout entier à cette manière de vibrer et de remplir l’espace qu’est le bleu ou le rouge.«22

Das Wahrnehmen ist für Merleau-Ponty nie ein bloß passiver Vorgang, da es notwendigerweise ein Erforschen miteinschließt: Etwas wird anvisiert, in den Vordergrund gebracht, etwas wird im Hintergrund verloren, es wird sich um etwas bewegt, etc. In der Tat ist diese erforschende Natur der Wahrnehmung und die damit notwendig verbundene Unvollkommenheit und Dunkelheit das Kennzeichen des Wahrnehmungsgegenstandes im Gegensatz zur Idee oder zum Gedanken. Ich kann nie das Wahrgenommene auf einmal vollständig im Griff haben, da es meiner Erforschung antwortet, die ihrerseits selbst seiner Erregung antwortet. »Sans l’exploration de mon regard ou de ma main et avant que mon corps se synchronise avec lui, le sensible n’est rien d’autre qu’une sollicitation vague. […] Ainsi un sensible qui va être senti pose à mon corps une sorte de problème confus. Il faut que je trouve l’attitude qui va lui donner le moyen de se déterminer, et de devenir bleu, il faut que je trouve la réponse à une question mal formulée. Et cependant je ne le fais qu’à sa sollicitation, mon attitude ne suffit jamais à me faire voir vraiment du bleu ou toucher vraiment une surface dure.«23

Das Wahrgenommene ist nicht nur von meiner Motorik (meiner Fähigkeit, etwas zu erforschen), sondern auch von meinem Vermögen, das angenommen und fortgebildet werden kann, abhängig. Folglich ist mein Leib in der Wahrnehmung nicht nur durch seine Bewegungen aktiv, sondern auch durch sein Vermögen und seine Gewohnheiten passiv involviert. Da ich Klavier spielen kann, nehme ich die Klaviertasten als bedeutungsvoll wahr: Das Klavier ist spielbar. Da ich klettern kann, nehme ich diese Löcher im Stein als Griffe und Tritte wahr, selbst wenn ich gerade nicht dabei bin zu klettern. In der Wahrnehmung erscheinen die Dinge als wertvoll oder bedeutungsvoll in Bezug auf mein Vermögen mit ihnen umzugehen. Wenn ich mir folglich etwas Neues angewöhne, komme ich zur leiblichen Kenntnis davon, und diese Kenntnis bildet ein neues Vermögen, welches all meine Bezüge zu der Welt, einschließlich meiner Wahrnehmungen, durchdringt.

22 Merleau-Ponty, Maurice: La phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, S. 245, vgl. auch 191. 23 Ebd., S. 248.

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Indem wir uns nun spezifisch gewöhnlichen Handlungen zuwenden, können wir sehen, dass diese Handlungen, genauso wie Wahrnehmungen, weder durch passive, mechanistisch verstandene Reflexe vermittelt werden noch als willentliche, absichtliche Taten verstanden werden können. Wenn ich eine neue Gewohnheit annehme, erwerbe ich nicht neue Reflexe als würde ich jeden Stimulus allmählich mit einer neuen Reaktion verbinden. Ich erwerbe auch nicht neue Gedankengänge, so dass ich jetzt in der Lage wäre, die Handlung zu durchdenken und sie zu beabsichtigen. Merleau-Ponty wird behaupten, »c’est le corps qui ›comprend‹ dans l’acquisition de l’habitude.« Und er schreibt weiter: »Comprendre, c’est éprouver l’accord entre ce que nous visons et ce qui est donné, entre l’intention et l’effectuation.«24 Es ist wichtig, diese Übereinstimmung zwischen Intention und Vollzug nicht misszuverstehen. Nehmen wir MerleauPontys Beispiel der Maschinenschreiberin, das den Kontext des oben zitierten Satzes bildet. Wenn die Maschinenschreiberin beabsichtigt, ein bestimmtes Wort zu schreiben, zielen ihre Finger nicht auf eine Reihe von objektiven Orten in einem objektiv messbaren Raum, auf Orte, die sie sich in ihrem Kopf auf einer idealen Tastatur vorstellen würde. In der Tat braucht sie gar nicht zu wissen, wo die Buchstaben sich objektiv befinden, um Maschine schreiben zu können. Im Gegenteil dringt ihre Absicht (da sie eine Absicht hat: Im Gegensatz zum Kind, das mit der Schreibmaschine spielt, will sie bestimmte Wörter schreiben) gleichsam in ihre Finger ein, da das Wissen um den Ort der Buchstaben sich in den Händen befindet. In Merleau-Pontys Worten: Die Tastatur wurde einverleibt. Es ist hier interessant darauf zu achten, dass wenn ich versuche, die Bewegung meines Leibes zu kontrollieren, indem ich mir bestimmte Stellen, auf die ich ziele, räumlich vorstelle, ich dadurch mein leibliches Wissen verliere und damit auch mein Vermögen, die Bewegungen reibungslos zu vollziehen. Nehmen wir zum Beispiel eine professionelle Tänzerin. Wenn sie tanzt, denkt sie weder darüber nach noch stellt sie sich vor, wie ihre Beine und Arme sich bewegen müssen, um eine bestimmte Figur zu vollziehen. Sie lässt sich eher auf eine bestimmte Situation ein. Gewohnte Bewegungen verlassen sich auf ein leibliches Wissen und verlangen, dass wir uns diesem Wissen überlassen. Solche Handlungen sind zwar eine Art vom Tun, aber sie sind nicht das Tun eines selbststeuernden, willentlichen Ichs. Deswegen wird Merleau-Ponty behaupten, dass es ein anonymes Leben des Leibes diesseits meines personalen Lebens gibt. Ich kann nicht wirklich sagen, dass ich es bin, die tanzt, wie ich sagen kann, dass ich es bin, die das Buch versteht oder den Entschluss trifft, Mathematikerin zu wer-

24 M. Merleau-Ponty: La phénoménologie de la perception, S. 169.

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den.25 Ich sollte eher sagen: Es tanzt in mir oder es nimmt in mir wahr. Dennoch bedeutet diese Entpersonalisierung nicht, dass ich dazu verurteilt bin, mechanistisch auf meine Umgebung zu reagieren. Hier wird deutlich, dass die Aktivität/Passivität-Dichotomie, die für mechanistische Reflexe und manche absichtlichen Handlungen gelten mag, für die Beschreibung unseres leiblichen In-derWelt-Seins unangemessen bleibt. Merleau-Ponty zeigt, wie Wahrnehmung und Gewohnheiten weder die Folge einer kausalen Affizierung durch Stimuli noch die Folge einer willentlichen Entscheidung sind, etwas wahrzunehmen oder sich in einer bestimmten Weise zu bewegen. Wenn wir uns sprachlichen oder künstlerischen Ausdruckshandlungen zuwenden, bemerken wir dieselbe Untergrabung der Dichotomie passiv/aktiv. Diese Bemerkung ist wichtig, da das Sich-Ausdrücken manchmal als Gegensatz zum Performativen verstanden wird. So muss z.B. für Butler das Performative von einem Ausdruck unterschieden werden, da jener etwas Innerliches und Psychisches, das dann nach außen gepresst wird, voraussetzt. Im Gegensatz dazu bringt das Performative das, was die Theorie des Ausdrucks als innerlich voraussetze, erst zustande. Der Merleau-Ponty'sche Begriff des Ausdrucks liegt aber der Theorie des Performativen viel näher als eine traditionelle Theorie des Ausdrucks. Zudem beruht der Merleau-Ponty'sche Ausdruck genauso wenig wie Wahrnehmung und gewohnte Bewegung auf einem spontanen, willentlichen Ich.26 Fangen wir mit der sprachlichen Äußerung an. In der Regel wird die Äußerung als eine notwendige Stufe der Mitteilung aufgefasst. Erst habe ich einen Gedanken, den ich dann mit Wörtern umhülle. Ich äußere diese Wörter, sodass sie vom Hörer aufgenommen werden können. Die_der Hörer_in entschlüsselt diese Wörter und wird damit zum Gedanken geführt.27 Diesem Modell gemäß

25 Dies sind Merleau-Pontys Beispiele in La phénoménologie de la perception, S. 249. 26 Für eine Erörterung von Merleau-Pontys Theorie des Ausdrucks im Zusammenhang von Butlers Kritik vgl. Stoller, Silvia: Expressivity and Performativity: Merleau-Ponty and Butler. In: Continental Philosophy Review 43.1 (2010), S. 97-110. 27 Dieses sogenannte »Codierung-Decodierung«-Modell der Kommunikation ist verbreitet. Es ist bei Saussure und Jakobson zu finden und wurde von Stuart Hall auf den Bereich der Kulturanalyse erweitert, war aber schon im 18. Jahrhundert bei Rousseau oder Condillac zu finden, und diente als Grund ihrer Erklärungen des Ursprungs der Sprache. Für eine Kritik Condillacs und Rousseaus, vgl. Derrida: Signature événement contexte. In: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972, S.365-393 und Derrida: De la grammatologie. Paris: Minuit 1967, Teil II, bsd. S. 327-343. Dieses Modell wurde auch schon von Wittgenstein in seinen Bemerkungen zur privaten Sprache kri-

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sind Wörter nur die Umhüllung oder das äußerliche Zeichen eines völlig geformten, dem Ausdruck vorgelagerten innerlichen Gedankens. Außerdem geben die Wörter dem Hörer nur Anlass dazu, den Gedanken des Sprechers nachzuvollziehen. Auf diesen Gedanken hätte also der Hörer auch allein, ohne Hilfe der Wörter, kommen können, genauso wie der Sprecher dies tat. Die Wörter tragen zum Gedanken des Hörers und des Sprechers nichts bei; sie verschwinden vor dem Gedanken. Für Merleau-Ponty ist solch eine Beschreibung der Mitteilung nur im Falle schon vorliegender Gedanken und Wörter treffend. Blicken wir aber diesseits der bereits erworbenen Gedanken auf die Ebene des echten Ausdrucks, dann bemerken wir, dass Ausdruck und Ausgedrücktes, Wort und Gedanke, nicht in solch einer zufälligen Beziehung stehen. Nehmen wir das Beispiel eines Redners, der vor einer Versammlung improvisiert. Gewiss ist das Reden hier ein subjektives Ereignis: Es ist der Redner, der spricht, niemand anderes. Dies soll uns aber nicht dazu verführen, vorauszusetzen, dass der Redner in einem anderen Bereich außerhalb des lebendigen Ausdrucks gegeben ist. In der Tat steht der Redner nicht hinter einer Rede, jedes Wort wählend und dessen Vortragen kontrollierend. Wenn ich in einem Gespräch oder einer Rede ganz aufgehe, dann liegen die Gedanken nicht vor mir, als müssten sie nur mit Wörtern verbunden werden, um in das Bewusstsein des Hörers übertragen zu werden. Der Gedanke, d.h. der klare, völlig geformte Gedanke, liegt eher am Horizont, genauso wie das vom Sinnlichen an meinem Leib gestellte verworrene Problem. Ich kann ihn verworren fühlen, aber ich kann ihn noch nicht klar denken. Ich suche nach ihm mittels oder dank der Wörter, wie ich mittels oder dank meiner Augen nach dem Blau suche. Um auf diese Weise nach einem Gedanken zu suchen, müssen die Wörter mir nicht zur Verfügung stehen, als lägen sie in einem großen psychischen Wörterbuch vor mir, so als ob ich daraus das richtige auswählen könnte. Vielmehr stehen mir die Wörter zur Verfügung wie meine Augen oder dem Blinden sein Stock. Im Verlauf des Ausdrückens liegen die Wörter am Rand meines thetischen Bewusstseins, wie die Gedanken am Horizont liegen. Hier leben wir in der Sprache. Merleau-Ponty interessiert sich für diese Bemühung des Ausdrückens, der eine gegenseitige Anstrengung des Verstehens entspricht. Gewiss ist in alltäglichen Gesprächen keine solche Bemühung nötig: Wörter haben einen genauen Sinn, Gedanken liegen schon vor, jene scheinen diese zu übersetzen. MerleauPonty fordert uns aber dazu auf, die Lage des Kindes, das sprechen lernt, oder des Schriftstellers, der etwas Neues zum ersten Mal denkt und verfasst, die Lage

tisiert. Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, vor allem die Abschnitte 243-315.

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derjenigen, die, statt in einer bereits sprechenden und gesprochenen Welt zu leben, diesseits des Ausdrucks gehen, um einem gewissen Schweigen Worte zu verleihen, zu bedenken.28 Merleau-Ponty wendet sich dem Maler zu, um diese das Schweigen brechende Geste sichtbar zu machen. Gewiss malt der Künstler immer innerhalb einer Tradition, aber seine Gemälde können nur wirklich expressiv sein, wenn er sich jedes Mal diesseits dessen stellt, was er oder andere schon gemalt haben, um die schweigende Welt der Vision erneut zum Ausdruck zu bringen. Merleau-Ponty interessiert sich besonders für Cézanne, da dieser in der Malerei, genauso wie Merleau-Ponty in der Philosophie, nach einem dritten Weg zwischen dem Objektivismus (Naturalismus) und dem Subjektivismus (Impressionismus) gesucht hat.29 Cézanne nach legt der Maler weder die in sich selbst daseiende Natur noch seine subjektiven Eindrücke, sondern das Sichtbare auf der Leinwand nieder. Der Maler bringt das Sichtbare im Gemälde zum Leben, er bringt das vorreflektierende Leben der Wahrnehmung zum Ausdruck. Für Merleau-Ponty ist der Maler bei der Entstehung der sichtbaren Welt zugegen, nicht um uns das schon Vorliegende zu zeigen, sondern um uns zu lehren wie das Sichtbare entsteht. Denken wir an Cézanne vor dem Ste-Victoire-Berg, ein Motiv, das Cézanne 87-mal gemalt hat. Was tut er da? Bildet er das Gesehene ab? Sucht er nach der besten Weise, den Berg auf der Leinwand wiederzugeben? Kommt er am nächsten Tag zurück, weil ihm am vorherigen Tag die Wiedergabe nicht gelungen ist? Nein. Nach Merleau-Ponty malt Cézanne eine Art geheime Vision oder das Geheimnis der Sichtbarkeit des Berges. Cézanne befragt den Berg in seiner Tätigkeit als Maler, und was er malt, ist die Antwort auf diese Frage. »C’est la montagne elle-même qui, de là-bas, se fait voir du peintre, c’est elle qu’il interroge du regard. Que lui demande-t-il au juste? De dévoiler les moyens, rien que visibles, par lesquels elle se fait montagne sous nos yeux. Lumière, éclairage, ombres, reflets, couleur, tous ces objets de la recherche ne sont pas tout à fait des êtres réels : ils n’ont, comme les fantômes, d’existence que visuelle. Ils ne sont même que sur le seuil de la vision profane, ils ne sont communément pas vus. Le regard du peintre leur demande comment ils s’y prennent pour faire qu’il y ait soudain quelque chose, et cette chose, pour composer ce talisman du monde, pour nous faire voir le visible.«30

28 M. Merleau-Ponty: La phénoménologie de la perception, S. 214. 29 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Le doute de Cézanne. In: Ders.: Sens et non-sens, Paris: Gallimard 1966. 30 Merleau-Ponty, Maurice: L’œil et l’esprit, Paris: Gallimard 1985, S. 28-29.

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Obwohl der Maler hier nicht so dargestellt wird, als ob er mit Hilfe verschiedener Techniken das Gesehene abbildet, sollten wir daraus nicht schließen, dass Malen ein absichtliches Tun des Subjekts ist, mittels dessen der Maler darüber herrscht und entscheidet, was er auf die Leinwand bringt. Alle wahrhaften Akte des Ausdrückens sind, so behauptet Merleau-Ponty, mit der Linie von Matisse vergleichbar. Was tut Matisse also, wenn er, die Figur einer Frau malend, beschließt, die Linie ihrer Nase so oder so zu ziehen? Die Position der Linie ist weder zufällig noch willkürlich, noch ist sie durch das Modell oder durch eine Vorstellung bestimmt, die »im Kopfe« von Matisse vorzufinden wäre. Die Position der Linie wird zwar von Matisse entschieden, und in einem bestimmten Sinne hätte sie sich anderswo befinden können. Wie aber beschließt Matisse, lieber hier als dort zu zeichnen? Die Entscheidung ist nach Merleau-Ponty nicht die eines freien Subjekts, das eine Vielfalt von Möglichkeiten durchdenkt, um dann die beste auszuwählen. Wenn wir die Feinbewegungen von Matisse beim Malen beobachten, dann scheint es zunächst interessanterweise so, als würde seine Hand verschiedene Möglichkeiten durchspielen, bevor er sich für »die beste« entschließt. Merleau-Ponty deutet die Verzögerung der über der Leinwand schwebenden Hand aber anders. Es lohnt sich, seine Erklärung ausführlich zu zitieren: »Matisse se trompait s’il a cru, sur la foi du film, qu’il eût vraiment opté, ce jour-là, entre tous les tracés possibles et résolu, comme le Dieu de Leibniz, un immense problème de minimum et de maximum; il n’était pas démiurge, il était homme. Il n’a pas tenu, sous le regard de l’esprit, tous les gestes possibles, et pas eu besoin de les éliminer tous sauf un, en rendant raison de son choix. C’est le ralenti qui énumère les possibles. Matisse, installé dans un temps et dans une vision d’homme, a regardé l’ensemble ouvert de sa toile commencée et porté le pinceau vers le tracé qui l’appelait pour que le tableau fût enfin ce qu’il était en train de devenir. Il a résolu par un geste simple le problème qui après coup paraît impliquer un nombre infini de données. […] Tout s’est passé dans le monde humain de la perception et du geste, et si la caméra nous donne de l’événement une version fascinante, c’est en nous faisant croire que la main du peintre opérait dans le monde physique où une infinité d’options sont possibles. Cependant, il est vrai que la main de Matisse a hésité, il est donc vrai qu’il y a eu choix et que le trait choisi l’a été de manière à observer vingt conditions éparses sur le tableau, informulées, informulables pour tout autre que Matisse, puisqu’elles n’étaient définies et imposées que par l’intention de faire ce tableau-là qui n’existait pas encore.«31

31 Merleau-Ponty, Maurice: Le langage indirect et les voix du silence. In: Ders.: Signes, Paris: Gallimard 1960, S. 58-59. Die Szene, wo Matisse in Feinbewegung bei Malen

Ü BERTREIBUNG

UND

ZWEIDEUTIGKEIT

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Die Beziehung zwischen Absicht und Ausführung des Gemäldes soll hier nicht missverstanden werden. Wie schon bemerkt wurde, ist Matisses Tun nicht bloß beliebig, und somit kann es als absichtlich aufgefasst werden. Dennoch ist der Gegenstand dieser Absicht genauso wie der sich gerade ausdrückende Gedanke des Redners noch nicht vor dem Ausdruck vorhanden, nicht einmal im Kopf des Malers. Die Linie wird vielmehr durch das Gemälde angefordert, d.h. durch die schon vorhandenen Linien und deren Sinn, der gerade in diesem Gemälde dabei ist, zum Ausdruck zu kommen. Folglich ist die Geste von Matisse davon geführt, was das Gemälde sein wird, d.h. sie wird von etwas bestimmt, das noch nicht sichtbar ist, nicht einmal für Matisse selbst. Natürlich weiß Matisse, wie zu malen ist. Er ist erfahren und hat schon viele Figuren, sogar schon ähnliche Frauenfiguren, gemalt. Wenn er aber bloß ein Matisse-Werk malt, dann wird keine Ausdrucksarbeit geleistet. Er malt hier, wie man alltäglich spricht, mit einer schon vorhanden Sprache oder Chiffre, die er bloß manipuliert, um ein anderes, verschiedenes, aber im Grunde genommen schon mögliches, schon gegebenes Werk zu schaffen. Er hat seinen Stil in eine Chiffre bewusster Manipulation verwandelt: Ach ja, ich male Nasen stets so. Was Matisse zum Maler macht, ist nicht seine Technik sondern seine Bemühung um einen Ausdruck. Bei solch einer Bemühung ist der Künstler nicht Herr seiner Gesten. Er lässt sich eher vom Drang führen, eine sich suchende und noch nirgendwo vorhandene Form zur Sichtbarkeit zu bringen. Nancy schreibt wie folgt, was Merleau-Ponty wohl unterschrieben hätte: »tracer, c’est ici trouver, et pour trouver, chercher – ou laisser se chercher et se trouver – une forme à venir, qui doit ou qui peut venir dans le dessin.«32 Dies ist Nancys Verständnis von Matisses berühmter Aussage: »Il faut toujours rechercher le désir de la ligne, le point où elle veut entrer ou mourir«, die Nancy mit dem Wortlaut »Il faut tou33 jours suivre le désir de la ligne« scheinbar falsch zitiert. Während das Suchen als eine Art (wenn auch unbestimmt) geführter Aktivität verstanden wird, ist das Folgen mit einer interessanten Art von Passivität verbunden. Zeichnen bedeutet für Nancy, sich von dieser noch nicht vorhandenen Linie, von dieser gerade entstehenden Form führen lassen. Es bedeutet, sich der Chance (und Gefahr) der

gezeigt wird, findet sich in François Campaux' Dokumentarfilm von 1946, Henri Matisse. 32 Nancy, Jean-Luc: Le plaisir au dessin. Paris: Galilée 2009, S. 19. 33 Matisse, Henri: Notes de Sarah Stein (1908). In: Dominique Fourcade (Hg.), Écrits et propos sur l’art, Paris: Hermann 1972, S. 66. Vgl. J.-L. Nancy: Le plaisir au dessin, S. 51.

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Linien zu überlassen. Der Künstler springt kopfüber (oder handüber34) hinter der Linie hervor, welche ihm aber nicht vorangegangen ist. Von einem Begehren der Linie zu sprechen ist für Nancy also keine Metapher, als würde er der leblosen Linie eine Absicht oder einen Trieb zuschreiben, der zu der Tat eines bewussten Künstlers gehört. Um die Formulierung »das Begehren der Linie« wörtlich zu nehmen, muss weder die Linie als lebloser Gegenstand (Blei auf Papier) verstanden werden, noch muss das Begehren so gesehen werden, dass es einen Mangel, den der Künstler durch die Linie auszufüllen sucht, darstellt. Die Linie ist, so Nancy, weder ein lebloses Ding noch eine subjektive Projektion; vielmehr ist sie ein Treiben (jet), Schwung und Wurf (la lancée et la jetée), welcher oder welches nur in der Begegnung zwischen Hand und Papier stattfindet.35 Das Subjekt des Begehrens ist der Schwung (élan), der zwischen der Hand und der Spur auf dem Papier stattfindet, in der Bewegung also, die von der Hand zum Papier und zurück von der Bleispur zur Hand geht. Die Linie ist dieses Gespräch zwischen Hand und Spur, dieses Begehren des einen für das andere, indem das eine sich nach dem anderen streckt und das andere dem einen zuruft usw. Diese Erfahrung, bei der ich nicht meinem Begehren, sondern dem Begehren der Linie folge, ist die Erfahrung der Gnade. Nancy charakterisiert die Gnade folgendermaßen: »la faveur faite à une maitrise (une technique, un art) capable de se confier à un mouvement qui la dépasse sans l’annuler.«36 Es ist nicht, als bräuchte der Maler seine Technik oder seine Begabung nicht, aber die Beherrschung seiner Kunst erreicht einen Gunst- oder Genusszustand, wenn er seine Kontrolle loslässt, um dem Begehren der Linie zu folgen. Der Genuss beim Zeichnen oder beim Malen entsteht aus der Spannung zwischen Aktivität und Passivität, aus einem Tun, das gleichzeitig ein Loslassen der Herrschaft ist und ein sich vom Begehren der Linie Berühren- und Führen-Lassen beinhaltet. Merleau-Pontys Auffassung des Ausdrucks als Verflechtung von Passivität und Aktivität, besonders wie sie in seinen Schriften über die Malerei entwickelt wird, löst die von einer bestimmten Sprechakttheorie übernommene Dichotomie ab, in welcher das Konstative erfasst und das Performative erschafft. Für Merleau-Ponty sind Ausdruckshandlungen radikal schöpferisch (als Gesten, die das Schweigen brechen) ohne die mit Absicht vollzogene Tat eines spontanen Subjekts zu sein. Gleichwohl sind Ausdruckshandlungen immer in einen Zusam-

34 Ein Motiv Derridas Mémoires d’aveugle entnehmend, könnten wir sagen, dass der Künstler wie einem Blinden folgt. Vgl. Derrida, Jacques: Mémoires d’aveugle. L’autoportrait et autres ruines, Paris: Réunion des Musées Nationaux 1991, S. 12-13. 35 Vgl. J.-L. Nancy: Le plaisir au dessin, S. 120-123. 36 Ebd., S. 53.

Ü BERTREIBUNG

UND

ZWEIDEUTIGKEIT

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menhang (Kunstfertigkeit, wahrgenommenes Modell, Geschichte der Kunst) eingeschrieben, ohne dass dieser Zusammenhang die Bewegung des Ausdrückens bestimmt oder einschränkt. Einigen im ersten Teil dieses Beitrages besprochenen Theorien gemäß ist der Erfolg des Performativen notwendigerweise mit einem Subjekt verbunden, das sowohl das Recht als auch die Macht besitzt, in Übereinstimmung mit bereits vorliegenden Regeln und Normen das Performative zu vollziehen. Derridas Übertreibungsstrategie greift diese Grenzbedingungen des Performativen an, weil sie sowohl das wahrhaft schöpferische, hereinbrechende Wesen des Performativen, als auch die Verantwortung des Subjekts neutralisiert. Der Ereignischarakter des Performativen bedeutet aber auch eine radikale Untergrabung des Subjekts. Obwohl Derridas Dekonstruktion der Macht des Subjekts im Namen einer unbegrenzten Verantwortung vollzogen wird, offenbart sie letztendlich ein von Ereignis und Verantwortung überwältigtes Subjekt, das weder tut noch entscheidet, sondern bloß dem Ereignis oder der Entscheidung des Anderen ausgesetzt ist. Merleau-Pontys Denken bietet hier eine Alternative zu Derridas Untergrabung des Subjekts. Indem er Passivität und Aktivität miteinander verflicht, entwickelt Merleau-Ponty ein Denken des leiblichen Subjekts, das ihm erlaubt, menschliches Tun wie das Wahrnehmen, Gewohnheitshandlungen und das künstlerische Schaffen, die den von Derrida hinterfragten Grenzbedingungen des Performativen (Spontaneität, Intention, Normen und Regeln) nicht unterliegen, zu beschreiben. Damit gelingt es Merleau-Ponty, einen Mittelweg einzuschlagen, bei dem das Tun nicht auf einem Willen gründet und trotzdem seinen subjektiven, tätigen und sogar schöpferischen Charakter beizubehalten vermag.

L ITERATUR Austin, John L.: How to Do Things with Words, Cambridge, MA: Harvard University Press 1962.1956. Austin, John L.: Philosophical Papers, hrsg. von J.O. Urmson und G.J. Warnock, Oxford: Oxford University Press 1961. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York and London: Routledge 1999. Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Theatre Journal 40.4 (1988), S. 519531. Derrida, Jacques: Déclarations d’Indépendance. In: Otobiographies: L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris: Galilée 1984.

206 | M ARIE-E VE M ORIN

Derrida, Jacques: De la grammatologie, Paris: Minuit 1967. Derrida, Jacques: Donner le temps. 1. La fausse monnaie, Paris: Galilée 1991. Derrida, Jacques: Mémoires d’aveugle. L’autoportrait et autres ruines, Paris: Réunion des Musées Nationaux 1991. Derrida, Jacques: Performative Powerlessness: A Response to Simon Critchley. In: Constellations 7.4 (2000), S. 466-468. Derrida, Jacques: Politiques de l’amitié, Paris: Galilée 1991. Derrida, Jacques: Signature événement contexte. In: Marges de la philosophie, Paris: Minuit 1972. Derrida, Jacques: Une certaine possibilité impossible de dire l'événement. In: Derrida, Jacques/Nouss, Alexis/Soussana, Gad: Dire l’événement, est-ce possible? Séminaire de Montréal, pour Jacques Derrida, Paris: L’Harmattan 2001. Ferguson, Ann: Butler, sex/gender and a postmodern gender theory. In: Andrew, B.S./Keller, J.C./Schwartzman, L.H.: (Hrsg): Feminist Interventions in Ethics and Politics: Feminist Ethics and Social Theory, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2005. Jastrow, Joseph: The mind’s eye. In: Popular Science Monthly 54 (1899), S. 299-312. Laugier, Sandra. Actes de langage et états de choses: Austin et Reinach. In: Les Études philosophiques 72.1 (2005), S. 73-97. Matisse, Henri. Notes de Sarah Stein (1908). In: Fourcade, Dominique (Hrsg.), Écrits et propos sur l’art, Paris: Hermann 1972. Merleau-Ponty, Maurice: Le doute de Cézanne. In: Ders. : Sens et non-sens, Paris: Gallimard 1966. Merleau-Ponty, Maurice: Le langage indirect et les voix du silence. In: Ders.: Signes, Paris: Gallimard 1960. Merleau-Ponty, Maurice: La phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945. Merleau-Ponty, Maurice: L’œil et l’esprit, Paris: Gallimard 1985. Nancy, Jean-Luc: L’expérience de la liberté, Paris: Galilée 1988. Nancy, Jean-Luc: Le plaisir au dessin, Paris: Galilée 2009. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Leipzig: Verlag von C.G. Neumann 1887. Recanati, François: Les Énoncés performatifs, Paris: Éditions de Minuit 1981. Reinach, Adolf: Zur Phänomenologie des Rechtes. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes, München: Kösel Verlag 1953. Searle, John R.: How Performatives Work. In: Linguistics and Philosophy 12 (1989), S. 535-558.

Ü BERTREIBUNG

UND

ZWEIDEUTIGKEIT

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Stoller, Silvia: Expressivity and Performativity: Merleau-Ponty and Butler. In: Continental Philosophy Review 43.1 (2010), S. 97-110. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit1 P ASCAL D ELHOM

»L'expérience de la pure hospitalité, si elle existe (ce dont je ne suis pas sûr, mais elle est un pôle de référence indispensable), doit partir de rien. On ne doit rien présupposer de connu, de déterminable; aucun contrat n'est imposé pour que l'événement pur de l'accueil de l'autre soit possible.«2 »Die Erfahrung der reinen Gastlichkeit, wenn es sie gibt (dessen bin ich nicht sicher, aber sie ist ein unverzichtbarer Referenzpol), muss von nichts ausgehen. Man darf nichts Bekanntes, Bestimmbares voraussetzen; kein Vertrag wird auferlegt, damit das reine Ereignis des Empfangens des Anderen möglich sei.« (meine Übersetzung)

Nach diesem Kriterium, wonach von nichts auszugehen sei, ist die Aufnahme einer Passage aus einem Text von Jacques Derrida als Eröffnung meines Textes alles Andere als die Erfahrung einer reinen Gastlichkeit, wenn es eine solche gibt. Sie setzt nämlich eine eigenständige, aber auch kulturell geregelte Tätigkeit des

1

Ich ziehe hier und im ganzen Text dem deutschen Wort »Gastfreundschaft« den neutraleren Terminus »Gastlichkeit« vor. Dies hängt einerseits mit dem Bezug auf das französische »hospitalité« zusammen, in dem die Freundschaft keine Rolle spielt. Es ermöglicht aber auch andererseits einen breiteren Blick auf die Phänomene der Gastlichkeit, der nicht von vornherein positiv konnotiert und auf die Haltung der Empfangenden bezogen wird.

2

Derrida, Jacques: »Responsabilité et hospitalité«, in: Seffahi, Mohammed (Hg.): Autour de Jacques Derrida. De l'hospitalité. Manifeste, Genouilleux: La passe du vent 2001, S. 132 f.

210 | P ASCAL DELHOM

Schreibens voraus, ohne die ich niemanden zitieren könnte. Sie geht auf eine Entscheidung zurück, jemanden zu zitieren und aus einem Text von ihm eine bestimmte Passage und keine andere auszuwählen. Das Zitieren selbst ist durch und durch geregelt und jedes Zitat verweist auf diese Regeln, etwa durch den Gebrauch von Anführungszeichen und die Angabe von Quellen. Es richtet sich auch nach dem Imperativ der Verständlichkeit, das hier fordert oder zumindest nahelegt, dass der französische Text ins Deutsche übersetzt wird. Das Wort Derridas, das zuerst den deutschen Leser_innen in seiner sprachlichen Fremdheit erscheint, kann so empfangen werden, allerdings nicht mehr in der Sprache seines Autors, sondern in der Sprache des Textes, in dem ich es aufnehme, in der Sprache eines Buches, in dem dieser Text wiederum aufgenommen werden soll, letztendlich in der Sprache eines kulturellen Raums, in dem dieses Buch erscheinen soll.

1. B EDINGUNGEN

DER

G ASTLICHKEIT

Solche oder ähnliche Bedingungen gibt es anscheinend in Bezug auf jede Form des Empfangens, des Aufnehmens eines Fremden im eigenen Raum, im eigenen Text, in der eigenen Lebenswelt. Was bedeutet infolgedessen die Behauptung, nach der die Erfahrung der reinen Gastlichkeit von nichts ausgehen, nichts voraussetzen darf? Derrida leugnet die notwendige Existenz von Bedingungen der Gastlichkeit nicht. Er betont aber die Wichtigkeit eines Nicht-Wissens, genauer: eines Nicht-Fragens in Bezug auf den Gast: »Das reine Empfangen besteht nicht nur darin, nicht zu wissen oder so zu tun, als wüsste man nicht, sondern jede Frage zu vermeiden in Bezug auf die Identität des Anderen, auf sein Begehren, seine Regeln, seine Sprache, seine Arbeits-, Eingliederungs-, Anpassungsfähigkeit […]«3

Man könnte sich allerdings fragen, ob nicht gerade ein angemessenes Wissen über die Person, die zu Gast ist, – über ihre Sprache, ihre Gewohnheiten, ihre Kultur, über ihre Empfindlichkeit und ihre Vorlieben, über die Regeln, nach denen sie ihr Leben richtet – unter die Bedingungen einer Gastlichkeit fällt, die nicht nur eine bloße Öffnung des eigenen Raums und ein Schenken der eigenen Zeit sein soll, sondern ein Empfangen im vollen Sinne: ein Empfangen, das dem

3

Derrida, Jacques (2001b): »Une hospitalité à l'infini«, in: M. Seffahi (Hg.): Autour de Jacques Derrida, S. 116 (eigene Übersetzung).

Ü BER

DIE

B EDINGUNGEN

EINER BEDINGUNGSLOSEN

G ASTLICHKEIT

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Gast ermöglichen soll, sich beim Gastgeber »wie zu Hause« oder »wie bei sich« zu fühlen. Auch dies würde Derrida nicht bestreiten. Allerdings darf dieses Wissen, das für eine gelungene Gastlichkeit nötig ist und sogar um der Gastlichkeit willen gefordert werden kann, nie eine Bedingung der Aufnahme des Gastes sein. Es darf nicht als Kriterium gebraucht werden, nach dem wir manche Gäste willkommen heißen und andere ausschließen. Eine Gastlichkeit, die rein genannt werden kann, wenn es sie gibt, ist also bedingungslos in dem Sinne, dass sie zwar viele Bedingungen hat, aber keine Bedingungen stellt, um zu empfangen. Sie soll jedes Wissen über den Gast, das dazu führt, Bedingungen für seine Aufnahme zu stellen, ausklammern. Es gäbe demnach eine Art Epoché der Gastlichkeit, die genau in dieser Ausklammerung allen Wissens besteht, das als Kriterium des Aufnehmens oder des Ausschließens des Gastes fungieren könnte. Eine in diesem Sinne bedingungslose Gastlichkeit ist für die Gastgeberin eine Herausforderung. Denn sie bedeutet, dass sie nicht nur jemanden bei sich eintreten lässt, sondern dass bereits in der ersten Geste des Empfangens die volle Kontrolle über den eigenen Raum, die eigene Ordnung, die eigene Zeit, ja sogar den eigenen Text zugunsten der Fremden eingeschränkt wird – wenn es eine solche volle Kontrolle jemals gibt, was niemand wirklich glaubt, aber sie ist vielleicht dennoch ein notwendiger Referenzpol des Eigenen. Auf jeden Fall verzichtet die Gastgeberin in Bezug auf die Person, die zu Gast ist, auf diese Kontrolle. Darin liegt die Möglichkeit einer Erneuerung des Eigenen, wenn die Gastgeberin es wagt, ohne die Sicherheit des Wissens sondern auf der Basis eines Nicht-Wissens auf die Andere einzugehen. »Es muss möglich sein«, schreibt Derrida, »unmittelbar aus diesem Nicht-Wissen zu sprechen. Da entsteht das poetische Wort: Man muss eine Sprache erfinden. Die Gastlichkeit muss so erfinderisch, nach dem Anderen und nach dem Empfang des Anderen gerichtet sein, dass jede Erfahrung der Gastlichkeit eine neue Sprache erfinden muss.«4

Das Nicht-Wissen über die Person, die zu Gast ist, erfordert nicht nur eine solche Erfindung, es ermöglicht sie auch, indem es einen von dem gesicherten Wissen befreiten Spielraum eröffnet. In der bedingungslosen Gastlichkeit liegt aber zugleich eine Gefahr. Denn die Offenheit des Gastgebers für den Gast kann ihm einiges abverlangen, worauf er nicht vorbereitet war und was er nicht unbedingt zu gewähren bereit war. Bereits ein gewähltes Zitat enthält die Kraft einer Störung und einer Veränderung

4

J. Derrida: »Une hospitalité à l'infini«, S. 116 f.

212 | P ASCAL DELHOM

des Textes, in dem es aufgenommen wird. Sein Aufnehmen ist mit Forderungen gebunden, etwa mit derjenigen, dass seine Entnahme aus seinem Kontext nicht zu einer Sinnentstellung führt. Bereits die bloße Präsenz eines Zitats in einem Text bewirkt eine Öffnung dieses Textes auf einen anderen Text, der von nun an in ihm eine nie ganz voraussagbare Wirkung entfaltet. Man stelle sich die Wirkungskraft eines Zitats vor, das ohne vorgegebene Kriterien in einem Text aufgenommen und dennoch ernst genommen wäre. Würde es nicht den Text, der auf es eingehen würde, möglicherweise gänzlich verändern? Die bedingungslose Gastlichkeit enthält sogar die Möglichkeit der Verletzung und der radikalen Störung der eigenen Ordnung. »In der reinen Gastlichkeit muss diese Möglichkeit, dass der Andere kommt, um eine Revolution oder sogar eine schlimmere Form des Unvorhersehbaren durchzuführen, und dass wir überfordert sind, akzeptiert werden. Aus genau dem Grund, dass diese Drohung wesentlich und unreduzierbar das reine Prinzip der Gastlichkeit bewohnt, verleitet dieses zu Angst- und Hassverhalten.«5

Das bedeutet zwar nicht, dass die Gastgeberin für das Fehlverhalten und für die Verbrechen der Person, die zu Gast ist, offen sein soll, wohl aber für deren Möglichkeit, die sie in ihrem Unwissen nie ausschließen kann. Das Prinzip der reinen Gastlichkeit gefährdet also potentiell die Gastgeberin, möglicherweise rückwirkend die Person, die zu Gast ist, und letztendlich die Gastlichkeit selbst. Auch deswegen scheint es wichtig, gerade im Namen des Prinzips einer reinen Gastlichkeit zu fragen, unter welchen Bedingungen eine Ordnung diese Offenheit dennoch gewähren kann, das heißt unter welchen Bedingungen die Gastlichkeit realisiert werden kann. Und auch hier stimmt Derrida der Notwendigkeit dieser Frage zu. Er betrachtet allerdings die Suche nach Bedingungen als eine Perversion der reinen Gastlichkeit,6 als ob die politischen, sozialen, institutionellen oder diskursiven Bedingungen der Gastlichkeit bereits eine Einschränkung oder eine Verunreinigung der reinen Gastlichkeit wären. Dagegen möchte ich halten, dass diese Bedingungen gerade diejenigen sind, unter denen allein ein Gastgeber die Möglichkeit hat, bedingungslos zu empfangen, das heißt seinem Gast keine Bedingungen zu stellen, unter denen er empfangen werden kann. Die Gastlichkeit befindet sich also konstitutiv in einem schwierigen Verhältnis zwischen einer Bedingungslosigkeit gegenüber dem Gast einerseits und allen Bedingungen andererseits, von denen der Gastgeber ausgehen muss und die er

5

J. Derrida: »Une hospitalité à l'infini«, S. 119.

6

Vgl. ebd., S. 125.

Ü BER

DIE

B EDINGUNGEN

EINER BEDINGUNGSLOSEN

G ASTLICHKEIT

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zum Teil schaffen soll, um den Gast im vollen Sinne empfangen zu können und dieses Empfangen trotz der Gefahren, die ihre Bedingungslosigkeit bedeutet, gewähren zu können. Die Gastlichkeit befindet sich auch konstitutiv in einem schwierigen Verhältnis zwischen einem aktiven Empfangen und einer gleichzeitigen Zurückhaltung. Die Gastgeberin empfängt mit ihren Worten und Gesten, die zum Teil erfunden werden sollen, um der Person, die zu Gast ist, gerecht zu werden. Sie empfängt auch auf der Basis eines notwendigen Wissens über sich selbst und die Fremde. Zugleich erfordert aber ihre Gastlichkeit den Verzicht auf dieses Wissen als Kriterium der Aufnahme der Person, die zu Gast ist, den Verzicht auf die Kontrolle über das Eigene. Sie fordert eine Öffnung, zugunsten der Person, die zu Gast ist, auf deren Fremdheit. Die Bedingungen eines bedingungslosen Empfangens befinden sich in diesem Spannungsverhältnis. Sie betreffen vor allem den Raum, in dem jemand empfangen wird, die Zeit, die ihm hierbei geschenkt wird, sowie die Sprache und die Gesten, mit denen die Gastlichkeit erfolgt und die zugleich die Zeichen dieser Gastlichkeit geben.

2. D IMENSIONEN DES E MPFANGENS : R AUM , Z EIT UND S PRACHE Der Raum der Gastlichkeit ist konstitutiv asymmetrisch. Er teilt sich in einen Innenraum, in dem empfangen wird, und einen Außenraum, der allerdings nur in Bezug auf den Innenraum als solcher definiert wird, auf, unabhängig davon, ob er selber offen oder geschlossen ist. Der Innenraum ist derjenige, in dem der Gastgeber bei sich ist, den er besitzt oder den er bewohnt. Es kann seine eigene Wohnung oder sein eigenes Zimmer sein, aber auch die Stadt, in der er wohnt oder sogar der Staat, in dem er lebt. Entscheidend ist, dass er diesen Raum als den eigenen betrachtet. In einem Raum, der nicht der eigene ist, kann man Menschen treffen, aber nicht empfangen. Die Grenze zwischen dem eigenen und dem Außenraum trennt entsprechend nicht zwei gleichwertige Räume voneinander, sondern das Innen von einem Außen, das Eigene von einem Fremden, auch wenn es immer Fremdes im Inneren und im Eigenen gibt. Die normativen Bestimmungen dieser Grenze, die regeln, wer sie wann und in welche Richtung überschreiten darf, werden vom Inneren und vom Eigenen aus vollzogen. Diese Bestimmungen machen aus, dass eine Fremde, die von außen die Grenze des Raumes nach innen überschreitet, zu Gast ist – und vielleicht irgendwann selbst eine Bewohnerin dieses Raums werden

214 | P ASCAL DELHOM

kann – oder eine Einbrecherin beziehungsweise, dass sie als illegale Einwanderin betrachtet wird. Die räumlichen Bedingungen der Gastlichkeit sind also der Bezug des Gastgebers zu einem Raum, der sein eigener ist, und die normativen Bestimmungen der Grenzen dieses Raums, die das Empfangen bestimmen. Das Empfangen in diesem Raum besteht nun darin, dass seine Grenzen für den Gast geöffnet werden und dass sich der Gastgeber in ihm zurückzieht, seinem Gast einen Raum verleiht, in dem er sich wie bei sich fühlen und verhalten kann, wobei gerade dieses »wie« auf eindeutige Weise markiert, dass er doch nicht zu Hause ist und dass sein Zuhause doch nicht da ist.7 Durch seine Präsenz stört oder zumindest verändert der Gast die Ordnung des Raums, in dem er empfangen wird. Er bestätigt aber auch dadurch, dass er empfangen wird, den privilegierten Status des Gastgebers, der nur deshalb empfangen kann, weil er ohne »wie« bei sich ist. Dies gilt natürlich auch für die bedingungslose Gastlichkeit, bei der zwar die normative Bestimmung der Grenze in Bezug auf die Identität des Gastes ausgeklammert wird, allerdings die Grenze selbst und das privilegierte Verhältnis des Gastgebers zum eigenen Raum bestehen müssen. Sie sind also die räumlichen Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit. Neben diesen räumlichen gibt es auch zeitliche Bedingungen der Gastlichkeit. Denn die Gastgeberin empfängt nicht nur die Person, die zu Gast ist, im eigenen Raum, sondern sie schenkt ihr auch ihre Zeit. Dies bedeutet zwar nicht, dass sie dadurch weniger Zeit hat. Denn wir erleben auch selber die Zeit, die wir schenken, genau so wie diejenige, die wir für uns behalten. Wir erleben sie nur mit den Anderen und nicht ohne sie. Das Schenken der Zeit zeichnet sich auch nicht einfach dadurch aus, dass wir durch es weniger Zeit für andere Beschäftigungen haben, die wir sonst ausüben würden, denn dies passiert genau so, wenn wir uns für irgend eine Beschäftigung entscheiden und dadurch andere Möglichkeiten ausschließen. Was wir schenken, wenn wir »unsere« Zeit schenken, ist die eigene Kontrolle über diese Zeit. Nicht wir entscheiden dann, was wir tun und was wir lassen wollen, sondern zumindest teilweise die Person, der wir unsere Zeit schenken. Die Möglichkeit eines solchen Schenkens setzt allerdings voraus, dass wir über unsere Zeit verfügen. Wer nicht frei in Bezug auf den Ablauf seiner Tage oder Stunden ist, wer sich keine Zeit nehmen kann, um über sie nach seinen Wünschen oder auch nach seinen Pflichten zu verfügen, kann keine Zeit schen-

7

Vgl. Delhom, Pascal: »Gastlichkeit und Verletzlichkeit«, in: Flatscher, Matthias/ Loidolt, Sophie (Hg.): Das Fremde im Selbst. Das Andere im Selben. Transformationen der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 209-224.

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DIE

B EDINGUNGEN

EINER BEDINGUNGSLOSEN

G ASTLICHKEIT

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ken. Die Gastlichkeit setzt also neben dem Bezug zu einem eigenen Raum auch diese Freiheit oder diese Verfügungsgewalt im Umgang mit der Zeit voraus, die insofern die eigene Zeit genannt werden kann. Deswegen kann das Schenken der Zeit nicht unbegrenzt sein: Es würde nicht nur die Versklavung des Gastgebers bedeuten, sondern zugleich die zeitliche Bedingung der Gastlichkeit selbst zerstören: die Verfügungsgewalt über die eigene Zeit. Aus diesem Grund ist es durchaus einleuchtend, dass die Gastlichkeit zeitlich begrenzt werden soll und in vielen Kontexten auch begrenzt wird. Es gibt etwa politische Regelungen über die Dauer des Aufenthalts von Fremden in einem Land, kulturelle Bestimmungen der Zeit, die eine Person, die zu Gast ist, bei ihrer Gastgeberin verbringen kann, sowie auch der Zeit, die einer Gastgeberin für die Vorbereitung ihres Empfangens gewährt werden sollte. Allerdings zeigt sich die Übertragung der Verfügungsgewalt über die eigene Zeit gerade in der gewährten Möglichkeit, dass die Person, die zu Gast ist, diese Grenze übersteigt, sowohl durch die Dringlichkeit ihrer Ankunft wie auch durch die Dauer ihres Aufenthaltes. Die Gastlichkeit gilt ihr auch, wenn sie unangekündigt ist und sogar wenn sie nicht wieder weggeht. Sie erweist sich ja sogar erst in solchen Fällen erfahrbar als Gastlichkeit, als ein Schenken der Kontrolle über die eigene Zeit. Die zeitliche Bedingung der Gastlichkeit ist also die Verfügungsgewalt über die eigene Zeit, die ein Schenken dieser Zeit ermöglicht. Das Schenken selbst bedeutet wiederum für den Gastgeber ein Verzicht auf diese Verfügungsgewalt zugunsten des Gastes. Es ist eine Form des passiven Verhältnisses zur Bestimmung der Zeit, die wir in diesem und in anderen Kontexten Geduld nennen können: Die Geduld ist zugleich Bedingung und Vollzug einer bedingungslosen Gastlichkeit. Zuletzt sind Sprache und Gesten insofern ein konstitutiver Teil der Gastlichkeit, als das Empfangen immer zugleich die Gabe eines Zeichens dieses Empfangens ist.8 Denn zum Empfangen reicht es nicht aus, dass die Gastgeberin den eigenen Raum für die Person, die zu Gast ist, öffnet und die Kontrolle über die eigene Zeit zu deren Gunsten teilweise aufgibt. Diese Öffnung und dieses Aufgeben müssen an sie adressiert werden. Nur durch eine solche Adresse kann die Gastgeberin diese eintreten lassen in dem doppelten Sinn, dass sie sie aktiv dazu einlädt und zugleich in ihrem Handeln soweit zurücktritt, dass die Person, die zu Gast ist, selber eintreten kann. Das Empfangen ist der paradoxe Akt eines adressierten Zurücktretens, so dass die Fremde handeln und tatsächlich als Gast eintreten kann.

8

Vgl. J. Derrida: »Responsabilité et hospitalité«, S. 134.

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Das Adressieren des Empfangens in einem Wort oder in einer Geste – das »Willkommen«, »kommen Sie herein« oder der Schritt zurück neben einer offenen Tür – sind also eine notwendige Bedingung dafür, dass der Gast ein solcher ist. Und umgekehrt ist derjenige, der eintritt, kein Gast, solange er nicht auf eine solche Einladung antwortet. Dies heißt nicht, dass der Gast immer willkommen ist und dass die Zeichen der Gastlichkeit nicht wider Willen gegeben werden können. Das heißt aber, dass der Gast ohne sie ein bloßer Eindringling oder ein Einbrecher wäre. Die Erfindung einer neuen Sprache, von der Derrida in Bezug auf die Gastlichkeit spricht, betrifft allerdings nicht primär diese Gabe der Zeichen des Empfangens, die weitgehend geregelt ist und entweder in der Sprache der Gastgeberin oder in derjenigen der Person, die zu Gast ist, stattfindet. Sie betrifft den Umgang mit dem Sprechen überhaupt, insofern es eine bereits konstituierte und geregelte Sprache gebraucht. »Sofern ich spreche«, schreibt Derrida, »verlange ich von meinem Gast, dass er meine Sprache und die Unter-Sprachen versteht, die sie enthält, Höflichkeitsformen, Sprache des Rechts… Es herrscht Gewalt, sobald ich zum Anderen spreche. Daher ergibt sich die Frage, ob die Gastlichkeit ein Sprechen oder im Gegenteil ein gewisses Schweigen fordert.«9

Allerdings entspricht wiederum nicht jedes Schweigen den Anforderungen der Gastlichkeit. Nur ein solches Schweigen scheint hier angemessen, in dem sich die Sprache des Gastgebers zurückhält, um seinem Gast das Wort zu schenken. Das Schweigen des Gastgebers wäre demnach ein adressiertes Zuhören und die Erfindung einer neuen Sprache, ein Eingehen auf das gehörte Wort. Dieses Zuhören ist in Bezug auf die Sprache, was das Empfangen in Bezug auf Raum und Zeit ist: Es ist eine adressierte Zurückhaltung des Sprechens, so dass der Andere das Wort ergreifen kann. Das Zuhören ist ein Schenken des Wortes. Nun kann sich auch das Zuhören gänzlich danach orientieren, was die Zuhörerin zu hören bereit ist und was sie der Zugehörten antworten wird. Es kann also das Wort der Anderen in den Dienst des eigenen stellen, es dem eigenen Diskurs anpassen. Das Zuhören der Gastgeberin soll umgekehrt in der eigenen Antwort auf das Wort der Anderen eingehen. Deswegen fordert es, dass die Zuhörende nicht bereits zu wissen meint, was die Andere zu sagen hat: Auch es fordert eine Art Epoché des Wissens in Bezug auf die Andere und es geht von diesem NichtWissen aus. Nur auf dieser Basis kann die Antwort der Gastgeberin eine Sprache erfinden, die nicht bereits konstituiert ist. Die Epoché der Gastlichkeit, von der

9

J. Derrida: »Une hospitalité à l'infini«, S. 120.

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bereits die Rede war, vollzieht sich unter anderem in der sprachlichen Zurückhaltung des Zuhörens. Dies ist die Art und Weise, wie eine Gastgeberin eine Fremde in der Sprache empfangen kann. Dies ist auch die Art und Weise, wie jedes Empfangen sprachlich ist, indem es die Zeichen des Empfangens gibt und sich zugleich des Wortes enthält, um der Fremden das Wort zu geben. Ich möchte im Folgenden etwas näher auf diese Bedingungen und auf den schwierigen Vollzug der Gastlichkeit eingehen, indem ich mich auf Werke von Albert Camus beziehe. Der Franzose aus Algerien, Schriftsteller aus einer Familie ohne Bildung, Intellektueller, der nicht zum engen Kreis der Pariser Philosophen gehörte, Mensch im Exil und sein Leben lang in der Revolte, hat viel über die Gastlichkeit und besonders über Formen ihres Scheiterns geschrieben. Dass ich Camus indirekt in meinem Text zu Wort kommen lasse, ist meine Entscheidung. Sie wurde mir aber zuerst durch das Wort Jacques Derridas nahegelegt, der in Responsabilité et hospitalité einen Text von Camus zitiert und kommentiert und mich dazu brachte, mich ihm in diesem Kontext zuzuwenden. Die Aufnahme eines Zitats von Derrida führte mich also zur Aufnahme dieses zuerst nicht geplanten Gastes. Dann hat Camus selber mehr Platz in meinem Text eingenommen, als ich ihm zuerst gewähren wollte. Er hat mich zu Einsichten gebracht, die ich ohne ihn nicht gewonnen hätte. Er ist hier ein sehr willkommener Gast, der hoffentlich in meinen Worten hörbar sein wird.

3. ALBERT C AMUS Ich werde mich besonders auf zwei Texte aus dem Sammelband L'exil et le Royaume (Das Exil und das Königreich) konzentrieren, der auf deutsch unter zwei verschiedenen Titeln erschienen ist: Gesammelte Erzählungen und Jonas oder der Künstler bei der Arbeit. Gesammelte Erzählungen.10 In beiden Ausgaben wurde der französische Originaltext durch die Erzählung Der Fall ergänzt, die im Französischen getrennt erschienen ist. Zum Sammelband gehört der Text, auf den Jacques Derrida in seinen Überlegungen über die Gastlichkeit Bezug nimmt: Der Gast. Er wird hier eine zentrale Rolle spielen. Auch andere Erzählungen werden jedoch berücksichtigt, vor allem Jonas oder Der Künstler bei der Arbeit und, in einem geringeren Maß, Der Abtrünnige oder Ein verwirrter Geist. Dar-

10 Camus, Albert: Gesammelte Erzählungen, aus dem Französischen von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966, neu aufgelegt unter dem Titel: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit. Gesammelte Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998.

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über hinaus werde ich mich auf das Theaterstück Das Missverständnis11 beziehen. Der Gast ist die Geschichte eines Zusammentreffens von drei Männern auf der Hochebene Algeriens. Der erste, Daru, ist Lehrer. Das Gebäude seiner Schule steht verloren in einer Landschaft von Steinen. Er selbst wohnt allein in einem Zimmer neben der Schulklasse. Am Tag des Eintreffens der beiden anderen ist kein Kind da, da es seit drei Tagen geschneit hat und alle zu Hause geblieben sind. Der zweite Mann ist ein Araber,12 der seinen Cousin getötet hat, daraufhin verhaftet wurde und zur Polizei der Stadt Tinguit geführt werden soll. Sein Name wird nicht genannt. Der dritte ist der Polizist, der den Araber bis zur Schule begleitet und bewacht. Er kommt aus Korsika, lebt aber seit längerer Zeit in Algerien und heißt Balducci. Er hat den Befehl, zurück nach El Ameur, woher er kommt, zu reiten und den Lehrer Daru zu beauftragen, den Araber selber nach Tinguit zu bringen und bei der dortigen Polizei abzuliefern. Daru kündigt an, dass er dies nicht tun wird. Balducci verlässt dennoch die Schule und lässt die beiden anderen allein. Während der darauf folgenden Nacht schlafen Daru und der Araber im selben Zimmer, das als einziges in der Schule geheizt wird. Am nächsten Morgen essen sie zusammen und Daru führt den Araber bis zu einem Ort, an dem er ihm Proviant und Geld gibt und frei lässt, entweder nach Osten zu gehen und nach zwei Stunden Tingit zu erreichen, wo die Polizei auf ihn wartet, oder nach Süden, wo er nach einem Tagesmarsch von Nomaden aufgenommen werden könnte. Er lässt ihn dann allein und macht sich auf den Rückweg zu seiner Schule. Aus der Distanz sieht er aber den Araber auf der Straße, die nach Tingit zum Gefängnis führt. Zurück in der Schule liest er an der Tafel, »zwischen den Windungen der Ströme Frankreichs«, die er einige Tage früher dort gezeichnet hatte, den Satz: »›Du hast unseren Bruder ausgeliefert. Das wirst du büßen.‹«13 Der Gast ist die Geschichte einer ausgeübten und in vielerlei Hinsicht vorbildhaften Gastlichkeit, die dennoch scheitert. Der letzte Satz des Textes verkündet die Einsamkeit Darus und in einem gewissen Sinne den Verlust seiner

11 Camus, Albert: Das Missverständnis. Schauspiel in drei Akten, in: Sämtliche Dramen, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller, erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 97-155. 12 Ich übernehme hier die Bezeichnung, die Camus in seinen Texten benutzt. Vgl. dazu Hanifi, Ahmed: »L'Arabe dans les écrits d'Albert Camus.«, http://www.africultures. com/php/index.php?nav=article&no=11872, Abruf am 14.02.2014. 13 Camus, Albert: »Der Gast«, in: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit, S. 163-180, hier S. 180.

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Beziehung zu dem Land, in dem es ihm nicht gelungen ist, zu empfangen: »In diesem weiten Land, das er so sehr geliebt hatte, war er allein.« Noch viel radikaler ist allerdings das Scheitern der Gastlichkeit, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, in zwei anderen Texten: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit und Das Missverständnis. Der Maler Jonas glaubt an seinen Stern14 und verlässt sich auf ihn in allen Angelegenheiten seines Lebens. Genau so verlässt er sich auch auf mehrere Menschen, die ihn seit seiner Kindheit umsorgen und ihm jeden vermeintlichen Wunsch von den Augen ablesen: auf seine geschiedenen und um ihn besorgten Eltern, auf seinen Schulfreund Rateau, der Architekt geworden ist und ihm beim Einrichten seiner Wohnung hilft, auf seine Frau Louise, betriebsam wie eine Ameise, die ihm in seinen Interessen und Wünschen beisteht, ihre Hochzeit, die Hochzeitsreise und die gemeinsame Wohnung organisiert und sich seitdem um alles und alle in der Wohnung kümmert: um ihre Kinder und zunehmend um die Freunde, Bewunderer und Schüler von Jonas, die ihn jeden Tag besuchen. Er verlässt sich sogar auf die Schwester seiner Frau und auf deren Tochter, die dieser helfen, wenn sie es allein nicht mehr schafft. Jonas ist ein Gastgeber, der die Tätigkeiten des Empfangens nie ausübt, denn andere übernehmen sie für ihn, der aber offensichtlich seinen Gästen alles opfert, ohne es ihnen allerdings jemals ausdrücklich zu zeigen: seine Zeit, seinen Lebensraum und sogar allmählich die einzige Tätigkeit, der er sich mit Begeisterung gewidmet hatte, die Malerei. Am Ende der Erzählung hat er sich durch seine Gäste so weit von seinem Lebensund Arbeitsraum, von seiner Familie und von seiner Arbeit selbst verdrängen lassen, dass er in einem zurückgezogenen Raum unter der Decke des Flurs seiner eigenen Wohnung absolut vereinsamt lebt, krank und unfähig zu malen. Sein letztes Werk ist eine völlig weiße Leinwand. »Nur in der Mitte hatte Jonas mit ganz kleinen Buchstaben etwas geschrieben, das man wohl lesen konnte, ohne indessen sicher zu sein, ob es heißen sollte ›solitaire‹ oder ›solidaire‹« (›einsam‹ oder ›solidarisch‹).15

Dieser absoluten Passivität einer Gastlichkeit, die offensichtlich für Jonas allein darin besteht, sich zugunsten der anderen zurückzuziehen und ihnen jedes Entscheiden und Handeln zu überlassen, steht das Verhalten der beiden Frauen, die im Missverständnis ein Gasthaus führen, diametral entgegen. Martha und ihre

14 Vgl. Camus, Albert: »Jonas oder der Künstler bei der Arbeit«, in: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit, S. 181-214, hier S. 181. 15 Ebd., S. 214.

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Mutter haben selten Gäste. Wenn allerdings einer von ihnen allein ist und ihnen reich vorkommt, dann töten sie ihn, um sein Geld zu stehlen. So hoffen sie, eines Tages Marthas Traum erfüllen zu können, das allzu traurige Europa zu verlassen und vor dem Meer unter der Sonne leben zu können. Deswegen dürfen sie keine persönlichen Beziehungen zu ihren Gästen zulassen. Als ihr Sohn und Bruder, der zwanzig Jahre früher das Haus verlassen hatte, das Gasthaus betritt, erkennen sie ihn nicht. Er ist inzwischen reich geworden und wohnt am Meer. Er selber lässt sich auch nicht sofort erkennen, denn er möchte zuerst erfahren, ob und wie er seiner Mutter und seiner Schwester helfen kann. Dazu kommt, dass er trotz wiederholter Versuche die Worte nicht findet, die zwischen ihm und ihnen eine andere Beziehung ermöglichen würden als diejenige des anonymen Gastes zu seinen Gastgeberinnen. So kommt es, dass sie ihn während der Nacht töten und erst am nächsten Morgen erfahren, wer er wirklich war. Hier scheitert die Gastlichkeit an der Unfähigkeit beider Frauen, jenseits der selbst auferlegten Regeln und Taten einen freien Raum für das Wort des Gastes offen zu lassen. Es ist beeindruckend, mit welcher Genauigkeit und welchem Detailreichtum Camus in diesen Texten die Bedingungen der Gastlichkeit und zugleich ihres Scheiterns beschreibt, auch wenn er sie nicht ausdrücklich als Bedingungen darstellt. So betont er bereits in der ersten Szene von Das Missverständnis das Fehlen einer der wesentlichen Grundlagen der Gastlichkeit: das Fehlen der Beziehung der Empfangenden zum eigenen Haus als Beziehung des Wohnens und des Eigentums. Er lässt Martha sagen: »Hier gehöre ich nicht her.«16 Auf Französisch ist der Satz noch eindeutiger: »Ma demeure n'est pas ici«17 – »Meine Bleibe ist nicht hier«. Später, als sich Martha gegen den Widerstand ihrer Mutter entschieden hat, den Gast zu töten, sprechen beide Frauen miteinander: »Die Mutter: Und doch hatte er es zuletzt begriffen, Martha. Er sagte mir, er würde spüren, dass er hier nicht zu Hause ist. Martha (entschieden und ungeduldig): Und er ist in der Tat hier nicht zu Hause, aber deswegen, weil niemand hier zu Hause ist. Und niemand wird hier jemals Geborgenheit und Wärme finden.«18

16 A. Camus: Das Missverständnis, S. 105. 17 Camus, Albert: Caligula suivi de Le Malentendu, Paris: Gallimard 1958, S. 164. 18 A. Camus: Das Missverständnis, S. 139, mehrfach veränderte Übersetzung.

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Die Unfähigkeit zu empfangen wird auf die Unfähigkeit zurückgeführt, sich im eigenen Haus zu Hause zu fühlen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass genau in diesem Zusammenhang Marthas Ungeduld betont wird. In Jonas fühlen sich die Gäste dagegen durchaus zu Hause. Sie kommen und gehen, wann sie wollen, ohne eingeladen worden zu sein und ohne Rücksicht auf das Leben der Gastgeber. Sie verhalten sich auch so, als wären sie da zu Hause: Sie haben »Gewohnheiten angenommen und zögerten ganz gegen Louisens Hoffnung mitnichten, sich auf dem Ehebett auszustrecken, um gemütlicher mit Jonas plaudern zu können.«19 Auch die Schwester Louisens und ihre Tochter fühlen sich bei Jonas »vom ersten Tag an wirklich zu Hause.«20 Das, was hier offensichtlich fehlt, ist die Asymmetrie der Beziehung zwischen Gastgeber und Gast, nach der der eine zu Hause und der andere wie zu Hause ist. Jonas ist eigentlich kein Gastgeber, der seinen Gästen Raum und Zeit aktiv schenkt, indem er sich zurückzieht und sie empfängt. Er wird auch nicht durch sie in seiner besonderen Beziehung zu dem Raum, in dem er sie empfängt, bestätigt. Er lässt alles geschehen. Er lädt nicht ein, begrenzt aber auch weder räumlich noch zeitlich das Eindringen der Besucher. Er ist absolut geduldig, verliert sich aber in dieser Passivität. Er lässt sich sogar aus seinem eigenen Lebensraum verdrängen: Die Besucher kommen auch, wenn er nicht da ist, und freuen sich, ihn zu sehen, wenn er zurückkommt, als ob er sie besuchen würde.21 Der Name »Jonas« ist der biblische Name eines Menschen, der sich für die anderen aufopfert und absolut einsam im Bauch eines Wals überlebt. Ein entsprechendes Bibel-Zitat steht im Vorspann der Erzählung: »Nehmt mich und werft mich ins Meer… Denn ich weiß, daß solch groß Ungewitter über euch kommt um meinetwillen. Jonas I, 12«22

Dies ist eine Geste der selbstlosen und bedingungslosen Großzügigkeit, die Bewunderung hervorzurufen vermag. Es ist aber keine Geste der Gastlichkeit. Das mag der Grund dafür sein, dass Jonas bei sich und unter sehr vielen Menschen einsam ist und fast daran untergeht.

19 A. Camus: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit, S. 204. 20 Ebd. Entgegen der offiziellen Übersetzung, in der »wie zu Hause« steht, fehlt dieses »wie« im französischen Original. 21 Vgl. ebd., S. 209. 22 Ebd., S. 181.

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In der Erzählung Der Gast ist das Verhältnis des Gastgebers zu seinem Wohnort viel komplexer. Bereits Derrida bemerkte, dass das französische Wort »hôte« sowohl Gast wie auch Gastgeber bedeutet und dass diese Ambiguität im ganzen Text nicht aufgehoben wird.23 Daru ist zu Hause in der Schule, in der er die zwei anderen Männer empfängt. Aber der Araber ist zu Hause in dem Land, in dem die Franzosen nur »Gäste« sind, die sich mit Gewalt aufgedrängt haben und geblieben sind. In seinem Text Der Araber in den Schriften Albert Camus' bemerkt Ahmed Hanifi, dass auch der Name »Daru« zweideutig ist: »Da es im Arabischen den Laut ›u‹ [der im Französischen ›ü‹ ausgesprochen wird] nicht gibt, spricht man [den Namen] ›Dari‹ oder ›Darou‹ aus, was ›mein Haus‹ beziehungsweise ›sein Haus‹ bedeutet. Man hätte auch ›Dareh‹ sagen können (algerischer Westen).«24

Diese Ambiguität wird dadurch unterstützt, dass Daru und sein Gast einen ähnlichen Bezug zu dem Land haben, in dem sie leben. Das Land selbst ist ungastlich, eine Wüste aus Steinen und Staub, eine »einsame Weite […], wo nichts an den Menschen gemahnte.«25 Doch geht Daru davon aus, dass er wie sein Gast nur da wirklich zu Hause sein können: »In dieser Wüste zählte keiner ein Deut, er nicht und sein Gast nicht. Und doch hätte außerhalb dieser Wüste, dessen war Daru gewiss, der eine so wenig wie der andere wirklich zu leben vermocht.«26

Umgekehrt sind allerdings auch beide Fremde in diesem Land, in dem der französische Lehrer die Geographie der Metropole unterrichtet und der Araber dem französischen Gesetz untersteht. Derrida sieht in dieser Ambiguität zwischen Gastgeber und Gast das Wesen der Gastlichkeit: »Der französische Kolonisator ist bei sich, aber beim anderen, beim Araber, und darin liegt das, was die Gastlichkeit ausmacht: Bei sich beim anderen sein, ohne dass die eine der Seiten zweitrangig wäre.«27

23 Vgl. J. Derrida: »Responsabilité et hospitalité«, S. 143. 24 A. Hanifi: »L'Arabe dans les écrits d'Albert Camus.«, Abschnitt 2.3.. 25 A. Camus: Der Gast, S. 168. 26 Ebd., S. 172. 27 Derrida, Jacques: »Responsabilité et hospitalité«, S. 143.

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Doch der Text von Camus scheint eine andere Interpretation zu verlangen, die gerade in dieser Ambiguität einen Grund des Scheiterns der Gastlichkeit sieht. Um dies zu verstehen, mag es hilfreich sein, zwischen zwei Orten zu unterscheiden, in denen das Verhältnis der drei Männer zueinander sehr unterschiedlich ist. In der Schule sind die Verhältnisse eindeutig. Daru ist der Gastgeber und erfüllt die entsprechenden Aufgaben nach den Regeln der Gastlichkeit, trotz eines gewissen inneren Widerstands und trotz der Risiken, die damit verbunden sind: Er begrüßt die beiden Männer, die ankommen, lädt sie in die Schule ein, wo sie sich werden aufwärmen können, bereitet ihnen Tee vor.28 Er bindet nach kurzer Absprache mit dem Polizisten die Hände des Arabers ab, der nun mit freien Händen seinen Tee trinken kann. Er hindert auch Balducci daran, vor seiner Abreise den Araber wieder zu fesseln. Dieser wird sich in der Nacht frei im Haus bewegen können, auch wenn er zum Verdruss Darus diese Freiheit nicht benutzt, um zu fliehen. Nach der Abreise Balduccis kocht Daru für den Araber, er lässt ihn in seinem Zimmer schlafen, obwohl er gewöhnlich nackt schläft und sich verwundbar fühlt29 und obwohl er fürchtet, dass die Gegenwart des anderen in der Intimität des selben Zimmers »ihm eine Art Brüderlichkeit [aufzwingt], die er unter den gegebenen Umständen [ablehnt]«30. Am nächsten Morgen bereitet er ein Frühstück vor und isst mit dem Araber zusammen und nicht nach ihm wie am vorigen Abend. Er spricht mit ihm auf Arabisch, da dieser kein Französisch versteht. Die nächtliche Gastlichkeit scheint genau das bewirkt zu haben, was er vermeiden wollte. Als Gastgeber hat er sich dem aber nicht entziehen können. Die Gastlichkeit Darus geht sogar noch weiter. Nachdem Balducci ihm den Befehl übermittelt hat, den Gefangenen selber in Tinguit abzuliefern, weigert er sich, diesen auszuführen. Es sei nicht sein Beruf, erklärt er in einer neutralen Formulierung, um den Polizisten nicht zu kränken.31 Aber der Grund ist ein anderer: Den Araber »auszuliefern ging gegen die Ehre«32. Als Gastgeber ist Daru in einem Dilemma gefangen: Er steht zwischen dem Gesetz des kolonialen Machthabers, das von Balducci vertreten wird und sich in Befehlen, Vorschriften und offiziellen Formularen ausdrückt, und einem anderen, nicht formulierten Gesetz, das von ihm das Gegenteil verlangt. Und nichts erfolgt, was ihn von diesem Dilemma befreien könnte: weder die Nachgiebigkeit Balduccis noch die Flucht des Arabers. In diesem Dilemma entscheidet er sich für das Gesetz der

28 Vgl. A. Camus: Der Gast, S. 166. 29 Vgl. ebd., S. 174. 30 Ebd., S. 175. 31 Ebd., S. 167. 32 Ebd., S. 177.

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Gastlichkeit gegen dasjenige, das ihn mit den anderen Franzosen verbindet. So versteht es zumindest Balducci: »Wenn du dich von uns los sagen willst, tu, was du nicht lassen kannst«,33 sagt er. Wenn dann Daru auch ihm gegenüber eine letzte Geste der Gastlichkeit ausführen und ihn zur Tür begleiten will, fährt er fort: »Gib dir keine Mühe mit Höflichkeiten. Du hast mich beleidigt.«34 Das Dilemma der Gastlichkeit trennt Daru von der Bevölkerungsgruppe, zu der er eigentlich gehört. Es trennt ihn auch von einem seiner Gäste, insofern dieser von ihm verlangt, dass er gegen den anderen vorgehe. Das Dilemma hält Daru gefangen, weil er sich weigert, seinen Gast gefangen zu halten, und dies ungeachtet dessen, was dieser Gast gemacht hat und was sein Gefühl ihm gegenüber ist. Es ist ein Dilemma der bedingungslosen Gastlichkeit, dem sich Daru nicht entziehen kann. »Das sinnlose Verbrechen dieses Mannes empörte ihn, aber ihn auszuliefern ging gegen die Ehre: der bloße Gedanke daran war eine Demütigung, die ihn rasend machte. Und er verfluchte zugleich die Seinen, die ihm diesen Mann geschickt hatten, und den Araber, der es gewagt hatte, zu töten, der es aber nicht verstanden hatte, zu fliehen.«35 Die bedingungslose Gastlichkeit Darus erfolgt nicht auf Grund einer Ambiguität seines Status als Gastgeber, sondern im Gegenteil, weil er sich ohne Ablehnungsmöglichkeit als Gastgeber verpflichtet fühlt. Anders verhält es sich in Bezug auf Menschen, für die Daru nicht eindeutig der Gastgeber ist, so etwa für Balducci. Daru fühlt sich offensichtlich nicht verpflichtet, auf dessen Begrüßung aus der Ferne und auf sein erstes Wort, sobald er sich in Rufweite befindet, zu antworten. Zweimal wird ausdrücklich erwähnt, dass er nicht antwortet.36 Sogar innerhalb des Hauses scheint Balducci nicht nur ein Gast zu sein. Er vertritt das Gesetz und er selber kehrt das Verhältnis der Gastlichkeit um, indem er auf dieses Gesetz hinweist, das nicht dasjenige der Gastlichkeit ist. Er betont auch eine andere Art des Verhältnisses zu Daru als dasjenige des Gastes zu seinem Gastgeber: Er nennt ihn mehrmals »Sohn«.37 Hier ist eine Ambiguität, die Darus Gastlichkeit gegenüber Balducci durchgehend in Frage stellt. Dies mag eine Erklärung dafür sein, dass hier die Gastlichkeit scheitert. Auch gegenüber anderen Menschen ist das Verhältnis der Gastlichkeit gestört. Als Daru seine Schule mit dem Araber verlässt, um diesen bis zu dem Ort

33 A. Camus: Der Gast, S. 170. 34 Ebd., S. 171. 35 Ebd., S. 177. 36 Ebd., S. 165. 37 Vgl. ebd., S. 167; 170; 171.

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zu bringen, wo er sich entweder für das Gefängnis oder für die Freiheit entscheiden soll, glaubt er, Geräusche hinter sich zu hören. Er kehrt zurück, sieht aber niemanden.38 Bereits während der Nacht hatte er auch geglaubt, Schritte um die Schule zu hören, dachte aber, er würde träumen.39 Als er allerdings einige Stunden später allein zurückkommt, findet er an der Tafel den bereits erwähnten Satz, in dem der Araber als »unser Bruder« bezeichnet und der Lehrer beschuldigt wird, ihn ausgeliefert zu haben. Hier ist Daru nicht mehr der Gastgeber, sondern der Eindringling in einer Familie, zu der er nicht gehört. Auch in diesem Zusammenhang scheitert seine Gastlichkeit. Vieles spricht also in den Texten Camus‘ dafür, dass nicht die Ambiguität, sondern die Klarheit des Verhältnisses der Gastgeber_innen zu dem Ort, in dem sie empfangen, eine Bedingung der Gastlichkeit ist, auch wenn diese Gastlichkeit wiederum darin besteht, dass durch sie dieses Verhältnis nicht nur bestätigt, sondern auch verändert wird, zumindest für die Dauer des Empfangens, manchmal allerdings auch viel dauerhafter und tiefgreifender. Dass dies der Fall sein kann, bezeugt die Weise, wie die Ereignisse das Wort Balduccis an Daru Lüge strafen: »Du mußt ihn im Verlauf des morgigen Tages nach Tinguit bringen«, hatte er ihm gesagt. »Du willst mir doch nicht angeben, dass zwanzig Kilometer einem strammen Kerl wie dir angst machen. Nachher bist du die Sache los. Du kehrst zu deinen Schülern und zu deinem sorglosen Leben zurück.«40

Die Offenheit dafür, dass gerade dies nicht mehr möglich ist, gehört konstitutiv zur Gastlichkeit. Konstitutiv für die Gastlichkeit sind auch für Camus bestimmte Regeln. Es handelt sich hierbei nicht so sehr um Regeln des Hauses oder des Ortes, in dem und an dem empfangen wird, sondern um Regeln der Gastlichkeit an diesem Ort. Auch diese Regeln können allerdings sowohl zum Gelingen wie auch zum Scheitern der Gastlichkeit führen. Die strengen Regeln des Umgangs zwischen Gastgeberinnen und Gast im Missverständnis sind der zweiten Art. Denn sie lassen überhaupt keinen Spielraum für Abweichungen offen, durch die die Ordnung des Hauses gestört werden könnte. Martha erwähnt diese festen Regeln ausdrücklich in einem Gespräch mit Jan:

38 Vgl. A. Camus: Der Gast, S. 177. 39 Vgl. ebd., S. 176. 40 Ebd., S. 168.

226 | P ASCAL DELHOM »Martha: Hören Sie, ich sehe, dass ich Ihnen eine Vorwarnung ausrichten muss. Sie ist folgende. Wenn Sie hier hereinkommen, haben Sie nur die Rechte eines Gastes. Dafür bekommen Sie sie alle. Sie werden gut bedient, und ich denke nicht, dass Sie sich eines Tages über unseren Empfang beklagen müssen. Aber es steht ihnen nicht zu, sich um unsere Einsamkeit zu sorgen, und ebenso brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, ob Sie uns stören oder ob Sie uns lästig sind oder nicht. Nehmen Sie den ganzen Platz eines Gastes in Anspruch, er steht Ihnen zu. Aber beanspruchen Sie nicht mehr.«41

Das Gespräch über die Rechte des Gastes und das, was er nicht zu erwarten hat, ist im Buch mehr als zwei Seiten lang. Das Thema selbst wird wiederholt angesprochen und es scheint, dass nichts die bestehenden Regeln aufweichen könnte, nicht einmal das Zurückkommen eines Sohnes, das Jan gegenüber der Mutter erwähnt: »Martha (baut sich entschieden zwischen ihnen auf): Ein Sohn, der hier hereinkäme, würde das vorfinden, was jeder beliebige Gast hier zu finden sicher sein kann: eine wohlwollende Gleichgültigkeit.«42

Diese strenge Einhaltung von Regeln bezieht sich sogar auf das Zuhören der Gastgeberinnen, insofern ihre Gäste die Sprache der Gäste sprechen und weder eine Antwort erwarten noch die Entwicklung einer andersartigen Beziehung als derjenigen der Gäste. »Zu den Pflichten, für die wir bezahlt werden, gehört schließlich diejenige, zuzuhören«,43 sagt Martha. Die Offenheit für das Wort des Gastes wie für jede Art des Verhaltens, das die vorgegebene Ordnung des Raumes verändern und stören könnte, wird prinzipiell unterbunden. Auch deswegen kann es da keine Gastlichkeit geben. Das Missverständnis, das dem Stück seinen Namen gibt, ist ein Miss-Gehörtes: ein mal-entendu. Es hat dem versuchten Wort des Sohnes keinen Platz gegeben. Umgekehrt ist die Gastlichkeit von Jonas durch einen offensichtlichen Mangel an Regelungen jeder Art gekennzeichnet. Weder die Gäste halten sich an

41 A. Camus: Das Missverständnis, S. 115, fast vollständig veränderte Übersetzung. Hier wie im übrigen Text verspürt anscheinend der Übersetzer keinerlei Verpflichtungen gegenüber dem Originaltext. Als Empfang eines Textes in einer neuen Sprache sollte sich aber eine Übersetzung nach der einfachen Regel der Achtung für den Sinn und die Ausdrucksweise des Ausgangstextes richten. Auch dies gehört zur Gastlichkeit. 42 Ebd., S. 119, mehrfach veränderte Übersetzung. 43 Ebd., S. 116, mehrfach veränderte Übersetzung.

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räumliche und zeitliche Begrenzungen ihrer Präsenz in der Wohnung, da es solche anscheinend nicht gibt, noch fühlt sich Jonas in irgendeiner Weise gegenüber seinen Gästen verpflichtet. Es gibt weder Regeln der Gastlichkeit noch solche, die sie begrenzen würden. Letztendlich trägt diese unbedingte Offenheit allerdings nicht zur Möglichkeit der Gastlichkeit bei, sondern zu ihrem Scheitern. Darus Gastlichkeit richtet sich dagegen offensichtlich nach bestimmten Regeln, die für sie konstitutiv sind. Sie werden zwar kaum thematisiert, bestimmen aber den Verlauf des Empfangens. Nur zweimal werden in Der Gast Regeln explizit erwähnt: ein erstes Mal in Bezug auf die Unmöglichkeit für Daru, seinen Gast auszuliefern, denn es wäre gegen die Ehre. Ein zweites Mal in Bezug auf die mögliche Gastlichkeit der Nomaden, die den Araber aufnehmen könnten. Daru sagt ihm: »›Das ist die Piste, die über die Hochebene führt. In einem Tagesmarsch von hier kommst du zu den Weiden und den ersten Nomaden. Sie werden dich empfangen und beherbergen, nach ihrem Gesetz.‹«44

Es scheint demnach für Daru selbstverständlich, dass die Gastlichkeit nach eigenen Gesetzen erfolgt. Dies ist auch der Fall, wenn diese nicht ausformuliert werden. Die Grundregel, nach der sich Daru verhält, besteht darin, dass er sich nach den Bedürfnissen und den Wünschen seiner Gäste richtet. Er gibt ihnen zu trinken und zu essen, wenn sie Durst und Hunger haben. Er sorgt dafür, dass sie sich aufwärmen können, wenn ihnen kalt ist. Wenn ihre Bedürfnisse nicht offensichtlich sind, fragt er danach, und zwar in einer Sprache, die sie verstehen können. Er scheint sich darüber hinaus nach einer Grundregel zu richten, nach der sich ein Gast von einem Gefangenen unterscheidet: Er muss frei sein. Er muss selber darüber entscheiden können, wann er den Ort verlässt, an dem er empfangen wird. All diese Regeln befolgt Daru. Er tut es trotz seiner Wut gegen die Tat des Arabers. Er tut es auch über das hinaus, was vom ihm erwartet wurde. Er setzt sich durch seine Offenheit den Risiken einer bedingungslosen Gastlichkeit aus. Insofern ist er in vielerlei Hinsicht ein vorbildhafter Gastgeber. Und dennoch scheitert er in Bezug auf sein Versprechen, den Araber nicht auszuliefern. Denn er kann nicht verhindern, dass dieser den Weg der Gefangenschaft wählt. Er scheitert in einem doppelten Sinne an der Freiheit seines Gastes. Daru lässt seinen Gast frei, am ersten Nachmittag und auch während der Nacht zu fliehen. Er lässt ihn auch frei, am folgenden Tag zu wählen, wohin er

44 A. Camus: Der Gast, S. 179, mehrfach veränderte Übersetzung.

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gehen soll. Aber dieses »frei lassen« ist kein Geschenk. Es ist die Weigerung einer Entscheidung, die er und nur er in Anwesenheit des Gastes zu treffen hat. Nach der Abreise Balduccis hatte er den Araber allein in der Schulklasse gelassen und war in sein Zimmer gegangen. Als er nach einer Weile nichts hörte, hatte er gedacht, dieser sei geflohen. »Er verwunderte sich über die ungeteilte Freude, die er beim bloßen Gedanken empfand, der Araber sei vielleicht entwichen und er werde wieder allein sein, ohne irgendeine Entscheidung treffen zu müssen. Aber der Gefangene war da.«45

Und Daru entscheidet nicht, sondern hofft, dass der Araber selber und richtig entscheiden wird. Er lässt ihn entscheiden, in einem passiven Sinne, ohne ihm allerdings die Mittel dieser Entscheidung zu geben, ohne ihn eine Entscheidung zu ermöglichen, die er wirklich hätte treffen können: Denn Daru scheint anzunehmen, dass die Freiheit einfach geschenkt werden kann, ohne dass bestimmte Bedingungen erfüllt werden und ohne dass sie gelehrt wird. Er, der Lehrer, scheint die wahre Dimension seiner Aufgabe nicht zu verstehen oder zumindest nicht annehmen zu wollen. »Sonderbare Schüler!«46 hatte er geantwortet, als Balducci ihm sagte, ihr Ziel sei die Schule. Er nimmt aber offensichtlich die damit verbundene Aufgabe nicht ernst genug. Die erste Bedingung der Freiheit wäre für den Araber, dass er weiß, dass Daru ihn nicht ausliefern wird. Daru hat es ja betont und mehrmals wiederholt, aber nur auf Französisch und an Balducci adressiert. Der Araber, der kein Wort Französisch kann, konnte es nicht verstehen.47 Das Geschenk seiner Freiheit wurde nicht an ihn adressiert. Daru erklärt ihm auch nie, wer er ist und welche Rolle er in der Geschichte spielt. Als der Araber ihn fragt, ob er der Richter sei, antwortet er nur: »›Nein. Ich behalte dich bis morgen hier.‹«48 Wie soll sich also der Gast entscheiden, wie soll er vielleicht seine Dankbarkeit und sogar seine Verbundenheit zu seinem Gastgeber ausdrücken, der ihm die Freiheit schenkt, wenn er nicht weiß, was dieser erwartet? Ein Beobachter (und der Leser der Geschichte) könnte nicht wissen, ob dies wirklich ein Gedanke des Arabers ist. Er weiß aber, dass dieser ganz im Sinne des Gesetzes der Franzosen handelt und genau dadurch die Erwartungen des Franzosen Daru enttäuscht.

45 A. Camus: Der Gast, S. 172. 46 Ebd., S. 167. 47 Vgl. ebd., S. 168. 48 Ebd., S. 173.

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Darus Versäumnis, wenn es eins ist, besteht also darin, dass er zwar seinem Gast die Entscheidung über sein Schicksal überlässt, aber ihm kein Zeichen dieser Gabe schenkt und die Bedingungen ihrer Annahme nicht gewährt. Später, im Augenblick ihrer Trennung, zeigt allerdings Daru ausdrücklich dem Araber die zwei möglichen Wege, die dieser wählen kann. Er gibt ihm die Wahl und unterstützt diese Gabe durch das Geschenk des Essens und des Geldes, mit denen der Reisende zwei Tage durchhalten kann. Doch wieder erfüllt Daru die Bedingungen nicht, unter denen allein sein Gast hätte die Gabe annehmen können. Als der Araber sich ihm voller Angst zuwendet und »›Hör zu‹« sagt, antwortet er: »›Nein, schweig. Ich gehe jetzt.‹«49 Daru weigert sich zuzuhören. Er schließt den anderen gewaltsam vom Raum der gemeinsamen Sprache aus. Er beendet dadurch abrupt die Zeit seiner Gastlichkeit und lässt den anderen allein. Erneut betrifft das Versäumnis Darus die Sprache. Doch was hier fehlt, ist nicht das gegebene Zeichen, sondern das Zuhören des Wortes des anderen. Daru ähnelt hier den Frauen im Missverständnis, die das Wort ihres Sohnes und Bruders nicht zu hören fähig sind und die dadurch verhindern, dass er spricht. Er ähnelt fast sogar den grausamen Herrschern der Stadt aus Salz in der Erzählung »Der Abtrünnige oder ein verwirrter Geist«, die jedes Wohnen untersagen und ihrem Gefangenen die Zunge abgerissen haben.50 Diese Ähnlichkeit ist zwar nur die Angelegenheit eines kurzen Augenblicks. Sie reicht aber anscheinend dafür aus, dass der Gast wieder zum Gefangenen wird und dass die Gastlichkeit scheitert. Sowohl in Bezug auf das eigene Wort wie auf das Zuhören des Wortes des anderen, auf die Tätigkeit des Zeichengebens wie auf die geschenkte Zurückhaltung des Zuhörens, gelingt es Daru offensichtlich nicht, eine Sprache zu erfinden, die der Situation angemessen gewesen wäre. Deswegen hat auch er, der Lehrer, der seinen Schülern jeden Tag Reis verteilt, der Franzose, der sich zugunsten eines unbekannten und unerwünschten Gastes von der eigenen Bevölkerungsgruppe distanziert, der Gastgeber, der aus einem Gefangenen einen Gast machte, auch wenn er nicht einmal seinen Namen kannte, die schwierigen Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit nicht zu erfüllen vermochte. Diese Bedingungen verbinden die Geduld des Gastgebers mit der Gabe der Zeichen dieser Geduld. Sie verbinden das Erfinden einer Sprache mit der Fähigkeit, schweigend zuzuhören. Sie sind die schwierigen Bedingungen, ohne die eine bedingungslose Gastlichkeit anscheinend nicht möglich ist.

49 A. Camus: Der Gast, S. 179. 50 Vgl. Camus, Albert: Der Abtrünnige oder ein verwirrter Geist, in: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit, S. 140.

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L ITERATUR Camus, Albert: Caligula suivi de Le Malentendu, Paris: Gallimard 1958. Camus, Albert: Das Missverständnis. Schauspiel in drei Akten, in: Sämtliche Dramen, aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Uli Aumüller, erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013, S. 97-155. Camus, Albert: Gesammelte Erzählungen, aus dem Französischen von Guido G. Meister, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1966, neu aufgelegt unter dem Titel: Jonas oder der Künstler bei der Arbeit. Gesammelte Erzählungen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998. Delhom, Pascal: Gastlichkeit und Verletzlichkeit, in: Flatscher, Matthias/Loidolt, Sophie (Hg.): Das Fremde im Selbst. Das Andere im Selben. Transformationen der Phänomenologie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 209-224. Derrida, Jacques (2001b): »Une hospitalité à l'infini«, in: Seffahi, Mohammed (Hg.): Autour de Jacques Derrida. De l'hospitalité. Manifeste, Genouilleux: La passe du vent 2001, S. 115-127. Derrida, Jacques: »Responsabilité et hospitalité«, in: Seffahi, Mohammed (Hg.): Autour de Jacques Derrida, S. 131-149. Hanifi, Ahmed: L'Arabe dans les écrits d'Albert Camus, URL: http://www.afri cultures.com/php/index.php?nav=article&no=11872, Abschnitt 2.3., geöffnet am 14.02.2014.

Tun und Lassen im Mund Anthropologische Dimensionen des Mundraums H ARTMUT B ÖHME

1. M UND

AUF ,

AUGEN

ZU !

Liebende küssen sich – ich küsse dich – du küsst mich: Was hier Lippen, Zunge, Zähne tun und lassen, ist nicht zwischen den Personen zu verteilen, mein Teil – dein Teil. Das weiß man überall: »Küssen kann man nicht alleine«, heißt die letzte CD von Max Raabe. Im besten Fall besteht zwischen den Liebenden Reziprozität und Resonanz, eine bewegliche Balance zwischen dem Aktiven und Passiven, zwischen Propriozeption und Heterozeption.1 Das muss nicht so sein: Wer jemandem einen Kuss auf den Mund drückt, der seinerseits verschlossen, ja zusammengepresst bleibt, hat schon alles falsch gemacht. Küsst ein Paar sich beim morgendlichen Auseinandergehen beiläufig auf den Mund, so mag zwar Zugehörigkeit und Sympathie ausgedrückt sein, doch ist es mehr eine symbolische, als eine erotisch genießende Aktion. »Küss die Hand, gnädige Frau«: Das scheint eine routinierte Geste aus alter Zeit wie heute Küsschen rechts und Küsschen links. Und doch kannte damals der Handkuss und kennt heute das Küsschen Küsschen auf der Vernissage minimale Differenzen, die das Feld zwischen bedeutungsleerer Konvention und erotischer Verführung ausfüllen. Reden wir nicht von den unerwünscht feuchten Küssen, die der Großvater der neunjährigen Enkelin aufdrückt, der dabei speiübel wird. Sprechen wir auch nicht von den Familienküssen zwischen Eltern, Kindern, Onkeln, Tanten usw. Im besten Fall sind sie herzlich, im schlechtesten Fall widrig, in jedem Fall sind, sofern der lüs-

1

Zum Kuss, anders als zum Coitus, gibt es nicht viel Forschung, vgl. aber Montandon, Alain: Der Kuß. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin: Wagenbach 2006.

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terne Onkel außen vor bleibt, diese Küsse von allen anerkannt als Geste der Familialität und vielleicht sogar der liebevollen Zartheit. Küssen ist der Ausdruck davon, dass hier Liebe, Freundschaft, Zuneigung wechselseitig getauscht und anerkannt werden. Wenn Anerkennung der wichtigste ethische Akt ist, durch welche Gemeinschaften und Beziehungen generiert und stabilisiert werden, so muss das reziproke Küssen als ein präverbales Agieren wechselwirkender Anerkennung von Ich und Anderem in intimen Nahverhältnissen gelten. Es ist kaum übertrieben, wenn man behauptet: Keine Ethik ohne den Spürsinn der Schleimhäute, die aufs Genaueste die wahre Natur von Beziehungen erkennen. Jenseits davon öffnet sich das Spektrum der sozialen Typik von Kuss-Akten. Und dabei zerstieben die idealen Anmutungen schnell. Der sozialistische Bruderkuss, den Leonid Breschnew und Walter Ulbricht auf dem VII. Parteitag der SED 1967 vor aller Augen tauschten, ist zwar aus dem brauchtümlichen Bruderund Osterkuss der orthodoxen Kirche oder gar vom zeremoniellen osculum pacis (Friedenskuss) des frühen Christentums übernommen und sollte die Einigkeit über sozialistische Ziele wie Brüderlichkeit, Solidarität und Gleichheit bekräftigen. Dennoch war bei diesem Staats-Kuss die Asymmetrie zwischen dem Führer der hegemonialen Sowjetunion und der Machtmarionette eines Trabantenstaates offensichtlich. Gleichwohl funktionierten die Reflexe: die Augen geschlossen, die Münder weit geöffnet und die Lippen aufeinander gepresst. Nicht ohne Grund überschrieb der Künstler Dimitry Vrubel 1990 sein Gemälde, womit er das berühmte Kuss-Foto von Barbara Klemm auf die Reste der Berliner Mauer, der East Side Gallery, malerisch übertrug, mit dem Titel: »Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben«. Auch in anderen sozial codierten Küssen überwiegt das Gegenteil dessen, was wir am genießenden Kuss als lustvolle Balance von Eigen- und Fremdwahrnehmung festgestellt hatten. Man denke an den Verräter-Kuss, mit dem Judas seinen Meister Jesus den Häschern preisgibt. Man denke an die vielen Küsse, mit denen der lüsterne Tod dem Leben des blühenden Mädchens ein jähes Ende setzt (Gemälde, Stiche, Radierungen von Baldung Grien bis Edvard Munch). Man denke an die Küsse der Demut und Achtung, die Papst Johannes II. vor dem Land ausdrücken wollte, wenn er, aus dem Flugzeug gestiegen, als erstes den Boden küsste (natürlich ohne die Erde zu berühren). Man denke an die Tennisspieler(innen) und Fußballer(innen), welche ihre gewonnenen Pokale küssen, während Olympioniken eher mit bleckenden Zähnen auf ihre Medaillen beißen. Amüsiert erinnert man sich an den provokativen Zungenkuss, den Madonna und Britney Spears 2003 auf offener Bühne und vor laufenden Kameras tauschten. Und dann der Todeskuss, den die Sphinx ihrem Opfer, dem Mann, schenkt – auf dem Gemälde »Der Kuss der Sphinx« (1895) von Franz von Stuck oder dem

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Gemälde »Vampir« (1915-18) von Edvard Munch: Zwischen Sphinx und Vampir demonstriert die männerverschlingende femme fatale des 19. Jahrhunderts ihre halb menschliche, halb dämonische ›Natur‹.2 Im Zwischenraum von Lippen, Zähnen, Zunge und Gaumen verwandeln sich die Aktivitäten unmerklich oder blitzschnell: »Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen«, erklärt Kleists Penthesilea, als sie in wildem Taumel, zusammen mit ihren Kampfhunden, den geliebten Körper Achills mit den Zähnen zerfleischt hat. Vergessen wir nicht all die Küsse, die im erotischen Spiel zwischen Mündern und Körpergliedern – vom Ohrläppchen bis zu den Zehen – zum Ereignis werden, allen voran die Königsküsse Cunnilingus und Fellatio. Sie zeigen nicht die gleiche Ausgewogenheit von Tun und Lassen wie der symmetrische ZungenKuss. Aber sie eröffnen, gerade in der asymmetrischen Verteilung von agierendem und genießendem Anteil, die weite Welt wechselwirkender Verhältnisse des Sex. Der Sex, jedenfalls in seinen genitalen Spielarten, ist mit der Kuss-Welt zwar verbunden, aber auch dadurch unterschieden, dass die Münder im ZungenKuss auf das Andere ihrer selbst treffen, unabhängig vom Geschlecht; während die Genitalität viel stärker die Andersartigkeit des Anderen hervortreibt, die bestenfalls komplementär ist, aber niemals symmetrisch. Gerade das steigert (jedenfalls mehrheitlich) die Lust. Deswegen ist die genitale Welt eher geneigt, Tun und Lassen stärker zu differenzieren, selbst wenn die Aktiv/Passiv-Anteile dabei hin und her wechseln mögen. Unterbrechen wir an dieser Stelle. Nennen wir Küssen eine erotische Praxis, so ist diese dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht entweder Tun oder Lassen, entweder aktiv oder passiv ist, sondern ein Gleiten auf der Skala zwischen beiden Polen, oder, gerade in den beglückenden Fällen, beides zugleich. Ist Reziprozität eingelöst, so gilt: Wer küsst, lässt sich auch küssen. Wer küssend Lippen und Zunge des Anderen umspielt und schmeckt, empfindet dabei zugleich die eigenen Lippen und Zähne und die eigene Zunge. Heterozeption ist immer zugleich Propriozeption und zwischen beiden schaukelt sich die Lust auf. Wie sollte man hier Subjekt und Objekt unterscheiden, wenn beide beides sind und beide keines von beiden? In der öffentlichen Performance des Küssens allerdings können sich die Beteiligten auf getrennte Subjekt- und Objekt-Positionen verteilen,

2

Vampiristische, nekrophile, tödliche, verschlingende Küsse gibt es in Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts zuhauf, von E.A. Poe über Rodin bis Gustav Klimt und weiter bis zum Roman/Film »Der Kuss der Spinnenfrau« von 1976/1985: das gehört zur morbiden Erotik und der obsessionellen Angstlust vor den femmes fatales, in deren Küssen und Schoß der Tod lauert.

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so etwa bei den Macht demonstrierenden, taktischen, inszenatorischen oder überwältigenden Kuss-Akten, die niemals Gabe oder Tausch, sondern Demonstration und Zeichen sind. Ich küsse dich, also bin ich (der Stärkere). Ich küsse irgend etwas oder irgend jemanden und demonstriere dabei die Beziehung, in der ich zum Anderen stehe oder behaupte zu stehen (Breschnew, Papst, Madonna). Halten wir fest, dass die intimen Zungenküsse geradezu paradigmatisch durch die Ausgewogenheit, ja Ununterscheidbarkeit von Tun und Lassen charakterisiert sind. Könnte es also sein, dass der Mundraum basale Vermögen enthält, welche dem Gegensatz von Tun und Lassen, wie er die tradierten Diskurse beherrscht, ein viel flüssiger agierendes Paradigma entgegensetzen? Könnte es sein, dass wir in unseren leitenden anthropologischen Annahmen versäumt haben, vom Oralen zu lernen? Dieser Auffassung sind wir allerdings und vertreten deswegen die These von der zweiten, soziokulturellen Geburt des Menschen in und aus der Mundhöhle3 – im Medium uralter, höchst komplexer und fundamentaler Aktivitäten, die von größter kultureller Wirkung sind. Diese These reflektierend, rücken sich auch die Verhältnisse von Tun und Lassen zurecht. Schauen wir, nach dem Küssen, zwei weitere aktiv/passive Praktiken des Mundraums an. Über den Mund/Nasenraum werden die beiden entscheidenden Achsen des Metabolismus initialisiert: Atmen und Essen. Wir saugen, lutschen, küssen, züngeln, beißen nicht nur im triebdynamischen Feld der oralen Libido, sondern wir packen mit den Zähnen zu, zermalmen, verschlingen, vernichten, (zer)knirschen und folgen damit der Triebdynamik oraler Aggressivität (die durchaus libidinös getönt sein kann). Diese Dualität der frühesten und sich lebenslang erhaltenden Triebdynamik ist, um hier einen Terminus von Sigmund Freud aufzunehmen, in »Anlehnung«4 an die Dynamiken der Nutrition und des Atmens strukturiert.

3

Böhme, Hartmut/Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin. München: Fink 2013.

4

»Anlehnung« meint die Vergesellschaftung oder Anlehnung von Sexualtrieben an Selbsterhaltungs-Bedürfnisse bzw. wichtige Körperfunktionen. So lehnt sich libidinöse Lusterfahrung zunächst und ausschließlich an die Nahrungsaufnahme an und wird nach Freud erst sekundär autonom. Indessen kann eine Anlehnung von libidinösen Strebungen auch lebenslang an eine Zone, wie den Mundraum, erhalten bleiben. Man kann sagen, dass der Sex sich seine Quelle, sein Objekt und seine Beziehungsform zuerst vom Mundraum entleiht – und diese orale Strukturierung bleibt auch erhalten, auch wenn sie durch das Hinzutreten analer und genitaler Muster differenziert wird. Freund entwickelt das Konzept der Anlehnung zuerst in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905). Wer dieser Spur weiter nachgehen will, nehme den Artikel

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Atmend können wir im ruhigen Rhythmus dem Ein und Aus folgen, der Diastole und Systole, wie es Goethe nennt. Heute spricht man eher von Systole und Diastole des Herzens. Beides, Atem und Herzschlag, sind unvermeidbare, lebenserhaltende, darum basale Prozesse. Sie sind weniger ein Tun als ein unwillkürliches Geschehen, auch wenn man auf sie pharmakologisch oder therapeutisch Einfluss nehmen kann. Doch erfahren wir schnell, dass dem Versuch, den Atem oder das Herz über Intentionen zu steuern, enge Grenzen gesetzt sind. Immerhin lernen wir den fließenden Rhythmus des Atmens kennen, und spüren das stetige Ineinander-Übergehen von Engung und Weitung. Damit wird der Grundrhythmus aller leiblichen Gefühle erschlossen, die in »Anlehnung« an den Atem und den Herzschlag sich postnatal erst entwickeln müssen. Doch wir atmen nicht nur ruhig, sondern – je nachdem – wir hecheln, schnaufen, schnauben, keuchen, hyperventilieren, sind außer Atem, in Atemnot, ringen um Atem, empfinden Angst in erstickender Enge und Freiheit schenkende Weitung in der Frische der Luft. Im Atmen leben wir, Luft ist unser erstes Lebensmittel. Dies ist in der mythologischen Fassung der Bibel gut erfasst, wenn der aus Erde skulpturierte Adam erst durch das Einblasen des Odems (ruach, pneuma, spiritus; Gen 2,7) zu Leben kommt. Odem ist Lebenshauch. Atem ist Animation, darum die beglückende Erfahrung, wenn der/die gerade Geborene den ersten Atemzug schöpft und dann schreit: Stimme haben heißt, lebendig sein, im Atem seinen ersten Ausdruck finden. Was sollte hier die modale Trennung von Tun und Lassen für einen Sinn machen? Gewiss, wir tun etwas mit dem Herzen, wenn wir es durch autogenes Training oder Pharmaka beeinflussen; und wir tun etwas, wenn wir als Meditierender, Sportler, Schauspieler oder Sänger den Atem kultivieren. Aber dieses Wort ›kultivieren‹ ist schon zu stark, weil der Atem so wenig wie das Herz anzueignen und womöglich zu beherrschen ist wie ein Objekt oder Instrument. Ja, wir tun etwas – im Rahmen des Lassens. Oft besteht das therapeutische Tun darin, gerade das Lassen zu lernen, die kulturelle Unruhe herauszuhalten, um das Getragenwerden durch den Atem zu verstehen. Was lernt man aus diesen einfachen Phänomenen? Nur indem wir eine Kultur des Lassens entwickeln, sind wir in der Lage, zu handeln. Sehr schnell nach der Geburt, oft noch vor dem ersten Saugen der Brust, streicht die Zunge über die Lippen und das Händchen fährt unkoordiniert an den

»Anlehnung« zum Ausgang, in: Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. 9. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 69-72.

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Mund: Orale Eigenreizungen entstehen. Sie werden eingebettet in die ersten Geschehnisse der Nutrition, welche, in der Regel, über die Mund-Brust-Koppelung von Mutter und Säugling abläuft.5 Ernährung und damit Lebenserhalt erfolgt über eine Konfiguration, in der es eine Trennung von Subjekt und Objekt und erst recht von Tun und Lassen nicht gibt. Der Saugreflex ist gewiss die erste Quelle von Aktivität, ohne doch als objektbezogenes Handeln erlebt zu werden. Jedenfalls betonen Säuglingsforscher, dass im Strömen der Milch der Säugling sich eins mit der Brust fühle. Dies ist der Ursprung der auf Freud so befremdlich wirkenden »ozeanischen Gefühle«6, die er doch literarisch dicht beschreibt. Die Brust ist ein Selbst-Objekt, aber weder Selbst noch Objekt sind schon ausdifferenziert. Doch im Saugen, Schmecken, Schlucken wie im Rülpsen, Würgen, SichÜbergeben wird im Transferraum des Mundes die sensorische Spur gelegt für die Doppelmatrix: von Außen nach Innen und von Innen nach Außen. Diese Vorstufen für Prozesse der Interiorisierung (Inkorporation) und Exteriorisierung (Verkörperung) finden sich, weniger kathektisch besetzt, auch im Atmen. Nach der Zahnung, einem oralen Epochenwechsel ersten Ranges, treten die Aktivitäten des Packens mit den Zähnen, des Zerbeißens, Zermalmens, Zerkleinerns der Nahrung hinzu. Damit ist die Basis für die Ausbildung eines anderen Typs der Triebdynamik geschaffen, nämlich für die orale Aggression, die auf das Zerstückeln und Vernichten des Objekts zielt. Von nun an sind Tun und Lassen sowohl dividierbar wie auch miteinander verflochten. Das kleine Kind spürt die aktive Energie, die in seinen aggressionsfähigen Zähnen sitzt: eine mächtige, ja die mächtigste Kraft unserer selbst. Schon beim Kauen, Wälzen und Einspeicheln des Essens wird die aktive Arbeit der Zerkleinerung und Vorverdauung geleistet; aber zugleich wird passiv gespürt, gefühlt, gerochen und geschmeckt. Mit der oralen Libido und den ihr angeschlossenen flow-Erlebnissen narzisstischer Lust einerseits sowie andererseits mit der oralen Aggression und den ihr angeschlossenen Energien zur Destruktion des Anderen haben wir die duale Triebdynamik, die sich allen späteren Stufen der Triebentwicklung aufprägen.

5

Nach dem Modell dieser Koppelung haben Deleuze und Guattari eine emphatische, aber in narzisstischen Dynamiken sich verfangende, oft delirierende Philosophie entwickelt, die in den 1970er Jahren eine bedeutende Rolle für die ersehnte politische wie psychische Befreiung von den ödipalen Strukturierungen der Lebensläufe wie der Gesellschaft spielte (Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, frz. 1972).

6

Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: ders.: Studienausgabe Bd. IX; 5. Aufl., Frankfurt am Main: S. Fischer 1989, S. 193–270, hier: 197-205.

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Nun ist die Nutrition mit zwei weiteren sensorischen Leistungen des MundNasenraums verbunden, nämlich dem Riechen und dem Schmecken, abgesehen davon, dass im Kontakt mit der Mutterbrust und der Milch bzw. dem Nahrungsbrei immer eine taktile Erfahrung mitspielt (›im Kontakt‹ heißt zunächst ›in Berührung‹). Gustus, Olfactus und Tactus operieren von vornherein im Verbund. Und sie sind bipolar strukturiert, zwischen den Polen der lustvollen und widrigen Reize gefächert. Hier bilden sich die Vorstufen der Urteilskraft der Sinne sowie die Vorstufen zu einer Reihe wichtiger Gefühle, welche unsere Einstellung zu Objekten bestimmen. Wie schon die positiven oder negativen Gestimmtheiten von Gustus, Olfactus und Tactus sind auch die Gefühle von Lust, Genuss, Freude, Gier, Ekel, vomitiver Abwehr keine intentionalen Handlungen, kein Tun, sondern Pathêmata, Widerfahrnisse unseres Weltbezugs. Auf der Grundlage der kooperierenden Sinne Gustus, Olfactus und Tactus baut sich die Mannigfaltigkeit des mundus sensibilis auf, der indes immer auch kulturell geprägt ist. Erst auf dieser Grundlage können wir die Befindlichkeit und Gestimmtheit unseres Daseins finden und die Ästhetik unseres Weltverhältnisses ausbilden – also das Reich der Gastrosophie, die Welt der Düfte und Essenzen und schließlich die Welt der Stoffe, mit denen wir in schmeichelnde oder abstoßende Berührung geraten. Nach diesen Vorüberlegungen über Aspekte oraler Dynamik, insofern sie mit dem Thema Tun und Lassen verbunden sind, folgen einige Erinnerungen an die Missverständnisse, die über die Gefühle und die sensorischen Erfahrungen seit der ersten griechischen Aufklärung und dann im modernen Rationalismus herrschen. Dies erklärt, warum die Leistungen des Mundraums in der Geschichte des anthropologischen Denkens zugunsten der Prävalenz der Hand, des Auges und Ohrs und schließlich des Gehirns unterschätzt wurden. Für eine strukturalfunktionale und historische Anthropologie aber scheint die philosophische Wiedergewinnung der basalen Bedeutung des Mundraums nötig zu sein. Damit ist auch eine Rechtfertigung des ›Lassens‹ verbunden, allerdings nicht derart, dass das Lassen nun gegen das Tun ausgespielt wird, sondern in dem Sinn, dass beide bei fast allen wichtigen Operationen des Menschen ineinander verwoben sind, auch in den intellektuellen Aktivitäten wie dem Denken.7

7

Thomas Metzinger zeigt in seinem neuesten Buch, dass das Denken zum kleinsten Teil eine rational von Intention und Methode gesteuerte Aktivität ist, sondern eingebettet ist in unwillkürlich ablaufende, mehr oder weniger unstrukturierte, gleichsam ›rauschende‹ Abläufe des Gehirns, die im Sinne des hier vorliegenden Buches eher dem Lassen als dem Tun zuzuordnen sind (Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine

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2. G EFÜHLSMACHT

UND

S ELBSTERMÄCHTIGUNG

Im homerischen Griechenland wurden die Gefühle durchweg als pathêmata verstanden. Spuren dieser Auffassung finden sich indes auch in der Dichtung bis hin zu Euripides. Der Terminus pathos bezeichnete vor der philosophischen Aufklärung der Griechen nicht einen Zustand des seelischen Gemüts, sondern das, »was einer Person oder einer Sache widerfährt. In diesem Sinn kann jede Veränderung, auch die Veränderung von Dingen, pathos heißen«.8 Pathos ist Erschütterung, darum auch Leidenschaft oder Leiden.9 Am genauesten wird pathos wiedergegeben als »Widerfahrnis« (Georg Picht). Es gehört zu den Umdeutungen seit etwa 400 v. Chr., dass man pathêmata nicht länger als Widerfahrnisse interpretiert, sondern so, als würden sie »von der Seele selbst produziert«. Bis dahin gilt (teilweise bis heute) eher die Auffassung der Affekte als Ekstasen: »Wir sind aus uns herausversetzt und von dem hingerissen, was uns in diesen ›Affekten‹ betrifft und seiner Gewalt unterwirft.«10 Diese raumumgreifende Mächtigkeit von Gefühlen hat ihre Resonanzen nicht im Gehege einer Seele, sondern unmittelbar im Thymos und im Phren, der Brust- und Zwerchfellgegend, die als Regungsherde und Resonanzzonen von den Gefühlen ergriffen, gepackt, umlagert, umhüllt, durchdrungen und in einen schwellenden, aufwallenden, gerinnenden, ziehenden oder pulsierenden Zustand versetzt werden. Dagegen wird schon in der Odyssee eine andere, langfristig wirksame Entwicklung eingeleitet. Gefühle werden in einer Sphäre personaler Selbständigkeit eingehegt, sie werden gewissermaßen zu Regungen der 1. Person Singular verwandelt, die am Ausdrucksverhalten abzulesen sind. Aus letzterem entsteht die »Semiotik der Gefühle« sowie eine »Semiotik des Körpers« (Herder11) – in Beobachtungsperspektive. Damit wird eine scharfe Trennung von Innen und Außen konstruiert, die auch ein Verhehlen und Beherrschen der Gefühle erlaubt.

neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, München: Piper 2014). 8

Picht, Georg: Kunst und Mythos, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 439.

9

Vgl. die Rehabilitation des pathos bei: Busch, Kathrin/Därmann, Iris (Hg.): »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: transcript 2007.

10 G. Picht: Kunst und Mythos, S. 440. 11 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit; In: Werke in X Bdn., hg. v. Martin Bollacher, Bd. VI., Frankfurt a.M. 1989 (zuerst 178491), S. 185.

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Die Introjektion der Gefühle ermöglicht die »personale Emanzipation vom Diktat der Erregungen.«12 Die von dieser Introjektion – der Verseelung der Gefühle – ausgehende philosophische Linie ist gut vereinbar mit modernen psychologischen und kognitionswissenschaftlichen Theorien der Gefühle, bei denen Motivation, Intentionalität, Urteilskraft und moralische Steuerung im Vordergrund stehen. Gefühle wurden in das transpositioniert, was Platon die Psyché nannte; sie wurden verinnerlicht. Erst durch Introjektion entsteht der Gefühlsinnenraum.13 Diese folgenreiche Transformation, die im Subjektgefüge den Wechsel von zentraler Ich-Schwäche zur personalen Selbstermächtigung vollzieht, begründet die Emanzipation personaler Identität.14 Gefühle werden zu (intentionalen) Momenten der Innenwelt eines Subjektes. So kann der Umgang mit den Gefühlen dem unterstellt werden, was Platon als dianoia auszeichnet: »eine innerhalb der Seele an sie selbst gerichtete Unterredung ohne Stimme« (Sophistes 263e: ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς αὑτὴν διάλογος ἄνευ φωνῆς). Nach der Auffassung, dass wir uns eingebettet in raumumgreifende Gefühlsmächte vorfinden, ist das Hinnehmen und Widerfahren-Lassen von Gefühlen, die womöglich dämonischen Charakter haben, die Regel. Dann aber, wenn Dianoia oder Phronesis, als die Kraft überlegter Selbststeuerung die Führung erhalten soll, werden die Gefühle und Triebe, ja das gesamte Feld der körperlichen Regungen komprehendiert. Sie werden in ›innere Objekte‹ verwandelt, die zwar noch empfunden, aber doch in ihrer Mächtigkeit deutlich begrenzt werden. Die Erwartung ist, dass diese Kultivierung des Leibes und der Gefühle zum Anstieg der Handlungsfähigkeit führt und damit zur Selbstermächtigung der aktiven, navigatorischen Ich-Fähigkeiten, wie sie Platon im Gleichnis vom Seelenwagen bebildert hat: Die Triebe, teils wilde, teils schon gezähmte Pferde vor dem Wagen, liefern die Antriebsenergie für den Wagenlenker, dessen Steuerung die Pferde folgen müssen (Phaidros 246a–257a). ›Lenkung durch Vernunft‹ ist das Ziel aller Aufklärung.

12 Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum; 2. Aufl., Bonn: Bouvier 1981, S. 19. 13 Zur Introjektionsthese vgl. Schmitz (wie Anm. 12) S. 6-20. Schmitz nennt dies auch den »Mythos der Introjektion«; doch ist die Introjektion »das wichtigste Ereignis in der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses [...], [das] sich in Europa im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert durchsetzt.« Diese Transformation ist nicht als »Übergang«, »nicht ein naturgemäßer Fortschritt der Enthüllung des Menschen vor sich selbst«, sondern als ein »Bruch« zu werten (ebd. S. 404-7). 14 Schmitz, Hermann: Leib und Seele in der abendländischen Philosophie. In: Philosophisches Jahrbuch 85 (1978), S. 221-241, hier: 224-28.

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Die selbstgesprächige Seele des Logistikon ist also emanzipiert gegenüber den Regungsherden, sie ist allein mit sich, ohne Abhängigkeit vom thymos, den sie überwinden und ablösen soll. Was sie denkt, ist einem Urteil unterworfen: Hier beginnt die Urteilstheorie der Gefühle. Der Dialog findet in einem exklusiven Bereich statt, der Seele, worin Sprecher, Angesprochener und Raum des Gesprächs dasselbe sind. Diese Reflexionsbühne, die zugleich Steuerzentrale und Kontrollinstanz ist, bildet die Person selbst, die sich aus der Sphäre der mächtig ergreifenden pathêmata zurückgezogen hat. Bei dieser philosophischen Achsendrehung werden die Gewichte zwischen dem Tun und Lassen verschoben. Auch eine Umwertung und Neukartierung des Körpers ist die Folge. Von den Sinnen sind nur Auge und Ohr aufgrund ihrer engeren Bindung an den Logos positiv bewertet, während Gustus, Olfactus und Tactus als die niederen Sinne abgewertet werden. Damit rückte auch der Mundraum weit aus der philosophischen Aufmerksamkeit. Das ›Edelste‹, was der Mund entließ, die Stimme (die Oral-Sprache), wurde durch den Übergang zur Schrift ebenfalls abgewertet oder erfuhr allenfalls wegen ihrer Benachbarung zum Logos (Wort, Sprache, Vernunft) einige Achtung. Die Logoshaftigkeit der Stimme wurde indes keineswegs als Leistung des Mundraums gewürdigt, sondern sie wurde dem Logos direkt zugeschlagen, der die Gliederung der strömenden Atemluft in bedeutungstragende Phoneme allein leistet. Immerhin aber behielt das Phonetische auf diesem Wege einige Wertschätzung, die indes keineswegs, wie Derrida annahm, einen abendländischen Phonozentrismus zu begründen kräftig genug ist. Bei Georg Picht heißt es: »Wenn aber die sogenannten Affekte Widerfahrnisse sind, kann man nicht sagen, dass der Mensch die Affekte ›hat‹, man muss dann sagen, dass er sie erleidet. Das bedeutet, dass der vermeintliche Innenraum der Seele in Wahrheit ein Bereich ist, in dem wir nach allen Seiten hin für die Umwelt offen und ihren Einwirkungen ausgesetzt sind. [...] Wir sind aus uns herausversetzt und von dem hingerissen, was uns in diesen ›Affekten‹ betrifft und seiner Gewalt unterwirft.«15

Das ältere griechische pathos ist nicht Affekt und nicht Emotion, wie diese unter neuzeitlichen Voraussetzungen verstanden werden. Das Pathische als Eigenart der Gefühle zu verstehen, steht, weil es eine durchlässige Ich-Struktur (homo apertus) voraussetzt, quer zu den Auffassungen des homo clausus, wie ihn Norbert Elias als zivilisatorischen Trend der europäischen Geschichte beschrie-

15 G. Picht: Kunst und Mythos, S. 440.

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ben hat.16 Sich abschließen zu können und damit auch undurchschaubar zu machen, wurde, etwa in den politischen Theorien (z.B. Macchiavelli) und Etikettenbüchern (z.B. Gracian), als Voraussetzung für den Gewinn und Erhalt von Handlungsmacht und damit der persönlichen Stellung in der Gesellschaft erachtet. – Damit sind wir nun ausgestattet, zum Mundraum und seinen Funktionen anthropologische Überlegungen anzustellen und auf die Bipolarität von Tun und Lassen zu beziehen.

3. M UND -G EBURTEN : ANTHROPOLOGIE

DES

O RALEN

Die zweite Geburt des Menschen, hieß es, erfolgt im und durch den Mundraum. Die erste Geburt wird, wie jeder weiß, durch die Trennung vom Mutterleib realisiert. Von der zweiten Geburt wird in dem Sinn gesprochen, dass durch den Erwerb kommunikativer Kompetenzen der werdende Mensch als interaktiv eingebettetes Lebewesen in Gemeinschaften sich behaupten lernen und Anerkennung finden muss, um überhaupt ein Subjekt zu sein. Der Beginn dieses Prozesses wird in die Individuations-Phase gesetzt, in der das Kleinkind beginnt, sich aus der Symbiose mit der Mutter zu lösen. In der Regel ist dies koevolutiv mit der Zunahme motorischer und manueller Fähigkeiten, mit der Ausdifferenzierung der oralen Triebdynamik, ferner mit erweiterten Sinnes- und Kognitionsleistungen sowie vor allem mit dem Spracherwerb verbunden. Entscheidend ist die gewonnene Fähigkeit zur Innen/Außen-Gliederung der Welt, die Grenzbehauptung zwischen der Ich-Sphäre und dem Objekt-Universum. Sehr viele dieser das Subjekt konstituierenden Leistungen finden ihre archaische Herkunft im Mundraum. Darum sprechen wir von der »zweiten Geburt«.17 Der Mundraum ist ein einzigartig polyfunktionales Organ-Ensemble des menschlichen Körpers. Seine Höhlung öffnet sich über Lippen und Mund in die Außenwelt und über den Schlund in die Innenwelt des Körpers. Dieser bidirektionale Transitraum ist für unser Weltverhältnis basal: Sowohl Prozesse der

16 So zuerst in Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., 3. Aufl., Tübingen: Francke 1969 [1939]. Vgl. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (zuerst 1985). Vgl. Dahlmanns, Claus: Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich, Münster: Waxmann 2008, S. 157165. 17 Zum folgenden vgl. H. Böhme/B. Slominski: Das Orale, S. 11-29, 61-68, 99-110, 125-138.

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Einkörperung und Verinnerlichung wie der Entäußerung und Verkörperung durch Mimik und Sprache werden hier grundgelegt. Der Mundraum bildet mithin die Kontaktgrenze von Körperinnenwelt und objekthafter Außenwelt. Mund, Zunge, Zähne, Kiefer und Mundhöhle bilden zusammen ein über Jahrmillionen entwickeltes biomechanisches Ensemble. Sie besorgen das erste Kapitel der Nutrition, die in der Ausscheidung endet. Weltstoffe müssen durch den Mund ins Innere, auf dass wir leben können. Damit beginnt der Vorgang der Verinnerlichung, durch die das Fremde, sofern es ›mundet‹, in Eigenes verwandelt und, sofern es fremd bleibt, wieder ausgeschieden wird. Der Mundraum ist der Zensor, der das Urteil darüber fällt, was man ›bei sich behält‹ oder ›ausstößt‹ – eine Dividierung, die der Verdauungskanal noch einmal vornimmt. Die Scheidung in ›gute‹ und ›böse‹ Objekte wird in der Nutrition vorbereitet. Hier, so darf man zuspitzen, beginnt die Politik der Assimilation und Dissimilation, der Inklusion und Exklusion. In beiden Direktionen sind die Anteile des Tuns und des Lassens in ständig wechselnden Verhältnissen vermischt. Für den Säugling in seinem ganz auf die Oralität konzentrierten Lebenswillen ist der Mund das erste Welterschließungsorgan. Die Nahrung wie auch die Dinge werden im Mund getestet. Das kleine Kind folgt noch ganz dem archaischen Antrieb, alles in den Mund zu nehmen, um so die Dinge mit Mund und Hand zu erkunden. Alles will belutscht, geschmeckt, beleckt, besaugt werden – eine fast noch symbiotische Enklave. Übergangsobjekte nehmen, nach Donald Winnicott, eine Brückenfunktion für die Überschreitung der Symbiose ein. Der Mundraum ist nicht nur die Vorkammer der Verdauung, sondern auch der Versuchsraum des Schmeckens und Kostens, der Lustraum gastrosophischer und sexueller Genüsse. Ferner ist die Mundhöhle, zusammen mit dem Stimmapparat, der Produktionsraum einer eigenen akustischen Welt des Schmatzens, Malmens, Schnalzens, Stöhnens, Knirschens, Knurrens, Jauchzens, Schreiens usw. Diese expressiven Laute oder Lautfolgen sind überwiegend unwillkürlich, entweder beiherspielende Geräusche (das Schmatzen) oder starke Gefühlseruptionen, die überwältigend nicht nur von der Stimme, sondern vom ganzen Körper Besitz ergreifen (das Jauchzen). Diese widerfahrenden Gefühlslaute des Mundes sind vielen Menschen peinlich. Sie gelten, gerade wegen ihres ungezügelten Charakters, als Verstoß gegen die Etikette. Man hat seine stimmlichen Expressionen zu kultivieren und zu steuern, etwa derart, dass man einer unaufdringlich frohen Mimik den Satz zufügt: Jetzt bin ich aber wirklich glücklich. Hingegen dürfen Torschützen oder Goldmedaillengewinner im Moment ihres Triumphes in aller Öffentlichkeit hemmungslos jauchzen (und machen damit dem partizipationssüchtigen Publikum sogar Freude). Das wäre nach gelungenem Vortrag auf einer Tagung beim

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anschließenden Come-Together degoutant und deplatziert. Hier werden die logosförmigen Sprechakte bevorzugt, die, auch wenn sie eine performative Qualität haben, doch stets die distanznehmende Vergegenständlichung von Affekten, Leibregungen oder Genüssen anzeigen. Man bemerkt an diesen Beispielen, dass in unserer Kultur im allgemeinen solche Akte, die einem widerfahren und darum eher dem Lassen zuzuordnen sind, stärker reglementiert werden müssen als etwa die geordnete, stimmlich gemäßigte Rede, die von vornherein ein selbstbeherrschtes, seine Handlungen aktiv kontrollierendes Subjekt zu erkennen gibt. Im Grenzfall ist der Verzicht auf das Lautwerden der Stimme, also das Schließen des Mundes und das Schweigen der Rede, nicht etwa ein Ausdruck des Lassens (wie beim überwältigten Sprachlos-Werden), sondern die Signatur einer besonderen Selbstbeherrschung, die das lose Mundwerk zu beherrschen und die Rede zu zügeln vermag. Damit haben wir die vielleicht großartigste Fähigkeit des Mundraums schon berührt, nämlich sein Vermögen, gegliederte und semantisch gehaltvolle Laute hervorzubringen, die von Partnern verstanden werden.18 Mit dieser kommunikationsbegründenden Leistung ist der Mundraum die Quelle eines evolutionsgeschichtlichen Sprungs (auch wenn er sich über Jahrhunderttausende hinzieht). Er bringt das Universum der menschlichen Sprache mitsamt ihrem medialen Träger, der Stimme, hervor. Damit zugleich wird die Welt der Musik eröffnet. Kein Zweifel: Der Mundraum, der zwischen Lebensvorgängen des Essens und Atmens und semantisch differenzierten Phonemen mühelos hin- und herwechselt, verrichtet eine unschätzbare Arbeit an der Kultivierung des Menschen. Ohne weiteres bewältigt er so entgegengesetzte Modi wie die des Einverleibens und der extrovertierenden Verkörperung von Bedeutungen (allerdings verbietet die Etikette, mit vollem Mund zu reden). Im Kontakt des Mundes mit Fremdobjekten bildet sich die Polarität von abstoßend und anziehend, von lustvoll und eklig, also die Grunddynamiken des ästhetischen Urteils – lange bevor das Menschenkind ›urteilen‹ kann; es agiert mit dem Mund Quasi-Urteile. Der Mund gibt die Grundform aller Ästhetik, den guten Geschmack her und das basale Medium aller Kommunikation, die Stimme. Diese evolutionäre Selbstkonstitution des Menschen steht seltsam im Schatten der Hand und des Hirns und erst recht des Geistes und der Seele. Dagegen zeigt sich, dass die somato-sensorischen Areale der kortikalen Repräsentation für die Hand und die Mundzone sich ungefähr entsprechen, während sie im Verhält-

18 Vgl. hierzu Trabant, Jürgen: Von der Hand in den Mund? Über den Zusammenhang von oraler Artikulation und Gebärde. In: H. Böhme/B. Slominski: Das Orale, S. 3342.

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nis zu den übrigen Körperteilen überproportional groß sind. Aristoteles hatte die Bedeutung der Hand für den Menschen und sein technisches Können herausgestrichen, wenn er schreibt: »[...] und die Hand scheint nicht ein Werkzeug zu sein, sondern mehrere: denn sie ist wie das Werkzeug für Werkzeuge« (Aristoteles: De partibus animalium IV, 687 a 19 ff: ἔστι γὰρ ὡσπερεὶ ὄργανον πρὸ ὀργάνων). Diese anthropologische Hochschätzung der Hand für die Selbstkonstitution des Menschen hat eine starke Tradition, während – im fiktiven Paragone der Organe – der weitaus komplexere Mundraum deutlich unterschätzt wurde. Dies liegt nicht zuletzt an der Bevorzugung des aktiven Handlungsmodus der Hand, während der Mund mit den drei unteren Sinnen viel stärker auch passive Momente beherbergt. Und selbst wenn der Mund als Produzent der Lautsprache agiert und in der Mund-Ohr-Koppelung den aktiven Part innehat, so wird dies von der Hand gekontert, welche die Sprache als Schrift und die Visualität als Bild erobert. Die Allianz von Schreib- und Malhand und Auge erfährt in unserer Kultur eine ungleich höhere Achtung als die von Mundwerk und Ohr (nur im Gesang ist dies anders). Es ist jedoch an der Zeit, die fundierende Bedeutung des oralen Ensembles in die historische Anthropologie aufzunehmen – ähnlich wie dies Didier Anzieu hinsichtlich des Haut-Ich getan hat.19 Auch für den körperlichen wie kulturellen Erwerb der Aggression nehmen das Orale und besonders die Zähne eine Leitfunktion ein. Die diffus im Körper aufsteigenden Aggressionsimpulse finden ein ursprüngliches Handlungsformat im Zuschnappen, Zubeißen, Zerkleinern, Zermalmen, kurz: in der Annihilation des Objekts. Der orale Aggressionsmodus hängt mit der Objektbeziehung in der Nahrungsaufnahme zusammen, bei der das lebenserhaltende Objekt vernichtet werden muss. Umgekehrt hat sich in die Imaginationsgeschichte der Menschheit eingegraben, dass man selbst zum Objekt der dentalen Zermalmung werden kann – und zwar nicht nur im Jahrhunderttausende langen Kampf mit den Großraubtieren, sondern auch in der innerartlichen Konkurrenz. Das KannibalismusPhantasma ebenso wie das »Gott-Essen«-Ritual20 sind wirkmächtige Figurationen des Oralen in der Imaginations- und Religionsgeschichte. Es gehört zum latenten Wissen eines jeden von uns, dass unsere Zähne das Aggressivste und Kraftvollste an uns sind. Zwischen die Zähne eines anderen, sei’s Mensch, Löwe oder Drache, zu geraten, ist die entsetzlichste Phantasie überhaupt. Sie zieht ihre Spur von den ältesten Monster-Legenden bis zu den Fantasy-Filmen. Der Gewalt in den Zähnen entspricht die abgründige Angst vorm Gefressenwerden. Der oral beseligende Strom der Milch ist das erste Nir-

19 Anzieu, Didier: Das Haut-Ich. 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 (zuerst 1985). 20 Kott, Jan: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien, München: Piper 1991.

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wana, die oralsadistische Zermalmung ist die erste Hölle. So hat die Psychoanalyse, namentlich Melanie Klein (1933/71), gezeigt, dass schon der Säugling von einer quälend hilflosen Wut erfüllt sein kann; er möchte unbewusst den Körper der Mutter zermalmen. Gut ist es, wenn die Mutter diese Gefühle aufnehmen und ›entgiften‹ kann, wie Wilfred R. Bion (1992, 1997) sagt.21 Sind beide in einem positiv empathischen Gleichgewicht, etwa nach lustvoller Stillung, teilen sie den Ausdruck beseligter Ruhe. Beide aber, destruktive Wut wie satte Seligkeit, entstammen dem Mund. Der Oralsadismus ist stammesgeschichtlich wie psychogenetisch ein Erbe, das im Interesse des Zusammenlebens, also der Kultur, kanalisiert, sublimiert, gezähmt, beherrscht werden muss. Nach Elias Canetti (in »Masse und Macht«, 1966)22 kommt dem bezahnten Mund sowie seinen Praktiken eine weite kulturgeschichtliche Dimension zu, die bis in die Ur- und Frühgeschichte zurückreicht. Canetti bringt über die Physiologie der Zähne hinaus jene historischen Semantiken zur Geltung, welche sich vom Mythos bis zu den Redewendungen der Sprache um das Zahnwerk entwickelt haben. Wir dürfen trotz der Verwissenschaftlichung des Dentalen davon ausgehen, dass auch heute noch die Zähne für das kulturelle Selbstverhältnis des Menschen konstitutiv sind. In signifikanter Weise bestimmen die Zähne die aggressiven Dynamiken und die seriellen Ordnungen der Macht mit. Sie bilden (zusammen mit der Hand) den Pol des aktiven Tuns. Zähne sind niemals nur Zähne, sondern stellen komplexe kulturelle und psychologische Figurationen dar. Und der Mundraum ist nicht nur Quelle von Zeichen, den phonetischen Lauten und physiognomischen Ausdrücken, sondern er ist selbst in der langen Geschichte der Hominisation zu einem semiotisierten Raum geworden, der voller unsichtbarer Codes und empfindlicher Bedeutungen steckt, die sich in ihm inkarniert haben. Canetti entwickelt die Macht als Digestion. Sie beginnt mit Belauern und Zupacken, verläuft über dentale Zermalmung bis hin zur Verdauung und Ausscheidung. Diesem Prozess aber ist die Mundgreiflichkeit der Macht eingelagert, wie ich es parallel zur Handgreiflichkeit nennen möchte. Macht ist die potestas, ein Objekt auch gegen seinen Willen ergreifen zu können. Schon die tastende Berührung ist »Vorbote des Schmeckens«. Die er-

21 Vgl. Klein, Melanie: Die Psychoanalyse des Kindes, München und Basel: Ernst Reinhardt Verlag 1971 (zuerst 1933). – Bion, Wilfred R.: Elemente der Psychoanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. – Ders.: Transformationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 22 Canetti, Elias: Masse und Macht; Frankfurt a.M.: Fischer 1966 (das Kapitel »Die Eingeweide der Macht«).

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greifende Hand ist der »Vor-Raum des Mauls und des Magens«.23 Oft ist bei Tieren die Kralle oder Tatze ersetzt durch das »bewaffnete Maul, das die Ergreifung besorgt«. Schon bei Säuglingen kann man beobachten, dass der Bemächtigungsantrieb sich nicht im manuellen Ergreifen erschöpft, sondern stets seinen Terminus im Mund findet: Alles wandert an oder in den Mund. Auf dieser frühen phylo- und ontogenetischen Ebene erweist sich Macht als die Verringerung oder gar Vernichtung der Distanz, die ein Körper im Verhältnis zu einem anderen einnimmt. Canetti zeigt, dass die Folge von Ergreifen, Pressen, Zerquetschen, Zerfleischen, Verschlingen die Logik der Macht bestimmt. Besonders das Zerquetschen gilt, buchstäblich wie metaphorisch, verachteten Objekten. Was man zerquetscht, ist in »das Reich der Menschlichkeit nie einbezogen«.24 Hier, bei zermalmenden Zähnen, ist der Raum der Distanz auf Null geschrumpft. Bei gewaltsamer Distanzlosigkeit – dort also, wo potestas in violentia umschlägt – brechen physische wie soziale Identitäten zusammen, so wie umgekehrt bei zwanghafter Distanzierung Entfremdung und Einsamkeit zunehmen. So ist für alle Formen von Sozialität der mittlere, wechselseitig anerkannte und gewahrte Abstand konstitutiv. Mehr als alle anderen ist der Mächtige, besonders der Souverän, durch Abstand charakterisiert. »Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne. Die Reihe, in der sie angeordnet sind, ihre leuchtende Kette, sind mit nichts anderem, was sonst zu einem Körper gehört und an ihm in Aktion gesehen wird, zu vergleichen. Man möchte sie als die erste Ordnung überhaupt bezeichnen [...]; eine Ordnung, die als Drohung nach außen wirkt, nicht immer sichtbar, aber immer sichtbar, wenn der Mund sich öffnet, und das ist sehr oft. Das Material der Zähne ist verschieden von den übrigen augenfälligen Bestandteilen des Körpers [...] Sie sind glatt, sie sind hart, sie geben nicht nach; man kann sie zusammenpressen, ohne dass ihr Volumen sich verändert; sie wirken wie eingesetzte und wohl polierte Steine.«25

An der Glätte, der Reihenanordnung und der Bedrohlichkeit der Zähne entdeckt Canetti die primordialen Merkmale der Macht.

23 E. Canetti: Masse und Macht, S. 225. 24 Ebd., S. 226. 25 Ebd., S. 228/9.

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»Glätte und Ordnung, als Manifest der Eigenschaften der Zähne, sind in das Wesen der Macht überhaupt eingegangen. Sie sind unzertrennlich von ihr und in jeder Form der Macht das erste, das sich feststellen lässt«.26

Die Reihengliederung der Zähne bietet das Modell der Serie, der Regularität überhaupt, wie sie etwa beim Militär, aber auch in der Verwaltung, in jeder straffen Organisation aufzufinden sind. Zähne sind das werkzeughafte Vorbild für jene Reihenordnungen, welche in Institutionen verkörpert und in Buchstaben und Zahlen interpretierbar und berechenbar gemacht werden. Dies sind kühne Analogien zwischen den Zähnen und der Ordnung der Gesellschaft. Canetti behauptet nichts weniger, als dass Ordnungen gleichsam aus den Zähnen hervorgehen, oder wenigstens, dass ihre Funktionen, ihre Anordnung, ihr Aussehen und ihre Qualitäten für viele soziale Figurationen vorbildlich waren. Um dies zu plausibilisieren, weist Canetti auf die Mittelstellung der Zähne zwischen Organ und Werkzeug hin. Diese ›Brückenfunktion‹ der Zähne macht sie tauglich, als Modell des Werkzeuggebrauchs zu dienen, der aber noch tief in magischen Vorstellungen eingelassen ist. Zähne dienen als Instrumente (›Zähne als dritte Hand‹ nennen es Paläoanthropologen), aber sie fungieren gleichzeitig auch als magische Zeichen. Sie sind der symbolische Pol der Handlungsmacht. Auf der Werkzeug- und Waffentechnik beruht die Zivilisation des toolmaking animal, des ›bis an die Zähne bewaffneten‹ Menschen, der ›Haare auf den Zähnen‹ hat.27 Als Drohgebärde werden Zähne gefletscht; militärisch objektiviert entfalten sie sich als Zangen-Angriff, der den Gegner packt und zermalmt. Das ist ein kultureller Grund-Akt; denn eine Kultur, die an Zähnen ihr Modell nimmt, beruht auf der Macht und der Aggression, die im dentalen Zupacken konzentriert sind. Das heißt aber auch, dass von den Zähnen der Schrecken der Macht ausgeht. Wir wollen damit die poetischen Studien Canettis zu den Zähnen verlassen. Wir erkennen, dass man durch die Methode einer Wissenspoetik, wie sie Canetti entfaltet, zu einer starken metaphorischen Verdichtung der dentalen Aktivitäten, aber auch zur Generalisierung einer dental zentrierten Dynamik der Macht gelangt, die erst durch die Metaphorik ermöglicht ist. Beides ist für die Ausarbeitung einer Anthropologie des Tuns aufschlussreich. Es sagt viel über uns, wenn wir verstehen, dass unsere aus aggressiven Impulsen hervorgehende Handlungs-

26 E. Canetti: Masse und Macht, S. 229. 27 Zur historischen Semantik der Zähne vgl. H. Böhme/B. Slominski: Das Orale, S. 6168.

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potenz ihren – vielleicht primitiv zu nennenden – Ursprung im Dentalraum findet. Canetti entdeckt auf diesem Wege, dass der Politik der Macht eine archaische oral-aggressive Dynamik eingeschrieben ist. Und anthropologisch gibt er zu bedenken, dass die Polarität von Tun und Lassen, aber auch die Dualität von operativen Techniken einen ganz anderen Entstehungsraum haben als in der Hand oder den Seelenregungen: nämlich in der Mundhöhle.

4. M UNDHÖHLEN -P OETIK Man darf also sagen, dass im Mundraum das Subjekt geboren wird. Sieht man näher zu, so wird diese These auch von Psychoanalytiker_innen wie Linguist_innen nahegelegt. Gewiss gibt es seit der Antike bis heute eine Anthropologie, die aus dem »aufrechten Gang«28 hergeleitet wird. Sie ist, ebenso wie die These vom Haut-Ich, immerhin eine Gegenposition zu jenen Ansätzen, welche alles, was wir sind und können, als Projektionen und Objektivationen des Gehirns darstellen. Beides ist nicht neu. Es geht mir auch nicht darum, mit der Theorie des Oralen eine Drehung mehr im Paragone um die Königsposition der Organe einzuleiten. Aber es geht schon darum, die im Körperselbstgefühl stets präsente Mundhöhle mit ihrer strukturellen und funktionalen Einzigkeit in den anthropologischen Diskurs zu integrieren. Die orale, geschmackliche wie taktile Selbstwahrnehmung, die elementare Disjunktion von Innen und Außen, die primäre Rhythmisierung der Triebwelt in Hunger und Sättigung, die orale Libido und die dentale Aggression sowie schließlich die Sprachbildung, durch die allererst semiotische Vergegenständlichung und kommunikative Teilhabe möglich werden – sie alle haben eine absolut erstrangige Bedeutung für die Ontogenese des Individuums und die historische Ausdifferenzierung der Gattung Mensch. Der Mund wird dabei als einzigartiger Schwellenraum von Außen und Innen, als Ein- und Ausgangsraum, als Transit vielfältigen, materialen, phonetischen und symbolischen Verkehrs erkennbar. Man muss weiter gehen: Der kultivierte Mensch ist fundiert in uralten physiologischen Evolutionen des Mundraums, in einer Zeitentiefe, die von fast allen Wissenschaften als das ›primitive Zeitalter‹ angesehen wird. Anthropologische Mundforschung ist eine Art Speläologie, eine Höhlenforschung, eine Expedition in eine spelunca. Die Expeditionen ins MenschenInnere sind immer Erkundungsreisen in unterirdische Reiche, Höhlen und

28 Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München: C.H. Beck 2012. Der Mundraum kommt hier nicht vor.

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Cavernen, aus denen wir kommen und die phantastische Figurationen unserer selbst enthalten. Davon erzählt der einzige Mundhöhlen-Roman, den wir kennen, »Die Spange« (2006) von Michel Mettler.29 Mundwissenschaft ist der Ursprung allen Wissens, heißt es im Roman: eine schöne Intuition. Mettler spricht von einer »Expedition in ein abgedunkeltes Gebiet«. Die Mundhöhle ist ein fremdes Territorium und ein Territorium des Fremden, genauso wie das Weltall oder die außereuropäischen Kulturen für Expeditionsreisende im 17. Jahrhundert. Man erinnere sich an den Buchtitel Expeditionen in den dunklen Kontinent von Christa Rohde-Dachsner (1991)30; hier handelt es sich um Reisen in den dark continent des Weiblichen (Freud). Die Psychoanalyse, davon war Freud überzeugt, ist immer auch die Expedition in eine fremdkulturelle terra incognita. So ist die Mundhöhle in Mettlers Roman vieles zugleich: der Raum einer wissenschaftlichen Exploration; die Sphäre eines grandiosen Phantasmas; eine archaische Höhle, in die der Protagonist, der ausgerechnet Anton Windl heißt, regrediert, in die Tiefenschichten der eigenen Existenz und der Menschheitsgeschichte. Schon Romantiker, wie Novalis, Hoffmann oder Tieck, verwandelten die subterrane Erd-Innenwelt in eine Topographie des Unbewussten.31 Man steigt in das eigene Innere wie in Schacht und Stollen und begegnet einer unentdeckten Welt, neu und uralt, befremdlich und vertraut. Wir dürfen auch an Platons Höhlengleichnis denken (Politeia 514a–515b): Die Mundhöhle Anton Windls wird zum projektiven Theater der Illusionen. Man erinnere ferner das Diktum von Novalis: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? [...] – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.«32 »Nach Innen«: Das heißt im Inneren des Subjekts liegen die Relikte noch so ferner Kulturen und Zeiten. In Mettlers poetischer Mundwissenschaft wird die Höhlen-Metapher in den Formen ausfabuliert, die in der Mo-

29 Mettler, Michel: Die Spange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. 30 Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin u.a.: Springer 1992. 31 Böhme, Hartmut: Romantische Adolenzkrisen. Zur Psychodynamik der VenuskultNovellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. In: Text & Kontext, Sonderreihe Bd. 10: Literatur und Psychoanalyse, Kopenhagen/München 1981, S. 133-176. – Ders.: »Geheime Macht im Schoß der Erde«. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie. In: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 67-144. 32 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. II, München/Wien: Hanser 1978, S. 233 (= Blüthenstaub-Fragment Nr. 16).

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derne einzig möglich sind: als poetische Phantasie oder als psychopathologische Symptomatik. Mettler hat in der Mundhöhle eine überraschend reiche wie auch amüsante kulturelle Semantik und zeitliche Tiefenschicht entdeckt. Nur kurz erinnere ich an Hans Blumenbergs Werk »Höhlenausgänge« von 1989.33 Blumenberg benutzt als Motto den Tagebucheintrag Kafkas vom 24. Januar 1922: »Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.«34 Ungeborenes, oder nicht zu Ende geborenes Leben: Das ist ein Leben in der Geburtshöhle, der Inbegriff der Höhlenexistenz überhaupt. Der Protagonist in Mettlers Roman ist solch ein Höhlenbewohner, der sich eine künstliche Höhle schafft und seinen Mundraum zum Schoß sonderbar kunstvoller Gebilde verwandelt. Der Mensch, so Blumenberg, kommt aus den Höhlen, sie sind sein umhüllender Schutzraum und zugleich der primitive Ausgangsraum des Lebens, aus dem die Geschichte herausstrebt, um ein Leben im Licht der (Erd-)Oberfläche zu führen. Höhlen sind der geschichtslose Grund des Geschichtlichen. Man denke daran, dass schon der Prometheus des Aischylos die Menschheit aus ihrem Höhlendasein befreit, indem er ihnen Kulturtechniken vermittelt. Die gelichtete Erdoberfläche aber kann, so Blumenberg, im Fortgang der Zivilisation zerstört werden, so dass am Ende der Geschichte wieder die Rückkehr in die Höhlen stehen könnte: der Primitivismus des Anfangs. Ähnlich kollabiert bei Anton Windl die Oberfläche des Lebens und er kehrt in die Höhle zurück, die Mundhöhle seiner primären Lebendigkeit. Diese Höhle aber ist nunmehr erfüllt mit Semantiken und Artefakten der Kulturgeschichte. Blumenberg liefert eine Anthropogenese auf Grundlage der Höhlen-Metapher. Mettler zeigt die Umkehrung: die Regression zu einem Höhlenbewohner, der indes kein moderner »Walden; or, Life in the Woods« ist (Henry David Thoreau, 1854), sondern ein Fall für Medizin und Psychoanalyse. Das Archaische und Fremde ist nicht das Gesunde, sondern gerade das Kranke. Der Expeditionsraum zur Erkundung des modernen Primitiven sind nicht länger Südsee und Urwald, sondern der Körper und die Seele des Stadtmenschen. Daraus ist die historische Anthropologie zu entwickeln.

33 Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. 34 Kafka, Franz: Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley, in: ders.: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 888.

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5. S TRUKTURGITTER Zum Abschluss fasse ich die Ergebnisse in einem Strukturgitter zusammen, das die Systematik anzeigt, in welcher sich eine historisch-anthropologische Mundforschung (die es noch nicht gibt) einfügen könnte. Tabelle 1: Analyseebenen des Oralen I Systemebene

Metabolismus I

Metabolismus II

Atmung

Nutrition/Gustus/ Gastrosophie

Aktivitäten/Sensorien

atmen, hecheln, schnaufen, keuchen, hyperventilieren, therapeutisches Atmen...

riechen, schmecken, einspeicheln, kauen, zermalmen, schlucken, würgen, übergeben...

Praxistypen

Kulturen/Therapien des Atmens

Ernährungsstile, Esskulturen, Etiketten

Affekttypen

Engung/Weitung Rhythmus Angst/Befreiung

appetitive Begleitaffekte zwischen Genuss und Ekel: freuen, gieren, ekeln, abwehren, (sich) unterhalten, sich enthalten...

Scheitern und Störungen/Krankheiten

Ersticken Apnoe, Tabakkonsum, Atemwegserkrankungen

Verhungern Anorexie, Bulimie

Exteriorisierung vs. Interiorisierung

Innen-Außen-Rhythmus

a. Von Außen nach Innen b. Attraktion vs. Repulsion

Physiologische Kooperationen, Ensembles

Mund-Nasen-Raum, Lungen/Zwerchfell/ Bauchraum

Gustus – Tactus – Olfactus. Nase, Zähne, Zunge, Schlund, Magen, Darm

Funktionsebene

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Tabelle 2: Analyseebenen des Oralen II Systemebene

Kommunikation I

Kommunikation II

Funktionsebene

Semiotik I: Sprache

Semiotik II: Mimik, Gestik, Physiognomik, Pathognomik

Aktivitäten/Sensorien

sprechen, schreien, tönen, singen, flüstern, stottern, tuscheln,...

grimassieren, fletschen, stöhnen, lächeln, zannen, jauchzen, brüllen, knirschen,...

Praxistypen

Sprach/Sprechkulturen, performative Sprechakte

Histrionische Dimension: Expressionen Verkörperungen Performativität

Affekttypen

Freude vs. Frustration, sich vertraut vs. sich fremd fühlen, verbunden vs. isoliert

Wut, Schrecken, Angst, Strenge, Sympathie, Sehnsucht, Hingabe, Freude, Verführung...

Scheitern und Störungen/Krankheiten

nicht verstehen, nicht sagen können, schweigen Stottern, Aphasie, Autismus, kommunikative Störungen

Ausdrucksleere, Starre, Maskenhaftigkeit ›Unlesbarkeit‹, mimisches ›Rauschen‹

Exteriorisierung vs. Interiorisierung

Von Innen nach Außen [korrespondierend: Rezeption durch Ohr]

Von Innen nach Außen [korrespondierend: Rezeption durch Auge]

Physiologische Kooperationen, Ensembles

Zunge, Zähne, Lippen, Mundraum, Stimmapparat, Atmungsorgane

Zunge, Zähne, Lippen, Gesicht, Hände, Leib

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Tabelle 3: Analyseebenen des Oralen III Systemebene

Triebdynamik I

Triebdynamik II

Funktionsebene

Orale Libido/orale Lüste

Orale Aggressivität – Traumatisierung

Aktivitäten/Sensorien

lutschen, saugen, küssen, schmecken, züngeln

mit den Zähnen packen, zubeißen, zermalmen, verschlingen, vernichten, (zer)knirschen

Praxistypen

Objektbesetzung nach dem Typus ANLEHNUNG und VERSCHMELZUNG; ohne Reziprozität; narzisstische Beziehungen; Subjekt-ObjektDiffusion: Immersion, Entgrenzung, Fetischismus: Ich bin klein, aber ein Teil von Dir

Objektbemächtigung nach den Typen der MACHT: ohne Reziprozität, destruktive Beziehungen; SubjektObjekt-Vernichtung: Vampirismus, Zerstückelung, Folter; Ich bin groß und Du bist ein Teil von mir

Affekttypen

Sehnsucht nach Verschmelzung mit Objekt: ozeanische Gefühle, flow-Erlebnisse, Paradies, Grandiosität, AllEinheit...

Begehren nach Erniedrigung des Objekts: Verachtung, Terror, Hass, Schmerz, Triumph, Qual... Sadismus, S/MKonstellationen

Scheitern Störungen/Krankheiten

Größen-Ich, Narzisstischer Mangel, Regression, Unerreichbarkeit, Verlassenheit. Narzisstische Neurose

Ohnmacht, ›Leere‹, Einsamkeit, Bruxismus, Perversionen, Anankasmus, Persekutive Paranoia

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Exteriorisierung vs Interiorisierung

Von Innen nach Außen + von Außen nach Innen. Projektive Identifikation

Von Innen nach Außen + von Außen nach Innen. Projektive Identifikation

Physiologische KooperaBeteiligung weiterer tionen, Ensembles ›Leibinseln‹, bes. Hände und Haut

Evtl. muskulärer Apparat, Hände

Erläuterungen Diagramme sollen vereinfachen, Überblicke verschaffen, Einsichten befördern. Oft tun sie das Gegenteil. Der Mundraum initialisiert drei fundamentale Achsen der Reproduktion: den Metabolismus in den zwei Modi von Atmen und Essen/Trinken; die Kommunikation auf lautsprachlicher und averbal-fazialer Ebene; die Triebdynamik in begehrender und aggressiver Ausrichtung. Letztere Ebene ist für die ersten beiden grundlegend: Ohne oralen drive keine den Stoffwechsel einleitenden Akte und keine Motive zu interaktiver Verständigung, die auf sprachlicher und mimischer Artikulation beruht. ›Trieb‹ ist hier weit gefasst: von instinktiven Antrieben und Reflexen (was Freud primäre ›Bedürfnisse‹ nennt) über psychosomatische Triebe (Begehren, Libido) bis zu kulturell ausdifferenzierten Motiven, Strebungen, Sehnsüchten, Intentionen, Wille. Der zwingende Charakter biologischer Programmierung nimmt auf diesen drei Stufen ab, was der kulturgeprägten Sozialisation überhaupt erst Chancen für Eingriffe und sekundäre Prägungen einräumt. Umgekehrt kommen Aktivitäten, die nur und allein von Instinkt und biologischem Bedürfnis beherrscht sind, nur noch in extremen Randlagen von physischer Not, totaler Entsublimierung und Regression vor. Die drei Grundformen der Triebdynamik sind hinsichtlich der hierbei typischen Verflechtungen von soziobiologischen und kulturellen Prägungen in jedem Einzelfall von Verhalten sorgfältig zu analysieren. Diese Verflechtung von biologischer Determination und kultureller Offenheit entspricht den von Helmuth Plessner beschriebenen drei, durchaus paradoxen Strukturmerkmalen des Menschen: exzentrische Positionalität, vermittelte Unmittelbarkeit, natürliche Künstlichkeit. Sie finden sich auf allen drei Systemebenen und den sechs Funktionsebenen des Oralen – der Triebdynamik, dem Metabolismus und der Kommunikation – wieder. Ein entscheidendes Strukturmerkmal von oralen Aktivitäten sind die räumlichen Direktionen. Sie ordnen die exteriorisierenden und interiorisierenden Akti-

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vitäten. Die Bi-Direktionalität ist im Vergleich zu Augen, Ohr und Haut etwas Eigentümliches und hat zur Folge, dass nur die oralen Aktivitäten sowohl den Pol des Tuns wie den des Lassens, sowohl aktive wie passive Momente, sowohl verinnerlichende wie entäußernde Handlungsformen aufweisen.35 Doch auch diese polare Skalierung von Mundraum-Aktivitäten ist hinsichtlich der wechselseitigen Durchdringung von biologischen und kulturellen Prägungen in jedem Einzelfall sorgfältig zu analysieren, wie wir am Beispiel des Küssens schon sahen. Hier hatten wir jedoch biologisch mitspielende Hintergrundsfaktoren wie hormonelle Ausschüttungen, Mund-zu-Mund-Speisung, Küssen als Derivat des social grooming oder als erotische Sublimation des Beißen-, Fressen- oder Aussaugen-Wollens noch nicht berücksichtigt, was bei einer naturwissenschaftlichen, sprich philematologischen Kuss-Forschung notwendig wäre. In jedem Fall ist die Organisation von Aktions-Typen nach den beiden Grundrichtungen der Interiorisierung und Exteriorisierung fundamental für jede Theorie der Kultur. Ferner sollen die Diagramme deutlich machen, dass den wahrlich mannigfaltigen Aktivitätsformen des Oralen unausweichlich eine Ebene begleitender sensorischer Reizungen und Gefühle entspricht. Ja, man könnte sagen, dass aus den lebensgeschichtlich frühesten oralen Aktivierungen überhaupt erst der mundus sensibilis und der mundus affectationis sich aufzubauen beginnen, also die sensitive und die gefühlsmäßige Welt. Ferner kann man sagen, dass auf die oralen Aktivitäten sich ganze kulturelle Universen setzen, also etwa die hochbedeutsame und weltweit zu regionalen Eigentümlichkeiten ausdifferenzierte Ess-Kultur, das reiche Feld der Sprachen und der Kommunikationsstile, die kulturell wie lebensgeschichtlich eigentümlich ausgeprägten Formen der oral libidinösen und oral aggressiven Antriebe. Nahezu alle oralen Aktivitäten weisen aufgrund ihrer bipolaren Organisation eine durchschnittliche Mittelzone auf, die man die Normalform nennen darf, die von einer mehr oder weniger großen Zahl von alltäglichen bis pathologischen Störungen bzw. Krankheiten gerahmt werden. Ganz besonders wichtig, aber in einem Diagramm schwer zu fassen, sind die Objektbeziehungsformen, die von den beiden Achsen der oralen Triebdynamik gebildet werden. Problematisch ist das Diagramm deswegen, weil die kulturelle Vielfalt von oral fundierten Beziehungen, die wir zu Objekten aufnehmen und

35 Bidirektionale Fähigkeiten weist allerdings auch der Hautsinn aus, insofern jede Objekt-Wahrnehmung auch eine Selbst-Wahrnehmung auslöst. Die Porosität der Haut kennt Bewegungen nach außen, etwa im Schwitzen, wie nach innen (z.B. Wärmeleitung). Vgl. Benthien, Claudia: Haut: Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999.

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unterhalten, nicht schematisch zu fassen ist. Die immer wieder festgestellte Doppelmatrix ist deswegen so wichtig, weil sie – nach dem Gesetz der Erhaltung psychischer Energien wie auch ihrer lebenslangen und in der kulturellen longue durée unabschließbaren Transformation – von individuellen Dispositionen (z.B. orale Abhängigkeiten, die zu Ess-Störungen führen; Ausbildung sadomasochistischer Dynamiken, Volkskrankheit Zähneknirschen) bis zu kulturellen Übersetzungen (z.B. die langwellige Konjunktur des Vampirismus) und politischen Figurationen reichen (projektive Identifikationen im Führer-Staat, kollektive paranoide Abwehrdynamiken oder Vernichtungswünsche). Hier sind noch viele historische Untersuchungen und Fallanalysen in durchaus interdisziplinärer Ausrichtung nötig, um die vorgestellten Diagramme mit Leben zu füllen und gegebenenfalls weiter zu entwickeln. In jedem Fall belehrt der Mundraum darüber, dass die für die Anthropologie der Handlung grundlegende Unterscheidung von Tun und Lassen ihre erste Formatierung durch die aktiven und passiven, motorischen und sensorischen Aktivitäten des Mundes erfährt. »Der Urgrund aber ist das Wasser«, meinte Thales. Der Urgrund unserer physischen und sozialen Existenz aber ist der Mundraum. Wenn in dieser Weise von Anthropologie gesprochen wird, so ist damit sowohl eine strukturale (in Teilen überhistorische) wie auch eine historische Anthropologie gemeint. Sie ist gewiss nicht durch die multiplen Aktivitäten des Mundraums erschöpft. So werden z.B. die Richtungsräumlichkeit (z.B. oben/unten; rechts/links; vorne/hinten) und damit auch die kinetische Erschließung des Raums (durch den aufrechten Gang) durch völlig andere Unterscheidungen und Leistungen gebildet als diejenigen des Mundraums. Menschenbildung kann nicht auf einen mythischen oder historischen Ursprung, aber auch nicht auf eine privilegierte Körperzone oder Leistung reduziert werden, sondern es handelt sich um einen komplexen Multi-Level-Selektionsprozess, der ebenso biologisch programmiert wie kulturgeschichtlich transformiert wird. Allerdings aber werden bestimmte Differenzierungen wie z.B. die von Innen und Außen, von Tun und Lassen, von Angenehm und Widrig, von Libido und Aggression zuerst ›im‹ Munde gelernt. Diese oralen Matrixen prägen sich dann späteren Entwicklungsstufen auf, ohne die Offenheit der Bildungsprozesse und die Ausdifferenzierung der uns charakterisierenden Leistungs-, Empfindungs- und Erkenntnisniveaus zu determinieren.

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L ITERATUR Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, 2. Aufl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 [1985]. Bayertz, Kurt: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München: C.H. Beck 2012. Benthien, Claudia: Haut: Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Bion, Wilfred R.: Elemente der Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992. Bion, Wilfred R.: Transformationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Böhme, Hartmut & Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, München: Fink 2013. Böhme, Hartmut: »Geheime Macht im Schoß der Erde«. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie. In: ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 67-144. Böhme, Hartmut: Romantische Adolenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. In: Text & Kontext, Sonderreihe Bd. 10: Literatur und Psychoanalyse, Kopenhagen/München 1981, S. 133-176. Busch, Kathrin; Därmann, Iris (Hg.): »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld: Transcript 2007. Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1966. Dahlmanns, Claus: Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich, Münster: Waxmann 2008. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 [1985]. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., 3. Aufl.: Francke 1969 [1939]. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Ders.: Studienausgabe Bd. IX; 5. Aufl. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1989, S. 193–270. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit, in: Ders.: Werke in X Bdn., hg. v. Martin Bollacher u.a., Bd. VI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Kafka, Franz: Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley, in: Ders.: Schriften Tagebücher. Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2002.

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Klein, Melanie: Die Psychoanalyse des Kindes, 2. Aufl. München: Kindler 1971 [1933]. Kott, Jan: Gott-Essen. Interpretationen griechischer Tragödien, München: Piper 1991. Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, 9. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Mettler, Michel: Die Spange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Metzinger, Thomas: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, München: Piper 2014. Montandon, Alain: Der Kuß. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin: Wagenbach 2006. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe in 2 Bdn, hg. v. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München und Wien: Hanser 1978. Picht, Georg: Kunst und Mythos, Stuttgart: Klett-Cotta 1990. Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin: Springer 1992. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Bd. III/2: Der Gefühlsraum, 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1981. Schmitz, Hermann: Leib und Seele in der abendländischen Philosophie. In: Philosophisches Jahrbuch 85 (1978), S. 221-241. Jürgen Trabant: Von der Hand in den Mund? Über den Zusammenhang von oraler Artikulation und Gebärde. In: Böhme, Hartmut & Slominski, Beate (Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, München: Fink 2013, S. 33-42.

Autor_innen

Böhme, Hartmut, 1977-92 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Hamburg; 1993-2012 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin; Gastprofessuren in den USA, in Italien und Japan; fellowships in Wien, Weimar und Essen; 2005-2012 Sprecher des SFB „Transformationen der Antike“; Träger des Meyer-StruckmannPreises 2006 und des Hans-Kilian-Preises 2011. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kulturgeschichte seit der Antike; Kulturtheorien; Literaturgeschichte des 18. – 20. Jahrhunderts; Natur- und Technikgeschichte in den Überschneidungsfeldern von Philosophie, Kunst und Literatur; Historische Anthropologie und Psychohistorie; Theorie und Geschichte des Fetischismus. Delhom, Pascal, ist Akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Universität Flensburg und zur Zeit Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für französischsprachige Philosophie. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Philosophie, Philosophie des Friedens, Philosophie des Sozialen und der zwischenmenschlichen Beziehungen, Phänomenologie der Verletzung und Philosophie der Gewalt aus der Perspektive des Erleidens, Emmanuel Levinas und französische Philosophie. Hark, Sabine, Soziolog_in, ist Professor_in für Geschlechterforschung an der TU Berlin. Sie ist Leiter_in des Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) sowie Forschungsdekan_in der Fakultät Geisteswissenschaften. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören feministische Theorie, queer Theorie und Hochschul- und Wissenschaftsforschung. Hobuß, Steffi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und Prodekanin für Internationalisierung an der Fakultät Kulturwissenschaften. Gastprofessur in Schweden 2010. Lehrpreis der Leuphana

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Universität Lüneburg 2009 und 2011. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Philosophie der Erinnerung, Interkulturelle Philosophie, Ästhetik und Literaturtheorie. In Vorbereitung befindet sich eine Studie über Visuelle Wahrnehmung bei Platon und Aristoteles. Morin, Marie-Eve ist Associate Professor für Philosophie an der University of Alberta in Edmonton, Kanada. Zur ihren Forschungsschwerpunkten gehören Phänomenologie und gegenwärtige französische Philosophie. Sie ist die Autorin von Jean-Luc Nancy, einer Einführung in Nancys Philosophie in der Reihe Key Contemporary Thinkers, sowie Aufsätzen über Sartre, Heidegger, Derrida, Nancy, und Sloterdijk. In Vorbereitung befindet sich eine vergleichende Studie zu Nancys und Merleau-Pontys Ontologie angesichts der Herausforderung des spekulativen Realismus. Schierbaum, Martin, ist Privatdozent an der Universität Hamburg und Lektor an der Universität Bremen im Bereich der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur und Literaturtheorie der Goethezeit, das Interferenzfeld von Literatur, Philosophie, Politik und Medien im 20. Jahrhundert und die Ordnungen des Wissens in Kunst und Kultur. In Kürze abgeschlossen wird ein Band zu literarischen Modellen der Natur um 1800, 1900 und 2000, in Vorbereitung ist eine Studie zu kulturellem Wissen und Literatur in den Bereichen Erinnerung, Differenz/Fremdheit, dem Inkommensurablen/Krieg, Katastrophe und den Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Stoellger, Philipp, ist ordentlicher Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität Rostock, Sprecher des DFGGraduiertenkollegs Deutungsmacht: Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Vorsitzender der Gesellschaft für interdisziplinäre Bildwissenschaft und Leiter des Instituts für Bildtheorie (ifi). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Christologie und Anthropologie, Hermeneutik und Religionsphilosophie sowie Bildtheorie und Deutungsmachtanalyse. Tams, Nicola, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am DFGGraduiertenkolleg Freunde, Gönner und Getreue: Praxis und Semantik von Freundschaft und Patronage in historischer, anthropologischer und kulturvergleichender Perspektive der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie promoviert am Husserl-Archiv bei Prof. Hans-Helmuth Gander zu einer Arbeit über Freundschaft in Derridas Texten und Briefen und erforscht derzeit im Archiv

A UTOR _ INNEN

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Derridas unedierte Schriften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Französische Gegenwartsphilosophie, Kulturphilosophie, Phänomenologie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Weiss, Martin G., ist Assistenzprofessor am Institut für Philosophie der AlpenAdria Universität Klagenfurt und Mitglied der Forschungsplattform LifeScience-Governance der Universität Wien. 2005-2008 Leiter des FWF-Projektes Die Auflösung der menschlichen Natur. 2010-2014 Co-Leiter des trilateralen (BMBF, FFG, Academy of Finland) Forschungsprojektes DNA and Immigration. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben Phänomenologie, Hermeneutik und Italienischer Philosophie die philosophische Postmoderne, die Bioethik und philosophische Aspekte der Wissenschafts- und Technikforschung.

Edition Moderne Postmoderne Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Februar 2014, 216 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Angelo Maiolino Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus Eine Hegemonieanalyse Oktober 2014, ca. 480 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2760-2

Franziska Martinsen, Oliver Flügel-Martinsen (Hg.) Gewaltbefragungen Beiträge zur Theorie von Politik und Gewalt 2013, 234 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2541-7

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Edition Moderne Postmoderne Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic, Joost van Loon (Hg.) Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozialund Kulturwissenschaften April 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2644-5

Paul Sörensen, Nikolai Münch (Hg.) Politische Theorie und das Denken Heideggers 2013, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2389-5

Sabine Till Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze 2013, 226 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2430-4

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Edition Moderne Postmoderne Daniel Bogner Das Recht des Politischen Ein neuer Begriff der Menschenrechte Juli 2014, 336 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2605-6

Filipe Campello Die Natur der Sittlichkeit Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel Dezember 2014, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2666-7

Mara-Daria Cojocaru Die Geschichte von der guten Stadt Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie 2012, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2021-4

Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels 2012, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1870-9

Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas 2012, 518 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2

Martin Eichler Von der Vernunft zum Wert Die Grundlagen der ökonomischen Theorie von Karl Marx Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2803-6

Heike Guthoff Kritik des Habitus Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie 2013, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2424-3

Maximilian Lakitsch Unbehagen im modernen Staat Über die Grundlagen staatlicher Gewalt 2013, 244 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2368-0

Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.) Philosophie und die Potenziale der Gender Studies Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie 2012, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2152-5

Christian Lavagno Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie 2012, 228 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1998-0

José M. Romero (Hg.) Immanente Kritik heute Grundlagen und Aktualität eines sozialphilosophischen Begriffs September 2014, 200 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2581-3

Juliane Spitta Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2236-2

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