Mediävistische Kulturwissenschaft: Ausgewählte Studien 9783110230956, 9783110230949

This book examines vernacular literary texts of the Middle Ages and the Early Modern Age from a cultural studies perspec

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German Pages 316 Year 2010

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Mediävistische Kulturwissenschaft: Ausgewählte Studien
 9783110230956, 9783110230949

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft
Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion
Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel des ›Narrenschiffs‹ von Sebastian Brant
Der Widerspenstigen Zähmung
Die Fiktion höfi scher Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst
Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur
Kultur wissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter
Mimesis und Ritual
Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel
Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der ›Kudrun‹
Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfi scher Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹
Kleine Katastrophen. Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfi schen Litera tur des deutschen Mittelalters
Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik
Wissen ohne Subjekt? Zu den Ausgaben von Gesners ›Bibliotheca universalis‹ im 16. Jahrhundert
Backmatter

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Medivistische Kulturwissenschaft

Jan-Dirk Mller

Medivistische Kulturwissenschaft Ausgewhlte Studien

De Gruyter

ISBN 978-3-11-023094-9 e-ISBN 978-3-11-023095-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.  2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Hubert & Co., Gçttingen

¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

Der Titel des Bandes mag fast schon wieder altmodisch klingen, wo das kulturwissenschaftliche Paradigma bereits wieder zu verblassen beginnt, ohne dass erkennbar wäre, wohin sich nach den vielen turns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Wind diesmal drehen wird. Gut anderthalb Jahrzehnte war ›Kulturwissenschaft‹ das Zauberwort in den Debatten um eine Reform der Geisteswissenschaften, heftig befehdet von den einen, jubelnd begrüßt von den anderen. Anders als jene bin ich der Meinung, dass die Kulturwissenschaft dem literarischen Text und der Literaturwissenschaft nicht den Garaus machte, sondern beide neu perspektivierte. Anders als diese glaube ich, dass vieles theoretisch und methodisch nicht so grundstürzend war, wie manchmal behauptet wurde, sondern ältere Versuche vor allem einer Sozialgeschichte der Literatur konsequent fortsetzte. So scheint es an der Zeit, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Die Auswahl hätte auch anders ausfallen können, doch sollten die wichtigsten literarischen Gattungen der volkssprachigen Literatur des 12.–16. Jahrhunderts – Heldenepik, höfischer Roman, Minnesang, Maeren, Lehrdichtung – berücksichtigt werden. Eine Sonderstellung nimmt der letzte Text ein, der der Druckgeschichte einer Enzyklopädie gewidmet ist, an der sich allgemeinere Tendenzen auf dem Weg zur modernen ›Wissensgesellschaft‹ beobachten lassen. Vor allem jedoch verfolgt die Auswahl ein systematisches Interesse an Grundfragen einer kulturwissenschaftlich perspektivierten Literaturwissenschaft: Ausgewählt wurden Überlegungen zum Verhältnis literarischer Texte im Mittelalter zu anderen ›Texten‹ der mittelalterlichen Kultur, zu ihren Interferenzen mit Mythos und Ritual und zu ihrem Beitrag zu einer Geschichte des Verhaltens, der Wahrnehmung und des Wissens. Damit sind gleichzeitig grundsätzliche Fragen vormoderner Textualität aufgerufen, ihres Textbegriffs, ihrer Fiktionalität, ihrer Medialität und ihrer Überlieferung. So geht es in allen folgenden Beiträgen um einen dem Mittelalter und seinen besonderen Bedingungen literarischer Kommunikation angemessenen Literaturbegriff, d.h. um den besonderen Status literarischer Texte in einem konkreten historischen Zusammenhang. Die Debatte um eine kulturwissenschaftliche Orientierung der Literaturwissenschaft setzt nämlich in der Regel ›die‹ Literatur als eine feste überhistorische Größe voraus, so als sei ihr Platz innerhalb einer Kultur nicht selbst eine historische Variable und als müßten ihre Leitbegriffe ›Text‹, ›Werk‹, ›Autor‹, ›Überlieferung‹, ›Fiktionalität‹, ›literarische Kommunikation‹ nicht ihrerseits historisiert, also im jeweiligen kulturellen Zusammenhang spezifi sch gefüllt werden. Insofern führt die kulturwissenschaftliche Ausweitung der Fragestellung letztlich wieder ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Forschung zurück. V

Die folgenden Arbeiten stammen, mit Ausnahme des Aufsatzes über die ›Halbe Birne‹, aus der Zeit zwischen 1995 und 2004. Die ›Halbe Birne‹ steht gewissermaßen für die Kontinuität der Fragestellungen über mehr als dreißig Jahre hinweg. Die ursprünglichen Texte wurden nicht verändert; der Forschungsstand ist der zur Zeit ihrer Entstehung. Schon die Aufnahme neuerer Literatur hätte größere Eingriffe in die Texte erfordert. Ich habe mich allenfalls an wenigen Stellen um etwas größere Deutlichkeit bemüht. Die Arbeiten sind teils eng aufeinander bezogen, was gelegentlich Wiederholungen zur Folge hat. Abgesehen von einigen kleineren Abstimmungen wurden diese nicht getilgt; ebenso wenig konnten Lücken gefüllt werden. Die Arbeiten verdanken viel den Diskussionen mit Studenten, Mitarbeitern und Kollegen in den vergangenen Münchner Jahren. Dies zu würdigen fehlt hier der Raum. Für die Einrichtung der Texte und die Erstellung eines Gesamtverzeichnisses der in den Beiträgen zitierten Literatur danke ich Kassandra Sperl, für die Hilfe bei den Korrekturen Thomas Poser. Dem Niemeyer-Verlag, dessen Name bei Erscheinen des Bandes möglicherweise schon Wissenschaftsgeschichte ist, und stellvertretend für ihn Frau Birgitta Zeller und Frau Daniela Zeiler danke ich für die Ermöglichung der Publikation und für die sorgfältige Betreuung des Drucks, Herrn Heiko Hartmann und dem de Gruyter-Verlag für die Fortsetzung der Arbeiten und den Verlagen, bei denen die Erstdrucke erschienen, für die Erlaubnis der Wiederveröffentlichung. München, im Dezember 2009

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Jan-Dirk Müller

Inhaltsverzeichnis

Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . .

1

1. KULTURELLER ›TEXT‹ – LITERARISCHER TEXT Aufführung – Autor – Werk Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit Am Beispiel des ›Narrenschiffs‹ von Sebastian Brant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Der Widerspenstigen Zähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literarische und andere Spiele Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

2. LITERATUR – R ITUAL – MYTHOS Kultur wissenschaft historisch Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter . . . . . . . . . . . 111 Mimesis und Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Realpräsenz und Repräsentation Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Verabschiedung des Mythos Zur Hagen-Episode der ›Kudrun‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

VII

3. INTERAKTION – WAHRNEHMUNG – WISSEN Die hovezuht und ihr Preis Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Kleine Katastrophen Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfischen Literatur des deutschen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Visualität, Geste, Schrift Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Wissen ohne Subjekt? Zu den Ausgaben von Gesners ›Bibliotheca universalis‹ im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Gesamtverzeichnis verwendeter Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

VIII

Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft

In programmatischen Entwürfen und neueren Handbuchartikeln wird die Bezeichnung Kulturwissenschaft – im Singular oder im Plural – zunehmend als Synonym für die Fächer der Philosophischen Fakultät gebraucht, mit dem Hinweis, sie sei neutra ler als die ältere Bezeichnung Geisteswissenschaften: Einmal würden nämlich deren ideologische Implikationen, wie sie sich aus der Opposition Geist und Materie ergeben, ausgeklammert, zum anderen werde die theoretisch wie forschungspraktisch problematische Entgegensetzung von Hochkultur einerseits und Volks- (Massen-, Trivial-)Kultur andererseits aufgehoben. In der Tat thematisiert Kultur wissenschaft seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert eben nicht nur Philosophie, Religion, die Künste und Wissenschaften, sondern auch Wirtschaft, Technik, Habitus, Routinen und Rituale des Alltags sowie materielle Artefakte aller Art. Zugrunde liegt mithin ein sehr weiter Kulturbegriff, der auch jene Phänomene umfasst, die in der deutschen Tradition, und nur hier, als ›Zivilisation‹ von der ›eigentlichen‹ Hochkultur abgegrenzt wurden. Der Wechsel von der Geisteswissenschaft zu der oder den Kulturwissenschaft(en) erfolgte also nicht beliebig, sondern ist selbst kulturgeschichtlich bedingt. Das gilt schon für die Anfänge der Kulturwissenschaften zu Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Eindruck der entstehenden industriellen Massengesellschaft. Die rasanten technologischen und sozialen Veränderungen, die ihre Spuren auf allen Ebenen des Alltagslebens hinterließen, fielen durch das Frageraster der traditionellen Geschichtswissenschaft, waren mit deren Instrumentarien nicht zu fassen und entzogen sich ihren Sinnentwürfen. Was zunächst als Erweiterung des Gegenstandsbereichs auftrat, führte in der Folge zur Herausbildung neuer Wissenschaf ten – der Wirtschaftswissenschaf ten, der Soziologie, der Psychologie, der Ethnologie –, die sich neben dem traditionellen Fächerkanon etablierten und diesen ergänzten. Dagegen blieb in Deutschland zumindest – im Gegensatz zu den englisch- und französischsprachigen Ländern – der kulturwissenschaftliche Impuls in den alten historischen Wissenschaf ten auf Dauer schwach, übergreifende kulturwissenschaftliche Untersuchungsansätze aufs Ganze gesehen marginal und in der Hand weniger Spezia listen; eher entwickelten sich die einzelnen historischen Disziplinen weiter auseinander, indem sie ihre besonderen theoretischen Basisannahmen und methodischen Regelwerke ausdif ferenzierten. Das änderte sich erst mit der verstärkten Rezeption soziologischer und psychologischer Theoreme seit den 1970er Jahren. Die Sozialgeschichte, die damals leitendes Forschungsparadigma in den meisten historischen Disziplinen wurde, kann man als erste Stufe der Wiederentdeckung einer integralen Kulturwissenschaft betrachten. Der genuine Ort sozialgeschichtlicher Forschung war natürlich die 1

Geschichtswissenschaft, und dort vor allem setzte sie sich – gegen die Dominanz der politischen, der Verfassungs- und Ideengeschichte – durch. In den übrigen Disziplinen, den Philologien etwa, blieb sie Theorie-Import, was sich u. a. daran zeigte, dass das zentrale Problem dasjenige einer ›Vermittlung‹ der traditionellen philologischen Gegenstände (Texte, Gattungen, Denkmuster) mit anderwärts erhobenen sozialhistorischen Daten wurde, ein Problem, für das eigentlich nur der orthodoxe Marxismus eine klare, freilich auch schlichte Lösung bot. Mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext war in den Textwissenschaften die hergebrachte Begrenzung des Gegenstandsbereichs auf das literarische (oder auch: musikalische, bildende) Kunstwerk überschritten; es wurden besondere Typen von auf Texte bezogenen sozialen Handlungen beschrieben, soziale Rollen, die dabei zu übernehmen sind, oder soziale Gruppen, zu denen sich die Rollenträger zusammenschließen, Ideologeme, die die Texte transportieren. Allerdings nahm die Sozialgeschichte vorweg eine Eingrenzung der zu erhebenden Kontexte vor, nämlich auf Phänomene wie sozialer Status, Klasse, Gruppenideologie, gruppenspezifischer Habitus, horizontale und vertikale Mobilität, soziale Konflikte oder Integration u. ä., Phänomene also, die relevant für soziologische Theoriebildung waren; ausgeblendet wurden meist andere wie z. B. die Praktiken und Gegenstände der Alltagskultur, Weltbilder, psychische Dispositionen, Emotionen, Wahrnehmungen usw. Dies wurde seit den 1980er Jahren zunehmend als Defizit erfahren. Es verbreitete sich die Einsicht, dass ›Kultur‹ nicht ein Sektor ›neben‹ der Gesellschaft ist, so wenig wie Kulturgeschichtsschreibung einen begrenzten Ausschnitt der ›eigentlichen‹ Geschichtsschreibung behandelt, sondern dass Geschichte insgesamt ein kulturelles Phänomen darstellt und Kulturgeschichtsschreibung sich mithin auf dieses Phänomen insgesamt zu beziehen hat, nicht als Spezialdisziplin von Fall zu Fall ergänzend zur politischen, militärischen oder sonstigen Geschichten hinzutritt. Diese Einsicht war verbunden – wieder in Anknüpfung an kultur wissenschaftliche Diskussionen der Jahrhundertwende – mit einer Kritik am objektivistischen Selbstmissverständnis der historischen Wissenschaften: Der sog. linguistic turn in der Geschichtswissenschaft, für den etwa Hayden White steht, macht den Umstand bewusst, dass historisches Wissen ganz über wiegend sprachvermittelt ist, der Gegenstand dieses Wissens daher immer nur in dieser Vermittlung existiert und deshalb nie als solcher, ohne Analyse seiner textuellen Verfasstheit erkannt werden kann. Insofern sind diskursive Formationen, Gattungsmuster, Ordnungen des Wissens, Imaginationen als kulturelle Phänomene, nämlich als Mittel einer ›gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‹ ebenso ›real‹ wie sog. historische Fakten: eine Schlacht, ein Machtwechsel, ein Börsenkrach. Damit wurde nicht nur der hergebrachte Forschungsgegenstand der Literatur wissenschaften aufgewertet, sondern es kehrte sich gegenüber dem vorausgehenden sozialgeschichtlichen Paradigma auch die Richtung des Theorietransfers um, indem nicht mehr die Textwissenschaft ihre Fragen und Theoriemodelle aus der Geschichte und der Soziologie bezog, sondern umgekehrt text wissenschaftliche Methoden sich als unabdingbar für Erschließung und Analyse historischer und sozialer Phänomene erwiesen. 2

Insofern trifft der Einwand des ›Theorieimports‹, der gegen die Kulturwissenschaft erhoben wird, nicht zu, im Gegenteil, denn der Anspruch, Kultur als ›Text‹ – als Zeichenensemble – zu betrachten, bedeutet ja gerade, Theorie und Methodik textwissenschaftlicher Analyse auf alle Arten von Zeichenordnungen anzuwenden. Statt von einem Theorieimport müsste man daher von einem Theorieexport auf die übrigen Felder einer Kultur sprechen. Damit zeichnen sich neue Möglichkeiten ›transdisziplinärer‹ Zusammenarbeit unter dem Dach der Kulturwissenschaften ab. Kulturwissenschaft zielt jedoch nicht auf Aufhebung disziplinärer Grenzen (die Disziplinen müssen im Gegenteil auf der Basis ihrer Funktionsprämissen, Methoden und theoretischen Grundannahmen arbeiten), sondern auf ihre Überschreitung im Dienste einer wechselseitigen Erhellung. Kultur erscheint als ein – in verschiedene Praktiken, Institutionen und Gegenstandsbereiche ausdifferenziertes – Zeichensystem, das als von Menschen ›gemachtes‹ seine eigene ›Poetik‹ hat (Stephen Greenblatt: cultural poetics). Den Einzeldisziplinen ist neben der Untersuchung ihres je eigenen Bereichs auch die von deren Interdependenz aufgegeben. Allein diesem anspruchsvollen ›transdisziplinären‹ Konzept sollte der Terminus Kultur wissenschaft vorbehalten bleiben. Daneben hat er nämlich noch eine andere Bedeutung; beide sollten scharf auseinander gehalten werden. Kulturwissenschaft in jenem zweiten Sinne will ohne den Umweg über einzeldisziplinäre Vertiefung gleich das Ganze der Kultur in den Blick nehmen und eine als unfruchtbar und gesellschaftlich nutzlos verstandene Spezialisierung in den einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen aufheben zugunsten des umfassenderen, aber notwendig auch pauschaleren Überblicks. Dies scheint das Ziel der vor allem in den USA, aber auch anderwärts im Zusammenhang von Fremdsprachendidaktik entwickelten Cultural studies zu sein. Sie ergänzen den Sprachunterricht sinnvoll um Kenntnisse des fremden Landes, seiner Geschichte, Kunst, Literatur, seines Alltagslebens usw. Cultural studies sind im Zeitalter der Globalisierung eine notwendige Voraussetzung politischen, ökonomischen und sozialen Handelns, das stets mehr als nur fremdsprachliche Kompetenz voraussetzt. An die Stelle der alten geisteswissenschaftlichen Disziplinen treten können sie gleichwohl nicht, denn sie sind von vornherein anwendungsorientiert, auf begrenzte Ziele gerichtet und ohne eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch. Diese beiden Spielarten von Kulturwissenschaft haben mithin unterschiedliche bildungspolitische Legitimation. Dass sie nicht deutlicher getrennt und auch institutionell voneinander abgehoben werden (z. B. in Studiengängen mit unterschiedlichem Abschluss), belastet das gegenwärtige universitäre System und nährt Illusionen der Bildungspolitiker, die sich unter Kulturwissenschaft eine ›verschlankte‹ Geisteswissenschaft vorstellen, bei der die angeblich in den Einzeldisziplinen vorhandenen Sparpotentiale durch Zusammenlegung von Ressourcen genutzt werden können: ein ›Kultur wissenschaftler‹ für den östlichen Mittelmeerraum statt der vielen Fachwissenschaftler für die einzelnen Sprachen und Literaturen, für Kunst, Religion, Wirtschaft, Gesellschaft. Umgekehrt ist es sinnlos, den Cultural Studies, Area studies u.ä. Unwissenschaftlichkeit und Oberflächlichkeit vorzuwerfen, wo es 3

ihnen um eine Ergänzung von Handlungskompetenzen geht: Je nach Ausbildungsund Berufsziel ist generalisiertes Überblickswissen nützlich und sinnvoll, denn nicht jeder Vermittler einer fremden Sprache und Lebenswelt, zumal in einem fernen Kontinent, nicht jeder, der politische oder ökonomische Beziehungen aufbaut und nutzt, muss über philologisches oder historisches Detailwissen verfügen. Andererseits wäre es angesichts der Arbeitsteilung und Professiona lisierung, wie sie Signum der Moderne auf allen Feldern gesellschaftlicher Tätigkeit sind, schlicht reaktionär, die einzelwissenschaftliche Ausdifferenzierung rückgängig machen zu wollen: Dass nicht jeder Ingenieur oder Lebensmittelchemiker sich mit den fortgeschrittensten Forschungen etwa der Physik oder Biochemie selbst beschäftigen oder auch nur en détail auskennen muss, hat noch nie an der Existenzberechtigung dieser Wissenschaften zweifeln lassen. Es ist also an der arbeitsteiligen Organisation von Wissenschaft festzuhalten; Kulturwissenschaft ist keine Einladung an den Germanisten, auch etwa als Ingenieurs-, Wirtschafts- oder Gesellschaftswissenschaftler zu dilettieren. Eine zivilisatorische Errungenschaft wie das Wasserclosett – um ein Lieblingsbeispiel der Kritiker von Kulturwissenschaft zu zitieren – kann neben anderem auch als Zeichen für eine kulturellen Differenzierung gelesen werden, für die Grenze von Zivilisation und Nicht-Zivilisation, und entsprechend können sich an dieses Zeichen andere Zeichen anlagern, aus denen sich ein bestimmtes Welt- und Gesellschaftsbild aufbaut. Aber was die technische Errungenschaft, ihre Konstruktionsvarianten, ihre ökonomische Durchsetzung u. ä. betrifft, muss sich der Text wissenschaftler bei anderen Disziplinen kundig machen, wenn er Erkenntnisse dieser Art für seine Interpretation braucht. Die Grenzen zwischen den Disziplinen werden durch ›transdisziplinäre‹ Problemstellungen durchlässiger, indem Erkenntnisse der einzelnen Wissenschaften zueinander in Beziehung gesetzt werden und sich gegenseitig interpretieren. Hinter ihre Ausdifferenzierung und die dadurch bedingte Kompetenzverteilung führt kein Weg zurück. Eine kulturwissenschaftliche Umorientierung des Universitätsfachs Germanistik beeinflusst allerdings notwendig ihre Vermittlung in außeruniversitären Bildungskontexten, z. B. in der Schule. Die hergebrachten Gegenstände des Deutschunterrichts müssen in eine disziplinenübergreifende Perspektive rücken. Andere Gegenstände treten hinzu. Dies wird durch neuere Erfahrungen mit unserer eigenen kulturellen Umwelt begünstigt. Sie ist zunehmend durch andere Medien als Buch und Schrift, nämlich durch Radio, Film, Fernsehen und Internet, geprägt, und in ihr dominieren Phänomene, die im Gehäuse der traditionellen Geisteswissenschaf ten keinen oder zumindest keinen allgemein anerkannten Platz fanden: alle Spielarten der Popkultur, Reklame, Mode, Design, ein Arsenal bewegter und unbewegter Bilder, eine Flut von Informationen. Gewiss ist die Literatur wissenschaft allenfalls als Teil einer allgemeinen Semiotik für dergleichen Phänomene zuständig, und gewiss ist sie es nicht in erster Linie. Doch ist auch ihr ureigenster Gegenstandsbereich – die Erschließung, Analyse und kontextuelle Rahmung von Texten – vom kulturellen Umbruch der letzten hundert Jahre, der Entstehung einer alle Bereiche des Alltags bestimmenden Massenkultur, tangiert. 4

Entsprechend erfolgte seit den 1970er Jahren eine immense Ausweitung des Gegenstandsbereichs, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Abgrenzung zwischen einem E- und einem U-Sektor der Gegenwartskultur immer problematischer erschien. Es ist längst nicht mehr kontrovers, dass auch die ›literarische‹ Überlieferung im engeren Sinne an der Geschichte der übrigen Diskurse teilhat, von ihnen abhängig ist, in sie hineinwirkt und wie sie als ein Moment des gesellschaftlich Imaginären Prozesse sozialer Identitätsbildung und Sinnstiftung anstößt und steuert. Will sie ihre diagnostische Kompetenz für die Gegenwartskultur nicht einbüßen, muss die Literaturwissenschaft einen weiten Kulturbegriff zugrunde legen. Entsprechend wendet sie ihr Interesse ebenso auf die Massenliteratur wie auf Gebrauchstexte und ist gegenwärtig dabei, es auf nicht-schriftliche oder sogar nicht-sprachliche Zeichensysteme auszudehnen, die unsere Alltagswelt prägen. Dem antwortet das Verständnis von Kultur, das sich in Ethnologie, Volkskunde, Völkerkunde seit den 1980er Jahren durchgesetzt hat: das die Kategorien Sinn und Bedeutung ins Zentrum rückt und Kultur als ›Bedeutungsstruktur‹ fasst (Geertz). ›Kultur als Text‹ ist freilich zunächst nicht mehr als eine Metapher. Kultur ist auf zweierlei Weise gegeben: als Ensemble von Zeichen und als Pra xiszusammenhang. Als Literaturwissenschaftler, die sich mit dem Mittelalter beschäf tigen, haben wir es vornehmlich mit dem ersten zu tun, dürfen aber den anderen Aspekt nicht übersehen. Kultur kann zwar wie ein Text gelesen werden, doch geht sie nie vollständig in Textualität auf. Eine Praxis ist immer mehr als ein Text; sie schafft Bedingungen, die zwar interpretiert, aber nicht weginterpretiert werden können. An diesem Punkt besteht eine Differenz zwischen den Textwissenschaften, die sich auf Diskurse richten, und Wissenschaften wie Geschichtswissenschaft oder Soziologie, die nie ihren Anspruch auf Referenz ihrer Aussagen aufgeben können (die naive Fassung dieses Interesses ist der Anspruch zu wissen, ›wie es wirklich ist / war‹): Gewiss ist jene ›Realität‹ unzugänglich, gewiss ist sie immer schon in bestimmter Weise wahrgenommen und interpretiert, und gewiss treten diese Wahrnehmungen und Interpretationen immer in Textgestalt auf, aber als Praxis ist sie diskursiv nie vollständig verfügbar. Wer Kultur als Text thematisiert, muss von ihrer praktischen Verbindlichkeit absehen und das Referenzproblem einklammern. ›Lesen‹ setzt eine Außenperspektive voraus, Nicht-verwickelt-sein in die Zusammenhänge, die man zu verstehen sucht, und daher Neutralität gegenüber ihren Realitäts- und Geltungsansprüchen. Solch eine Außenperspektive ist bei historischen Kulturen der Normalfall: eine kulturwissenschaftlich interessierte Mediävistik sucht ihre Gegenstände unter der Voraussetzung von Regeln und Bedingungen zu fassen, die gerade nicht mehr gelten. Allerdings ist, wie man weiß, solch eine Position einzunehmen immer nur annä hernd möglich – der Mediävist hat es nie mit totaler Alterität zu tun, vielmehr dauern einige Konstellationen, die er thematisiert, bis in seine eigene Welt fort und betreffen immer auch sein eigenes Voraussetzungssystem; die Ethnologie hat sogar gezeigt, zu welchen Fehlurteilen der Verzicht auf Teilnahme führen kann. Die Position des Betrachters ist also weder auszuschalten noch hintergehbar. Dies zugestanden, ist es gleichwohl die Aufgabe, Wahrheitsannahmen, Geltungsansprüche und Normen der eigenen Welt möglichst weitge5

hend zu suspendieren, um den Blick auf diejenigen der fremden nicht zu verstellen. In dieser Hinsicht – und nur in dieser – ist kultur wissenschaftliche Analyse mit der Analyse eines fiktionalen Textes verwandt, dessen implizite Voraussetzungen man unterstellt, ohne ihre Geltung für die eigenen Praxis akzeptieren zu müssen. Die Betrachtung von Kultur als Text setzt also nicht die These voraus, dass die Kultur ›nichts als ein Text‹ ist. Das ist gegenüber einem naiven Konstruktivismus und Panfiktionalismus festzuhalten. Die sprachlichen Auslegungen der Realität sind vielfältig, aber nicht unendlich; sie lassen einen weiten Spielraum zu, sind aber nicht beliebig, sondern immer sprachliche Auslegungen von etwas: Wie immer ich die Zeichen deuten mag, Voraussetzung ist, dass sie auf diesen oder jenen Sachverhalt referieren, was nicht ausschließt, dass dieser von anderen möglicher weise anders wahrgenommen, dargestellt und gedeutet wird. Allenfalls für eine gewisse Zeit können Sachverhalte und Praxisverläufe diskursiv beherrscht und manipuliert werden – Golfkrieg und Kosovo-Konflikt bieten da signifikante Beispiele. Wenn Kulturwissenschaft also tentativ die Frage nach der Referenz einklammert, dann hebt sie doch den Unterschied zwischen dem Diskurs und dem, worauf dieser referiert, nicht grundsätzlich auf; wohl aber unterstellt sie, dass Realität immer schon diskursiv bearbeitet und jeder Diskurs Konstrukt und insoweit auch fictio ist. Für den Mediävisten ist die kulturwissenschaftliche Perspektive nichts Neues. Für ihn galt seit je, dass die Literatur wissenschaft nie nur Literatur wissenschaft sein konnte. Zum einen ist der Grad der Ausdifferenzierung des literarischen Diskurses im Mittelalter gegenüber anderen (z. B. religiösen oder politischen) Diskursen weit geringer als in der Neuzeit; der besondere Gegenstand ›literarischer Text‹ ist also eine neuzeitliche Projektion. Zum anderen ist die Literatur einer uns fremd gewordenen Kultur (so wie einer Kultur der Dritten Welt) nur zu verstehen, wenn wir die vielen alltagsweltlichen Bezüge, Wissensbestände, Habitus, Traditionen usw. kennen, die in sie eingehen, von ihr thematisiert und reflektiert werden. Ob bei den von E. R. Curtius wieder erschlossenen Topoi, der von Friedrich Ohly inaugurierten Bedeutungsforschung oder Kurt Ruhs Frage nach ›Überlieferungszusammenhängen‹ mittelalterlicher Texte – immer ging es bei mediävistischer Textanalyse um einen größeren kulturgeschichtlichen Kontext. Auch arbeitet die Mediävistik seit langem mit einem weiten Literaturbegriff, der auch ›pragmatische‹ Textsorten einschließt, von Zaubersprüchen bis zu Ereignisliedern oder Reiseberichten, von Moraltraktaten bis zur Visions- und Erbauungsliteratur. Die Erweiterung des Literaturbegriffs ist von der Sache geboten, denn der an der Dichtung der Autonomieperiode abgelesene Begriff der Literatur versagt für die Literatur der Vormoderne. Das Interesse an ›Gebrauchsliteratur‹ und ihrem ›Gebrauchszusammenhang‹ schließt zwangsläufig den kulturellen Kontext ein, in dem Texte ›gebraucht‹ werden. Ein besonderer Status ›der‹ Literatur – gemeint ist Literatur als Kunst mit einem eigenständigen Wahrheits- und Geltungsanspruch – ist keine zeitenthobene Größe. Auch wenn man sich als Mediävist allein auf poetische Texte konzentriert, haben diese of fenbar einen anderen Status als scheinbar vergleichbare literarische Werke der letzten 250 Jahre. Ihre Einbindung in Pra xis 6

ist zumeist eine engere, indem sie immer auch andere als poetische Funktionen erfüllen. Epische Texte z. B. dienen der Geschichtserinnerung (Heldenepik, Genealogie, ›Ansippung‹ an fiktionale Erzählwelten) oder dem Entwurf vorbildlicher Handlungsmodelle (höfischer Roman); Normen und Verhaltensmuster können in poetischen Texten vermittelt, eingeübt, diskutiert werden (Minnesang, Sangspruchdichtung, Maeren); herrscherliche Repräsentation kann sich in literarischen Formen artikulieren (Panegyrik, laudative Rede); religiöser Kult und Theater stehen in engem Zusammenhang (Geistliches Spiel). Der moderne Fiktionsbegriff ist ungeeignet nicht nur, weil die Grenze zwischen dem, was als factum bzw. als fictum gilt, anders verläuft, sondern zum einen weil Fingieren angesichts der Verbindlichkeit einer und nur einer göttlich garantierten Wahrheit stets nur einen abgeleiteten Status hat und zum andern weil Texte, die im Mittelalter als nicht-fiktional gelten (wie z. B. Zaubersprüche, Visionen, Legenden), aus dem historischen Abstand wie Fiktionen gelesen werden können. Natürlich sind ein Herrschereinzug oder eine Geschlechtertafel in Funktion und Leistung, erst recht in ihrer Struktur nicht direkt mit literarischen Werken vergleichbar, auch wenn diese u. a. ana loge Leistungen erbringen, und sie sind daher auch nicht gegen sie austauschbar. Wenn Literatur sich – anders als in der Neuzeit – noch nicht von heteronomen Zielen gelöst hat, verfolgt sie diese doch auf ihre eigene Weise. Die pragmatische Dimension mittelalterlicher Literatur darf also nicht verabsolutiert werden. Wenn mäzenatische Förderung von Literatur auch ein Mittel von Status- und Herrschaftsrepräsentation ist und insofern in weitere Interessenzusammenhänge eingelassen, dann wird damit nur eine Leistung dieser Texte angesprochen; sie müssen in ihr nicht aufgehen. Auch kann sich die Mediävistik schon von ihrem Gegenstand her nie auf die Interpretation schriftlich tradierter Sprachzeichen beschränken. Der Schriftgebrauch beschränkt sich auf bestimmte Sektoren der mittelalterlichen Gesellschaft, so dass man mit einem ganz überwiegend verlorenen Kontinent nicht-schriftlicher Kommunikation rechnen muss, die z. T. mündlich, z. T. auch außersprachlich war. Die Mediävistik hat gelernt, Spuren dieser mündlichen Kommunikation und ihrer Verschränkung mit dem Gebrauch von nichtsprachlichen Zeichen, von Bildern, Gesten, Symbolen usw. zu entziffern, und gezeigt, wie auch sprachliche Kommunikation in andere Zeichenordnungen eingelassen ist und auf diese referiert. Textwissenschaftliche Analyse hat Machart und Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Zeichenordnungen zu untersuchen. Als Kontrollinstanz fällt für das Mittelalter freilich das materielle und praktische Substrat des Zeichengebrauchs weitgehend aus. Je weiter die zu untersuchende Kultur von unserer eigenen Welt entfernt ist, desto ausschließlicher ist sie uns nur noch in schriftlicher Überlieferung zugänglich, auch die außersprachlichen Zeichen sind zum großen Teil nur in der Vermittlung durch die Schrift gegeben Zwischen der theoretischen Einsicht in Strukturen mittelalterlicher Kultur und ihrer empirischen Einlösung klafft also eine Lücke, die vermutlich nie zu schließen sein wird. Die ›semiotische Wende‹, der ›linguistic turn‹, hat die Sicherheit untergraben, mit der die Geschichtswissenschaft aus den schriftlich tradierten Quellen positives 7

Wissen von der Vergangenheit, ›wie sie eigentlich war‹ zu erhalten hoffte. So hat sich gezeigt, dass erst textwissenschaftliche Methoden den historischen Stellenwert von mystischen Texten, Nonnenviten oder laikalem Meditationsschrifttum adäquat erschließen können, indem sich in diesen nämlich nicht direkt mittelalterliche Frömmigkeit abbildet, sondern mit Hilfe literarischer Mittel und rhetorischer Verfahren oder Gattungsmuster Frömmigkeit sich allererst konstituiert. Quellenanalyse muss sich traditionell literaturwissenschaftlichen Fragen stellen: nach der Position der Sprecher, ihrer Redeabsicht, der von ihnen benutzten Strategien und Strukturmustern. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft thematisiert sprachliche Verfahren als distinkte Mittel einer Strukturierung historischer Erfahrung. Wenn sie die schlichte Dichotomie ›Fiktion‹ – ›Rea lität‹ (oder auch ›Ideal‹ und ›Wirk lichkeit‹ o. ä.) aufgegeben hat, muss weiterhin zwischen unterschiedlichen Texttypen und Gattungen (z. B. Vertrag, Chronik, Zeitungslied, Roman) mit je unterschiedlichen Wahrheits- und Geltungsansprüchen unterschieden werden. Auch dürfen die je besonderen Leistungen sprachlicher und außersprachlicher Zeichen nicht nivelliert werden, ihre unterschiedliche Glaubwürdigkeit, ihr Zusammenhang untereinander und der Grad ihrer Ausdifferenzierung. Auch verschwindet in der kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht, wie immer wieder befürchtet, die Besonderheit des einzelnen Werks. Doch auch die Besonderheit des einzelnen Werks ist immer eine historisch konkrete, und man kann man sie als historisch konkrete nur erkennen, wenn man ihre kollektiven, nicht-individuellen Anteile herausarbeitet. Das große Werk zeichnet aus, dass es diese auf eine anspruchsvollere Weise reflektieren kann; seine Bedeutung bemisst sich in Bezug auf die konkreten historischen Konstellationen, die es voraussetzt, thematisiert, reflektiert, vielleicht überwindet – und deshalb wird es bevorzugter Gegenstand auch einer mediävistischen Kulturwissenschaft bleiben. Wenn nicht mehr ausschließlich die literarische Hochkultur thematisiert wird, ist damit also die Frage nach dem unterschiedlichen Rang der einzelnen Werke nicht erledigt. Das gilt für mittelalterliche Kultur Literatur nicht anders als für die moderne: Wolframs ›Parzival‹, Gottfrieds ›Tristan‹, das ›Nibelungenlied‹ sind offenbar weitaus komplexer als z. B. die biederen Sprüche Freidanks, eine Rezeptsammlung oder die Dutzendware mancher höfischer Romane. Anders als in der traditionellen Literaturwissenschaft wird allerdings nicht mehr vor weg die Herausgehobenheit eines bestimmten Gegenstandsbereichs, also etwa ›der‹ Literatur, statuiert. Ganz sicher kann die fiktionale Literatur nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit eine Spitzenstellung beanspruchen wie in der Moderne; zumindest die Theologie macht sie ihr streitig: Auch die Hierarchie der Diskurse ist ein Problem kulturwissenschaftlicher Forschung, das durch den Rekurs auf eine ›wertfreie‹ Dokumentation des schriftlich Überlieferten nicht zu umgehen ist. Dass ein Text massenhaft überliefert ist, ist allein noch kein Argument für seine Bedeutung und kann vernünftigerweise nie gegen seine Qua lität ausgespielt werden; sie hängt von seinem Platz im kulturellen ›Haushalt‹ einer Zeit ab.

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1. KULTURELLER ›TEXT‹ – LITERARISCHER TEXT

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Aufführung – Autor – Werk Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion

Der eigentümliche Status mittelalterlicher Literatur in der Volkssprache – schriftlich konzipiert, doch in der Regel für den mündlichen Vortrag bestimmt – hat in den letzten Jahren zu einer Erschütterung philologischer Grundannahmen geführt, von den einen mehr oder weniger ironisch als die Geburt einer ›Neuen Philologie‹ gefeiert, von anderen als marktschreierische Garnierung längst bekannter und berücksichtigter Einsichten bagatellisiert, von wieder anderen als poststrukturalistischer Störversuch im soliden und nüchternen Wissenschaftsbetrieb gebrandmarkt.1 Die Diskussion hat eine größere Zahl von Klärungsversuchen hervorgerufen, und doch scheint mir ein Teil der Kontroversen nach wie vor aus dem Mangel an hinreichender Präzision der leitenden Konzepte zu resultieren. Es gibt in dieser Diskussion blinde Stellen. Mit solchen blinden Stellen befassen sich die folgenden Überlegungen. Sie sind thesenhaft formuliert, d. h. sie bemühen sich um Knappheit, lassen nur beschränkt Differenzierungen zu und ersetzen daher nicht philologische Detailuntersuchungen. Im Gegenteil suchen sie für solche Detailuntersuchungen wieder Raum zu schaf fen, indem sie einige Generalisierungen in Frage stellen und die Diskussion von uneinlösbaren Beweisverpflichtungen befreien wollen. Gehen wir von einigen Voraussetzungen der jüngeren Debatte aus. Die literarische Kultur des europäischen Mittelalters vollzog sich in der »voca lité«, wie Paul Zumthor es ausdrückte, einem Stadium zwischen primärer Oralität (einer überwiegend mündlich kommunizierenden Gesellschaft) und einer entwickelten Schriftkultur.2 Oralität und Literalität durchdringen und beeinflussen einander. Es gibt seit dem Frühmittelalter komplizierte Interferenzen der beiden Kulturtypen, deren Verhältnis sich seit dem 12. Jahrhundert zugunsten der Schrift zu verschieben beginnt. Die volkssprachige Literatur wird seit dem 13. Jahrhundert zwar zunehmend schriftlich konzipiert, aber weiterhin bis in die frühe Neuzeit hinein meist mündlich vorgetragen, ›aufgeführt‹, weshalb auch literarische Produktion häufig im Blick auf mündliche Realisation erfolgt. Vor Zuhörern aufgeführt, kann der Text wechselnden Gelegenheiten angepasst werden. Auch die handschriftliche Aufzeichnung eines Textes kann sich an seinem jeweiligen ›Gebrauchswert‹ orientieren, indem sie kürzt, ergänzt, verschönert, purgiert, vereinfacht usw.

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NICHOLS (1990); STACK MANN (1994); WENZEL u. TERVOOREN (1997), bes. die Einleitung der Herausgeber, sowie STROHSCHNEIDER (1997); dagegen SCHRÖDER (1996). ZUMTHOR (1987), S. 15ff. zu verschiedenen Typen von »oralité« und passim zur Bedeutung der ›Stimme‹ (»vocalité« S. 21 u. ö.); vgl. DERS. (1990); SCHAEFER (1992).

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Solche Eingrif fe, bei Gebrauchstexten nichts Auffälliges, sind innerhalb des mittelalterlichen Literaturbetriebs auch bei poetischen Texten häufig und legitim und dürfen deshalb nicht an einer ursprünglichen, vom Autor verantworteten Gestalt gemessen und im Blick auf eine solche Gestalt rückgängig gemacht werden. Die Größe Autor und Autortext kann also nicht, wie in der neueren Philologie üblich, unbefragt Bezugspunkt philologischer Rekonstruktionen sein. Der mittelalterliche Text ist uns in der Regel nicht als Original gegeben oder als autornaher Archetyp erreichbar, sondern er existiert im Plural seiner jeweiligen Überlieferungen. Diese lassen sich zu »Fassungen« ordnen, die grundsätzlich als gleichberechtigt nebeneinander stehen.3 Wenn für bestimmte Texttypen wie Gebrauchstexte solche Of fenheit und Beweglichkeit seit langem bekannt war, dann bei i. e. S. literarischen Texten nur für bestimmte Gattungen, vor allem Heldenepik,4 höfische Liedkunst5 und Kleinepik.6 Bei ihnen wurde zuerst die Tauglichkeit der an der Klassischen Philologie orientierten sog. Lachmannschen Methode in Frage gestellt, d. h. die Ausrichtung editorischer Anstrengung am Ziel eines möglichst autornahen Textes, auf den alle überlieferte Varianten mittels Korrektur und Konjektur zurückzuführen waren. Bei den Maeren war schon Niewöhners unverdrossen kontaminierendes ›Neues Gesamtabenteuer‹ bei den Rezensenten durchgefallen.7 Die Nibelungen-Philologie war durch Brackerts Kritik am autorzentrierten Handschriftenstemma Braunes verunsichert worden,8 und Heinzle hatte die Vorstellung von ›Original‹ und ›Archetyp‹ für die Dietrichepik destruiert.9 Dagegen war Carl von Kraus zum nahezu rituell exorzierten Repräsentanten einer Minnesang-Philologie avanciert, die aus allen variantenreichen Überlieferungen den einen ›richtigen‹, da möglichst autornahen Text zu rekonstruieren suchte. Stattdessen erkannte man, dass man mit konkurrierenden gleichberechtigten Fassungen zu rechnen hatte. In mehreren großen Aufsätzen und seinem Buch über die ›Nibelungenklage‹ zeigte dann Bumke auch an der frühen Überlieferung des höfischen Romans, d. h. der am weitesten literarisierten und am engsten mit Vorstellungen wie Original und Autorintention verknüpften Gattung, die Fragwürdigkeit älterer Editionspraxis.10 Indem damit die stärkste Bastion traditioneller Textkritik fiel, schienen weit radikalere Überlegungen zum mittelalterlichen Text bestätigt, wie sie vor allem Cerquiglinis ›Eloge de la variante‹ angestellt hatte.11 Der mittelalterliche Literaturbetrieb zwischen Mündlichkeit und Manuskriptkultur kennt nur ›un3 4 5 6 7 8 9 10 11

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Zum Begriff der Fassung BUMKE (1996b), S. 32, 45f. HEINZLE (1978b). SCHWEIKLE (1994). RYCHNER (1960). NIEWÖHNER (1937). BRACKERT (1963) zu BRAUNE (1900). HEINZLE (1978b). BUMKE (1996a); DERS. (1997). CERQUIGLINI (1989).

feste Texte‹; deren ›Varianz‹ kann nicht in einem sog. ›kritischen‹ Text stillgestellt werden (von dem aus gesehen alle Varianten Abweichungen sind), sondern sollte in den verschiedenen mehr oder minder zufälligen schriftlichen Repräsentationen in der Überlieferung dokumentiert werden. Der grundsätzlichste Anstoß kam vielleicht von Paul Zumthor und seiner Rede von der mouvance mittelalterlicher Texte. Er ging soweit, von mittelalterlicher Literatur – für den Frankophonen ist die etymologische Verbindung zu littera, Buchstabe, noch evident – nur noch in Anführungszeichen zu sprechen.12 Er hegte die Vorstellung von einer Art von mündlichem Hypertext, von dem immer nur Bruchstücke bei wechselnden Gelegenheiten abgerufen wurden, »textes-fragments«,13 immer anders, auf immer neue Situationen ant wortend, den Text zum plurale tantum bestimmend. Was – gerade in dieser Globalität der Aussage – als Anstoß gedacht war, über die besondere Textualität mittelalterlicher Texte nachzudenken, wurde als eine Aufforderung zum Verzicht auf editorische und interpretatorische Anstrengungen verstanden, und die Einklammerung (nicht Leugnung!) von gattungsmäßigen Differenzen, die notwendig war, um das grundsätzliche Problem hervortreten zu lassen, wurde in Globalaussagen über mittelalterliche Literatur insgesamt umgemünzt. Das klärte die Fronten, verstellte aber den Blick auf die Sache. Die Editionsphilologen entdeckten zu ihrer Überraschung, manchmal auch zu ihrem Schrecken, dass sie einigen mit sehr viel globaleren Fragen beschäftigten poststrukturalistischen Theoretikern in die Hände gearbeitet hatten, deren Folgerungen sie im allgemeinen schaudernd zurückwiesen. Als unangemessen erwies sich die Fixierung der Philologie auf den schriftlich überlieferten Text, als unangemessen wurde das Konzept des Autors kritisiert, der sein Werk auf allen Ebenen kontrolliert und dafür sorgt, dass es in dieser ›autorisierten‹ Gestalt bekannt wird, als unangemessen der klassische Werkbegriff, der die definitive Geschlossenheit des Kunstwerks voraussetzt, und eine auf Original oder wenigstens Archetyp ausgerichtete Editionsphilologie. Ich will diese Folgerungen hier ebenso wenig wiederholen wie die Schlachten zwischen ›alten‹ und ›neuen‹ Philologen noch einmal schlagen. Ich möchte nur vor einigen Verwechslungen und Kurzschlüssen warnen und einige überzogene Folgerungen in Frage stellen, wie sie die Debatte zunehmend belasten. Ich befasse mich mit dem Konzept der Aufführung, des Autors und des Werks.

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Der Neologismus mouvance zuerst bei ZUMTHOR (1972) (dort nur im Register S. 507 definiert; im Text paraphra siert); DERS. (1981); littérature in Anführungszeichen im Untertitel von ZUMTHOR (1987). DERS. (1978); DERS. (1981); vgl. STROHSCHNEIDER (1997), S. 65f. Die Vorstellung eines unendlichen Stroms (der Rede, der Traditionen), der von Zeit zu Zeit zu einem Text gerinnt, besser: in einer kontingenten Augenblicksaufnahme sistiert wird, ist ein verkappter Rousseauismus Zumthors, insofern die Differentia lität der Zeichen in der Schrift im Rückgang auf jenen Strom getilgt oder mindestens unkenntlich gemacht wird.

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I. Aufführung Mittelalterliche Texte, insbesondere Lieder, verweisen, so die communis opinio, – wie lückenhaft auch immer – auf eine Auf führungspraxis, die unterschiedliche Realisationen der Texte wie auch unterschiedliche Formen der Adaptation zuließ, indem die Worte nur ein Element eines komplexeren Ganzen aus Musik, Gesten und Inszenierung waren, dem sie sich einzufügen hatten.14 Auch für die Epik hat man mit derartigen (Teil-)Aufführungen zu rechnen, die möglicherweise schon vor Abschluss des Gesamttextes stattfanden und für Überlieferungsvarianten verantwortlich sein könnten. Dieser Einsicht muss freilich gleich das Eingeständnis folgen: Für die multimediale Ganzheit gibt es in der Regel nur indirekte Quellen, d. h. in keinem Fall ist die Wirklichkeit einer bestimmten Auf führung rekonstruierbar. ›Auf führung‹ bezeichnet also den Rahmen literarischer Kommunikation, der zwar historischkonkret nicht aufgefüllt werden kann, der aber angenommen werden muss, um Struktur und Funktion der Sprechakte in den für solche Aufführungen bestimmten Texten zu verstehen.15 Eine Aufführung ist stets Aufführung eines bestimmten Textes. Der aufgeführte Text ist nicht beliebig oder gestaltlos und unauf hörlicher Wandlung unter worfen wie Alltagsrede. Er ist nicht Bruchstück (»texte-fragment«) eines Ganzen, sondern Repräsentant einer distinkten Einheit (auch wenn diese jedesmal anders realisiert ist). Jede Aufführung ist anders, aber sie ist es als Auf führung von etwas. Varianz gibt es nur in einem bestimmten Spielraum. Im Vergleich zum kanonisierten schriftsprachlichen Text der Neuzeit ist dieser Spielraum allerdings weit. ›Aufführung‹ meint also einen stark von Regeln überformten Sonderfall mündlicher Kommunikation, unter dessen Bedingungen die für die Schrift typischen Fixierungen partiell aufgehoben sind und variiert werden können und, ausweislich der Überlieferung, ja auch tatsächlich variiert wurden. Die Lizenz zur Variation differiert dabei nach dem Grad und dem Typus der Verschriftlichung sowie nach Texttypen und Gattungen. Die Lizenz scheint bei primär mündlich tradierten Gebilden höher gewesen zu sein als bei genuin schriftlich konzipierten (also bei Minnesang im Vergleich zur Epik), und sie hängt vom Grad der Verbindlichkeit des jeweiligen Texttypus ab (auch die Liturgie lebt im Vollzug, wird also, wenn man so will, ›aufgeführt‹, doch ist der Spielraum für Varianz relativ eng).

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ZUMTHOR (1988). Naiv ist also der Schluss von der Unmöglichkeit der Rekonstruktion einer bestimmten Aufführung auf die Unbrauchbarkeit des Aufführungskonzeptes; jede pragmatische Analyse eines Textes muss seinen Kontext mitdenken, weil sie sonst den Text nicht begreift. Ein anderes Problem ist es, inwieweit der uns schriftlich überlieferte Text, z. B. ein Lied in den Minnesang-Handschriften um 1300, bereits vom veränderten Kontext der Sammlung schriftlicher Texte verändert ist.

Die empirische Basis für die Varianz ist angesichts der Zahl überlieferter Handschriften relativ schmal. Die Varianten müssen deshalb ›hochgerechnet‹ werden. Wenn jede Aktualisierung eines Textes in einer Auf führung anders ist als die vorausgehende und die folgende – so viele Aufführungen so viele verbale, gestische, mimische Zeichenensembles –, dann kann die tatsächliche Varianz zwar hypothetisch erschlossen, nicht aber durch den Überlieferungsbefund dokumentiert werden. Die schriftlich überlieferten Varianten können zudem nicht als erstarrte Zeugnisse unterschiedlicher Auf führungen verstanden werden, denn ebenso gut könnte man sie einer auswählenden und arrangierenden Kopierpraxis verdanken. ›Auf führung‹ erklärt also nur zu einem Teil mögliche Varianz. Der Hiat zwischen konkreter Aufführung und tatsächlich überliefertem Text kann nie geschlossen werden. Die Annahme eines bestimmten Aufführungsmodus kann allenfalls hypothetisch zum Verständnis eines schriftlich tradierten Textes beitragen.16 Wir haben nur schriftliche Zeugnisse. Sie sind von vornherein Transformationen in ein anderes Medium und enthalten nur einen Bruchteil der in einer realen Aufführung wesentlichen Informationen.17 Die übrigen scheinen als entbehrlich angesehen worden zu sein.18 Allerdings kann die schriftliche Gestalt Spuren des Auf führungscharakters aufweisen,19 Spuren einer ›Kommunikation unter Anwesenden‹, wie dies in frühen Schriftkulturen üblich ist.20 Solche Spuren können auf eine reale Aufführungspraxis ver weisen, aber sie können auch bloß Zitate einer älteren Kommunikationssituation sein, Aufführung also nur fingieren. Die Appelle des Minnesangs an das Publikum mitzuspielen, hinzuschauen, zu antworten, könnten tatsächlich in der Dialogsituation einer Aufführung funktioniert haben; in der Schrift rufen sie die Vortragspraxis in Erinnerung;21 Hartmanns ›Gespräch‹ über Enites Pferd gibt dagegen nur vor, einen ›Mann aus dem Publikum‹ zu befragen, ist aber in Wirklichkeit komplett vertextete Fiktion; die vertexteten Bitten von Maerenerzählern, man solle ihnen zu trinken geben, können beides sein, fiktiona les Element, das doch im konkreten Moment praktisch gefüllt wird.

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KUHN (1969); STROHSCHNEIDER (1993). Die Schrift ist weit unvollkommener als die Videoauf zeichnung. Selbst diese aber ist nur ein unvollkommenes Surrogat, weil sie die Perspektive des Betrachters festlegt, zwischen verschiedenen möglichen Ansichten selegiert und den dreidimensionalen Raum durch die zweidimensionale Fläche ersetzt. CRAMER (1997), S. 129f. TERVOOREN (1996): Proformen und deiktische Signale in Minneliedern, die in der situationsabstrakten schriftsprachlichen Kommunikation ins Leere deuten, Ort- und Zeitangaben, Requisiten. Instruktive Beispiele bei ROHE (1994), S. 334f., aber auch in der simulierten Gesprächssituation von Widmungen und Vorreden. Zur Reduktion derartiger Elemente im späteren Minnesang: J.-D. MÜLLER (1996c), S. 43–76.

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Am ehesten können Performanzsignale (Reinmar: und man mich doch so vrô darunder siht; da merket) und verwandte sprachliche Gesten (Walther: Ir sult sprechen willekomen; Her keiser ich bin frônebote) als (fingierter oder tatsächlicher) Hinweis auf einen Aufführungszusammenhang verstanden werden.22 Allein die Existenz solcher Elemente belegt, dass mindestens der als gewöhnlich imaginierte Rezeptionshintergrund derjenige einer geselligen Kommunikation unter Anwesenden, kurz einer Aufführung ist. Dergleichen Elemente fallen mit fortschreitender Verschriftlichung häufig weg. Daraus ergibt sich, was das Aufführungskonzept leistet und was nicht. Aufführung ist eine textuelle und keine realhistorische Kategorie. Damit entfällt ein großer Teil der müßigen Kontroversen, wie man denn wissen könne, wie eine Darbietung konkret aussah. Es ist ein Unterschied, ob ich eine bestimmte Annahme über eine bestimmte Aufführung suggeriere23 oder ob ich zur Annahme gezwungen bin, dass ein schriftlich fi xierter Text zunächst Teil mündlicher Kommunikation ist und deshalb in seinem performativen Charakter analysiert werden muss. Das eine ist eine Aussage über eine einstmals wirkliche Situation, das andere eine über die Prozessualität eines bestimmten Typus von Rede. Die Einsicht, dass mittelalterliche Texte in Aufführungen realisiert wurden, kann zwar im allgemeinen wahrscheinlich machen, dass sie variiert wurden (wie dies bis heute etwa in Theateraufführungen geschieht), eine zwingende Erklärung für konkrete Varianten bietet sie jedoch nicht. Als Auf führung dieses Textes ist der Spielraum von Varianz nicht beliebig, sondern begrenzt. Die Annahme einer Aufführung tangiert die Interpretation des Redeaktes insgesamt (als Kommunikation unter Anwesenden), kann in der Regel aber nicht oder nur hypothetisch bestimmte textuelle Details entschlüsseln helfen.

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J.-D. MÜLLER (1994a); TERVOOREN (1996) glaubt, Sper vogel (AC 18) Wir loben alle disen halm sei nur möglich, »weil sein Lied in einen nonverbalen Rahmen eingepaßt ist, dise braucht als Korrelat eine räumlich definierte Zeigegeste. Der Sänger weist also mit einem lokalen Deiktikon und mit einer Geste auf ein Requisit, d. h. auf eine Ähre oder ein Ährenbündel – oder auf den Platz der Aufführung, der in der Nähe eines Ährenfeldes liegt« (S. 57). Muss man sich das wirk lich so vorstellen? nicht stattdessen mit der Möglichkeit einer (in der Epik breit bezeug ten) fiktiven Mündlichkeit rechnen? In Neidharts Sommer- und Winterliedern ist die Situationsreferenz zum Ausgangspunkt von Gattungs- (Typen-)bildung geworden, so dass mit ›Seht den Sommer‹ ein literarischer Typus, nicht eine Jahreszeit angesagt wird. Ein Beispiel ist KUHN (1969) zufolge Hartmanns Kreuzlied Ich var mit iuwern hulden, dessen Verständnis ein Kreuz auf dem Mantel des Sängers und eine Zeigegeste voraussetze.

II. Autorschaft Bei der These, das Mittelalter kenne im Bereich der Volkssprache keinen Autor, geht es offenbar nicht primär um die Bindung des Textes an einen Namen, denn dann ist die Behauptung leicht zu widerlegen.24 Anonymität ist zwar häufig, aber seit dem späten 12. Jahrhundert besteht ein Interesse an der Verknüpfung eines Textes mit einem Namen. Dass es, zumal bei der Lyrik, öfter zu Fehlzuweisungen kommt, zeigt zwar, wie wenig sicher solch eine Verknüpfung ist, doch sprechen gerade Fehlzuweisungen für die Relevanz der Autorfrage. Kompliziert wird das Problem durch das Verhältnis von Vortragendem und Verfasser. Mündliche Ich-Rede wie etwa in der Minnekanzone suggeriert Authentizität.25 Es liegt nahe, ihren Ursprung auf den Vortragenden zu beziehen (und einige Minnesänger haben diesen Mechanismus zum Thema gemacht). Damit kann es zur Verwechslung von Verfasser- und Sängerna men kommen,26 und solche Verwechslung kann sogar Gegenstand des literarischen Spiels sein. Dichterlegenden bezeugen, dass derjenige, der spricht, derjenige, von dem die Rede ist, und derjenige, der beides erdacht hat, nicht durchweg auseinandergehalten werden.27 Urheberschaft an einem Text wird an der kunstvollen Verfertigung von Rede festgemacht. Dichterkataloge sind Kata loge von Könnerschaft. Nicht individuelle Eigenschaften, sondern unterschiedliche Ausprägungen von Können werden gegeneinander abgehoben. Der meister-Titel steht zwischen dem (gelehrten) Titel des magister und dem Titel des Handwerkers und hat von beiden etwas. Auch wo diese Meisterschaft als natürliche Gabe verstanden wird (wie im Prolog des ›Trojanerkrieges‹ von Konrad von Würzburg)28 ist damit nicht das persönliche Gepräge, sondern die Beherrschung einer überindividuellen, aber eben nicht erlernbaren Kunst gemeint. Deshalb sind im Begriff Autor der lebensgeschichtliche und der künstlerische Aspekt nicht miteinander verknüpft. Wenn doch einmal das biographische Ich des Verfassers ins Spiel kommt, dann scheinen uns die Angaben häufig belanglos und ohne Zusammenhang mit seiner Verfasserschaft.29 Autorschaft und individuelle Existenz sind weithin voneinander unabhängig; die vertextete Autorrolle kann deshalb nicht ohne weiteres als biographische Quelle benutzt werden.

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STACK MANN (1994), S. 401–405; STROHSCHNEIDER (1997), S. 66ff. WACHINGER (1991), S. 13. Angenommen bei Goeli und Geltrut; vgl. HOLZNAGEL (1995). J.-D. MÜLLER (1994a). KONRAD V. WÜRZBURG: ›Der trojanische Krieg‹ (1858), V. 132ff. HEINRICH V. NEUSTADT: ›Apollonius von Tyrland‹ (1906) gibt seine Adresse auf dem Graben in Wien an: Maister Hainrich von der Neun stat / Ain artzt von den püchen. / Will in yemand suchen: / Er ist gesessen an dem Graben (V. 20603–20606). Lebensgeschichtliche Details gibt der Verfasser des Prosa-Wiga lois, er erwähnt seine Krankheit und seine schwierigen Lebensumstände während der Arbeit. Mit dem Text hat das nichts zu tun.

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Der Verfasser eines Textes er wirbt an diesem Text kein Eigentum; er stellt etwas her, das anderen zum Gebrauch sich anbietet. Ein besonderes Recht beansprucht er allenfalls, in der Konkurrenzsituation der Spruchdichter im 13. Jahrhundert, für die metrisch-musikalische Struktur, den Ton,30 und wendet sich gegen ihre Entfremdung (du doenediep), wie man sich gegen Industriespionage zur Wehr setzt. Das Produkt ist dem Produzenten vorgeordnet. Es bleibt nicht in der Verfügung seines Urhebers. Maßstab ist seine Vollendung und Brauchbarkeit, nicht aber die größtmögliche Nähe zu seinem Urheber. In der Epik findet dies Ausdruck in Fortsetzungen fragmentarischer Texte, aber auch in verschönernden, umdeutenden, kürzenden usw. Bearbeitungen, in der Lyrik in der Ablösung des Werk stücks von seinem Hersteller (Athetese), in neuen Strophenkombinationen oder – ich denke an Neidhart c – in der Umformung von Minneliedern zu kleinen Erzählungen. Zu solchem Dienst am Produkt fordern häufig die Verfasser selbst spätere Rezipienten auf. Damit entfallen ursprungsmythische Konnotationen von Autorschaft, vom Autor als der ›reinen Quelle‹. Nicht nur sind angesichts der Überlieferungspraxis die Worte des ersten Verfassers in der Regel nicht erreichbar, es darf auch nicht vorausgesetzt werden, dass sie als die ›origina len‹ auch die besten sind. Sie sind nicht unbedingt gegenüber allen folgenden ausgezeichnet; sie können ›verbessert‹ werden – wie dies mit vielen epischen Werken des 12. Jahrhunderts im 13. versucht wird, wohl auch mit der Reimgrammatik der frühen Minnelyrik. Welche Version ausgezeichnet ist vor anderen, hängt von ästhetischen Leitvorstellungen ab: Der moderne Philologe wird im Interesse (literar)historischer Erkenntnis dem weniger polierten ›Rolandslied‹ den Vorzug vor dem ›Karl‹ des Stricker geben, und er wird vielleicht die frühen Minnelieder der Manessischen Handschrift auf Grund älterer Textfunde von Übermalungen und Glättungen zu befreien trachten,31 aber er würde sich da mit gegen eine an der Glättung und Auszierung des Werk stücks orientierte mittelalterliche Ästhetik stellen. Es gibt den Autor im Mittelalter häufig nur im Plural. Fälle wie der ›Niuwe Parzival‹ mit vielen Mit wirkenden sind dabei sicher die Ausnahme, denn da geht es um die Konstitution des Textes einer einzigen Handschrift.32 Doch gibt es auch eine generationenübergreifende Arbeit an einer Geschichte wie im ›Nibelungenlied‹, vielleicht auch im ›Prosa-Lancelot‹; gefasst ist sie in der Bauhütten-Metapher im Verfasserfragment des ›Jüngeren Titurel‹.33 Schröders polemische Frage, bis zu welchem Punkt man wirk lich jedem Redaktor, jedem, der seine Vorlage korrigiert, jedem, der sie da und dort abkürzt, erweitert, verändert, dem, der sie in seinen Dialekt umformt, ihr seine Orthographie auf zwingt, sie mit seiner Hand abschreibt, den Ehrentitel eines Autors zubil-

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WACHINGER (1991), S. 13. Zu diesem Problem WORSTBROCK (1998). BUMKE (1997). A LBRECHT: Verfasserfragment (1952), S. 78.

ligt,34 ist falsch gestellt, denn sie misst die Antwort am emphatischen Autorkonzept der Neuzeit. Der mittelalterliche Autorbegriff ist unterdeterminiert. Der Verfasser kann sein Produkt nur eine kurze Wegstrecke lang kontrollieren, dann ist er auf andere angewiesen (wie Schreiber, Illustratoren, Bearbeiter, Vortragende), deren Arbeit seinem Zugriff entzogen ist. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es Versuche, den Zugriff auszudehnen, und sie setzen sich hin zur Gegenwart fort. Einzelne Dichter haben Kontrolle wenigstens über einige Parameter ihrer Texte wie z. B. die Reinheit der Reime verlangt.35 Die Autorenrechte, die sich seit Erfindung des Buchdrucks ausbilden, dehnen die Kontrolle des Verfassers über die Abgabe des Manuskripts hinaus bis zur Publikation, also zur massenhaften Verbreitung.36 Alle anderen, die an der Herstellung eines Textes mitwirken, werden mediatisiert, oder – wenn sie dem Willen des ersten Urhebers entgegenarbeiten – sie sind Störenfriede und Textverderber. Wo sich heute Arbeitsformen herausbilden, die jene Kontrolle unmöglich oder sinnlos machen (wie z. B. beim Film, dem Fernsehspiel, auch dem Theater), kehrt man keineswegs zum unterdeterminierten Autorbegriff handwerk licher Arbeitsteilung zurück, sondern multipliziert den emphatischen Autorbegriff: Es gibt den Dramatiker oder Romancier, den Übersetzer, den Drehbuchschreiber, den Dramaturgen, der eine Spielfassung einrichtet, den Regisseur, der sie umsetzt, vielleicht gegen den Strich bürstet, aber auch Bühnenbildner, Beleuchter, Kameramann usw. usw. Sie alle können unter bestimmten Bedingungen als Autoren bezeichnet werden, weil wir ihnen bei der Herstellung des Endprodukts einen schöpferischen Anteil zuschreiben, und unsere Rechtsordnung billigt solchen Personen Urheberrechte zu. Die emphatische Autorschaft hat weitere emphatische Autorschaf ten hervorgebracht. Wenn man dies als Verschwinden ›des‹ Autors begreift, dann ist das mit der Marginalisierung des Autors im Mittelalter ganz unvergleichbar. Moderne Autorschaft hat sich zunehmend alle Ebenen eines sprachlichen Kunstwerks unterworfen (wobei diese dann sekundär wieder auf einzelne Personen verteilt werden können). Man kann dies an moderner und postmoderner Editionspraxis verdeutlichen. Es war lange selbstverständlich, bei älteren Texten Orthographie und Interpunktion den jeweils gegenwärtigen Standards anzupassen. Inzwischen werden die Ausgaben des Deutschen Klassiker-Verlags angegriffen, weil sie solche ›behutsamen‹ Modernisierungen zulassen. Die historische Schreibung gegenüber einer modernen, erst recht orthographische Idiosynkrasien des Verfassers (etwa Stif ters weitgehender Verzicht auf Interpunktion) werden heute als integrale

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SCHRÖDER (1998), S. 172f. HEINRICH V. HESLER: ›Die Apokalypse‹ (1907), V. 1349–1482; vgl. NICOLAUS V. JEROSCHIN: ›Di Kronike von Pruzinlant‹ (1861), V. 236–255. Vgl. zu Änderungen der Korrekturpraxis CERQUIGLINI (1989), S. 21f.

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Bestandteile des Autortextes angesehen. Mit ihrer Wiedergabe in der Edition soll dem Autor ein Stück Herrschaft über seinen Text zurückgegeben werden.37 Die Herausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe gehen noch weiter. Sie dokumentieren auch sog. Fehler als Symptome möglicher Bedeutung, statt sie zu korrigieren; sie erwägen bei Stellen, an denen die traditionelle Kleistphilologie ein ›Versehen‹ annahm, einen verleugneten, überschriebenen Sinn und ahmen die Textanordnung und das Lay-out der Erstdrucke nach: Auf eine Seite kommt nur soviel Text wie auch der Erstdruck enthielt, denn das war die Gestalt, die der Autor seinem Text zuerst gab. Die Nähe zum Original hat – was man darüber auch denkt – einen weiteren Parameter bekommen. Statt vom Fehlen von Autorschaft im Mittelalter zu sprechen, müsste man also vom Fehlen des in der Moderne herausgebildeten Typus von Autorschaft reden. Wenn wir nicht die mittelalterliche Bedeutung von auctor zugrunde legen, sind es verhältnismäßig wenige Parameter, an denen Urheberschaft festgemacht wird, Reim und Metrik, die Bearbeitung eines bestimmten Stoffes, ein Ton oder eine Strophenform, selten ein stilistischer Gestus. Meist bleiben sie isoliert voneinander und schießen nicht zu einem Gesamtbild von Autorschaft zusammen, die ohnehin weder das Recht auf wort wörtliche Wiedergabe noch ein persönliches Gepräge einschließt.

III. Text Das hat Konsequenzen für den Textbegriff.38 Die Einsicht in die »strukturelle Offenheit der Texte« (Heinzle)39 ist nicht zu verwechseln mit der Annahme eines sich unabsehbar verzweigenden Flusses unablässiger Rede, die nur in kontingenten Momentaufnahmen fi xiert wird. Die Variabilität mündlicher Alltagskommunikation ist als Modell des ›offenen‹ literarischen Textes ungeeignet. Schon in der Oralität gibt es relativ feste Texte, ›Wiedergebrauchsrede‹, gekennzeichnet durch ›Verdauerung‹ und ›Zerdehnung‹ der Kommunikationssituation.40 Bei verschriftlichten, doch mündlich vorgetragenen Texten ist der Grad der Verfestigung noch höher, denn durch den Bezug auf eine schriftliche Vorlage (wie sehr diese im Einzelfall modifiziert werden mag) werden sie noch stärker ›situationsabstrakt‹, selbst wenn sie dann wieder auf Situationen bezogen und in Kommunikation unter Anwesenden überführt werden.

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Wobei damit manchmal gar nicht der Autor wille, sondern der des Druckers, Redaktors usw. erfasst wird. Zuletzt STROHSCHNEIDER (1999). HEINZLE (1978b), S. 231. EHLICH (1994); DERS. (1983).

Solche Texte lassen sich mit Jan Assmann als ›kulturelle Texte‹ bestimmen. Sie unterscheiden sich von ›heiligen‹ Texten, durch ihre soziale Funktion und den Grad der Verfestigung; während bei letzteren Wortwörtlichkeit angestrebt wird, zeichnen sich kulturelle Texte allenfalls durch r e l a t i v feste formale Strukturen aus, die einen relativ festen inhaltlichen Kern organisieren. Allerdings handelt es sich bei ›kultureller Text‹ um einen Sammelbegriff, der höchst unterschiedliche Typen zusammenfasst. Bei der Übertragung von der altägyptischen auf die komplexeren Kulturen des europäischen Mittelalters erweist er sich als zu weit und müsste daher differenziert werden. Neben dem allgemeinen Grad der Verschriftlichung, dem Ort der sozialen Geltung kultureller Texte und der Weise ihrer formalen und inhaltlichen Organisation sind vor allem jeweils die institutionellen Bedingungen zu beachten (z. B. wie sie mit der Polarität ›Hof‹ und ›Kloster‹ gegeben sind).41 Man wird nach Gattung und Funktion zwischen Texttypen unterscheiden müssen, die eher zur Festigkeit – auf Grund sorgfältiger Konservierung – tendieren, und solchen, deren häufiger Gebrauch häufigere Anpassung verlangt. So macht sich bei der Bibel42 oder einigen liturgischen Texten früh ein Interesse an dem einen ›richtigen‹ Text bemerkbar, während etwa die Predigtliteratur hohe Varianz, Umakzentuierungen, Er weiterungen und Verkürzungen, Kombination wechselnder Bausteine usw. aufweist. Die Varianz der mittelalterlichen Literatur kann man im Übrigen nur bestimmen, wenn man auch die Gegenrechnung aufmacht und nach der Festigkeit bestimmter Textparameter fragt. Sie ist selbst beim ›Nibelungenlied‹ größer als die Abweichung, ebenso bei der Liedüberlieferung, dem beliebtesten Paradigma für Varianz.43 Die Einsicht in die Unmöglichkeit, über variante Überlieferungen zum Autortext oder Archetyp zu gelangen, bedeutet nicht, dass es überhaupt keine textuelle Verfestigung gibt. Herauszuarbeiten wären die unterschiedlichen Typen von Varianz; sie kann unmittelbar abhängig von der Sprachverwendung sein, also etwa von den besonderen

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Das Kloster ist seit dem frü hen Mittelalter Ort einer geregelten Schriftproduktion und -rezeption. Dies hat grosso modo zwei scheinbar entgegengesetzte Weisen des Umgangs mit schriftlicher Überlieferung zur Folge: Auf der einen Seite existieren günstigere Bedingungen für eine sorgfältige Pflege schriftlicher Überlieferung und insofern für eine Eindämmung von Varianz. Auf der anderen Seite ist der Schriftgebrauch und damit -verbrauch höher und damit die Notwendigkeit größer, die jeweiligen Texte wechselnden Situationen anzupassen. Etwa die sog. Harding-Bibel. Diese relative Festigkeit kann auch quasi naturwüchsig, nämlich bedingt durch die Konvention einer traditionalen Gesellschaft sein, »Erfüllung[] des immer schon Erwarteten« (STROHSCHNEIDER [1997], S. 83), aber das ist nur ein Typus; denn Festigkeit kann auch eine bewusst gemachte und bewusst respektierte sein, die Autorität einer bestimmten Textgestalt, die man in Bezug auf einige Para meter nicht anrührt. Auch in diesem Punkt wäre das Varianz-Konzept zu differenzieren.

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Gebrauchsinteressen eines Benutzers, und sie kann sich einer Reproduktionspraxis verdanken, für die einfach bestimmte Parameter eines Textes irrelevant und deshalb zu vernachlässigen sind. Sie kann sich auf verschiedene Ebenen des Sprachsystems (Lexik, Syntax, Morphologie, Phonetik) beziehen und unterschiedliche Ebenen seiner textuellen Faktur betreffen (Inhalt, Aufbau, ›Rahmung‹, Argumentationsoder Erzählstrategie usw.). Varianz hat extrem verschiedene Erscheinungsformen. In Chroniken z. B. kann Konstanz einzelner Formulierungen mit hoher Abweichung bei den thematisierten Sachverhalten verbunden sein, während umgekehrt in Minnesang oder erzählender Dichtung erhebliche Formulierungsvarianten mit Stabilität des inhaltlichen Kerns zusammengehen können. Damit wird die Frage, was denn die Identität eines mittelalterlichen Textes ausmache, neu beantwortet werden müssen, die Identität für uns und die Identität für die Zeitgenossen. Die Kriterien dafür, dass man von diesem einen Lied oder Epos im Unterschied zu anderen reden kann, sind offenbar andere, weichere als in der neuzeitlichen Literatur, und es bedarf einer geringeren Zahl von Parametern als heute.44 Wenn aber der Bezugspunkt der einen ›originalen‹ Gestalt entfällt, ist die Frage, wieso ein Text(teil) – also etwa eine Liedstrophe – als Variante eines anderen Text(teils) aufzufassen ist, neu zu beant worten. Man muss Kriterien von ›Familienähnlichkeit‹ zwischen Texten entwickeln, die es nahelegen, von diesem einen Text zu sprechen, ohne dass alle ›Familienmitglieder‹ auf einen Archetyp oder gar Autortext zurück führbar sind. Welche Parameter distinktiv für solche Familienzugehörigkeit wirken und welche untergeordnet sind, kann je nach Gattung und Texttypus differieren, entsprechend auch die Zonen, in denen Varianz auftritt und toleriert wird. Im Textbestand stark abweichende Chroniken können als Repräsentanten einer einzigen Chronik gelten, wenn ein gemeinsamer thematischer Kern oder die Rückführbarkeit auf den gleichen Schreibanlass gegeben ist. In der Sangspruchdichtung wird Identität über ein Strophenmodell hergestellt. Doch gibt es beispielweise in der Lyrik verwandt-verschiedene Strophenkombinationen und Textmontagen, die noch nie typologisch erschlossen wurden. Es gibt Kurz- und Langfassungen von Erzähltexten (derselben?) und Grenzfälle wie Exzerpte oder Kompilationen, deren genetischer Zusammenhang mit dem jeweiligen Ausgangstext nurmehr schwach ausgeprägt ist. Die Lizenzen sind bei poetisch geformten Texten aufs Ganze gesehen wohl geringer als bei Gebrauchstexten, etwa zwischen Rezeptsammlungen und Historiographie,45 gleichwohl im Vergleich zur neueren Literatur noch groß. Doch gelten die Texte trotz ihrer unterschiedlichen Gestalt selbst Verfechtern des Varianzprin-

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Das ist an dem Gedankenexperiment ›Pierre Menard‹ von Jorge Luis Borges zu studieren; vgl. J.-D. MÜLLER (1994b), S. 63ff. Die natürlich auch wieder poetisch geformt sein können – man denke an Lehrdichtungen wie den ›Renner‹; die starke Gebrauchsgebundenheit scheint auch hier Varianz zu befördern.

zips durchaus als Repräsentationen bestimmter Texte, auch wenn sie sie nicht mehr auf einen Ausgangspunkt zurückführen: Der ›Iwein‹ bleibt Hartmanns ›Iwein‹, der ›Münchner Tristan‹ Gottfrieds ›Tristan‹, auch wenn Teile fehlen oder Passagen verändert sind. Hier fehlt bisher eine adäquate Beschreibungssprache: Varianz ist immer Varianz von etwas. Zugleich müssten Kriterienkataloge für mittelalterliche Vorstellungen von Ganzheit und Identität erarbeitet werden: Der ›Tristan‹ ist für die Fortsetzer Gottfrieds die Geschichte einer bestimmten Figur mit Anfang, bestimmten Peripetien und Schluss; der vollständige Tristanroman übergreift also auktoriale Verschiedenheit. Der ›Niuwe Parzival‹ dagegen wird als Text vom ›alten‹ unterschieden, die ›neuen‹ Autoren treten neben den alten, jedoch besteht an genauer Kennzeichnung der Urheberschaft von hinzugefügten und übernommenen Teilen kein Interesse. In der Lyrik Neidharts stiften bestimmte Requisiten oder Motive oder der Redegestus die Familienähnlichkeit, die – gegen die moderne Textkritik – auf den ›Verfasser‹ Neidhart zurückgeführt wird. ›Identität‹ setzt Rekurrenzen in mindestens einer relevanten Hinsicht voraus; sie wären typologisch zu differenzieren. In orientalischer Musik gibt es, wie man mir gesagt hat, rhythmische und melodische Modelle, die als mit sich identisch angesehen werden, deshalb z. B. bestimmte Namen tragen können, obwohl jede ihrer konkreten Realisationen anders klingt. Die Varianten sind keineswegs beliebig, sondern von jenem Grundmodell abgeleitet. Ähnlich gibt es in der modernen Popmusik Stücke, deren Ausgangspunkt eine bestimmte rhythmischen Konfiguration ist, auf der dann Melodie, Instrumentierung, Verteilung der Stimmen, Text, elektronische Realisierung aufbauen. Um das Stück als dieses Stück zu identifizieren ist offenbar nur ein Teil der Para meter nötig, mit denen seine Basisstruktur identifizierbar wird, auch ohne dass die übrigen hinzutreten (sicher nicht Instrumentierung, Stimmverteilung, elektronische Umsetzung, aber manchmal auch nicht einmal der Text, wohl aber die Melodie oder ein bestimmtes rhythmisches Modell). Das sind Grenzfälle, doch lassen sich von ihnen her Probleme des mittelalterlichen Werkbegriffs erläutern. Könnte man z. B. entsprechend solchen Strophenmodellen, die mit einem bestimmten Textstück verbunden sind, diese Werkhaftigkeit zuschreiben? Oder erfüllt schon der Ton diese Bedingung? Die Meistersingerpraxis baut darauf auf, aber ist deren Werkbegriff nicht trotz allem defizitär? Das Problem der Hinzudichtungen und Pseudo-Zuweisungen hängt damit zusammen, dass mittelalterliche Sammler häufig ein bestimmtes Formmodell als einheitsstiftend ansahen, wo der moderne Philologe nach dem Autor suchte. Das Formmodell kann neue Strophen generieren. Sammler wie die der Manessischen Handschrift scheinen sich darum bemüht zu haben, möglichst alle zu einem Ton umlaufenden Strophen zusammenzubekommen, ohne Rücksicht darauf, ob ihre Abfolge sinnvoll noch als lyrische Einheit aufgefasst werden kann. Die Sammler der NeidhartHs. c haben, was sie an Neidhartischem in einer bestimmten Strophenform fanden, in einen meist szenischen Zusammenhang gebracht. An der Spitze der Transformationen distinkter Texte stünde nicht mehr der Autor, sondern ein solches Basismodell. 23

Mit Varianz sind also unterschiedliche Sachverhalte gemeint, die weiterhin unterschieden werden müssen. Das betrifft erst recht die Anlässe. Auch die neue Philologie muss m. E. am Fehlerbegriff festhalten, wenn dieser auch ganz restriktiv gefasst sein muss. Hinzutreten Dif ferenzen im Ad-libitum-Bereich der sog. iterierenden Varianten, zwischen denen kein genetisches Abhängigkeitsverhältnis herstellbar und keine Entscheidung möglich ist. Drittens gibt es formale, inhaltliche, konzeptionelle Entscheidungen für Abweichungen, Erweiterungen oder Kürzungen, Umstellungen und Kommentare, Verschärfungen oder Entschärfungen usw. Im ersten Fall werden Varianten als Textverderbnis beseitigt. Das mag angesichts des Lobs der variance reaktionär klingen. Doch ist schwer widerlegbar, dass die Eigenart der schriftlichen oder mündlichen Reproduktion von Texten Fehler produziert. So wenig der mittelalterlichen Kopierpraxis die Vorstellung vom teils schwachsinnigen, teils faulen, teils sorglosen Schreibers gerecht wird, dessen unseliges Wirken mittels reinigender Textkritik zu eliminieren ist, so wenig stimmt die Vorstellung von einer unablässig kreativen Produktion von Varianten, von denen eine so gut wie die andere ist. Dass die Kriterien für ›Fehler‹, über die sich ja übrigens schon Zeitgenossen beschwerten, durch die neueren Erkenntnisse der Editionsphilologie und der Überlieferungsgeschichte erheblich eingeschränkt sind,46 spricht nicht gegen ihre Denkbarkeit. Vom ›Oszillieren‹ des Textes kann man eigentlich nur im zweiten Fall sprechen.47 Neben dem großen Komplex von Varianten, die für den Sinn ohne Funktion sind, rechne ich dazu auch kleinere semantische und syntaktische Abweichungen unterhalb der Toleranzschwelle konzeptioneller Neuformung, Varianzen inhaltlich äquivalenter Formeln sowie Varianzen in der Ausfüllung des Versbaus. Was man hierzu zählen muss, differiert schon zwischen Lyrik und Epik, erst recht gegenüber stärker pragmatisch ausgerichteten, weniger formorientierten Texten. Die Abgrenzung zum dritten Typus ist fließend. Die größte Herausforderung für eine am modernen Werkbegriff orientierte Philologie ist der dritte Typus. Hier würden Korrektur und Konjektur die besondere Gestalt der literarischen Überlieferung zerstören. Bei ihm halte ich die Metapher des ›Oszillierens‹ für unangemessen, denn offensichtlich handelt es sich um bewusst vorgenommene, nicht bloß nebenher unterlaufende Abweichungen. Hier kann man auch mit auktorial verantworteten Eingriffen rechnen. Dort wo sie sich zu ›Fassungen‹ kristallisieren bereiten sie methodisch die geringsten Probleme, 46

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Ein wesentlicher Grund ist das Fehlen orthographischer und allgemein grammatikalischer Normierung. Auch die normative Festsetzung metrischer Regeln ist für Fehlererkennung problematisch. Dennoch sollte man die Überlegungen der älteren Textphilologie zu typischen Fehlerquellen (nicht ihre Phantasmen des ›reinen‹ Autortextes) für eine Neubegründung philologischer Arbeit nicht beiseite schieben. Die Alternative wäre der Überlieferungspositivismus schierer Transkription. Anlässlich seiner ›Klage‹-Edition hat BUMKE (1996b) einen vollständigen Kata log solcher Abweichungen zusammengestellt (S. 390–455). Ohne Anspruch auf die bei der ›Klage‹ noch denkbare Vollständigkeit wäre Ähnliches für andere Texttypen zu leisten.

denn jede Fassung kann als grundsätzlich gleichberechtigt angesehen werden. Begründet lässt sich in vielen Fällen nicht entscheiden, was autornä her ist, und bei konkurrierender Überlieferungen wird man häufig statt zu einem Text zu mehreren kommen, und zwar in einzelnen Passagen eines Textes wie im Ganzen. Wo das letztere der Fall ist tritt die Fassung an die Stelle, die zuvor das eine möglichst autornahe Werk besetzte.48 Solche Varianten sind prinzipiell als gleichwertig anzusehen49 (was nicht davon entbindet, sie qualitativ zu unterscheiden). Ein Irrtum ist es daher zu glauben, dass mit der Ersetzung des einen fiktiven Autortextes durch mehrere mögliche Texte die Interpretation50 von Texten vorerst zu schweigen habe. Sie fängt im Gegenteil jetzt erst an. Auch im Vergleich von Fassungen gibt es die lectio difficilior, die Banalisierung oder Harmonisierung, die Komplexitätssteigerung, die Zurichtung für einen bestimmten Kontext. Auf diese Weise werden Texte unterscheidbar, wenn auch nicht nach ihrer Nähe zum Autor und dem, was man für seine Intention hält. Es kann zwischen einzelnen Fassungen gewichtet werden, und Vermutungen über Bearbeitungsrichtungen und -tendenzen sind möglich. Statt des Einzeltextes ist ein Ensemble von Texten und der Spielraum seiner Variation zu interpretieren. Dem ›offenen‹ Text antworten ›offene‹ Interpretationskonzepte.

IV. Ich wäre missverstanden, wenn diese Überlegungen den Eindruck erweckten, man könne hinter die Entdeckung der Aufführungskategorie, die Problematisierung des Autorbegriffs und der Verabschiedung einer bestimmten Konzeption von Werk zurückgehen. Ihre Entdeckung hat im Gegenteil nur gezeigt, welche neuen und schwierigen Aufgaben jetzt anstehen. Die Diskussion könnte an Klarheit freilich gewinnen, wenn nicht die eine Mystifikation durch die andere ersetzt würde und wenn man nüchtern bilanzierte, welche neuen Antworten bereitgehalten und welche neue Fragen aufgeworfen werden.

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BUMKE (1996b), S. 48; »Damit verschiebt sich der Werkbegriff vom Original auf die Fassungen«. Dass freilich »die Fassungen das Werk selbst« darstellen (S. 49), ist mit ZUMTHORS Werkbegriff (der aufgeführte Text mit Gestik, Mimik, Musik) nicht zu vereinbaren. STROHSCHNEIDER (1997), S. 71. Meist wird dabei mit einem antiquierten Interpretationskonzept argumentiert, das sich die eine schlüssige und deshalb abschließende Deutung der einen schlüssigen Werkgestalt zum Ziel setzt.

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Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit Am Beispiel des ›Narrenschiffs‹ von Sebastian Brant

Was bedeutet ›Text‹, ›literarischer Text‹, in der Kultur der Frühen Neuzeit? Diese Frage ist weder trivial noch mit der Frage identisch: Was ist ein typisch frühneuzeitlicher Text? Wann kann man einen Text als repräsentativ für die Frühe Neuzeit ansehen?1 Vielmehr ist das Problem weit grundsätzlicher: Wie lässt sich die Größe ›literarischer Text‹ in der Frühen Neuzeit bestimmen? Wie grenzt sich ein Text von einem anderen Text ab? Wie ist er als dieser Text identifizierbar, welche Verbindungen bestehen zwischen ihm und seinem Verfasser und welche zwischen ihm und übergreifenden Diskursen? Die hier versuchte Antwort ist wesentlich bescheidener, als es die gegenwärtige Debatte um ›Kultur als Text‹ erfordern würde. Diese hat zu einer generellen Entgrenzung des Textbegriffs und zu einer Nivellierung der unterschiedlichen Typen von Textualität geführt, damit aber das Problem der Operationalisierbarkeit aufgeworfen: Wenn ›Kultur‹ als ganze ›Text‹ ist, wie hat dann die Untersuchung eines einzelnen Elements dieses Textes (eines Textes im herkömmlichen Sinne) vorzugehen, mit welchen anderen Elementen muss ich es kontextualisieren und wie kann ich zum Gesamttext gelangen? Häufig geht man diesem Problem aus dem Weg, indem man Beziehungen zwischen Teilen und Ganzem über einige inhaltliche Analogien suggeriert, ohne Rücksicht auf unterschiedliche Formen von Textualität im Text der Kultur. Wo aber das Problem der Textualität angesprochen ist, da wird es in der Regel nicht als ein historisches, sondern als ein systematisches entfaltet.2

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Das ist die Frage, die sich PERLER (2003) stellt: Welcher philosophische Text ist repräsentativ für die entscheidenden geistigen Bewegungen der Epoche – eine Frage, die letztlich undurchschaubar gewordene Kanonisierungsprozesse problematisiert. Vgl. das Forum ›Kultur als Text‹? (2002). Baßler hat dort das Problem der Repräsentativität und des Verhältnisses von Text und Kontext in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Arbeiten klar benannt (S. 103) und herausgearbeitet, dass sich Erfolg oder Misserfolg des neuen Paradigmas an einer zureichenden Bestimmung von ›Textualität‹ entscheiden werden. Allerdings scheint mir sein Lösungsvorschlag keinen Ausweg zu bieten: Er glaubt, dass ein Archiv sämtlicher »überlieferte[r] Textbestände, gerade auch der nicht-kanonischen«, ein Korpus der »Texte einer Kultur« (S. 104), mit elektronischen Mitteln erstellt werden kann; dieses könne dann, mittels bestimmter »Suchbefehle« befragt, Auskunft über den ›Text der Kultur‹ insgesamt geben. Dieses Phantasma setzt voraus, dass man weiß, was ein Text ist, weiß, wie man ihn ›einzugeben‹ hat (zumal wenn er nicht nur aus Wörtern bestehen soll) und weiß, worauf die Texte und das Korpus antworten sollen (Suchbefehle gibt es nur immer in einem Fragerahmen – ob dessen theoretische Basis nun durchschaut ist oder nicht –, und sie haben Relevanzkriterien

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Dabei könnte ein Blick auf Texte der Frühen Neuzeit lehren, dass das Verhältnis von Text zu Ko- und Kontexten durchaus historisch modelliert ist und die Untersuchung von Texten im Rahmen einer ebenfalls als Text aufgefassten Kultur zu historisch spezifischen Fragestellungen führt. Dies sind jedoch Weiterungen, die am Schluss des Beitrags allenfalls anzudeuten sind. Hier soll es ganz einfach um die frühneuzeitliche Bestimmung von ›Text‹ als sprachliches Gebilde in einem diskreten Sinne gehen. Offensichtlich gilt für diese Zeit in der Regel noch ebenso wenig wie für das Mittelalter Text als ein geschlossenes Ganzes, als Wort für Wort von einem Autor verantwortetes Gebilde. Texte sind ›offen‹, ›unfest‹ – und mindestens in der Volkssprache – nur zum geringen Teil in der Verfügungsgewalt ihrer Verfasser. Sie werden erweitert, gekürzt, geändert, exzerpiert, wobei die Gründe dafür vielfältig sind: sehr häufig technische Erfordernisse beim Druck und kommerzielle Erwägungen der Verleger, aber auch der intendierte Verbreitungsrahmen, die Ausrichtung an unterschiedlichen Publikumsinteressen, Moral- und Geschmackswandel usw. In manchen Fällen fragt sich, ob man bei zwei Druckausgaben noch von demselben ›Text‹ sprechen kann, oder grundsätzlicher, ob es ›Text‹ oberhalb seiner verschiedenen materiellen Repräsentationen überhaupt gibt. Gewiss wird die Vorstellung von ›Text‹ als einer virtuellen Größe in diesem Sinne zwingend, sobald es dank der Reproduktionstechnik des Drucks immer eine große Zahl identischer Exemplare gibt, und dies, obwohl de facto – selbst innerhalb einer einzigen Ausgabe, erst recht bei aufeinander folgenden oder miteinander konkurrierenden Editionen – die Übereinstimmung der Exemplare untereinander weit hinter dem zurückbleibt, was man gegenwärtig gewohnt ist.3 So ergibt sich ein widersprüchlicher Befund. ›Text‹ ist zwar einerseits eine virtuelle Größe unabhängig von ihrer jeweiligen Erscheinungsform in diesem oder jenem Buch, insgesamt aber andererseits weit weniger fi xiert, offener gegenüber anderen Texten, auch bloß entfernt verwandten, und gegenüber nicht-verbalen Zeichensystemen.

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zu genügen). Auch wird implizit die prinzipielle Gleichartigkeit aller ›Texte‹ unterstellt (oder sollten letztlich doch wieder nur Texte aus Wörtern gemeint sein?) und damit das Textualitätsproblem doch wieder beiseite geschoben. So scheitert der Vorschlag nicht nur an den Problemen, die Baßlers Mitdiskutanten ins Spiel bringen, und nicht nur an seiner technischen Machbarkeit, sondern vor allem am Fehlen einer elementaren Bestimmung der diskreten Einheit ›Text‹. Das hängt u. a. mit der Organisation des Druckvorgangs zusammen, der auf jeder Stufe individuelle Eingriffe zulässt, die – vor der durchgreifenden Mechanisierung des Verfahrens – auch faktisch genutzt wurden. – Gar nicht berücksichtigt ist bei den vorliegenden Überlegungen die aus dem Mittelalter datierende Wortbedeutung, die der Opposition ›Text – Glosse‹ zugrunde liegt; hier meint ›Text‹ eine sprachlich verfasste, autoritative Bezugsgröße für kommentierende Bemerkungen aller Art, die selbst seltsamer weise nicht ›Text‹ heißen, obwohl sie es in unserem Sinne sind.

I. Die Probleme, die sich bei der Frage nach dem, was ›der Text‹ ist, stellen, sollen am Beispiel von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ erläutert werden.4 Das 1494 zuerst erschienene ›Narrenschiff‹ versammelt 110 (später 112) Narrendarstellungen. Das Buch hat ein auffälliges Layout: Die einzelnen Kapitel bestehen jeweils aus einem drei- oder vierversigen Motto, häufig sprichwortartig zugespitzt, dann einem Holzschnitt, dem Titel und der ausführlicheren Beschreibung des jeweiligen Narrentypus in Reimpaaren. Diese Form ist bis auf wenige, vermutlich auf einem Versehen beruhende Ausnahmen, konsequent durchgeführt.5 Zusätzlich haben im ersten Teil die einzelnen Beschreibungen einen festgelegten Umfang von entweder 34 oder 94 Versen. Das bedeutet, dass ein einzelnes Kapitelensemble entweder zwei oder vier Seiten hat und entweder auf einem doppelseitig bedruckten Einzelblatt Platz findet oder aber auf einem ebenfalls beidseitig bedrucktes Doppelblatt. Texte und Bild nutzen den verfügbaren Raum nur unvollkommen aus, d. h. es bleibt am Ende eines jeden Kapitels Raum frei; das nächste Kapitel beginnt erst auf der folgenden Seite. Das bedeutet, dass die Kapitel auch einzeln geschlossen sind und theoretisch als Einzel- oder Doppelblätter verkauft werden konnten. Die erste Hälfte des ›Narrenschiffs‹ gibt sich als Sammlung von separat publizierbaren Texten. Freilich sind diese schon in die Ordnung eines Buchs eingefügt, insofern jedes Kapitel statt auf einer Recto- auf einer Verso-Seite beginnt und einer RectoSeite endet. Im Buch bilden die kürzeren Kapitel somit eine auf einen Blick überschaubare optische Einheit. Diese feste Kapitelgröße wird allerdings in der zweiten Hälfte aufgegeben. Das Konzept eines Buches setzt sich gegenüber dem einer Sammlung von Einzeltexten durch. Ab Kapitel 66 hört zunächst der regelmäßige Umfang, später die regelmäßige Verteilung der Texte auf. Kapitel 66 umfasst drei Blätter (= 6 Seiten); c. 67 ist wieder regelmäßig; c. 75 aber hat anderthalb Blätter (= 3 Seiten);6 c. 83 zweieinhalb (= 5 Seiten).7 Dadurch verschiebt sich die Anordnung der ›regelmäßig‹ vier Seiten umfassenden Kapitel; c. 76 z. B. beginnt folglich ›unregelmä ßig‹ auf einer Recto-Seite. Auch gibt es Kapitel mit ungeraden Verszahlen, da sie nämlich mit einem Dreierreim abgeschlossen werden. Doch bleibt es dabei, dass ein neues Kapitel jeweils auf einer neuen Seite anfängt, so dass – auch bei Kapiteln mit einem 4

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Zitiert nach: BRANT: ›Das Narrenschiff‹ (1968). – Für die Druck- und Editionsgeschichte nach wie vor unerlässlich ist die Ausgabe von Zarncke: BRANT: ›Narrenschiff‹ (1973). Zur Druckgeschichte vgl. auch ›La Nef des Folz‹ (1994). So fehlen in c. 48 (Eyn gesellen schiff ) und c. 103 (Vom endkrist) die Mottoverse und der Titel, da der Holzschnitt die ganze Seite einnimmt. – Man hat diese strenge Ordnung zum Anlass genommen, die Stellung des ›Narrenschiffs‹ in der Vorgeschichte der Emblematik zu untersuchen; vgl. HOMANN (1966), TIEMANN (1973). Die Differenz ist zwar unübersehbar, doch sind auch bei Brant Bild und Texte als feste Einheit konzipiert. Ähnlich Kap. 81, 82, 86, 95, 104, 105, 112. Ähnlich Kap. 92; drei weitere Kapitel (85, 103, 108) haben drei Blätter (= 6 Seiten).

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Umfang, der von dem üblichen von Flugschriften abweicht – jede Narrheit auch im Layout als geschlossenes Ensemble von Texten und Bild vorgestellt wird. Bei der Frage nach ›dem Text‹ sieht man sich also zunächst auf diese einzelnen Ensembles verwiesen. Das Buch scheint – und daran haben sich neuere Interpreten von Brants Text immer wieder gestoßen – eine Kompilation relativ geschlossener Einzeltexte, wenn auch deren Anordnung schon fortlaufend erfolgt, der Einzeltext nicht als selbständige Einheit aus dem Buchkörper herauslösbar ist. Diesen Buchcharakter hat Brant durch die Gestaltung des Anfangs und des Schlusses verstärkt. Es gibt eine vorred und den vortanz des gelehrten Narren, den man als Selbstironisierung der von Brant eingenommenen Position (nicht seiner tatsächlichen Rolle) verstanden hat, und es gibt eine entschuldigung des dichters (Kap. 111, 4 S.) und den Entwurf eines Gegenbildes zum Narren, den wiß man (Kap. 112, 3 S.). Darüber hinaus wird in der Schlusspartie ab c. 99 die Vorstellung einzelner Narrheiten durch grundsätzlicher ausgerichtete Kapitel zuerst nur unterbrochen und schließlich verdrängt.8 Zwar wird man der langen Reihe schwerlich eine deutlicher ausgeprägte Struktur zusprechen können, doch mündet die Reihung in eine zusammenfassende Schlusspartie. Mittels dieser Rahmentexte werden also die verschiedenen Einzeltexte zum ›Buch‹ gefasst. Insofern kann man vom Inhalt dieses Buchs als dem ›Text‹ des ›Narrenschiffs‹ sprechen. Der Buchcharakter war jedoch alles andere als sakrosankt. Bereits ein Jahr nach der Basler Erstausgabe (1494) erschien wieder in Basel bei Bergmann von Olpe eine um zwei Narren und einige neue Holzschnitte durch Brant selbst vermehrte Ausgabe. Vor die entschuldigung (c. 111) und den wiß man (c. 112) fügte er Narren mit grobianischen Tischsitten bzw. Fastnachtsnarren ein (c. 110a und 110b). Der abschließende Gestus der Kapitel 107ff. wird damit gestört; die neu hinzugefügten Narrheiten scheinen, nachdem von der Bedrohung des christlichen Glaubens die Rede war, einigermaßen marginal. Hinzukommt, dass in c. 110b Mottoverse und Holzschnitt fehlen (was in einigen späteren Ausgaben korrigiert wird). Damit er weist sich nicht nur der Rahmen des Buches als elastisch, sondern Brant gibt auch sein Kompositionsprinzip auf und zerstört die Ordnung seiner

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Zwischen abgang des glouben (c. 99), Vom endkrist (c. 103) und Von lon der wißheit (c. 107) sind zunächst zweimal drei etwas weniger grundsätzliche Kapitel eingeschoben, während die letzten drei Kapitel Das schluraffen schiff, verachtung vngfelles und Hynderred des guten den Charakter einer Zusammenfassung haben. (Aus diesem Grund kann das letzte dieser Kapitel in einer späteren Kompilation die Position des Schlusskapitels einnehmen). – Die seltsame Struktur des ›Narrenschiffs‹ wurde noch nicht befriedigend erklärt. Gaiers Versuch, die Disposition der Narrenreihe als oratio suasoria zu deuten, muss die rhetorischen Vorschriften über die Redeteile stark dehnen, und teils auch metaphorisieren (GAIER [1966a]; DERS. [1966b]). Bei aller Skepsis gegenüber seinen Thesen im Einzelnen, muss man seinen Hinweisen auf Ansätze zu einer formalen Abrundung in den Schlusspartien zustimmen. – In seiner Spekulationsfreudigkeit eher kurios ist der Versuch von MISCHLER (1981), die Anlage aus den (hypothetischen) Abläufen der Herstellung des Drucks herzuleiten.

Texte zum Buch. Das Buch ist offen; die Narrenreihe scheint beliebig verlängerbar. ›Text‹ erscheint unter diesem Aspekt als eine offene Reihe von Einzeltexten. Diese Reihe blieb zwar bei den in Brants Umgebung entstandenen Ausgaben von 1499 (Basel), 1506, 1509 und 1512 (Straßburg) dieselbe, doch kleinere textliche Varianten dokumentieren, wie problemlos der (Nach-)Drucker (vermutlich nicht Brant selbst) in einen vorliegenden Text eingreifen konnte und wie wenig es auf Wortwörtlichkeit ankam.9

II. Kann man also schon bei Brant selbst nur eingeschränkt von Werk- und Gebildehaftigkeit sprechen, so verstärkt sich dies erst recht in der Druckgeschichte des ›Narrenschiffs‹. Schon 1494/1495 brachte Grüninger in Straßburg eine erweiterte Ausgabe heraus.10 In ihr fügte ein unbekannter Verfasser in Brants Text im ersten Teil (c. 1–49) und ab c. 109 sowie in einigen Kapiteln des zweiten Teils weitere Reimpaare im Stil Brants ein. Die Zusätze sind z. T. sehr umfangreich. Dank diesen Ergänzungen kann das Werk als nüw angepriesen werden. Sie richten u. a. die Narrensatire präziser auf stadtbürgerliche Verhältnisse einerseits und auf in Klöstern anzutreffende Narrheiten andererseits aus.11 Wenn man die technischen Probleme veranschlagt, die die Erweiterung der Vorlage beim Drucken machte und die, folgt man Zarnckes Hypothesen, nur unzulänglich gelöst wurden,12 muss an dieser ›Verbesserung‹ ein massives Interesse gestanden haben: Man nahm Unzulänglichkeiten in Kauf, um die Beschreibung der Narren zu vervollständigen. Maßstab für Erweiterungen war vor allem die inhaltliche Komplettierung. Zwar bemühte man sich, aufs Ganze gesehen, Brants Auf zählung und Anordnung der Narren, den Aufbau des Buches also, zu übernehmen; sogar vereinheitlichend ging man vor, indem die Mottoverse jetzt regelmä ßig auf vier erweitert sind, doch

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Vgl. Z ARNCKE (1973), S. LXXXf. Was für die Straßburger Ausgaben gilt, gilt natürlich erst recht für Nachdrucke in Nürnberg, Augsburg und Reutlingen aus dem Jahr der Erstausgabe. BRANT: ›Das nüv schiff von Narragonia‹ (1981); zur Druckgeschichte S. 15–20; vgl. GEERAEDT (1980), S. 299–301. Zu einigen Bearbeitungstendenzen Z ARNCKE (1973), S. LXXXVI; J.-D. MÜLLER (1995a). Eine genaue Untersuchung sämtlicher veränderter Parameter steht noch aus. Z ARNCKE (1973), S. LXXXII–LXXXVI. Zarncke hat die Ausgaben kollationiert und vor allem auf den seltsam zwitterhaften Charakter der ›interpolierten‹ Ausgabe verwiesen, deren Interpolationen nur den ersten Teil und einige Schlusskapitel betreffen, während der Drucker, offenbar da der Interpolator mit seiner Bearbeitung nicht nachkam, den zweiten Teil aus Brants Originalausgabe übernahm. Dank diesem Verfahren gibt es auch Doppelungen von Kapiteln, den Einschub eines neuen Kapitels und einige Lücken und Umstellungen.

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ging durch die massiven Eingriffe des Interpolators die konzise Form und Geschlossenheit der Einzelkapitel verloren. Sie nehmen jetzt ganz verschieden viel Platz ein. Die Kapitelgrenze fällt zwar noch häufig, aber nicht mehr durchweg mit der Seitengrenze zusammen (so z. B. nicht zwischen c. 2 und 6 oder zwischen c. 10 und 11; c. 77 und 81; c. 87 und 89). Der Text ist durchgehend, überdies in zwei Spalten, gedruckt. Im zweiten (weithin unveränderten) Teil fallen zwar Seiten- und Kapitelgrenze wieder zusammen, doch reicht für den kürzeren Typus jetzt jeweils nur eine, zweispaltig bedruckte Seite aus, für den längeren benötigt der Drucker zwei. Für diese Veränderungen dürften ökonomische Erwägungen des Druckers ausschlaggebend gewesen sein (in der Tat entspricht das Verfahren dem in den meisten späteren ›Narrenschiff‹-Ausgaben, die die sumptuöse Platzvergeudung der Originalausgabe nicht übernahmen),13 doch wurde damit der Einzeltext als genau komponierte poetische Struktur grundsätzlich aufgegeben. Dieser Eindruck verstärkt sich im Blick auf die Holzschnitte. Grüninger musste sie nachschneiden lassen, und solche Nachschnitte waren teuer und zeitaufwendig. So überrascht nicht, dass eine größere Anzahl von Holzschnitten wiederholt wird, manche mehrfach. In solchen Fällen wird die exakte Zuordnung von Text und Bild, wie sie jedes Glied von Brants Narrenkette jedenfalls im Prinzip kennzeichnete, aufgelöst: Der Holzschnitt gibt nicht mehr ein präzises, ganz besonderes, oft allegorisch verschlüsseltes Konzentrat der Textaussage, sondern ist vornehmlich Illustration. Deshalb können zu einigen Kapiteln auch zwei Holzschnitte treten, etwa wenn man den auf der Seite verbleibenden Platz ausnutzen will (z. B. in c. 6, 99, 103, 107 oder im Lon der wisheit, der zwischen c. 67 und c. 68 eingeschoben ist), anstatt dass nur der eine ›richtige‹ Holzschnitt dem Text als eine visuelle Interpretation hinzufügt wird.14 Deshalb können einige Holzschnitte auch problemlos in anderen Drucken Grüningers Wiederverwendung finden.15 Während also der Buchcharakter insgesamt erhalten bleibt, spielt die ästhetische Mikrostruktur keine Rolle mehr. Die Identität des Buches wird durch den Inhalt gestiftet, der deshalb ›vervollständigt‹ werden kann, ohne dass das Ganze deshalb dem ursprünglichen Autor abgesprochen werden müsste: Das ›Neue Narrenschiff‹ tritt (und sei es nur zu Werbezwecken) als Werk Brants auf.

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GEERAEDTS (1980), S. 301–303; dort auch zu einigen Problemen, die Zarnckes Erklärungen auf werfen. – Der neue Text war natürlich so wenig sakrosankt wie zuvor Brants ›Original‹. Bei den späteren Ausgaben des ›Neuen Narrenschiffs‹ wurden, teils wegen thematischer Überschneidungen, teils aus satztechnischen Gründen Kürzungen vorgenommen (S. 300f.). Zu den Holzschnitten der kompilierten Ausgaben GEERAEDTS (1980) passim, insbesondere S. 303–306. Den Funktionswandel auf Grund der Bildkonzeption untersucht Geeraedts nicht. Er lässt sich aber auch aus dem von ihm beigebrachten Material (etwa S. 304) erschließen, so schon anhand der stärker ›schildernden‹ Darstellung des Gelehrten, der die Narrenreihe eröffnet. GEERAEDTS (1980), S. 306–325.

Das ›Narrenschiff‹ wird von den Bearbeitern nur als Ausschnitt aus einem Diskurs über Narrheit betrachtet, von dem ganz selbstverständlich nach Wunsch mehr abgerufen werden kann. Für die moderne Forschung dagegen handelt es sich beim ›Neuen Narrenschiff‹ um einen teils ›unechten‹ Text, der deshalb weniger Beachtung verdient als der Brants, auch wenn er Erfolg hatte (zwei etwas gekürzte Nachdrucke). Die Forschung kann sich dabei auf Brant selbst berufen, der in der Ausgabe von 1499 gegen die interpolierte Fassung protestiert.16 Doch half das nichts. Die erweiterte Fassung wurde auch überregional verbreitet. Schon 1495 und 1498 brachte Schönsperger in Augsburg die interpolierte Fassung heraus, nachdem er sich 1494 noch an Brants ›Original‹ gehalten hatte. In Brants Protest zeichnet sich eine scheinbar vertrautere Auffassung von Autor und Werk ab. Brant besteht darauf, er habe als der, der das narren schiff gedieht habe, allein die Verfügungsgewalt darüber; dabei gesteht er die Offenheit seines Buches für Erweiterungen durchaus zu (betrachtet den Text also nicht als definitiv abgeschlossen), will solche Erweiterungen aber allein sich vorbehalten; er protestiert dagegen, dass andere nüw rymen hinzugefügt haben: Wor ist, ich wolt es han gemert Aber myn arbeyt ist verkert Vnd ander rymen dryn gemischt Denen kunst, art vnd mosz gebryst (V. 17–20).

Das bezieht sich auf die Qualität der Verse, wenn ›Vers‹ auch möglicherweise metonymisch für die poetische Struktur der einzelnen Kapitel steht. Dann aber schwenkt seine Argumentation in genau die inhaltliche Richtung ein, dank der sich der Interpolator zu seinen Ergänzungen legitimiert glaubte: Es kan nit yeder narren machen Er heiß dann wie ich bin genant Der narr Sebastianus Brant (V. 38–40).

Brant legt wert darauf, der Erfinder der Narrenschiff-Idee zu sein, allein das Recht zu besitzen, den Text zu verändern, und allein über die poetische Kompetenz zu verfügen. Dahinter steht das Selbstbewusstsein des Rechtsgelehrten und Humanisten, der seine eigene geistige Leistung vor fremder Verunstaltung und Ausbeutung schützen will. Doch gründet er seinen Anspruch vor allem auf sein Recht am Inhalt: narren machen. Zwar will er als Autor allein über sein Werk verfügen, aber dieses Werk ist für ihn kein ein für alle Mal abgeschlossener Text.

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Vgl. BRANT: ›Narrenschiff‹ (1973), S. 1.

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III. Die Ausbeutung des Themas und des Textes, der es zuerst behandelt, setzt sich fort. Am gründlichsten wird Brants Anspruch in einem unter dem Namen eines Hans Hörburger 1531 erscheinenden Druck unterlaufen: Ain nützlich Buchlein. so reymsweyß gestelt. Darinn all Stannd der menschen begriffen/ ordenlich vnd mit fleyß/ auß vil alten Historien z 7 samen bracht/ den Jungen fruchtbarlich z 7 lesen (Augsburg 1531).

Der Titel verrät nichts davon, wie sehr das Buch vom ›Narrenschiff‹ abhängt. Hörburger wählt jeweils acht Verse aus jedem Kapitel Brants aus und stellt sie, meist unter einer Brant entsprechenden Überschrift zur Ständelehre zusammen. Dabei folgt er im Ganzen Brants Narrenreihe. Durch die Auswahl verschiebt sich jedoch manchmal der Fokus (z. B. wird Bl. Bjv ein Abschnitt aus Brants Narr hur als vert passender mit Von wandern überschrieben oder Bl. Ejr ein Abschnitt aus von falsch vnd beschiss stattdessen Von Elen vnd gewicht). Dadurch und durch geschickte Kombination von Versen wird Brants allgemeine Lehre häufig konkreter zugespitzt. Einige Kapitel, die in diesen Rahmen nicht passen oder offenbar dem Kompilator unwichtig waren, werden nicht übernommen.17 Durch die Auswahl wird Brants vierteilige Struktur der Einzeltexte allerdings völlig zerstört: die Einheit aus Mottoversen, Holzschnitt, Titel und Beschreibung des Narrentypus. Übrig bleiben nur der Titel und die (verkürzte) Beschreibung. Vom Titelholzschnitt abgesehen, gibt es keine Bilder. Brant wird nicht erwähnt, vielmehr wird so getan, als gehe das Buch auf viele Quellen zurück. Auch der Rahmen der Narrenreihe ist aufgegeben. Deshalb sind die Schlusspassagen am stärksten verändert. Es fehlen die grundsätzlichen Kapitel: Vom endkrist (c. 103), Ablassung gutter werck (c. 106), lon der wisheit (c. 107), schlauraffen schiff (c. 108) und Der wis man (c. 112),18 die Brants Narrenreihen zum Buch runden. Stattdessen findet sich als Schlusskapitel auf Bl. Ejv ein Beschluß vnd entschuldigung diß Buchlin (in dem kein Autorsubjekt spricht), ein Text, der aus Brants c. 110 Hynderred des guten gezogen ist.19 Was aus Brants Buch übrig bleibt, ist ein moraldidaktisches Textmaterial, das offenbar in verschiedenen Formen präsentiert werden und sich sogar vom tragenden Konzept der Narrheit ablösen kann. Hörburger schafft eine neue Bucheinheit, eine Revue verschiedener Weisen von Fehlverhalten, die in der von Brant vorgegebenen Folge, oft unter neuem Titel, erläutert werden.

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So die Kapitel 14, 31, 52, 54, 57, 67, 72, 75, 78, 89, 91, 96, 98, 99, 101, 103, 106, 107, 108, 110a, 110b, 111. Allerdings fehlen auch die Tischzucht und die Fastnachtnarren (c. 110a u. 110b), die Brant als Nr. 110a und 110b eingeschoben hatte: Gegen Ende mag der Kompilator seinen Zweck für erfüllt gehalten haben. Z ARNCKE (1973), S. LXXXVII–LXXXIX.

Da der Kompilator Brants Namen unterdrückt und sich selbst in der Vorrede ausdrücklich nennt, scheint Zarnckes Plagiat vorwurf gerechtfertigt.20 Das Verfahren als solches rechtfertigt ihn aber offensichtlich nicht, denn bei Jacob Cammerlander in Straßburg erscheint eine Neufassung von Hörburgers Kompilation wieder unter Brants Namen als Das klein Narren schiff. Vnd werden hierin aller menschen ständt in allen lastern gestrafft vnd vnderwiesen, Durch Seb. Brant, der beiden Rechten Doctor (Straßburg 1540).21

Hörburgers Text ist hier nach der Erstausgabe von 1494 um einzelne Versgruppen und Kapitel erweitert. Ab c. 96 werden die Kapitel, soweit sie überhaupt da sind, nach der Erstausgabe vollständig übernommen. Doch fehlen weiterhin die ›Schlusssteine‹ Vom endkrist (c. 103), Ablassung gutter werck (c. 106), Schlauraffen schiff (c. 108). Es wird ein neuer Rahmen für die Narrensatire geschaf fen, indem Der wis man (Brants Schlusskapitel) als Vorrede gesetzt wird und am Ende die vollständigen Kapitel Von lon der wisheit (c. 107), die ›stoizistische‹ Verachtung vngfelles (c. 109) und die entschuldigung des dichters (c. 111) stehen. Das Buch nähert sich im Rahmen wieder Brants Gesamtkonzeption an. Dagegen ist die formale Einheit der Brant’schen Einzeltexte zerstört: Wie schon bei Hörburger fehlen die Mottoverse, und es gibt zwar, wenn auch »mit sehr willkürlicher vertheilung« Holzschnitte, die aber »ohne ausnahme zu andern werken geschnitten waren«.22 Es bleibt bei der Revue des Fehlverhaltens. Die besondere künstlerische Form, insbesondere die strenge formale Zuordnung von Text- und Bildelementen in jedem einzelnen Kapitel, aber auch der regelmäßige Umfang der Einzeltexte, wurde offenbar nicht als konstitutiv für ein Buch mit dem Titel ›Narrenschiff‹ angesehen. Obwohl also der Autorname wieder hinzutritt, wird der Autortext als ein frei verfügbares Reservoir betrachtet, aus dem man sich bedienen kann. Brants Text erscheint beide Male, ob nun anonymisiert oder nicht, als Teil eines moraldidaktischen Diskurses, aus dem man, je nach den jeweiligen Zwecken, größere oder kleinere Texte abruft. Bei Hörburger geschieht das in einer offenen Reihe, bei Cammerlander in einem sorgfältigeren, doch von Brant abweichenden Buchganzen.

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Ebd., S. CIX. Der Titel und die Einzelheiten nach Z ARNCKE (1973), S. LXXXIXf.; vgl. insbesondere seinen genauen Vergleich mit Hörburger. – Mir war kein Exemplar des ›Kleinen Narrenschiffs‹ zugänglich. Der Eintrag im VD 16 erweckt den Eindruck, dass der Text nur noch indirekt nachzuweisen ist. Z ARNCKE (1973), S. XC.

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IV. Unter dem Buchtitel ›Der Narren Spiegel. Das Gros Narrenschiff/ durch besundern fleiß/ ernst vnnd arbeyt/ jetzt von newem/ mit vil schonen sprüchen/ exempeln/ vnd z 7gesetzten historien erg antzet. Durch Sebastianum Brant‹ und dem Zwischentitel ›Das alt vnd New Narrenschiff D. Sebastianj Brant‹ brachte Cammerlander 1545 wieder den ganzen Text heraus, und zwar teils nach der ›originalen‹, teils nach der ›interpolierten‹ Ausgabe.23 Entsprechend ist dieser Text erheblich umfangreicher als die Erstausgabe. In einem Vorspruch Das Narren schiff z7m Leser mit dem Vermerk HETT M. Johan Eißleben gethan 24 wird beklagt, dass das Buch lange Zeit vergessen war, obwohl es aktuell sei. Für die Neuveröffentlichung habe man Herauß gethan was neidisch war (Bl. iiijv) – ein vager Hinweis auf Eingriffe in den Autortext im Blick auf diffuse Publikumserwartungen. Die Struktur der einzelnen Kapitel ist in der Regel beibehalten, wenn auch die Motto-Verse schon einmal vergessen werden können (c. 108). Allerdings sind die Holzschnitte andere. Obwohl die ursprünglichen Modelle noch zu erkennen sind, ist die oft allegorisch vermittelte Zuordnung von Text und Bild nicht mehr so eng, und obwohl dem Drucker nach Zarncke Brants Ausgabe von 1494 neben dem interpolierten Text vorlag, unterscheidet er nicht zwischen Brants Versen und denen des Interpolators, sondern wählt einmal die einen, einmal die anderen. Da auch die Interpolation Brant als Verfasser nennt, könnte man annehmen, dass Cammerlander eine Unterscheidung der beiden Texte im Blick auf Authentizität und Autorisierung nicht möglich war, aber wenn er das ›Neue Narrenschiff‹ gleichfalls für einen Text Brants hielt, dann bleibt unerklärt, warum er nicht durchweg diesem vollständigeren Straßburger Druck folgte, sondern nur von Fall zu Fall. Das lässt darauf schließen, dass seine eigentlichen Auswahlkriterien inhaltliche waren, und diese ihm wichtiger sind als ein ›Autor-original‹. Der Text der beiden alten Ausgaben ist zwar (über weite Passagen sorgfältig wiedergegebener) Ausgangspunkt, aber alles andere als sakrosankt. So kann er auch im Sinne des Protestantismus instrumentalisiert werden. Die Veränderungen im Einzelnen bedürften genauerer Untersuchung, doch einige Eingriffe sind plakativ. So zeigt der Holzschnitt zu Abnemmung deß Christenglaubens (c. 99) den Papst, einen Kardinal und einen Bischof (statt des Kaisers in der Ausgabe von 1494); ihnen steht mit argumentierender Geste ein ›gemeiner Mann‹ (statt der Narren dort) gegenüber: eine Umdeutung der Anklagen Brants im Sinne der Reformation, im Sinne einer Konfrontation zwischen hierarchischer Amtskirche und reiner Glaubenslehre des einfachen Christen. Der Autorname bleibt ebenso wie die Grundidee und der Rahmen, aber die Stoßrichtung der Narrensatire verändert sich im Sinne

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Vgl. Ebd., S. XCf. u. CXf. – Ich zitiere die Ausgabe Straßburg 1550. Laut Z ARNCKE (1973), S. XCI stammen die Verse von Cammerlander selbst.

verschärfter konfessioneller Auseinandersetzungen am Vorabend des Schmalkaldischen Kriegs.25 Offenbar stand jeder der Parameter, die gegenwärtig als konstitutiv für einen von einem Autor verantworteten, abgrenzbaren Text stehen, im 16. Jahrhundert noch zur Disposition. Das bestätigen weitere Ausgaben. ›Das Narrenschiff/ Alle standt der Welt betreffend/ Wie man sich in allen Handeln weißlich halten soll. Einem jeden sehr nutzlich/ lustig vnd kurtzweilig zu lesen. Jetzund wider mit vil schonen Figuren gezieret vnd zugericht‹, [Frankfurt] 1560, folgt Brants Vorlage (etwa auch in c. 99) genauer, unterdrückt dafür aber den Namen Brants auf dem Titel. Nur an versteckter Stelle, dem viertletzten Vers der Entsch uldigung des Tichters, wird wie in der Erstausgabe der Verfasser genannt. Die Narren sind durchnumeriert (Der I. Narr. – Der II. Narr usw.), so dass sich der Reihencharakter mittels der Zahlenfolge in den Vordergrund drängt, auch in Kapiteln, die sich mehr mit dem Gegenbild von Narrheit befassen. Der Prosa-Teil der vorred ist weggelassen, vor allem aber auch das Kapitel Vom endkrist, das der Narrenrevue eine apokalyptische Färbung gibt. Andere Eingriffe – wie die Kürzung des Kapitels über die Fastnachtsnarren – dürften drucktechnisch motiviert sein. Es handelt sich zweifellos noch um Brants ›Narrenschiff‹, doch erfährt der Käufer davon nur an versteckter Stelle, und der Text ist verändert. Die Eingriffe konnten weiter gehen. Schon 1563 war noch einmal eine neue Bearbeitung bei Froschauer in Zürich erschienen.26 In Basel kam 1574 der ›Welt Spiegel oder Narren Schiff/ darinn aller standt schandt vnd laster/ vppiges leben/ grobe Narrechte sitten/ vnd der Weltlauff/ gleich als in einem Spiegel gesehen vnd gestrafft werden: alles auff Sebastian Brands Reimen gerichtet‹ heraus. Nicht nur der Titel ist variiert; schon der Untertitel (Aber/ Mit vil andern herrlichen/ Christenlichen/ auch nutzlichen Lehren/ Exempel vnd vermanungen zu einem Ehrbaren vnd Christlichen Leben) weist schon darauf hin, dass das Buch nicht nur Brants Text enthält. Vielmehr ist es kapitelweise durchschossen mit einer Übersetzung der ›Narrenschiff‹-Predigten Johann Geilers von Kaisersberg:27 so entsteht ein Kompendium der Narrensatire. Außerdem gab es immer wieder Titel, die auf Brants

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Z ARNCKE (1973), S. XCf. hat auf die Dehnbarkeit der Narrensatire verwiesen, wenn das Werk eines »ascetischen katholiken im sinne des strengsten katholicismus« unter dem Druck der konfessionellen Auseinandersetzung problemlos im protestantischen Sinne assimiliert werden konnte. Nach Z ARNCKE (1973), S. XCI. Die Ausgabe lag mir nicht vor. Zu diesen M ANGER (1983). – Geilers Predigtzyklus ist – ebenso wie die lateinischen Übersetzungen und Bearbeitungen – ein weiteres Beispiel für die Ausbeutung von Brants Text. Doch unterscheiden diese Werke sich von den bisher besprochenen darin, dass sie den von Brant thematisierten Inhalten explizit eine neue literarische Form geben, nicht aber beanspruchen, diese Form nur zu erneuern, oder sogar den Text nur unter eigenem Namen ausschlachten.

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Werk anspielten und seinen Titel variierten, die seine Motive ausbeuteten oder sogar einzelne Textbausteine übernahmen.28 Ich breche ab: Brants Anspruch, allein narren machen zu dürfen, ist offenkundig gescheitert, und dies nicht nur, wenn man die Narrenbilder und -texte hinzunimmt, die, angefangen mit Geiler von Kaysersberg oder Thomas Murner, an seine Idee anschlossen und die Narrensatire zu einer der beliebtesten literarischen Formen des 16. Jahrhunderts werden ließen.29 Diese Folgetexte nämlich lassen sich im Rahmen eines werk- und autorzentrierten Literaturparadigmas problemlos erklären: Murner schreibt einen verwandten, doch eben neuen, von einem neuen Autor verantworteten Text. Ähnlich schafft auch Geiler von Kaysersberg in seinem Predigtzyklus einen neuen Text in einer anderen literarischen Gattung. Literaturgeschichten verbuchen demgemäß Murner und Geiler wie alle anderen Verfasser von Texten über Narren als selbständige Autoren mit eigenen Werken. Wie aber steht es mit jenen Texten, die sich gar nicht explizit von Brants ›Narrenschiff‹ absetzen, sondern Brants Text selbst in ihrem Sinne verändern? Offenbar ist da doch die Unterscheidung zwischen ›Original‹ und Verfälschung vom Standpunkt der Zeit aus verfehlt. Ein an modernen Maßstäben orientierter Textbegriff scheitert an der Publikationsgeschichte des einzelnen Werks. Das ›Narrenschiff‹ ist ein Text vieler mit vielen heterogenen Themen, an dem viele weiterwirken. Mit veränderter Situation verändert sich der Text, beim Weg in die Großstadt Straßburg ebenso wie beim Wechsel von einem altgläubigen Publikum zu einem protestantischen. Der Kernbestand bleibt, aber Makro- wie Mikrostruktur variieren. Sogar der Titel kann sich ändern, zum ›Narren Spiegel‹ (1545), ›Welt Spiegel‹ (1574) oder ›Narren Zunft‹ (1618).30 Dabei stehen auch Elemente zur Disposition, die für uns den literarischen Charakter genau dieses Textes ausmachen: die auf die Emblematik vorausweisende Bild-Text-Einheit und die Formung der Narrenreihe zu einem Buchganzen. Nicht einmal der Autorname garantiert die Einheit des Werks, denn er erscheint auch vor Texten, die Brants ›Narrenschiff‹ verstümmeln, und solchen, die es erweitern oder korrigieren, und er kann fehlen, wo das Buch Brants Erstausgabe noch relativ nahe ist. Auch Brant selbst hat sich nicht besonders um Einheit und poetische Schlüssigkeit seines Werks gesorgt. Brants Narrendidaxe generiert offenbar ein Bündel von Texten, die um einen thematischen Kern kreisen und durchlässig ist gegenüber einem übergreifenden Diskurses über intellektuelle und soziale Abweichung.

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Z ARNCKE (1973), S. CXVI–CXXXVII. KÖNNEKER (1966); HESS (1971). Z ARNCKE (1973), S. XCIV.

V. Was ist im Sinne des 16. Jahrhundert der Text des ›Narrenschiffs‹? Das von Brant erfundene Ganze? Dessen Ergänzung durch den Interpolator? Die Kompilationen aus beidem? Oder auch die Bruchstücke im ›nützlich Buchlin‹ oder dem ›Kleinen Narrenschiff‹? Hat es unter diesen Bedingungen noch Sinn, einen Text als ›Text aus Brants ›Narrenschiff‹‹ zu identifizieren? Gewiss im Sinn von Quellenkunde, aber auch als Dichtung eines frühneuzeitlichen Autors? Zumal wenn es sich um kleine Bruchstücke handelt? Die Benutzung des Textes kann ja noch weitergehen: Das ›Faustbuch‹ z. B. enthält drei – angeblich gegen Dämonen wirksame – Sprüche, die sich an Verse des ›Narrenschiffs‹ anlehnen. Eingeleitet werden sie mit den Worten Wider D. Fausti Verstockung/ ist dieser Verß vnd Reymen wol zusagen.31 Aus der Narrensatire stammen apotropäische Verse gegen Zauberei und Dämonenangst! Die Verse sind nicht wörtlich zitiert; der Autorname Brant fehlt ohnehin, und sie sind aus dem moraldidaktischen Kontext herausgelöst. So erweisen sie ihre Brauchbarkeit auf einem zwar verwandten, aber doch deutlich unterscheidbaren Feld. Aus der Auseinandersetzung mit närrischer Regellosigkeit ist die mit teuflischer Auflehnung gegen die gottgesetzte Ordnung geworden. Solche Adaptationen an eine veränderte Gebrauchssituation und einen veränderten Zeitgeschmack sind im 16. Jahrhundert häufig, insbesondere in der Historien-Literatur. Sie können von der Veränderung des Layouts, die Eingriffe in den Wortlaut erfordern, über sprachliche Modernisierungen, Anpassungen an veränderte Moralvorstellungen oder einen veränderten Geschmack die Einfügung neuer Kapitel bis zu radikalen Umgestaltungen oder – wie beim letzten Beispiel – kaum noch identifizierbaren Bruchstücken geben. Im Vordergrund steht der Gegenstand, der durch Ergänzungen vervollständigt, durch Eingriffe den jeweiligen Publikationsbedingungen oder Publikumserwartungen neu angepasst werden kann. Die Flüchtigkeit und der oft mechanische Charakter solcher Eingriffe rechtfertigen schon aus rein praktischen Erwägungen, dass die Forschung bei der Textkonstitution auf die Ausgangsfassung zurückgreift, doch ist dies in der Regel nicht durch irgendeine zeitgenössische Vorstellung vom originalen oder wenigstens autorna hen Text gedeckt. Der Text als feste Größe existiert nicht. Deshalb ist auch das Problem der Intertextualität anders gelagert als in der Moderne. Es dürfte kaum eine Zeit geben, in der Texte so selbstverständlich auf andere Texte Bezug nehmen, diese nachahmen, einzelne Bilder und Formulierungen ausschlachten und sich explizit in eine Tradition des Geschriebenen stellen. Doch ist in den meisten Fällen kein intertextuelles Spannungsverhältnis angestrebt, sondern eher eine wechselseitige Ergänzung.32 In der ›Narrenschiff‹-Reihe wie ihren Ablegern bei Murner oder Geiler treten nicht Texte mittels Anspielungen

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›Faustbuch‹ (1990), S. 855f.; vgl. S. 1378; die Sprüche lehnen sich an Kap. 3, 43 und 45 an. Ausführlicher dargestellt in: J.-D. MÜLLER (1994b), S. 68–75.

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in ein Gespräch miteinander ein; ein Dialog soll gerade nicht stattfinden, und man soll im aktuellen Text gerade nicht den Prätext wahrnehmen. Der Kompilator des ›Faustbuchs‹ zitiert nicht das ›Narrenschiff‹, um seinem eigenen Text eine zusätzliche Bedeutungsdimension zu erschließen. Er bedient sich in einem Text, der längst Bestandteil eines kollektiven moraldidaktischen Textkorpus geworden ist und hier Autorität besitzt. Als abgrenzbarer, einem Autor zuzuweisender Text existiert das ›Narrenschiff‹ für dieses Bewusstsein nicht, allenfalls als mehrfach, auch anonym verwendbares Material. Beim ›Narrenschiff‹ fällt dies mehr als bei vielen anonymen Texten der Zeit auf, denn hier haben wir eine Editio princeps, wir haben einen Verfasser, der als Doktor beider Rechte in der gelehrten Welt Ansehen genießt (noch Cammerlander macht es sich zunutze!) und der sogar ausdrücklich auf seine Verfasserrechte pocht, das Recht an der Grundidee (narren machen) wie an ihrer poetischen Ausführung nach kunst, art vnd mosz. Auch lassen sich in seinem Buch kompositorische Prinzipien erkennen: in Gestalt und Anordnung der Einzelkapitel wie in ihrer Anordnung zum Ganzen. Doch auch für Brant steht nicht der Text als strukturiertes Ganzes im Vordergrund; deshalb hält er die formale Begrenzung und Anordnung der Einzelkapitel nicht durch, deshalb schiebt er an wenig passender Stelle weitere Kapitel ein und deshalb geht in der weiteren Publikationsgeschichte die strenge äußere Form verloren. In Cammerlanders Mischtext von 1545 spielt allein die Frage eine Rolle, in welchem der ihm vorliegenden Texte die Grundidee wirklichkeitsnäher herauskommt. ›Wirklichkeitsnähe‹ bedeutet dann zusätzlich eine Anpassung an Denken und Normen einer sich formierenden protestantischen Gesellschaft. Der Text wird nicht auf die Äußerungssituation seines Autors bezogen, sondern als ›gleichzeitig‹ erfahren,33 auch wenn sein Verfasser schon Jahre tot ist. Es ist Teil eines allgemeinen Diskurses, dessen Worte nie einem einzelnen gehören und in den deshalb jeder eintreten kann, sogar indem er sich fremder Worte bedient. ›Offen‹ ist der Text aber noch in einem weiteren Sinn: Er ist ergänzungsbedürftig durch ein Wissen, das er nicht ausdrücklich verbalisiert, das man aber interpolieren muss, um ihn zu verstehen. Der Gestus von Brants Argumentation ist: ›Man weiß doch, dass ...‹, ›Ich muss nicht sagen, dass ...‹, ›Jeder kennt ...‹ usw. Sie spielen auf einen allgemeinen Konsens an, der entscheidet, was Vernunft, was Wahrheit ist. Das ›Narrenschiff‹ ist eingebettet in einen Diskurs über ein christlich-vernünftiges Leben und bezieht sein Argumentationsgewicht aus der Übereinstimmung mit diesem Diskurs. Dieser Diskurs tritt in vielen einzelnen Texten ans Licht, die doch letztlich nichts sind als seine zufälligen Erscheinungsformen. Der besondere, von einem einzelnen Autor verantwortete Text ›Narrenschiff‹ interessiert nur, soweit er Repräsentant dieses Makrotextes ist. Um Brants 1494 erschienenes Buch zu verste-

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Deshalb wird eine politische Anspielung auf Kaiser Maximilian (Kap. 99, V. 159) später auf den damals regierenden edel Keiser Karolon umgewidmet. Später bleibt dann die Umwidmung einfach stehen, obwohl Karl inzwischen auch schon tot ist (vgl. Z ARNCKE (1973), S. XCIII oder das ›Narrenschiff‹ von 1560 (Bl. 134r).

hen, muss man auf diesen Makrotext zurückgehen – und nichts anderes haben die verschiedenen Adaptoren unter wechselnden Titeln getan, gefolgt von den meisten Forschern, die nach der ominösen ›Narrenidee‹ des 16. Jahrhunderts fragten. Die enge Einbindung in textübergreifende Diskurse begünstigt die Reihenstruktur, die für frühneuzeitliche Texte überhaupt typisch ist, ob in den Narrensatiren, in den Laster- und Ständerevuen der Spiele oder didaktischen Dichtungen, in den grundsätzlich unbegrenzt erweiterbaren, manchmal von Auflage zu Auflage wachsenden Schwank sammlungen zwischen Pauli und Kirchhoff. Häufig fehlt, von einer Einleitung abgesehen, der umschließende Rahmen ganz, manchmal ist er – wie in den Fastnachtspielen – durch einen dem jeweiligen Thema äußerlichen Pro- und Epilog gesetzt, oder aber er ist, wie bei Brant, durch grundsätzlichere Ausführungen skizziert. Die Textreihe selbst hat einen oft inhaltlich nur schwach konturierten Kern, der jedoch über maximale Integrationsfähigkeit verfügt. Der Rahmen ist äußerst elastisch; er lässt zu, weitere thematisch ver wandte Glieder der Reihe einzufügen, ohne dass das Ganze gefährdet wird. Er ist deshalb durchlässig für Erweiterungen aus benachbarten Problemfeldern. Dieser Reihentypus kennzeichnet selbst epische Texte. Der ›Theuerdank‹ z. B., den Maximilian I. als Erneuerung der alten heldenp7ch plante und in dem er seine ›ritterlichen‹ Taten verewigen wollte, stellt die verschiedenen Abenteuer seines Helden in den Zusammenhang einer Ritterfahrt um die Gunst einer Dame, die an deren Hof zum Ziel kommt. Es können beliebig viele Abenteuer auf dieser Ritterfahrt eingeschoben werden, so viele, dass sie in drei Rubriken (anfangs waren es nur zwei) geordnet werden mussten. Um diese schwache Ordnung zu stützen, kommen weitere Ordnungs- und Einteilungsmuster hinzu, so die Abenteuer als Auseinandersetzung mit guten und bösen Mächten. Dieselbe Struktur hat Maximilians Ritterroman ›Freydal‹ (der am Leitfaden einer Ritterfahrt die Turniere und Maskenfeste des Kaisers vereinen soll) oder der Prosaroman ›Weißkunig‹ (der hauptsächlich die Kriege Maximilians als Turnier von Ritterkönigen erzählt). Dabei geht es nicht um die literarische Konzeption, sondern eigentlich nur um den Stoff, das Leben und Regierung des Kaisers; er soll in den verschiedenen Rahmen vorteilhaft präsentiert werden. Möglichst viel soll davon aufgenommen werden.34 Maximilian bestimmt demgemäß, dieses oder jenes Geschehnis aus seinem Leben ›in den Rahmen‹ eines seiner Gedechtnus-Werke zu stellen‹.35 Das literarische Werk (›Theuerdank‹, ›Freydal‹ oder ›Weißkunig‹) bietet einen weiten Rahmen für ein breites Material, aus dem es bei Bedarf additiv ergänzt werden kann.

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J.-D. MÜLLER (1982); DERS. (1998a). Dazu werden in ›Gedenkbüchern‹ erinnerungswürdige Ereignisse gesammelt: Vermerckt die gefechtstuck, so die Kay. Mt. selbs angeben hat. Mit geschrifft vnd gemäl in ain puech zu bringen (CHMEL [1841], S. 459 [Bl. 3]). Item die clainaten in die Cronick zu stellen, die konig an kay. clainat gemert hat (Bl. 145v); oder Item maister Martin soll all mumerey, so ko. Mt. ye gebraucht hat in ain buch mallen lassen (Bl. 147r) (GOTTLIEB [1900], S. 56f.).

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Dieselbe offene Bauform kennzeichnet auch Schwankromane, die nicht beliebig Material reihen, sondern um eine Titelfigur, eine Gruppe oder auch ein Problem zentriert sind wie ›Eulenspiegel‹, ›Claus Narr‹ oder ›Lalebuch‹. Der ›Eulenspiegel‹ z. B. hat einen biographischen Rahmen mit Geburt und Tod des Helden, so dass Anfang und Ende fi xiert sind, doch was dazwischen stattfindet, ist offen für Erweiterungen und Kürzungen. Angesichts dieser Offenheit, die erlaubt, beliebig viel Schwankmaterial auf den Helden zu fokussieren und in seine ›Biographie‹ einzubeziehen, stellten moderne Interpreten die Frage nach zusätzlichen Ordnungsmustern, die die Reihe organisieren.36 Es mag solche Ordnungen gegeben haben, aber letztlich verfehlt die Frage den zeitgenössischen Textbegriff, indem sie durchstrukturierte Geschlossenheit verlangt, wo die offene Reihe aus dem umschließenden Diskurs additiv immer neue Elemente attrahieren kann. Spätere Erweiterungen waren deshalb in Sammlungen wie ›Eulenspiegel‹, ›Lalebuch‹ oder ›Faustbuch‹ von Anfang an angelegt, in Zusatzkapiteln, die nicht einmal unbedingt im strengsten Sinn dem im Ausgangstext vorherrschenden Typus entsprechen müssen, wenn sie nur in irgendeiner Hinsicht mit dem Gegenstand in Verbindung standen. Wie das ›Faustbuch‹ durchlässig ist für Reden und Geschichten von Magiern, der ›Eulenspiegel‹ für solche über Outcasts oder das ›Lalebuch‹ über Spießbürger, so sind Narrensatiren Empfänger ebenso wie Lieferanten lehrhafter Rede über einen – moralisch, religiös, sozial – aus den Fugen geratenen Weltlauf.

VI. Insofern ist eine auf die volkssprachigen Kulturen der Frühen Neuzeit bezogene Textwissenschaft eo ipso aufgerufen, mit einem erweiterten Textbegriff zu arbeiten. Die Rezeptionsgeschichte von Brants ›Narrenschiff‹ zeigt, dass ›Text‹ eine momentane Selektion und Fixierung eines über den Einzeltext hinausgehenden Diskurses ist. Der gelehrte Autor Brant, der aus der lateinisch-humanistischen Literatur einen engeren Textbegriff kennt, wie er sich auch in den Volkssprachen à la longue durchsetzen wird, hat versucht, dagegen anzugehen und die Integrität seines Textes gegen fremde Erweiterungen und Ausbeutungen durchzusetzen, doch wird dieses Bemühen durch den Gestus anspielungshaften Verweisens auf eine kollektive Rede über Narrheit dementiert. Sein Text ist wie der seiner Nachfolger durchlässig für diese kollektive Rede. Brant hat mit seinem ›Narrenschiff‹ diese Rede in einer neuartigen Form aufgegriffen, und deshalb erinnert man sich seiner auch dort, wo diese sich vom Text von 1494 entfernt, als eines ihrer Autoren, aber

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Ein Beispiel für diese Interpretationspraxis ist etwa der spekulationsfreudige Versuch von HONEGGER (1975). Eine ähnliche Absicht, dem scheinbar unbegrenzt anhäufbaren Material eine Ordnung zu geben, mag die Mitarbeiter Maximilians veranlasst haben, den ›Theuerdank‹ mit mehrfachen Sinnentwürfen zu überfrachten.

letztlich greift diese Rede weit über das einzelne Werk und seine vielgestaltigen Erscheinungsformen hinaus. Die Einheit der vielen Texte stiftet ein gemeinsames oder mindestens verwandtes Thema. Brant selbst hat Narrheit überwiegend moraldidaktisch verstanden, doch beteiligen sich an der Auseinandersetzung um sie ebenso religiöse, medizinische, sozialreformerische Diskurse. ›Narrheit‹ scheint ein Fokus im ›Text‹ zeitgenössischer Kultur zu sein, Gegenbegriff zu den vielfältigen Versuchen, Ordnung zu stiften, und Faszinationsgegenstand für ein Denken, das solche Ordnungen in Frage stellt. Zu unterscheiden wären also unterschiedliche Stufen von Textualität, die allerdings im 16. Jahrhundert nicht immer ganz trennscharf voneinander abgesetzt werden können: Der Einzeltext (für den in diesem Fall sogar ein Autor zeichnet und der einen für die Zeit relativ hohen Grad poetischer Organisation aufweist); die vielen Folgetexte, die diesen verändern, adaptieren, erweitern; die vielen einzelnen Texte, die verwandte Themen artikulieren und aus denen sich Erweiterungen und Korrekturen speisen; schließlich ein vielgestaltiger und vielerorts greifbarer Diskurs über Narrheit. Der ›Text der Kultur‹ des 16. Jahrhunderts ist damit natürlich immer noch nicht erreicht, wohl aber ein strukturiertes Ensemble gegeneinander offener Texte, die insgesamt wieder ein Teilgewebe jenes Makrotextes sind. ›Text‹ in der volkssprachigen Literatur der Frühen Neuzeit wäre mithin mehr oder minder variables Bruchstücks eines übergreifenden Diskurses, zentriert auf ein Thema und zusammengebunden durch eine leitende Hinsicht. Das verbindet Brants Text mit denen seiner Bearbeiter und selbst der plagiierenden Ausbeutung durch Hörburger. Der zeitgenössische Textbegriff schließt weder Vollständigkeit noch Integrität des Ausgangstextes ein, geschweige Wortwörtlichkeit, ja nicht einmal funktionale Äquivalenz. Im Makrotext der ›Narrenliteratur‹ ist Brants Werk nur eine Möglichkeit unter anderen. Es ist symptomatisch, dass der bekannteste Vorkämpfer des New Historicism, Stephen Greenblatt, seine glänzendsten Analysen an literarische Texte der Frühen Neuzeit knüpfte. Sein Gegenstand sind Werke der Hochkultur. ›Renaissance Self-fashioning‹ und ›Negotiations with Shakespeare‹ sind insoweit literatur wissenschaftliche Studien, die ihre Einsichten nur mit Hilfe einer weiten Kontextualisierung ihres Gegenstandes, des ›embedding‹ in Diskurszusammenhänge, nonverbale Zeichenordnungen, Praktiken und Institutionen gewinnen. Wie eingangs bemerkt, steht ihre Zuordnung vor schwierigen Problemen. Ein Einwand aber lässt sich in Bezug auf die Frühe Neuzeit nicht erheben, dass nämlich die Literarizität des literarischen Textes in seiner Einmaligkeit und poetisch durchgeformten Gebildehaftigkeit aus dem Blick geriete, wenn man sich dem kulturellen Diskurs zuwendet, in den sie eingelassen sind. Es hat sich nämlich gezeigt, dass diese Literazität mindestens in der Volkssprache eine Errungenschaft späterer literaturgeschichtlicher Entwicklungen ist. Brants ›Text‹ ist von Anfang an auf die ihn umgebenden kulturellen ›Texte‹ geöffnet. Eine künftige Kultur wissenschaft hätte die daraus sich ergebenden Typen von Textualität zu analysieren und sie nicht hastig in Richtung auf den Makrotext ›Kultur‹ zu überspringen.

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Der Widerspenstigen Zähmung

I. Die Diskussion um eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Sprach- und Literaturwissenschaften1 ist inzwischen so allgemein, die grundsätzlichen Stellungnahmen und Glaubensbekenntnisse sind so zahlreich, die Vorteile und Gefahren wurden so ausführlich erörtert, dass es an der Zeit scheint, für eine Weile die Programmdebatte durch die praktische Erprobung der vorgeschlagenen Konzepte zu ersetzen. Nur so lassen sich vielleicht Einwände ausräumen wie derjenige hemmungslosen Dilettierens von Literaturwissenschaftlern auf fremden Gebieten, der der Nivellierung differenter Zeichenordnungen oder der der Degradierung literarischer Texte zur bloßen Quelle allgemeiner kulturgeschichtlicher Trends.2 Für den Mediävisten ist ein Teil dieser Debatte ohnehin befremdlich, denn je weiter man sich – zeitlich oder räumlich – aus dem eigenen Kulturzusammenhang entfernt, desto notwendiger ist zum Verständnis der beobachteten Phänomene (literarische und sonstige Texte, Bräuche, Normen usw.) die Rekonstruktion des kulturellen Kontextes, in den sie eingebettet sind. Für die auf vormoderne Epochen oder auf außereuropäische, nicht-›westliche‹ Welten gerichteten Wissenschaften waren kulturwissenschaftliche Fragestellungen daher schon immer eine Selbstverständlichkeit, und man wird den Verdacht nicht los, dass die erbitterten Streitigkeiten in den Neuphilologien aus der Angst resultieren, die eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten als bloß kontingente und deshalb zu historisierende erkennen zu müssen und dabei der Dignität des eigenen Gegenstandes verlustig zu gehen: der Ausnahmestellung des literarischen Kunstwerks und ›der‹ Literatur im allgemeinen. Die Kulturwissenschaft stellt nämlich eine Hierarchie kultureller Hervorbringungen infrage, an deren Spitze die Künste standen. Dabei ist deren 1 2

Eine Bestandsaufnahme in FRÜHWALD, JAUSS, KOSELLECK, MITTELSTRASS, STEINWACHS (1991); zum Kulturbegriff dort: MITTELSTRASS, S. 39–44; KOSELLECK, S. 136–141. Ein Teil der heute geführten Debatte greift auf Diskussionen um 1900 zurück. Man muss hier allerdings zwischen den programmatischen Entwürfen u. a. im Umkreis der entstehenden Soziologie (M. Weber, Simmel, Cassirer) und den praktischen Versuchen der Kulturgeschichtsschreibung unterscheiden. Die letztere bietet häufig nicht mehr als ein buntes Panorama heterogener Einzelheiten (A. Schultz) oder schuldet ihre Synthesen ungedeckten Vorgriffen und großzügigen Selektionen des Materials (K. Lamprecht). Und selbst die Meisterwerke eines Jacob Burckhardt oder Johan Huizinga verdanken ihren Rang weniger der breiten Durchdringung und Erschließung eines sperrigen und widersprüchlichen Materials als einer intuitiven Erfassung dominanter Tendenzen.

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Auszeichnung gegenüber Theologie und Religion, Philosophie, den einzelnen Wissenschaften selbst erst Errungenschaft einer vor etwa 250 Jahren einsetzenden, in der Renaissance vorbereiteten Ent wick lung. Wurde bis dahin die Erkenntnisleistung der Dichtung in der Regel im Blick auf jene anderen Diskurse bestimmt (der Dichter als Theologe, Philosoph, Sachverständiger für allerlei Künste), so gilt seitdem die Poesie als Organon einer durch nichts anderes ersetzbaren, allem anderen überlegenen Erfahrung und Erkenntnis von Welt, und für Musik und Bildende Kunst gilt Ähnliches. Diese Auszeichnung begünstigte die Ausbildung eigener Expertenkulturen zu ihrer Erschließung (der Literatur-, Kunst- und Musikwissenschaft eben), die ihre besonderen Erkenntnisleistungen durch das unterscheidungslose Einerlei einer nivellierenden Kulturwissenschaft bedroht sehen. Wenn das Programm einer kulturwissenschaftlichen Öffnung der Philologien mithin eine Herausforderung vor allem für die Wissenschaf ten von den neueren Literaturen ist, so trifft doch der für den Mediävisten beruhigende Satz nil novi sub sole – wir haben immer schon Kulturwissenschaft betrieben3 – das Problem nicht ganz. Gefordert wird ja mehr als nur die Grenzüberschreitung in Richtung auf Volkskunde, Archäologie, Kunstgeschichte, Sozialgeschichte usw., wobei im Mittelpunkt das bessere Verständnis des literarischen Textes steht, sondern Ziel ist das Verständnis des kulturellen Kontextes, in dem der literarische Text selbst nur ein Träger kultureller Bedeutung unter anderen ist. Vorab ist deshalb zu untersuchen, welcher Status dem Texttypus, der sich in der Moderne als literarischer ausdifferenziert hat, in der jeweiligen Kultur zukommt, inwieweit er durch abweichende media le Bedingungen konstituiert ist, welchen Geltungsanspruch er neben anderen kulturellen Gebilde hat, welche Funktionen er im Kontext sprachlicher wie außersprachlicher Zeichenordnungen erfüllen soll. Die Konsequenz ist also eine viel radika lere Historisierung als das Herbeizitieren verschiedener Kontexte zur Aufschließung der Textsemantik, eine Historisierung nämlich, die auch den Gegenstand – die Literatur – nicht einfach als gegeben hinnimmt, sondern als historisch gewordenen betrachtet. Für den Mediävisten ist dies die Pointe von Barners Frage, ob der Literatur wissenschaft ihr Gegenstand abhanden komme,4 denn es ist allererst zu klären, ob und in welcher Form dieser Gegenstand in fremden kulturellen Zusammenhängen überhaupt existiert.

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So EBENBAUER (1999). BARNER (1997). Barner geht es um etwas anderes: die schleichende Entwertung der herkömmlichen Gegenstände von Literaturwissenschaft auf Kosten eines diffusen Kulturbegriffs, der sich im Wesentlichen angeblichen Marktchancen, einer Abkehr vom Eurozentrismus und von den Anstrengungen (und Dünkeln) einer konservativen Hochkultur verdankt. Die Fragen, die Barner zu Ende seines Beitrags – gedacht als Auftakt einer Diskussion ähnlich der über das ›Neue‹ in der Literatur wissenschaft – aufwirft, sind die nach wie vor aktuellen Herausforderungen für die theoretische Bestimmung der Literaturwissenschaft wie für ihre universitäre Praxis.

Darüber aber gab es für die ältere Kulturgeschichtsschreibung ebenso wenig Zweifel wie anlässlich der Ausflüge der älteren deutschen Philologie in die Bereiche des Mythos, der Sage, der Alltagskultur usw. Deren Selbstverständlichkeit war meist mit einer gewissen Unschärfe des Literaturbegriffs auch in literatur wissenschaftlich zentrierten mediävistischen Untersuchungen erkauft: Texte waren unterschiedslos ›Denkmäler‹, die mit anderen, z. B. archäologischen ›Denkmälern‹ in Verbindung gebracht werden konnten, weil es sich letztlich um Phänomene gleicher Ordnung handelte. So ebnete der Begriff des ›Denkmals‹ die höchst differenten kulturellen Bedeutungen des Überlieferten ein, was selbst dort zu Verzerrungen führte, wo man sich auf Texte beschränkte. ›Denkmäler‹ waren die Hamelburger Markbeschreibung wie der Lorscher Bienensegen, der erste Merseburger Zauberspruch wie das Freisinger Paternoster, die Glossen in einer lateinischen Handschrift wie das ›Muspilli‹ oder das ›Hildebrandslied‹. Mit ›Denkmal‹ wird unterstellt, die historischen Wissenschaften hätten einen homogenen Untersuchungsbereich, der eben nur nach den jeweiligen Methoden und Erkenntnisinteressen der Einzeldisziplinen zu bearbeiten sei, einmal sprach- oder sagengeschichtlich, einmal theologisch, historisch, archäologisch, wissenschaftsgeschichtlich oder eben auch literatur wissenschaftlich. Auf Grund der Nivellierung aller Texte zum ›Denkmal‹ war der Übergang von i.e.S. literaturgeschichtlichen Gegenständen aufs Feld etwa der Volkskunde, der Altertumskunde, der Mythologie, der Stammesgeschichte usw. ohne allzu viele methodische Bedenken jederzeit möglich, und Forscher wie Otto Höfler nutzten diese Möglichkeit ebenso unbekümmert wie riskant. Vom Erkenntnisanspruch einer Kulturwissenschaft ist das einigermaßen entfernt. Anders, als ihre Kritiker glauben, geht es dieser nämlich um Unterscheidung und nicht um Gleichmacherei. Nur vor der weißen Wand des Historismus erscheinen Glossen, Otfrids ›Krist‹, die Merseburger Zaubersprüche oder das ›Hildebrandslied‹ als Exemplare der einen Spezies ›Denkmal‹. Im frühen Mittelalter gehören Zaubersprüche in den Bereich instrumentellen Wissens (oder sind Belege einer inkriminierten dämonengläubigen Praxis); Glossen sind Verständnishilfen für den Benutzer lateinischer Handschriften; Otfrids ›Krist‹ adaptiert theologische Theoreme in einer anspruchsvollen volkssprachigen Kunstform für eine selbstbewusste Laienelite des ostfränkischen Königreichs; das ›Hildebrandslied‹ bewahrt in Form einer wahrscheinlich fingierten Mündlichkeit die Erinnerung an eine halb vergessene Vergangenheit. Die ›Denkmä ler‹ besetzen also ganz und gar unvergleichbare Positionen im kulturellen Zusammenhang und müssen von dieser Position her verstanden werden. Dem hat die neuere Mediävistik Rechnung getragen, und so kann man dort von einer Inkubationszeit kulturwissenschaftlicher Ansätze sprechen, in der – allerdings auf streng einzelwissenschaftlicher Basis – Teile ihres Programms verwirklicht wurden.

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II. Die Kulturwissenschaft darf nicht diese einzelwissenschaftliche Dif ferenzierung rückgängig machen, wohl kann sie einer mit ihr stets verbundenen Entkoppelung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse entgegenarbeiten, indem sie Literatur als ein besonderes kulturelles Phänomen wieder in den Kontext stellt, aus dem sie hervorgeht, den sie in sich aufnimmt, den sie reflektiert und von dem sie sich – manchmal – abstößt. Da sie in ihrer literaturwissenschaftlichen Spielart auf der Differenz der überlieferten Texte besteht, arbeitet sie an der Aufhebung der historistischen Verdinglichung kultureller Überlieferung zum ›Denkmal‹ oder – in anderer Metaphorik – zur ›Quelle‹ für dieses oder jenes kulturgeschichtliche ›Faktum‹. Sie sucht Texte als besondere sprachliche Konfigurationen von Erfahrung zu lesen. Texte bedienen sich dabei der zeitgenössisch verfügbaren rhetorischen und poetischen Verfahren, Strukturschemata und Gattungsmuster, haben an zeitgenössischen Wissens- und Wertordnungen teil und sind in zeitgenössische Gebrauchs- und Praxiszusammenhänge mehr oder minder eng eingebunden. Kulturgeschichtliche Kontextualisierung kann man insofern als Fortsetzung sozialgeschichtlicher Ansätze seit den 1970er Jahren sehen.5 Der genuine Ort der Sozialgeschichte war natürlich die Geschichtswissenschaft, und dort vor allem setzte sie sich – gegen die Dominanz der politischen, der Verfassungs- und Ideengeschichte – durch, doch wurde sie zugleich leitendes Forschungsparadigma in den übrigen historischen Disziplinen. Dabei haftete ihr freilich in den Philologien der Vorwurf des Theorie-Imports an. Dieser wirkte sich darin aus, dass das zentrale Problem einer Sozialgeschichte der Literatur dasjenige einer ›Vermittlung‹ der herkömmlichen philologischen Erkenntnisse (in Bezug auf Textstrukturen, Gattungen, Denkmuster) mit ander wärts erhobenen sozialhistorischen Daten war, ein Problem, für das eigentlich nur der orthodoxe Marxismus eine klare, freilich auch schlichte Lösung bot: Literatur als Epiphänomen gesamtgesellschaftlicher Prozesse. Unbefriedigend blieb aber auch die Alternative, einen eigenen literaturgeschichtlichen Sektor von Sozialgeschichte ins Zentrum zu rücken, also sozialen Status und soziale Rollen der Literaturproduzenten, Medien, Formen und Umfang der Distribution von Texten, Schichtung, Bildungsgrad, soziale Orientierung von Rezipienten oder die statistisch messbare Wirkung literarischer Texte. So wichtig solche Untersuchungen sind – sie werden meist als ›Literatursoziologie‹ im engeren Sinne gefasst –, den literarischen Werken selbst bleiben sie äußerlich. Das komplementäre Projekt einer ›Sozialgeschichte im Text‹ (Schönert) aber war mit höchst kontroversen Grundannahmen über die Wechselbeziehungen zwischen ›objektiv‹ ermittelbaren gesellschaftlichen Strukturen und deren ›subjektiver‹ Verarbeitung durch Autoren und Leser belastet.6

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Zu beider Verhältnis vgl. H ARDTWIG u. WEHLER (1996); vgl. insbesondere den Artikel von H ARDTWIG. Insbesondere die ›Münchner Forschergruppe‹ hat Modelle der Vermittlung erarbeitet:

Immerhin war mit der Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext die hergebrachte Begrenzung des Gegenstandsbereichs auf das literarische (oder auch: musika lische, bildende) Kunstwerk aufgegeben. Allerdings nahm die Sozialgeschichte häufig vorweg eine Eingrenzung der zu erhebenden Kontexte vor, nämlich auf Phänomene, die relevant für soziologische Theoriebildung waren; eher am Rande standen zumindest anfangs andere Kontexte wie z. B. die Praktiken und Gegenstände der Alltagskultur, Bilderwelten, psychische Dispositionen, Emotionen, Wahrnehmungen. Diese Beschränkung zu überwinden ist seit den 1980er Jahren Programm der Kultur wissenschaften. ›Kultur‹ ist dabei nicht ein Sektor ›neben‹ der Gesellschaft ist, so wenig wie Kulturgeschichtsschreibung einen begrenzten Ausschnitt der ›eigentlichen‹ Geschichtsschreibung behandelt, sondern Geschichte insgesamt ist ein kulturelles Phänomen und insofern Gegenstand der Kulturgeschichtsschreibung; diese tritt nicht als Spezialdisziplin von Fall zu Fall ergänzend zur politischen, militärischen oder sonstigen Geschichten hinzu. Verbunden ist diese Einsicht mit einer Kritik am objektivistischen Selbstmissverständnis der historischen Wissenschaf ten: Der sog. linguistic turn in der Geschichtswissenschaft trägt dem Umstand Rechnung, dass historisches Wissen ganz über wiegend sprachvermittelt ist, der Gegenstand dieses Wissens daher immer nur in dieser Vermittlung existiert und deshalb nie als solcher, ohne Analyse seiner textuellen Verfasstheit erkannt werden kann. Insofern sind diskursive Formationen, Gattungsmuster, Ordnungen des Wissens, Imaginationen als kulturelle Phänomene, nämlich als Mittel einer »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit«7 ebenso ›real‹ wie historische Ereignisse, sog. Fakten, oder mittels statistischer Daten belegbare Strukturen. Mit der Fokussierung der sprachlichen Gegebenheit kultureller Überlieferung kehrt sich gegenüber dem vorausgehenden sozialgeschichtlichen Paradigma die Richtung des Theorietransfers um, indem nicht mehr die Text wissenschaft ihre Fragen und Theoriemodelle aus der Geschichte und der Soziologie bezieht, sondern umgekehrt text wissenschaftliche Methoden sich als unabdingbar für Erschließung und Analyse historischer und sozialer Phänomene erweisen.8 Insofern trifft der Einwand des ›Theorieimports‹, der gegen die Kulturwissenschaft erhoben wurde,9

HEYDEBRAND u. a. (1988). In den Arbeiten der Gruppe wird die Grenze zu allgemeiner kultur wissenschaftlichen Fragestellungen oft bereits überschritten; vgl. etwa TITZMANN (1991) (darin vor allem die Beiträge von Claus-Michael Ort und Michael Titzmann); DANNEBERG u. a. (1992). Ein Fazit der älteren, eindeutiger sozialgeschichtlich fokussierten Debatte zog SCHÖNERT (1985); zur ›Sozialgeschichte im Text‹ DERS. (1990). So der Titel von BERGER u. LUCKMANN (1970). Verknüpft ist die Debatte darüber mit dem Namen von WHITE (1990); vgl. etwa JAUSS (1982). Sinngemäß H AUG (1999), etwa S. 71; vgl. BAR NER (1997), S. 7. Haugs Bedenken mögen überspitzt sein, doch protestieren sie zu Recht gegen eine Forschungspraxis, die die Differenz zwischen unterschiedlichen ›Zeichen‹- und ›Text‹-Typen überspringen zu können glaubt. VON

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nicht zu, im Gegenteil, denn der Anspruch, Kultur als ›Text‹10 – als Zeichenensemble – zu betrachten, bedeutet ja gerade, Theorie und Methodik textwissenschaftlicher Analyse auf alle Arten von Zeichenordnungen anzuwenden. Wenn ich demgemäß im Folgenden von einem literarischen Text ausgehe und als Text wissenschaftler argumentiere, so betrachte ich doch das textwissenschaftliche Verfahren als generalisierbar, solange man von der textuellen Gegebenheit des Überlieferten ausgeht; denn die in meinem Text verhandelten Sachverhalte existieren für uns auch sonst immer nur in textueller Vermittlung. Deren kulturspezifische Ausdifferenzierung – der Platz des jeweiligen Texttypus im Verhältnis zu anderen Texttypen innerhalb des ›literarischen Systems‹ einer Zeit – ist Untersuchungsgegenstand einer historischen Kulturwissenschaft. Jenes ›System‹ ist selbst eine historische Größe und kann nicht einfach von der Gegenwart aus aufs Mittelalter projiziert werden.

III. Ich wähle ein spätmittelalterliches Maere (oder auch nach alternativer Terminologie) eine mittelalterliche Novelle.11 Doch geht es mir primär nicht darum, die einzelnen dort thematisierten Sachverhalte im Rekurs auf allgemeinere kulturgeschichtliche Daten aufzuklären, sondern nach der Bedeutung dieses Texttypus im kulturellen Haushalt des Mittelalters zu fragen, die von der scheinbar verwandter Gattungen heute, wie z. B. der neuzeitlichen Novelle, absticht.

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Zur Problematik dieser Metapher vgl. BACHMANN-MEDICK (1996); LENK (1996); BASSLER (1995) sowie meine knappen ›Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft‹ in diesem Band. Zur Diskussion des Begriffs: HEINZLE (1978a); DERS. (1979); J.-D. MÜLLER (1984b); ZIEGELER (1985). Ob man nun den Novellen- oder Maeren-Begriff ablehnt oder nicht: Man kommt nicht ohne Bezeichnung für diesen besonderen Erzähltypus aus, der sich strukturell und funktional von ver wandten Erzähltypen wie Exempel, Parabel, Fabel, Schwank unterscheidet (vgl. die Untersuchungen von ZIEGELER) und deshalb nicht in der differenzlosen Überlieferung ›mittelalterliche Kleinepik‹ verschwinden sollte. Maeren sind um einen ›Ka sus‹ zentriert (zum ›Kasus‹ als »Geistesbeschäftigung«: JOLLES (1968), S. 171–199): Ein Kasus kann durchaus lehrhafte Aspekte implizieren, indem die Norm auf ihren Geltungsradius befragt wird (ebd., S. 190), aber primär geht es um den ›eminenten Fall‹, die ›unerhörte Begebenheit‹, auf die sowohl Erzähler- wie Leserperspektive fokussiert werden. Ob man diesen Typus Maere nennt (wozu ich wegen des eingeführten Sprachgebrauchs neige) oder sonstwie, ist ohne Belang. Auch versteht sich von selbst, dass es Übergänge zu ver wandten Erzählformen – in diesem Fall also zur eindeutiger didaktisch instrumentalisierten Kleinepik – gibt: ›Gattung‹ ist nun einmal kein bloßes Klassifikationsinstrument, um Texte säuberlich zu sortieren.

Die Geschichte läuft gelegentlich unter dem an Shakespeare und die Tiecksche Shakespeare-Übersetzung angelehnten Titel ›Der Widerspenstigen Zähmung‹ um,12 wird in der mittelalterlichen Überlieferung dagegen der vrouwen zuht genannt (V. 6).13 Der Stoff ist weit verbreitet. In der Kombination der verschiedenen Motive weiblicher Widersetzlichkeit und mehr oder minder erfolgreicher männlicher Zähmungspraktiken lassen sich kulturspezifische Varianten ausmachen,14 insgesamt aber erweisen sich die Motive über die Jahrhunderte und Räume hinweg als erstaunlich konstant. Das liegt wohl daran, dass die Geschichte einen Grundkonflikt (und eine funda mentale Angst) in den patriarchalischen Gesellschaften Europas behandelt: den Versuch der Frau im Geschlechterkampf die Oberhand über den Mann zu gewinnen. So hat der Typus das Interesse der Gender-Forschung gefunden, die an ihm typische Klischees patriarchaler Diskriminierung zeigen konnte; dem ist kaum etwas hinzuzufügen.15 Weniger bedacht wurde bisher der Status eines derartigen Textes und sein Platz in übergreifenden diskursiven Zusammenhängen. Das Maere (V. 2) ist, so wie es auf uns gekommen ist, von unmittelbaren pragmatischen Bindungen freigesetzt (steht also nicht im Zusammenhang einer Predigt, eines juristischen Beweisverfahrens o. ä.). Es will von gemelîchen dingen (V. 3) handeln, also einem Gegenstand, über den man lachen kann, und es wird als guot empfohlen (V. 5), was sich of fenbar auf seine ästhetische Qualität, seine ›gekonnte‹ Machart bezieht.16 Dies schließt natürlich eine lehrhaf te Absicht der Erzählung nicht aus, wie sie denn auch einleitend exponiert wird (V. 7–30) und am Ende noch einmal, mit unterschiedli-

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Vgl. für den Text SONNTAG (1969); die Verfasserin sucht aus verschiedenen, unterschiedlich ausführlichen überlieferten Fassungen einen ›kritischen‹ Text zu kontaminieren, mit allen fragwürdigen Konsequenzen solch eines Unterfangens. Der Abdruck der wichtigsten handschriftlichen Versionen empfiehlt trotzdem diese Ausgabe, und um die Argumentation auf einen gemeinsamen Bezugspunkt zu beziehen, wird, trotz grundsätzlicher Bedenken, nach dem von Sonntag hergestellten Text zitiert, der eine Art ›Normalversion‹ der Geschehensfolge enthält. Für mein Vorhaben reicht dies aus, zumal eine handschriftennahe kritische Ausgabe fehlt; für meine Frage sind die Varianten weithin nicht von Belang, zumal Plus- (oder Minus-)Verse sich im wesentlichen um die paradigmatische Verstärkung (oder Schwächung) der im übrigen gleichen Handlungskonstellationen drehen. Wo dies erforderlich ist, zumal in den Eingangsund Schlusspartien, werden Abweichungen in den einzelnen Handschriften nach Sonntags Transkriptionen berücksichtigt. ›Von der frawen zucht‹ ist die Geschichte in den Hss. w und i überschrieben (SONNTAG [1969], S. 124); in K und H wird als Thema das übele wîp (S. 74), in Hs. zwa bös Weiber (S. 154) genannt; ein Titel fehlt in l. SONNTAG (1969), S. 225–248. Zuletzt BRINKER-VON DER HEY DE (1999). Man kann in diesen Bemerkungen eine ausdrückliche Versprachlichung der ›poetischen Funktion‹ (Jakobson) sehen: der Rezipient wird darauf aufmerksam gemacht, dass er auf die Faktur achten soll. Nur Hs. l geht unter Aussparung solcher Charakteristiken gleich medias in res.

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chen Akzenten in den einzelnen Handschriften. Der erzählte Verlauf stützt zwar die Tendenz dieser Lehre, ist aber nicht in dem Sinne exemplarisch, dass er eine Punkt für Punkt auf die Lebenspraxis übertragbare Alltagssituation darstellte; erzählt wird vielmehr ein lächerlich-außergewöhnlicher Fall zwecks Beförderung einer alltäglichen, überall wiederholbaren Einsicht. Insofern besteht zwischen Lehre und Narration ein Spannungsverhältnis. Die Gattung Maere ist der Ort, an dem Alltagsmoral und unerhörter Kasus aufeinanderstoßen können.17 Sie eröffnet einen Spielraum des Erzählens, in dem anerkannte Positionen im Geschlechter verhältnis bis an die Grenzen des Absurden ausgereizt werden können. Die Fiktion lässt Konstellationen zu, die aus der gesellschaftlichen Praxis ausgeschlossen sind, um eben diese Praxis zu bestätigen. Beide, Fiktion wie Praxis können sich auf dieselbe imaginäre Institution der Geschlechterordnung berufen.18 Die Wahl gerade dieses Maere, in dem der exzeptionelle Kasus letztlich nur das Gewöhnliche bestätigt, unterläuft eine stillschweigende Übereinkunft von Kritikern der Kulturwissenschaft, dass nämlich der literarische Text – im Vergleich mit anderen kulturellen Gebilden – sich durch höhere Komplexität und einen höheren Reflexionsgrad auszeichne. Für dieses Maere wird man das schwerlich behaupten können. Die Möglichkeit der Fiktion, mit Sprache zu spielen, neben der Alltagsrealität andere Ordnungen der Welt zu entwerfen, zugespitzte Situationen durchzudeklinieren, kann also durchaus zugunsten jener Realität instrumentalisiert werden und ist offenbar keineswegs notwendig mit einer Reflexion, Überschreitung oder Problematisierung des gewöhnlich Geltenden verknüpft. Dass dies einzelnen literarischen Texten faktisch zukommen kann (also im Mittelalter vielleicht den Werken Dantes, Chrétiens von Troyes, Gottfrieds von Straßburg oder Wolframs von Eschenbach), besagt nichts über den Platz, den der fiktionale Text grundsätzlich – als ›Sprechen unter Möglichkeitsbedingungen‹ – im kulturellen Zusammenhang der Zeit einnimmt. In dieser Kombination des Außergewöhnlichen mit dem Trivialen war das Maere dem Überlieferungsbefund zufolge erfolgreich. Der Verlauf des Kasus ist immer derselbe, ebenso wie die Schlüsse, die aus ihm gezogen werden sollen:19 Erzählt wird von zwei ›bösen‹ Damen der Gesellschaft, Mutter und Tochter, die beide zur (männlichen) Raison gebracht werden, zur Nachahmung empfohlen allen Eheherren, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die böse, sich dem Mann immerzu und erfolgreich widersetzende Mutter hat eine ebenso böse Tochter. Um die Tochter wirbt ein Ritter und nimmt sie trotz den Warnungen des leidgeprüften Vaters zur Frau. Wenn er sie von den Eltern heimholt, zeigt er, wie

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Hierzu insbesondere JOLLES (1968), S. 171–199; zu den poetologischen Implikationen: FRIEDRICH (1996). Zur Triangulierung des Fiktiven, des Imaginären und des Realen: ISER (1991), S. 19–23. Die Varianz der Handschriften bietet das übliche Bild: Einfügen von Füllversen, Austausch von Epitheta, metrische Glättungen (oder Aufrau hungen), Ausfüllen von Leerstellen usw.

man Frauen zähmt. Als die Mutter davon erfährt, will sie die Tochter vom Abweg des ehelichen Gehorsams wieder zurückführen. Das misslingt. Im Gegenteil wird sie selbst durch eine noch drastischere Methode von ›Frauenzucht‹ zur Räson gebracht. Hinkünftig leben alle glück lich, die Frauen gerne gehorchend, die Männer zufrieden ob ihres gottgefälligen Hausrechts. Der Erzähler erklärt sich solidarisch mit den Erziehungserfolgen der männlichen Protagonisten der Handlung, er zieht die Männer, denen er die Geschichte erzählt, ins Einvernehmen und legt den Frauen nahe, aus pragmatischen Überlegungen dem Ergebnis zuzustimmen.20

IV. Das Maere bedient in erster Linie Klischees mittelalterlicher Misogynie, und zwar auf eine recht anspruchslose Weise. Im überlieferten Titel bedeutet zuht sowohl ›Erziehung‹ wie ›Züchtigung‹. Als Verfasser nennt sich – sprechender Name? – ein gewisser Si-bot(e) (V. 16), durch den Namen also als jemand bezeichnet, der selbst das ist, was man als Si-mandl, als Pantoffelheld, verhöhnt: Er bedarf selbe râtes wol (V. 10). Der Erzähler inszeniert sich als ein Narr, über den man lachen kann, dessen wohlgemeinte Ratschläge aber umso mehr Gewicht haben, als sie auf eigener Erfahrung beruhen. Die Botschaft ist schlicht, das unzählige Male bezeugte kulturelle Stereotyp ›richtiger‹ Geschlechterbeziehungen wird einmal mehr bestätigt, eine auch nur minimale spielerische Distanz zu seinen brutalen Implikationen ist auch bei Detailbetrachtung nicht zu erkennen. Da ist ein alter vorbildlicher Ritter, der glücklich leben könnte, wäre nicht seine böse Frau, die ihm immer zuwider handelt und spricht und derer er nicht Herr wird, ist er doch alze senftes muotes (S. 77, V. 42). Seine Sanftmut zeigt sich daran, dass er nur zu den gewöhnlicheren Mitteln greift, um die Frau in seine Botmäßigkeit zu zwingen, indem er auf ihrem Rücken unzählige Stöcke zerschlagen lässt.21 Das fruchtet nichts. Bei der Tochter setzt sich das fort, wobei an ihr die Diskrepanz zwischen dem was von ›Natur‹ richtig wäre, und dem, was soziale Fehlentwicklung ist, nach außen tritt: Got het si gebildet/ zeiner schoenen vrouwen (V. 98f.); das heißt sie hat alle Anlagen zur Vollkommenheit und ist damit natürlich für einen Mann bestimmt. Doch schreckt sie alle Heiratskandidaten ab und bescheidet in einem langen Dialog, der die ganze Unverschämtheit weiblichen Herrschaftsanspruches vorführen will,

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Schon der Einsatz der Erzählung ist auf Einvernehmen der Männer gestimmt. Am Schluss gibt es in H und K einen Rat an die Frauen, ihren Männern gehorsam zu sein (V. 799–806), ergänzt in K 2 (S. 123) durch einen obszönen Rat an die Männer (›Satteln‹ und ›Reiten‹ der Frau); ähnlich l (S. 180, V. 971–984), wo der obszöne Rat durch eine grotesk übersteigerte Strafe ersetzt ist (Auf hängen der Frau mit zwei Wölfen). S. 77, V. 54f. u. 59–62; die Hs. H hat nur die zweite Textstelle.

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selbstbewusst ihren Vater: ich wolde daz lenger mezzer tragen (V. 140), kurz, eine übeliu Kriemhilt (V. 163) und eine Verkehrung der rechten Ordnung, der mit gewöhnlichen Mitteln nicht beizukommen ist. Deshalb muss der Bräutigam, der es dann doch wagt (V. 220) und sich auch vom Vater nicht abschrecken lässt, zu ungewöhnlichen greifen. Ein Mutter-Tochter-Gespräch, das den üblichen Verlauf dieses literarischen Typus wieder auf den Kopf stellt, geht voraus. Auch der Rat der Mutter – die Vorherrschaft der Frau – droht mit Gewalt: ich wil dich ze tôde slân (V. 168), wenn die Tochter ihrem Mann nachgebe. Vier Wochen lang dreimal täglich Prügel vom Gatten (V. 294) und ein zerschundener Rücken (V. 272f.) seien besser, als dass der Mann herrsche, gegen den die Tochter sich mit Kratzen, Beißen und Haare ausreißen zur Wehr setzen solle. Dann kommt der Bräutigam die Braut abholen. Bei sich hat er ein Pferd daz was lützel schatzes wert (V. 308), einen Windhund und einen Habicht (statt des wert volleren Falken). Auf dem Rück weg reitet er einen smâlen stîc (V. 334), durch ein wilt geverte (V. 338), daz niemen sæhe ir zweier tât (V. 336): Was jetzt folgt – das ist wichtig für die Ökonomie des Erzählens –, ist nicht öffentlich, gehört in eine Sphäre, die dem Blick der anderen verborgen ist. Als erstes kommt der Habicht dran, der in der Wildnis seinem Jagdinstinkt folgen und trotz Verbot des Ritters von der Hand auffliegen will. Dîn züken ist mir ungemach (V. 345), warnt dieser den Habicht; zücken ist Intensivum von ziehen, die übertrieben heftige, daher unhöfische Bewegung, die der zuht (aus dem gleichen Stamm) widerspricht. Die Verfehlung lenkt also schon auf das eigentliche Thema, die Erziehung (zuht) der Frau. Der Habicht pariert nicht, und der Ritter dreht ihm den Hals um:22 Nû habe dir daz dîn wille was (V. 354). Dann warnt er jeden, der ihn begleitet, Frau und Tiere, es gehe ihnen ebenso, wenn sie von der boese[n] site (V. 358) des Ungehorsams nicht abließen. Ähnliches wiederholt sich mit dem Windhund, der auf der Seite mitlaufen will und, als das nicht geht, am Seil zerrt, weil er nicht folgen kann: daz dû sô zückest (V. 365), wirft der Ritter ihm wieder vor. Auch der Hund verstößt gegen die zuht; erzürnt (Hs. K 2) haut der Ritter ihn in Stücke. Beim Pferd gibt es ebenfalls einen Vorwand: Gurre, dû snabes./ Dû enzeldest noch entrabes (V. 389): Da es nicht gleichmäßig-ruhig geht (es hat den Passgang nie gelernt), schlägt er dem Pferd den Kopf ab. Drei Verfehlungen, die in der ›Natur‹ von Tieren liegen, die zwar schon dem Menschen gefügig sind, sich aber noch nicht ganz seiner Herrschaft unterworfen haben: der für die Jagd instrumentalisierte Instinkt des Jagdvogels; die Anhänglichkeit des Hundes, der seinen Herrn nicht belästigen darf; der unregelmäßige Schritt des Reitpferdes, dem die Dressur des zeltens fehlt.

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Die Worte des Ritters Sît dû nâch ungemache strebes / unde ungerne sanfte lebes (V. 349f.) zitieren den Waldmenschen aus Hartmanns ›Iwein‹, der damit sein Unverständnis über die ritterliche Lebensform Kalogrenants ausdrückt. Was dort Zerrbild ritterlichen Ehrstrebens ist, ist hier Unbotmäßigkeit einer minderwertigen Kreatur, die sofort mit dem Tod geahndet wird.

Im zeitgenössischen Sprachgebrauch: die natura ist noch nicht voll domestiziert (nutritura), und das zieht drei drastische Strafen nach sich.23 Ein ähnlich halbzivilisiertes Naturwesen ist die Frau, und so setzt sich in ihr die Reihe der Tiere fort; sie aber kann zeigen, dass sie besser erziehbar ist. Der Ritter hat Anspruch auf ein Pferd, doch das Pferd ist hin; die Folgerung ist klar: Vrouwe, ich muoz iuch rîten (V. 418). Ihren Vorschlag, wenigstens auf den Sattel zu verzichten, weist er zurück: Daz waere ein ungenaemer site (V. 428).24 Er wittert Widerspruch (V. 429), doch ist sie gleich bereit, auch den Sattel zu tragen und sich aufzäumen zu lassen. Immerhin reitet er sie nur drîe spere lanc (V. 444), doch verlangt er, dass sie im Passgang geht. Seine drohende Frage Vrouwe, snabet ir? (V. 447) weist sie erschrocken zurück; sie kann zelden, denn sie hat es von einem Pferd am Hof ihres Vaters – Erziehungsinstanzen sind männlich – gelernt (V. 457): Ich kan wol sanfte unde ebene gân (V. 458). Nachdem sie unter Beweis gestellt hat, dass sie parieren kann, steigt er ab und nam si under sîn gewant (V. 468), eine Gebärde des Schutzes, die die Übernahme seiner Pflichten als Eheherr andeutet. Sîn vrünt sind plötzlich zur Stelle – of fenbar in der Wildnis dâ ers heimelîche het gesat (V. 470) –, die Hochzeit wird gefeiert, und sie wird daz aller beste wîp (V. 477). Die Zähmung der Tochter ärgert die Mutter, die ihre inzwischen ›gute‹ Tochter (K 2) als übel barn (V. 495) und übeliu hût (V. 499) beschimpft. Bei einem Besuch macht sie deshalb von ihrem elterlichen Züchtigungsrecht gegenüber der Tochter Gebrauch (V. 503–505): falsche zuht wie vorher boese site der Tiere. Die Tochter droht der Mutter im Gegenzug mit der Gewalt ihres Gatten (knütelwerc, V. 551), des besten Mannes, den kein vrouwe ie gewan (V. 518). Damit sind die Weichen für eine Kraftprobe gestellt. Auch der Vater ist mit jedem Mittel zur Zähmung der bösen Alten einverstanden: Welt ir si villen oder schern / oder brâten ûf den koln (V. 592f.). Was, auf einen Menschen bezogen, eine sadistisches Gewaltphantasie scheint, nennt übliche Prozeduren bei der Tierver wertung: Häutung (um Leder zu gewinnen), scheren (der Wolle wegen) und rösten (das Fleisch).25 Auch hier orientiert sich der Umgang mit der Frau am Tier. Der Schwiegersohn nimmt zwei Knechte als Hilfe, droht zuerst wieder mit einer Prügelorgie, biz ir in bætet umbe den lîp (V. 637) – nur ist auf die Kräfte des Prügelnden Rück sicht zu nehmen (V. 627–635). Als das nicht hilft, diagnostiziert er:

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Dabei handelt es sich um einen Topos mittelalterlicher Anthropologie (vgl. etwa die Geschichte von der Katze als Kerzenträger, an der eine Maus vorbeirennt); zu seiner Bedeutung im Gender-Kontext PETERS (1999a), S. 300f. Die rechte site ist Schlüsselkonzept der Erzählung. Sie grenzt sich von der boesen site der natürlichen Neigung der Tiere ab und schließt den gesellschaftlichen Rang des Ritters ein. Das Mittel, ihr Geltung zu verschaffen ist zuht, die wiederum in Opposition zu unkontrollierter Bewegung (zücken) steht. Bei villen (schinden) sollte nicht vorschnell die übertragene Bedeutung (›blutig schlagen‹) eingesetzt werden; ebenso sind schern und brâten durchaus wörtlich verstehbar; l (V. 724) hat sieden, w (V. 706f.) und – unspezifischer – erwürgen und aufhängen.

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Ir traget zwêne zornbrâten, die ligent ûzen an iuwerm die, dâvon enwurdet ir guot nie. (V. 668–670)

Er gibt vor, bei der Frau die Genitalien eines Mannes zu vermuten, zwei Stück Fleisch, die sie an ihrem Oberschenkel nahe der Scham trage. Diese müssen ûz gesniten (V. 673) werden.26 Nach wilden, grotesken Beschimpfungen der Frau, die sich dagegen wehrt, wie ein wilt eberswîn beschaf fen zu sein, lässt er sie von den Knechten ergreifen, schneidet ihr durch daz niderhemede (V. 699) eine tiefe Wunde und behauptet, den zornbrâten entfernt zu haben, indem er ihr eine vorbereitete, in Blut gewälzte Hammelniere zeigt.27 Die Frau fleht unter dem Eindruck der Schmerzen, auf die Operation des zweiten zornbraten zu verzichten, dessen mögliche Wirkung sie auch so unterdrücken werde: Ich wil haben guote siten (V. 724). Obwohl die Tochter abrät (sie hat die Mechanismen der schwarzen Pädagogik offenbar nicht verstanden),28 gibt der Ritter nach, entlässt die Frau. Diese ist künf tig in allem ihrem Mann gehorsam, wobei beim geringsten Widerspruch die Erinnerung an den Schwiegersohn und den zweiten Zornbraten genügt, um sie gefügig zu machen: ein erfolgreicher Erziehungsprozess.

V. Beide Erziehungsgeschichten beziehen sich auf ein kulturelles Stereotyp, das das Geschlechterverhältnis festschreibt; beide radikalisieren dessen metaphorische oder wissenschaftliche Begründung durch buchstäbliche Umsetzung in Aktion. Die erste Geschichte bezieht ihre Pointe aus der gängigen Metapher, dass die Frau durch den Mann ›gezügelt‹ werden muss, denn man weiß fraenum mulierum vt plurimum non est ratio, quia communiter a ratione deficiunt. Die Vernunft, proprium des Men-

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BRINKER-VON DER HEYDE (1999), S. 57 spricht von einem »Szena rio« »rituelle[r] Kastration«; dieses Szenario ist allerdings nicht mehr als Theater. Die Nieren gelten als Quelle der sexuellen Lust des Mannes, manchmal auch der Frau (C ADDEN [1993], S. 180). Entsprechend sind im Mhd. die niern der Ort der (meist männlichen) Sexualität; vgl. BMZ II, 1, S. 347: daz ein minne dicke laeret die nirn des samen, den si dar inne vindet oder groz huorgelust kumt dicke von der natûre, die die niern habet oder – metaphorisch häufig für ›Lende‹ – so hâte ir nieren wol begurt mit der kiusche gürtel; hier scheint überdies, wie die Platzierung der zornbraten zeigt, zwischen Hoden (so nier bis heute in Mundarten) und Nieren (des Schafbocks) nicht genau unterschieden; die Szene ist also – außer in K 2 – keineswegs gegenüber dem französischen fabliau und den Stierhoden dort verharmlost. Sie fürchtet, der verbleibende zornes brâten könne ein jungen hervorbringen: Sie rechnet also mit der prokreativen Kraft des männlichen Genitals.

schen, ist bei der Frau defizitär, denn die Frau ist quasi vir incompletus.29 Dies impliziert allerdings in der gelehrten Anthropologie keineswegs ihre Degradierung zum Tier.30 Der Mensch darf nicht über den Menschen – das Ebenbild Gottes – herrschen, so wie er nach dem Auftrag in der Genesis (1 Mos 1,26) über Tiere herrschen soll.31 Das Maere dagegen suggeriert in der buchstäblichen Auffassung von ›zügeln‹ genau dies: Der Mann zäumt sie wie ein Reittier auf; Frauen und Tiere gehören in ein und dieselbe Kategorie.32 Damit kommt eine zweite, obszöne Metapher ins Spiel: das ›Reiten‹ der Frau als Umschreibung des Sexualaktes. Die von der Moralphilosophie geforderte ›Leitung‹ durch den Mann enthält im Maere, zumal mit der Präzisierung ›drei Speere lang‹, einen burlesken Nebensinn: Die ungehorsame Frau muss ›zugeritten‹ werden. Scheint das Aufzäumen zum Zelter die natura der Frau zu vergewaltigen, indem sie sie einer wesensfremden nutritura, der Domptur des Passgangs, unterzieht,33 so entspricht ›reiten‹ dem, was man als natura eben dieser Frau immer schon kennt. In der Gattung Mære mit ihrer karnevalesken Konkretisierung moralphilosophischer und alltäglicher Metaphorik sind anthropologische Norm und misogyne Alltagsmoral austauschbar; männliche Ratio und männliche Sexualität fallen ineins. Dabei wird die Distanz zum seriösen Geschlechterdiskurses durchaus markiert: Die ›Erziehung‹ der Frau mittels Degradierung zum Reittier findet dort statt, wo niemand zusehen kann, in der Wildnis. Die szenische Konkretisation erlaubt, das Spannungsverhältnis zwischen absurder Buchstäblichkeit und metaphorischer Geltung komisch auszuagieren. Fiktionsintern garantiert ›Wildnis‹ dieselbe Lizenz, die, von außen betrachtet, das aufgerufene Gattungsmuster Maere ankündigt. Beim zweiten Fall steht im Hintergrund die von Thomas Laqueur beschriebene, auf Galen zurückgehende Vorstellung, dass die männlichen und die weiblichen Genita lien im Prinzip gleich gebaut sind, die weiblichen nur innerhalb des Körpers, die männlichen außerhalb liegen, wobei ihre Gestalt die genaue Umkehrung derjenigen des anderen Geschlechtes ist.34 Mit Lage und Funktion der

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So eine Formulierung des A EGIDIUS ROMANUS: ›De regimine principum libri tres‹ (1556), I, 2, 18, Bl. 162r bzw. Bl. 160v, der damit eine bekannte Auffassung wiedergibt; den Hinweis verdanke ich Udo Friedrich. Bei A EGIDIUS ROMANUS: ›De regimine principum libri tres‹ ([1556], I, 2, 14 u. 15) ist sie z. B. ausdrücklich den pueri wie den servi übergeordnet, und der Mann hat sie auf andere Weise zu lenken (regere) als jene. Vgl. AURELIUS AUGUSTINUS: ›De civitate dei‹ (1955), 19,15: Sklaverei ist deshalb legitimationsbedürftig und muss als Folge der Sünde des Sem gegen seinen Vater Noah eigens begründet werden. Seiner Natur nach, wie Gott sie ursprünglich schuf (und das heißt als Mann und Frau), ist Augustinus zufolge ›kein Mensch eines Menschen oder der Sünde Knecht‹. BRINKER-VON DER HEYDE (1999), S. 55; vgl. S. 52–60. Vgl. Anm. 23; dies ist nur als komische Zuspitzung tolerierbar. L AQUEUR (1991). Dem Penis entspricht die Vagina, den Hoden die Eierstöcke, dem Scrotum die Gebärmutter; es gibt männlichen und weiblichen ›Sa men‹ usw. Allerdings

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Geschlechtsteile ist eine Bewertung verknüpft: Die männliche Organisation des Körpers ist vollkommener, weil funktionstüchtiger. Die angemessene Ausbildung der Geschlechtsteile ist die des Mannes. Bei der Frau wird diese Ausbildung durch die mindere Qualität des Samens oder sonstige widrige Umstände bei der Zeugung behindert. Die Frau ist insofern ein misslungener Mann. Diese Auf fassung war bis in die Frühe Neuzeit so stark, dass sie die anatomische Forschung leitete und entgegenstehende physiologische Beobachtungen umgedeutet werden mussten.35 Hierauf basiert die Erfindung des zornes brâten als einer männlichen Missbildung am weiblichen Körper. Allerdings ›illustriert‹ das Maere nicht die Theorie,36 setzt sie nicht einmal ernsthaft voraus,37 sondern spielt auf sie als Hintergrund an, um einem schwankhaften Experiment Glaubwürdigkeit zu verschaf fen, der Scheinoperation eines Genitale, das am ›falschen‹ Ort, nämlich am Körper der Frau sitzt, dort jedoch an der ›richtigen‹ Stelle, nämlich in der Nähe ihrer Scham. Die medizinische Theorie muss jedoch, damit der Schwank funktioniert, in einer Weise konkretisiert werden, die ihrem Erklärungsanspruch widerspricht: Statt strukturell den männlichen verwandte Geschlechtsteile werden der Frau identische angedichtet, die zurechtgeschnitten werden müssen. Nur in eine derart ›verkehrte‹ Natur darf gewaltsam eingegrif fen werden, was doch bei der mit der Schöpfung statuierten Geschlechterdifferenzierung, auf die sich die medizinische Theorie einen Reim zu machen sucht, Sakrileg wäre. Aus heutiger Perspektive liest sich das Maere als ein auf wendig auserzähltes Vorurteil, ein Schwank von mäßigem Witz und von zweifelhafter Moral. Bei ihrer

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ist die Parallelisierung der körperlichen Beschaffenheit sehr unterschiedlich weit ausgeführt; häufig wird stattdessen auf die Differenz abgehoben (C ADDEN [1993], bes. S. 177–183; 188f. u. ö.). Man kann also nicht wie Laqueur das one-sex-model zur allein herrschenden Meinung erklären (hierzu kritisch PETERS [1999a], S. 286). L AQUEUR (1991), S. 20. Sein Buch zeigt, dass auch sog. biologische Tatsachen kulturell überformt sind und nur im Rahmen bestimmter kultureller Erkenntnissysteme wahrgenommen werden können. So verdanke sich das Theorem von der Unterschied lichkeit der beiden Geschlechter keineswegs dem Erkenntnisfortschritt (im Gegenteil führt auch seine wissenschaftliche Untermauerung in Aporien), sondern primär einer neuen ›Geschlechterpolitik‹. Zu bedenken ist allerdings, dass es durchaus adäquatere und weniger adäquate medizinische Theorien gibt. Laqueur zeigt nur, dass deren Durchsetzung mit übergreifenden gesellschaftlichen Bedingungen zu tun hat, »daß so ziemlich alles, was man über das Geschlecht des Leibes (sex) aussagen möchte [...] immer schon etwas aussagt über das Geschlecht im soziokulturellen Raum (gender)« (S. 24f.). Selbst wenn es genauer auf die physiologischen Besonderheiten von Mann und Frau einginge, wäre das Maere als ›Illustration‹ recht uninteressant – ein Text unter vielen; zur Kritik solch ›illustrierender‹ Funktion literarischer Texte für »Humanphänomene« aller Art: BARNER (1997), S. 1. Der brâten liegt ûzen an iuwerm die (V. 679): eine Verharmlosung? Für die Annahme jener Theorie spricht, dass der Ritter bei der Operation tief ins Fleisch schneiden muss.

eher schlichten Machart hat die Geschichte einige Voraussetzungen, die sich der Leser des 20. Jahrhunderts erst aneignen muss, allgemeinere wie die bekannte, nirgends in Frage gestellte patriarchalische Gesellschaftsordnung, in der Frauen unablässig geprügelt werden (und trotzdem sich mausig machen), und speziellere wie die Verteilung der ratio unter den Geschlechtern und die naturkundlichen Annahmen über männliche und weibliche Geschlechtsorgane. Beide Male geht das Maere von akzeptierten anthropologischen Aussagen aus, löst sie aus ihrem (metaphorischen, philosophischen oder medizinisch-wissenschaftlichen) Kontext und setzt sie wörtlich in eine Schwankhandlung um. Beide Erziehungsgeschichten verklammern natürliche und soziale Hierarchie. Die erste Frau wird über die Stufenleiter der ›Haustiere‹ bis zu dem Punkt geführt, der ihr als Frau erreichbar ist: Sie kann sogar den Passgang lernen. Indem sie ihren natürlichen Platz an der Spitze der unvernünftigen Lebewesen einnimmt, qualifiziert sie sich für die Rolle, die ihr im sozia len Gefüge vorbehalten ist: Das gehorsamste Haustier ist die beste Ehefrau. Der zweiten Frau wird drastisch klar gemacht, dass der Versuch, über die naturgegebene Position hinauszukommen, auf eine körperliche Missbildung schließen lässt, die mit chirurgischen Mitteln beseitigt werden muss. Was die Sexualtheorie gerade nicht impliziert: Die vorgetäuschte Operation definiert die aufsässige Frau als Monster, als Hermaphroditen. Die soziale Verirrung wird als Verirrung der Natur ausgegeben. Gegenüber dem Essentialismus der Geschlechterdif ferenz seit dem späten 18. Jahrhundert werden nicht aus der biologischen Verschiedenheit von Frau und Mann ihre sozialen Rollen abgeleitet, sondern umgekehrt die ›richtige‹ soziale Rollenverteilung (site) lässt Schlüsse auf die biologische (zoologische) Beschaffenheit zu – bei Abweichung: Haustier oder Monster. Dass die Mutter sich vom pädagogischen Schwiegersohn über ihre eigene körperliche Beschaf fenheit täuschen lässt (sollte ihr nie am Oberschenkel ein ›Zornbraten‹ aufgefallen sein?), unterstreicht in provokanter Versuchsanordnung, dass ›Mann sein wollen‹ auf gesellschaftlicher Ebene ›Mann sein‹ von ›Natur‹ nach sich zieht.

VI. Fingieren hat hier eine doppelte Bedeutung, wobei beide Akte des Fingierens sich an einer normativen Ordnung ausrichten. Die fiktiven Versuchsanordnungen des Hauptakteurs (Fiktion1) und ihre lächerliche Darbietung im Maere (Fiktion2) dienen dazu, dem, was jeder für richtig hält, auch in diesem Fall Geltung zu verschaffen. Die gewöhnliche zivilisatorische Zurichtung (zuht, nicht zuletzt mittels der unablässig angedrohten oder verabreichten Prügel) erweist sich als unzulänglich und wird deshalb im schwankhaft-brutalen Arrangement des Ritters und dessen komischer Präsentation für den Hörer des Maere in eine Richtung überschritten, die der Frau probe- und versuchsweise ihr Menschsein bzw. ihre Geschlechtsidentität raubt. Beides führt unmittelbar zur Befestigung der zivilisatorischen Norm 59

– die Protagonistinnen dürfen sogleich wieder allseits geachtete Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sein.38 Für eine kulturwissenschaftliche Fragestellung bietet das Maere einen dreifachen Ertrag: Es ruft erstens im Zusammenspiel von Erzählung und Lehre eine historische Ordnung der Geschlechterdifferenz auf, die in ihrer Abstimmung medizinischer, rechtlicher und sozialer Annahmen als in sich schlüssig erscheint und die ihre anthropologische Basis in der Hierarchie der Lebewesen hat. Es bringt zweitens in der erzählten, vom Protagonisten fingierten Konstellation den latenten Gewaltcharakter dieser Ordnung ans Licht (dem spiegelbildlich eine latente Angst antwortet), ausgefaltet in einer Klimax von Prügeln, Todesdrohung, Verstümmelung und Hinrichtung, die ihrerseits an eine Antiklimax der unvernünftigen Lebewesen geknüpft ist. Und es führt drittens unter der Gattungsprämisse des Maere Formen des Fingierens vor, die nicht einer Erweiterung imaginärer Möglichkeiten, eines Spielraums denkbarer Alternativen dienen, sondern im Gegenteil deren Begrenzung und Abschluss, indem sie geltende pragmatische Normen unter unwahrscheinlichen Extrembedingungen bestätigen und ihre grausam-radikale Exekution lizensieren und lachend genießbar machen. Das Maere thematisiert also erstens die Identität von naturaler und zivilisatorischer Ordnung, jedoch so, dass im Gegensatz zur Neuzeit die zivilisatorische der naturalen vorgeordnet ist. Weit entfernt, aus einer bloß graduellen Unterschiedlichkeit des sex, wie manche Adepten Laqueurs glauben, eine Kritik an einer essentia listischen Geschlechteropposition abzuleiten,39 unternimmt es das Maere, auch die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechterrollen – gender – essentialistisch festzuschreiben. Biologische Determination hat dort ihre Grenze, wo sie Determination zum sozial Verkehrten ist; sie lässt dann nämlich den Schluss auf Verkehrung der Natur zu und muss korigiert werden: Zwar hat die Tochter ihre Bosheit von der Mutter, diese von ihrer Mutter (V. 100–102; 621–623) ererbt, so dass scheinbar legitimatorisch das adlige Prinzip des Bluterbes aufgerufen ist.40 Doch stiftet solch ein Erbe in diesem Fall keine Legitimiät, denn es würde die rechtmäßige soziale Ordnung pervertieren. Das sozial Falsche kann nur Unnatur sein; was sich als natürlich (art) maskiert, muss deshalb korrigiert werden. Die Vermännlichung der Frau wäre Anmaßung gegenüber der gottgewollten Ordnung; tatsächlich wäre sie eine Vertierung: Eine Frau, die so handelt wie die Mutter,

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Besonders im ersten Fall: V. 472–481; in den einzelnen Hss. z. T. noch stärker betont. Dies ist eine utopische Vorstellung, die von manchen Feministinnen an Laqueurs Beobachtungen geknüpft werden: vgl. PETERS (1999a), S. 303: mittelalterliche Erzählungen legen eine Labilität der Geschlechterdifferenz im Sinne eines one-sex-model gerade nicht nahe. Vgl. BRINKER-VON DER HEYDE (1999), S. 56. Dabei ist der naheliegende Gedanke der Erbsünde zurückgedrängt, denn sie müsste Männer und Frauen gleicherma ßen betreffen. Allenfalls die grundsätzliche Erziehungsbedürf tigkeit des Menschen (der Frau) ist ihr entlehnt. Die kulturelle Überformung einer pervertierten Naturanlage heißt zuht. Sie ist ausschließlich Sache des Mannes.

bei der ist zu erwarten, dass sie die Genitalien eines Mannes hat, und die Komödie mit den Geschlechtsorganen eines als besonders geil verschrieenen Tieres, des Schafbocks bringt den ›Beweis‹. Das Maere erzählt zweitens die Auseinandersetzung um das rechte Geschlechterverhältnis als Kette von Gewalttaten, und zwar nicht nur im Namen der patriarchalen Ordnung, sondern ebenso bei den Versuchen, diese in Frage zu stellen. An Berechtigung und Notwendigkeit von Prügeln zur ›Erziehung‹ der Frau besteht kein Zweifel. Die fiktive Versuchsanordnung erlaubt jedoch, die sozial akzeptierte Gewalt der Prügel durch die Unterjochung zum Reittier zu verschärfen und diese noch durch die blutige Verstümmelung in einer fingierten Operation zu überbieten. Dabei antwortet der Gewalt der einen Seite die Gewalt der anderen: Was an der Widersetzlichkeit der Frauen wie weibliche Emanzipation gelesen werden könnte (obwohl der Erzähler keinen Zweifel daran lässt, dass er es für verkehrte Welt hält), ist – zumal in den Drohungen der Mutter – ebenso auf Gewalt gegründet wie die den Frauen vergeblich eingebleute Männerherrschaft: Die Frauen wehren sich notfalls mit Zähnen und Klauen gegen die Ehemänner, die deshalb Verstärkung brauchen, und auch die Weiberherrschaft muss mit Prügeln oder selbst der Androhung des Todes durchgesetzt werden. Die Frage ist nicht Gewalt oder Gewaltlosigkeit, sondern wer Gewalt üben darf. Es sind die Männer. Die ›anima lische‹ Natur der Frau muss wie diejenige der Tiere gewaltsam bis zum Blutvergießen von den Männern beherrscht werden, dressiert, zurechtgeschnitten. Was in der symbolischen Ordnung der Geschlechter latent bleibt, tritt in der buchstäblichen Verkörperung des Symbolischen (Metapher, medizinische Theorie) nach außen. Kehrseite der Gewalt ist Angst. Die überlegene Frau muss blutig überwältigt werden, damit sie nicht selbst blutig überwältigt, und sie wird ›kastriert‹, damit sie nicht selbst kastriert. Drittens, Fingieren tritt in zwei Gestalten auf, die beide darauf zielen, die gewöhnliche Geschlechterordnung als pragmatisch sinnvoll darzustellen, das eine Mal mittels der zielgerichteten Inszenierungen der Hauptfigur, das andere Mal als fiktionales Erzählen von solch einer Inszenierung. Die Inszenierung radikalisiert nur die Konsequenzen, die sich aus dem ›richtigen‹ Geschlechterverhältnis ergeben und setzt dieses praktisch durch, die Fiktion stellt die Radikalisierung als unterhaltsames und belehrendes Fallbeispiel dar. Von literarhistorischem Interesse ist nur der zweite Fall: Der Maeren-Kasus überdreht den Konsens ›aller richtig Denkenden‹ nur ein wenig – wie dies überhaupt typisch für Maeren ist, weshalb sich aus ihnen in der Regel wenig konstruktive Handlungsanweisungen gewinnen lassen –, damit man darüber lachen kann. Das Lachen gilt der ingeniösen List des jüngeren Mannes und der Dämlichkeit der Frauen (zumal der alten), die darauf hereinfallen; so ist das Lachen auch schadenfroh und dient noch einmal der manifesten Botschaft des Textes: Männer sind nun einmal klüger und stärker als Frauen und sollten deshalb herrschen. Die vom Text nahegelegte Schlussfolgerung hat ein doppeltes Publikum: die Frauen, die lernen, dass Möchtegern-Emanzipation zu nichts führt, die Männer, denen lachend ihre Überlegenheit, physisch wie intellektuell bestätigt wird. Beides kann die komische Verkörperung symbolischer Ordnung im Maere 61

zusammen zwingen. Das Lachen befreit nicht von den Zwängen der gewöhnlichen Geschlechterordnung, sondern blamiert diejenigen, die sich gegen sie zu behaupten versuchen: Erzählen als Mittel der Versicherung über gemeinschaftliche Normen gerade dort, wo sie in Gefahr scheinen könnten. So soll die Geschichte wirken, aber wirkt sie noch heute so? Die Fiktion verdoppelt nicht nur die geltende Geschlechterordnung der Herrschaft des Mannes, sondern bringt aus der historischen Distanz verschwiegene, aus dem Alltagsdiskurs ausgegrenzte Implikationen ihrer imaginären Begründungen ans Licht. Vom Boden dieser Ordnung aus gesehen, erlaubt sie allerdings gerade nicht deren Transgression, sondern verbaut im Gegenteil den Weg zu ihr noch sicherer. Im Phantasma der herrschsüchtig-omnipotenten Frau und ihrer gewaltsamkomischen Zähmung werden jedoch für den nachgeborenen Leser Gewalt und Angst, die hinter jener Ordnung steht, erkennbar, während sie für den mittelalterlichen Hörer in der Fiktion der Schwankhandlung immer schon als gebannte, komisch distanzierte und von den Protagonisten souverän beherrschte erscheint. Schwankimmanent ist die latente Bedrohlichkeit nur Mittel, männliche Gewalt als ›legitime‹ Gegengewalt bis zum Exzess zu rechtfertigen und so selbst unter extremen Bedingungen die geltende Geschlechterordnung zu stabilisieren. In historischer Perspektive aber ist das Begründungsdefizit und seine Kompensation durch wechselseitige Androhungen von Gewalt erkennbar. Die literarische Gattung gibt die Lizenz zur radikalen Zuspitzung und erlaubt, in deren Inszenierung zugleich ihre radikalen Konsequenzen dem Gelächter preiszugeben. Fingieren – ob auf der Ebene der Handlung oder der literarischen Kommunikation – wirkt insofern zunächst an der der Instituierung und Rechtfertigung von Alltagsnormen mit. Was nun ist der Ertrag der literarischen Imagination? Was man ihr als Surplus in der Regel zuschreibt – höhere Reflexionskapazität, Ausspekulieren von Alternativen zum Bestehenden, Engführung und Dekonstruktion antagonistischer sozialer Geltungsansprüche o. ä. – all das fehlt hier. In seinen theoretischen (medizinischen) Voraussetzungen und in seinen ethischen Konsequenzen bleibt das Maere unter dem Niveau dessen, was im Mittelalter über Geschlechterdifferenz gedacht werden konnte und gedacht wurde. Trotzdem ist unbestreitbar, dass das Maere etwas aussagt, was in der theologischen oder medizinischen Literatur ausgespart ist. Wie kann das sein? Wenn das Maere als ›Quelle‹ für mittelalterliche Geschlechterhierarchie gelesen wird, bestätigt es nur, was man aus anderen mittelalterlichen Diskursen weiß. Als narrativer Text enthält es einen Überschuss, denn es steht weder unter dem Diktat einer mimetisch einzuholenden Faktizität, noch muss es an Wahrscheinlichkeitskriterien gemessen werden. Die narrative Organisation und die durch sie figurierten Alltagsdiskurse sind nicht kongruent. Erzählen bedeutet Sinnstiften durch mehr oder minder kohärente Anordnung und Verknüpfung komplexer Elemente (›Geschehnisse‹), wobei bei fiktionalem Erzählen der Spielraum für die Selektion wie für die Verknüpfung der Elemente erheblich weiter als in Alltagserzählungen ist. Solche Sinnstiftung gelingt jedoch immer nur annähernd, denn jene Elemente haben ein Eigengewicht, das sich nie vollständig von dem narrativ hergestellten 62

Sinn zähmen lässt. Geschichten enthalten deshalb Löcher und Kontingenzen. Und genau hier werden sie, unabhängig von ihrer poetischen Komplexität und ihrem ästhetischen Rang, für kulturwissenschaftliche Fragestellungen interessant. Indem der fiktionale Text nämlich gängige Argumentationsmuster und Metaphernketten narrativ konkretisiert und in Handlungsfolgen ausfaltet, lässt er momenthaft ans Licht treten, was in ihnen ausdrück lich nicht zur Sprache kommen kann. Der Überschuss über die explizite Versuchsanordnung verweist für den nachgeborenen Kulturhistoriker auf deren Voraussetzungen, auch wenn er maerenimmanent nicht wahrgenommen werden soll und insofern die ›Botschaft‹ des Maere nicht konterkariert. Insofern ist das Maere ein ›Symptom‹ für kulturelle Differenz. Diese doppelte Perspektive verdankt es der Möglichkeit fiktionaler Texte, die Grenzen der gültigen Ordnung zu testen, unabhängig von der Alternative, sie zu bestätigen oder sie in Frage zu stellen. Diese Leistung kann von diesseits (durch die Adressaten des Maere) oder von jenseits der Grenze (durch den Literarhistoriker) wahrgenommen und beurteilt werden. So kann, je nach Standpunkt, die symbolische Ordnung wie ihre Schattenseite Gestalt gewinnen. Beides, die Ordnung wie ihr Schatten, konstituiert das gesellschaftlich Imaginäre. Für die literarische Situation des mittelalterlichen Maere scheint charakteristisch, dass die bedrohliche Seite im literarischen Spiel ›weggelacht‹ wird. Die komische Fiktion fügt zwar der Rede über das Geschlechter verhältnis etwas hinzu, das die – im weitesten Sinne – pragmatischen Diskurse nie enthalten können, aber sie stellt sich letztlich dann doch in deren Dienst.41 Es ist dies eine Möglichkeit, die von der modernen Ästhetik als trivial inkriminiert würde. Die Kulturgeschichtsschreibung hat zu konstatieren, dass dies im Mittelalter eine akzeptierte Option literarischer Fiktion ist und dass folglich an den letzten beiden Jahrhunderten abgelesene Aussagen über den Platz der Literatur im kulturellen Gefüge selbst historisch zu relativieren wären. Literaturwissenschaft löst sich mithin keineswegs in Kulturwissenschaft auf, sondern erhält in ihr ihren wohldefinierten Ort.

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Es mag provozierend sein angesichts des Kunstanspruchs der neueren Literatur, das literarisch Imaginäre dem gesellschaftlich Imaginären nicht rangmäßig überzuordnen, aber mir scheint diese Hierarchie historisch ein Sonderfall zu sein. Das Verhältnis des Fiktiven und des Imaginären weicht in meinem Fallbeispiel jedenfalls von demjenigen ab, das ISER (1991) für die moderne Literatur beschrieben hat.

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Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst

Minnesang ist fiktional, ist Rollenlyrik, so lautet der nahezu einmütige Forschungskonsens. Minnesang ist folglich radikal von Person, Biographie und Fühlen des Verfassers abzutrennen; er ist das Gegenteil von ›Erlebnislyrik‹, wie sie das 19. Jahrhundert verstand. Minnesang ist einerseits Variationskunst; am einzelnen Lied wird die formale Vollendung des Ganzen und die kleine überraschende Nuance im Besonderen genossen (poésie formelle).1 Doch schließt das andererseits nicht aus, dass es in einen höfischen Diskurs über eine edlere Form von Liebe (minne) eingelassen ist und mannigfache Konzepte von Rollenkonstellationen, Haltungen und Verlaufsformen dieser minne entwirft, die für eine höfische Gesellschaft Maßgeblichkeit beanspruchen.2 Die Variation schließt die Möglichkeit der Verkehrung ein und der Entwurf edlen Verhaltens den Gegenentwurf: kritisch und polemisch etwa bei Walther von der Vogelweide, grotesk verzerrt bei Neidhart oder parodistisch in einigen Minneliedern des 13. Jahrhunderts. Der Sänger spricht vor einer höfischen Gesellschaft und für sie und beansprucht, mit seinem Lied ihre vreude zu mehren. Der mündliche Vortrag und die Verklammerung von ästhetischer und ethisch-sozialer Verbindlichkeit, gefasst in den beiden Sprechakten ›ich singe‹ und ›ich minne‹3, unterscheidet den Minnesang von späterer Liebespoesie. Das ist Proseminarwissen, wie es landauf landab verbreitet wird. Es scheint nicht weiter diskussionsbedürftig, besser: schien, bis Harald Haferland gegen diesen Konsens mit seiner Berliner Habilitationsschrift antrat.4 Haferland liest den Minnesang ganz anders, nämlich ›expressiv‹, als Ausdruck individueller Gefühle seiner Verfasser5;

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GUIETTE (1972). So etwa ein ›frühminnesängerisches‹ oder ein ›hochminnesingerisches‹ Konzept, beide ihrerseits mit vielen, teils autorspezifischen Varianten; vgl. H AUSMANN (1999). So schon VON K RAUS (1935), S. 433; vgl. KUHN (1980). Zur Grundlage seiner Bestimmung des Fiktionscharakters von Minnesang macht H AUSMANN (1999) die Doppelformel (vgl. S. 128f. u. ö.). H AFERLAND (2000); vgl. DERS. (2004). Vgl. H AFERLAND (2000), S. 131: »Absicht des Autors [...], seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen«; ebd. »Gefühlsausdruck im Sang«; S. 133: »Heinrich von Rugge fühlt sich sozial ausgegrenzt«; S. 135: »Mitteilung von und über sich vor Zuhörern« oder auch die Rede vom »Informations«-Gehalt der Werbung für die Angebetete.

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nicht als poésie formelle 6, nicht als Rollenlyrik zwecks kollektiver Unterhaltung7, nicht als höfisches Sozialisationsprogramm und nur in Ausnahmefällen als ›Wiedergebrauchsrede‹8. Das ist eine provozierende These, die nicht einfach als Rückfall in längst überwundene Positionen beiseite geschoben werden sollte, denn sie stützt sich auf genau die Stellen in der Minnesang-Überlieferung, auf der jener Forschungskonsens basierte und die vor allem für den Aufführungs- und Vortragscharakter der höfischen Minnepoesie herangezogen wurden. Man muss also noch einmal deren Auslegung prüfen.

I. Haferland nimmt zwei Überlegungen der jüngeren Minnesang-Forschung auf: Minnesang ist keine Leselyrik, sondern wird mündlich vorgetragen9, und Minnesang funktioniert im pragmatischen Kontext dieses Vortrags, ist auf eine als anwesend gedachte höfische Gesellschaft bezogen. Doch wirft er den davon ausgehenden Untersuchungen vor, weiterhin mit einem Konzept von Fiktionalität zu arbeiten, wie es nur der Leselyrik angemessen ist, und einen Rollenbegriff einzusetzen, der an jener pragmatischen Situation vorbeigehe. Seine Thesen zur Minnesang-Interpretation habe ich anderorts ausführlicher diskutiert.10 Doch verlangt die Frage nach der Fiktionalität des Minnesangs eine grundsätzlichere Auseinandersetzung.11 Sie ist mit der Frage nach dem Rollenbegriff eng verknüpft. Indem Haferland die Ich-Rede des Minneliedes als individuell authentisch versteht,12 muss er ihre Rollenhaftigkeit ablehnen. Als authentische Rede referiert sie auf ein ›Reales‹, fin-

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Ebd., S. 44–47; dass es nur noch um den Genuss poetischer Varianten geht, kommt nach Haferland allenfalls als Grenzwert einer sich etablierenden poetischen Praxis in Frage. Ebd., S. 26–37. Wenn das Minnelied authentisches Bekenntnis sein soll, ist es natürlich nur in einer bestimmten Situation wahr. Es kann von seinem Verfasser daher im Extremfall nur einmal vorgetragen werden. Davon zu unterscheiden ist dann seine Aufzeichnung als nachträgliches Zeugnis seiner einstmaligen situationsspezifischen Wahrheit; vgl. aber H AFERLAND (2000), S. 160. Wegen seiner Kritik am Rollenbegriff kritisiert Haferland den Begriff ›Aufführung‹ (z. B. ebd., S. 68); in der Tat ist ›Vortrag‹ angemessener. J.-D. MÜLLER (2003b). Vgl. H AFERLAND (2000), S. 37–44. – Der folgende Beitrag führt ältere Untersuchungen fort; vgl. vor allem J.-D. MÜLLER (1994a). Ich versuche, der Kritik an meiner Vermutung eines labilen Fiktionalitätskontraktes zu begegnen und greife vor allem Überlegungen zu einer mehrstufigen Fiktion auf. Zum Problem der Authentizität auch H AFERLAND (1999), S. 232–252; anders J.-D. MÜLLER (1999), S. 388–397.

giert also nichts: Die Minne, von der die Minnesänger sprechen, ist nicht ›fiktiv‹, sondern ›wahr‹; der Minnesänger spielt nicht die ›Rolle‹ eines Liebenden, sondern liebt ›wirklich‹. Daraus schließt Haferland, dass Minnesang nicht als fiktionale Gattung aufgefasst werden kann, sondern Bekenntnislyrik ist. Vorweg ist Haferlands Kritik in einer Reihe von Punkten zuzustimmen. Die Verfechter einer Auffassung des Minnesangs als Rollenlyrik schießen oft über das Ziel hinaus: Dass der Sänger nicht wirklich liebt, seine Liebe fiktiv ist, ist ebenso wenig zu beweisen wie das Gegenteil. Ebenso problematisch ist das Verständnis von ›Rolle‹ analog zu ›Rolle auf dem Theater‹: Der Minnesänger ›führt‹ nicht ›einen Liebenden vor‹ wie der Schauspieler Hamlet.13 Problematisch ist aber überhaupt die Übertragung eines modernen Rollenbegriffs auf den Minnesang. ›Rolle‹ impliziert heute umgangssprachlich die Konnotation ›bloß äußerlich übernommen‹, ›nur vorgetäuscht‹, im Gegensatz zu ›authentisch‹, ›dem individuellen Wesen (Fühlen, Denken, Handeln ...) gemäß‹. Die Soziologie hat die Pluralisierung sozialer Rollen in der Moderne als Konsequenz der funktionalen Ausdifferenzierung untersucht und ›personale Identität‹ im Schnittpunkt heterogener Rollen, als ›Partizipation‹ an und Distanz zu ihnen, beschrieben.14 Diese Opposition von ›Rolle‹ und ›Individuum‹ ist aber spezifisch neuzeitlich: Der Einzelne bestimmt sich in Abgrenzung von einem generalisierten Anderen, er fühlt sich als ›er selbst‹, wo er seine ganz persönliche Besonderheit (z. B. seine individuelle Lebensgeschichte) zur Geltung bringt. Wo er dagegen als Angehöriger eines der gesellschaftlichen Teilsysteme (z. B. Nation, Beruf, Familie usw.) handelt und sich dem, was ›man‹ tut und denkt und von ihm erwartet, unterwirft, da spielt er eine ›Rolle‹. ›Ich‹ bedeutet, in einer Formulierung von Theunissen, in der Moderne ›ich aber‹.15 Bohn und Hahn schlagen dafür die Formel »Exklusionsidentität« im Gegensatz zur »Inklusionsidentität« vormoderner Gesellschaften vor.16 Das auch in der Minnesangforschung, wie Haferland zurecht kritisiert, übliche Modell von ›Rolle‹ und ›Individuum‹ ist also am neuzeitlichen Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft abgelesen und schließt deren Relation in vormodernen Gesellschaften aus: »Das vormoderne Individuum war keineswegs an einer individuellen Besonderheit, sondern an einem Allgemeinen orientiert. Es galt, die gesellschaftlich vorgeschriebenen Muster möglichst vollkommen zu verkörpern – jede Besonderheit galt als eine eher negativ konnotierte Abweichung«.17 Indem der Einzelne sich gerade in Übereinstimmung mit einem Allgemeinen (einem Stand, einer Norm, einem Leitbild) versteht, spielt er keine ›Rolle‹, sondern ist er ›er selbst‹. Gewiss gibt es auch schon im Mittelalter Konstellationen, die Einzelmenschlichkeit gerade in der Differenz von Rollenzuweisungen bestimmen.

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H AFERLAND (2000), S. 32f. A. H AHN (1997); WILLEMS u. A. H AHN (1999). THEUNISSEN (1982), S. 13. BOHN u. A. H AHN (1999), S. 38–46. Ebd., S. 40.

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Solch ein Fall ist in der Literatur die Tristan-Gestalt, die allerdings als Ausnahme auffällig und abweichend markiert werden muss (z. B. durch Magie, durch Betrug, durch Maskerade und dergleichen). Der Normalfall ist nämlich die Inklusion des Ich in ein Allgemeines; sie kann gefährdet sein und muss dann mühevoll gesichert und wiederhergestellt werden – diese Geschichte erzählen die Artusromane –, doch bleibt sie das nie in Frage gestellte Ziel.18 Mithin muss die Bedeutung von ›Ich‹ und ›Rolle‹ anders bestimmt werden. IchAussagen sind nicht, wie Haferland das ganz selbstverständlich voraussetzt, nur als Aussagen eines kontingenten Sprecher-Ichs über seine eigene kontingente Person zu werten, sondern auf ihr Inklusionspotential zu befragen.19 Es ist sinnlos, hier ›Rolle‹ und ›Authentizität‹ zu trennen. Die vielerorts unbewusst unterstellte Gleichung ›nicht individuell-biographisch‹ = ›fingiert-rollenhaft‹ trifft also nicht zu. Ob eine Ich-Aussage für die kontingente Person des Sprechers zutrifft (ob er also wirklich liebt oder nicht), ist gleichgültig gegenüber dem Umstand, dass er mit seiner IchRede praktische Verbindlichkeit für ein Konzept höfischer minne beansprucht, für sich selbst ebenso wie für andere. Wenn ›Ich‹ aber nicht als das kontingente Ich des jeweiligen individuellen Sprechers verstanden werden darf, sondern als das exemplarische Ich des Repräsentanten der höfischen Gesellschaft, dann hat das ›ich minne‹ einen anderen Wahrheitswert als in moderner Alltagskommunikation. Die Wahrheit bemisst sich dann nicht an kontingenten biographischen Umständen, sondern an der Übereinstimmung mit einem verbindlichen Entwurf.

II. Die Aussage ›ich minne‹ könnte also im konkreten Einzelfall nicht den Tatsachen entsprechen; dann wäre sie zwar als Alltagsrede unwahr, nicht aber als höfisch-zeremonialisierter Gesang. Der Gesang ist wahr als Element einer kollektiven Imagination, die in ihm Gestalt annimmt. Haferlands Dichotomie zwi-

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FUCHS (1999). Ein solches Inklusionspotential schließt nicht aus, dass sich – wie etwa bei Walther häufig – das sprechende Ich von Fall zu Fall als von den anderen ausgeschlossen inszeniert und in Gegensatz zu den anderen setzt. Damit stellt es sich freilich nicht außerhalb einer alle verpflichtenden Norm, sondern beansprucht, gerade mit seiner Abweichung von den anderen diese auf bessere und anspruchsvollere Weise zu repräsentieren. Walther zielt deshalb stets auf die Auf hebung dieser Opposition, doch so, dass nicht das Ich sich den anderen unterwirft, sondern die anderen der Norm genügen, die das Ich schon repräsentiert (J.-D. MÜLLER [1989], S. 146). Dass es hier um ein Mehr oder Weniger an kollektiver Verbindlichkeit (und nicht um individuelle Besonderheit) geht, zeigt sich u. a. daran, dass das Ich stets zumindest für einige andere zu sprechen behauptet, für die happy few, die reinen wîp und die werden man, die guoten liute oder – bei Gottfried von Straßburg – die edelen herzen.

schen (alltagsweltlich) ›real‹ und (literarisch) ›fiktiv‹ reduziert also eine dreistellige Konstellation auf einen kontradiktorischen Gegensatz und überspringt dabei den gesellschaftlichen Entwurf ›höfischer Frauendienst‹, der Grundlage des einzelnen Minneliedes ist. Die (fiktionale) Wahrheit des einzelnen Liedes bemisst sich nicht an der Übereinstimmung mit der kontingenten psychischen Befindlichkeit des einzelnen Verfassers, sondern an der Übereinstimmung mit dieser kollektiven Fiktion. Die Diskussion eines angemessenen Begriffs von Fiktionalität hat also nicht erst am literarischen Text anzusetzen, sondern eine Stufe höher, am höfischen Frauendienst, in den er eingelassen ist. Solch ein dreistelliges Verhältnis ist, freilich unter den ästhetischen Bedingungen der Moderne, von Iser entfaltet worden.20 Isers Überlegungen sind geeignet, die Kontroverse aufzulösen, müssen freilich für vormoderne Literatur, die sich noch nicht wie die neuzeitliche gegenüber der Lebenswelt ausdifferenziert hat, modifiziert werden. Die literaturwissenschaftliche Fiktionalitätsdiskussion hat sich verständlicher weise auf die literarische Fiktion konzentriert. Aber Fiktion ist nicht an Literatur gebunden. Auch die Alltagspraxis kennt ein Fingieren, das nicht mit Lüge zu ver wechseln ist.21 Umgekehrt lassen sich nicht sämtliche Merkmale von Literatur aus Fiktion ableiten.22 Die »Koinzidenz von Fiktion und Literatur [ist] ein Spezifikum der Moderne«.23 Der Typus nicht-literarischer Fiktionen wird in der Literaturwissenschaft selten beachtet, während er etwa in der Anthropologie und der Soziologie ganz geläufig ist. So spricht Gehlen von »institutionellen Fiktionen«. Es handelt sich um »Vorstellungs- und Verhaltensweisen«, die unter der »Prägekraft« von Institutionen stehen und durch sie legitimiert werden: »juristische Fiktionen«, »Statusfiktionen« oder – in der modernen Gesellschaft – eine Kategorie wie »Gleichheit«, »unter der die soziale Wirklichkeit wahrgenommen wird, im Gegensatz zum Augenschein«.24 »Diese fiktiven Statusdarstellungen haben keine geringe theoretisch-anthropologische Bedeutung. Die obligatorisch gewordene Fiktion ist eine Realität eigenen Rechts«.25 Alltagsweltliches Fingieren impliziert ungeachtet seines Fiktionscharakters die

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ISER (1983); vgl. DERS. (1991), S. 18–23. Das erste Kapitel des Buchs von 1991 deckt sich weitgehend mit dem Aufsatz von 1983; hinzukommen literaturgeschichtliche Beispiele und vor allem eine ausführliche Rekonstruktion der Begriffsgeschichte des ›Imaginären‹ (S. 292–411). STEMPEL (1983a), S. 334 u. ö.; Stempel spricht von »Fiktionen [...], die keine neue Welt konstituieren [im Sinne einer Überschreitung der Wirklichkeit in der Kunst], sondern die gegebene nach der Erfahrung modellieren«; statt »Erfahrung« könnte man auch ›ein allgemein akzeptiertes Gesellschaftsmodell‹ setzen; vgl. auch A NDEREGG (1983); ähnlich GABRIEL (1975), S. 10; vgl. auch H AFER LAND (2000), S. 83 zum Verhältnis von Fiktionalität und Poetizität. Dies kritisiert insbesondere A NDEREGG (1983), S. 377f. GUMBRECHT (1983), S. 243. GEHLEN (1986), S. 208f. und 211. Ebd., S. 210.

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für literarische Texte typische »Suspension« eines pragmatischen Geltungsanspruchs gerade nicht, sondern lässt sie bestenfalls als eine Möglichkeit zu.26 Es kann nachträglich instrumentalisiert werden (also als Mittel zur Erreichung eines vernünftigen Zwecks ausgegeben), doch auch, wo dies nicht geschieht, behält sie den Charakter einer »unverbindlichen Maßgeblichkeit«. »Mit dieser Kategorie soll eine kulturelle Gestaltung beschrieben werden, die insofern maßgeblich ist, als niemand sie anstößt und viele sich beeindrucken lassen, die aber folgenlos dasteht, indem keine Impulse von ihr ausgehen, außer in der Richtung der eigenen Reproduktion, und niemand sich davon belebt und bekräftigt fühlt«.27 Der Begriff der »unverbindlichen Maßgeblichkeit« ist hervorragend geeignet, den Status des höfischen Frauendienstes im Rahmen der sozialen und rechtlichen Praxis der Zeit zu bezeichnen, die in entscheidenden Punkten (Partnerwahl, Heiratsregeln, Geschlechterrollen, Sexualmoral usw.) von seinen im Minnesang unablässig zelebrierten Normen abweicht. In diesem Sinne ist der höfische Frauendienst eine ›Fiktion‹, und der Minnesang ist die (literarische) Vollzugsform dieser Fiktion. Man muss insofern Fiktion erster und zweiter Stufe unterscheiden, doch so, dass die Fiktion zweiter Stufe die semantischen Regeln der Fiktion erster Stufe nicht verletzen oder auch nur suspendieren muss, sondern im Gegenteil auch bestätigen kann. Dabei kann beider pragmatisches Verhältnis offenbleiben (der Sänger muss nicht wirklich Werbender im Sinne höfischen Frauendienstes sein, um sich authentisch im Sinne dieses Frauendienstes zu äußern). Eine dem Minnesang angemessene Fiktionstheorie müsste also von jener ›Dreistelligkeit‹ ausgehen, die Isers literaturwissenschaftliche Fiktionstheorie als »triadische Beziehung des Realen, Fiktiven und Imaginären« beschrieben hat.28 Freilich müsste sie deren Verhältnis in anderer Weise fassen, als dies bei Iser für die voll ausdifferenzierte literarische Fiktion der Moderne geschieht.

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Es handelt sich also nicht nur um nützliche Illusionen und heilsame Täuschungen, die, wo sie sich nicht als literarische Fiktionen selbst ›entblößen‹, notwendig der Kritik verfallen, sondern auch um solche, die Kant ›Postulate‹ nennt: um das, was wir als Vernunftwesen unterstellen müssen, ohne es begründen zu können. Die Kritik an ihrer Fiktivität reicht an die Notwendigkeit derartiger Fiktionen nicht heran; vgl. hierzu HENRICH (1983), S. 516. GEHLEN (1986), S. 214f. – Der Status solcher Fiktionen wird bei Gehlen allerdings verunklärt, weil er sie in sein kulturelles Entwicklungsmodell einbaut, wodurch sie den Anschein des Überständigen annehmen können. So paraphrasiert er an anderer Stelle die »unverbindliche Maßgeblichkeit« damit, dass die »überlieferten Gestalten« nur noch »nicht aufgegeben« werden, aber »nicht mehr von innen erfüllbar sind« (S. 216), oder er spricht von »unwirksamer Gegenwart« (ebd.). Dies wären Charakterisierungen, die auf das Phantasma höfischer Liebe um 1200 nicht zutreffen, das ja gerade als Selbstentwurf höfischer Gesellschaft einen aktuellen Realisierungsanspruch einschließt. Solche Konsequenzen seiner Überlegungen kann ich hier nicht näher untersuchen. ISER (1983), S. 123; vgl. DERS. (1991), S. 18–23.

III. Iser interessieren ganz überwiegend die literarischen »Akte des Fingierens«, die er als »Zurüstung eines Imaginären« betrachtet, das »in seiner uns durch Erfahrung bekannten Erscheinungsweise eher diffus, formlos, unfi xiert und ohne Objektreferenz« sei und in der literarischen Fiktion »in eine bestimmte Gestalt« überführt werde.29 Iser gewinnt damit der Literatur jene pragmatische Dimension zurück, die sich in einer bloß zweistellig argumentierenden Fiktionstheorie zu verflüchtigen droht. Indem er sich dann allerdings auf die bewussten Akte literarischen Fingierens konzentriert, behandelt er den Fiktionscharakter des Imaginären nur beiläufig und unterschätzt vor allem dessen Strukturiertheit.30 Es handelt sich dabei um kollektiv verbindliche Annahmen über Realität, Vorstellungen, Einstellungen, Habitus und dergleichen, die als selbstverständlich oder wünschenswert unterstellt werden und das Alltagsleben bestimmen.31 Alle Arten von Kohärenzbildung im Alltagsverhalten setzen in diesem Sinne Akte des Fingierens voraus, die in manchen Hinsichten (›Selektion‹ und ›Kombination‹) den Akten literarischen

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ISER (1983), S. 121 bzw. 123; vgl. DERS. (1991), S. 21. Das Imaginäre gewinne »im Akt des Fingierens eine Bestimmtheit, die ihm als solchem nicht zukommt«; damit erhalte es »ein Realitätsprädikat; denn »die Bestimmtheit ist eine Minimaldefinition des Realen« (DERS. [1983], S. 124); jene Bestimmtheit erhält die literarische Fiktion durch »Selektion« und »Kombination« (S. 125–135). Diese Überlegungen sind dadurch geprägt, dass Isers Induktionsbasis im Wesentlichen die Erzählliteratur ist. Darauf wird zurückzukommen sein. ISER (1983) fasst das Imaginäre im wesentlichen als »Phantasmen, Projektionen, Tagträume[] und ziellose[] Ideationen« (S. 123; ähnlich 1991, S. 311 u. 314) – gewissermaßen als den Rohstoff literarischer Fiktionen –; ihnen kommt zwar gleichfalls ein eigener Realitätsstatus zu, doch gleicht er demjenigen bewusster literarischer Fiktion in wichtigen Punkten weit mehr als den nicht-literarischen soziokulturellen Fiktionen (›gedachten Ordnungen‹). Der Schwerpunkt seines Interesses zeigt sich auch darin, dass ISER (1991) die Geschichte des Imaginären im wesentlichen als Geschichte der Einbildungskraft und der Phantasietätigkeit auffasst und erst bei Castoriadis, dessen ›radikal Imaginäres‹ diese mit der soziologischen Theorie gedachter Ordnungen verbindet, auf das Imaginäre als gesellschaftliche Konstruktion stößt (S. 352–354). Selbst hier wird der Charakter der Konstruiertheit dieses ›radikal Imaginä ren‹ – wie übrigens schon in Castoriadis‹ Metapher des »Magmas« – in den Hintergrund gedrängt. Iser berührt die imaginäre Instituierung von Gesellschaft nur im Vorübergehen, denn es geht ihm gerade um die »Mobilisierung des Imaginären im literarischen Text«, und das heißt um die Schwächung oder Aufhebung von »pragmatischen Zwecke[n]«, »ohne von dessen Entfesselung überschwemmt zu werden, wie etwa im Traum oder in Halluzinationen« (S. 380f.; vgl. S. 392f.). So auch DERS. (1983), S. 136: »Fiktionen gibt es ja nicht nur als fiktionale Texte, sie spielen in den Aktivitäten des Erkennens, Handelns und Verhaltens eine ebenso große Rolle wie in der Fundierung von Institutionen, Gesellschaften und Weltbildern«. Iser zitiert in diesem Zusammenhang Gehlen (vgl. DERS. [1991], S. 36 u. 353).

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Fingierens ähneln: Auswahl von und Beziehungen Stiften zwischen Elementen der Alltagswelt und alltagsweltlicher Erfahrung als Sinnbildungsprozess.32 Bei diesen Fiktionen ersten Grades, auf die literarische Fiktionen – Fiktionen zweiten Grades – sich beziehen können, fehlt das für diese konstitutive Moment der »Selbstanzeige« der »Entblößung« des Fiktionscharakters.33 Ihr Realitätsanspruch darf gerade nicht suspendiert werden, sondern ist im Gegenteil ungeprüft vorausgesetzt. Die ›Selbstanzeige‹ des Fiktionscharakters »hat allein deshalb zu unterbleiben, weil sonst die Geltung der erbrachten Erklärung bzw. Fundierung in Mitleidenschaft gezogen würde«.34 Solche Fiktionen wollen nie ›bloße Fiktion‹ sein, beanspruchen vielmehr praktische Verbindlichkeit, indem sie die Alltagswelt sinnvoll strukturieren, das Alltagshandeln rechtfertigen, ihm Ziele vorgeben und die im Alltag wirksamen Institutionen begründen und legitimieren. Dies kann in geringerer oder größerer Distanz zu dieser Alltagswelt erfolgen – im Falle des höfischen Frauendienstes wird, gegen die herrschenden rechtlichen und sozialen Normen, ein schöneres Bild dieser Alltagswelt entworfen –, doch wird davon der Anspruch grundsätzlich nicht berührt. Von der Art dieser Fiktionen ist offensichtlich der höfische Frauendienst, als dessen Vollzug die Minnelieder sich geben. Bei ihnen handelt es sich selbstverständlich um literarische Texte, doch Texte, die auf eine gesellschaftliche Praxis bezogen sind. Es hat den Anschein, dass in vormodernen Kulturen literarische Fiktionen (zweiten Grades) mit gesellschaftlichen Fiktionen (ersten Grades) enger verwoben sind, als dies seit der Ausdifferenzierung einer relativ selbständigen Institution Literatur der Fall ist, deren relative Selbstständigkeit die ›Selbstanzeige‹ ihrer Fiktionalität erfordert. Diese Beobachtung schließt selbstverständlich nicht aus, dass es auch in der Gegenwart weiterhin Fiktionen ersten Grades gibt, die die Gesellschaft, ihr Handeln und ihr Selbstbild strukturieren, und Fiktionen zweiten Grades, die sie darin affirmieren. So hat die Geschichtswissenschaft gelernt, dass jede Art von Geschichtsschreibung, noch die scheinbar ›objektivste‹ Präsentation von ›Daten‹, ein »emplotment« voraussetzt,35 eine planvolle – ob nun narrative oder auch nicht-narrative – Anordnung, und dies gilt ebenso von allen anderen Typen

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Insofern ist Jauß’ Verknüpfung des Imaginären mit dem ›Vollkommenen‹ bei weitem zu eng (JAUSS [1983]). ISER (1991), S. 35f.; 1983, S. 135. DERS. (1983), S. 136; »weil sie nur so als die transzendentale Bedingung der Konstitution von Realität funktionieren kann« (DERS. [1991], S. 36; ähnlich S. 38). Das ist der Gegenstand der Arbeiten von Hayden White (z. B. WHITE [1973]; DERS. [1978b]; DERS. [1987]). Allerdings handelt es sich um einen besonderen Typus von Fingieren und Fiktionalität, der, bei aller Ähnlichkeit mancher Aneignungsmuster, nicht mit literarischem Fingieren und literarischer Fiktionalität verwechselt werden darf. Dies wird häufig vergessen, wo man Whites Überlegungen als Einladung zu einem Panfiktionalismus versteht und Geschichtsschreibung im Sinne des radikalen Konstruktivismus als frei verfügbare Konstruktion von Realität auffasst und nicht als fingierende Anordnung von und Sinnstiftung unter Elementen, die sich der Verfügbarkeit

von Erzählungen. Das »emplotment« kann sich mehr oder minder verselbständigen, die anzuordnenden Elemente nur als Vor wand phantasievoller Inszenierungen nehmen (etwa im historischen Roman), doch ohne jedes »emplotment« geht es selbst bei der nüchternsten Dokumentation von Materialien nicht. Beim Verhältnis Fiktion/ Nicht-Fiktion handelt es sich also nicht um einen kontradiktorischen Gegensatz, sondern um einen polaren, wobei bei den Polen viele Abstufungen möglich sind. Umgekehrt gibt es natürlich auch im Mittelalter, ungeachtet der engeren Verklammerung der beiden Fiktionstypen die Möglichkeit einer »Selbstentblößung« der literarischen Fiktion. Allerdings ist die Suspension alltagsweltlicher Einstellungen in vormoderner Literatur nicht Regel, sondern eher Ausnahme, wenn sie vermutlich auch bei bestimmten literarischen Texten – Gumbrecht nennt etwa die attische Tragödie und den provenzalischen Minnesang – anzusetzen ist, so dass diese also »eine Grundkonstituente mit neuzeitlicher Literatur teilen«.36 Die Differenz lässt sich an einem Beispiel bei Walther von der Vogelweide erläutern.37 Walther gibt – gegen die Konvention des mhd. Minnesangs – vor, den Namen seiner geliebten vrouwe zu enthüllen und die Worte des Werbeliedes biographisch auf sich selbst zu beziehen: mînes herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen stên, sine werde heil von Hiltegunde. (L 74,18f.)

Scheinbar fallen hier das Ich höfischer Minnewerbung und das biographische Ich des vortragenden Sängers ineins, und scheinbar erfährt man, dass Walthers Dame Hildegunde heißt. Für den Kenner handelt es sich jedoch um ein literarisches Zitat aus der Heldensage, dem Waltharius-Stoff. Das Ich des Liedes ist als ›Walther‹ identifiziert; zu einem Walther gehört herkömmlicherweise eine ›Hildegunde‹. Indem das Lied diese stereotype Erwartung bedient, ›entblößt‹ es seine Rede als fiktional. Diese ›Entblößung‹ der literarischen Fiktionalität tangiert jedoch nicht die Fiktion ersten Grades, den Entwurf höfischen Frauendienstes: Walther weist die Zumutung zurück, seine Rede ›biographisch‹ zu verstehen, gewissermaßen naiv auf das Individuum Walther zu referentialisieren. Damit ist jedoch nicht das Modell höfischer Liebe, das das Lied L 73,23 insgesamt entwirft, außer Kraft gesetzt, nämlich als ›bloß fiktiv‹ erwiesen. Im Gegenteil bleibt der kollektive Geltungsanspruch der Fiktion ersten Grades (höfischer Frauendienst) gerade intakt, indem eine platt-biographische Einlösung (und damit auch realistische Überprüfbarkeit) verworfen wird. Das Lied ist – mit einer begrifflichen Unterscheidung Stempels – zwar nicht »referentiell einlösbar«, wohl aber »interaktionell wahr«.38 Die ›Selbst-

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des Diskurses entziehen. Eine Skalierung des Fiktionsbegriffes könnte hier vor absurden Konsequenzen bewahren. GUMBRECHT (1983), S. 243. Vgl. die Überlegungen J.-D. MÜLLER (1994a), S. 17. STEMPEL (1983a), S. 339 trifft diese Unterscheidung im Blick auf Alltagsfiktionen. Dass

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anzeige‹ der Fiktion zweiten Grades stabilisiert die Fiktion ersten Grades. Walther macht auf den besonderen Status literarischer Rede im Verhältnis zum Modell höfischer Praxis aufmerk sam. Er blockiert damit zugleich ein Verständnis höfischer Minnewerbung als einen narrativ einzuholenden Vorgang.

IV. Das führt auf einen weiteren Aspekt. Literarische Fiktionalität wird nämlich in der Regel als Problem literarischen Erzählens behandelt,39 obwohl man darauf hingewiesen hat, dass ›Fiktionalität‹ für die Auf führung eines Dramas anderes bedeutet.40 Was die Lyrik betrifft, so setzt die Diskussion über das ›lyrische Ich‹ zwar die Fiktionalität lyrischer Rede voraus, indem sie die Verwechslung des jeweilig sprechenden Ich mit dem Autor und damit ihre Verwechslung mit biographischer Alltagsrede unterbindet, doch ist man in der Bestimmung dieses Fiktionalitätscharakters unter semantischem und pragmatischen Aspekt durchaus uneins.41 Die nächstliegende Lösung scheint mir, wie Anderegg in anderem Zusammenhang vorschlägt, auf die Einstellung des Rezipienten zu rekurrieren: »nicht die Unmöglichkeit zu referenzialisieren, sondern der Wegfall des Bedürfnisses, eine Referenziali-

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der Frauendienst eine pragmatische Dimension beansprucht, kann sie auch auf ihn Anwendung finden. So etwa in der sprachanalytisch am genauesten ausgearbeiteten Untersuchung von GABRIEL (1975). Gabriel behauptet zwar gelegentlich die Übertragbarkeit seiner Überlegungen auf Lyrik und Drama, doch sind sowohl die Gegenstände seiner Analyse (Behauptungen / Aussagen) wie seine Beispiele (überwiegend ›realistische‹ Erzählungen) einseitig an der Epik orientiert. Wenn er S. 44 andere Gattungen in Erwägung zieht, betrachtet er sie bezeichnender weise als Varianten von Erzähltexten (Ballade!, Drama als Lesetext!); die einseitige Konzentration der Fiktionalitätsdebatte auf Epik und Drama konstatiert auch A NDEREGG (1983), S. 378. Fricke hat vorgeschlagen, Fiktionalität in narrativen Texten als Abweichung von semantischen Konventionen der Alltagskommunikation zu betrachten, dagegen beim Drama als Bruch pragmatischer (FRICKE [1982], S. 441). Mir scheint zwar, dass es sich eher um unterschiedliche Relationen zwischen semantischen und pragmatischen Konventionen handelt, dass also auch dramatische Fiktionen die Verletzung bestimmter semantischer Regeln voraussetzen wie Erzähltexte diejenige bestimmter pragmatischer, doch machen Frickes Analysen zu Recht darauf aufmerksam, dass Fiktionalität keineswegs immer gleich zu bestimmen ist. Sie sind deshalb heuristisch fruchtbar für die Diskussion von Fiktionalität im Minnesang, der eben nicht nur Leselyrik ist, sondern bei seinem Vortrag pragmatische Kontexte voraussetzt. Unbefriedigend ist Andereggs Vorschlag, der von einer »enge[n] Verbindung von Fiktion und Nicht-Fiktion« spricht (A NDEREGG [1983], S. 385); zur Diskussion J.-D. MÜLLER (1994a), S. 5f.; H AFERLAND (2000), S. 17–26; 48–64.

sierung vorzunehmen, kennzeichnet die fiktionale Kommunikation«.42 Allerdings wird die Diskussion ganz über wiegend anhand von schriftsprachlichen Gedichten geführt, während vorgetragene Lieder mit ihrer Präsenzsuggestion kaum beachtet wurden.43 Unter diesem Aspekt könnte man Andereggs Vorschlag in der Weise modifizieren, dass kein ›Bedürfnis‹ nach Referenzia lisierung der aktuellen Rede auf den zufällig Vortragenden besteht.44 Ob aber vorgetragen oder gelesen, lyrische Rede ist durchweg nicht narrativ, wenn sie natürlich auch narrative Elemente aufnehmen kann. Ihr fiktionaler Status ist also von demjenigen einer Erzählfiktion zu unterscheiden. Das Modell Erzählung spukt freilich oft noch im Hintergrund. Lange Zeit wurden Minnelieder als Elemente einer biographischen Ich-Erzählung verstanden,45 und noch als das biographische Substrat in Zweifel gezogen wurde, wurden die Aussagen über eine (nun fiktive) minne narrativ angeordnet. Dabei ist die Reihung der einzelnen Aussagen auf einer Zeitachse immer erst Leistung des Interpreten. Selbst ihre Abfolge im einzelnen Lied referiert in der Regel nicht auf einen Vorgang. Damit ist es auch zu erklären, dass die Reihenfolge der Strophen in der Überlieferung so stark variieren kann. Die Varianz bedeutet nämlich nicht, dass die Strophenfolge bedeutungsneutral ist (im Gegenteil verändert sich die ›Perspektive‹ eines Liedes entschieden, je nach dem, ob z. B. eine schrill aggressive Aussage am Ende steht oder in der Mitte, durch eine nachfolgende also vielleicht abgeschwächt oder rela-

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A NDEREGG (1983), S. 379; ähnlich Stempel (1983b), S. 389f. Damit ist Fiktionalität als Problem der Rezipienten, nicht der Produzentenseite gefasst. Wenn dagegen GABRIEL (1975), S. 20 als Merkmal fiktiona ler Rede bestimmt, »daß sie keinen Anspruch auf Referentialisierbarkeit erhebt«, dann betrifft das vor allem wieder eine Eigenschaft der literarischen Erzählung (›derjenige / diejenige, die da klagend von seiner / ihrer Minne erzählt, will keine Aussage über sich selbst machen‹). J.-D. MÜLLER (1994a), S. 4 u. 6; H AFERLAND (2000), S. 65–90. – Der Status vorgetragener Lieder ist offensichtlich ein grundsätzlich anderer als der eines gedruckten Gedichts, indem sie nicht kontextuell (wie ein lyrisches Gedicht in einer Gedichtsammlung), sondern pragmatisch-situationell ›gerahmt‹ sind. Der Umstand, saß die seit Ende des 13. Jahrhunderts entstehenden Liederhandschriften (›Chansonniers‹) dem einzelnen poetischen Gebilde (in Deutschland in der Regel ausschließlich: dem Text) eine ähnliche Rahmung wie eine moderne Lyriksammlung geben, hat dazu beigetragen, die ganz unterschiedliche Rahmung eines gesungenen Vortrags beiseite zu schieben. Man kann nicht oft genug betonen, dass wir über die konkreten Umstände solch eines Vortrags so gut wie nichts wissen, dass wir ihn aber aus dem Charakter der Wort-Ton-Gebilde, ihren Appellstrukturen und den in ihnen vollzogenen Sprechakten erschließen müssen. Allerdings wird das schon zum Problem. In der von Morungen zitierten Rede: nu seht, wie der singet! / waere ime iht leit, er taete anders danne sô (MFr 133,21f.) wird seitens des (fiktiven) Publikums die Referenz der Aussagen des Minneliedes auf seinen Verfasser eingeklagt. »Verzicht auf unmittelbare Referenzia lisierung« kennzeichnet allerdings auch »den Großteil alltagssprachlicher Kommunikation« (A NDEREGG [1983], S. 381), die damit noch lange nicht ihren Realitätsbezug aufgibt. Evident ist das in den ›Zyklen‹, die Carl von Kraus konstruierte.

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tiviert wird), wohl aber, dass ihr nicht eine narrativ zu entfaltende Abfolge in der Zeit zugrunde liegt, die in der zeitlichen Abfolge des Vortrags (Minnesang ist anders als geschriebene Lyrik Zeitkunst!) eingehalten werden müsste. Fiktionalität ist also nicht im Blick auf ein (fiktives oder nicht-fiktives) Geschehen zu bestimmen, sondern in Bezug auf eine zur Sprache gebrachte Situation und das ihr adäquate Interaktionsmodell. In diesem Punkt nun unterscheiden sich die verschiedenen Ausprägungen von Minnesang nicht: der donauländische Minnesang, die provenzalisch beeinflusste Minnekanzone oder auch die späthöfische Parodie. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass sich in ihnen unterschiedliche Ich-Rollen realisieren, jedoch wird das ›Ich‹ ebenso wenig wie ein ›Er‹ oder ›Sie‹ als ›Held‹ einer Geschichte thematisiert, sondern es erscheint als Subjekt der Erfahrung in einer bestimmten Situation. Diese Differenz zur Erzählfiktion wird meist übersehen, mit erheblichen Folgen für den Fiktionalitätsbegriff. Dies lässt sich sogar an dessen bisher avanciertesten Konzeptionalisierung zeigen: Hausmann konfrontiert die »Rollenspielfiktiona lität« des Hohen der »Erzählfiktionalität« des Frühen Minnesangs.46 Hausmanns Unterscheidungskriterium scheint die Identifizierbarkeit oder Nicht-Identifizierbarkeit des Sprechers mit dem ›Ich‹ seiner Rede zu sein. Ist sie nicht möglich, fasst er den Sprecher als ›Erzähler‹ auf. Zweifellos befindet sich zwar dieser Sprecher zwar wie in einer Erzählung außerhalb der Situation, von der er spricht, und es ist klar, dass eine Frauen- oder Botenstrophe nicht dem vortragenden Sänger zugerechnet werden kann, aber die Präsentation einer reflektierenden Frau oder eines räsonierenden Boten ist noch nicht ›erzählend‹.47 Sinnvoll ist die Unterscheidung nur solange, wie man das ›Ich‹ im hohen Minnesang auf die kontingente Einzelperson des Vortragenden (oder auch des Verfassers) bezieht. Insofern ist auch der Terminus ›Rollenspielfiktion‹ missverständlich, denn er setzt das Ich als eine personale Instanz voraus, die sich in Abgrenzung von gesellschaftlichen Determinationen versteht, basiert mithin auf der modernen (theatralen oder soziologischen) Opposition von ›Individuum‹ und ›Rolle‹. Es

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H AUSMANN (1999), S. 98–101 u. ö. Die Unterscheidung führt schon in der Analyse Reinmarscher Lieder zu (leicht auflösbaren) Widersprüchen, die vom theoretischen Ansatz her als »Aporie« (vgl. S. 249) erscheinen müssen. Es gibt unnötig komplizierte Konstruktionen wie diejenige »inszenierter [also doch wohl fiktionaler] Entfiktionalisierung«, die den Fiktionscharakter nicht aufhebe (S. 129). In solchen Fällen würde in der Tat das von Haferland beschworene Ock ham’sche Rasiermesser gute Dienste leisten. »Erzählfiktionalität« meint, dass »der ›Erzählende‹ erkennbar nicht zugleich der ›Erzählte‹ ist« (ebd., S. 99) – aber wo wird denn ›erzählt‹? Auch bei der »Rollenspielfiktionalität« steht das problematische Erzählmodell im Hintergrund: »Rollenspielfiktionalität [...] entsteht dadurch, daß ›Erzählender‹ und ›Erzählter‹ in einem Ich verschmelzen – das Ich spricht von sich selbst –, zugleich aber dieses Ich nicht mit dem tatsächlich Sprechenden (dem ›Schauspieler‹) zu identifizieren ist [...]« (S. 100). So kommt auch wieder das ›Schauspiel‹-Modell ins Spiel.

handelt sich aber um eine Sprechsituation, in der die Ich-Aussage der Rede zwar dem gerade vortragenden Ich zugerechnet werden könnte, aber nicht unbedingt zugerechnet werden muss, weil dieses Ich nie nur für sich selbst spricht. ›Erzählfiktion‹ vs. ›Rollenspielfiktion‹ bleibt also grundsätzlich einer Dichotomie ›Realität‹ – ›Fiktion‹ verhaftet.48 Erst die dreistellige Fassung des Problems, wie sie Iser entwickelt hat, erlaubt, den Fiktionalitätsstatus der höfischen Minnepoesie innerhalb des (gleichfalls imaginären und insofern fiktionalen) Entwurfs höfischer Minne zu fassen. Nur wenn die poetische Rede im Liedvortrag mit Alltagsrede identisch wäre, würde sich die Frage nach der Fiktivität oder Nicht-fiktivität des Satzes ›ich minne und werbe um eine Dame‹ überhaupt stellen. Das Lied erzählt nicht, was diesem Ich passierte, es entwirft – vielleicht mit Hilfe narrativer Passagen – Haltungen, Interaktionsmuster, paradoxale Gefühlskonstellationen, auch Erinnerungen an Vergangenes. Sie stehen im Vordergrund noch dort, wo das Lied zu erzählen scheint, wie etwa in Albrechts von Johannsdorf Ich vant si âne huote (MFr 93,12), dessen Aussage in der Schlusspointe (daz ir dest werder sint unde dâ bî hôchgemuot, 99,14) kondensiert ist, ganz gleich, ob man diese nun affirmativ oder ironisch versteht. Entworfen wird eine Praxis vorbildlichen Handelns und Verhaltens, die Imagination einer höfischen Liebe; oder es wird in einem Gegenentwurf (komisch, kritisch usw.) eine solche Praxis destruiert. Dabei können in poetischer Rede Konflikte inszeniert werden, die im Verhältnis zwischen dem kollektiv verbindlichen Leitbild und der empirischen Existenz derer, denen es zugemutet wird, auf brechen können. Reinmars oder Morungens Lieder führen solche Konflikte als schmerzhaft bewältigte vor, diejenigen Walthers sprechen häufiger vom drohenden oder vollzogenen Bruch, Neidhart konfrontiert das Leitbild mit einer fremden Umgebung. Jedes Mal aber arbeitet sich die poetische Fiktion des Liedes (Fiktion II) an einer gesellschaftlichen Fiktion (I), der Konzeption höfischer Minne, ab. Ohne sie als imaginären Widerpart ist die höfische Lieddichtung nicht zu verstehen. Zweifellos kann sich, je weiter höfisches Singen selbst institutionalisiert wird, der praktische Bezug lockern, kann einstmals Verbindliches zu unverbindlichem Spiel werden, wie man dies ja an der Sizilianischen Dichterschule beobachtete.49 Doch selbst dann noch hat wenigstens das Spiel noch praktische Verbindlichkeit, ist Garant einer herausgehobenen Lebensform, der das Modell höfischer Minne längst zum bloßen Als-ob geworden ist.

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Vgl. etwa H AUSMANN (1999), S. 250, wo ›Realität‹ mit ›externer‹, ›Fiktion‹ mit ›interner‹ Sprechsituation identifiziert wird. Vgl. NEUMEISTER (1993).

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V. Ich möchte vorschlagen, diese literarische Modellierung eines gesellschaftlich Imaginären mit dem von Greenblatt geprägten Begriff des ›Self-fashioning‹ zu fassen.50 Der Terminus ist bei Greenblatt an ein neues, typisch rinascimentales Menschenbild geknüpft: der Mensch als Autor seines besonderen Selbstentwurfs. Doch ist er auf andere kulturhistorische Zusammenhänge übertragbar, wenn man Self-fashioning nicht als Modellierung des Selbst in der Abgrenzung von anderen und als bewusste Wahl aus einem breiteren Angebot von Rollen bestimmt (was seine typisch rinascimentale Signatur ausmacht), sondern die Modellierung nach einem kollektiven Leitbild einschließt: dem des vorbildlich höfisch Liebenden. Solch einen Prozess der Selbstmodellierung artikulieren viele Minnelieder vor allem in der ersten Phase der Rezeption des ›grand chant courtois‹: indem z. B. ein (über wundener) Zustand dem (besseren) gegenwärtigen konfrontiert, die Anstrengung, das gewohnte Verhalten zu ändern, vorgeführt oder die Diskrepanz zwischen (außen) zur Schau getragenen höfischen vreude und dem (innen) erfahrenen leit artikuliert wird. Besonders die Entdeckung eines ›Innen‹, das mit dem ›außen‹ geforderten Verhalten nicht übereinstimmt, ist ein unablässig besprochenes Thema. Zu recht veranlasste es Haferland zu der Frage, ob denn all das behauptete innere leit wirklich bloßes Theater sein könne. Diese Frage sollte sich freilich nicht auf den individuellen Sänger richten, sondern auf eine Erfahrungsstruktur, die er stellvertretend für andere ausspricht und die sich in der Struktur seiner Rede abbildet: Jemand sagt, dass er leidet, doch sagt er es in kunstvoll stilisierter Form, an der andere sich erfreuen sollen. Emotion (Begehren, Enttäuschung, Zorn usw.) erscheint immer schon als gestaltete und insofern bewältigte. Mit der Professionalisierung des Singens ist natürlich auf Dauer die Einheit von ich singe und ich minne bedroht; ich minne kann zum konventionellen und frei wählbaren Thema von Gesang werden, und ich singe zur nurmehr komischen Erscheinungsform eines höfischen Verliebten. Im Minnesang um 1200 aber ist beides noch eng verknüpft. Deshalb geht es bei den Appellen an die anderen auch nie nur um Anerkennung für die Kunst, sondern um Anerkennung als höfisch Liebender. Der Sänger zielt insofern in doppeltem Sinne auf den Beifall der höfischen Gesellschaft. Die vollendete Gestalt des Liedes und die vollendete Haltung seines Verfassers oder Vortragenden fallen zusammen; höfische Liedkunst und höfische Lebenskunst sind nicht voneinander abtrennbar.51 Am engsten ist die Verklammerung bei Reinmar, der unablässig das leit der Minne artikuliert, doch dieses leit schône zu tagen behauptet und deshalb den Erfolg seiner Lieder bei der Gesellschaft einklagt. Bei anderen können diese Komponenten anders ausgeprägt sein: Walther z. B. protestiert gegen die Zumutung entsagungsvoll-klaglosen leides

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GREENBLATT (1984). J.-D. MÜLLER (1999), S. 400f.

durch die Gesellschaft; doch auch bei ihm hängen ›richtiges Leben‹ und ›rechte Kunst‹ unauflöslich zusammen; sanges tac (L 48,20) setzt eine intakte Gesellschaft voraus.52 Bei Morungen tritt das gesellschaftliche Moment in den Hintergrund; doch die Auszeichnung des Sprechers gegenüber den anderen gründet sich auch bei ihm auf beides, die Unentrinnbarkeit singen und die Unentrinnbarkeit minnen zu müssen. Und auch bei Neidhart sind poetische ›Irritationsstrategie‹53 und Heillosigkeit der von ihm thematisierten Gesellschaft eins: ein doppelt scheiterndes ›Self-fashioning‹. Das Lied ist in all diesen Fällen mehr und anderes als eine bloße literarische Kunstübung, nämlich Vollzugsform einer kunst des richtigen Lebens. Der Vorschlag eines ›dreistelligen‹ Begriffs von Fiktionalität lässt sich zusätzlich aus der seit langem beobachteten triangulären Struktur des höfischen Frauendienstes begründen. In deutlicher Abgrenzung von späterer Liebeslyrik zeichnet sich Minnesang in den weit überwiegenden Fällen dadurch aus, dass immer das Verhältnis von Ich, der Geliebten und den anderen – der höfischen Gesellschaft – thematisiert wird, und eben nicht nur das Verhältnis von Ich und Du. Im Abschreiten dieses Dreiecks formiert sich das Ich als vorbildlich liebendes, noch wo es sich als abweichend inszeniert (etwa Walther: ›Ich rühme mich‹, ›ich bin ungefüege-gefüege‹, ›wie du mir, so ich dir‹ u. ä.).54 Walther, der hierin am weitesten geht, bestimmt die Position zum imaginären ›Frauendienst‹ neu, aber fällt nicht aus ihm heraus. Walther agiert in unserem Sinne so wenig wie Reinmar ›außerfiktional‹; er zielt nur auf eine andere Praxis.55 Auch der Unterschied zwischen Frühem und Hohem Minnesang lässt sich besser fassen, wenn man das jeweils andere Verhältnis der (poetischen) Fiktion II zur sozialen Fiktion I beschreibt. Im Frühen Minnesang scheint es gegenüber dem Modell des höfischen Frauendienstes noch keine ausdifferenzierten Ich-Rollen zu geben. Im Lied können daher Männerrede und Frauenrede wechseln, ebenso wie unterschiedliche Entwürfe vorbildlicher oder abweichender Minne. Es gibt keinen Erzähler, aber ein Subjekt poetischer Rede, das diese wechselnden Positionen zur Sprache bringt. Fiktion II befindet sich also in weitgehender Übereinstimmung mit Fiktion I. Das ist im Hohen Minnesang anders. Da es jetzt um ein bestimmtes Ich geht, treten die Formen kollektiver Verständigung, insbesondere der Wechsel,

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Ähnlich die vielen Äußerungen, dass höfische Kunst an die Intaktheit der Gesellschaft gebunden ist. Das Zerbrechen der Fiktion I, auf die höfischer Minnesang (Fiktion II) beruht, macht diesen unmöglich. ORTMANN, R AGOTZKY u. R ISCHER (1976), S. 1–26. Zur Bedeutung von Ich: GRUBMÜLLER (1986); G. H AHN (1989). H AUSMANN (1999) dagegen muss im Sinne seines zweistelligen Fiktionalitätskonzeptes den Gegensatz zwischen Reinmar und Walther überdehnen (S. 245–252), mit dem Ergebnis, dass Walther (wie dies ja auch die Suche nach Erlebnislyrik im 19. Jahrhundert nahelegte) eigentlich nicht mehr zum Minnesang gehört, da es ihm um ›Wirklichkeit‹ statt um ›Kunst‹ (Reinmar) gehe; mehr noch, sein Werk fällt in einen auf ›Realität‹ und einen auf ›Fiktion‹ gerichteten Teil auseinander, etwa in Formulierungen wie »Die Sängerrede wird als Realität inszeniert, Frauenrede als Fiktion« (S. 251).

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zurück (wenn er auch nicht ganz verschwindet, weil es ja immer noch um eine kollektiv verbindliche Rede geht). Ein einzelnes Ich sucht sein Verhältnis zum (inzwischen ausschließlichen) Modell höfischer Liebe zu bestimmen. Dieses Ich zelebriert die angestrengte, doch über alle Hindernisse letztlich siegreiche Übereinstimmung mit dem kollektiv verbindlichen Modell; es sagt, dass es trotz entgegenstehenden Wünschen und Impulsen an ihm festhält. Deshalb ist es auch jederzeit möglich, dass auch wieder andere Stimmen zur Sprache kommen, wie dies bei Walther von der Vogelweide geschieht, der – ohne auf das bloß empirische Ich zurückzugreifen (das man mit ›Walther‹ identifizieren müsste), – sich nicht auf das abstrakte Ich der (Reinmarschen) Minnekanzone beschränkt, sondern andere Sprecher in anderen, gegenüber Reinmar spezifizierten Situationen vorführt (die Dame, das Mädchen, den alternden Werber, den Frauendiener angesichts des Todes). Das ist ›Rollenspiel‹ nicht als bloße Schauspielerei, sondern als Modellierung exemplarischer Verhaltensmöglichkeiten. Und selbst Reinmar kann, weil es im Minnesang immer um eine allgemeine Norm geht, problemlos die Formen kollektiver Rede des Frühen Minnesangs adaptieren.56

VI. Fiktionalität ist also nicht mittels der Entscheidung über Fiktivität oder NichtFiktivität des Satzes ich minne zu fassen. Die Aussage, dass der Sänger nur vorgibt zu lieben, ist ebenso wenig beweisbar und ebenso wenig relevant wie die entgegengesetzte, dass jedes Wort Ausdruck momentanen Gefühls ist. Entscheidend ist demgegenüber, dass es im Minnesang immer wieder um die Modellierung des Verhältnisses von ›Ich‹, ›Sie‹ und ›Gesellschaft‹ geht (oder auch um die Zurückweisung dieser Modellierung). Entworfen wird ein Selbst, das sich weder als radikal besonderes, in totaler Opposition zu den anderen versteht (›ich aber‹) noch als bloßer Repräsentant dessen, was kollektiv gilt (›ich = ›wir alle‹), sondern das beide Positionen ›höfisch‹ zu integrieren weiß. Katalysator dafür ist die Liebe zu einer Frau. Diese Liebe ›betrifft nur mich‹ und gilt zugleich einem gesellschaftlichen Wert, in dem sich ›alle‹ wiederfinden sollen. Die Authentizitätsbehauptungen, mit denen der Sänger versichert, es sei ihm ernst, sind deshalb nicht individuell zu verstehen, sondern haben die Funktion, das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen aufrecht zu erhalten, das sofort kollabieren würde, gäbe es den einen Pol nicht.

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Wechsel oder Rollenlieder sind also nicht Rückfall in (oder Wiederaufnahme von) ›Erzählfiktionalität‹, sondern bestätigen von anderer Seite, dass bei Reinmar ›ich‹ einen kollektiv-exemplarischen Anspruch hat. Allerdings kann in den Liedern, in denen ein männliches Ich spricht, die Spannung zwischen einem empirischen und jenem exemplarischen Ich ausgespielt werden (vgl. J.-D. MÜLLER [1999]).

Um Fiktion handelt es sich also nur in dem Sinne, dass ein imaginäres Selbst entworfen und im Lied vorgeführt wird. Weil es sich um ein imaginäres und nicht um das biographische Selbst handelt, sind im Minnesang Geschlechterpositionen vertauschbar, d. h. etwa, dass der männliche Sänger in der Rolle einer Frau sprechen kann. Zwischen Männer- und Frauenstrophen besteht deshalb grundsätzlich kein Gefälle an Verbindlichkeit und Authentizität.57 Aus demselben Grund sind auch ich, man, ein lîp und dergleichen durch einander ersetzbar.58 Der Sänger macht sich zum Sprachrohr eines imaginären Selbst (was de facto ebenso vollständige Identifikation wie unterschiedliche Grade der Abweichung zulässt). Das Gelingen höfischer Integration ist an die Kunstform des Liedes gebunden. Nur unter der Voraussetzung des fiktionalen Charakters von Frauendienst insgesamt ist Bumkes Überprüfung seiner sozialen und moralischen Auswirkungen sinnvoll:59 Wenn er mittels historischer Quellen nachweist, dass sich die Sexualpraxis des Adels in der Zeit des höfischen Frauendienstes nicht wesentlich geändert hat, dann belegt er den Fiktionscharakter der propagierten kulturellen Praxis des Frauendienstes und eben nicht nur den Fiktionscharakter der darauf bezogenen literarischen Texte. Um es zugespitzt zu sagen: Anders als bei Schwangerschaft gibt es bei Fiktion kein Entweder/Oder, sondern nur ein Mehr oder Weniger. Aus diesem Grund ist Fiktionalität untauglich als differentia specifica von Literatur. In jedem Fall müsste der eigentümliche Fiktionalitätsstatus vormoderner Literatur im allgemeinen und des Minnesangs im besonderen von Annahmen freigehalten werden, die erst im Gefolge der sog. Autonomieperiode möglich sind und überdies einseitig an epischen Texten abgelesen wurden. Die Ausbildung einer zunehmend selbstreflexiven Kunstpraxis erlaubt freilich auch schon im Mittelalter Schritte in Richtung auf ein modernes Fiktionalitätsverständnis. Die Verklammerung von ›ich minne‹ und ›ich singe‹ trägt von Anfang an den Keim der Auflösung in sich. So hat mit den schriftlichen Aufzeichnungen und Sammlungen von Minneliedern sich der Akzent auf den zweiten Bestandteil, die Vorführung von Kunst, zuungunsten des praktischen Geltungsanspruchs verschoben. Die Kunstübung emanzipiert sich von sonstigen Funktionen. Damit wandelt sich auch das Fiktionalitätskonzept. Der Minnesang verleiht nicht mehr dem Imaginären der höfischen Gesellschaft Sprache und Gesicht, sondern wird zur elitären Kunstübung, die dort, wo sie praktische Konsequenzen einfordert, häufig schon lächerlich wirkt.

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Die besonderen Aussagen der Frauenstrophen hat SCHNELL (1999) herausgearbeitet. Die Lizenzen, die dort möglich sind, sind freilich wieder als Teil der (natürlich von Männern entworfenen) Fiktion aufzufassen. Frauenstrophen sind in ihr komplementär zu den Männerstrophen, formulieren keine grundsätzliche Alternative. Vgl. FRIEDRICH H AUSEN, MFr 50,19 (1988). Aus diesem Grunde sollten Begriffe wie ›unmittelbare Betroffenheit‹, ›personale Erfahrung‹ u. ä., die eine individuelle Beteiligung suggerieren, eher vermieden werden. BUMKE (1983).

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Literarische und andere Spiele Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur

Die Diskussionen über Fingieren, Fiktion und Fiktionalität im Mittelalter sind kaum noch zu übersehen. In der germanistischen Mediävistik hat vor allem die von Walter Haug vertretene These einer ›Geburt der Fiktionalität‹ im höfischen Roman Chrétiens und seiner deutschen Nachfolger eine Fülle von Repliken, Differenzierungen, Gegenthesen hervorgerufen, die Haug selbst zu einer Kritik der Kritik veranlasste.1 Hinzutreten zahlreiche Untersuchungen zur Auffassung von Fiktionalität bei einzelnen Autoren, zum Verhältnis von Fiktion und Geschichte, zum Verhältnis von rhetorischer Stilisierung und Faktizität und zum fingierenden Charakter von Geschichtsepik und Chronistik.2 Einflussreich war der dreistellige Theorieentwurf Isers, der als vermittelnde Instanz zwischen dem Wirklichen und dem Fiktiven die Kategorie des Imaginären einführte.3 Schließlich wurde die Debatte auch seitens der Historiker aufgenommen, indem die von Hayden White angestoßenen Überlegungen zum Konstruktionscharakter historiographischer Darstellungen4 ohne die lange Zeit vorherrschende simplifizierende Kritik an seinem angeblichen ›Panfiktionalismus‹ aufgenommen und zum Anspruch historischer Re-Konstruktion der Vergangenheit in Beziehung gesetzt wurden; damit konnten Einsichten in die Standortgebundenheit historischer Überlieferung präzisiert werden, ohne dass der Referenzbezug des Diskurses der Historiker aufgegeben werden musste. In der Debatte wurde die lange Zeit übliche Dichotomie ›Fiktion vs. Wirklichkeit‹ in Frage gestellt, das eigentümliche Realitäts- und Wahrheitsverständnis im Mittelalter untersucht und die Differenz zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorstellungen von ›Wahrheit‹ betont.5 Man hat das asymmetrische Verhältnis

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H AUG (1992) sowie DERS. (2003a). – Der Beitrag setzt Überlegungen fort, die ich zuerst in Bezug auf den Fiktionscharakter und die Pragmatik des Minnesangs angestellt habe (vgl. oben S. 65–81). Ich erwähne nur: VON MOOS (1976); GRÜNKORN (1994); BURRICHTER (1996); K NAPP (1997); DERS. (1999); K NAPP u. NIESNER (2002); CHINCA (2003). ISER (1983); DERS. (1991). WHITE (1973); DERS. (1987); DERS. (1996); DERS. (1978a); VANN (1998); JAUSS (1982); R ICŒUR (1996); L AUDAGE (2003). HEINZLE (1990). – Vom Fiktionalitätsproblem ist dasjenige historisch differenter Wirklichkeitsmodelle grundsätzlich zu unterscheiden: Was im Mittelalter als faktisch wahr oder möglich angesehen wurde, ist dies keineswegs immer für den modernen Beobachter, so dass ›faktisch wahr‹ also zwischen den Bedeutungen ›für wahr gehalten‹ und

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von Faktizität und Fiktionalität herausgearbeitet und unterschiedliche Typen des Fingierens zwischen rhetorischer Inszenierung von vorgegebenem (oder als vorgegeben angesehenem) Material (»funktionaler« Fiktionalität) und dessen freier Erfindung (»autonomer« Fiktionalität) voneinander abgehoben.6 Schließlich wurden mittelalterliche Beispiele expliziter Ausstellung von Fiktionalität (›Selbstblößung‹) und ihrer expliziten Reflexion, – etwa bei Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach – analysiert. Trotzdem ist manches unaufgeklärt geblieben; verschiedene Begriffskonzepte und Argumentationsebenen wurden nicht hinreichend unterschieden: Die Opposition fiktional / nicht-fiktional wird, zumal in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, immer noch mit derjenigen wahr-richtig / unwahr-falsch verwechselt; oder man betrachtet parteiliche oder interessengebundene Darstellungen historischen Geschehens als ›Fiktion‹. Immer noch wird – zumal in der Debatte zwischen Historikern und Literaturwissenschaftlern – die Unterscheidung von ›Fiktivität‹ und ›Fiktionalität‹ vernachlässigt.7 Ein an der Moderne abgelesener Begriff von ›Fiktionalität‹ wird auf das Mittelalter übertragen. Als Gegenpol zum ›Fiktiven‹ wird ein Begriff von ›Wirklichkeit‹ vorausgesetzt, der im wesentlichen an sog. ›Fakten‹ orientiert ist und das Verhältnis fiktionaler Rede zu imaginären Ordnungen ausblendet, und schließlich wird das Fiktionalitätsproblem nahezu ausschließlich als ein literarisches, sogar enger noch: als ein narratologisches Problem behandelt. So ist die Diskussion einigermaßen verwirrend, und von einer gesicherten Grundlage dessen, was man im Mittelalter ›fiktional‹ nennen könnte, wird man nicht sprechen können – Grund, das Thema noch einmal aufzugreifen und an einige notwendige Unterscheidungen zu erinnern.

I. Offensichtlich hat Fingieren kulturspezifisch sehr vielfältige Bedeutungen und Funktionen. Fingieren ist eine keineswegs der Literatur vorbehaltene Möglichkeit, sondern findet sich in allen möglichen alltagsweltlichen Konstellationen, in denen Handeln und Entscheiden nur auf Grund einer Unterstellung möglich ist, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft wird, überprüft werden kann oder soll. So setzt z. B. die Verurteilung eines Sexualstraftäters voraus, dass man ›Tatherrschaft‹ über sexuelle Akte annimmt, d. h. die Möglichkeit, bewusst und absichtlich eine

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›nachweislich wahr‹ oszilliert. Elementargeister sind in der Moderne nur noch in einem literarischen Text denkbar, im Mittelalter aber auch in einem historischen, z. B. einer Chronik. Doch wird dadurch die Chronik nicht zum fiktionalen Text, ihr Inhalt nicht zur ›Fiktion‹. Die Begriffe nach BURRICHTER (1996), S. 15–22. Hierzu BLEUMER (2003), S. 188.

bestimmte Handlung (etwa eine Vergewaltigung) zu begehen und folglich für diese verantwortlich zu sein; gegebenenfalls müssen gegen diese Unterstellung dann konkrete Einwendungen (etwa Geisteskrankheit, Trunkenheit, sonst eine Bewusstseinstrübung) vorgebracht werden, um eine Verurteilung abzuwenden. Ein grundsätzlicher Zweifel an der individuellen Kontrollierbarkeit sexuellen Handelns (wie ihn z. B. eine psychologische Lehrmeinung behaupten könnte) wird ausgeschlossen und muss ausgeschlossen werden, solange es ein Sexualstrafrecht gibt. Die Wahr-falsch-Entscheidung über eine anthropologische Frage wird im Interesse der rechtsstaatlichen Ordnung suspendiert. Ähnlich lassen sich in Straf- wie Zivilrecht viele andere ›Fiktionen‹ dieser Art ausmachen, auf Grund derer ein alltagsweltlicher Sachverhalt allererst rechtssystematisch erfassbar ist. Wenn juristische Fiktionen bestimmte Unterstellungen in Bezug auf Kausalität, wahrscheinliche Handlungsabläufe, beteiligte Normen und Regeln und dgl. machen, geschieht das freilich immer in einem pragmatischen Interesse, also z. B. an einer bestimmten Lösung eines Falls. Damit es zu der Lösung kommt, muss das Fingierte als wirklich unterstellt werden, darf also gerade nicht als Fiktion erkannt oder auch nur in Frage gestellt werden. Solche Fiktionen gibt es in nahezu allen Bereichen des sozialen Lebens; sie unterscheiden sich zwar mehr oder weniger in historischen Kulturen, sind aber grundsätzlich miteinander vergleichbar, d. h. die im Mittelalter gültige Annahme, es gebe Dämonen, die mit Menschen Umgang pflegen oder von ihnen Besitz ergreifen, beansprucht den gleichen Realitätsstatus wie eine der skizzierten juristischen Fiktionen, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen behaupten. Was vom Standpunkt einer anderen Kultur als unwahr erscheint, ist in seinem genuinen Geltungsbereich weder bloße Erfindung noch Lüge. Alltagsfiktionen sind mehr oder minder interessierte, mehr oder minder selegierende, mehr oder minder arrangierende Annahmen über die Wirklichkeit, die die gesellschaftliche Praxis steuern oder notwendig sind, um sich in ihr zu orientieren. Sie dürfen, um wirksam zu bleiben, mindestens im Rahmen ihres institutionellen Zusammenhangs gerade nicht durchschaut werden, im Gegensatz zu literarischen Fiktionen, deren Fiktionscharakter erkannt werden darf oder sogar soll. Der Fiktionsbegriff ist also nicht literaturspezifisch. Anders steht es mit dem Begriff der Fiktionalität. Von Fiktionalität sollte man nur sprechen, wenn die Fiktion außerhalb praktischer Interessen und Handlungszusammenhängen steht: Fiktionalität setzt ein Bewusstsein des fiktiven Charakters des Fingierten voraus.8 Dabei ist die explizite

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Ich würde gegenüber BLEUMER (2003, S. 188) einen ›weicheren‹ Begriff von Fiktionalität bevorzugen. Bleumer definiert Fiktionalität »als durch sprachliche Selbstreflexivität markierte Fiktivität« (S. 188); diese Bedingung ist sehr eng; mir scheint weder (explizite) Markiertheit unbedingt erforderlich noch Reflexion des Fiktionscharakters durch den Fingierenden, sofern der ›Rahmen‹ das Fingieren gegenüber praktischen Zusammenhängen ausgrenzt.

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›Ausstellung‹ des Fiktionscharakters, die ›Entblößung‹ von Fiktionalität9 (wie sie besonders spektakulär z. B. in der romantischen Komödie erfolgt), eine zwar hinreichende, doch keineswegs notwendige Bedingung von Fiktionalität, d. h. sie muss nicht unbedingt erfüllt sein, damit ein Text als ›fiktional‹ aufgefasst werden kann. Als Minimalbedingung ließe sich vielleicht formulieren, dass, anders als bei den skizzierten juristischen Fiktionen, bei fiktionalen Texten die (jederzeit mögliche) Aufdeckung des Fiktionscharakters den Geltungs- und Wahrheitsanspruch der Aussage nicht nur nicht zerstört, sondern überhaupt nicht tangiert. Explizite ›Selbstentblößung‹ von Fiktionalität ist entbehrlich in einem ausdifferenzierten und relativ selbständigen System Literatur, in dem Sprechen von vorneherein als ›Sprechen als ob‹ bestimmt ist und jede Aussage den Bedingungen eines Fiktionskontraktes unterliegt. Das System setzt dann einen ›Rahmen‹, in dem das Verständnis einer Aussage als ›fiktional‹, nämlich getätigt unter der Bedingung eines bloßen Als-ob, festgelegt ist.10 Auf der anderen Seite bleibt – vor Ausdifferenzierung eines solchen Systems – der fiktionale oder nicht-fiktionale Status eines Textes meist einfach offen; die Grenzen ›literarischen‹ Sprechens sind noch durchlässig gegenüber anderen Typen fingierenden Sprechens. Auch in diesem Fall fehlt die explizite ›Entblößung‹ von Fiktionalität. Das gilt für die meisten volkssprachigen Gattungen im Mittelalter: Das gattungsunabhängige ›funktionale‹ Fingieren, d. h. die rhetorische Ausgestaltung, ist in forensischer Rede, Historiographie, Panegyrik ebenso üblich wie z. B. in der Heldenepik. Fingieren begründet dabei nicht – wie die ›autonome‹ Fiktionalität bei im engeren Sinne literarischen Gattungen – einen besonderen Status und Wahrheitsanspruch eines fiktionalen Textes. Eine Ausstellung des Fiktionscharakters ist dagegen besonders häufig (wenn auch keineswegs nur) dort anzutreffen, wo man in der Literaturgeschichte einen ›Autonomisierungsschub‹ beobachten kann, so in der höfischen Literatur um 1200, so in der Romandiskussion im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und in der Romantik. Hier erscheint sie als Geste der Legitimierung einer eigenen, poetischen Wahrheit gegenüber derjenigen konkurrierender Diskurse. Dabei besteht kein kontradiktorischer, sondern nur ein polarer Gegensatz zwischen ›funktionalem‹ (rhetorisch ausgestaltendem) und ›autonomem‹ (freihändig erfindendem, manchmal die Fiktionalität ausstellendem) Fingieren; beide Typen können ineinander übergehen. Das zeigt sich gerade an einem besonders oft diskutierten Beispiel fiktionaler ›Selbstentblößung‹: Hartmanns spielerischer Pointierung des Fiktionscharakters seines ›Erec‹ anlässlich der Beschreibung von Enites Pferd. Sie geht, wie Worstbrock gezeigt hat, aus einer dilatatio materiae hervor, d. h. aus der detaillierenden und ausschmückenden Ausgestaltung eines Sachverhalts, den

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ISER (1991), S. 35; DERS. (1983), S. 135. WARNING (1983). – Wo dieser Rahmen ausgetauscht oder verwechselt wird, kommt es daher zu grotesken Irrtümern wie bei Orson Welles’ fingierter Katastrophenmeldung, die als ›Ernst‹ aufgefasst wurde und daher zu Panikreaktionen führte.

Hartmann in seiner Vorlage vorgefunden hat.11 Hartmann folgt demnach dem gleichen rhetorischen Prinzip, das Historiker, Redner vor Gericht und überhaupt alle Arten referentialisierender Diskurse bei der Ausgestaltung ihrer materia benutzen, ohne dass dies ihren Anspruch auf Referentialisierbarkeit in irgendeiner Weise tangierte. Die anschließende ›Entblößung‹ von Fiktionalität tritt im ›Erec‹ also als ein Sonderfall ›funktionalen‹ Fingierens auf. Sie ist in der volkssprachigen Literatur um 1200 keineswegs die Regel, während weit häufiger gar kein Bedürfnis zu bestehen scheint, genau zu trennen, was in einem grundsätzlich als ›wahr‹ geltenden Text buchstäbliche Geltung haben soll, was fingierender Ausgestaltung dieser ›Wahrheit‹ zuzurechnen ist. Abzulesen ist dies an der Heldenepik. Hier steht Fingieren stets im Dienst von etwas, das als ›Vergangenheit‹ gewusst wird. Das Heldenepos mag ebenso wie Chrétiens und Hartmanns Artusromane de facto das Werk eines bewusst ausgestaltenden und ausdeutenden Erzählers sein,12 entscheidend ist, dass es sich nicht als das Werk eines solchen Erzählers gibt, sondern als unvordenkliche Überlieferung, deren Sprachrohr der Erzähler nur ist und das sich daher im Kern seiner Verfügung entzieht. Während Heldenepen heute, vom Standpunkt eines ausdifferenzierten literarischen Systems aus betrachtet, als ›fiktionale‹ Texte gelten, werden sie im hohen Mittelalter als Vorzeitkunde aufgefasst, bei der sich, wenn man ihr insgesamt glaubt, die Frage gar nicht stellt, was sich möglicherweise der Erfindung des Dichters verdankt, zumal da die Ausgestaltung sich an dem orientiert, was heute und immerdar gewöhnlich sich abspielt und daher gewiss ›auch damals so war‹. Die Frage, was ›tatsächlich‹ so war und was ›hinzuerfunden‹, ist unangemessen.13 Aus diesem Grund ist auch die Abgrenzung von im engeren Sinne literarischen und chronikalischen Texten bis ins Spätmittelalter so fragwürdig: Chroniken wie die des Jansen Enikel folgen auf Schritt und Tritt Mustern, wie sie in literarischen Fiktionen ausgebildet wurden (schwankhaften, heroischen usw.); dennoch erheben sie den Anspruch, Aussagen über die Vergangenheit zu machen.14

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WORSTBROCK (1985); vgl. BURRICHTER (1996), S. 13–15. H AUG (2003b). Das hat Wolf am Beispiel nordischer Sagas gezeigt: Die Sagas sind, indem sie von Alters her Gewusstes poetisch überformen, Leerstellen im Handlungsgerüst fingierend auffüllen und Umstände ergänzen, ganz einfach ›gut erzählt‹ (A. WOLF [2002], etwa S. 79). Im Übrigen macht von der Lizenz fingierender Ausgestaltung bis in die Gegenwart der historische Roman, ja machen selbst ›historiographische‹ Werke wie Golo Manns ›Wallenstein‹ reichlichsten Gebrauch, von den literarischen Mustern ganz abgesehen, die Whites Analyse zufolge auch der zünftigen Geschichtsschreibung zugrunde liegen. Ohnehin verschwimmen bis in die Frühe Neuzeit die Grenzen verschiedener Typen von historia zum Roman, wenn diesem gleichfalls ein Tatsachenkern zugeschrieben wird. Noch im 16. Jahrhundert kann ein Autor sich dem rechten glaubwürdigen Text der Historie verpflichtet fühlen und daher auf eine Bearbeitung nach Historischer vnd Rhetorischer art zu verzichten vorgeben, wenn er de facto seine Vorlage breit ausgestaltet,

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Der Wahrheitsanspruch der Heldenepik kann nur als ein historischer bestritten werden: Aus Sicht der Kleriker gehört sie nicht einem Sonderbezirk eines Sprechens ›als ob‹ an, sondern ist eine unzulässige Form von Geschichtsschreibung. So messen sie sie am Wahrheitsanspruch authentischer Überlieferung. Weil es zwischen (faktisch) ›wahr‹ und ›falsch‹ kein Drittes gibt, können sie den Geltungsanspruch der Heldenepik insgesamt treffen, indem sie, z. B. mit Argumenten der Chronologie, nachweisen, sie entstelle historische Tatsachen; daraus ergibt sich der Schluss, sie sei ›lügenhaft‹. Dabei kann, wie die ›Kaiserchronik‹ belegt, der Nachweis der ›Lügenhaftigkeit‹ im einen Fall mit historischen Fehlinformationen in einem anderen durchaus zusammengehen. Das alles zeigt nur, dass die Heldenepik keinen ›Fiktionalitätskontrakt‹ voraussetzt, sondern Glauben an die Zuverlässigkeit ihres Bildes der Vergangenheit einfordert. Unterscheidungen zwischen Wahrem und Erfundenem gibt es also durchaus,15 nur bleibt ganz überwiegend der Wahrheitswert eines Textes grundsätzlich an nachweisbare Faktizität gebunden. Entscheidend für die Bestimmung von Fiktionalität im Mittelalter ist also die Frage, ob es einen Rahmen für eine eigene Wahrheit des Als-ob gibt und wie weit sich das, was in diesem Rahmen erzählt wird, von der überprüfbaren Alltagswelt entfernen darf. Fiktionalität ist pragmatisch zu bestimmen, indem in einem bestimmten Rahmen besondere Kommunikationsregeln gelten, die den Wahrheitsanspruch einer Aussage betreffen.16 Dafür, dass es so einen Rahmen gibt, sprechen Thematisierung und Reflexion des Fiktionscharakters in höfischen Romanen: Enites Pferd oder Iweins und Laudines Herzenstausch – um nur diese zu nennen – sind für Hartmann von Aue Anlass, den Inszenierungscharakter seiner Erzählung vorzuführen, zu zeigen, dass es sich um eine Veranstaltung des Erzählers handelt, die das Alltagsverständnis des Rezipienten ins Leere laufen lässt. Das setzt einen gewissen Grad der Institutionalisierung dieses Aussagetypus voraus, wie er sich seit dem 12. Jahrhundert abzuzeichnen beginnt. Die Verfasser höfischer Romane scheinen darauf zählen zu können, dass man ihren Wahrheitsanspruch akzeptiert. Sie setzen voraus, dass es Aussagen gibt, deren Geltung nicht von ihrer Referenz auf in der Alltagspraxis vorfindliche Sachverhalte abhängt. In diesem Sinne ist Haugs Rede von der ›Entdeckung‹ der Fiktionalität bei Chrétien sinnvoll:17 Der

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neue Einzelheiten der Handlung, Szenen, Reden hinzuerfindet, Gedanken wiedergibt, Gefühle ausmalt, ohne freilich etwas am Handlungsgerüst zu ändern: Offensichtlich tun seine Hinzuerfindungen der ›historischen‹ Wahrheit keinen Abbruch. In diesem Fall konstatiert der Bearbeiter allerdings, anders als der hochmittelalterliche, schon eine Veränderung des jetzigen welt lauff vnd wesen gegenüber früher, der Zeit, in der die Erzählung entstand, und er erkennt, dass diesem neuen Weltlauf eine neue Art des Fingierens angemessen wäre (›Hug Schapler‹ 1537 [1990], S. 346f.). A. WOLF (2002), S. 76; BURRICHTER (1996), S. 10. Grundsätzlich WARNING (1983); vgl. CHINCA (2003), S. 311f.; GRÜNKORN (1994). S. 11–19. H AUG (2003a) hat die Kontroverse über diese ›Entdeckung‹ selbst nachgezeichnet. Er hat dafür sieben kritische Stellungnahmen Punkt für Punkt zu widerlegen versucht. Da-

Einwand, es habe schließlich schon längst, beispielsweise in der Antike, fiktionale Texte und ein korrespondierendes Fiktionsbewusstsein gegeben (seine Sachhaltigkeit steht hier nicht zur Debatte), trifft Haugs These überhaupt nicht, denn er konstatiert nur, dass Chrétiens Romane in einer allegorischen Deutung nicht aufgehen und sich der Text nicht in einen anderen Text übersetzen lässt. Dagegen lassen sich die vorausgehenden gelehrten Diskussionen über den Wahrheitswert von integumenta und die damit in Zusammenhang stehende allegorische Deutung antik-mythologischer Dichtung als Versuche verstehen, fiktionaler Rede einen ihr bestrittenen Wahrheitswert wiederzugewinnen, indem der nicht-referentialisierenden Aussage (fabula) mittels fester Auslegungsregeln (gefasst in der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn) Referenzcharakter (z. B. auf die Natur, die Moral, den Glauben) zugesprochen wird. Insbesondere wo der literarische Text Sachverhalte betrifft, die in der jeweiligen Kultur als unmöglich gelten (wie z. B. sprechende Tiere, heidnische Götter), da wird die Fiktion als bloße Einkleidung nicht-fiktiver Sachverhalte interpretiert, in die sie nach bestimmten Regeln rückübersetzbar ist.18

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von berühren sich Position 2–4 mit den hier vorgetragenen Argumenten (Fiktionalität in vorliterarischer Narrativik – hier wäre der Blick wohl auf Alltagserzählungen generell auszuweiten −; Fiktionalität der Geschichtsschreibung; Fiktionalität als Resultat rhetorischer Inszenierung). Die Widersprüche zwischen diesen Positionen beruhen letztlich auf unterschiedlichen Begriffen von Fiktionalität (hierzu S. 132). Hier würde ich Haugs Differenzkriterium ›vorgegebene Wahrheit‹ verorten, die mit der ›Entdeckung der Fiktionalität‹ aufgegeben werde. ›Vorgegeben‹ ist nämlich die eineindeutige Relation zwischen zwei Texttypen, dank derer der eine eins zu eins in den anderen übersetzbar ist. Dagegen liegt Haugs Frage, ob die Wahrheit der jeweiligen Aussage ›vorgegeben‹ ist oder nicht, auf einer anderen Ebene. Haug denkt bei solch ›vorgegebenen‹ Wahrheiten z. B. an die heilsgeschichtliche Deutung historischer Fakten (H AUG [2003a], S. 135). Wahrheiten dieses Typs aber können ebenso wohl in fiktionalen wie in nicht-fiktionalen Texten auftreten. Sie sind insofern der Unterscheidung fiktional / nicht-fiktional vorgeordnet. Im Mittelalter sind – wie in jeder Kultur, wenn auch vielleicht im Vergleich mit der Moderne alternativenloser – sämtliche Aussagen durch bestimmte Vorgaben des kulturellen Wissens begrenzt. So kann z. B. Geschichte grundsätzlich nicht ohne ihren heilsgeschichtlichen Endpunkt (nicht also z. B. ›historistisch‹ oder als unendlicher ›Fortschritt‹ oder als ›ergebnisoffen‹) gedacht werden. Auch in Bezug auf die Deutung von Geschichte partizipieren literarische Fiktionen an ›vorgegebenen‹ Wahrheiten. Was Haug an Chrétiens Romanen als »offene Wahrheitssuche« (S. 136) heraushebt, repräsentiert deshalb nur eine Möglichkeit von ›Fiktionalität‹ (die »eine Befreiung von tradierten Sinnmustern zugunsten eines Sinns [voraussetzt], den man über die Fiktion erst sucht, ja mit dem man experimentiert« [S. 138]). ›Offene Wahrheitssuche‹ aber ist kein unterscheidendes Merkmal von Fiktionalität. Fiktionen können nämlich durchaus ›vorgegebene‹ Klischees bedienen; ein Beispiel sind etwa fiktionale Texte wie Lore- oder Arztromane. Ihr Wahrheitsanspruch beruht nicht auf der Faktizität der erzählten Begebenheiten, sondern auf der allgemeinen Akzeptanz der ›vorgegebenen‹ Klischees (des Glücks, der Liebe usw.), die sie bestätigen. Umgekehrt

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Die integumentum-Diskussion gehört in den Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Diskurstypen; sie sucht ›Ordnung zu schaffen‹ zwischen konkurrierenden Texttypen und ihren Wahrheitsansprüchen, indem sie den Wahrheitsanspruch poetischer Rede als einen abgeleiteten bestimmt, abgeleitet in letzter Instanz von religiöser Wahrheit (mit der ja auch moralische, naturkundliche, politische Aussagen kompatibel sein müssen). Sie sichert der religiösen Wahrheit auch dort ihren Geltungsanspruch, wo die Textoberfläche prima facie einen solchen Anspruch zu dementieren scheint. Als Sache der Kleriker betrifft sie vor allem die gelehrte Literatur; wo sie auf Texte in der Volkssprache angewandt wird, hat sie klerikalen Hintergrund; das gilt noch für Thomasins von Zerclære Interpretation des höfischen Romans.19 Es hat aber den Anschein, als habe man sich dem Gedanken einer fiktionalen Wahrheit des Als-ob am ehesten dort nähern können, wo die Referenz des Textes in der Schwebe bleibt, wo er nicht dem strengen discrimen veri ac falsi unterworfen und das Spiel nicht am Ernst letztgültiger Wahrheit gemessen wird. Das integumentum bezieht sich dagegen auf Texte, deren Referenzanspruch von Anfang an bestreitbar ist. In der volkssprachigen Dichtung scheint im Allgemeinen aber nicht durchweg ein Interesse an einer solchen Unterscheidung bestanden zu haben. So wird ihr Wahrheitsanspruch häufig offengehalten. Wenn er aber irgendwann einmal in Frage gestellt wird, wenn man sich in ähnlicher Weise bemüht, ›Ordnung zu schaffen‹, wie dies im Spätmittelalter mit der Heldenepik geschieht, dann wird folgerichtig sogleich das integumentale Verständnis auf sie insgesamt ausgedehnt.20

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lässt sich der Erzählprozess in Dantes ›Divina Commedia‹ – zweifellos einem fiktionalen Text – nicht als ›offene Wahrheitssuche‹ beschreiben. Integumentale Elemente enthält die volkssprachige Epik natürlich seit langem, auch in Texten mit einem nicht ausschließlich allegorischen Fiktionskonzept wie Gottfrieds ›Tristan‹; sie scheinen mir aber grundsätzlich anders beurteilt werden zu müssen als der fiktionale Entwurf möglicher Welten sonst (hierzu CHINCA [2003]): Wenn Tristan ›mit drei Streitgesellen‹ gegen Morold kämpft, dann gibt Gottfried selbst die Anleitung, wie dies zu verstehen ist: als eine nicht-körperliche, spirituelle Stärke des Kämpfers Tristan, die ihn dem riesenhaften Morold letztlich überlegen macht. Die ›drei Streitgesellen‹ sind nicht Figuren einer ›möglichen Welt‹, sondern überhöhen deutend den sensus historicus des Erzählten. Gottfrieds Rede ist hier so wenig ›unwahrscheinlich‹ oder ›unglaubwürdig‹ wie integumenta auch sonst, denn sie sind immer unmöglich und wahr zugleich. Der Fall scheint mir daher nicht zu Chincas Überlegungen zum Problem ›möglicher Welten‹ bei Gottfried zu passen (S. 326–328). J.-D. MÜLLER (1982).

II. Das besondere mittelalterliche Verständnis poetischer Wahrheit hat also nichts mit Feststellungen wie ›Das wurde damals geglaubt‹ zu tun oder gar einer durchgängigen Leichtgläubigkeit der Zeit, sondern mit der Möglichkeit, Wahrheit unter den Bedingungen eines Als-ob zu denken und Texttypen nach diesem Wahrheitsanspruch zu unterscheiden. Der Umweg der gelehrten Diskussion über das integumentum macht klar: Fiktionalität setzt einen gewissen Grad an Institutionalisierung fingierender Rede voraus, deren Wahrheitswert nicht von der Undurchschaubarkeit ihres Fiktionscharakters abhängt. Diese Institutionalisierung versteht sich nicht von selbst; sie ist eine historische Variable. Um 1200 scheint der Rahmen für einen Fiktionalitätskontrakt noch durchweg labil, jedenfalls so wenig selbstverständlich, dass es reizvoll ist, mit ihm zu spielen. Die erwähnten Reflexionen der Erzählsituation durch Hartmann sichern dem fingierenden Erzähler seinen Spielraum gegenüber einem naiven Verständnis des literarischen Textes nach dem Vorbild von Alltagsrede und führen dem Publikum ein angemesseneres Verständnis fiktionaler Rede vor. Ein Fiktionalitätskontrakt wird nicht einfach vorausgesetzt, sondern wird – etwa im Gespräch des Erzählers mit einem besserwisserischen Hörer – ausdrücklich ins Bewusstsein gerufen.21 In Chrétiens conjointure wird die feste Relation einer regelhaften Zuordnung allegorischer Wahrheit ebenso aufgegeben wie ein auf alle Einzelheiten der Erzählwelt bezogener buchstäblich historischer oder allegorischer Wahrheitsanspruch. Aber ›entdeckt‹ er damit Fiktionalität im neuzeitlichen Sinn? Haugs Ästhetik enthält zwar einen Zeitfaktor (›Entdeckung‹), doch scheint das Entdeckte zeitentho-

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Am Beispiel des Minnesangs habe ich dies als ›Einüben‹ zu beschreiben versucht (J.-D. MÜLLER [1994a], S. 2f.; 14f.; 20f.). Ursula Peters wendete dagegen (mündlich) ein, dass nach generationenlanger Minnesangpraxis die Notwendigkeit des ›Einübens‹ doch unwahrscheinlich sei. Vielleicht sollte man eher von einem neu gewonnenen Freiraum sprechen; dann liegen die Positionen aber nicht allzu weit auseinander: Auch wenn sich ein Fiktionskontrakt ›eingespielt‹ hat, scheint er noch nicht so habitualisiert oder gar automatisiert, dass der besondere Status der Rede unauffällig wäre und er nicht spielerisch zur Disposition gestellt werden könnte. Ich wollte damals nicht behaupten, dass irgendjemand tatsächlich die Reden der Minnesänger für bare Münze genommen hat (das ist zwar möglich, aber nicht beweisbar), sondern nur, dass z. B. Walther von der Vogelweide oder der Stricker mit dieser Möglichkeit spielen und sie spielerisch unterlaufen. Der Witz der Strickerschen ›Minnesänger‹ z. B. wäre nicht verstehbar, gäbe es nicht die Möglichkeit der Verwechslung von poetischer Rede und Alltagsrede (dargestellt an den von Blumen und Vögeln faselnden, doch kräftigere Kost erwartenden Sängern), selbst wenn jedem Kenner solche Verwechslung Zeichen von Banausentum ist. Der Witz erschließt sich nur einem Publikum, für das der Fiktionalitätskontrakt nicht völlig selbstverständlich ist. Auch CHINCA (2003), S. 313 betont, dass Fiktionalität um 1200 »noch nicht selbstverständlich war, die mit ihr verbundenen Haltungen und Verpflichtungen noch nicht völlig eingeübt« waren.

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ben. Dadurch ist seiner These eine latente Teleologie eingeschrieben: Chrétien entdeckt das, was den Wahrheitsanspruch von Dichtung überhaupt ausmacht. Dabei zeichnet Haug durchaus eine historische Entwicklung im Umgang mit Chrétiens Konzept nach; er zeigt, wie die Entdeckung nicht immer voll verstanden wird, wie spätere Autoren das sie tragende Strukturmodell umbilden und zerstören oder wie Fiktionalitätsbewusstsein eine Errungenschaft ist, die verloren gehen kann – ablesbar an spätmittelalterlichen Diskussionen um die Wahrheit romanhafter Historien. Doch letztlich bleibt das, was Fiktionalität bedeutet, immer dasselbe: eine normative Interpretationsanweisung, die entdeckt oder verfehlt werden kann. Dabei ist der Spielraum dessen, was Fiktionalität bei Chrétien zulässt, doch offenbar ein anderer und enger begrenzt als der eines modernen Autors. Zu erinnern ist an Heinzles Einwand, dass König Artus um 1200 keineswegs als eine fiktive Gestalt galt und die Geschichten über ihn deshalb auch nicht als bloße Erfindung zu verstehen sind.22 Heinzle macht nämlich darauf aufmerksam, dass fiktionale Texte im Mittelalter auf wenigstens minimale Verankerungen in einer als ›wirklich‹ aufgefassten Vergangenheit nicht verzichten können und dass sie nie ›freie‹ Erfindung beliebiger möglicher Welten sind.23 Das zeigen die Untersuchungen von Burrichter zu verschiedenen Erzählungen des Artusstoffes. Für Geoffrey of Monmouth, der ›Historiker‹ sein will, und Chrétien von Troyes, der sich um die Historizität seines Gegenstandes nicht kümmert, wenn er sie auch nicht explizit aufgibt, eröffnen sich jeweils ganz unterschiedliche Möglichkeiten fingierender Ausgestaltung, wobei beide sich um ›Wahrheit‹ bemühen und folglich kritisch gegenüber den ›haltlosen‹ Erfindungen der jongleors eingestellt sind. Der Spielraum ist jedes Mal durch einen Rahmen (Geschichte von einem christlichen und ritterlichen Vorzeitkönig) begrenzt, dessen Faktizi-

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HEINZLE (1990). Dies bedeutet nicht, wie CHINCA (2003), S. 309 anlässlich des Parallelfalls Gottfried für diese Forschungsposition vermutet, »eine Ausrichtung der Gottfriedschen [oder Hartmannschen etc.] Erzählpraxis auf Faktizität oder Historizität«, sondern nur, dass nicht auf jedwede Bindung an Quellen, Überlieferungen, angebliche ›Tatsachen‹ verzichtet werden kann. Das aber bestätigen Chincas eigene Analysen gleichfalls: Gottfrieds umständliche Argumentation an den Stellen, an denen er seine Version gegen die Tradition anderer Tristan-Erzählungen abgrenzt, macht deutlich: Gottfried kann sich gerade nicht mit einem bloßen »so geschieht es in meiner Erzählung« begnügen (ebd.), sondern muss sich mit dem, was er als geglaubte Annahmen vorfindet, auseinandersetzen. Dank der Bindung mittelalterlichen Denkens an den göttlichen Ordo stellt Knapp zur Diskussion, ob man dem Mittelalter die Möglichkeit ›Fiktion‹ und ›Fiktionalität‹ im Sinne einer creatio zu denken, nicht absprechen muss: »Alles Seiende ist von Gott ins Sein gebracht, und so auch die geschichtlichen Ereignisse. Menschliche Fiktion erzeugt nur Nichtseiendes, das entweder – im Falle freier Fiktion, etwa einer Tierfabel – indirekt Seiendes aussagen oder – im Falle der Geschichtsschreibung – nicht bekanntes Seiendes vermutungsweise ergänzen kann (K NAPP u. NIESNER [2002], S. 133 sowie Knapps und Wolfzettels Stellungnahme zur ›Antithese I‹, S. 134f.).

tätsanspruch nicht bestritten wird. Schon Geoffrey of Monmouth gestaltet diesen Rahmen ›rhetorisch‹ aus, prüft verfügbare Quellen, wählt aus, ergänzt, wo Lücken bleiben, und bemüht sich so um einen möglichst kohärenten Geschehenszusammenhang. Auch er ›fingiert‹ also bereits in dem Sinne, in dem jede historiographische Aneignung von Vergangenheit fingieren muss, hält aber an seinem historiographischen Wahrheitsanspruch fest und ist von ihm aus kritisierbar (dabei kann außer Betracht bleiben, inwieweit das, was er erzählt, für ihn oder erst recht für den modernen Historiker durch seriöse Quellen gedeckt, inwieweit es erfunden ist). Geoffrey will etwas über die Vergangenheit aussagen, wenn auch über eine nach den politischen Bedürfnissen der Gegenwart gemodelte Vergangenheit. Er erzählt in pragmatischer Absicht. Der Spielraum für rhetorisch-narrative Ausgestaltung wird genutzt, um ein attraktives, mehr oder minder kohärentes Bild der Vergangenheit zu entwerfen, auf die der Text referieren will. Dies ist grundsätzlich in allen sich als historiographisch verstehenden Erzählungen von König Artus der Fall, allerdings können sie wie Wace den Spielraum des Fingierens ausweiten, so dass sie sich dem Roman nähern. Trotzdem, auch Wace setzt seine Darstellung von den unzuverlässigen Erzählungen der jongleors und conteors ab. Er fingiert im Dienst einer ›historischen‹ Wahrheit, die vielleicht nicht mehr als Kette buchstäblich wahrer Geschehnisse aufgefasst ist, wohl aber als Aussage über eine einstmalige, bis in die politische Gegenwart der eigenen Zeit wirkende vorbildliche Welt. Burrichter stellt fest, dass in Grenzfällen »der Anteil an fingierten narrativen Elementen« so »ungewöhnlich hoch« werden kann,24 so dass sich die Frage nach historischer Zuverlässigkeit und zugleich damit nach einer anderen Art von Wahrheit stellt. Chrétien überschreitet diese Grenze. Er übernimmt den durch die Gestalt des Artus gesetzten historischen Rahmen, füllt ihn jedoch mit Geschichten aus, die in historiographisch verstandenen Texten nur Beiwerk sind und ganz andere Sachverhalte als historisch-politische Geschehenszusammenhänge betreffen. Ihm geht es nicht mehr um ein Bild der Vergangenheit, das für politische Ansprüche der Gegenwart instrumentalisierbar ist. Der Fokus verschiebt sich auf den Entwurf einer höfischen Rittergesellschaft, die sich um den (aus der Historie bekannten) König Artus versammelt. Chrétien bleibt an bestimmte ›historische‹ Vorgaben gebunden, doch ist der Spielraum des Fingierens gegenüber dem der Geschichtsschreiber um ein Vielfaches ausgeweitet. Mir scheint das Epitheton bel (conjointure) diesen Spielraum als einen ästhetischen anzuzeigen.25 Trotzdem bleibt, was Chrétien tut, nicht völlig unvergleichbar mit dem, was die früheren Erzähler von König Artus auch taten. Indem er aber die Referenz auf Vergangenheit radikal lockert, die Welt des Artus mittels conjointure ausgestaltet und die Lizenz

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BURRICHTER (1996), S. 20. Weitere Hinweise auf die ästhetische Qualität als Selbstwert der Erzählung bei BURRICHTER (1996), S. 77; 128; ähnlich WORSTBROCK (1985), S. 134f. zu den bon dits bei Benoit de Sainte Maure: Der Dichter zeigt sich im artificium, mit dem er eine vorgegebene materia traktiert (S. 138f.).

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des Fingierens auf alles ausdehnt, auch das, was nie überprüfbarer Gegenstand historischer Darstellung sein könnte, schafft er einen in einem historisch spezifischen, nämlich mittelalterlichen Sinne fiktionalen Text.26 Während Geoffreys ›Historia‹ in ihrer historiographischen Zuverlässigkeit überprüft werden kann, wäre eine Einrede gegen Chrétiens Romane oder die Lais der Marie de France mit dem Tenor ›so sei das doch gar nicht gewesen, und so könne es nicht gewesen sein‹, sinnlos. Das schließt aber nicht aus, dass sie die Historia voraussetzen und mindestens an einzelnen Punkten an sie anknüpfen. Die – manchmal nur minimale – Anknüpfung an etwas Vorausliegendes, das der Verfügungsgewalt des fingierenden Erzählers entzogen ist, ist Ermöglichung, aber auch Grenze mittelalterlichen Erzählens. Worstbrock hat darauf verwiesen, dass Erzählen im Mittelalter immer ein ›Wiedererzählen‹ ist und dass das Wiedererzählen zwar einerseits Spielräume des Fingierens öffnet, andererseits aber durch Vorgaben des Wiederzuerzählenden begrenzt ist.27 Auch insofern ist Fiktionalität im Mittelalter niemals völlig ›frei‹. Wie die spätere Geschichte des Artusromans zeigt, kann sich Erzählen freilich weit von seinen als ›historisch wahr‹ akzeptierten Voraussetzungen entfernen: Artus, die Tafelrunde und deren Bewährung in ritterlicher Aventiure gelten im 13. Jahrhundert offenbar als gesicherte Größen, deren Wahrheit unbezweifelbar ist und nicht diskutiert werden muss; auf Grund dieses sicheren Wissens können dann immer neue Geschichten angeschlossen, immer neue Namen erfunden werden, die die Wahrheit jener ersten Setzung bestätigen, ohne dass jemand fragt, wo sie denn bezeugt seien, d. h. ohne dass sie also demselben Wahrheitskriterium unterlägen wie die Artuswelt als ganze. Insoweit ist der Artusroman beispielsweise vom Antikenroman nicht grundsätzlich geschieden: Das Erzählte kann als ›wirklich geschehen‹ gelten (wie die Geschichte vom Fall Trojas), oder seine Faktizität kann mehr oder minder in der Schwebe bleiben (wie die Geschichten um König Artus); in beiden Fällen wird ein gegebener Rahmen imaginativ aufgefüllt. In dem Sinne, in dem es sich für den modernen Leser in beiden Fällen um ›fiktionale‹ Texte handelt, sind Trojaroman oder Artusroman dies im Mittelalter deshalb allerdings gerade nicht. Der Übergang zwischen historiographisch fingierendem und fiktionalem Erzählen ist fließend. Dabei gibt es nicht nur Grade des Fingierens (wie am Vergleich

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Dieses Fiktionalitätskonzept schließt ein Fingieren des Inhalts insgesamt gerade aus (WORSTBROCK [1985], S. 141). Es erlaubt aber, den Eigenwert der dichterischen Behandlung gegenüber der vergangenen Faktizität zu profilieren: Im ›Iwein‹-Prolog vergleicht Hartmann die vergangene ›Wirklichkeit‹ des Artus mit seiner ›präsenten‹ Geschichte und misst letzterer den größeren Wert bei. Man könnte dies so paraphrasieren, dass er die ›Wahrheit‹ der Fiktion zugunsten der ›Wahrheit‹ historischer Faktizität aufwertet (vgl. auch H AUG [1992], S. 124–128). – S. SCHMITT (2005), S. 32–35 und 62–65 hat festgestellt, dass – entgegen der vorausgehenden und der folgenden Zeit – der Artusroman auf ›historische‹ Beglaubigungsstrategien weitgehend verzichtet. Dies entspricht seiner Absetzbewegung von einem gewöhnlichen, auf ›Fakten‹ verpflichteten Erzählen. WORSTBROCK (1999).

angeblich ›historischer‹ Erzählungen von König Artus nachweisbar), sondern es sind auch Grade von Fiktionalität unterscheidbar: Der Spielraum fiktionalen Erzählens kann verschieden weit ausgedehnt sein, die Rückversicherungen in einer als ›historisch‹ verstandenen Vergangenheit verschieden zahlreich, der Rahmen der Wiedererzählung unterschiedlich eng. Fiktionalität ist skalierbar. Mag Chrétien in Bezug auf Artus selbst den historischen Wahrheitsanspruch nicht aufgeben (was etwa für Fielding in Bezug auf Tom Jones kein Problem wäre), so tritt dieser doch immer stärker in den Hintergrund. Spätere Artusromane können ihn einfach offenlassen, denn sie können auf die Erwartungen gegenüber einer sich immer weiter etablierenden Gattung bauen. Es kann sich ein – wie auch immer rudimentärer – Fiktionalitätskontrakt ausbilden. Dieser kann ganz unterschiedliche Gruppen von Sachverhalten betreffen, von denen die Faktizität des Erzählten nur eine ist.

III. Es gibt nämlich unterschiedliche Weisen und Ebenen des Fingierens. Diskutiert wird Fiktionalität im allgemeinen in Abgrenzung zu Referenz auf ›Faktizität‹, d. h. es wird das »Fiktive in Opposition zum Faktischen« bestimmt: »Fiktiv ist, was ohne Referenz in der Faktizität ist«.28 Offensichtlich ist aber dieses Konzept von Wirklichkeit zu eng. Als Beispiele dienen meist Ereignisse (etwa eine Schlacht) oder historische Persönlichkeiten (etwa Napoleon), die in historiographischen wie fiktionalen Texten vorkommen können. Hier ist es unmittelbar evident, dass die jeweilige Rahmung (also z. B. Chronik oder Roman) darüber entscheidet, wie dieses ›Faktische‹ aufzufassen ist.29

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H AUG (2003a), S. 132. Haug stellt allerdings fest, dass »in der narrativen Praxis« die Grenzen keineswegs so klar sind (S. 133). Diese »kategoriale Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen« steht auch im Zentrum sprachanalytischer Fiktionsdiskussion; so zuletzt noch einmal GABRIEL (2004), S. 232. H AUGs (2003a) zutreffende Beobachtung, dass das in eine Fiktion eingebundene Faktische »nicht die Macht« habe, »sich gegenüber den fiktiven Elementen durchzusetzen« – »Die Fakten werden, auch wenn sie authentisch sind, im fiktiven Zusammenhang letztlich fiktionalisiert.« – (S. 133), lässt sich auch umkehren: In einem historischen Bericht erscheint auch das Erfundene als ›Tatsache‹. Das Problem darf also nicht nur von der Literatur (etwa vom historischen Roman) her angegangen werden, sondern muss die vielen möglichen Formen des Erzählens zwischen Alltag und geschichtswissenschaftlicher Praxis einbeziehen. Insofern leitet auch die Rede von den »immigrant objects« in die Irre; »immigrant objects« heißen historische Sachverhalte, die in fiktionale Texte eingefügt werden (CHINCA [2003] S. 316, nach Terence Parsons): »immigrant« sind sie ja nur aus der Perspektive eines schon fertig ausgebildeten literarischen Systems; ebenso gut könnte man von ›émigrés‹ sprechen, nämlich sie als Transpositionen von Elementen

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Dabei ist die kategoriale Trennung zwischen einem literarisch-fiktionalen (auf Nicht-geschehenes bezogenen) und einem historisch-wirklichkeitsorientierten (auf ›Fakten‹) bezogenen Diskurs nur scheinbar eindeutig. Wenn sich, was ›faktisch‹ war, nach einem einfachen richtig-falsch-Schema entscheiden lässt, dann muss das den Wahrheitsgehalt der darauf bezüglichen Aussage gar nicht berühren. So gibt z. B. der ›König Rother‹ Karl den Großen – zweifellos eine historische Persönlichkeit – als Nachfahren des Titelhelden Rother aus. Das ist historisch ›falsch‹, ob es nun geglaubt wurde oder nicht, kann aber im Rahmen des Epos in einem nicht-faktualen Sinn ›wahr‹ sein, indem durch die Ansippung der Karolinger das Geblütsheil, das vom Epenhelden ausgeht, verdeutlicht und umgekehrt der große König durch ›Ansippung‹ an einen großen Epenhelden aufgewertet wird. Nun könnte es so scheinen, als sei diese Wahrheit vom fiktionalen Status des ›König Rother‹ abhängig. Aber in Texten mit historiographischem Anspruch stellt sich dasselbe Problem. Was die Quellen aus der päpstlichen oder kaiserlichen Umgebung über Canossa berichten, mag sich so abgespielt haben oder nicht, es sagt in jedem Fall etwas über politische Modellvorstellungen der Kontrahenten, genauer das (von ihnen erwünschte oder tatsächliche) Verhältnis von Papst und Kaiser aus. Auch ein die Fakten verdrehender Text ist in bestimmter Hinsicht ›wahr‹. Melville hat gezeigt, wie sogar die – aus heutiger Sicht gänzlich absurde – Geschichte von Mohammed als einem römischen Apostaten Erklärungswert für die mittelalterliche Auffassung vom Verhältnis von Christentum und Islam hat und wie sie insofern ›Wahrheit‹ beanspruchen kann.30 Bekanntlich konnten viele Fälschungen im Mittelalter (also in Täuschungsabsicht herbeigeführte Fiktionen) den faktischen Verlauf von Geschichte nur deshalb so nachhaltig beeinflussen, weil sie auf allgemein akzeptierten, als ›wahr‹ geltenden Annahmen basierten, so dass das erfundene Faktum geltende Wahrheit spiegelte.31 Wenn also der Begriff der ›historischen Realität‹ so eng, wie beschrieben, gefasst wird und Faktualität und Fiktionalität als einander ausschließende Oppositionen betrachtet werden, kann nicht einmal der Wahrheitswert solcher historischer Aussagen erfasst werden. Das ›Faktische‹ im skizzierten Sinne ist nur ein Teilbereich dessen, was wir als Wirklichkeit erfahren. Schon bei Institutionen und Gesetzen stellt sich die Frage, ob sie zureichend unter die Kategorie des Faktischen subsumierbar sind, denn sie haben einen Anteil an Imaginärem, der ihnen Wirkungs- und Geltungsmacht verleiht, und es ist nebensächlich, ob sie von Fall zu Fall nicht beachtet werden (›faktisch‹ also wirkungslos sind), denn sie sind Teil einer gedachten Ordnung der

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der wirklichen Welt in eine Welt des Als-ob verstehen; richtiger wäre es zu sagen, dass sie beiden Welten angehören können. MELVILLE (2002). – Weil meist die Frage nach der historischen Realität auf die nach der Faktizität dieses oder jenes Ereignisses eingeschränkt wird, bürdet man sich Scheinprobleme auf wie z. B. die Überlegung, ob ›Erfundenes‹ dieses Typs in Analogie zur Fiktion in literarischen Texten bearbeitet werden müsse oder nicht. Vgl. die vielen Beispiele in ›Fälschungen im Mittelalter‹ (1988/1990).

Welt. Erst recht gilt das natürlich von Phänomenen wie moralischen Normen, Glaubensüberzeugungen, Welt- und Gesellschaftsbildern, Handlungs- und Verhaltensmustern, Wünschen, Habitus, affektiven Einstellungen – oder auch Entwürfen wie dem einer höfischen Ritterwelt um König Artus. ›Faktisch‹ im explizierten Sinne sind sie nicht, doch bestimmen sie unstreitig historische Alltagswelten. Zieht man dies aber in Betracht, dann wird das gängigste Kriterium der Unterscheidung zwischen factum und fictum fragwürdig: das der Referenz. Literarische Texte nämlich (die also auf die Seite der Fiktionalität gehören) machen zwar keinen Anspruch auf die ›Faktizität‹ dessen, wovon sie sprechen, referentialisieren aber ohne jeden Zweifel auf alle möglichen Phänomene. Sie beziehen sich z. B. auf Naturgesetze, die Schöpfungsgeschichte, die menschlichen Affekte, moralische Werte, kurz: gedachte Ordnungen wirklicher Welten. Das geschieht gewiss in anderer Weise als in Alltagstexten, indem jene Phänomen Bestandteile einer möglichen Welt werden, einer Welt ›als ob‹, was ihrer Behandlung einen größeren Spielraum der Idealisierung, Zuspitzung, Veränderung, Kritik, des Widerspruchs, der Subversion, der Ironie usw. einräumt, doch lehnen sie sich – wie überhöht, radikalisiert, entstellt, verzerrt auch immer – grundsätzlich an die entsprechenden ›gedachten Ordnungen‹ der Kultur an, in der sie entstehen. White hat zurecht gefragt: »[...] gibt es tatsächlich jemanden, der ernsthaft glaubt, Mythos und literarische Fiktion bezögen sich nicht auf die wirkliche Welt, sagten nichts Wahres aus und vermittelten uns keine nützliche Erkenntnis über sie?«32 Vermutlich enthält diese Formulierung noch die latente Unterstellung, Literatur sei stets mimetisch auf ›Realität‹ bezogen, ihre Wahrheit sei identisch mit derjenigen, die sie nachahmt, und sie sei deshalb belehrend und nützlich, doch lässt sich die Aussage auch für eine nicht in diesem Sinne ›realistisch‹ verfahrende Literatur wie z. B. den höfischen Roman um 1200 aufrechterhalten: Seine Fiktionen, mögen sie sich noch so weit vom Gewöhnlichen entfernen und noch so ›wunderbare‹ Konstellationen erfinden, bleiben an das Imaginäre der zeitgenössischen Kultur gebunden (weshalb sich der Artusroman signifikant von späteren Romantypen unterscheidet). In diesem Sinne rechnen alle Fiktionalitätstheorien durchaus mit Bezügen auf etwas außerhalb des literarischen Textes. Vielleicht kann man dies mit dem altmodischen Begriff der ›Welthaltigkeit‹ andeuten:33 Wo den höfischen Romanen ihr

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WHITE (1996), S. 95. Es gehört zu den Meisterplänen literaturwissenschaftlicher Analyse, diese ›Welthaltigkeit‹ zu marginalisieren und zu beweisen, dass der literarische Text letztlich nur auf sich selbst und auf andere literarische Texte verweise und metapoetisch seine eigenen Verfahren ausstelle. Dies ist in der Tat eine Möglichkeit literarischen Sprechens nicht erst seit der Romantik (sie wird z. B. auch für auf die sog. Epigonenliteratur der späthöfischen Zeit postuliert). Eben deshalb ist diese Erkenntnis allerdings auch historisch unspezifisch. Sie setzt einen eingespielten Literaturbetrieb voraus, der solche Selbstreferentialität literarischen Spiels fördert und für ein bestimmtes Publikum überhaupt wahrnehmbar macht, und hat selbst dann noch zu berücksichtigen, dass literarische Inszenierungen immer Inszenierungen von etwas sind und sich das Interesse an ihnen auch auf dieses

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Anspruch auf Faktizität bestritten wird, da doch keineswegs ihre Relevanz für die Reflexion von Phänomenen wie Liebe, Tod, Identität und dergleichen.34 Es gibt also offenbar andere Referenzbezüge und andere Schichten, auf die referentialisiert wird, und der völlig referenzlose Text ist ein allenfalls theoretisch belangvoller Grenzfall.35 Die Referenzbezüge können sich eng an einer religiösen Doktrin, einem Moral- oder Wissenssystem, einem Standesethos, einem Gesellschaftsentwurf u. ä. ausrichten, sie können aber auch dergleichen Ordnungen variieren, mit ihnen spielen, ihre Elemente gegen andere austauschen, ihre Strukturen radikalisieren, ihre impliziten Widersprüche explizieren. Doch immer bleiben sie auf den Spielraum einer historischen Kultur bezogen.

IV. Damit ist das Verhältnis von literarischen Fiktionen zum ›Imaginären‹ angesprochen. Iser hat in die Fiktionsdebatte das Imaginäre als eine ›dritte Instanz‹ zwischen Realität und Literatur eingeführt; seinem Versuch einer anthropologischen Fundierung des Fiktionsproblems hat zuletzt Kablitz widersprochen, der Fiktionalität als spezifische Möglichkeit literarischen Sprechens bestimmte.36 Die Frage ist so komplex, dass hier nur ein paar kursorische Bemerkungen, zugespitzt auf vormoderne Literatur, möglich sind. Allgemein konstatierbar scheint mir aber, dass dem Begriff des Imaginären vorerst noch zu unterschiedliche Bedeutungen unterlegt werden und er daher weiter differenziert werden müsste. Die Kontroverse ließe sich vielleicht lösen, wenn man nachweisen könnte, dass Iser und Kablitz sich auf unterschiedliche Konzepte des Imaginären beziehen. In der Prägung durch Castoriadis umfasst das Imaginäre einen schier unabsehbaren Bereich zwischen ›gedachten Ordnungen‹ einerseits, die gesellschaftliche Institutionen stützen und die den die gesellschaftliche Praxis formenden Weltbildern zugrunde liegen, und andererseits individuellen oder kollektiven Phantasmen, wie sie u. a. in literarischen Texten Gestalt annehmen. Für letztere interessiert sich Castoriadis allerdings kaum, während sie in Isers Überlegungen im Zentrum stehen. Castoriadis gebraucht die Metapher des ›Magmas‹, um die Vielfältigkeit

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›etwas‹ richten kann: Warum soll man Prousts ›Recherche‹ nicht als Gesellschaftsroman lesen können? Vgl. u. a. etwa H AUGs (1995b) Tristan-Lektüren; vgl. K NAPP u. NIESNER (2002), S. 150: »In irgendeinem höheren oder tieferen Sinn ›wahr‹ wollen literarische Texte ja auf jeden Fall sein«. Knapp schränkt die Diskussion daher auch ›historische‹ Wahrheit ein – aber geht die in Faktizität auf? Das lässt sich an der Rezeption von Lautgedichten demonstrieren, die keineswegs absolut referenzlos wahrgenommen werden. Die Lautfolgen, die scheinbar radikal Sprachlichkeit negieren, werden sprachanalog interpretiert und ›semantisiert‹. K ABLITZ (2003); zur Diskussion jetzt: J.-D. Müller (2007), S. 9–17.

und schwierige Greifbarkeit des Imaginären anzudeuten, dessen Komplexität er in immer neuen Anläufen von verschiedenen Seiten zu erfassen versucht.37 Wenn es deshalb richtig ist, dass das gesellschaftlich Imaginäre als Ganzes nicht gefasst werden kann, so ist es doch sinnvoll, die verschiedenen ›Ströme‹ dieses Magma – um im Bild zu bleiben – voneinander abzuheben.38 Das Imaginäre ist einmal Teil jener Realität, auf die sich Literatur bezieht, auch wenn sie sich von der Verpflichtung auf Faktizität dispensiert: Welt- und Gesellschaftsbilder, Glaubensüberzeugungen, Annahmen über den Lauf der Welt, Recht und Moral, alltägliche Verhaltensmuster, Habitus usw. Das Imaginäre ist weiter Inbegriff jener Energien, aus denen Literatur ihre Impulse bezieht und denen sie Gestalt verleiht: Wünsche und Phobien, Begehren und Abwehr, Neigungen und Ängste, Ideale und Schreckbilder, Selbst- und Gesellschaftsentwürfe u. ä. Schließlich kann das Imaginäre die Summe der Möglichkeiten meinen, die literarische Fiktionen erschließen. Zwischen diesen Grundtypen gibt es viele Abstufungen und Übergänge; es sind nicht zu allen Zeiten dieselben. Das gesellschaftlich Imaginäre in dem Sinne, der bei Castoriadis im Vordergrund steht, gehört ebenso zu einer historischen Kultur wie die Geschehensfolge einer militärischen Kampagne. Es schafft Realität, indem es die Legitimität und die Macht von Institutionen begründet. Aus der Perspektive einer anderen Kultur kann es zwar als bloße Fiktion erscheinen, nicht aber zur Zeit seiner Geltung. Sein Status differiert also in Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. So beruht die Macht der Kirche im Mittelalter auf einer Fülle von Institutionen, Gesetzen, Traditionen, Schriften, Personen und Personengruppen, die alle ihre Legitimation aus der Überzeugung ableiten, dass die Kirche einzig und allein und letztgültig ›Heil‹ verwaltet. Diese Überzeugung richtet sich auf ein Imaginäres, ist aber bis in die feinsten Verästelungen des Alltags wirksam, selbst dort noch, wo man ihren Konsequenzen zu entgehen versucht. Wenn sie aus der Perspektive einer säkularisierten Gesellschaft als Fiktion erscheint, dann handelte es sich doch um eine Fiktion, die Realität schuf, da ihre Geltung nicht bestritten werden konnte. In dem Augenblick, in dem sie durchschaut wird, verliert sie nicht nur ihre Wirkung, sondern sämtliche Institutionen, denen sie Macht verlieh, sind, wie man zuerst im Zeitalter der Reformation sieht, vom Kollaps bedroht.

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CASTORIADIS (1997), vgl. zum Begriff ›Magmen‹ S. 559–566; ISER (1991), S. 360f. Die unterschiedlichen Aspekte zeigen sich in der Rezeption von Castoriadis. Iser z. B. stellt seine Analysen des gesellschaftlich Imaginären an das Ende einer Geschichte der Einbildungskraft (ISER [1991], S. 292–411). Bei ihm und bei den auf ihn sich berufenden Literaturwissenschaftlern geht es weniger um das »radikal Imaginäre als unvordenkliche Voraussetzung der Institutionalisierung von Gesellschaft« (S. 354) als um seinen proteischen, sich jeder Fixierung entziehenden Charakter. So stehen imaginäre Bedürfnisdispositionen und Formen des Begehrens im Vordergrund, die, lebensweltlich verankert, literarische Texte stimulieren und in ihnen Gestalt annehmen. Die institutionenanaloge Funktion des Imaginären, die für Castoriadis im Zentrum steht, beschäftigt Iser dagegen nur am Rand.

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Diese Spielart des Imaginären ist von gesellschaftlichen Institutionen im üblichen Sinne nur graduell zu unterscheiden, indem es nämlich mit ihnen unauflösbar verwoben ist, und deshalb spricht Castoriadis von ›Instituiertheit‹. Vergleichbar sind kulturspezifisch gültige Interpretationsmuster, die zwar der Orientierung dienen, aber nicht in derselben Weise institutionell verankert sind.39 Auf solche imaginären Ordnungen beziehen sich literarische Fiktionen durchweg mehr oder minder explizit – freilich meist unter Ausblendung ihres imaginären Charakters –, denn sie konstituieren die vorgefundene ›Realität‹ der Kultur, der die Fiktionen entstammen. Mit dem Fiktionalitätsproblem hat das grundsätzlich ebenso wenig zu tun wie die Thematisierung historischer Ereignisse oder Persönlichkeiten in literarischen Texten. Da fiktionale Texte jedoch ihre praktische Verbindlichkeit suspendieren, haben sie die Möglichkeit, solche imaginären Ordnungen ›spielend‹ zu verändern: zu überhöhen, karikieren, subvertieren, verkehren und dergleichen. Der ›Spielraum‹ für literarische Fiktionen bleibt allerdings durch sie begrenzt. Der Horizont des höfischen Romans im Mittelalter ist durch das feudale Gesellschaftssystem und die Normen einer sich als Elite verstehenden und auf christliche Werte verpflichteten Kriegergesellschaft umschrieben.40 Deshalb werden bestimmte Themen favorisiert (›Handeln‹ erscheint z. B. durchweg als ›ritterliches Handeln‹), andere, in späterer Romanliteratur verbreitete, ausgeschlossen (etwa ökonomisches Handeln, Künstlerproblematik). Wohl können die nicht überschreitbaren kulturellen Vorgaben Punkt für Punkt variiert werden: Reichweite und Rahmen dieses ritterlichen Handelns (âventiure), Heiratsregeln, Formen erotischer Beziehungen, Bestimmung von Rang und Ehre, Werthierarchien usw., trotzdem bleiben sie insgesamt Bezugsrahmen möglicher Fiktionen. Im heiligen Gral kann eine Art Rittersakrament erfunden werden, in dem ritterliche und religiöse Bestimmung konvergieren. Ein solcher Entwurf ist nicht beliebig, sondern

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Die Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft in drei Stände z. B. war gewiss kein zureichendes Modell der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse damals, aber es organisiert das Selbstbild dieser Gesellschaft und wirkt insofern auch auf ihre Verfassung und ihre Rechtsnormen, prägt sich in Heiratsallianzen und Verhaltensstandards aus. Duby hat die Dreiständeordnung »l’imaginaire du féodalisme« genannt (ins Deutsche falsch mit ›Weltbild des Feudalismus‹ übersetzt): DUBY (1981a); vgl. J.-D. MÜLLER (2004b). Zu solchen Vorgaben können auch geglaubte Sagen gehören. So würde ich die Riesen und Zwerge der aventiurenhaften Dietrichepik primär nicht als fiktionale Elemente betrachten, sondern als Elemente einer geglaubten Realität. Das schließt nicht aus, dass sie in literarischen Texten fiktionalisiert werden können. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Versuche, den Konstellationen in aventiurehafter Dietrich-Epik einen integumentalen Sinn abzugewinnen (Zwerg Laurin als allegorische Personifikation des Tiroler Bergbaus) zeigen allerdings, dass der ›Laurin‹ als verschlüsselter nicht-fiktionaler Text aufgefasst wurde: Die Sage beansprucht Glaubwürdigkeit, wird deshalb kritisiert und muss folglich auf einer anderen – allegorischen – Sinnebene als übereinstimmend mit wirklich nachweisbaren Sachverhalten gerechtfertigt werden.

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von spezifischen kulturellen Vorgaben abhängig, von der Notwendigkeit nämlich, eine feudale Kriegerethik auf das religiöse Zentrum eines christlichen Ordo zu beziehen: Ein Gralsroman, der nicht in irgendeiner Weise ritterliches ›Heil‹ auf andere Weise als durch ritterlichen Kampf zu bestimmen sucht, ist im Mittelalter nicht denkbar.41 Dabei unterscheidet sich selbstverständlich ein Gralsroman als fiktionaler Text von diskursiven Versuchen, religiöse und ständische Ordnung aufeinander abzustimmen, indem er, was theoretisch und praktisch in Spannung zueinander steht, narrativ prozessieren und unter fiktiven, ›unwahrscheinlichen‹ Bedingungen miteinander versöhnen kann. Das gesellschaftlich Imaginäre eröffnet also unter den Bedingungen fiktionaler Rede weitere Spielräume für andersartige imaginäre Besetzungen. Impulse dazu können sich aus den Vorgaben der Realität, Möglichkeiten und Zwängen, speisen, die die Fiktionen vorfinden, von denen sie jedoch freigesetzt sind. Literarische Fiktionen sind insoweit in Gesellschaft als imaginäre Institution eingebettet. Die Weite des Spielraums hängt davon ab, inwieweit literarisches Fingieren als eine besondere Weise, ›Wahres zu sagen‹, institutionalisiert ist. Er ist deshalb im Mittelalter in verschiedenen Gattungen unterschiedlich weit (also etwa im Vergleich von ›historischer‹ Heldenepik und höfischem Roman), differiert aber vor allem zwischen vormoderner und moderner Kultur, in der Literatur als ein relativ selbständiges System mit einer unabsehbaren Vielfalt vorstellbarer Alternativen ausdifferenziert ist. Kehrseite des geringeren Grades an wechselseitiger Ausdifferenzierung ist, dass in vormoderner Kultur die Grenze zwischen literarischen und außerliterarischen Fiktionen durchlässiger scheint. Es gibt Typen des außerliterarischen Imaginären, deren Inszenierungscharakter sie bereits literarischen Fiktionen annähern. Ein solches Imaginäres ist etwa das ›Heil‹ des Königs, das sich u. a. in Wunderheilungen durch die Berührung seines Körpers auswirkt. Die Heilung von Skrofeln setzt den Glauben an das Heil voraus und verschwindet mit dem Zweifel daran. Das Heil kann vorher nur im konkreten Einzelfall durch die Praxis dementiert werden (das Heil des Königs wird durch eine verlorene Schlacht zerstört), doch wird der Glaube an seine Wirksamkeit dadurch nicht grundsätzlich in Frage gestellt; er trägt im Gegenteil normalerweise zur Stabilisierung dieser Praxis bei, indem er sie sinnhaft deutet (die Monarchie mit einem ›Heiland‹ an der Spitze wird als beste aller Staatsformen angesehen). Die Sakralität des Königs ist nun aber nicht nur die imaginäre Basis eines auf Gottesgnadentum beruhenden politischen Systems, sondern bestimmt auch, was an ihrem Träger wahrgenommen werden kann: Sie formt die Gestalt des Königs, verlangt von ihm ein bestimmtes Auftreten, bestimmte Akte, bestimmte Gesten, zwingt ihn, sich in die Rituale des Herrscheradventus einzufügen, in herrscherlicher Milde Heil zu spenden und dergleichen. Handeln

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Solche zeittypischen Vorgaben für Erzählmuster und narrative Lösungsvorschläge habe ich in meinem – durch ein Stipendium des Historischen Kollegs geförderten – Buch ›Höfische Kompromisse‹ (J.-D. MÜLLER [2007]) untersucht.

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und Erscheinung des Herrschers werden nach imaginären Mustern modelliert. Solche Modellierung ist gewiss vom Als-ob bewusster Fiktion unterschieden, doch impliziert sie ein Rollenprogramm, das der Träger der Herrschaft zu übernehmen hat und verleiht der politischen Praxis einen symbolischen Überschuss, der zur kompletten Inszenierung ausgebaut werden kann und – etwa im Zeremonialwesen der Frühen Neuzeit – ausgebaut wird.42 Dabei ist zu beobachten, dass theatralische Inszenierungen des Königsheils mit dem Schwinden des Glaubens an die Sakralität des Herrschers immer aufwendiger werden und sich in immer umständlicheren Zeremonien entfalten, bevor sie zusammenbrechen, dann nämlich, wenn sie als ›bloßes Theater‹ wahrgenommen werden. Rituale werden zunehmend theatralisiert, theatralische Darstellungen fiktionalisiert. Theatralisiertes Ritual und literarische Fiktion wirken in dieselbe Richtung: Der als Sonnengott imaginierte Fürst zeigt sich der Menge als Roi soleil. Ähnliche Übergangsphänomene sind imaginäre Selbst- und Fremdbilder, nach denen sich eine Gesellschaft oder ein Individuum stilisiert, inszeniert, entwirft. Ein solch kollektives Imaginäres ist z. B. die höfische Gesellschaft und ihr Ethos. Bürgerliche Kritik hat ihr seit dem 18. Jahrhundert immer wieder die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit vorgeworfen. Aber das ändert nichts daran, dass seit dem 12. Jahrhundert ein Modell höfischer Gesellschaft entsteht, das das Idealbild des Hofmanns prägt, das höfisches Verhalten bei Hof zu regulieren beansprucht und höfischen Erziehungskonzepten zugrunde liegt. Dabei spielt eine untergeordnete Rolle, inwieweit es verwirklicht wird. Seinen Geltungsanspruch behauptet es auch, wo es negiert wird: Die höfische Anweisungsliteratur (bzw. ihre epischen Pendants) wird von Anfang an von Hofkritik begleitet, die auf dieselben oder ähnliche Normen verpflichtet ist und einklagt, was jene fordert. Ob etwa die höfische Liebe je ernsthaft gelebt worden ist, ist nebensächlich, denn sie wird unbestreitbar als edlere Form des Liebens entworfen. Als eine imaginäre Norm ist sie damit in der Welt, prägt das Bild des vorbildlichen Adligen (und sei es nur in der Perspektive einiger Literaten) und dient als Vorgabe der Modellierung individuellen Verhaltens (wie sehr sich der einzelne dann dieser Vorgabe entziehen mag); die literarische Kunstübung ist in eine höfische Lebenskunst eingelassen. Entwürfe des idealen Hofmanns mögen nach literarischen Mustern stilisiert sein: sie zielen auf Verwirklichung, auf Nachahmung. Die Modellierung nach literarischen Fiktionen kann auch wahnhafte Züge annehmen wie im ›Don Quijote‹. Don Quijote ist eine Romanfigur, die sich – in der Fiktion – nach anderen Romanfiguren, genauer nach dem in ihnen repräsentierten Bild der Realität, modelliert. Der Held eines fiktionalen Textes interpretiert die Alltagswelt nach dem Modell fiktionaler Textwelten. Für seine Umgebung ist der fiktionale Status literarischer Texte bereits selbstverständlich (wo die Erwartung

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Dies haben Althoffs Forschungen zu den Ritualen von Herrschaftsübung gezeigt: Bei ihnen bleibt in der Schwebe, was ›echt‹, was bloß nachträgliche Inszenierung vorweg festgelegter politischer Absprachen ist (A LTHOFF [1997]).

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an die in Texten thematisierte Realität nicht noch – wie im Urteil des Sancho Panza – der mittelalterlichen Vorstellungen von Faktizität nahesteht; dann nämlich erscheint Don Quijotes Wahrnehmung als ›Lüge‹ oder ›Täuschung‹). Der ›Ritter von der traurigen Gestalt‹ verkennt das und entwirft sich nach ihren Mustern eine eigene ›Parallelwelt‹ samt korrespondierenden kausalen Erklärungsansätzen. Dadurch wird er seinerseits wieder zum sozialen Typus. Cervantes potenziert das Problem aber, indem im zweiten Teil des Romans Don Quijotes Mitspieler die Alltagswelt nach dessen Wahnvorstellungen inszenieren und so sein ›Subuniversum‹ scheinbar bestätigen. Für sie ist die Ritterwelt zweifellos eine fiktionale, aber sie ist nicht Literatur, sondern eine nach literarischen Mustern geformte, doch als ›wirklich‹ erfahrene Spielwelt.43 Das kollektive Imaginäre einer Rittergesellschaft, vermittelt durch literarische Fiktionen, konkretisiert sich zu einer idiosynkratischen Parallelwelt, die ihrerseits wieder Realität, nämlich eine nach literarischen Mustern arrangierte ›gewöhnliche‹ Welt hervorbringt. Die drei skizzierten Beispiele illustrieren, wie es Übergangszonen zwischen alltagsweltlichen und literarischen Fiktionen gibt, die in beiden Richtungen beschritten werden können, wie diese Übergänge aber zugleich Stufen im Umgang mit Fiktionalität repräsentieren. Im ersten Fall werden die vorgegebenen Konturen der Rolle des Königs ausgefüllt mit Bildern, die sich aus seiner imaginären Stellung ableiten und seine Autorität zur Anschauung bringen; geschieht das nur noch als theatrale Inszenierung, dann bricht, wie die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern zeigt, die imaginäre Geltung zusammen; bis dahin verkörpert der König, was ihm imaginär zugeschrieben wird. Das Imaginäre eröffnet keine Alternative, sondern prägt die Erscheinung des Gegebenen. Im zweiten Beispiel stilisiert man sich nach einem normativen Leitbild, in dem Möglichkeiten eines ›edleren‹ Verhaltens entworfen werden; diese Möglichkeiten faszinieren als Alternative zur gewöhnlichen Welt. Das Leitbild existiert unabhängig von seiner tatsächlichen Realisierung. Literarische Texte sind wesentlich an seiner Ausformung beteiligt, doch erstreckt sich sein Geltungsanspruch nicht nur auf die Literatur; als Möglichkeit eines anderen Lebens bestimmt es das Selbstbild einer höfischen Gesellschaft und kann deshalb Maßstab für positive oder negative Urteile über Verhalten sein. Im dritten gelingt der Selbstentwurf nurmehr wahnhaft durch einen Helden, der sich weigert, den Fiktionalitätspakt zur Kenntnis zu nehmen, der hier schon grundsätzlich eingefordert wird. Das Imaginäre bestimmt hier nur noch ein privates Universum, das irgendwann zusammenbrechen muss. Trotzdem, auch für die anderen ist die mittelalterliche und noch frühneuzeitliche Verbindung zwischen literarischer Fiktionalität und der Fiktion eines ›anderen Lebens‹ noch nicht vollständig gekappt; sie kann im Spiel wiederhergestellt werden.44

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Ich folge hier Überlegungen von SCHÜTZ (1972). Zu beider Verbindung in vormoderner Literatur (vgl. oben S. 65–81 sowie JAN-DIRK MÜLLER (1999). Evident wird dieser Übergang zwischen literarischer Fiktion und fiktionalem Spiel in den Inszenierungen der spätmittelalterlichen ›Ritterromantik‹. Das

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Zwar ist, wie Kablitz ausgeführt hat, die Literatur der bevorzugte Ort des ›Möglichkeitssinns‹, der imaginäre Rollen und Wunschbilder des Begehrens als Alternative zu den vorhandenen Rollenbildern und Realisierungschancen entwirft,45 doch ist dieser ›Möglichkeitssinn‹ nicht auf die Literatur beschränkt. Das Imaginäre umfasst fiktive Rollenentwürfe, die in literarischen Texten ausgearbeitet werden können, aber keineswegs nur dort ausgearbeitet werden müssen. Soweit sie sich in bewusster Distanz zum Vorgegebenen bewegen, kann man sie gleichfalls als ›fiktional‹ auffassen, denn sie behaupten ihren Geltungsanspruch, auch wenn man sie als bloße Fiktion nachweist. Was in diesem Sinne für kollektive Phantasmen wie z. B. die höfische Liebe gilt, gilt natürlich a forteriori für individuelle Phantasmen und Lebensentwürfe und ihre Verdichtung innerhalb wie außerhalb fiktionaler Texte.

V. Das Verhältnis literarischer Fiktionen zum außerliterarisch Imaginären ist damit nur als gestuftes verstehbar. Die Gattungen der mittelalterlichen Literatur eröffnen unterschiedlich weite Spielräume für das Fingieren des Möglichen, und diese Spielräume verlängern sich in die höfische Adelskultur hinein. Das Phantasieren imaginärer Möglichkeiten außerhalb der Literatur ist mit literarischen Fiktionen eng verwandt. Daraus, dass an der Ausformung eines Konzepts höfischer Liebe die Literatur maßgeblich beteiligt ist und einige seiner Erscheinungsformen überwiegend als literarische aufzufassen sind, folgt jedoch keineswegs, dass diese höfische Liebe ausschließlich als ein literarisches Phänomen zu verstehen wäre. Längst ist Konsens, dass die Aussage ich minne im hohen Minnesang nicht historisch-

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Problem der Differenz zwischen der Literatur als Kunst und der Kunst schönen Lebens wird erst am Ende des höfischen Zeitalters reflektiert, so in Goethes ›Torquato Tasso‹. K ABLITZ (2003), S. 269–272. Ort der Generierung von Möglichkeiten ist die Sprache; sie hält ein »Repräsentationspotential« bereit, »das alle gegebene Wirklichkeit stets überschießt und überschießen muß«. Hier kommt die »literarische Fiktion« ins Spiel: »Die Fiktion aktiviert jene Überschüssigkeit des Möglichen gegenüber dem Wirklichen, die in der Sprache um ihrer primären Aufgabenstellung willen angelegt ist, und diese Aufgabe besteht vornehmlich darin, Aussagen über die Wirklichkeit zu machen«. Kablitz schließt daraus: »Fiktionale Rede bedarf zu ihrer Begründung deshalb nicht eines außersprachlichen Grundes, etwa eines Imaginären, das letztlich nur gegen die Sprache in Stellung gebracht werden kann, auf die es zu seiner Manifestation zwar nicht verzichten kann, die es aber zugleich unter seine eigenen Prinzipien zwingt.« (S. 269) Der Relativsatz spiegelt Kablitz’ spezifische Auffassung des Imaginären. Doch könnte man fragen, ob das Imaginäre so gedacht werden muss, und weiter, was denn die Impulse sind, die den ›Möglichkeitssinn‹ der Sprache (und erst recht denjenigen fiktionaler Sprachverwendung) aktivieren; diese können durchaus (müssen freilich nicht) vor- und außersprachlicher Natur sein.

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biographisch gemeint ist. Längst weiß man auch, dass Minnelieder nicht als Elemente eines real sich vollziehenden Frauendienstes zu lesen sind, sondern dass sie diesen Frauendienst allererst konstituieren. Das ändert freilich nichts daran, dass im Minnesang minne als Teil einer weiter ausgreifenden gesellschaftlichen Praxis, nämlich der Interaktion bei Hof, entworfen wird und dass die Lieder auf eine solche Praxis, d. h. etwas, das außerhalb ihrer selbst liegt, verweisen.46 Ihr praktischer Verbindlichkeitsanspruch wird dadurch bestätigt, dass immer wieder Adlige sich nach den in Minnesang oder höfischem Roman entworfenen literarischen Mustern stilisierten oder stilisiert wurden, ob nach lyrischen, wie Ulrich von Liechtenstein im ›Frauendienst‹,47 oder epischen wie Guillaume Maréchal.48 Ob diese Stilisierung gelingt oder scheitert, ob sie durchzuhalten ist und durchgehalten wurde, ob biographische Daten sie stützen oder ihr widersprechen, ist weniger wichtig als der Umstand, dass sie angestrebt wird. Der Minnesang fingiert eine Praxis, in die er eingelassen ist, und er positioniert sich in dieser Praxis. Die Lieder geben vor, auf eine anschaubare Realität zu verweisen. Die Selbstinszenierung als Frauendiener oder Aventiureritter ist insofern nur graduell, nicht aber fundamental von literarischer Inszenierung, dem fiktionalen Entwurf eines entsprechend verlaufenden Ritterlebens, unterschieden. Wie literarischen Texten eignet solchem self-fashioning 49 ein Moment des Spiels, des

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Zur Diskussion vgl. den Sammelband von H AUSMANN (2004) (darin vor allem die Beiträge von H AFERLAND, H AUSMANN, HÜBNER und K ELLNER). J.-D. MÜLLER (1984a). Vgl. DUBY (1986); wie diese Stilisierung auf politische Konstellationen nach Guillaumes Tod ausgerichtet ist, zeigt PETERS (1993). Die Histoire ist nach literarischen Modellen, insbesondere dem Bild der iuvenes, entworfen (S. 197) und darf gewiss nicht buchstäblich als Quelle für den Verlauf der Biographie Guillaumes gelesen werden, doch enthält sie das Bild, das von ihm verbreitet werden sollte. Wenn sie, wie Peters nachgewiesen hat, wenig zuverlässig und aussagekräftig als Dokument der Familiengeschichte ist und sogar konstitutive Momente adligen lignage-Denkens ausblendet (DIES. [1999b], S. 225–235), dann ist sie umso mehr Zeugnis einer Vorstellung, wie eine solche Geschichte auszusehen hätte: Die Lebensbeschreibung wird »in die spielerische Welt ritterlicher Turniertapferkeit, kämpferischen Einsatzes und persönlicher Loyalität der höfischen Romane und Chansons de geste« (S. 234) übersetzt; es entsteht eine »spezifisch auf höfisch-ritterliche Stilisierung ausgerichtete[] Familienhistoriographie« (S. 235). Dieser Typus des self-fashioning ist im Spätmittelalter – bis hinein in Maximilians Gedechtnus-Werk – weit verbreitet (vgl. J.-D. MÜLLER [1982]). Greenblatts Begriff habe ich für eine Pragmatik des Minnesangs fruchtbar zu machen versucht; vgl. oben S. 78. Ich habe vorgeschlagen, für die unterschiedlichen Stufen des Fingierens die Begriffe Fiktion I und Fiktion II zu verwenden. Auch nicht-literarische Inszenierungen (Fiktion I) – z. B. diejenige als exemplarisch Liebender – können, anders als andere alltagsweltliche Fiktionen, ohne Geltungsverlust ihren Fiktionscharakter durchaus ausstellen und den Charakter einer theatralischen Inszenierung annehmen, wie die spätmittelalterliche Ritterromantik – etwa das Turnierspiel eines Jacques de Lalaing – bezeugt (vgl. MELVILLE [1996]).

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Als-ob. Ulrich von Liechtenstein hat in seinem ›Frauendienst‹ den spielerischen Charakter dieses Als-ob reflektiert und verschiedene Weisen des Umgangs mit ihm voneinander abgehoben. Er erzählt sein Leben als unaufhörliches Werben um hôhe minne, doch potenziert er die Selbststilisierung durch eine Maskerade, indem er den Minneritter Uolrich seiner minne zuliebe in der Maske der Venus und des Artus auftreten lässt; self-fashioning zum Minneritter mündet im Maskenspiel, und beides wird wieder Gegenstand eines literarischen Textes. Die Reaktion auf die Maskerade, die Ulrich von seinen Mitspielern und Standesgenossen erzählt, ist nicht Reaktion auf eine literarische Fiktion, sondern auf ein fiktionales Spiel. Doch wie bei literarischen Fiktionen hebt das Wissen um den Fiktionscharakter (man weiß: der steirische Ministeriale als Held seines Minneromans ist nicht Venus und keine Frau, und er ist nicht Artus und nicht der Lehnsherr seines Herzogs) keineswegs die Verbindlichkeit und den Wahrheitsanspruch der Maskeraden auf, in denen es um rechte minne und um rechte Ritterschaft geht. Wenn Uolrich so tut ›als ob‹, dann weiß die Hofgesellschaft, vor der er spielt, um dieses Als-ob. Zeichen dafür ist ihr Lachen.50 Gesetzt, die Maskeraden im ›Frauendienst‹ seien erfunden, hätten nie stattgefunden, und es gäbe sie nur im literarischen Werk, so würden selbst dann im ›Frauendienst‹ durch den Wechsel von Minneliedern und mære zwei Typen von Fiktionalität miteinander kombiniert, die Selbststilisierung nach einem höfischen Leitbild und das höfische Spiel nach einem literarischen Muster.51 Hier erweisen sich höfische Literatur und höfische Praxis als gegeneinander durchlässig; beide sind fiktional, sind imaginäre Überhöhung der Realität. Es wäre zu fragen, ob im Mittelalter Fiktionalität überhaupt ablösbar vom nichtliterarischen Imaginären, abgelöst vom ›Ernst‹ geltender wie vom ›Spiel‹ alternativer Ordnungen zu denken ist. Mit dem Beispiel wurde stillschweigend die Begrenzung der Fiktionalitätsdebatte auf narrative Texte überschritten. Die Konzentration auf elaborierte literarische und elaborierte historiographische Erzähltexte verdeckt den Blick auf die vielfältigen Manifestationen nicht-literarischen (Alltags-) Erzählens wie nicht-narrativen Fingierens. Beides setzt selbstverständlich Fiktionen von ›Welt‹ voraus, bei-

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J.-D. MÜLLER (1984a), S. 46–55. Der Wechsel von mære und Liedern spiegelt das Spannungsverhältnis zwischen zwei Typen stilisierender Überhöhung. Natürlich enthält, wie immer wieder nachgewiesen, das mære alles andere als eine Biographie Ulrichs; im Gegenteil bleiben so gut wie alle entscheidenden Ereignisse und Handlungen im Leben des steirischen Ministerialen ausgeschlossen. Das hindert aber nicht, dass das mære ein Lebensmodell entwirft, in das – etwa durch die Namen der adligen Kombattanten – Daten der Alltagswelt eingespeist, doch zu einer ›schöneren‹, eben höfischen Handlungsfolge neu angeordnet werden. Das gleiche gilt für Lebensbeschreibungen wie die des Jacques de Lalaing; diese enthält nichts von dessen tatsächlicher politischer Tätigkeit für die burgundischen Herzöge und erzählt nur seine Karriere als vollkommenster aller Ritter (MELVILLE [1996]). Jacques‹ Turnier verlängert die Fiktion (mag sie auch literarischen Ursprungs sein) in die Lebenswirklichkeit eines exemplarischen burgundischen Adligen.

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des kann – ähnlich wie literarische Fiktionen – den Referenzbezug des Erzählens suspendieren oder jedenfalls stark abschwächen. Auch bei Alltagserzählung will man manchmal gar nicht so genau wissen, ob alles buchstäblich stimmt, vorausgesetzt, die Geschichte ist ›gut erzählt‹. Und nicht-narratives Fingieren bewegt sich in einem Feld zwischen theatralem und sozialem Rollenspiel. Indem diese Typen alltägliches Sprechens ausgeblendet werden, ist die moderne Ausdifferenzierung eines literarischen Diskurses immer schon vorausgesetzt. Dagegen ist die Einbettung literarischen Fingierens in andere spielerische Formen des Fingierens wie in gesellschaftliche Praxis für Fiktionalität im Mittelalter charakteristisch. Das ist die Kehrseite des Umstands, dass literarische Fiktionalität, da sie sich nicht auf ein ausdifferenziertes System eines literarischen Sprechens ›unter Vorbehalt‹ stützen kann und die Verbindung zu referentialisierendem Sprechen nie vollständig kappt. Neben Minnesang und höfischem Minnedienst52 lässt sich unter anderem Aspekt das Geistliche Spiel als Beispiel nennen.53 Es gestaltet ein ›wahres‹ Geschehen – Passion und Auferstehung Christi z. B. – als Spielhandlung aus, die das Bewusstsein der Wahrheit des Dargestellten ebenso wenig wie das der Fiktivität der Darbietung, des Als-ob, ausschaltet. Selbstverständlich ist dieses Spiel für den frommen Zuschauer ›ernst‹, d. h. es lädt ihn zur compassio, zur emotionalen Identifikation ein und betrifft ihn in seinem Verhältnis zur Heilsbotschaft. Das Spiel vereinigt Spieler und Zuschauer – die ganze Communitas – zur religiösen Gemeinschaft, ist also an die geltende religiöse Ordnung anschließbar und deshalb nicht ›fiktional‹ wie ein modernes Theaterstück. Aber trotzdem würde niemand das Geschehen, das vor seinen Augen abrollt, als ›reales‹ auffassen, also z. B. den

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J.-D. MÜLLER (2004a). Um es zu wiederholen: Hier werden nicht längst widerlegte kulturhistorische Spekulationen wiederbelebt (Minnedienst erwachse aus Pagendienst u. ä.), noch wird vorausgesetzt, dass Minnesang oder höfische Minneromane als Quellen einer höfischen Praxis zu lesen sind. Erinnert wird nur daran, dass die literarischen Modelle als praktisch verbindlich angesehen und bis ins Spätmittelalter hinein nachgeahmt wurden. Das sollte verbieten, sie als ›nur Literatur‹ aufzufassen. Wie will man eigentlich die ›Geschichten‹, die Minnelieder voraussetzen, die sie manchmal nachvollziehen und die ihnen manchmal nur untergeschoben werden, trennscharf von Geschichten unglücklicher oder entsagungsvoller Minne in Erzähltexten unterscheiden, wie auch von Berichten, die sich als ›historisch‹ geben? Die vidas, die zu Liedern oder Liedgruppen erfunden wurden, bezeugen gewiss nicht die Faktizität der jeweiligen Liedinhalte, wohl jedoch die innere Affinität der beiden literarischen Typen, die auf Überführung des einen in den anderen zielt. Im Verhältnis zwischen Neidhart, den Neidhartiana, den Neidhartspielen und dem Schwankroman von Neidhart Fuchs kann man diesen Übergang literaturgeschichtlich nachvollziehen. Für das Drama hat FRICKE (1982) gefordert, Fiktionalität anders als bei Erzähltexten zu bestimmen. Das gilt erst recht für die vormodernen Spiele. Gegenüber dem Drama seit der Renaissance ist das Geistliche Spiel noch eng mit Liturgie und religiöser Feier verbunden (vgl. die drei folgenden Beiträge).

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Spieler des Heilands mit diesem selbst verwechseln.54 Wir haben hier eine ähnliche Struktur wie bei den höfischen Erzählungen: Am historischen Wahrheitsgehalt des Ganzen wie an seiner Verbindlichkeit besteht kein Zweifel, doch wird der Rahmen mit adinventiones aufgefüllt und das Ergebnis als Als-ob dargeboten. Fiktionalität im Mittelalter schließt den affirmativen Bezug auf geltende Ordnungen nicht aus: sie setzt im Rahmen solcher Ordnungen an. Der Spiel-Raum, den der Rahmen lässt, ist unterschiedlich groß, in Abhängigkeit von Themen, Gattungen, Diskursen. Im religiösen Kontext gelten andere Beschränkungen als z. B. beim Erfinden einer wunderbaren Aventiurewelt. Spielerische Fiktionen – innerhalb oder außerhalb literarischer Texte und in literarischen Texten unterschiedlichen Typs – können sich mehr oder weniger weit von den pragmatischen Bedingungen der Welt, auf die sie bezogen sind, entfernen, ganz lösen dürfen sie sich, um den Preis ihres Wahrheitsanspruches, nicht. Aus all dem geht hervor, dass Fiktionalität zu skalieren ist. Entscheidend ist das Moment des Ludischen. Ein Spiel ist aus der Realität ausgegrenzt, aber in unterschiedlichem Grade, und es nimmt in unterschiedlichem Grade Elemente der Realität in sich auf. Es kann mit pragmatischen Absichten verknüpft sein oder auch nicht; es kann bestimmte Elemente der Realität als seine Voraussetzung setzen und andere variieren. Der Umstand, dass bestimmte Elemente an mittelalterlichen Fiktionen als ›faktisch wahr‹ betrachtet werden, obwohl sie es im modernen Sinne nicht sind, schließt nicht aus, dass sie in einem historisch spezifischen Sinne explizit oder implizit als ›fiktional‹ verstanden werden.

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Der Fiktionalitätsstatus der Spiele bleibt entsprechend prekär, was sich in vielen Inszenierungssignalen ausdrückt, die den Spielcharakter mit dem sakralen Geltungsanspruch zu versöhnen suchen. Erst in der Reformationssatire wird dieser zweideutige Status präzise benannt und die Verwechslung des einen mit dem anderen bloßgestellt, mit der Folge, dass die Repräsentation des Heilsgeschehens im Reformationsdrama alle überschüssigen ludischen Elemente abstößt.

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2. LITERATUR – R ITUAL – MYTHOS

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Kultur wissenschaft historisch Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter

I. Dass die Geschichts- und Kunst-, die Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften sich hin auf eine allgemeine Kulturwissenschaft öffnen müssen, scheint bildungspolitisch beschlossene Sache und wird auch wissenschaftsintern zunehmend akzeptiert. Was weiterhin umstritten ist, sind die Konsequenzen für die herkömmlichen Disziplinen. Dabei handelt es sich um einen keineswegs nebensächlichen Streit zwischen Gralshütern disziplinärer Traditionen und mutigen Neuerern, sondern um grundlegende Orientierungen der künftigen Kulturwissenschaft, die schon terminologisch nicht selten mit Cultural Studies verwechselt wird, einer alle Felder der alten humanities streifenden und für keines wirklich zuständigen Kultur- und Sozialkunde ›light‹. Ich will die Frage, unter welchen Bedingungen auch solche Cultural Studies sinnvoll sind, hier nicht diskutieren, sondern nur festhalten, dass sie mit dem im folgenden an einem Beispiel vorgestellten Programm einer historischen Kulturwissenschaft nur einige Elemente basa ler Konzepte gemeinsam haben, mit einer Kultur wissenschaft nämlich, die, wie der Anglist Wolfgang Iser bei der Eröffnung des Großbritannien-Zentrums in Berlin ausführte, die Standards der Einzelwissenschaften in theoretischer Fundierung, Methode, Terminologie und Konzepten nicht unterbieten darf, sondern die in deren Horizont gewonnenen Resultate durch Ausweitung der Perspektive auf Nachbardisziplinen und das Befragen anderer disziplinengebundener Lösungen überschreiten muss.1 Eine Literaturwissenschaft, die ihre Gegenstände als Phänomene eines übergreifenden kulturellen Zusammenhangs thematisiert, ist insofern anspruchsvoller als die herkömmliche Disziplin (was nicht bedeutet, dass sie diesen Anspruch wirklich immer einlöst). Gezwungen, ihren gewöhnlichen Gegenstandsbereich zu überschreiten, ist die Literatur wissenschaft vor allem dort, wo die Ränder dieses Gegenstandsbereichs ausfransen und der Status dieses Gegenstandes selbst unsicher ist. Dies gilt ganz über wiegend für die mittelalterliche Literatur. Der Blick auf eine Epoche, in der die Ausdifferenzierung eines Subsystems ›Literatur‹ sich allenfalls vorbereitet, schließt eine Isolierung der Literatur von ihrem kulturellen Kontext von vorneherein aus; die Literatur ist eng mit anderen kulturellen Phänomenen wie Kult, Ritual, politische Repräsentation, Fest verflochten. Diese Verflechtung ist scharf zu trennen

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ISER (1995).

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von den provokanten Grenzüberschreitungen zwischen ›Kunst‹ und ›Nicht-Kunst‹ in den künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Der Platz des Corpus von Texten, das wir heute als ›Literatur‹ identifizieren, innerhalb des kulturellen Zusammenhangs ist eine historische Variable, die für das Mittelalter anders bestimmt werden muss als für die klassisch-romantische Kunstperiode und für diese anders als für die Moderne; Grenzen müssen, so es sie überhaupt gibt, in jeder Epoche neu ausgehandelt werden, und deshalb bietet sich eine historische Betrachtensweise an, um vermeintliche Selbstverständlichkeiten in unserem Verständnis von Kultur aufzulösen. Ich möchte dies mittels einer Untersuchung des Verhältnisses von Ritual und Geistlichem Spiel zeigen. Das Geistliche Spiel2 ist, vor allem in Deutschland, eine allenfalls noch wenigen Spezia listen bekannte, überdies als langweilig verschrieene Gattung des Spätmittelalters, die man zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Dramas rechnet. In dieser Perspektive untersuchte man an ihm die Ausbildung von Elementen eines späteren literarischen Typus, konzentrierte sich auf Szenenmuster, die sich vom religiösen Zweck der Spiele zu lösen scheinen, wie z.B. die Salbenkrämerszenen des Osterspiels, und arbeitete Strukturen und Verlaufsschemata heraus, die später in säkularisierter Form wiederkehren. Auf der anderen Seite wurden, in Kritik einer solchen auf den Betrachter zulaufenden Perspektive, die Spiele im Kontext spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis gewürdigt, als im engeren Sinne zwar nicht mehr kultische, doch dem christlichen Kult nahestehende Veranstaltungen, die sich zwar theatraler Elemente bedienen, doch nicht als Theater im späteren Sinne zu verstehen sind, deren Ziele und Funktionen sich nämlich mit denen paralleler religiöser Übungen im Spätmittelalter, zumal im Umkreis von Laienfrömmigkeit, decken.3 Indem die Spiele Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte in Szene setzen (neben Mirakeln, Legenden, den Geschichten von Heiligen) stehen sie also in einem prekären Verhältnis zum kirchlichen Ritus und zu den diesem angelagerten Ritualen.4 Schon dies prädestiniert sie für eine kulturwissenschaftliche Unter-

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Der vorliegende Beitrag ergänzt meine Überlegungen in J.-D. MÜLLER (1998c) in diesem Band; dort geht es hauptsächlich um die Freisetzung von literarischer Imagination in den Spielen, hier um Residuen des religiösen Rituals. Der Forschungsstand ist zusammengefasst bei LINKE (1989), S. 142–233. Ritus und Ritual sind eng verwandt. Peter von Moos schlägt zu ihrer Unterscheidung vor: »Unter Ritualen sind die Geltungsquellen eines durch gemeinsame Wiederholung stabilisierten Alltagsverhaltens zu verstehen, deren Code sich durch Erklärungsunbedürftigkeit auszeichnet, weil sie Normalität beanspruchen. (›So macht man’s eben, weil man es immer so gemacht hat‹.) [...] Riten unterscheiden sich von Ritualen durch die Explizitheit und Außeralltäglichkeit ihres Codes: Es sind höher verdichtete, theoretisierbare, durch Praktizierungsvorschläge festgelegte Handlungsabläufe, die, vom religiösen in den weltlich-politischen Bereich übertragen, als Zeremoniell erscheinen.« (VON MOOS [2001], S. XIIIf.). Ich modifiziere diesen Vorschlag, indem ich ›Ritus‹ dem Kern des christlichen Kults (der Liturgie) vorbehalte und mit ›Ritual‹ die diesem angelagerten,

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suchung. Der Ritualbegriff hat nämlich in einer zur Kultur wissenschaft mutierenden Literaturgeschichtsschreibung Konjunktur. Das ist leicht zu erklären, denn Rituale sind durch Strukturen und Verfahren gekennzeichnet, die denen literarischer Texte verwandt sind; sie sind »symbolisch durchgeformt«;5 in ihnen ist für eine Interaktionsgemeinschaft ›Sinn‹ verdichtet; so lassen sich die Formen literarischer Rezeption in Analogie zur Wirkungsweise von Ritualen beschreiben, wenn diesen auch eine soziale Verbindlichkeit zugeschrieben wird, die man für die Literatur meist nur postulieren kann. So erlaubt der Ritualbegriff, gemeinsame Arbeitsfelder von Literatur- und Kulturwissenschaft zu konfigurieren und eine Integration anderer kultureller Tätigkeiten und Habitus in die literaturbezogene Analyse zu betreiben. Allerdings birgt die Weite des Begriffs eine Gefahr. Er ist in der Umgangssprache ebenso eingeführt wie z. B. in Ethnologie, Soziologie, Religionswissenschaften, und er wurde schon lange auch bei der Erforschung bestimmter literarischer Genres – zumal im Umkreis des Theaters – benutzt. ›Ritual‹ scheint oft schieres Homonym. Der Begriff bezeichnet höchst unterschiedliche Vorgänge, mit höchst unterschiedlichem Ort und höchst unterschiedlicher Funktion innerhalb der jeweiligen Kultur, mit unterschiedlichen Inszenierungs- und Institutionalisierungsgraden und Formen der Partizipation. Es ist diese Unschärfe, die den Klassikern soziologischer Ritualforschung erlaubte, Phänomene zusammenzusehen, die sonst säuberlich auf verschiedene Disziplinen verteilt waren, Theater und Alltag, literarisches und ›sozia les‹ Drama, archaischen religiösen Kult und moderne Formen der Bildung kollektiver Identität.6 Das war damit erkauft, dass der Ritualbegriff immer stärker formalisiert oder metaphorisiert wurde und dass die Grenzen zwischen verschiedenen Typen ritueller oder ritualisierter Handlungen verschwammen. Was zunächst einmal bei einer Öffnung von religionswissenschaftlichen, soziologischen, literatur wissenschaftlichen Fragestellungen gegeneinander not wendig war, beginnt sich inzwischen zunehmend als schwere Hypothek bei der notwendigen Differenzierung kultureller Phänomene auszuwirken.

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in geringerem Maße festgelegten Bräuche und rekurrenten Handlungen bezeichne, die auch außerhalb des Ritus (z. B. im Spiel, in politischer Repräsentation usw.) vorkommen können. Mir scheint nämlich von Moos’ Begriff des Rituals zu eng (da auf Alltagsverhalten eingeschränkt) und der des Ritus zu weit und unspezifisch (da auf explizit formalisierte Abläufe sehr unterschiedlicher Art bezogen). Natürlich ist die Liturgie nur eine besondere Ausprägung von Ritus (zum Begriff: A. H AHN [1977]; vgl. DOUGLAS (1986), S. 20f.), und es gibt vielfältige nicht-religiöse Rituale im Mittelalter, die ebenso wie Alltagsrituale (›Ritua le‹ im Sinne von Moos) im folgenden unberücksichtigt bleiben. SOEFFNER (1992), S. 107, Anm. 5. Etwa TURNER (1989) oder GOFFMANN (1986); auch DOUGLAS (1986), die sich vor allem auf die religiöse Bedeutung des Rituals konzentriert, muss ihrem Erkenntnisziel zuliebe – homologe Strukturen in archaischen und modernen Gesellschaften auszumachen – den je historischen Zusammenhang vernachlässigen.

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Ablesbar ist diese Tendenz an Wolfgang Braungarts 1996 erschienenem Buch über Ritual und Literatur.7 Braungart hebt, um ›rituelle‹ Züge literarischer Kommunikation herauszuarbeiten, – literatursoziologisch sicher zu recht – auf weniger elaborierte Wirkungsweisen von Literatur (wie z. B. Erbauung, Lebenshilfe usw.) ab, die in der Tat den sozial integrierenden Funktionen von Ritualen nahestehen. Dabei wendet er sich gegen eine Eingrenzung von Ritualen auf archaische Gesellschaf ten und auf kultische Zusammenhänge. Was er dann jedoch im einzelnen als ›Ritual‹ oder ›rituell‹ beschreibt, ist ein buntes Gemisch sehr heterogener Phänomene. Ich kann mich mit Braungarts Thesen im einzelnen nicht auseinandersetzen, möchte auch ausdrücklich nicht die vielen treffenden Beobachtungen zu rituellen Elementen literarischer Texte bestreiten und halte die Überlegungen zu einer Phänomenologie nicht-professioneller, nicht-elaborierter Lektüre literarischer Texte, die Braungart in Analogie zum Ritual auslegt, für eine notwendige Korrektur rezeptionsgeschichtlicher Paradigmen, doch scheint mir an dieser Arbeit exemplarisch ablesbar, welchen Preis man für ein vorschnelles Aufgeben disziplinär eingeführter begrifflicher Unterscheidungen zu zahlen hat. Braungart durchmustert nämlich die verschiedenen einzelwissenschaftlichen Explikationsvorschläge von ›Ritual‹, wobei er den meisten eine unzulässige Verengung des Ritualbegriffs vorwirft, die es nicht erlaube, Gegenbeispiele aus anderen kulturellen Sektoren zu erfassen. Diese Gegenbeispiele entstammen z.B. dem Alltag (der Gruß oder eine bestimmte Weise, die Gartenhecke zu schneiden), der Politik (Akte des demokratischen Gemeinwesens), dem religiösen Kult (besonders dem katholischen Gottesdienst) oder auch der Literatur, wobei zwischen verschiedenen Erscheinungsformen des ›Rituellen‹, also z. B. zwischen kultähnlichen Umgangsformen des GeorgeKreises und der Ausbildung rekurrenter formaler Strukturen in literarischen Texten überhaupt zwar deskriptiv, aber nicht kategorial getrennt werden muss. Braungarts Ziel und der Gegenstand seiner eigenen Definitionsversuche ist ein möglichst umfassender, unterschiedlichen ›ritualhaften‹ Zügen der Literatur angemessener Ritualbegriff; deshalb kann er sich nicht nur mit religionsgeschichtlichen und ethnologischen Definitionen nicht zufrieden geben (vor allem mit deren Einschränkung auf archaische Gesellschaften), sondern muss, da Literatur an Ritualen unterschiedlichster Art partizipiert, grundsätzlich jede disziplinäre Festlegung zurückweisen. Dadurch aber, dass er Elemente gängiger soziologischer, ethnologischer, religionsgeschichtlicher usw. Konzepte in wechselnden Kombinationen erprobt, verliert sein Ritualbegriff jede Trennschärfe; was ›ritualhaft‹ an Literatur sein soll, wird diffus, und die je besondere kulturelle Konfiguration gerät aus dem Blick. Hier kann die Konzentration auf einen historisch begrenzten Fall Abhilfe schaffen, einen Fall wie das Geistliche Spiel, das von vorneherein durch den Bezug auf den kirchlichen Ritus und einen bestimmten, an diesen anschließenden Typus von Ritualen konstituiert ist und diesen Typus transformiert. Ich plädiere für eine radikale Historisierung des Ritualbegriffs.

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BRAUNGART (1996).

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Dabei fasse ich mit dem überwiegenden Teil der Forschung Rituale als konventionalisierte Formen des Handelns auf, die von bloßen Routinen durch Symbolgebrauch, den höheren Grad an Inszeniertheit und durch den Anspruch auf Vermittlung eines über den Akt hinausgehenden ›Sinns‹ unterschieden sind. Sie sind gruppenbezogen, gemeinschaftsabhängig oder gemeinschaftskonstituierend und meist, wenn auch nicht notwendig, von sprachlichen Artikulationen begleitet.8 Rituale haben in verschiedenen historischen Epochen einen unterschiedlichen Status.9 In älteren Gesellschaften fällt ihnen ein weitaus höherer Anteil an der Vermittlung zentraler Sinnbestände und der Bewältigung latent konfliktuöser Situationen10 zu als in Gesellschaften wie den modernen, die diese Funktionen zum Teil auf eigens dazu geschaffene Institutionen, technische Medien und beherrschbare Kontrollverfahren verlagert haben.11 Ich beschränke mich auf einen bestimmten historischen Typus von Ritua len im Mittelalter, und zwar auf Rituale als Teile einer kultischen Praxis im Umkreis der christlichen Liturgie. Die Spiele beuten sie teils aus, teils setzen sie sich von ihnen ab. Es geht mir also nicht generell um ritualhafte Züge von ›Literatur‹, sondern um das historisch distinkte Verhältnis einer Schreib- und Aufführungspraxis zum religiösen Kult. Wesentliche Kriterien der Dif ferenzierung sind einmal die Funktion von Elementen, die Spiel und religiöses Ritual gemeinsam haben, zum anderen Art und Weise der Teilhabe am Vollzug.

II. ›Ritual‹ ist kein anthropologisches Universale, sondern für unterschiedliche Kulturen unterschiedlich zu definieren. Bezugsrahmen der Spiele sind liturgische und

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SOEFFNER (1992), S. 105–108; vgl. S. 9f. Das schließt nicht aus, dass, wie DOUGLAS (1986) gezeigt hat, in sehr unterschiedlich komplexen Gesellschaften sich ver wandte Strukturen aufzeigen lassen. A. H AHN (1977), S. 65 nennt Riten »extra-empirische, wiederholte Hand lungen, die vorzüglich da auftreten, wo eine technische Kontrolle der Handlungsumstände zur Erreichung af fektbesetzter Ziele auch subjektiv unmöglich erscheint«. Auch in diesen Gesellschaften gibt es weiterhin Rituale, und zwar zum einen in schriftund institutionenfernen Bereichen (›Verhaltensrituale‹; ›Rituale des Alltags‹), aber auch im ritualisierten Antiritualismus von Gegenkulturen. Von Ritualen in älteren Gesellschaften unterscheiden diese sich durch ihren prätendiert informellen Charakter. Ferner können ältere Ritua le konserviert werden, in Fortführung von Traditionen, die ihre Funktion eingebüßt haben (der moderne Staatsbesuch als Erbe des mittelalterlichen Herrscheradventus) oder neue hinzuerfunden (der Kuss des Bodens eines fremden Landes durch das Oberhaupt der katholischen Kirche); Beispiele bei SOEFFNER (1992), der den von DOUGLAS (1986) behaupteten durchgängigen Antiritualismus der Moderne widerlegt. Im Allgemeinen kennzeichnet solche Ritua le jedoch ihre Partikula rität, der Verzicht auf den Anspruch, Tota lität zur Anschauung zu bringen.

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an liturgische Vollzüge anschließende (›paraliturgische‹) Handlungen.12 Von besonderem Interesse sind Grenzfälle zu theatralen Aktionen. Solche Grenzfälle sind die sog. Feiern, die sich an den Hochfesten an liturgische Handlungen anlagern, insbesondere die Osterfeiern.13 Diese Feiern enthalten szenische Repräsentationen, die denen der Spiele eng verwandt sind, manchmal bis in Einzelheiten entsprechen (Visitatio sepulchri, Magdalena und Jesus als Gärtner, der Wettlauf der Jünger). Damit ist nicht gesagt, dass sich das Spiel aus solchen paraliturgischen Ritua len ›ent wickelt‹ habe – diesen latenten ›Darwinismus‹ hat schon Hardison kritisiert14 –, wohl aber dass seine Besonderheit in Bezug auf jene Feiern bestimmt werden muss. Über die Feiern hinaus lassen sich ›dramatische‹ Elemente auch im offiziellen Ritus (etwa der Osterliturgie) ausmachen, so dass also ein Kontinuum zwischen liturgischen Vollzügen und dem Geistlichen Spiel zu bestehen scheint. Dem entspricht, dass das mittelalterliche Vokabular für liturgische und paraliturgische Vorgänge und für theatralische Darbietungen zu einem Teil identisch ist.15 Im Mittelalter sind also die Grenzen zwischen Spiel und kultischen Handlungen verwischt. Dass man hier nicht oder mindestens nicht durchweg unterscheidet, entbindet freilich nicht von der Aufgabe, nach strukturellen und funktionalen Differenzen zu fragen, die Ausgangspunkt der klareren neuzeitlichen Ausdifferenzierung von Theater und Kult sein könnten. Legitimiert durch das Überspielen der Grenze zwischen Spiel und Kulthandlungen und durch die explizit bekundeten Absichten der Spiele, unterstellt die Forschung in der Regel beiden grundsätzlich verwandte Funktionen, nämlich Gottesdienst, religiöse Verkündigung von Heilswahrheiten, Belehrung über und Einübung in christliche Werte und die Weckung affektiver Teilnahme am heiligen Geschehen. Unterschiede zu anderen Frömmigkeitsübungen ergeben sich nur aus der Gewichtung der Komponenten, wobei zwar an der Ausbildung bestimmter Szenentypen in einigen Spielen eine Tendenz zur ›Sä kularisierung‹ – im Sinne

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Ich unterscheide zwischen Liturgie und para liturgischen Feiern: Die Liturgie regelt sakramentale Kulthandlungen, die kirchlichen Stundengebete und öffentliche Verkündigung des Gottesworts; die Feiern sind bloße pia exercitia, die sich diesen Kulthandlungen anlagern, aber auch losgelöst von ihnen stattfinden können; sie sind für regionale und zeitliche Va riationen durch die Teilkirchen offener als die Liturgie, die freilich vortridentinisch ebenfalls einen erheblich größeren Va riationsspielraum hat; zur Definition SUNTRUP (1978), S. 22–24; die katholische Liturgiewissenschaft ist in diesem Punkt nicht einhellig (anders z. B. JUNGMANN [1961], S. 13ff., der einen ganz weiten, den gesamten kirchlichen Gottesdienst einbeziehenden Begriff von Liturgie vorschlägt). Nur hinweisen kann ich auf die Bedeutung ›paraliturgischer‹ Akte innerhalb der mittelalterlichen Kultur im Allgemeinen, also auch außerhalb der engeren kirchlichen Sphäre (hierzu J.-D. MÜLLER [1996c]). DE BOOR (1967), S. 10–13. H ARDISON (1965); vgl. den Forschungsüberblick S. 1–34; für die deutschen Osterspiele DE BOOR (1967); für die Passionsspiele BERGMANN (1972). WOLFF (1960).

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einer Emanzipation von religiöser Indienstnahme – beobachtet wird, gegen die andere Spiele wiederum – zu nennen ist das ›Berliner Osterspiel‹ – angehen.16 Grundsätzlich bestritten wurden jene religiösen Funktionen dagegen vor allem von Warning, indem er ihre Abweichung vom theologischen Erlösungsdogma herausarbeitete und sie als Rück fall in ein archaisches Gegenritual, als Re-mythisierung des christlichen Kerygma interpretierte.17 Beiden Interpretationen ist gemeinsam, dass sie zwar das Geistliche Spiel von der kultischen Praxis der Kirche unterscheiden, ihm jedoch eine im Grundsatz verwandte – einmal positive, einmal negative – Wirkungsweise zuschreiben, die Wirkungsweise eines Rituals nämlich, das entweder gleichsinnig die Glaubenspraxis stützt oder sie gegensinnig subvertiert. Warnings Interpretation setzte entsprechend nicht erst an den Spielen, sondern schon an der Theatralisierung und der theatra len Deutung der Liturgie an. Basis ist deren ›rememoratives‹ Verständnis – das Verständnis der Liturgie als eines Aktes gemeinschaftlichen Erinnerns an das vergangene Heilsgeschehen. Die rememoratio in der Messe schlägt die Brücke zur Re-präsentation des erinnerten Geschehens auf der Szene. Dieses rememorative Verständnis des Kultes wird von der einen Seite als typische Ausprägung mittelalterlicher Frömmigkeit, von der anderen als gefährliche Abkehr vom kerygmatischen Kern der Heilslehre betrachtet. Aber bedeutet rememoratio im kirchlichen Kult und in den Spielen wirklich dasselbe? Meine Überlegungen zielen auf die Frage, ob sich nicht Veränderungen im Vollzug und der Funktion der rememoratio, in den Darbietungsformen und in der Weise der Partizipation ausmachen lassen, die die Verbindungen zwischen Kult und Theater kappen. In der rememoratio ließe sich dann ein gemeinsamer Bezugspunkt kultureller Handlungen ausmachen, der zugleich Ausgangspunkt ihrer fortschreitenden Ausdifferenzierung ist. Die Untersuchung wird dadurch erschwert, dass es in der vortridentinischen Liturgie und erst recht im religiösen Brauchtum des Mittelalters erhebliche regionale Unterschiede gab und die Formen des religiösen Kults, von denen sich die

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An drei Spielen hat Nowé die Kombination vom ›liturgischen‹ und ›dramatischen‹ Elementen untersucht (NOWÉ [1985]); er hat dabei eine »allgemeine, und wohl erwartete Tendenz, eine fortschreitende Loslösung von der Liturgie und eine immer größere Annäherung an die literarische Gattung des Dramas« festgestellt (S. 311). Ich möchte im Folgenden grundsätzlicher an Kommunikationsstruktur und Funktion, nicht an einzelnen Elementen (Zitaten, Motiven, Gebärden usw.) ansetzen, bei denen die Zuweisung auf die eine oder andere Seite diskutabel bleibt. Auch handelt es sich nicht um einen linear fortschreitenden Prozess, sondern um eine antagonistische Konstellation, in der nebeneinander Lösungen in unterschiedliche Richtungen ausprobiert werden. Ich beschränke mich im Folgenden auf wenige exemplarische Nachweise, die ich unter den folgenden Siglen zitiere, einzelne Verse ohne weiteren Zusatz, sonst mit Seitenzahl (S.): AP – Alsfelder Passionsspiel; DP – Donaueschinger Passionsspiel; EF – Egerer Fronleichnamsspiel; FP – Frankfurter Passionsspiel; PfP – Lienhard Pfarrkirchers Passion; StP – Sterzinger Passionsspiel. WARNING (1974); Rezension von OHLY (1995).

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Spiele abheben sollen, keineswegs so eindeutig bestimmbar sind, wie nach der gegenreformatorischen Fixierung und Purgierung des katholischen Ritus üblich. Theatralisierungen der katholischen Liturgie sind weit früher als das Geistliche Spiel nachweisbar; es gibt eine mehr oder minder latente Theatralität der Messe, die in Messauslegungen erklärt und unter deren Einfluss liturgische Gestik und Bewegungsvokabular weiter ausgebaut werden.18 Das rememorative Verständnis der Messfeier setzt sich trotz frühen dogmatischen Gegenbewegungen (Florus von Lyon)19 im Mittelalter durch und ist Basis der Auslegungen der Liturgie von Florus’ Kontra henten Amalar von Metz bis zu Durandus von Mende.20 Die Messauslegungen interpretieren die liturgischen Akte im Blick auf Stationen der Heilsgeschichte, insbesondere des Lebens, des Leidens und der Auferstehung Jesu. Nicht nur in der Vormesse sucht man Ver weise auf das öffentliche Leben Jesu, sondern im Messritus insgesamt bis hin zur Eucharistiefeier selbst; das ist insoweit begründet, als diese schon von ihrer Einsetzung her zugleich Gedächtnis der Passion ist.21 Der rememorative Aspekt wird von der sakramentalen Bedeutung nie verdrängt, dem dogmatisch wichtigeren Umstand, dass nicht das blutige Opfer auf Golgotha wiederholt, sondern im unblutigen Opfer der Transsubstantiation Christus real präsent und durch die Realpräsenz Christi die Erlösung selbst Gegenwart wird.22 In der rituellen Wiederholung des ›Dra mas‹ der Erlösung dagegen, die jede Messfeier auch ist, vertritt (representat) der Priester Christus, der eigentlich selbst als noster tragicus sein Kreuzesopfer wiederholt.23 Eine scharfe Trennung beider Aspekte ist dem mittelalterlichen Frömmigkeitsverständnis nicht gemäß. Im Zusammenhang der Liturgie entwickeln sich früh rituelle Handlungen, die die rememorative Komponente des gemeinschaftlichen Kults weiter verstärken.24 Seit dem frühen Mittelalter sind als Teil des Gottesdienstes die sog. ›Feiern‹ belegt, die die Liturgie im engeren Sinne ergänzen, indem sie heilsgeschichtliche Ereignisse, deren am jeweiligen Feiertag gedacht wird, darstellend vergegenwärtigen. Bei ihnen übernehmen die Zelebranten – Priester, Diakone, Subdiakone, aber auch weitere Personen – theatrale Rollen aus der biblischen Geschichte, die über-

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Grundlegend: FRANZ (1963). SUNTRUP (1978), S. 66–69; später Albertus Magnus. Die Kritik richtet sich gegen die dominierende Auffassung selbst der Eucharistie als »Mysterium der Kommemoration« (Lubac nach SUNTRUP [1978], S. 69). Einen Überblick über mittelalterliche Messauslegungen gibt FRANZ (1963), S. 333–728; insbesondere zum Streit zwischen Amalar von Metz und Florus von Lyon S. 351–398; zur scholastischen Kritik des Albertus Magnus S. 466–473; KOLPING (1951); vgl. SUNTRUP (1978), S. 32, 54–57. PASCHER (1959), S. 11. H ARDISON (1965), S. 43; SUNTRUP: Liturgische Gebärden (1978), S. 45 u. ö.; KOLPING (1951). H ARDISON (1965), S. 39; PASCHER (1959), S. 4; SUNTRUP (1978), S. 88. Eine Übersicht spätmittelalterlicher Bräuche bei DUFFY (1992).

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dies durch Kostüm und Maske ausgestaltet sein können.25 Im Vordergrund steht im Vergleich zur Eucharistiefeier nun ganz eindeutig nicht mehr die Realpräsenz Christi, sondern die durch theatralische Mimesis gestützte Erinnerung an vergangenes Heilsgeschehen, weshalb aktive Mit wirkung hier nicht mehr ausschließlich an das priesterliche Amt geknüpft ist. Dieses Rollenspiel heißt gleichfalls representatio wie später die Spiele.26 Am bekanntesten sind die Feiern in der Osternacht, deren Quellpunkt liturgische Texte der Matutin und des Eingangs der Ostermesse sind, doch bietet auch die Karwoche Anlass für eine Fülle theatra ler Bräuche (Palmprozession, Fußwaschung, Grablegung usw.), und andere Feste, etwa des Weihnachtszyklus, konnten dergleichen ebenfalls ausbilden (›Kindelwiegen‹). Solche religiösen Feiern werden deutlich von der Messe unterschieden und können nirgends an ihre Stelle treten, doch bleiben sie Teil des Gottesdienstes, zeitlich eng an den kultischen Vollzug des jeweiligen Festtages gebunden. Sie gehören nämlich zu einem zweiten Zyklus liturgischer rememoratio von Heilsgeschichte, demjenigen des Kirchenjahres. Wie archaische Rituale kehren auch die kirchlichen Hochfeste zyklisch wieder. Deutlicher als die Messfeier (bei der die allegorische Auslegung diesen Bezug allererst herstellen muss) sind sie über bestimmte Daten im Jahresablauf, feste oder wenigstens in ihrem Verhältnis untereinander fixierte Feste auf Stationen im Leben Jesu bezogen, also auf Geburt, Kindheit, öffentliches Wirken, Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt, und sie memorieren diese Stationen jeweils in einem besonderen officium, das nicht nur im Evangelium auf den besonderen Anlass Bezug nimmt. Dabei gibt es Phasen engerer Bindung an den heilsgeschichtlichen Ablauf und solche relativ größerer Selbständigkeit ihm gegenüber, so in der Zeit zwischen Pfingsten und Advent. Der kirchliche Festtagszyklus erinnert insofern stärker als die Messe an die zyklische Gebundenheit älterer kultischer Rituale. Indem schließlich auch die »Matutinen während der Woche [...] noch einmal die Zeiten des Heils der Kirche« durchlaufen,27 gibt es eine weitere zur rememoratio einladende kultische Ordnung. So repräsentieren in der Liturgie mehrere übereinanderkopierte zeitliche Zyklen von unterschiedlicher Dauer Heilsgeschichte.28 Eben wegen dieser a-synchronen zeitlichen Ordnungen geht die Liturgie nie in ritueller rememoratio, geschweige im wiederholenden Vollzug eines Gründungsmythos, auf. Sie ist immer zugleich anderes und mehr. Nicht einmal das Kirchenjahr bildet das Leben Jesu ab; eine ›historische‹ Ordnung gilt allenfalls für kleinere Festkreise wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, nicht jedoch für Ordnung und Reihenfolge der mittels der Perikopen memorierten Feste insgesamt. Ausgeprägter

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DUFFY (1992), S. 24. Belege bei WOLFF (1960), S. 3–9. SUNTRUP (1978), S. 57. Zur komplexen Zeitstruktur: H ARDISON (1965), S. 82ff. Die Ordnung der am Leben Jesu ausgerichteten Feste wird überdies durch die Ordnung der Heiligenfeste überlagert, die auf wieder andere Weise das christliche Zeitalter repräsentieren, das ja überdies auch in den Stundengebeten vergegenwärtigt wird.

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noch ist die Distanz der Messe zur ›historischen‹ Ordnung des Heilsgeschehens, denn sie erinnert zwar bis in den Kanon hinein an die Geschichte ihrer Begründung, aber die Abfolge ihrer Teile wird keineswegs durch eine narrative Ordnung bestimmt, sondern erst nachträglich per Auslegung auf eine solche Ordnung bezogen, wobei die Bedeutungszuweisungen der Exegese eine Reihe von Widersprüchen und chronologischen Verwerfungen zur Folge haben.29 Die Liturgie der Messe kann nie glatt rememorativ funktionieren; rememoratio gewinnt recht eigentlich erst durch die gelehrten Messauslegungen Konsistenz und bleibt dogmatisch, wenn auch nicht frömmigkeitspraktisch, der sakramentalen Bedeutung der Eucharistie untergeordnet.30 Die rememorativen Elemente der Liturgie weisen auf ein frömmigkeitsgeschichtliches Bedürfnis, das die Liturgie selbst nur unzulänglich erfüllt und das auch die vielen, oft nur lokalen paraliturgischen Feiern nur partiell befriedigen, wenn sie den historischen Ursprung der Hochfeste deutlicher ausagieren und so die dramenanaloge Anlage und Auffassung der Liturgie verstärken.31 Die Spiele dagegen radikalisieren die rememorative Tendenz, indem sie die liturgische und paraliturgische Ordnung völlig durch eine dominant ›historische‹ ersetzen und im Ganzen die Chronologie der Heilsgeschichte wieder herstellen. Weil eine historisierende Tendenz in den Feiern schon angelegt ist, können die Spiele Elemente der Feiern in sich aufnehmen. Doch entfernen sie sich erheblich weiter von der Kernliturgie. Ablesbar ist dies etwa am Verhältnis zur Eucharistie, indem die Spiele in auffälliger Weise die performativen Worte der Konsekration in der Messe umgehen,32 so dass möglichst keine Verwechslung mit dem sakramentalen Charakter der Messe möglich ist. Kultischer Vollzug wird durch Repräsentation eines vergangenen Geschehens ersetzt.

III. Diese kategoriale Differenz scheint freilich in der Frömmigkeitspraxis keine große Rolle gespielt zu haben, und sie wird durch Übergangsformen verdeckt. Für die allmähliche Herauslösung aus der Liturgie spricht aber schon die schlichte

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H ARDISON (1965), S. 44; SUNTRUP (1978), S. 55ff. Dies ist gegen die Verteidigung der allegorisch-rememorativen Ausdeutung festzuhalten (vgl. SUNTRUP [1978], S. 41, 86 oder die von ihm S. 38 zitierte Kompromissformeln des Hugo von St. Viktor über das Sakrament: ex similitudine repraesentans, et ex institutione significans, et ex sanctificatione continens aliquam invisibilem et spiritalem gratiam); ein Symptom der Nachträglichkeit ist auch der Umstand, dass das Modell ›Leben, Leiden und Auferstehung Jesu‹ durch andere Modelle wie ›Messe als Kampf‹, ›Messe als Gerichtsverhand lung‹ ersetzt werden kann; vgl. schon YOUNG (1962), Bd. I, S. 84f. SUNTRUP (1978), S. 87. Hier wird die Grenze zur historischen Repräsentation schon früh überschritten: H ARDISON (1965), S. 230. Hierzu den folgenden Beitrag.

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Beobachtung, dass im späteren Mittelalter die Veranstaltung von Spielen häufig neben oder sogar zeitlich unabhängig vom festtäglichen Gottesdienst stattfindet: Spiele werden zwar im Umkreis der liturgischen Feste aufgeführt, deren Perikopen ihr Gegenstand entnommen ist, also Passions- und Osterspiele im Umkreis des Osterfestes, Weihnachtsspiele im Rahmen des Weihnachtszyklus usw., aber sie fallen nicht notwendig auf das Fest. Zudem lockert sich die Bindung ans Kirchenjahr durch die zunehmende Ausweitung der Spielhandlung, die auf die Heilsgeschichte insgesamt ausgreift; der Aufwand verbietet jährliche Veranstaltungen, so dass der Aufführungszyklus gedehnt wird; das seit Ende des 13. Jahrhunderts rasch vordringende Fronleichnamsfest, dem – in Deutschland allerdings weniger – eigene Spiele zugeordnet werden, ist zwar auf Passion und Erlösung bezogen, erinnert aber an kein bestimmtes Ereignis, sondern ver weist auf Heilsgeschichte insgesamt. All dies fördert eine Ablösung der Spiele von den im Jahreszyklus wiederkehrenden Festen, an denen das Ereignis der Geburt, des Leidens, der Auferstehung oder Himmelsfahrt gefeiert wird. Auch konnte aus praktischen Gründen, also etwa der Witterung zuliebe, die Auf führung in die schöne Jahreszeit verschoben werden.33 Das heißt aber, dass die Aufführung zwar auf den kirchlichen Festkalender bezogen blieb, gegenüber dessen Daten aber versetzt sein konnte, so dass die latente rituelle Periodizität gestört wurde und sich die ›historische‹ Repräsentation heilsgeschichtlicher Ereignisse verselbständigte. Auch erforderten die Spiele zunehmend besondere Inszenierungsanstrengungen, nicht durchweg, aber häufig die Verpflichtung von Schauspielern, dazu immer häufiger einen eigens für das Spiel zugerichteten Raum.34 Schließlich sprengten die mehrtägige Dauer vieler Spiele und die Teilnahme auswärtiger Gäste den Rahmen liturgiegebundener Glaubenspra xis der Kultgemeinde. Herauslösung ist freilich nicht Ablösung. Das Geistliche Spiel steht neben anderen liturgischen und außerliturgischen Vermittlungen des christlichen Glaubens, etwa neben der Verkündigung in der Predigt, neben Lehrschriften, Betrachtungen und Gebeten oder Andachtsbildern zur individuellen Devotion. Das Heilsgeschehen ad oculos zu vergegenwärtigen, ist allgemein das Ziel spätmittelalterlicher Frömmigkeitsübungen, mündlich wie schriftlich, sprachlich wie bildlich vermittelter. Stärker noch als das Andachtsbild und unmittelbarer als die imaginative Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte in Predigt und Traktat kann das Spiel auf die Sinne wirken. Dabei zielt es auf kollektive, nicht auf individuelle Erfahrung, indem ›wir alle‹, die wir hüt gesamlet sind (DP 42), zu Augenzeugen der Passion werden. ›Uns‹ wird die Anstrengung der Imagination abgenommen, doch wie bei privaten Frömmigkeitsübungen eine passive Haltung verordnet: Schwigend vnd betrachtent sin biter sterben (DP 70).

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Von den überlieferungs-, aufführungs- und textgeschichtlichen Problemen wird im Folgenden nicht weiter die Rede sein. Ich folge hier der einschlägigen Forschung, insbesondere NEUMANN (1987); Beispiele dort S. 104f., 114f., 117f., 259, 328, 415 u. ö. Etwa ebd., S. 130, 251, 279, 316, 397, 520f., 591 u. ö.

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Die Evangelien stellen das Handlungsgerüst der breit ausgemalten Historie der Erlösung bereit, deren Stationen (Menschwerdung, Passion, Auferstehung) ›historisch-chronologisch‹, verbunden durch hinzuerfundene Zwischenglieder, dargeboten werden. ›Historisch‹ meint freilich nicht im profanen Sinne eine beliebige lineare Handlungsfolge, sondern das immer schon gedeutete Heilsgeschehen in all seinen Bedeutungsdimensionen. Insofern bleibt die Verbindung zur Liturgie und zum theologischen Dogma gewahrt. Die Auswahl von Szenen jenseits der wichtigsten Peripetien der Heilsgeschichte ist nämlich von ihrer religiös-allegorischen Bedeutsamkeit, wie sie u. a. in der Liturgie reflektiert wird, gesteuert. Diese Bedeutung muss nicht auf der Oberfläche einer Darstellung erscheinen, die scheinbar rein chronologisch von Ereignis zu Ereignis fortschreitet. Dank ihrer latenten Bedeutungsdimension kann damit aber durch sie hindurch die Ursprungsgeschichte der christlichen Erlösung szenisch vergegenwärtigt werden.35 Das Geschehen läuft vor kosmischem Horizont ab, skandiert von Gesängen der Engel oder dem Gekreisch der Judenschule;36 für die Darsteller werden rituelle Gebärden vorgeschrieben – Beten etwa mit vff gehepten henden oder krützwiss auf dem Boden liegend – und ein quasi kultisch festgelegtes Bewegungsvokabular.37 Die Geschichte, die vor den Augen der Zuschauer abläuft, bleibt also liturgisch überformt, auch wenn sie die Struktur der Liturgie aufbricht. Die Spiele stellen ihre Nähe zum Kult selbst aus. Sie übernehmen Elemente aus der Messe wie aus den an sie sich anschließenden kirchlichen Feiern, und zwar biblische Worte (wie sie im Evangelium und in der Lesung vorgetragen werden), Verse aus den jeweiligen Messformularen, liturgische Gesänge (Antiphone, Hymnen). Die sakrale Herkunft solcher Textteile wird in der Regel ausdrücklich markiert, und zwar durch die lateinische Sprache und den gesungenen Vortrag (cantat vs. dicit). Dies geschieht sowohl durch einen der Akteure wie auch gelegentlich durch einen – offenbar nicht ins Spiel ver wickelten – chorus.38 Ebenfalls in der Regel folgt dem lateinischen Wortlaut eine amplifizierende volkssprachliche Paraphrase. Im Spiel sind also zwei Ebenen präsent, die man als kultische und mimetische unterscheiden könnte, und beide gehören untrennbar zusammen. Der Platz und die Funktion liturgischer Elemente sind aber grundsätzlich andere als in der Liturgie. Angeordnet sind sie nämlich nach dem ›historischen‹ Ablauf des Erlösungsgeschehens. Predigthafte Belehrungen schließen an die auf der Szene gezeigten Vorgänge an, die Bibelworte fallen in der Reihenfolge und an dem Ort, an den sie, den Evangelien zufolge, gehören, wobei die Verfasser sich bemühen,

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So verweist z. B. die Heilung eines Gelähmten am Teich Bethsaida auf die Taufe, und aus diesem Grund ist die Szene ausgewählt (TOUBER [1985], DP, S. 271). PfP S. 127 u. 101. DP S. 116; 148. Oder Maria canit expansis manibus (StP S. 313). Sie singt ihre Klage plangendo cum manibus (AP S. 784, 788); zu den einzelnen Gebärden und Haltungen SUNTRUP (1978). EF S. 234f. (Ecce lignum crucis) oder 247 (Ait latro ad latronem).

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die Berichte der Evangelisten zu synchronisieren. Psalmworte wie Circumdederunt me viri mendaces, die in der Liturgie zitiert werden, erscheinen im Mund Jesu als Ausdruck seines Leidens (AP S. 724). Gebete und Gesänge stehen im Zusammenhang mit Anlässen, zu denen sie passen, also das benedictus [...] qui venit in nomine Domini, wenn Jesus die Versuchungen des Teufels zurückgewiesen hat (DP 431f.), ein Gesang aus der Palmprozession (hic est qui venturus est) beim Einzug in Jerusa lem (DP 1571) oder Ecce lignum crucis, wenn Jesus am Kreuz hängt (EF S. 234f.). Liturgische Gebete und Gesänge erscheinen als szenische Kommentare, stimuliert durch das, was jedermann eben sehen konnte. Jesus selbst spricht die Worte, die nachmals die gläubige Christenheit beten soll: O crutz, o susser stam (FP 3625), und Maria, dann Maria Magdalena folgen ihm: O crutz, du wonniglicher baum (FP 4046, 4289). Die fromme Betrachtung über die Wunden Jesu ist nicht Teil der Liturgie oder einer individuellen Andachtsübung, sondern des szenischen Dia logs, artikuliert die angemessene Antwort der Akteure auf das, was sich gerade auf grausame Weise vor ihnen abgespielt hat. Das Verhältnis von ›historischer‹ und ›liturgischer‹ Bedeutung hat sich mithin gegenüber der Messe umgekehrt: Die rememorativen Züge der Liturgie waren Elemente eines Vorgangs, der in seinem Kern mehr als Erinnerung, nämlich buchstäbliche Vergegenwärtigung ist. Die täglich zu feiernde Eucharistie ordnet sich in letzter Instanz alle Worte und Handlungen unter, weshalb die ›historische‹ Ordnung, trotz der Abfolge von Opfer und Erlösung im großen, im einzelnen vielfach gebrochen ist, die Erinnerung an bestimmte Ereignisse am kohärentesten in der Vormesse artikuliert werden kann, während sie sonst – etwa in der Praefation – vor allem als aktueller Stichwortgeber fungiert. Dagegen werden in den Spielen alle Worte und Handlungen, auch die liturgischer Provenienz, in die Abfolge von Ereignissen der Heilsgeschichte eingefügt. Der Liturgie entlehnte Elemente werden insofern ›entritua lisiert‹, als spontane Reaktion auf Gegenwärtiges ausgegeben. Dabei sind es in der Regel die Akteure auf der Szene, nicht aber alle Anwesenden, die derartige Gesänge singen und Gebete sprechen. Der Preis für die Inszenierung ad oculos ist also gegenüber der Kulthandlung eine Abschwächung der Partizipation, oder genauer, eine Veränderung ihrer Struktur. Die Messe ist gemeinschaftlicher Vollzug; sie schließt grundsätzlich immer Priester und Volk zusammen (selbst wenn das letztere nur durch eine einzige Person repräsentiert sein kann). Sie ist allerdings nur in eingeschränktem Sinn Gemeinschaftshandeln, indem es zwischen Priester(n) und Volk eine Abstufung der Teilhabe gibt, der Priester vor der Gemeinde und für die Gemeinde handelt, das Wirken des heilsvermittelnden Sa kraments der Gemeinde entzogen und dem Priester vorbehalten ist, während die Gemeinde nur passiv in der (im Mittelalter eingeschränkten) Kommunion oder sogar nur qua Anbetung aus der Entfernung Zugang zu ihm hat.39

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DUFFY (1992), S. 109; H ARDISON (1965), S. 77; RUBIN (1992), bes. S. 47–53; BECK WITH (1992), S. 66; zur fortschreitenden Reduktion der Mitwirkung, die die Gemeinde zu Zuschauern degradiert: PASCHER (1959), S. 5.

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Das provoziert seit dem 13. Jahrhundert zunehmend kompensatorische Anstrengungen, die auf eine stärkere Einbindung der Gläubigen – kollektiv oder individuell – zielen.40 Die Ausgestaltung von Formen der Schaufrömmigkeit im Umkreis der Eucharistie gehört dazu. In den paraliturgischen Feiern entfällt gegenüber der Messe die sakramentale Handlung als Abgrenzungskriterium, und die Grenzziehung zwischen Zelebranten und Kultgemeinde ist weniger scharf. Zwar sind wieder die entscheidenden Handlungen (z. B. Visitatio sepulchri, Jüngerlauf) den clerici vorbehalten, doch gibt es in der Regel mehr Akteure. Der Kreis der Zelebranten ist größer. Die Predigt in der Volkssprache sucht die von der sakramenta len Kernhandlung ausgeschlossene, an der lateinischen Liturgie nur begrenzt partizipierende Gemeinde intellektuell und emotional stärker einzubeziehen. Gleiches gilt von der sog. Erbauungsliteratur, die im Spätmittelalter zum wichtigsten Medium laika ler Frömmigkeit wird. Sie verlegt, während die Predigt sich an die Gemeinschaft richtet, die Beteiligung am Heilsgeschehen in die innere Erfahrung des Einzelnen. Das Spiel nun zeichnet sich in der spätmittelalterlichen Frömmigkeitskultur durch eine besondere Wirkungsstruktur aus. Es richtet sich an die Laienwelt, doch zielt es anders als die Liturgie auf unmittelbare emotionale Beteiligung, anders als die Predigt auf visuelle Repräsentation, anders als die individuelle Betrachtung auf Kollektiverfahrung. Wegen des im Allgemeinen verwandten Zweckes können Elemente der Liturgie, der Predigt und individueller Betrachtung in den szenischen Kontext eingebunden werden. Die szenische Repräsentation setzt aber wieder Stellvertreterhandeln voraus, wenn auch nicht das des Priesters, sondern das von Spielern, die heilsgeschichtliche Ereignisse darstellen. Ihnen kommt Stellvertreterschaft nicht qua Amt zu,41 sondern sie müssen sich, zumal wo sich die Spieler aus der Gemeinde rekrutieren,42 ihrem Status nach von den Zuschauern nicht unterscheiden, können sogar gelegentlich auch schon Schauspieler von Profession sein.43 Die liturgische Grenze zwischen verschiedenen Graden der Partizipation ist durch die Grenze zwischen Spielern und Zuschauern ersetzt. Die gesteigerte emotiona le Wirkung und die Nähe des Heilsgeschehens, in dem grundsätzlich jeder eine Rolle übernehmen könnte, von dem überdies jeder sich mit eigenen Augen überzeugen kann, ist mit einem Verlust an kultischer Verbindlichkeit erkauft, denn das Spiel erscheint nicht nur wie die Messe als eine dramatische Handlung,

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RUBIN (1991), S. 276; BECK WITH (1992), S. 68: die Frömmigkeitsübungen siedeln sich in einem Raum »outside the clerical jurisdiction« an. Was nicht heißt, dass bestimmte Rollen wie diejenige Christi nicht nach wie vor von amtsmäßig ausgezeichneten Personen, also Priestern, übernommen werden konnten (vgl. NEUMANN [1987], S. 318). Grundlegend zur Verbindung mit der sozialen Organisation der Stadt, vor allem mit den Zünften: JAMES (1983). Das ›Croxton Play‹ z. B. ist professionelles Theater, d. h. es wird nicht von Mitgliedern der Gemeinde, sondern von dafür eigens angeheuerten Spielern gespielt (L ERER [1996], S. 376.).

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sondern ist nichts als das, und die Kultgemeinde verwandelt sich in eine Zuschauergemeinschaft, ein Publikum. Die neue Grenzziehung ist anfangs labil. Das lässt sich an der Raumdisposition verdeutlichen. Im katholischen Ritus sind die Sphären von Zelebranten und Gemeinde ebenfalls getrennt; diese Trennung kann, muss aber nicht räumlich ausgedrückt werden.44 Die abgestuften Möglichkeiten des Mitwirkens sind unabhängig davon festgelegt, weil an den Status von Priester und Laie gebunden. Entfällt diese Differenz, muss eine andere Ordnung allererst hergestellt werden; dies kann in expliziten Anweisungen wie der am Beginn des ›Alsfelder Passionsspiel‹ geschehen, die dazu auffordert, die Grenze zwischen Spielern und Zuschauern bei obrigkeitlich verordneter Strafe nicht zu überschreiten.45 Das Publikum wird vom Mithandeln ausdrück lich ausgeschlossen; es partizipiert nur noch emotional und intellektuell, überwiegend aber nicht mehr kultisch. Gewiss ist die stellvertretende ›spontane‹ Reaktion der Akteure darauf angelegt, gleichgerichtete Impulse bei den Zuschauern auszulösen (und wie sehr das geschehen kann, bezeugen Berichte von Massenhysterie). Zunächst aber sind die, die dem Spektakel beiwohnen, in die Passivität gedrängt. Zu Beginn der Spiele werden sie durch die Worte eines Proklamators ausdrücklich ruhig gestellt, und eine Grenze wird zwischen der repräsentierten Heilsgeschichte und den Zeugen der Repräsentation gezogen. Was auf der Szene sich abspielt, darf von den Umstehenden nicht beeinflusst werden, und was außerhalb der Grenze des Spiels stattfindet, ist grundsätzlich der Kontrolle des Spiels und seines Regisseurs entzogen. Die größere Nähe einer ad oculos demonstrierten Heilsgeschichte ist mit ihrer Distanzierung zur bloßen Spielhandlung erkauft. Wo beim kirchlichem Kult die Rollen von Zelebranten und Gemeinde zwar deutlich abgestuft, doch beide in Worten und Gebärden fixiert sind, so dass idealiter beide nach einem vorweg festgelegten Formular handeln, wird hier die Teilhabe am heilsgeschichtlichen Vorgang aufgespalten, in die Ausführung einer Spielvorlage und den bloß innerlichen Nachvollzug des Vorgeführten, der durch die Spielhandlung nur stimuliert werden kann. Die emotional gesteigerte Intensität der Anteilnahme hat also auf beiden Seiten einen geringeren Grad der Beteiligung zur Folge.

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DUFFY (1992), S. 111ff. weist auf den Bau von Lettnern im Spätmittelalter, die die feierliche sakramentale Handlung den Blicken der Gemeinde entziehen, erinnert aber andererseits an die Praxis gewöhnlicher Messen an Werktagen, bei denen die Laien sich in unmittelbarer Nähe des Altares aufhalten konnten. AP 107–130. Hier wie auch sonst (z. B. EF 5423) gibt es Auf forderungen zu schweigen und still zu stehen (sitzen), gelegentlich mit der Begründung, ›damit jeder etwas sieht‹ (EF 5721–5724).

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IV. Den Absichten der Spiele muss jede Distanzierung zuwiderlaufen, denn indem sie sich um emotionale Ver wick lung, moralische Beeinflussung und dogmatische Belehrung bemühen, antworten sie ja gerade, so wie auch andere Formen laikaler Frömmigkeit, das Erbauungsbuch, die volkssprachliche Predigt, das Andachtsbild, auf ein Defizit der Liturgie, die den Laien nur unzulänglich einbindet. Noch der Reformation wird diese Einbindung ein Anliegen sein. Die im Spätmittelalter ausgebildeten Funktionen von Spiel wie Bild werden deshalb in genau dem Augenblick problematisch, in dem der evangelische Wortgottesdienst die Verstehensschranken abbaut und durch Predigt und Gemeindegesang auf unmittelbare psychische Beteiligung der Gemeinde zielt. Auch die Spiele müssen versuchen, das Defizit an kultischer Partizipation, damit an Verbindlichkeit, durch Strategien zu kompensieren, die die Grenze zwischen Szene und Zuschauern wieder über winden und die Transformation der Kult- in die Zuschauergemeinde rückgängig machen.46 Zu den weniger spezifischen Mitteln, wie sie auch spätere Formen des Theaters anwenden, gehören unmittelbare Appelle der Akteure an Anteilnahme aller Umstehenden, derjenigen, die auf der Szene sind, wie auch derjenigen davor; in dieselbe Richtung wirkt die Stilisierung der dargestellten Heilsgeschichte nach der eigenen zeitgenössischen Realität des Publikums: Heilsgeschichte wird in die Gegenwart versetzt.47 Hinzukommen die Aufforderungen zu frommer Betrachtung und einem wahren christlichen Leben.48 Das sind auch sonst nicht ungebräuchliche Strategien theatra lischer Darstellung. Die Akteure sprechen nicht nur den Zuschauern vor, was sie zu denken und empfinden haben, sondern wenden sich direkt an die umstehende Christenheit.49 Anders jedoch die Aufforderungen, gemeinsam in Erinnerung an die Passion ein Paternoster oder Avemaria zu beten,50

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Allgemein zur Integration von rituellen Elementen ins Spiel H ARDISON (1965), S. 250; RUBIN (1991), S. 274. Die Heilsgeschichte vollzieht sich ›jetzt‹ inmitten der Stadtgemeinde (DUFFY [1992], S. 27); Beispiele bei LERER (1996) oder BECK WITH (1992), S. 68–71. Der ›historische‹ Ort wird durch die bekannte Umgebung der Zuschauer ersetzt (Magdalena empfiehlt z. B. eine Ware, man finde keine bessere in tutschem oder in wälschem land [DP 225]). Die enge Verbindung zwischen kommunalem Selbstverständnis und Spielen hat vor allem JAMES (1983) herausgearbeitet. Etwa die mehrfach wiederholten Aufforderungen des Engels: Nempt zu herzen; Secht an; merckt (EF 5401–5419): damit ir uch dest bas vor sünden/ wissent zehüten frü vnd spat (DP 11f.). So ganz selbstverständlich die außerhalb des Spielgeschehens stehenden Rollen wie der Conclusor (EF 5670–5709), der Spielleiter Augustinus (FP 2253–2272), Cristiana (DP 3616), aber auch Gestalten wie Veronika oder Maria (EF 6232f.: Getreue man, weib und kindt,/ Al die hie gesammet sindt). EF 5421, 5703, 6392; FP 2267–2271 (Aufforderung des Augustinus), 4205f.

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ein gemeinschaftliches Lied zu singen oder amen zu sprechen.51 Auch kann das Spiel in einer gemeinsamen kultischen Handlung ausklingen, das Publikum wieder in eine Kultgemeinde zurückverwandelt werden.52 Weil die Augenzeugen eines Geistlichen Spiels mehr sein sollen als nur eine Ansammlung von Zuschauern, kann für die Teilnahme an einer Auf führung ein Ablass in Aussicht gestellt werden, also eine religiöse Prämie, mit der sonst bestimmte Gebete und Kulthandlungen belohnt werden.53 Insoweit bewahren die Spiele Reste von Kulthandlungen und stellen von Fall zu Fall Verbindungen zu liturgischer Frömmigkeit wieder her. Allerdings werden im neuen Kontext liturgische Elemente literarisiert, d. h. ihrer ursprünglichen rituellen Funktion entkleidet und zu Bausteinen eines poetischen Gebildes. Gesänge und Gebete werden zu Teilen einer Spielhandlung, in die nur noch von Fall zu Fall das Publikum einbezogen wird. Überdies kann die szenische Darstellung sekundär rituell stilisiert werden; an die Spielhandlung können sich andere Rituale als solche liturgischer Provenienz anlagern, also etwa der herrscherliche Adventus (im Auf tritt von Pilatus oder Herodes) oder die Prozeduren öffentlicher Hinrichtung;54 Gegenstand der Aufführung können falsche Rituale sein, die der Zuschauer gerade nicht innerlich mitvollziehen darf, sondern deren Gottlosigkeit er erkennen soll. Dazu einige Beispiele: Die Grablegung Christi, Gegenstand des Karfreitagsritus, dem dann in der Osterfeier die Visitatio sepulchri antwortet, schließt ›historisch‹ die Geschichte der Passion ab; doch dargestellt wird sie im ›Frankfurter Passionsspiel‹ zugleich als kultische Handlung, indem dem Leichnam, den Joseph von Arimathia und Nicodemus tragen, zwei Engel vorausgehen, zwei folgen; an die Stelle der Zelebranten der Karfreitagsfeier treten Spieler von Engeln und biblischen Figuren, auch die Spieler – die frommen Frauen – werden zu Zelebranten.55 Die Schmerzensbekundungen um Christi Kreuzestod – Marias, der übrigen Frauen, des Johannes und anderer – können zu einem Klageritual ausgebaut werden. Szenisch motiviert sind sie durch das anschaubare Leiden und durch die

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AP 103f.; PfP 1069. Vgl. AP 2915 die Aufforderung, in die Kirche zu gehen. – Ein eindrucksvolles Beispiel im ›Croxton Play‹, in dem eine gemeinsame Prozession das Spiel abschließt (LERER [1996], S. 376); erst diese Prozession »erases the boundaries bet ween staged performance and religious ritual«. Handelt es sich um »the movement out of theatrical space« oder eher um »the absorption of procession into theater« (BECKWITH [1992], S. 78)? Angesichts der sozialen Integrationsfunktion der Spiele ist diese Frage vermutlich nicht zu entscheiden. NEUMANN (1987), S. 119, 259, 405, 414, 576f., 875 u. ö. FP S. 481. Auf Analogien zu Ritualen des Strafrechts habe ich in einem Vortrag vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ›Christus am Kreuz‹ (Februar 1997) ver wiesen. Sie tragen Kultgefäße, in denen sonst der Leib Jesu in Gestalt der Hostie aufbewahrt wird: et vadat Maria cum Johanne et alie mulieres habentes pixides in manibus ußque ad sepulcrum Cristi; vgl. FP S. 532.

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ausführlich inszenierte Grausamkeit der Peiniger. Über die Szene hinaus zielen sie auf die compassio der umstehenden Christen, indirekt wohl auch auf Aggression gegen die verstockten Juden.56 Doch ist die Gestalt der Klagen nicht allein durch die Situation bestimmt. Sie schließen sich manchmal zu poetisch besonders herausgehobenen Gebilden zusammen, werden als eine Art Schreittanz auf einer festgelegten kreisförmigen Bahn ausgeführt, auf der sich die Akteure um das Kreuz bewegen,57 sind gestisch-mimisch skandiert durch regelmä ßig wiederkehrende Ohnmachten, gegliedert durch den Wechsel strophischer, liedartiger Partien mit paar weise gereimten, gesprochenen und gesungenen Worten oder durch Refrain und Variation wiederkehrender Grundmuster.58 Manchmal wird wie im ›Alsfelder Passionsspiel‹ ein Klagekonzert inszeniert, in dem sich die Stimmen Marias und Johannes‹ mit den letzten Worten Jesu mischen können.59 Derartige Klagerituale sind durchaus auch im Rahmen von Kulthandlungen denkbar, und sie können sich zu besonderen Gattungen verfestigen (Marienklage!). Im Spiel handelt es sich um Rituale zweiter Ordnung, von den originären liturgischen und paraliturgischen Ritualen, in die die Gemeinde einbezogen wird, zu unterscheiden, denn sie sind Gegenstand der Darstellung, aufgeführte Rituale, an denen die Menge nicht teilnimmt, sondern denen sie zuschaut. Der Teilhabe der Zuschauer an der Emotion, die die dargestellte Passion auslösen soll, entspricht also keine Teilhabe an der Form, in der diese Emotion auf der Szene ausagiert wird. Das Klageritual kann beobachtet, nicht aber mit vollzogen werden. Indem die Spielhandlung ritualhafte Strukturen ausbildet, setzt sich das Spiel von einer rituellen Inszenierung gemeinschaftlichen Klagens ab. An diesem Punkt zeigt sich: Das Geistliche Spiel ist durchweg durch die Differenz – wie minimal auch immer – zum Kult konstituiert, eben nicht nur in burlesken Szenen wie Salbenkauf oder Jüngerlauf, in denen die Literarhistoriker seit je Frühformen eines von kultischen Zwecken sich emanzipierenden theatralischen Mimus sahen, sondern gerade auch da, wo es kultische Handlungen bloß zu wiederholen scheint. Darüber hinaus wird die Differenz zu kultischer Partizipation besonders dort sichtbar, wo gespieltes und wahrgenommenes Ritual, Szene und Zuschauer gegeneinander geführt werden, wo also die Zuschauer erkennen sollen, dass das dargestellte Ritual ein falsches ist. Dies ist der Fall beim ›Gegenritual‹ der Huldigung an den dornengekrönten Schmerzensmann. Es kann zwar szenisch vorgeführt, nicht aber kultisch vollzogen werden, denn im Kult der christlichen

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Etwa EF S. 214, 221, 237, 242. AP S. 779: Deinde Maria faciendo longum circulum cum Johanne et Petro et duabus sororibus plangendo cantat. AP S. 778ff. oder EF S. 223ff., z. B. durch anaphorisches owe, owe ; ausdrücklich wird die Klage angekündigt: Et incipit plangere ad crucem dicens (EF S. 236); EF 6314–6325 ist eine kunst volle Klagestrophe. AP S. 780–785. Komplementär ist ein Huldigungsritual der Sterne eingefügt (S. 795).

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Gemeinde soll der leidende Christus ja verehrt, nicht aber sein Leiden verhöhnt werden. Die Liturgie lässt deshalb zwar den Bericht von der falschen Huldigung zu, nicht das Agieren dieser Huldigung selbst. In den Spielen dagegen kommt sie als ein parodiertes Ritual auf die Szene, wenn auch so, dass unter der Huldigung der Soldatenmeute an den vermeintlichen Verbrecher die blutige Aggression gegen den unschuldig Leidenden erkennbar ist. Die Christenheit wird also gegenläufig zur aufgeführten Szene zur mitleidenden Huldigung gegenüber der sich selbst aufopfernden Gottheit aufgerufen. Die Rufe der Folterer sind doppelt lesbar: Nu secht, ir Juden, alle her, Wie sizt eur kunig der verkerer, Gesel, nu truck mit sinnen, Das im das blut ze den augen aus rinne. Gesel mein, druck du behende, Das im die dorn durch sein hirn aus gende (EF 5356–61).60

Das parodierte Huldigungsritual bindet die Augenzeugen nicht rituell ein (wie dies der Kult oder die wirkliche Huldigung eines Herrschers tun müsste), sondern weist ihnen eine Position außerhalb zu. Das Spiel kann Spottrituale aufnehmen wie den Tanz der Juden um das Kreuz: Et sic Iudei corizando per crucem cantant.61 Der kultische Tanz der Juden ist ein Zerrbild, aber er ist bloß gespielt, von außen anschaubar, und er soll den Abscheu der Zuschauer auf die lenken, die ihn vollführen. Das Spiel zielt in solchen Fällen nicht auf rituelle Integration, sondern inszeniert eine Abgrenzung: der Zuschauer sieht, was nicht sein sollte. Im Spiel löst sich die klare Formierung ritueller Partizipation auf in einer Beobachterhaltung, die – je nach dem Gezeigten – unterschiedliche Reaktionen herausfordert, ja theoretisch sogar grundsätzlich unterschiedliche Einstellungen zulässt (obwohl natürlich von der Anlage der Spiele her nur die eine: Abscheu gegen die Peiniger, Mitleiden mit dem Gekreuzigten zulässig ist). Für die Zuschauer soll sich die Aggression gegen die richten, die die Aggression ausüben, und es soll durch die ›verkehrte‹ Huldigung die geforderte wahre Huldigung angeregt werden. Die Teilhabe am Ritual vollzieht sich also für Akteure und Zuschauer auf zwei unterschiedlichen Ebenen und in entgegengesetzter Richtung. Im Vergleich zu einem Ritual wird der dargestellte Vorgang damit ambivalent. Gespielte Spottrituale sind außerdem – trotz eindeutiger Wertung – Kipp-Phänomene; es ist nie auszuschließen, dass sie sich gegen das wenden, was sie eigentlich als verehrungswürdig erscheinen lassen wollen, indem sie es dem Spott der Verblen-

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Vgl. PfP 1646–1663. AP S. 775. Dieses Spiel ist reich an Spottritualen: vgl. den Tanz der Teufel S. 571, das Mahl des Herodes S. 597, den Tanz der Juden und der Teufel S. 598, das Tanzlied der Tochter der Herodias S. 602, das Teufelsgelächter S. 605.

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deten preisgeben; auf die ›anderen‹, die die Norm verletzen, weil sie von Anfang an auf der falschen Seite stehen, kann projiziert werden, was als Aggression gegen die Gottheit verboten ist. Der Betrachter wird zwar instruiert, was richtig ist, aber gegen den Zuschauer eines Spiels gibt es keine Sanktion, wenn er der Instruktion nicht folgt. Dass sich mindestens prinzipiell solch eine Möglichkeit eröffnet, ist Konsequenz der beginnenden Ablösung des literarischen vom kultischen Ritual. Die Spiele können den von der Liturgie und den paraliturgischen Ritua len gesetzten Verständigungsrahmen sprengen. Damit scheint mir die Kontroverse auflösbar, die sich an Warnings These einer Remythisierung des christlichen Kerygmas in den Spielen geknüpft hat, die These einer Überführung der Darstellung von Christi Leiden zwecks Verkündigung der Erlösung in ein regressiv-mythisches Opferritual, in dem die Gottheit getötet wird.62 Auf der Textoberfläche ist, darin ist Warnings Kritikern Recht zu geben, ein derartiges Ritual nicht erkennbar; es widerspricht den dort manifestierten Intentionen, und auch in anderen liturgischen und außerliturgischen Formen mittelalterlicher Frömmigkeit lassen sich den Spielen verwandte Phänomene exzessiver Aggression gegen das Heilige zwecks Steigerung frommer compassio erkennen.63 Aber diese Einwände treffen Warnings Beobachtungen nicht, Beobachtungen zu einer Dimension der Spiele, die sich kaum mit ihren vorgeblichen Zwecken vereinbaren lässt: Die Spott- und Folterszenen können auch als solche, unabhängig von ihrem frommen Zweck, ästhetisch genossen werden. Dass die von der Religion geforderte Haltung völlig in der von Warning beschriebenen Weise ›kippt‹, fällt zwar schwer zu glauben. Allerdings sollten im 16. Jahrhundert die protestantischen Einwände gegen diese Art, Heilsgeschichte zu inszenieren, zu denken geben. Die Darbietungsform des Spiels nämlich eröffnet Wirkungsmöglichkeiten, die in geringerem Maße kontrollierbar und beherrschbar sind als diejenigen eines Rituals. Das Spiel hat die Beteiligten aus der Bindung des Kults entlassen. Einem Ritual kann man sich entziehen, oder man kann es stören, aber es stellt dem, der an ihm teilnimmt, keine alternativen Möglichkeiten der Reaktion zur Wahl. Das Spiel ist

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Vgl. WARNING (1974) sowie ausführlicher meinen Beitrag: ›Mimesis und Ritual‹, S. 135–160 in diesem Band. Die rememorative Interpretation der Messe, in der Warning den Anknüpfungspunkt für die Remythisierungstendenzen der Spiele sieht, ist zwar dogmatisch bedenklich, zumal aus Sicht der nachreformatorischen Theologie, aber für die mittelalterliche Auffassung maßgeblich, und die Elemente einer archaisch-rituellen Grausamkeit in den Spielen finden sich auch in Passionsmeditationen und -traktaten als Inzitamente ekstatischer Frömmigkeit. Man wird schwerlich den Zusammenhang der verschiedenen Äußerungsformen spätmittelalterlicher Frömmigkeit bestreiten wollen und in Abrede stellen, dass ihnen ein gemeinsamer religiöser Impuls zugrunde liegt. Dessen ungeachtet bleibt die von Warning aufgeworfene Frage, inwieweit die durchschnittliche mittelalterliche Frömmigkeit selbst als Rückfall in den Mythos zu verstehen ist, eine Frage, die die Reformation stellen wird.

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weniger verbindlich; es gilt nur ›als ob‹;64 die Handlungen haben keine sakramentale Wirkung; die Wunder sind keine wirklichen Wunder.65 Bei den Folterszenen mag der Spielraum für andere Einstellungen als die frommen Mitleids noch so eng sein, die Lenkung zu kollektiver compassio stark, aber es sind bloß gespielte Verletzungen und bloß gespielte Schmerzen, und in den rohen Worten der Juden wird das Heilige profaniert. Das zum Rondeau stilisierte Foltern oder die als Tanz agierte Klage zielen nicht nur auf fromme Betrachtung, sondern auch auf Erkennen der Form und mithin auf eine (wie immer auch geringe) ästhetische Einstellung. Die Wirkung des Spiels ist übrigens aus diesem Grund nicht so sehr von einer Störung der heiligen Handlung als von einer Störung der poetischen Faktur bedroht: Im PfP verbittet sich der Precursor Lachen der Zuschauer, wenn ainer in einem reim misredt (PfP 1008).66 Wie schmal der Spielraum für Distanz und wie labil die minima le Differenz noch ist, zeigen Pogrome gegen die ortsansässigen Juden, zeigen auch die in Chroniken berichteten Verwechslungen von Spiel- mit Alltagsrea lität. Trotzdem bezeugen schon zeitgenössische Kritiker, dass es diesen Spielraum gibt und man ihn wahrnimmt. Was Warning beschreibt, ist die Tiefenstruktur eines literarischen Textes. Das bedeutet freilich nicht mehr und nicht weniger – und das scheint mir die Pointe von Warnings Untersuchung zu sein, wenn er zeigt, wie jene Remythisierungstendenzen der Spiele die wissenschaftliche Theologie unterbieten –, als dass in diesem Fall Literatur hinter das religiöse Kerygma zurück fallen kann, dass in der theatralisierten und literarisierten Heilsgeschichte der theologisch bewältigte Mythos wieder durchbricht und dass mithin Literarisierung keineswegs not wendig mit Komplexitätssteigerung und gesteigerter Reflexionskapazität verbunden ist. Damit ist, wie mir scheint, die traditionelle Hierarchie kultureller Objektivationen, die in den Augen der Gebildeten heute der Literatur jederzeit und in jeder Form den höchsten Platz zuerkennt, ist ein latentes Dogma herkömmlicher Kulturwissenschaft dekonstruiert: als eine neuzeitlicher Kunstmetaphysik geschuldete Illusion. Was mit dem Schritt aus der Liturgie heraus gewonnen wird, sind Einstellungsalternativen, wie sie die poly va lenten und polyfunktiona len Strukturen der Literatur zulassen, die sich von Ritual und Liturgie emanzipiert und sie gleichzeitig parasitär ausbeutet. Doch sind diese Alternativen nicht notwendig die höherwertigen. Sie lassen in diesem Fall den Rück fall auf ein archaischeres kultisches Modell zu, freilich gerade nicht als kultische Alternative.

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Zu den vielen Fiktionssignalen im DP G. WOLF (1996); ein Beispiel: Malchus fällt hin als ob im ein or ab sy so gat/ der saluator hin zu vnd thut glich/ als er im daz or wider an satzt (DP S. 154). BECKWITH (1992), S. 68. »The point I am making here is that the line between liturgy, church and theatre is a line that needs to be drawn and redrawn. It is anxiously policed to keep the labile potentialities of theatrical praxis under control« (S. 77). Dagegen klagt er die fromme Bedeutung ein: Wan es doch zw eren Ihesu Crist/ Gänczlich angefangen ist (PfP 1012f.); vgl. WAR NING (1997).

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V. Das ist keine ahistorische Projektion auf eine noch stark kultgebundene Gattung. Die Gefährdung durch Ablenkung vom religiösen Zweck wurde von Anfang an gegen die Spiele eingewandt.67 Seit dem 15. Jahrhundert und erst recht unter dem Einfluss der Reformation mehren sich Zeugnisse, die am literarisch-fiktiona len Status des Spiels angesichts seiner religiösen Ziele Anstoß nehmen. In zeitgenössischen Berichten über Aufführungen gibt es immer wieder Anekdoten, die den unsicheren Status der Spiele zwischen Kult und Spektakel beleuchten. Am häufigsten ist wohl das Überspielen der Grenze von Spielwirk lichkeit und Alltagsrealität – ein Spieler wird etwas zu realistisch gemartert und setzt sich zur Wehr, das sitio des sterbenden Christus wird als Ruf nach Bier verstanden, der nackte Jesus am Kreuz zeigt sein Interesse an der trauernden Maria Magdalena durch eine Erektion.68 Dergleichen sind meist schwank haf te oder polemische Zuspitzungen, oft von Gelehrten oder Reformatoren, die den Veranstaltungen und ihrer frommen Absicht skeptisch begegneten. Sie gehören in die Spätzeit des Geistlichen Spiels, bevor es ins moraldidaktische Bibeldrama der Reformation überführt oder katholisch reformiert wurde, wobei freilich z. T. auch die inkrimierten Szenen bis ins 20. Jahrhundert fortlebten. Den Spielen wird aus der Perspektive der Alltagsrealität auf zweifache Weise ihre Bedeutung bestritten, als religiöses Ritual und als Theater: Die weder durch Amt noch durch Charisma ausgezeichneten Akteure profanieren den heiligen Gegenstand, und der Laienspielschar gelingt es nicht, eine eigene fiktionale Realität zu schaffen und stabil zu halten. Die Kritiker stellen sich außerhalb der anwesenden Gemeinde, die als Vergegenwärtigung von Heilsgeschehen gläubig hinnimmt, was sie sieht, und sie kündigen den, wie rudimentär auch immer, vorausgesetzten Fiktionskontrakt auf, der das Publikum hindert, die theatralische Realität unmittelbar auf seine Alltagswelt zu beziehen. Dass beide Weisen der Kritik nebeneinander existieren, liegt an dem unsicheren Status der Spiele zwischen Kult und Theater und ihrem Geltungsanspruch für das persönliche Heil der Zuschauer. Da es um eine heilige, sie unmittelbar betref fende Handlung geht, kann die Grenze zur Alltagswelt der Spieler nie so rigoros gezogen werden wie bei einer von vorneherein als fiktional herausgehobenen Spielwirklichkeit. Alltagswelt und Spielwirklichkeit können nie vollständig entkoppelt werden. Das biographische Ich des Spielers schlägt auf seine Rolle durch, entweiht die heilige Geschichte und stört die Wahrnehmung der Rolle.

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Vgl. etwa NEUMANN (1987), S. 869–873. Ebd., S. 882, 899, 911, 912. Weil solche Ver wechslungen immer möglich waren, sind immer wieder Lachen und Spott als Reaktion auf die fromme Hand lung bezeugt (vgl. S. 673, 892, 897). Auch dass die Rolle der Folterer attraktiver ist als die des Gefolterten (S. 904) setzt die Vermengung von Spiel und Realität voraus.

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Die Anekdoten zielen auf eine Entzerrung von Heiligem und Profanem. Sie belegen, dass grundsätzlich den Spielen eine kultische Bedeutung zugeschrieben wurde und dass sie deshalb als Kulthandlungen pervertierbar waren. Um Rollen scheint nicht ihrer schauspielerischen Attraktivität, sondern ihrer kultischen Bedeutung wegen gestritten worden sein.69 Über eine Aufführung im sächsischen Freiberg 1523, die letzte der im siebenjährigen Turnus stattfindenden Weltgerichtsspiele, wird berichtet: Es soll damals unter die zwölff Moriones, welche in Gestalt des Teufels den dritten Tag mit auffgezogen, der rechte sich eingemenget und den einen gantz weggeführet haben, daß ihrer nur eilff blieben; so sei auch ein Brett gebrochen, habe eine Jungfrau gefährdet, und deshalb habe man die Spiele künftig aufgegeben.70 1519 wird aus Guben berichtet, dass sich zu den 9 vermumten Teuffeln der zehende gefunden habe, der einen der übrigen zu verführen suchte, einen Brand legte und den, der ihm folgte, bestrafte.71 Die Anekdoten erzählen nicht von den Ausschreitungen, zu denen es, zumal unter der Maske von Teufeln, häufiger kam72 – die Spiele waren vor allem ein Problem für die öffentliche Ordnung –, sondern vom Erscheinen des leibhaftigen Teufels. Das Spiel wird hier nicht als Theater, sondern als religiöses Ritual aufgefasst, aber als widergöttlicher Satanskult. Anekdoten dieser Art richten sich später explizit gegen papistische Blindheit 73, die dergleichen zuließ, aber sie radikalisieren nur Einwände, die von Anfang an gegen die szenische Verkörperung von Rollen des Bösen (wie damals auch umgekehrt des Heiligen) vorgebracht wurden. Die Spiele sind für die Vertreter des neuen Glaubens besonders scheußliche Beispiele katholischen Aberglaubens. Der reformatorische Impetus richtet sich gegen eine als heidnisch angesehene Frömmigkeit, die den Teufel in den Ritus und die Verkündigung des Heils mischt. Die Kritiker suchen die Zweideutigkeiten des Geistlichen Spiels durch scharfe Grenzziehungen zu beseitigen, namens der Integrität religiöser Verkündigung, die keine Kontamination durch Fiktion und theatrale Mittel, erst recht keine – wenn auch noch so schüchterne – Ansätze ästhetischer Einstellungen duldet. Wo sich reformatorische Autoren dogmatisch relevanter religiöser Stoffe bedienen (und nicht nur biblische Geschichten szenisch bebildern), da bemühen sie sich – bis hin zur Pedanterie – um theologisch korrekte Auslegungen und wörtliche Bibelzitate; das Spiel ist dann nur noch szenisch realisierte Theologie und sonst nichts.74 Zu recht wurden die Abgrenzungsversuche zwischen ›Ritual‹ und ›Theater‹ in der Forschung zum Geistlichen Spiel als unangemessen kritisiert und auf die Er69 70 71 72 73 74

Ebd., S. 347. Ebd., S. 336. Ebd., S. 887; vgl. S. 896: das Spiel als Teufelsanbetung. Ebd., S. 405, 777, 871. Ebd., S. 886. Vgl. RUEFF: ›Das Züricher Passionsspiel‹ (1984). Das Problem ist ausführlich behandelt bei KOLVE (1966). Auch die gegenreformatorische Literatur bindet sich, etwa Calderon in den autos sacramentales, an das Dogma zurück, bei sorgfältiger Unterscheidung von Sakrament und Liturgie.

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weiterung des Ritualbegriffs in der neueren soziologischen und ethnologischen Forschung verwiesen, die theatrale Rituale als Modelle sozia ler Interaktion versteht und kultische Rituale als eine Sonderform solcher Interaktionsrituale beschrieben hat.75 In der Tat hat besonders die englischsprachige Forschung gezeigt, wie im Spätmittelalter paraliturgische Rituale (wie die Fronleichnamsprozession) und das kultnahe Geistliche Spiel (in England eng mit ihr verbunden) wachsende Bedeutung als Akte ritueller Integration der Stadtgemeinde gewinnen, ihrer Ordnung im Inneren und ihrer Abgrenzung nach außen, als Darstellung von Einheit einer Vielheit und als Medium des Ausagierens sozia ler Antagonismen.76 Diese sekundäre (politisch-soziale) Funktion überlebt im Reformationszeitalter bei weitem die als primär anzusetzende (religiöse), und schon vorher verschiebt sich das Gewicht in ihre Richtung.77 Wir haben es hier mit einem gleitenden Übergang zwischen unterschiedlichen Typen von Ritualen und wieder einer Ver wischung der Grenzen zwischen genuin rituellen und literarisierten Formen von Theatra lität zu tun. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung entbinden freilich noch nicht von der Notwendigkeit einer Unterscheidung von Typen ritueller Abläufe, ihrer Strukturen und Funktionen, der Formen und der Grade an Verbindlichkeit der Partizipation. Eine Gattung wie das Geistliche Spiel ist als Verzweigungspunkt kultureller Alternativen – zwischen gemeinschaftlichem Kult, Überhöhung der sozialen Praxis und frommem Spektakel – erkennbar, wobei die meisten Texte noch mehrere Aufgaben zugleich zu erfüllen beanspruchen. So hat sich die Literaturwissenschaft hier ihr Feld mit anderen Kulturwissenschaften zu teilen. Die Zukunft des frühneuzeitlichen Theaters liegt in der Abwendung von Kult und Ritual, wenn dies auch immer wieder Gegenbewegungen zwecks Wiedergewinnung kultischer und ritueller Verbindlichkeit heraufruft. Was in theatralischer Darstellung Ritual heißt, ist immer schon Ritual zweiter Stufe, vermittelt durch theatrale Mittel und abhängig von der Institution des Theaters. Schon das Geistliche Spiel hatte in Ablösung vom Kult sekundär derartige neue rituelle Elemente herausbildet. In der aufgeführten Heilsgeschichte bedeutet Ritual etwas anderes als im religiösen Kult, den die Aufführung doch zu verlängern vorgibt. Solange das Spiel an ihm partizipiert, lassen sich in ihm also zwei strukturell eng verwandte, in der Praxis kaum unterscheidbare, funktional jedoch fundamental unterschiedliche Typen von Ritualen ausmachen. Erkenntnisfördernd ist der Ritualbegriff nur, wenn man ihn historisch differenziert.

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JAMES (1983), S. 11, 19; BECKWITH (1992), S. 79. JAMES (1983) untersucht den Zusammenhang zwischen Fronleichnamsspielen und den Formen der Selbstdarstellung der Kommune in der Fronleichnamsprozession (vgl. bes. S. 8–16). Ebd., S. 19, 21, 26f.

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Mimesis und Ritual

Dass das Geistliche Spiel nicht in den Kategorien theatralischer Mimesis beschrieben werden kann, ist eine Binsenweisheit. Weit weniger einig ist man sich, welchen Status und welche Funktion man ihm zuzuschreiben hat. Ein Großteil der Spätmittelalterforschung hat sich mit der Formel beruhigt, das Spiel diene der religiösen Verkündigung: der memoria des Heilsgeschehens, der Belehrung über bestimmte Glaubensinhalte und der Er weckung von compassio, emotionaler Anteilnahme am Leiden Jesu. So scheinen es die Verfasser der Spiele beabsichtigt zu haben, und so werden sie von ihren Apologeten gerechtfertigt. Daher kommt es, dass Rainer Warnings Buch von 19741, das einer solchen Lesart entschieden widersprach, in der germanistischen Forschung zumindest hauptsächlich Abwehrreflexe auslöste – sofern man sich überhaupt dem Anspruch seiner Thesen stellte –,2 so dass Warning sich 1995 noch einmal veranlasst sah, vor den »hermeneutischen Fallen« zu warnen, in die der moderne Interpret tappt, wenn er sich mit den beruhigenden Formeln der Belehrung und Erbauung durch die Spiele zufriedengibt.3 Meist verlässt man sich nämlich auf den religiösen Rahmen der Darstellung, das heilsgeschichtliche Geschehen, durch das nach Meinung der Interpreten burleske wie schockierende Aktionen, die Obszönitäten des Salbenkaufs wie die Grausamkeiten bei der Folter schon in die ›richtige‹ religiöse Perspektive gerückt werden. Nicht beachtet wurde meist, dass solche ›Rahmungen‹ ebenso gut nur der Lizenzierung des andernfalls Verbotenen dienen können, so dass sich unter ihrem Schutz abweichende Intentionen ausagieren können, ein Umstand, der der Massenpsychologie geläufig ist. Dass solch ein Umkippen tatsächlich stattfand, ist zwar vom Text

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WARNING (1974). Eine Ausnahme ist die gewichtige Rezension von OHLY (1995). – Als besonders anstößig wurde offenbar empfunden, dass Warning ein Problem aufgriff, das ein Nazi-Forscher (STUMPFL [1936]) zum Ausgangspunkt seiner Thesen über ein im Mittelalter perennierendes paganes (»germa nisches«) Bewusstsein, das in den Spielen durchbreche, hochgespielt hatte. Die Nachkriegsmediävistik, die oft schon die Berührung mit Themen scheute, die das Tausendjährige Reich favorisiert hatte, verdräng te dabei allzu schnell, dass eine Frage nicht schon deshalb falsch ist, weil sie sich ideologisch missbrauchen lässt. Auseinandersetzungen mit Geistlichen Spielen in der angelsächsischen Mediävistik gehen dagegen, wenn auch meist ohne Bezug auf Warning und ohne Reflexion der theoretischen Voraussetzungen, in eine ähnliche Richtung wie dieser. WARNING (1997).

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der überlieferten Spiele her nicht beweisbar, wird aber durch Berichte von Aufführungen dokumentiert, die vom Bruch des sakralen Zusammenhangs erzählen.4 Warning hatte – vereinfacht gesprochen – die Spiele und ihren Verkündigungsanspruch am theologischen Kerygma gemessen und ihren uneingestandenen Rückfall in den Mythos betont. Unter der Oberfläche der Darstellung des Passionsgeschehens z. B. liege ein archaisches Sündenbockritual verborgen, in dem die Erlösung am Kreuz nur Deckmantel für die Aggression gegen das Lamm Gottes sei, das blutig geopfert werde. Das unblutige Opfer der Eucharistie werde in den (theologisch überwundenen) mythischen Ursprung des Blutopfers zurückgespielt.5 Spuren jener dementierten eigentlichen Funktion zeigten sich auf der Textoberfläche in den bis zum Exzess getriebenen, dabei kunstvoll rhythmisierten und rituell geformten Worten und Aktionen der Folterung. Warnings Überlegungen werfen fundamentale Probleme spätmittelalterlicher Frömmigkeit wie auch spätmittelalterlicher Theatralität auf. Ich möchte an sie anknüpfen und sie in Beziehung setzen zu einigen Einwänden, die gegen sie erhoben wurden. Mein Ziel ist es zu zeigen, wie in der Tat die Spiele den durch Liturgie und Verkündigung gesetzten Rahmen zu sprengen drohen, andererseits aber immer wieder Strategien entwickelt werden, sie in den Kontext von Liturgie und Verkündigung zurückzuspielen. Dies beruht auf ihrem ambivalenten Status zwischen – schlagwortartig verkürzt: – ›Kult‹ und ›Theater‹.6 Indem Warning zuerst ihre kultische Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund der elaborierten Theologie in Frage gestellt hatte, rückte er dieses für eine Genealogie literarischer Formen zentrale Problem in den Blick: eine Freisetzung der Imagination aus rituellen Vollzügen. Bevor ich diese Überlegungen an überlieferten Texten überprüfe, möchte ich einige Prämissen nennen, von denen ich ausgehe. 1. Aus dem Spätmittelalter sind zahlreiche Zeugnisse einer paraliturgischen Frömmigkeit überliefert, die z. T. enge Verwandtschaft mit Thematik, Motivbestand und Appellen der Spiele an den emotionalen Nachvollzug durch den Gläubigen aufweisen. Ihre Äußerungsformen sind zwar manchmal theatra lisch – es gibt ›Spieler‹ bestimmter ›Rollen‹, Masken, Requisiten –, aber sie verselbständigen sich nicht zum Theater und stehen meist unmittelbar in zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit liturgischen Handlungen.7

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Zahlreiche Beispiele in der monumentalen Dokumentation von NEUMANN (1987), vgl. oben S. 132f. So WARNING (1974), etwa S. 213. Ich beschränke mich auf das Passionsspiel, weil ihm die folgenden Überlegungen gelten, lasse also Warnings Überlegungen zum Osterspiel und zu den übrigen Spieltypen beiseite. Vgl. MÜLLER (2001) sowie den vorausgehenden und den folgenden Beitrag; den Zusammenhang von Kreuzigung und Exekutionsritualen habe ich in einem Vortrag dargestellt (Christus am Kreuz. Zum Geistlichen Spiel im Spätmittelalter), der vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten wurde und bislang nicht veröffentlicht ist. Beispiele bei DUFFY (1992): zu Bräuchen an Lichtmess, Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern, Fronleichnam usw.; zur Passionsfrömmigkeit auch FRANZ (1963);

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2. Das Passionsspiel steht von Anfang an neben der kirchlichen Liturgie; es geht nicht aus ihr hervor und setzt sich niemals an ihre Stelle, doch weist es zahlreiche Berührungspunkte und Interferenzen mit theatralischen Elementen in der Liturgie auf, an die es anknüpfen kann. So ist es zwar einerseits genetisch wie funktional von ihr zu trennen, andererseits aber ebenso vom neuzeitlichen Theater abzusetzen, dem der konstitutive Bezug auf religiöse Ritua le durchweg fehlt.8 3. Von liturgischen Akten unterscheidet sich das Spiel durch das Verhältnis von Akteuren und Nicht-Akteuren. Aus Zelebranten werden Spieler, aus der mitfeiernden Gemeinde Publikum. Doch sind wieder Übergänge möglich, indem die Spieler aus der Mimesis der Handlung heraustreten und liturgische Rollen übernehmen können, die Zuschauer in der Reaktion auf das Dargestellte als Gemeinde zu handeln aufgefordert werden. 4. Das Spiel wird vor einem Publikum vorgeführt, für das die Heilswirkung der Liturgie und des dargestellten Geschehens sicher verbürgt sind, das also über den Ausgang wie über Bewertung nie im Zweifel ist. Das Spiel trifft also grundsätzlich auf einen relativ stabilen Rahmen der Verständigung. Dieser Rahmen kann freilich genutzt werden, um Abweichendes (z. B. Burleskes in den Osterspielen; Rituale des Quälens in den Passionen) aufzunehmen, wobei sich die Frage stellt, inwieweit er dessen Verständnis steuern kann oder ob er durch solche Elemente unterlaufen wird. 5. Inhalte und Motive der Passionsspiele entstammen durchweg einem auch in der Volkssprache weit verbreiteten geistlichen Schrifttum (z. B. Passionstraktaten, Meditationen, Visionen), das als Anleitung zu privater Frömmigkeit dient. Man darf also nicht nur bei den Verfassern, sondern ebenfalls beim Publikum mit einer geistlichen Erwartungshaltung auch dort rechnen, wo neuzeitliches religiöses Empfinden z. B. durch die Drastik der aufgerufenen Vorgänge verletzt ist. 6. Die Spiele folgen über wiegend einer (mehr oder minder biblisch gestützten) ›historischen‹ Anordnung.9 Neu hinzukommende Szenen haben meist die Auf-

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vgl. KÖPF (1993); er weist S. 31 auf die theatralen Elemente der Frömmigkeit des hl. Franziskus hin, den er »durch und durch Schauspieler« nennt. BERGMANN (1972), S. 251f. Selbstverständlich gibt es Übergangsformen; Kernszenen der Osterspiele z. B. sind in den paraliturgischen Osterfeiern vorgebildet. Trotzdem ist der latente entwicklungsgeschichtliche ›Darwinismus‹ der Spiel-Forschung von H ARDISON (1965) zu Recht zurückgewiesen worden, indem die kategorialen Differenzen nicht verwischt werden dürfen. Sie stellen vor allem bei Übergangsformen interessante Probleme; vgl. u. a. BECK WITH (1992), S. 76–79; FICHTE (1993), S. 279f., der für eine strikte Trennung von (historisch orientiertem) Spiel und Liturgie (Perpetuierung des Heils in der Messe) plädiert. Die ›historische‹ Struktur kann von typologischen Mustern überlagert werden wie in den Fronleichnamsspielen; sie kann ihren Grund in der Liturgie haben wie die in den Osterspielen übernommene Dreigliedrigkeit der Osterfeiern, die dem Geschehen zwischen Kreuzigung und Auferstehung folgen (so im sog. Typ III der Osterfeiern, vgl. DE BOOR [1967]). Sie kann durch kom mentierende Partien skandiert sein (z. B. durch

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gabe, den Geschehensnexus zu vervollständigen, indem sie Zwischenglieder einführen.10 Solche Zwischenglieder tendieren dazu, ihrerseits aufgefüllt zu werden, andere Zwischenglieder zu generieren usw. In der Konzentration auf die historia wird weithin die Deutungsperspektive ausgeblendet, das Heilsgeschehen also auf seine ›historische‹ Dimension reduziert. 7. Damit ist die ›Lesart‹ der Spiele, anders als die von Passionstraktaten, Erbauungsbüchern, Legenden und Apokryphen11 letztlich weniger eindeutig festgelegt. Zwar bemühen auch diese sich um sinnliche Vergegenwärtigung der Passion, doch im Dienste meditierender Aneignung des religiösen Gehalts. In der theatra lischen Suggestion verlagert sich der Akzent vom religiösen Sinn des Geschehens stärker auf seine Anschaubarkeit und seine emotionale Wirkung. Weil der heilsgeschichtliche Sinn dabei an den Rand gerät, sind in vielen Spielen explizite Korrekturen erforderlich (Kommentare, Dispute, Aufforderungen zu Betrachtung und Gebet). Aus diesen Prämissen ergibt sich eine Reihe von Problemen, die untereinander eng zusammenhängen: Wie ist in den einzelnen Spielen das Verhältnis zur Liturgie inszeniert? Wie ordnen sie sich anderen spätmittelalterlichen Frömmigkeitsformen zu? Wie sicher steuert der implizite Verständigungsrahmen die Wahrnehmung der einzelnen Szene, und wie wird er in den Spielen zur Geltung gebracht? Welche Spielräume für Wahrnehmung und Deutung öffnet die Wucherung der Spielhandlung? Lässt sich von der doppelten Lesbarkeit des Zeichens, das aus seinem ursprünglichen Deutungsrahmen entlassen ist, auf seine funktionale Ambiva lenz schließen oder sogar auf eine der offiziellen zuwiderlaufende Bedeutung? Von der Lösung dieser Probleme ist mindestens die germanistische Mediävistik weit entfernt. Unbefriedigend ist jedenfalls der zumal von Historikern unternommene Versuch, die Spiele als eine der ein wenig skurrile Ausdrucksformen spätmittelalterlicher Frömmigkeit einfach hinzunehmen. Dass das Problem der Ambivalenz sich nicht nur aus neuzeitlicher Perspektive ergibt, belegt die Geschichte der Spiele selbst: Von Anfang an sind sie von Versuchen begleitet, ihr Wirkungspotential dogmatisch korrekt zu kontrollieren. Dass dies nie vollständig gelang, zeigen nicht nur die Exzesse und seltsamen Grenzüberschreitungen, von denen berichtet wird, sondern vor allem die Ablehnung des Genres durch die Reformation sowie die Bemühungen gegenreformatorischer Bearbeiter älterer Spie-

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Kommentare von Propheten oder den Dialog zwischen ›Kirche‹ und ›Synagoge‹): In allen Fällen bleibt sie Basisstruktur. Selbst die rememorative Sinngebung der Messe in der Auslegung des Amalar von Metz strebt keine vergleichbar klare historische Strukturierung der Liturgie an, d. h. die Messe kann bestenfalls näherungsweise auf das Leben Jesu hin ausgelegt werden; auch die Deutung der Aktionen des Zelebranten kann nur vage, überdies mit wechselnden Zuordnungen Beziehungen zum Leben Jesu herstellen (vgl. FRANZ [1963], S. 354–358). Die Quellen der narrativen Ergänzungen des Passionsgeschehens über die Evangelien hinaus untersucht M ARROW (1979). Zur Bedeutung der Passionstraktate schon RUH (1950); auf die Abhängigkeit der Spiele von ihnen machte zuerst aufmerksam: PICKERING (1953); vgl. DERS. (1966), S. 149 u. ö.

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le, Krassheiten zu mildern, wo sie die fromme Wirkung mindern und zu einem Kippen der Wirkung – offen oder verdeckt – führen konnten.12

II. Ich beginne mit dem Verhältnis von Spiel und Liturgie.13 Es lässt sich besonders an der Eucharistie erläutern.14 Die Eucharistie rückt im 13. Jahrhundert in den Vordergrund, als Zentrum religiöser Devotion innerhalb und außerhalb der Messe, als Symbol der christlichen Gemeinde und zugleich als Kernstück priesterlicher Macht.15 Ihre Einsetzung steht am Eingang des Passionsgeschehens. Die Szene der Einsetzung wird zwar in der Messe am Beginn der Wandlung memoriert. Der eigentliche Akt der Konsekration, der in diesen narrativen Rahmen gestellt wird, ist jedoch nicht bloß memorativ, sondern performativ: Im Sprechen der Einsetzungsworte wiederholt sich die Verwandlung von Brot und Wein; Christus wird gegenwärtig. Dieser Vorgang steht in einer Folge von priesterlichen Handlungen, die nicht an der historischen Abfolge der Geschichte Jesu orientiert sind, sondern einem liturgischen Programm folgen, das zeremoniell ausgeschmückt wurde und seinerseits theatrale Elemente enthielt. Das Messopfer vergegenwärtigt nicht eine Szene beim letzten Abendmahl, sondern wiederholt Christi Erlösungsopfer und schafft damit die Kirche als den mystischen Leib Jesu immer wieder neu. Kernstück der Messe ist ein unblutiges Opfer, das dem blutigen Kreuzestod vorausging,

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Die Veränderung der Darstellungskonventionen ist darstellbar an der Villinger und der Luzerner Passion im Verhältnis zum Donaueschinger Passionsspiel. Auch schon vor der Reformation gibt es Kritik am Vorhaben, die Passion zu spielen (FICHTE [1993], S. 288). Vor allem die Darstellung Gottes war inkriminiert (KOLVE [1966], S. 31: nur Stimme); vgl. zu Reaktionen NEUMANN (1987). Liturgie wird im technischen Sinne – als historisch gebundene Form des gemeinsamen Gottesdienstes – verstanden, nicht als »überzeitliche Idee« einer besonders gearteten Frömmigkeitshaltung (so BRINKMANN [1932]). Sie ist ein Ritus, der eine Reihe mythischer Reste abgestreift oder umgedeutet hat (etwa das Selbstopfer Jesu in der Eucharistie). Ich spreche im Folgenden von Liturgie, wenn es sich um die innerkirchliche, von Ritual, wenn es sich um die Außenperspektive handelt. Zur in der Spätantike in ihren wesentlichen Zügen abgeschlossenen Geschichte des Altarssakraments und der Vereinheitlichung im Frühmittelalter (unbeschadet der Ausbildung lokaler Bräuche und Gebete und der Einführung neuer Feste, die die Liturgie im Westen lebendig erhalten): DIX (1952); vgl. RUBIN (1991); DIES. (1992); KOLVE (1966). RUBIN (1991), S. 13; 35f.; 49f. u. ö.; BECKWITH (1992), S. 66; DIES. (1993); vgl. DUMOUTET (1926); DIX (1952), S. 598f.

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ihn im christlichen Kult ersetzt und deshalb im liturgischen Ablauf kontrafaktisch auf ihn ver weist. Eucharistie und Erlösungstod gehören zusammen.16 Das Spiel nun re-präsentiert mimetisch den Einsetzungsakt, doch herausgelöst aus dem liturgischen Zusammenhang des Messopfers haben die Konsekrationsworte keine performative Funktion. Der Umstand, dass die Liturgie mimetische Elemente enthält und dass sie gelegentlich in Analogie zu theatralischer Mimesis interpretiert wird,17 tangiert nicht die fundamentale Differenz zwischen Sakrament und szenisch re-präsentiertem vergangenem Geschehen.18 In der Abendmahlsszene der Spiele interferieren also theatra lische Mimesis und Liturgie und treten zugleich scharf auseinander. Die Passionsspiele haben auf diese Differenz in unterschiedlicher Weise reagiert, doch stets ist erkennbar, dass hier ein Problem liegt. Schon die ältesten Spiele19 betonen in ihrer Knappheit die historiographisch-chronologische Struktur des dargestellten Geschehens, das keinen Raum für rituelle Abläufe bietet. Der ›Ludus breviter de passione‹ folgt getreu dem Bericht der Evangelien, wobei ›der Herr‹ und nicht der Priester handelt und Worte des Evangelienberichts spricht. Die Einsetzungsworte beim Brot folgen Matthäus,20 diejenigen beim Kelch sind nur angedeutet; es fehlt also – jedenfalls im schriftlich überlieferten – Text der Verweis auf den neuen Bund und das Opfer für die Sünden der Welt, mithin gerade das, was als Gründungsakt des Messopfers gilt: Et ista hora accipiat Dominus panem, frangat, benedicat, et dicat: Accipite et comedite, hoc est enim corpus meum. Similiter et calicem. Et postquam cenatur, Dominus dicat: Surgite, eamus hinc (S. 514f.).

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DIX (1952), S. 238–267; die Konsekration ist an den gesamten Akt, nicht einzelne Worte gebunden. ›Tut dies zu meinem Gedächtnis‹ meint nicht bloße Erinnerung; das griechische Ana mnesis ist nicht Erinnern eines Abwesenden, sondern ›Etwas in der Fülle seiner Kraft gegenwärtig Machen‹ (S. 245). – Die Wirk samkeit der Konsekration und ihre Verhinderung durch minima le Formfehler waren ein vieldiskutiertes Thema (RUBIN [1992], S. 49f.; DIES. [1991], S. 35–49; 56–63); zu dieser Formgebundenheit gehörte die audiovisuelle Überhöhung des Messopfers; einzelnen Bräuchen wie der Elevation wurde dann ihrerseits sa kramentaler Charakter zugeschrieben (S. 63f.); zur zeremoniellen Ausschmückung seit der Spätantike DIX (1952), S. 397–433. Beispiele bei BECKWITH (1992), S. 76f. Auch ist an die »magische[] Degradation der Eucharistie« selbst in spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu erinnern (WARNING [1974], S. 214; zu den magischen Ver wendungen geweihter Hostien: FRANZ [1963], S. 93–114). BECKWITH (1992), S. 68 nennt sie »a purely theatrical event«, die Hostie »the little biscuit [...] a mere stage prop«, und die Wunder einen Theatereffekt, alles »outside of clerical jurisdiction«. Hier werden Grenzen, moderner Ausdifferenzierung gemäß, gezogen, die die Spiele und paraliturgischen Rituale allerdings immer wieder überschreiten, wie übrigens Beckwith selbst herausarbeitet (vgl. S. 75f., 78). Nach YOUNG (1962), Bd. I. Matth 26,26; vgl. BERGMANN (1972), S. 222.

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Nach dem Prinzip, dass nur aufgeschrieben wurde, was man nicht ohnehin wusste, wäre daran zu denken, dass die Lücke aus selbstverständlicher Kenntnis der Einsetzungsworte ergänzt werden sollte. Gleichwohl fällt bei der Treue, mit der das Spiel hier dem Bericht des Matthäus (im Folgenden dann dem Lukas- und Johannesevangelium) folgt, die Abweichung auf. Die Kernszene des Messopfers ist gegenüber den umgebenden Vorgängen nicht nur nicht herausgehoben, sondern auf die gleiche Stufe wie weit weniger folgenreiche Ereignisse der Leidensgeschichte gestellt, mithin nivelliert. Der Text des ›Benediktbeurer Passionsspiels‹ ist noch lakonischer. Er verweist nur auf das ›gewöhnliche‹ Verfahren bei der Einsetzung der Eucharistie: Interea Iesus faciat, ut mos est in cena. Postea assumat quatuor Discipulos [...] (S. 525). Ist auch hier die Szene mithilfe der Liturgie aufzufüllen? Was aber ist mos in cena? Was genau ist Gegenstand der Mimesis, der alltagsweltliche oder der liturgische Vorgang, ein Mahl unter Freunden oder ein sakraler Akt? Der bei Tisch mit seinen Jüngern sitzende Jesus und der am Altar agierende Priester tun nicht dasselbe. Identisch ist nur der Kern der Handlung. Unklar bleibt, ob zum mos in cena das Aussprechen der Konsekrationsworte gehört und in welcher der überlieferten Formen. Auch in der Wahl der Quelle differieren nämlich Liturgie und Aufführung. Während die Spiele Biblisches sonst meistens in der durch die Liturgie vermittelten Form zitieren, dominiert bei der Eucharistie die Anlehnung an die Evangelien und den ersten Korintherbrief.21 Der strengen Formgebundenheit der Eucharistie in der Liturgie steht also eine Ad-libitum-Ergänzung im Spiel gegenüber. Die Kernszene der Eucharistie erscheint als blinder Fleck, der ebensowohl auf die Nähe wie auf die Distanz zwischen Liturgie und theatralischer Mimesis hinweisen könnte. Das prekäre Verhältnis wird nicht geklärt, sondern verwischt. In den volkssprachlichen Spielen ist das nicht anders.22 In der Regel wird mittels Latein und Gesang die liturgische Bedeutung des Vorgangs markiert, doch ist er damit kaum mehr hervorgehoben als andere Stationen des Passionsgeschehens, die sich auf biblische oder liturgische Zitate stützen können. Das ›Wiener Passionsspiel‹ macht immerhin den Leser auf die Begründung des Neuen Testaments aufmerksam: cum discipulis suis volens celebrare mandatum. Im Spieltext fordert Jesus die Jünger in lateinischen Rhythmen auf, einen Ort für das Ostermahl zu suchen. Die Verse schließen: et me, queso, sinite mandatum nouum dare.

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BERGMANN (1972), S. XX. Die Frage, welcher Evangelienbericht hinter der jeweiligen deutschen Formulierung steht, sollte nicht von der Distanz der Szene zur Liturgie ablenken. Außer den bei YOUNG (1962) abgedruckten Spielen wurden mit folgenden Siglen zitiert: AdP – Admonter Passionsspiel; AP – Alsfelder Passionsspiel; DP – Donaueschinger Passionsspiel; EF – Egerer Fronleichnamsspiel; FP – Frankfurter Passionsspiel; WP – Wiener Passionsspiel.

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Ein Satz, den der historische Jesus so nicht sprechen konnte, der aber auf die heilsgeschichtliche Bedeutung des Vorgangs aufmerksam macht. Es geschieht, wie Jesus ankündigte: Jesus celebret mandatum et dicat; was er aber in der Volkssprache sagt, spart die lateinischen Einsetzungsworte aus23 und beschränkt die Paraphrase auf ihren ›historischen‹ Kern: Ezzet, daz ist min lichname, den ich uur euch in den tot geben han (WP 515f.),

um sogleich mit der Ankündigung des Verrats fortzufahren. Für den Leser und Lateinkundigen ist die Gründung des Neuen Bundes evident; der illitterate Zuschauer sieht nur die Szene des Ostermahls. Auch das ›Alsfelder Passionsspiel‹ meidet die wörtliche Wiedergabe der Konsekrationsworte, und ihre Paraphrase ist auf den Geschehenszusammenhang, das Opfer des Lebens am Kreuz bezogen: Post hoc Jhesus accipit panem et benedicens dat discipulis et cantat: Hoc corpus pro vobis tradetur! et communicat eos et dicat rigmum: Nemmet, liebe frunde, und mercket mich: das ist myn lichanam sicherlich! der wirt gegeben yn den toid: vor uch muß hie liden noid! (AP 3088–91)24

Wo biblische und liturgische Reminiszenzen nicht durch die lateinische Sprache und einen feierlicheren Vortrag (cantare) ausgezeichnet sind, werden die Einsetzungsworte noch stärker zu einem Vorgang unter vielen. Im ›Donaueschinger Passionsspiel‹ wird die Szene des Ursprungs der Eucharistie nahezu unkenntlich. Das Spiel arrangiert die Szene so, wie man sie aus zahllosen Abendmahlsbildern kennt.

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Ihr Inhalt findet sich angedeutet in den lateinischen Versen. Auch das ist ungewöhnlich, denn biblisch bezeugte Aussprüche erscheinen sonst möglichst wörtlich in der Vulgatafassung, so gleich anschließend die Worte des Petrus: Numquid ego sum, Domine. Die Einsetzung des Kelches fehlt sogar vollständig. Bei der Einsetzung des Kelches ist der liturgische Bezug deutlicher, gleichwohl mindestens in der Volkssprache immer noch ver wischt: Deinde accipit calicem et cantat: Hic calix novum testamentum est! et dicit rigmum: Nemmet hen! das ist myn blut! wie dick ir das thut, doby solt er gedencken mynn: myn gezeugniß sail das syn! (AP 3092–3096). Der Kasus nouum testamentum und die Fortsetzung verweisen übrigens auf den Text in 1 Kor 11.

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Das aber ist nicht dasselbe, was der Gläubige am Handeln des Priesters in der Messe wahrnimmt, und die Konsekrationsworte gehen in Jesu langer Rede unter: Sitzt judas ze vnderst an tisch iohan / nes vf der rechten sitten des / salvators vnd petrus vff der lingken / vnd den nimpt der saluator das / brot gesegnet das bricht vnd büttet / ieglichem ein stuck vnd spricht (DP S. 137). mit grosser begird han y ich begert dis oster lamb ze essen des ich bin gwert ich sag üch merkent eben wie das sollichs nit me wirt ge essen hie bis das es wirt erfüllt durch mich b: gott in mines vater rich dar vmb so teillent vnder üch das wan ich sag üch an allen haß das ich nit trinck von dissem win bis das ich wider by üch würd sin das ist min lib der wirt gegeben für üch hie vmb das ewig leben das sond ir in miner gedechtnüß tün vnd stätz gedencken an gottes sün (DP 1787–1800)

Die Wandlung des Weins ist immerhin abgehoben, doch gehen die Konsekrationsworte sogleich in die Klage über den Verrat des Judas über: Diß ist der kelch der nüwen ee der für alle welt mit grossem we vß gossen wird vmb ablas der sünd diß sond ir mercken lieben fründ es geschieht dem menschen heil zu gut min sel ist betrübt in irem mut wan nement war zu diser frist des verreters hand hie by mir ist. (DP 1801–1808)

Die folgenden Reaktionen der Jünger sind auf diese Klage bezogen (S. 138). Neben der Vermeidung liturgischer Nähe gibt es den umgekehrten Versuch, an den liturgischen Charakter zu erinnern. Im ›Frank furter Passionsspiel‹ heißt es: Salvator benedicat hostias et det discipulis suis dicens: Hoc est corpus meum – Diß nemet gar bequeme! secht: das ist myn lichname, der wirt gegeben in den dot vor vwer aller noit! Salvator sumens calicem et det discipulis suis dicens: Nu nemet: das ist auch myn blut! dasselbe, ir lieben, nach mir thut, myn getzugenys sal is syn! Detur calix. (FP S. 446; 1968–1975)

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Der Befund ist doppeldeutig. Verglichen mit dem anschließenden langen Frageund Ant wortspiel zwischen Jesus und den Aposteln, bei dem herauskommen soll, wer Jesus verraten werde, ist die Einsetzung des Sa kraments wieder recht lakonisch, szenisch unterrepräsentiert. Auch sind die Worte des Evangeliums (bzw. der Messe) nur sehr ungefähr paraphrasiert, wobei das Fehlen der lateinischen Einsetzungsworte beim Kelch ein Versehen sein mag. Die Begründung des Messopfers ist aus ihrer ›historisch‹-narrativen Umgebung nicht herausgehoben. Andererseits weicht das Spiel von einer mimetischen Wiedergabe vergangenen Geschehens ab: Jesus weiht nämlich nicht Brot (und Wein), sondern wie der Priester hostias, Opfergaben, was wohl als das besondere Brot der Eucharistie zu verstehen ist. Zur Liturgie passen auch die lateinischen Konsekrationsworte.25 So entscheidet sich das ›Frankfurter Passionsspiel‹ nicht zwischen mimetischer Wiederholung eines Vergangenen und liturgischer Präsenz. Auf den zweideutigen Status solcher Interferenz weisen noch nachträglich protestantische Versuche, Spiel und biblische Wahrheit klar zu unterscheiden und doch eng miteinander zu verklammern. Ein Beispiel ist die Zürcher Passion des Jakob Rueff. Der Druck dieses Spiels stellt nämlich auf der selben Seite neben den eigentlichen Spieltext das wörtlich zitierte Evangelium, in diesem Fall Lukas 22 (Vnd er nam das brot [...] Desselben glychen ouch nam er das trinckgeschirr [...]). Jesu Reden auf der Szene stellen überdies den Bezug zur christlichen Opferfeier und zur Gründung des Neuen Testaments explizit her: Min lyb vnd blut recht werd erkent So wil ich das nüw testament Im wyn vnd brot hüt setzen yn Damit man Gott konn danckbar syn (ZP 720–723).

Die eigentlichen Konsekrationsworte werden nicht paraphrasiert, sondern in wörtlicher volkssprachlicher Übersetzung nach der Vulgata – und das heißt in Prosa, nicht in der im Spiel dominierenden Versform – gesprochen (726 bzw. 733), und schließlich folgt ihnen noch jeweils ein wieder von Jesus gesprochener Sensus in Versen (727–732 bzw. 734–739).26 Auf dreifache Weise also wird die szenische Erzählung auf ihren liturgisch-dogmatischen Gehalt bezogen und damit klar zugeordnet, was die älteren Passionsspiele im Ungefähr zwischen Liturgie und Theater lassen. Die Spiele bestimmen sich gleichzeitig durch die Distanz zur wie durch die Abhängigkeit von der christlichen Verkündigung der Kirche und der Vergegen-

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Eine noch weitergehende Überlagerung von Messopfer und Spiel beschreibt FICHTE (1993), S. 281 am Fronleichnamsspiel (›Ludus Coventriae‹); zur Schutzfunktion liturgischer Worte KOLVE (1966), S. 10. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Mitgliedern meines Oberseminars: RUEFF: ›Zürcher Passionsspiel‹ (1984). Das Problem ist ausführlich behandelt bei KOLVE (1966), S. 11–23; vgl. YOUNG (1962), Bd. II, S. 407–410.

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wärtigung des Heilsgeschehens im Messopfer. Scheinhafte Identität wird vermieden (eine Konsekration außerhalb der Messe hat keine Heilswirkung), legitimierende Nähe gesucht (liturgische und biblische Texte erinnern den heilsgeschichtlichen Kern).

III. Die Überlagerung liturgischer und historisch-memorierender Funktionen wird dadurch erleichtert, dass die Liturgie der Kar woche, erst recht aber paraliturgische Feiern selbst Elemente memorierender und repräsentierender Vergegenwärtigung auf weisen: die vollständige Lesung des Passionsberichtes nach Matthäus (Palmsonntag) und Johannes (Karfreitag), die Huldigung an den Rex Iudaeorum in der Palmprozession, die rituelle Grablegung des toten Jesus, die Visitatio sepulchri durch die drei Marien. Nach dem Gründonnerstag wird für drei Tage die sakramenta le Vergegenwärtigung Christi in der Eucharistie unterbrochen; leergeräumte Altäre und der ins Grab verschlossene Crucifixus repräsentieren die scheinbare Heil- und Hoffnungslosigkeit des Sterbens und der Grablegung vor der Auferstehung; das unblutige Messopfer wird durch die erinnernde Rekapitulation des blutigen Opfers auf Golgatha und seiner Folgen ersetzt.27 Der Anteil mimetischer Elemente variiert in solchen Feiern; am höchsten ist er in paraliturgischen Ritualen. In der Palmprozession z. B. agieren Kleriker wie Laien ex persona heilsgeschichtlicher Figuren, etwa von Propheten, und sie benutzen dazu selbst Verkleidungen.28 Der Gegenstand der Feier, Jesus, kann in der konsekrierten Hostie präsent sein, der in der Palmprozession am Sonntag vor Ostern die Jubelrufe gelten und die in der Karfreitagsliturgie feierlich zu Grabe getragen wird, doch kann an die Stelle der Hostie auch das geschnitzte Bild treten: Jesus, der auf dem ›Palmesel‹ sitzt, oder der hölzerne ans Kreuz genagelte Körper.29 Auffälligerweise sind in solch paraliturgischen Akten die in der Hostie präsente Gottheit und das hölzerne Abbild des Gottmenschen funktionsäquiva lent; beide sind

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WARNING (1974), S. 213. Jesu Opfertod auf Golgatha beendet schon nach frühchristlicher Lehre die Opferbräuche des Alten Testa ments (FRANZ [1963], S. 117). Was Warning als ›Re-mythisierung‹ durch das Passionsspiel diagnostiziert, ist also in der Liturgie nach dem Gründonnerstag bereits angelegt. Damit auch in dieser erinnerten Phase der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit die Heilswirkung der Erlösung fortdauern kann, werden zwei Hostien auf Vorrat geweiht: die memorative und die heilsgewährende Funktion der Eucharistie treten für einen kurzen Zeitraum auseinander. DUFFY (1992), S. 24. Ebd., S. 25; der Palmesel ist für Deutschland typisch, während in England die konsekrierte Hostie dominiert, doch gibt es Übergangszonen hier wie dort.

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Gegenstand liturgischer Devotion: das Abbild30 – nach dem berühmten Diktum Papst Gregors d. Gr. für Laien bestimmt – und die Realpräsenz. Für das Bewusstsein der Gläubigen scheint der Unterschied unerheblich gewesen zu sein. Erst in der nachreformatorischen Frömmigkeit – die Theologie geht da lange voraus – ist die Grenze scharf gezogen. Eine ähnliche Verwischung der Grenzen kennzeichnet die theatralisierte katholische Liturgie. In der Liturgie gelten theatralisierte Gesten (z. B. das Gebet mit ausgebreiteten Armen) als Zeichen einer spirituellen Wahrheit. Die allegorische Messauslegung schreibt jedem Akt einen Sinn zu, der in seiner Ver weisfunktion auf heilsgeschichtliche Vorgänge besteht, wobei entscheidend das unter den äußeren Zeichen unsichtbar sich vollziehende sa kramentale Geschehen bleibt.31 Die Stellvertreterfunktion des Priesters wird gelegentlich mit der Schauspielmetapher umschrieben, doch ist die Metapher unzureichend, denn was sich vollzieht, ist wirk lich, nicht bloße Fiktion. Die allegorisch bedeutsamen Gesten sind deshalb auch nicht mimetisch – der Priester spielt nicht Heilsgeschichte nach –, sondern zu deutende Zeichen, die auf Grund von Ähnlichkeitsbeziehungen auf eine spirituelle Rea lität verweisen.32 Dies ist sowohl beim repräsentierten Passionsgeschehen der Spiele wie beim imaginierten der Meditation anders. Beide bemühen sich um Mimesis einer vergangenen Geschichte. Die theatra len Mittel haben jeweils eine unterschiedliche Bedeutung und Funktion, unterscheiden sich aber gemeinsam von der Theatralität der Messe. Beim liturgischen Akt sind sie nicht-konstitutiv und objektiver Heilsvermittlung untergeordnet; bei der meditativen Imagination dagegen wie beim Spiel sind sie Vehikel der religiösen Wirkung; es kommt daher auf genaue Mimesis an. Die Meditationstraktate fordern deshalb dazu auf, sich die Leiden Christi in sua ymagine ante oculos ponere, tamquam Christum corporaliter videat.33 Man soll in der Imagination ›mit Jesus am Kreuz hängen‹.34 Das innere Auge sieht, ›als ob‹ es ein leibliches wäre. Die Imagination soll täuschend sein. Es werden Anleitungen gegeben, was man sich beim Gedenken an Jesu Leiden alles vorzustellen hat und wie: considera omnes gestos suos, maxime contemplans faciem eius, si potes imagina-

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Zu Bildern als Stimulantien der rememoratio: SCHUPPISSER (1993), S. 180. Die protestantischen Ikonoklasten haben genau an solchen Ver wischungen Anstoß genommen. Die Erfüllung der Form konnte als konstitutiv für den geistlichen Gehalt angesehen werden. SUNTRUP (1978), S. 122f.; er zeigt, wie sich die rememoratio unterschiedlicher heilsgeschichtlicher Vorgänge in einzelnen Gebärden und Haltungen überlagert und wie sie durch spirituelle Deutungen nach dem vierfachen Schriftsinn überformt wird, so dass ein hochkomplexes, in den einzelnen Auslegungen vielfältiges Bedeutungsgeflecht entsteht, dessen moralische, christologische, ekklesiologische etc. Dimensionen nicht mehr auf die rememoratio einer einzelnen Handlungsfolge reduzierbar sind. Anonyme Meditationsanleitung nach SCHUPPISSER (1993), S. 175 Ebd., ›Christi Leiden in einer Vision geschaut‹, S. 60: Der Meditierende will zo eme an sin cruce genegelt [werden], so wee eme auch hie van geschegen mochte.

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ri.35 Ludolf von Sachsen zitiert, um die Aufgabe der Imagination zu erleichtern, sogar eine faciei et formae Christi descriptio; andere empfehlen zur Stimulierung der Emotion ein Bild zu Hilfe zu nehmen oder sich vorzustellen, Augenzeuge beim Passionsgeschehen zu sein, damit die compassio auf sinnlicher Gewissheit beruht.36 Physische Anwesenheit auf Golgotha als Bedingung religiöser Versenkung in Christi Leiden ist Ziel ekstatischer Frömmigkeit, etwa der Juliana von Nor wich (Ende des 14. Jahrhunderts).37 Volksprachliche Traktate verstärken eher noch die Suggestion der Präsenz. Um die compassio zu erzeugen, werden bei Meditationsübungen actus conformationis empfohlen.38 Diese können eher mora lischer und spiritueller Natur sein; sie können auf gnadenhafter Begabung beruhen (etwa in der Erscheinung der Wundmale);39 aber sie können auch, willkürlich herbeigeführt, den eigenen Körper demjenigen Jesu ähnlich machen, so durch »Nachahmung der Körperhaltung des Gekreuzigten«,40 sogar durch Übertragung des Leidens, etwa durch Backenstreiche bei der Verspottung Jesu, Malträtieren der Kopf haut bei der Dornenkrönung oder andere Akte der Selbstquä lung.41 Die conformatio stellt Ähnlichkeit zwischen dem eigenen und dem fremden Körper (dem Gegenstand der Meditation) her, so wie der Spieler dem, den er spielt, ähnlich erscheinen muss. Die Ähnlichkeit ist aber von der theatralischen Nachahmung in zwei Punkten zu unterscheiden, zum einen darin, dass sie tatsächlich – ›konsequenzvermindert‹42 zwar – das Leiden des anderen am eigenen Körper wiederholt (der Spieler dagegen leidet nicht wirk lich, wenn er einen Leidenden darstellt), zum anderen dadurch, dass der Askese- und Meditationspraxis grundsätzlich der Zuschauer fehlen sollte (was die Möglichkeit, dass sie als Auf führung inszeniert wird, nicht ausschließt: 35 36 37 38 39

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›Meditationes vitae Christi‹ nach SCHUPPISSER (1993), S. 176. Nach ebd., S. 177. Gerhard Groote erwähnt als Meditationstechnik die Zuhilfenahme hölzerner Bilder. TRAVIS (1984), S. 174. AUGUSTYN (1993), S. 225–229; zu Seuse H AAS (1993), S. 106; SCHUPPISSER (1993), S. 190f. KÖPF (1993), S. 31 zählt auch sie zum »Nachvollzug der Passion Christi« und behandelt sie im Zusammenhang mit »Selbstdarstellung«, »Gesten«, »symbolischen Handlungen«, »Spiel«, die die Frömmigkeit des hl. Franziskus kennzeichnen und sein Bemühen um »Vergegenwärtigung der Passion Christi« (S. 32). AUGUSTYN (1993), S. 227 zu dieser verbreiteten, u.a. von Ludolf von Sachsen empfohlenen Gebetshaltung. Ludolf von Sachsen fordert Meditation in corde per recordationem et compassionem; in ore per crebram et devotam gratiarum actionem; in corpore per fl agellationem et castigationem, ut Salvatori nostro corde, ore et opere gratias agimus (›Vita Christi‹, 2, 58 nach SCHUPPISSER [1993], S. 191). Der Begriff nach KOTTE (1994), S. 140 u. ö. Kotte unterscheidet »Konsequenzverminderung« theatralisierter religiöser Rituale (wie beim Halberstädter Sündenbockritual, das wirkliche Bußübung theatralisiert) vom theatralischen »Probehandeln«, bei dem der vorgeführte Vorgang vollständig fiktionalisiert ist.

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man denke an die Geißlerzüge!). Zwar beruht das Gelingen der Versenkung in die Passion auf einer imaginierten, einer im Bild repräsentierten oder sogar am eigenen Körper exekutierten Mimesis, doch bleibt es bei einem rein auf das einzelne Subjekt bezogenen Prozess. Was wenige in Visionen erfahren, stellen die Spiele vor aller Augen. Das Spiel verlagert die Mimesis aus dem eigenen Körper auf den bloß noch anschaubaren fremden. Die geistliche Wirkung und der mimetische Akt werden entkoppelt. Der Zuschauer muss nichts spüren, der Spieler ist nicht Objekt, sondern bloß Medium der frommen Botschaft. Die szenische Repräsentation nimmt dem Betrachter die Anstrengung der Imagination ab, indem sie zur Sprache (die in den Spielen wie in den Passionstraktaten die Imagination durch Ausmalen der Gräuel reizt) das anschaubare Geschehen fügen. Die Spiele ersetzen die zu kontrollierende und kontrollierbare Autosuggestion durch ein kollektives Spekta kel. Die Verwandlung des Schauspielers auf der Szene und die Verwandlung des Zuschauers sind zwei zwar aufeinander bezogene, doch voneinander unabhängige Akte. Schon die meditative Mimesis ist seitens spiritueller Frömmigkeit nicht unumstritten, und die Argumente dagegen lassen sich a forteriori gegen die Mimesis im Spiel wenden. Die imaginative Vergegenwärtigung der Passion wird ebenso wie die bildliche Repräsentation als bloß phantasmatisch von der Realpräsenz Jesu im Sakrament unterschieden. Beides zu verwechseln wäre, wie Gerhard Groote, Theologe der Devotio moderna, schreibt, Täuschung, die bewusst unterbunden werden muss: Sed tunc, cum quis se praesentem Christo vel actibus suis confingit, non est inutile aliquid negans Christi praesentiam aliquando iuxta ponere, quod nos, ne phantasmate cadente ad oculos decipiamur, mente ab actuali Christi praesentia et actuum suorum aliqualiter revocet.43

Groote spricht von confingere, einer confictio, die sich von Zeit zu Zeit ihres Fingierens bewusst werden sollte. Er lässt wie andere Theologen keinen Zweifel daran, dass solch sinnliche Vergegenwärtigung nur ein erster Schritt sei, vor allem für die simplices bestimmt, denen er deshalb lieber einen geistlichen Berater zur Seite stellen möchte. Er zieht eine Scheidelinie zwischen einer Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens im imaginierend oder tatsächlich geschauten Bild, wie sie rememoratio und compassio fordern, und einer angemessenen Meditation des geistlichen Sinnes der Passion. Die Sphäre des confingere muss überschritten werden.44

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›Tractatus de quatuor generibus meditabilium‹, S. 54; Ähnlich S. 56–60; vgl. SCHUP(1993), S. 184. Für die Massenfrömmigkeit des Spätmittelalters scheint es geradezu typisch gewesen zu sein, dass man nicht unterschied: zwischen geweihter Hostie und Kultbild, imaginiertem und real vorhandenem Bild, mehr oder minder theatralisierten liturgischen und paraliturgischen Vollzügen. Die Unterscheidung verdankt sich jedoch nicht nur einer modernen Perspektive – wie man dies bei der Beschreibung und Ana lyse außereuropäischer Rituale praktiziert und kritisiert hat: Denn es bereitet sich ansatz weise die PISSER

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Indem sich die confictio freilich am eigenen Körper vollzieht, ist sie mit dem Akt meditativer Versenkung in die Passion eng verbunden. Das Ziel der Passionsmeditation ist die – über memoratio, compassio und conformatio anzustrebende – individuelle imitatio Christi, die das Ich, indem es sich das Leiden Christi anverwandelt, selbst transformiert. Die theatral repräsentierte Szene absorbiert die Wahrnehmung stärker, ohne noch wie in der Regel die Meditationstexte unablässig dazu anzuleiten, vom sinnlich konkreten Bild der Passion zu ihrem theologischen Verständnis fortzuschreiten. Das religiöse Ziel droht hinter der vergegenwärtigten Passion zu verschwinden. Wie die Spiele erzählen auch die Passionstraktate, indem sie sie in historia umsetzen, die Metaphern und Interpretationen aus, in die die Psalmen, die Evangelien, dann die spätantike und frühmittelalterliche Theologie das Leiden Christi gefasst hatten.45 Doch sind die Gräuel des Leidens immer im Blick auf die Heilsbotschaft perspektiviert, und zwar nicht nur, was den Verständigungsrahmen allgemein betrifft, sondern in jeder einzelnen Passage. Der Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen46 z. B. beginnt die Kreuzigungsszene mit den Worten: Hy hebit sich an die heilikeit, die do der herre wolde wirken, das grose werc unsir erlosunge, mit deme das der herre wolde, das das ende sines lebens solde antworten dem valle her Adams. (S. 63)

Heinrich fügt typologische Entsprechungen und Deutungen von Kirchenlehrern an. Jede Quälerei – die roh wieder aufgerissenen Wunden, die entwürdigende und schmerzhafte Nacktheit, das Annageln mit stumpfen Nägeln, das Strecken der Gliedmaßen – ist Gegenstand des Gebets, gelehrten Kommentars, frommer Betrachtung oder Erinnerung an Psalmen oder Propheten des Alten Testaments. Der Leser wird aufgefordert, sich alle Einzelheiten zu vergegenwärtigen, damit er das Ausmaß der Erlösungstat erkennt:

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neuzeitliche Dif ferenzierung vor, etwa in Gerhard Grootes Warnung vor einer Überfremdung spiritueller Frömmigkeit durch theatralisierte Imagination oder in der Kritik der Reformation am Geistlichen Spiel. Etwa wenn die typologische Deutung eines Vorgangs oder Sachverhalts (Jesus ans Kreuz ›gespannt‹, seine Gliedmaßen als ›Saiten‹ der ›Harfe‹ einer neuen Weltharmonie) zu dessen buchstäblicher Rekonstruktion benutzt wird; vgl. PICKERING (1966), S. 110, 153, 177 u. ö. Vgl. die Vorrede mit ihren Zitaten aus Genesis, Augustinus, Ambrosius, Hieronymus, Gregor, den lateinischen Kirchenvätern und weiteren Kirchenlehrern und den dri figuren, die im Alten Testament die Passion präfigurieren (RUH [1940], S. 2f.). RUH (1950), S. 20 betont zwar: »Die Passionshistorie will vor allem Erzählung sein«, doch arbeitet er gleichzeitig die exegetische und dogmatische Basis der Traktate heraus, die »freilich popularisiert« (S. 36) expliziert wird. Vergleichbares gilt auch für Ludolf von Sachsen, Thomas von Kempen, Heinrich Seuse u. a.; vgl. auch RUH (1965).

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Hy merke, das unsrem herren alle sine aderen worden verwunt, die sich samenen in die hende. – Merke ouch, das der nagel, der im ginc durch die vusze, czuris die gelenke von enander. (S. 64)

Einige Details sind noch grausamer als in den Spielen – vielleicht weil sie szenisch nicht dargestellt werden müssen –, aber alles ist aufgefangen in einem dichten Netz theologischer Deutung und religiösen Kults.47 Selbst wo – wie im ›Alten Passional‹ – der theologische Rahmen nur schwach ausgeprägt ist, steuert wenigstens der Erzähler Wahrnehmung und Bewertung des Rezipienten.48 Der Leser hat keine Wahl.

IV. Die szenische Mimesis leistet nichts Vergleichbares. Sie ist daher funktional schwächer determiniert und bedarf zusätzlicher Rezeptionsanleitungen. Der heilsgeschichtliche Rahmen ist durchaus erkennbar, aber die Gewichte sind vertauscht. Dem biblisch verbürgten Reden – den Sieben letzten Worten es Erlösers, den Aussprüchen des Pilatus, einem Hymnus usw. – wird, oft im lateinischen Zitat, ihr ›richtiger‹ Ort im Geschehensablauf angewiesen und ihre Abfolge nur indirekt von der typologischen Sinnebene gesteuert, indem die historia der Passion die Prophezeiungen und Vorausdeutungen des Alten Testa ments erfüllt. Der volkssprachliche Haupttext beschränkt sich auf das Passionsgeschehen, emotional möglichst einprägsam und mit insistierender Redundanz.49 Gewiss wird dabei die ›Jetztzeit‹ des Leidens überlagert von der ›Jetztzeit‹ des frommen Gedenkens und der ›Jetztzeit‹ des Vollzugs christlicher Gemeinschaft. Anleihen an die Liturgie und szenische Kommentare sollen die narrative Wucherung der theatra lischen Mimesis einfangen. Dogmatische Aussagen fehlen nicht ganz, treten aber zurück, die typologische Exegese bleibt oft unausgeführt. Dass

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Dies gilt für den Typus generell: KÖPF (1993), S. 37–39 spricht von Überlagerung »durch Elemente der Meditation und Reflexion«, von »theologisch gehalt volle[n] Erklärungen und Anweisungen« und zeigt die Organisation einiger Passionsbetrachtung nach den monastischen Stunden des Gebets. ›Das alte Passional‹ (1857): nv merke ein iekelich herze/ [...] obe ie sulchen gewalt/ decheinen vzsetzigen man/ verworfen habe so hin dan/ als des propheten warheit/ von disme sichen hat geseit/ Ey nu lat mich vurbaz sagen [...] (70,49–56); svs iemerlich waz er gequelt (70,71) usw. Auch die Eucharistie ist theologisch und liturgisch korrekt eingeordnet: [...] gab sin vleisch vnd sin blut/ da vnder eime schine/ an brote vnd an wine/ da von wir noch die misse habe (58, 38–41). Die Intensität der Wiederholung liegt in der Absicht vor allem franziskanischer Frömmigkeit, die ausdrücklich die Wirkung von Bildern und bildhaften Darstellungen rechtfertigt; vgl. KOLVE (1966), S. 5f.

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sie einmal hinzutreten kann, ein andermal nicht, lässt auf eine prinzipiell intakte christliche Interpretation schließen, nicht vielleicht, was die Sinngebung im einzelnen betrifft, wohl aber, was das Heilsgeschehen insgesamt angeht. Es scheint deshalb nicht entscheidend, ob die Exegese explizit ist oder nicht. Man müsste sonst annehmen, dass bis in den Wortlaut hinein eng verwandte Spiele je nachdem, ob ein Appell oder ein deutender Kommentar folgt oder nicht, entgegengesetzte Funktionen haben. Es ist in der Regel beides präsent, das blutige Leidensritual und seine Korrektur durch christliche Heilszuversicht. Das erste wird mimetisch ausgespielt; die zweite erscheint als Einsprengsel im Geschehensablauf: als liturgisches Zitat oder als Appell von Engeln, Propheten, Kirchenvätern oder von Personifikationen wie Kirche und Synagoge (DP 3578ff.). Die Passionsspiele bemühen sich mit unterschiedlicher Intensität, die bloße Mimesis eines vergangenen Geschehens zu überschreiten und Spieler wie Zuschauer als Kultgemeinde zu aktivieren. Das kann in der Form einer Verdoppelung des szenischen Vorgangs geschehen: Ein Engel zählt blutrünstig noch einmal auf, was zuvor schon die Henkersknechte mitleiderregend vorgeführt und mit rohen Worten ausgemalt hatten, und appelliert damit wie in einer frommen Betrachtung der Passion50 ein zweites Mal, jetzt explizit an die compassio der gläubigen Menge: O ir lieben seligen leitte, Nempt zu herzen heitte, Secht an wie Cristus unser herr Die grossen bitter martter schwer Von den valschen Juden gelitten hat Durch des sunders missetat. (EF 5402–5407)

Oder die angemessene Reaktion wird liturgisch kanalisiert: Wenn die Kreuzigung vollendet ist, singt ein Chor: Ecce lignum crucis, in quo salus mundi pependit: venite adoremus (EP S. 235). Allerdings kann das nicht vollständig gelingen. Die mittels des Spiels aktualisierte Gemeinde umfasst Akteure und Zuschauer, Heilige und Gläubige. Die Trennungslinie verläuft nicht zwischen Szene und Publikum, sondern zwischen gott verlassener Welt (Juden, Heiden, Teufel) und Christenheit (die versammelten Zeugen des Spiels und die Spieler von Maria, Johannes, Veronika usw., die ›schon damals‹ erkannten, dass sie dem Drama der Erlösung beiwohnten). Die Anhänger Jesu bleiben nicht in die mimetisch nachgestellte Situation eingeschlossen, sondern treten aus ihr heraus und agieren als Repräsentanten der triumphierenden Kirche. Sie überschreiten die Grenze zum religiösen Ritual, indem sie sich an die zum Spiel versammelten Christen wenden:

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Vgl. ›Speculum humanae salvationis‹ (nach SCHUPPISSER [1993], S. 187): Maria trauerte damals und trauert heute so, Quod omnes ad compatiendum et complorandum provocavit/ Quis enim turbatissimae matri non compateretur [...].

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Johannes vertat se ad populum dicens: O du selige Cristenheit [...] Maria dicit prope crucem: [...] ach du werde Cristenheit [...] (FP S. 519; 4006; 4020; vgl. EP 6434).

Auch Jesus selbst spricht zur Gemeinde: Mircket, frauwen, man und kinde, alle die hie geinwurtig sint, ir reichen und ir armen; lat uch min hertzleit erbarmen und hilffet klagen myn not! (FP 3994–98)

Er erklärt sich zum Memorialbild: Ach mentsche, nu sich an mich, wilch große martel lyden ich dorch dich! (AP 6242f.)

Die Spieler sprechen vor, was man zu empfinden und zu sagen hat: O crutz, du wonniglicher baum! (FP 4046; vgl. 4289).

Die Imagination des Schreckens kann, wie in Passionstraktaten, in die Aufforderung zum Gebet münden:51 Darumb merckt, ir frauen und ir man, und nemet heut zu herzen Disen jemerlichen schmerzen. Dem selbigen leiden seit bereit Zu sprechen ein Pater noster mit inekeit, Und thut es umb gottes willen. Sezt euch nider und schweiget stillen. (EF 5417–5424)

Unter dem Kreuz mahnt Maria Magdalena die Anwesenden: und mit der grossen martir sin hat er uns erlost von der ewigen phin! des sprechent darumb alda ein Paternoster und ein Ave-Maria. (FP 4303–4306)

Das szenische Requisit wird Kultobjekt: Veronica reicht der Legende zufolge Jesus ihr Tuch, damit er sein blut verschmiertes Gesicht trocknet; ihre Worte im Spiel aber zielen über die Szene hinaus; sie bittet im Namen einer frommen Nachwelt den vor ihr stehenden Jesus um die vera icon, das als Reliquie verehrte Bild des heiligen Antlitzes, als sichtbares Zeichen seines Leidens:

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So häufiger im EF; vgl. 5703; 6392.

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So bitt ich dich doch vmb ein gab da mit ich din gedechtniß hab die bildung von diner angesicht das ich din herre vergesse nicht. (DP 3183–88)

Jesus drückt sein Gesicht in das Tuch, und sie zeigt ze ring/ vmb gegen den lüten das Tuch, auf dem ein veronica gemalet ist (S. 204) und sagt: Sehent hie ir frowen vnd man daz zeichen so Jhesus hat getan durch sin götlich gnad vnd krafft an siner an gesicht die hie hafft in minem t7ch so gar verwundt das sy uch allen cristen kundt da mit ir glöubent z7 aller frist das er gewarer got vnd crist [...] (DP 3189–95)

Das Spiel stellt nicht die wirkliche Reliquie aus, aber ein verehrungswürdiges Andachts- und Erinnerungsbild: Sich an du werde Christenhait Wie vnns gott aus Barmherzigkait seines Pittern leiden, Merckt mich eben Dise gedächtnus hat gegeben [...] (AdP 987–80)

Szene, Bild, Kultobjekt und imaginierende memoria sollen sich gegenseitig in der Verehrung des leidenden Jesus stützen. Das Meditationsschrifttum will das individuelle Heil durch imaginierte Präsenz des Leidens fördern, im Extremfall in der Annäherung des eigenen Körpers an den Jesu. Das Spiel richtet sich nicht an den Einzelnen, sondern zielt auf die Emotionalisierung des Kollektivs.52 In der Passionsmeditation ist die Emotionalisierung zwar durch den Text induziert, jedoch dem einzelnen Gläubigen als asketische Leistung aufgegeben, indem er dauernd angehalten wird, er solle betrachten, erwägen, sich vorstellen. Im Spiel wird ihm diese Leistung zu einem Teil53 abgenommen, denn er bekommt vor Augen gestellt, was jener sich erst noch vor Augen rufen muss. Als einzelner ist der Zuschauer weniger betrof fen als der Meditierende in seiner conformatio actus. Er wird als Glied einer Menge in das Passionsgeschehen ver wi-

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Vor allem für die englischen Fronleichnamsspiele hat man den kollektiven Charakter herausgearbeitet; in ihnen stellt sich die christliche Kommune selbst dar (TRAVIS, BECKWITH u. a.). Abge stuft gilt das für die übrigen Spieltypen gleichermaßen, bis hin zu szenisch gar nicht mehr realisierten, nurmehr einen Teilbereich im Leben der Kommune ritualisierenden Formen wie dem Halberstädter Adamsspiel (vgl. KOT TE [1994]). Es gibt, wie zu sehen war, gleichfalls noch Appelle ans Mitleiden, an Umkehr, an Versenkung in das Geheimnis der Heilsgeschichte.

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ckelt, jener Christenheit, an die sich die Heiligen wenden und die sich im blutigen Opfer als Gemeinschaft bestätigt. In der theatralischen Repräsentation sind zwei entgegengesetzte Tendenzen am Werk: die Befestigung kollektiver Identität und die Freisetzung einer phantasmatischen, aus ihren theologischen Fesseln entbundenen Mimesis. Dramaturgisch äußern sie sich im Ausspekulieren immer neuer (meist grausiger) Details bzw. in der Einführung von Instanzen, die die Rezeption kontrollieren und kanalisieren. Beide Tendenzen stehen in Gefahr, sich von der eigentlich intendierten Heilsbotschaft zu entfernen.

V. Kollektive Identität: Oberflächlich ist die Bewertung des gespielten Geschehens klar. Es gibt keinen Zweifel, wie aggressive und teilnehmende Emotionen verteilt werden müssen, da heilige und unheilige Figuren eindeutig kenntlich sind. Doch wird die Aggression der Unheiligen gegen das Heilige zunächst einmal inszeniert und kann erst in einem zweiten Schritt als Stimulans von compassio domestiziert werden. Die Degradation des Göttlichen ist Voraussetzung der Erlösung.54 Je größer die Erniedrigung, je scheußlicher die Qualen, desto größer der Triumph. Wie weit aber darf die Vorführung des Schreckens gehen, damit die Kehrtwendung, seine Deutung als Mittel der Erlösung, noch gelingt? Die Lösung, die die Spiele anbieten, ist die Instrumentalisierung des Schreckens für die Festigung christlicher Gemeinschaft. Was die Eucharistie positiv in der Feier der Tischgemeinschaft entwirft, die die Figur des Anderen aufruft, indem sie ihn ausschließt (Judas),55 das leisten die Folterszenen negativ über die Denunziation der (aus der christlichen Gemeinde ausgeschlossenen) Feinde Jesu. Die Anderen sind die Juden. Pogrome im Anschluss an Darstellungen der Passion weisen auf die Strategie, mit der die Ambivalenzerfahrung der Passion bewältigt wurde. Sie zielt auf eine Polarisierung des Publikums, des tatsächlich zuschauenden und des beim Drama der Kreuzigung auf der Szene anwesenden. Folter und Kreuzigung sind für die Juden und übrigen Ungläubigen ein Hinrichtungsspektakel.56 Für die Christen sind sie ein Akt der Erlösung. Die Rituale des Quälens bleiben in ihrer kruden Buchstäblichkeit an die Perspektive der Feinde Christi gebunden. Das Medium Spiel löst auf dieser ersten Stufe inhaltlich verwandte Elemente aus Passionstraktaten, Legenden, Meditationen, Andachtsbildern aus ihrem Deutungs- und Wirkungsrahmen. Wenn dort noch die grässlichsten Wunden auf die Größe der Erlösungstat verweisen, so ver weisen sie hier zunächst nur auf den Hass und die Verworfenheit derer, die sie Jesus zufügen.

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TRAVIS (1987), S. 27f. RUBIN (1991), S. 57; vgl. BECK WITH (1992), S. 72f. Diesen Aspekt habe ich in meinem Beitrag ›Christus am Kreuz‹ (vgl. Anm. 6) näher untersucht.

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Zeitweise beherrschen die blutigen Gegenrituale der Folterer die Szene. Ihre Sprache ist überwiegend die Volkssprache oder aber – in der Judenschule – ein unverständlicher Galimathias. Die Akte des Folterns sind kontrafaktisch auf Übungen der Devotion bezogen. Die Zahlensymbolik der Wunden oder der Arma Christi, der letzten Worte des Erlösers am Kreuz oder der Schmerzen Mariens findet ihre Entsprechung in der Zahl der umständlich herbeigeholten Instrumente, in den vorgezählten Streichen mit den Geißeln oder den Schlägen, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt wird. Den Lobpreisungen und den Reden der compassio antworten die Beschimpfungen und Lästerungen; der gemeinschaftlichen Verehrung des leidenden Christus die fröhliche Gemeinschaftlichkeit beim Foltern.57 Während biblische und liturgische Reminiszenzen das Spiel religiösem Kult annä hern, finden sich auf der Gegenseite nur Bruchstücke ritueller Strukturen, die einer zu überwindenden, chaotischen Welt angehören. Das ›böse‹ Ritual ist aus der Perspektive des ›guten‹ ein immer schon zerstörtes. Es ist, wie Warning herausarbeitete, ein Sündenbockritual.58 Allerdings nur in den Reden und Handlungen der Folterer ist Jesus tatsächlich der Sündenbock, auf den man alle Störung ihrer Ordnung schieben kann und den man deshalb selbst durch Zerstörung seines Körpers stra fen muss. Aus dem Blickpunkt der christlichen Gemeinde ist die Zerstörung nur Durchgang zur Erhöhung.59 Insofern finden auf beiden Ebenen gegenläufige Vorgänge statt. Auf der ersten Ebene finden sich alle Merkmale eines Sündenbock rituals; es wird von den Akteuren als spiel bezeichnet: AP 4098; EF 4517) und manchmal in Form eines Spiels exekutiert, das rituelle Züge trägt.60 Die Peiniger phantasieren Jesus zugleich als übermächtig und als minder wertige Kreatur. Der Sündenbock muss übermächtig sein, um die Lust an seiner Vernichtung zu steigern. Er heißt den Juden zouberer (DP 2862),61 dessen gefährliche Tricks man fürchten muss, gefährlicher Verbrecher,62 er spricht er se gottes sün (DP 2663), und wir hand vil wunders von im gesehen (DP 2666). Doch soll er so klein wie möglich werden: gedemütigt, bespuckt, geschlagen; man stellt ihm ein Bein; er stolpert, schlägt lang hin, wird an Bart und Haaren gezogen; man freut sich an

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Warning hat an der Greban-Passion noch eine Steigerung dieser rituellen Stilisierung herausgearbeitet; vgl. auch meine Beobachtungen J.-D. MÜLLER (1997), S. 82f. Zu den folgenden Überlegungen vgl. GIRARD (1988); SCHWAGER (1986). Im Unterschied zu dem von Turner analysierten Vorgang ist es nicht die Gemeinde selbst, die den, den sie erhöhen wird, zunächst beschimpft und quält, sondern die Beschimpfung ist symbolisch und auf andere verschoben, die sich dadurch aus der Gemeinde ausgrenzen (TURNER [1989]). WARNING (1974), S. 198f.; vgl. S. 191–198 u. DERS. (1997); GIRARD (1988), S. 152. Auch FICHTE (1993), S. 293 betont den Spielcha rakter, wobei Jesus nicht mitspiele, da er die Regeln nicht akzeptiere. In der Tat ist die Differenz in der Einschätzung des Vorgangs entscheidend. Vgl. FP 3859; AP 3441; EF 5388: Deins zaubern und deiner falscheit; EF 6410. vbeltätiger man (DP 2705); verrätter (DP 2781); lesterler (FP 3875); lasterbalck (3877); lester (EF 5611); dieb (DP 2652) usw.

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seinen Schmerzen. In einigen Spielen wird sogar an seinem Körper sein Anderssein ablesbar: Man verhöhnt ihn seiner langen nase (DP 2641) und seines roten bartes (DP 2697; AP 3439: swarczer bart) wegen – typische Zeichen des bösen Outcast, und statt dem Mysterium der Jungfrauengeburt findet sich die Beschimpfung als kebes-kynt (AP 3706).63 Der Outcast und Magier muss für die Gemeinschaft geopfert werden. Ihn zum Sündenbock zu stigmatisieren, ihm die ›Opferzeichen‹ auf zuprägen, dienen die ritualisierten Beschimpfungen und Quälereien, zumal bei der Geißelung und der Kreuzigung, deren Vokabular das typische my thischer wie historischer »Verfolgungstexte« (Girard) ist.64 Dabei steht fest: Der Text der Peiniger ist falsch, ihr Hass grundlos, ihr Blick auf Jesus verblendet. Vor der Zuschauergemeinde und vor den Anhängern Jesu ist die vermeintliche Schuld Unschuld. Die Quälereien, die sie sich ausdenken und in Szene setzen, sind in ihrer kruden Faktizität sinnlos; erst durch eine List der Heilsgeschichte erhalten sie ihre typologische Vernunft. Diese muss den Zuschauern nicht erklärt werden (und wird es meist nicht), denn es reicht, dass sie nur sehen, dass es in den Aktionen der Peiniger keinen Sinn gibt. Die Kommunikation über die Details der Passion, die die Traktate noch und noch inszenieren, wird ver weigert, aber diese Verweigerung betrifft die Anderen. Indem sie einen Verbrecher abzustrafen glauben, erfüllen sie Punkt für Punkt Gottes Heilsplan.65 Das Spiel führt sie als verblendete vor. Indem sie den, der schlechthin Heil verkörpert, zerstören möchten, margina lisieren sie sich selbst als Außenseiter der gültigen, ›alle‹ (nämlich die Christenheit) umgreifenden Ordnung. Sie stigmatisieren sich selbst als Sündenböcke: Schon auf der Szene tragen sie die Male potentieller Opfer; sie sind in der Regel (und gegen die Evangelien) Juden, haben obszöne oder groteske Namen und werden durch grob abweichendes Verhalten (Fluchen, Saufen, Spielen, Drückebergerei) charakterisiert. Dabei verschlägt es wenig, dass sich die stigmatisierenden Charakterisierungen manchmal widersprechen, dass sich die fullen knecht[] (DP 3271 u. ö.) dann wieder als fleißige Fachleute des Folterns er weisen, die ihr Geschäft kompetent, von hertzen gern (DP 3277) und in umsichtiger Arbeitsteilung betreiben, ein Zerrbild solidarischer Handwerkerschaft.66 Auch werden sie, solange das Spiel dauert, als übermächtig phantasiert, bis ihre Macht genau an dem Punkt, an dem sie zu triumphieren scheint, im Tod des ›Zauberers‹ nämlich, zuschanden wird und sich in der Auferstehung als lächerlich

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Dieser Vorwurf auch im Nikodemusevangelium; vgl. HENNECKE (1986), S. 336f. GIRARD (1988), S. 64f.; vgl. S. 84f. Die »desymbolisierte Pseudokommunikation«, die die Ausspa rung typologischer Exegese bedingt (WARNING [1974], S. 209 u. f.) kennzeichnet daher m. E. nur die eine, die ›falsche‹ Seite, die in blinder Buchstäblichkeit befangen bleibt. Für den gläubigen Christen gilt – vor jeder Einzeldeutung – ein umfassender ›Sinnverdacht‹: dass nämlich alles, was jene anrichten, Erfüllung des göttlichen Heilsplan ist. Solch widersprüchliche Angaben auch in anderen Spielen. Zur Nähe zu zünftischgediegener Arbeit J.-D. MÜLLER (1997).

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erweist. Sie selbst sind letztlich die zur Verfolgung freigegebenen Außenseiter. Von Agenten der Verfolgung werden sie selbst zu deren Ziel.67 Das Sündenbockritual wird also weder – wie es die christliche Verkündigung nahelegen würde – verabschiedet, indem das blutige Opfer des Mythos durch das unblutige der Eucharistie aufgehoben, der Sündenbock durch das Lamm Gottes ersetzt würde, noch aber setzt sich auch das archaische Ritual, so scheint mir, an die Stelle des neuen christlichen Opfers in der Eucharistie,68 indem es dieses in seinen verdrängten mythischen Ursprung, das unblutige Selbstopfer also in das blutige Opfer des Sündenbocks, zurückspielte. Die Zweideutigkeiten des immer wieder lärmend inszenierten und fromm dementierten Folterrituals richten sich nicht gegen Jesus, dessen Leiden im Gegenteil sympathetisch nachvollzogen werden soll.69 Zweideutig ist vielmehr die Identität der dem Opfer beiwohnenden, den Kreuzestod als Ursprung ihrer Erlösung feiernden Gemeinde. Indem sie sich zur Betrachtung des Passionsmysteriums versammelt, konstituiert sie sich rituell in der aggressiven Ausgrenzung der Anderen.70 Das Bestrafungsspektakel erhält eine zusätzliche Schleife: Statt in der Zerstückelung des kriminellen Feindes der Gemeinschaft deren Integrität herzustellen, stellt sich diese Integrität her in der Distanzierung von denen, die ihrerseits (vergeblich) das Haupt jener Gemeinschaft zu zerstückeln trachten.71 Für sie gibt es keine Integration.72 Das In-Szene-setzen des Sündenbock rituals unter ›falschen‹ Prämissen im Spiel legitimiert auf einer zweiten Stufe seine Inszenierung außerhalb des Spiels, nun

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Vgl. die Hetzrede des Conclusor im EF 5670ff. gegen die Juden und die, die ihnen guttlich tun (5682). Daher die oben beschriebene Scheu der Verfasser, gespielte und vollzogene Eucharistie durcheinanderzubringen. BECKWITH (1992), S. 61 stellt dar, wie der gläubige Zuschauer Christi Körper im eigenen fühlen soll. In der affektiven Vergegenwärtigung der Wunden dringe er gewissermaßen in diesen Körper ein. Diese Verschmelzung wiederholt auf sinnlicher Ebene das Mysterium der Eucharistie. Auch WARNING (1974) hat erwogen, ob es sich bei diesen ›Spielen‹ nicht um »Spiel im Spiel« handle, »jüdisches Ritual im Rahmen einer christlich gesehenen historia passionis, blinde Brutalität kompensiert in der vom Betrachter allzeit mitgewußten gloria passionis« (S. 201), hat diese Möglichkeit aber verworfen zugunsten der »wichtigere[n] Problematik« einer stellvertretenden christlichen Aggression gegen den ›Sündenbock‹ Jesus (S. 212f.). Eine solche »psychoana lytische Projektion« ist gewiss möglich, doch direkt nicht belegbar. Zu bedenken ist, dass Jesus sich vom Helden der Tragödie, der für das Kollektiv geopfert wird, durch radikale Schuldlosigkeit unterscheidet. Was man ihm vor wirft, ist Lüge und stellt deshalb auch nicht wie die Verfehlung des tragischen Helden Grundfesten der Gemeinschaft zur Disposition. Vgl. JAMES (1983). Grundsätzlich ist eine nachträgliche Integration der Feinde Christi nicht ausgeschlossen, etwa im ›Croxton Play‹, wo der als Täter gebrandmarkte nicht Christus, sondern ein Jude ist, der über die Konversion zuletzt dem corpus christianum eingegliedert werden kann (vgl. LERER [1996], S. 373).

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unter ›richtigen‹ Voraussetzungen, und zwar gegen die Juden, seine Träger auf der ersten Stufe. Die folternden Juden treffen im Körper Christi den Körper seiner Gemeinde; beide Male scheitern sie, indem trotz aller Anstrengung sich im Spiel der heilige Körper in der Auferstehung als unzerstörbar er weist und indem sich die versammelte christliche Gemeinde allen erfahrbar als übermächtig behauptet. Wenn man in den Corpus-Christi-Spielen in England Formen der Selbstdarstellung christlicher communitas erkannte,73 dann leisten die Passionsspiele nichts anderes. Die Gemeinschaft definiert sich über den gemeinsamen Feind, ohnmächtig in Golgatha und triumphierend hier und jetzt. Das Sündenbockritual, das im Handeln dieses Feindes distanziert wird, wird nicht verabschiedet, sondern in der Wendung gegen seine Urheber wiederholt. Nicht Christus ist insgeheim der Sündenbock, sondern die, die ihm alle Zeichen eines Sündenbocks anheften. Indem das Sündenbockritual auf diesem Umweg eine Rechtfertigung erhält, kann es in einen religiösen Kult hineingenommen werden, aus dem es im Opfer der Eucharistie ausgegrenzt wurde. Das blutige Opfer kann zugleich schaudernd genossen und, da es sich im Licht christlichen Offenbarungswissens als Verblendung erweist, auf seine Urheber verschoben werden, im Spiel nur symbolisch, doch latent auf eine Überschreitung der Grenzen des Spiels appellierend. In der Denunziation des (dargestellten) archaischen Blutopfers zeichnet sich die Legitimation eines (nicht dargestellten) neuen Blutopfers ab. Das Blutopfer stimuliert nicht nur fromme compassio mit dem geschundenen Erlöser, sondern auch den Hass auf die Anderen, die sein Leiden auslösten. Die Verabschiedung des Mythos mündet in der Wiederkehr seiner Struktur unter Bedingungen der Geschichte.74

VI. Doch die Entfesselung theatralischer Mimesis hat noch einen anderen Aspekt. Warnings Interpretation ging deshalb noch weiter. Er glaubt, dass auf die Juden Aggressionswünsche der christlichen Zuschauer projiziert werden, so dass unter der Oberfläche des gespielten Sündenbockrituals, das die ›anderen‹ exekutieren, verborgen ein anderes Ritual abläuft, in dem der christliche Gott beschimpft und gequält und zuletzt als Sündenbock geopfert wird.75 Er verweist dafür u. a. auf das ästhetisch überschüssige Moment der Marterszenen, z. B. in der Greban-Passion, 73 74

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KOLVE (1966); RUBIN (1991), S. 213–271. GIRARD (1988), S. 109f. hat zu Recht die Unumkehrbarkeit des Prozesses betont, der in der »Geschichte der Mythologie« den Kollektivmord tilgt. Er hat aber andererseits das Perennieren einzelner seiner Elemente unter historischen Bedingungen dargestellt. Sein Ausgangsbeispiel Machaut führt kulturgeschichtlich in die Nähe des Antijudaismus in den Spielen. Auch bei ihm handelt es sich um eine solche Residualform. Zum Typus des gemordeten Gottes und seinen mythologischen Transformationen GIRARD (1988), bes. S. 99–111.

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wo die Folter als ein Rondeau inszeniert wird.76 Solche Inszenierung muss für den prätendierten frommen Zweck der compassio dysfunktional sein, denn sie lenkt die Aufmerksamkeit ab vom leidenden Jesus und hin auf das Vergnügen an der kunstvoll beherrschten Form, in der sich das Quälen vollzieht, ein Vergnügen, das die theologisch korrekte Perspektivierung des Anlasses aufheben muss. Wenn in den deutschen Passionsspielen ein vergleichbarer Grad der Stilisierung fehlt, so sind doch Ansätze dazu – zu erinnern ist an die Zahlenspiele – unübersehbar, so dass, was für die französischen Passionen gesagt wird, auch für die deutschen gelten müsste. Warning hat damit auf eine noch tiefer liegende Ambivalenzstruktur der Spiele aufmerksam gemacht. Seine These hängt weder von sozialpsychologischer Verifikation ab – Kipp-Phänomene wie das vermutete Umschlagen von compassio mit dem Opfer in den Genuss der Opferung selbst sind allerdings in der Tat jederzeit möglich –, noch ist sie mit dem Hinweis auf eine mögliche Integration extremen Leidens (oder auf der Gegenseite der Osterspiele: ausgelassenen Jubels) in die liturgische und para liturgische christliche Frömmigkeit zu entkräften.77 Sie gewinnt vielmehr ihre Überzeugungskraft aus dem labilen Status der Spiele zwischen – vereinfacht gesprochen – Kult und Theater. Die Spiele sind nicht mehr Liturgie und nicht mehr nur paraliturgische Frömmigkeitsübung, wenn sie auch Elemente aus beiden übernehmen und immer wieder versuchen, die Re-präsentation des Geschehens auf Golgotha in ein religiöses Ritual zurückzuspielen und das Publikum wieder in eine Gemeinde zu verwandeln.78 Als mimetische Vergegenwärtigung einer vergangenen Handlung sind die Spiele immer ans Als-ob gebunden79 und müssen daher ihre Differenz zur Liturgie herausstellen. Wenn ihnen Heilswirkung zugeschrieben wird, dann nur die des Ablass, nicht des Sündenerlasses, denn eine Verwechslung mit dem Sakrament darf es keinesfalls geben. Die Diskussion um die Spiele vor dem Hintergrund der kirchlichen, bis zur Patristik zurückreichenden Theaterkritik belegt, dass ihr Status im 14. und 15. Jahrhundert höchst prekär ist, sie nur dank dem gerechtfertigt werden können, was sie mit anderen religiösen Texten verbindet; ihre theatralen Mittel werden günstigenfalls geduldet, zumal die Grenze zwischen theatraler Darstellung und Liturgie unfest ist und in beide Richtungen überschritten werden kann.80 Erst Reformation und Gegenreformation schaffen hier klare Verhältnisse. Gedeckt durch ihren frommen Zweck, eröffnen die Spiele von Anfang an einen Spielraum möglicher Aneignungen der heilsgeschichtlichen Geschehnisse, wie das Ritual sie ausschlösse. Man hat sich zu Recht daran gewöhnt, das Geistliche Spiel vom neuzeitlichen Drama abzusetzen. Trotzdem ist es, vielleicht nur durch einen Haarriss, auch von jenen liturgischen und paraliturgischen Frömmigkeitsübungen getrennt, denen es

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Vgl. seine Analysen WARNING (1974), S. 191–202. Hierauf zielt Friedrich Ohlys Einwand (OHLY [1995]). Vgl. den vorausgehenden Beitrag. Vgl. die vielen Fiktionssignale z. B. des ›Donaueschinger Passionsspiels‹. DUFFY (1992).

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Texte, Motive und Deutungen entnimmt. Es ist ›auf dem Weg zur Literatur‹, wenn man diesen metaphorischen Ausdruck gestatten will. Indem es den Gläubigen – den zur compassio aufgerufenen, manchmal seinen eigenen Körper traktierenden Gläubigen – in die Rolle des Zuschauers entlässt, entlässt es ihn aus der Kontrolle der meditativen Askese, die auch seine Imagination steuern sollte.81 Anders als Warning würde ich diese Freisetzung nicht als Rückfall in ein anderes Ritual, ein archaisches paganes Sündenbockritual deuten, sondern als Freisetzung theatralischer Möglichkeiten, die sich aus der Überschreitung ritueller Vollzüge ergibt. Wenn sich deshalb unter dem Ritual des Kreuzesopfers ein anderes Ritual abzuzeichnen scheint, dann eines, das selbst von der zuschauenden Menge nicht rituell vollzogen wird (darin erweist sie sich als den ›blinden‹ Juden auf der Szene überlegen), sondern ästhetisch genossen. Es ist die mimetische Vergegenwärtigung des vergangenen Passionsgeschehens, das diese Ambivalenz ermöglicht. Sie löst sich – wenn auch nie vollständig – aus ihrem liturgischen und paraliturgischen Rahmen und kann auch durch nachträgliche Deutungen und Appelle nicht restlos kontrolliert werden. Die theatralische Mimesis des Passionsgeschehens droht den meditativen Vollzug christlicher Passionsfrömmigkeit zu sprengen, indem sie statt die Imagination möglichst vollständig zu lenken, sie freigibt. Wenn in Passionstraktaten der Blick auf das Leiden des Herrn vorgegeben, jede Reaktion dem betrachtenden Gläubigen vorgesprochen wird, so erfährt er in den Spielen nur noch passagenweise solche Lenkung. Im Gegenteil kann er die Passion auch mit den Augen der Feinde Jesu sehen, und er hört sie mit ihren Worten kommentiert. Er kann mit dem, was er sieht, nicht nur seine compassio stimulieren, sondern auch die Grenzüberschreitung der Anderen schaudernd genießen oder die gelungene Form betrachten, kurz, er kann Theater erleben und deshalb im Opferritual, das seine Erlösung betrifft, ein Sündenbockritual erkennen, in dem der Erlöser geopfert wird. Warnings Einsicht hat die ästhetische Dimension der Spiele neu erschlossen. Dagegen suchen die Veranstalter, den frommen Zweck im Blick, die Ambivalenzen dieser Mimesis rituell und exegetisch wiedereinzufangen. Ist schon die vagierende Imagination individueller Passionsfrömmigkeit gefährlich und muss sie an ihren fiktionalen Charakter erinnert werden, so erst die szenische Fiktion der Spiele, die sakrale Handlungen und Gegenstände nur vortäuscht. Von liturgischer Realpräsenz ist das Als-ob des Spiels scharf zu trennen. Literaturgeschichtlich stehen die Spiele an einer Grenze: jene Mimesis, die sich zunehmend gegenüber Liturgie und Theologie verselbständigt, verführt dazu, in die mythische Konstellation des Sündenbockrituals zu regredieren, aber sie eröffnet zugleich einen Spielraum der Aneignung, in dem die rituelle Bindung zerrissen ist.82

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Ein anderes Problem ist, dass die Kontrolle auch in ekstatischen Frömmigkeitsübungen keineswegs immer gelang: Daraus er wächst die Geschichte der ›Anfechtungen‹. Zur Zeit der Abfassung des Beitrags war JOHANNES JANOTAS Ausgabe der Hessischen Spielgruppe noch nicht vollständig erschienen. Auf eine Umstellung der Zitate auf diesen jetzt maßgeblichen Text wurde aus Gründen der Konsistenz verzichtet.

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Realpräsenz und Repräsentation Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel

I. Mittelalterliche Liturgie ist theatralisch, und mittelalterliches Theater ist liturgisch. Die Grenzen zwischen theatralischer Frömmigkeit und frommem Theater, zwischen vollzogenem Ritus und mimetisch repräsentierter Handlung eines vergangenen Geschehens sind fließend wie die Grenzen zwischen Liturgie, paraliturgischen Riten, privaten Frömmigkeitspraktiken und Geistlichem Spiel. Die Messliturgie lässt sich als Reihung theatraler Akte verstehen und wurde in Analogie zum Theater – mit dem Offizianten in persona Christi – interpretiert.1 Erst recht entwickelte sich im Rahmen von Ritualen, die an die Liturgie anschlossen, jedoch nicht zu deren sakramentalem Kernbestand gehörten (›Feiern‹), umfangreiche theatralische Aktionen.2 Tendenzen zur Theatralisierung lassen sich auch an Formen ekstatischer Frömmigkeit beobachten, die die Imitatio Christi als buchstäblich-körperhafte Nachahmung auffassen.3 Im Geistlichen Spiel fügen sich die unterschiedlichen Formen theatralisierter Frömmigkeit dem Rahmen durchgängiger theatraler Darstellung ein, doch ohne völlig ihre kultische Funktion aufzugeben. Man hat genetische Verbindungen zwischen Szenen der Geistlichen Spiele und liturgischen und paraliturgischen Handlungen nachgewiesen. In die Spiele gehen Elemente der Liturgie ein, paraliturgische Handlungen liegen der szenischen Konkretisierung zugrunde. Ganze Texte und Textpartikel sind austauschbar. Motive wie die Kreuzigung mit stumpfen Nägeln oder das ›Strecken‹ des Körpers auf dem Kreuz werden aus der ekstatischen Meditationsliteratur übernommen. Außerdem werden die Spiele immer wieder durch Gebete und Gesänge mit der Liturgie verknüpft.4 Diese Verwischung der Grenzen führte in der Literaturgeschichtsschreibung zu einiger Verwirrung, indem manchmal die Messe als Drama, ein andermal das Geistliche Spiel als liturgischer Akt behandelt wurde und ein weiter Ritualbegriff

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Vgl. u. a. FRANZ (1963); PASCHER (1959); SUNTRUP (1978). Zusammenstellungen bei YOUNG (1962); exemplarische textwissenschaftliche Untersuchung durch DE BOOR (1967). KÖPF (1993); SCHUPPISSER (1993). Zum Übergang zwischen Spiel und Liturgie LINKE (1987), bes. S. 132ff. sowie die beiden vorausgehenden Beiträge; in diesen lege ich das Hauptgewicht auf die gegen die rituellen Vorgaben sich profilierende Ästhetik der Spiele, während ich hier mich vor allem mit der Theatralität der den Spielen vorausgehenden Rituale beschäftige.

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sich als übergeordnete Kategorie für beides anbot.5 Der Sprachgebrauch der Zeit scheint dies zu stützen: Unter ,representatio‹ wird »zugleich liturgische und dramatische Handlung« verstanden.6 Ist es da sinnvoll, zwischen Kult und Theater zu unterscheiden, wo dies dem Mittelalter offenbar fernlag? Auf der anderen Seite: Dass der Historiker jede Grenzziehung mit Gegenbeispielen in Frage stellen kann, ändert nichts daran, dass Grenzziehungen zur wissenschaftlichen Kategorienbildung nötig sind, dass man es also auch bei Spielen, paraliturgischen und liturgischen Texten trotz aller Verwandtschaft der Absichten, Abläufe und Funktionen mit unterschiedlichen Typen von Texten und Handlungen zu tun hat, auch wenn der einzelne Text, die einzelne Handlung oft nur als Amalgam mehrerer Typen zu beschreiben sind. Bei näherem Zusehen ergeben sich deshalb Differenzen auf der Ebene der Textproduktion, der Textstruktur, der ›Aufführung‹ des Textes und der Weise der Partizipation. Ohne – eingestandenermaßen – idealtypische (Re-)Konstruktionen ist es nicht möglich, den Ausdifferenzierungsprozess zu erfassen, in dessen Verlauf seit der Frühen Neuzeit sich eine selbständige Institution Theater von den vielerlei Formen von Theatralität abgrenzt. Die kulturwissenschaftliche Forschung hat, angeregt vor allem von Turner,7 herausgearbeitet, dass Theatralität in nahezu allen Bereichen des sozialen Lebens, angefangen von Alltagssituationen bis hin zu ritualisierten Repräsentationsakten, Konzerten, öffentlichen Darbietungen (bzw. bei deren Verarbeitung in Texten) u. ä. vorkommt. Mittelalterliche Theatralität greift noch viel stärker als in der Moderne ins Alltagsleben aus; sie prägt besonders auch die religiöse Praxis. So lag es nahe, dass zuerst im Anschluss an diese Praxis sich Frühformen des Theaters im engeren Sinne ausbildeten; doch sind diese mit dem theatralisierten Kult, der ihnen vorausging, nicht zu verwechseln. Theater lässt sich mit Erika Fischer-Lichtes Minimaldefinition bestimmen: Jemand (A) spielt die Rolle von jemandem (B) für einen Dritten (C).8 Diese Minimalstruktur kann ganz unterschiedlich konkretisiert sein, je nachdem ob es sich

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Allzu eng sieht den Zusammenhang – trotz seiner Skepsis gegenüber ›darwinistischen‹ Entwicklungsmodellen – H ARDISON (1965). – Die differenzierteste Unterscheidung – neben DE BOORS (1967) meisterhafter Darstellung der Osterfeiern – hat, ausgehend von einem Feier- und zwei Spieltexten, NOWÉ (1985) vorgelegt. Zu bestehen ist auf der Unterscheidung zwischen quellenanalytischen (›die Liturgie liefert das Basisgerüst‹), strukturellen (der liturgische Ablauf und die Spiele) und funktionalen Aspekten (die Spiele als Mittel der Heilssicherung). Diese Aspekte gehen häufig durcheinander und führen dazu, dass Oberflächenähnlichkeit in Identität umgedeutet wird. WOLFF (1960), S. 16. Die »liturgischen Spiele [wurden] mit weitgehender Selbstverständlichkeit als Bestandteile der Liturgie [...] angesehen«, ebd. S. 10; vgl. S. 6–8. TURNER (1989); vgl. GOFFMAN (1988). FISCHER-LICHTE (1988), S. 16. – Handeln innerhalb eines Rituals ist deshalb kategorial vom Theaterspielen unterschieden. Untersuchungen zur Theatralität (theatricality) neigen dazu, den Unterschied zu verwischen; so etwa BURNS (1972), bes. S. 22–27.

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um eine spontane, eine geplante oder gar institutionalisierte Veranstaltung handelt, welche Rollen beteiligt sind, wie das Verhältnis der Beteiligten zueinander ist, ihr Verständnis der Situation, der Zweck der Aktion. Allerdings besteht in jedem Fall erstens ein Kontrakt zwischen Zuschauer und Spieler: Der Zuschauer fasst den Spieler nicht als die Privatperson A auf, sondern als jemanden anders, als Hamlet, Ophelia, Polonius. Der Kontrakt suspendiert zweitens den pragmatischen Kontext; man ist involviert, nur indem man zuschaut, greift aber nicht ein und soll auch nicht eingreifen. Man akzeptiert die Aktion als bloß fiktive. Nun gibt es viele Übergänge zwischen diesem Grundtypus des Theaterspielens und theatralisierten Alltagssituationen. Insgesamt gelten für diese jedoch nicht oder nur abgeschwächt die beiden Bedingungen des Kontraktes. Auch wenn A uns eine Rolle vorspielt, sehen wir in Alltagssituationen zwar mehr als die Privatperson A; wir sehen ›den beleidigten Ehrenmann‹, ›den Anwalt der Schwachen‹ usw., identifizieren diesen aber zugleich als unseren Bekannten A. Das Rollenspiel dient möglicherweise dazu, der pragmatischen Situation größere Eindringlichkeit und folglich Wirksamkeit zu verschaffen und über ihre Kontingenz hinaus auf allgemeinere Rollen- und Handlungsmuster zu verweisen. Es hebt die Alltagssituation aber nicht auf, sondern verstärkt sie, was nicht ausschließt, dass wir das Verhalten von A als Rollenspiel – also als in gewisser Hinsicht fingiert – durchschauen und insoweit als theatralische Darbietung genießen können. Erst wenn diese zu weit geht, schieben wir die pragmatische Situation beiseite, konstatieren ›bloßes Theater‹ und betrachten A als ›bloßen Schauspieler‹, und das heißt dann: als Lügner. Der Kontrakt kommt nicht zustande, weil der Situationsrahmen keinen Kontrakt zulässt. Die theatralisierte Situation unterscheidet sich also durch ihren Rahmen und ihre Wirkungsintention von ›Theater‹. Analoge Kriterien lassen sich auf eine theatralisierte Frömmigkeitspraxis übertragen, die immer mehr und anderes ist als Theater, denn sie setzt sich durch die Rolle der Partizipanten und den pragmatischen Kontext, und das heißt durch den ›Rahmen‹ und die ›Wirkabsicht‹ vom Spiel ab.9 Es ist also notwendig, unter den vielerlei Erscheinungsformen der mittelalterlichen Performanzkultur, zu denen die liturgische Frömmigkeit zählt, zu unterscheiden. Dabei ist der Begriff der ›Aufführung‹, unter dem in den letzten Jahren die vielfältigen Erscheinungsformen dieser Performanzkultur zusammengefasst wurden, zu unspezifisch, um die skizzierte theatrale Basissituation von verwandten Phänomen zu unterscheiden, die deren Bedingungen nicht allesamt erfüllen. ›Aufführung‹ ist die allgemeinere Kategorie. Wenn, wie man beobachtet hat, mittelalterliche ›Literatur‹ in der Volkssprache überwiegend mündlich, d. h. vor einem anwesenden Publikum zu Gehör gebracht wird, dann können der Referenzbezug zu dem, der spricht, der Status der Situation, in der oder von der gesprochen wird, und das Verhältnis von Aufführenden und Hörern sehr unterschiedlich sein: anders beim Vortrag von Minnesang, anders bei einem Sangspruch, anders bei einem

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Zu diesen Kriterien SCHECHNER (1990), bes. S. 75f.; L AZAROWICZ (1977).

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zeremoniellen Akt der Repräsentation von Herrschaft, anders bei einem religiösen Ritual. Jedes Mal gilt ein anderer Kontrakt zwischen den Kommunikationspartnern über den Wahrheits- und Geltungsanspruch des Vorgetragenen und die daraus sich ergebenden pragmatischen Folgerungen. Der Begriff ›Aufführung‹ deckt Heterogenes. Es ist jeweils nötig, die differenzierteren kommunikativen Abläufe zu beschreiben, wenn man die Besonderheit der mittelalterlichen Spiele gegenüber neuzeitlichem Theater erfassen will.10

II. Die Messe als Kern der christlichen Liturgie ist nicht Theater, sondern ritueller Vollzug einer heiligen Handlung, in deren Verlauf Christus selbst in der Transsubstantiation real präsent wird. Sie ist von ihren Ursprüngen her gemeinschaftliches Liebesmahl, und dieser Charakter eines wirklichen gemeinsamen Mahls steht in der Tat anfangs im Vordergrund.11 Seit der Spätantike wandelt sich die Eucharistiefeier zur komplexen sakramentalen Handlung. Die Communio, das gemeinsame Liebesmahl, ist schließlich nur noch einer der zentralen Teile der heiligen Handlung, neben Opferung (Darbringung der Gaben) und Wandlung (Transsubstantiation von Brot und Wein). Dieser sakramentale Kern wird in vielfältige weitere Riten eingebettet, die alle auf das Mysterium des Erscheinens Christi in der Eucharistie hingeordnet sind.12 Diese Riten dienen der Verkündigung des Glaubens, dem Gotteslob und der Fürbitte; darüber sollen Gebärden, Gesänge, Gebete, Lesungen auch die liturgische Kernhandlung verschönern. Diese Ästhetisierung der Liturgie fördert das Eindringen theatraler Elemente.13 Das schließt nicht aus, dass auch diese Gegenstand theologischer Aufmerksamkeit sind. Seit dem Frühmittelalter tritt die anfänglich starke Einbeziehung der christlichen Gemeinde,14 tritt insbesondere der Charakter gemeinschaftlichen Handelns zurück, indem sich eine deutlichere Trennung zwischen Klerus und Laien durchsetzt: Der Priester bringt die Opfergaben dar; allein seine Worte bewirken die Transsubstantiation von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi; er allein nimmt obligatorisch in jeder Messe am Liebesmahl teil; er ist es, der das konsekrierte Brot an die Gemeinde zu verteilen hat.

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GUMBRECHT (1992), S. 829–831; vgl. J.-D. MÜLLER (1996a). JUNGMANN (1967); DERS. (1962), insbes. Bd. 1. – Es geht im Folgenden nur um einige grobe Grundzüge, die der Profilierung der Andersartigkeit von Feier und Spiel dienen. Zur Realpräsenz in der Eucharistie vgl. BECKWITH (1992), S. 76f. Dies wird anfänglich durchaus als Konkurrenz zum antiken Theater interpretiert: K IRCHNER (1985); SCHNUSENBERG (1981), S. 42, 47 (zu Johannes Chrysostomos). JUNGMANN (1967), S. 151–160.

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Diese Rolle hebt ihn über die Gemeinde hinaus und lädt jedes seiner Worte und Handlungen mit kultischer Bedeutung auf. Er wiederholt das Erlösungsopfer Christi im unblutigen Opfer der Eucharistie, aber seine Gesten, Gebete und Lesungen erinnern zugleich an das Heilsgeschehen, das im blutigen Selbstopfer des Gottessohnes auf Golgatha gipfelte. Zur Heilsgeschichte wird damit ein doppelter Bezug gesetzt: Im Sakrament wird Christus real präsent; die Messfeier als ganze aber, deren Kern das Sakrament ist, dient dem erinnernden Gedenken an Menschwerdung, Leidensgeschichte und Erlösung. Die Rollenverteilung hat Konsequenzen für das Verhältnis von Priester und Gemeinde in der Teilhabe am Messopfer. Der Priester handelt vor der Gemeinde für die Gemeinde. Die Gemeinde wird in die Passivität gedrängt. Die Kultsprache Latein hindert die meisten sogar, dass sie von ferne die heilige Handlung mitverfolgen können. Diese reduzierte Mitwirkung scheint kompensatorische Bemühungen hervorzurufen. Kompensation erfolgt auf zweierlei Weise: einmal mittels größerer Anschaulichkeit der Aktionen, die die Offizianten vor der Gemeinde vollführen; zum anderen mittels allegorischer Ausdeutung dieser Aktionen, dank der in Gestalt und Abfolge der kultischen Handlungen, deren Ausführung allein noch dem Priester obliegt, ein die gesamte Christenheit verpflichtender Sinn ›wieder‹-entdeckt wird und sinnlich wahrnehmbare Gestalt annehmen kann.15 Beides ist komplementär: Die Gemeinde wird mittels des Gesichtssinns unmittelbar in das kultische Geschehen hineingezogen, und das, was man sehen kann, wird ihr mittelbar als Zeichenträger für das religiöse Mysterium, das sie mit dem handelnden Priester verbindet, präsentiert. Die Anschaubarkeit der Kulthandlung oszilliert zwischen Evidenz und Rätsel; wo das Sichtbare zu unverständlich scheint, kann die Auslegung seine Bedeutung transparent machen und damit seine Bedeutung für die christliche Heilslehre sinnlich wahrnehmbar bestimmen. Die Supplementierung physischer Visualität durch spirituelle und die Steigerung physischer wie spiritueller Visualität als Reaktion auf den Entzug von Partizipation an der Kulthandlung selbst ist auch historisch nachweisbar an zwei folgenreichen Schüben: Bezeichnenderweise wird zum einen die allegorische Ausdeutung der Liturgie zuerst entwickelt, wenn der anschaulichere, mit theatralischen Mitteln arbeitende gallikanische Ritus in der Karolingerzeit durch den weniger anschaulichen römischen ersetzt wird,16 und bezeichnenderweise nimmt zum anderen mit der Stärkung der Funktion des Priesters seit dem 11. Jahrhundert die Tendenz zur Veranschaulichung der liturgischen Handlungen zu, von der eucharistischen Schaufrömmigkeit über die Ausbildung paraliturgischer Feiern bis hin zum Geistlichen Spiel. Ästhetisierung und Allegorisierung der Liturgie greifen also ineinander.

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WENZEL (1995); vgl. insbesondere zur Messe S. 95–127. SCHNUSENBERG (1981), S. 86–90; 137–141; K IRCHNER (1985), S. 174f.; POCHAT (1990), S. 21f.; K IRCHNER (1985), S. 170–178 betont den Zusammenhang mit der Erstarrung der Liturgie seit der Spätantike.

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Dabei ist in der Liturgie eine Tendenz zu einer der Memoria dienenden Theatralisierung von Anfang an angelegt. Unstreitig enthält die Liturgie dramatische Elemente;17 ihre Texte beziehen sich auf das ›Drama der Erlösung‹; sie vollzieht sich in Teilen als ein auf mehrere Personen verteilter feierlicher Akt vor Augenzeugen; ein Teil der liturgischen Texte hat dialogische Struktur und wird dialogisierend vorgetragen. Allerdings rechtfertigt das alles noch nicht die Bezeichnung der Messe als ›Drama‹, in dem die Geschichte der Erlösung nachgespielt werde. Die Liturgie im Ganzen ist nämlich nicht mimetisch auf die Geschichte des Lebens und Sterbens Jesu bezogen. Im Umkreis der zentralen Eucharistiefeier verweisen zwar einige Elemente (z. B. das Brechen des Brotes, die Konsekrationsworte) auf die vergangene Ur-Szene; insofern handelt der Priester in der Nachfolge Christi beim letzten Abendmahl. Diese Elemente verketten sich aber nicht zur Repräsentation einer vergangenen Situation (des Abendmahls), fingieren weder, noch erinnern sie bloß an ein vergangenes Geschehen, sondern sie sind Teile des liturgischen Aktes der Transsubstantiation; sie machen in der Verwandlung von Brot und Wein den seinerzeitigen Stifter real präsent.18 Auch die übrigen liturgischen Handlungen der Messe, die sich um den Kern der Eucharistiefeier anlagern, sind nicht mimetisch. Sie erinnern zwar von Fall zu Fall in Worten und Gebärden an das Heilsgeschehen, bilden es aber nicht ab und spielen es nicht vor. Die Anordnung der Zeichen, die auf dieses Geschehen verweisen, ist nicht am Verlauf der Heilsgeschichte orientiert, sondern von einem liturgischen Formular bestimmt, das im Kern fest, in Teilen beweglich ist, auch regional variieren mag, aber stets auf den kultischen Zweck, die Eucharistie, ausgerichtet ist. Das schließt nicht aus, dass Teile der Liturgie auf die Geschichte der Stiftung des Glaubens Bezug nehmen, d. h. auf die Historien des Alten und vor allem des Neuen Testaments. Diese Bezugnahmen sind besonders dicht im Vorfeld des sakramentalen Kerns (also in der sog. Vormesse). Mit der Ausbildung eines ›liturgischen Kalenders‹19 festlicher Gedenktage im Kirchenjahr werden Kult und Heilsgeschichte einander weiter angenähert; die Heilsgeschichte kann im Festzyklus des Kirchenjahrs repräsentiert werden. Doch auch dann noch ist die Erinnerung an das vergangene Heilsgeschehen gegenüber dem liturgischen Vollzug sekundär. Das zeigt sich an Festtagen, die ein besonderes Ereignis feiern, etwa Christi Himmelfahrt. Dieses Ereignis wird erzählend – also in der Regel durch den Evangelienbericht – in Erinnerung gerufen, und auf diese Erinnerung beziehen sich auch 17 18

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Zusammenstellung bei PATERNO (1989), wo allerdings alle möglichen theatralen, selbst performativen Elemente der Liturgie aufgelistet sind. Wenn Zweifel bestehen, ob das Dogma der Transsubstantiation je von der Masse der Gläubigen nachvollzogen wurde, so ändern sie nichts daran, dass die Konsekrationshandlung in der Messe deren Auffassung als Nachspielen des Abendmahls blockiert. Dies lässt sich auch im Vergleich von Wandlung und Abendmahlsszenen in der theatralischen Mimesis des Geistlichen Spiels zeigen (hierzu den vorausgehenden Beitrag S. 140–145). Vgl. YOUNG (1962), Bd. I, S. 86–90.

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Bitten, Dank und Gotteslob. Dennoch machen die auf den Anlass bezogenen Abschnitte nur einen Teil der Liturgie aus und sind der täglich zu erneuernden Feier der Eucharistie teils vorgeschaltet, teils punktuell eingefügt. Die ›rememorative‹ Funktion bleibt nachrangig. Das scheint allerdings in der Frömmigkeitspraxis als ein Defizit empfunden worden zu sein, denn hier fangen die Messauslegungen an. Sie schreiben der Liturgie insgesamt Erinnerungsfunktion zu, indem sie sie als ein ›Drama‹ lesen, das die Heilsgeschichte wiederholt. Diese Betonung der rememorativen Funktion ist nicht völlig unangemessen, indem, wie bemerkt, selbst die Eucharistie auch eine Erinnerungsfeier an die Einsetzung des Neuen Testaments beim letzten Abendmahl ist (»tut dies, sooft ihr es tut, zu meinem Gedächtnis«). Doch ist sie es eben nicht nur.20 Dagegen wird in der Messauslegung die rememorative Funktion zum Schlüssel sämtlicher liturgischer Akte, von Gebeten, Lesungen, Gebärden, Bewegungen um den Altar. Die ›Realpräsenz‹ des unblutigen Opfers tritt dadurch gegenüber der ›Re-Präsentation‹ des blutigen in den Hintergrund. Die rememorative Auslegung setzt freilich paradoxerweise voraus, dass die Liturgie genuin nicht rememorativ strukturiert ist. Wäre sie es nämlich, bedürfte es nicht der Auslegung. Erinnerungsfunktion muss der Liturgie nachträglich erst zugeschrieben werden.21 Insofern verfährt die Messauslegung seit Amalar von Metz aitiologisch, indem sie einem Gefüge undurchschaubar gewordener ritueller Handlungen in jedem ihrer Details einen ›historischen‹, d. h. auf ein heilsgeschichtliches Ereignis anspielenden Sinn gibt. Dabei entsteht ein Problem: Die liturgische Abfolge ist der heilsgeschichtlichen nicht homolog. Heilsgeschichte ist in der Liturgie nur anspielungshaft, diskontinuierlich und gegenüber den Berichten der Evangelisten versetzt präsent. Die Messauslegung muss dies korrigieren. Sie orientiert sich zwar an der liturgischen Abfolge, doch bezieht sie sie auf eine anders, nämlich ›historisch‹ strukturierte. Damit jedes liturgische Element in dieser seinen Platz erhält, muss es aus dem liturgischen Vollzug gelöst und einzeln auf ein einzelnes durch die Evangelien (gelegentlich auch das Alte Testament) bezeugtes Ereignis hin ausgelegt werden, das seinerseits aus seinem Geschehenszusammenhang dort herausgelöst wird. Die Zuordnung dekontextualisiert sowohl den liturgischen Akt als auch das heilsgeschichtliche Faktum. Das Zuordnungsverhältnis zwischen beiden muss durch Allegorese erst hergestellt werden; es ist nicht eineindeutig, was gelegentlich zur Folge hat, dass ein und dasselbe liturgische Zeichen (Geste, Handlung, Figur) verschiedenen ›historischen‹ Sachverhalten zugeordnet werden kann.22 So stiftet

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Der Unterschied verschwimmt bei PASCHER (1959), S. 11, der im wesentlichen mit rememoratio argumentiert; der ›Einsetzungsbericht‹ gehört in das Gedenken an die erste Stiftung, aber er rahmt zugleich das Gegenwärtigwerden des Sakraments. Diese Nachträglichkeit betont auch NOWÉ (1985), S. 271; vgl. dagegen H ARDISON (1965) und die Kritik bei K IRCHNER (1985), S. 177f. YOUNG (1962), Bd. I, S. 82.

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die Allegorese Punkt für Punkt einen Bezug zwischen zwei heterogenen Einheiten (einer ›rituellen‹ und einer ›historischen‹). Dies geschieht, indem sie die verbalen und non-verbalen Zeichen der Liturgie ›theatral‹ interpretiert, d. h. ihnen einen mimetischen Bezug auf das Erlösungsgeschehen zuschreibt. In einigen Beispielen bietet sich ein solcher Bezug an (›das Beten mit ausgebreiteten Armen verweist auf Christus am Kreuz‹), in anderen müssen, wie in der mittelalterlichen Allegorese üblich, minimale Spuren von Vergleichbarem ausreichen, einem sichtbaren Phänomen einen sensus spiritualis zuzuschreiben (›dieser Ort am Altar steht für jenen im Leben Jesu‹). Die Messauslegung kann sich in den meisten Fällen nur auf schwache Evidenzen berufen. Wenn Honorius Augustodunensis das Handeln des Priesters in der Messe mit dem Handeln des tragicus in der antiken Tragödie vergleicht, dann kann er sich zwar (mit fragwürdigen theologischen Implikationen) auf die Metapher des Kampfes stützen, die den Tragödienhelden mit dem Erlöser verbindet.23 Er gibt aber, wenn er ins Detail der Auslegung geht, die Theatermetapher auf zugunsten regelgerechter Allegorese. Die geheime Bedeutung der Liturgie erschließe sich nur dem unter die Oberfläche der Dinge blickenden spiritualis, nicht jemandem, der nur einer theatralen Handlung zuschaut. Es ist daher bezeichnend, dass in seiner sich anschließenden Messauslegung allenfalls zweimal ein Bezug zwischen liturgischer Gestik und Heilsgeschichte explizit theatral verstanden wird (exprimit), sonst dagegen stets allegorisch (significat, designat, innuit, datur).24 Theatrale und allegorische Bedeutung sind nicht identisch, denn Theatralität hat im Sichtbaren ihr Ziel, während Allegorese das Sichtbare durchstoßen will, es als Ausgangspunkt für den Weg zu einem Unsichtbaren hinter sich lassen muss; auch Theatrales kann allegorisch gedeutet werden, aber das sichtbare Substrat von

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Honorius Augustodunensis: ›Gemma animae‹ (MIGNE PL 172, Sp. 570; vgl. YOUNG [1962], Bd. I, S. 83): Sciendum quod hi qui tragoedias in theatris repræsentabant actus pugnantium gestibus populo repræsentabant. Sic tragicus noster pugnam Christi populo Christiano in theatro Ecclesiae gestibus suis repræsentat. Der vielzitierte Passus verdiente nähere Analyse von Kontext und Wortlaut. H ARDISONS (1965) Übersetzung (S. 39f.), ebnet Differenzen ein; er glaubt, in der Messe ein kohärentes Drama erkennen zu können, das den Kampf zwischen Protagonist und Antagonist darstelle, gipfelnd in Passion und Begräbnis, umgedreht dann in Auferstehung und Eucharistie und mündend in der Katharsis der Postcommunio (S. 40). Dies würde aber eine manichäisch-mythologische Deutung der Messe voraussetzen (grundsätzlich hierzu WARNING [1974]). Sie hat keine Stütze, weder in der Theologie noch im liturgischen Ablauf: Der Kampf ist da immer schon beendet, die Passion wird als durchlittene nur erinnert, die Auferstehung ist von Anfang an Gewissheit. Die Liturgie kennt, anders als die Tragödie, keine Peripetie; sie ist in der Eucharistie gegenwärtige Feier der Gemeinde. Wenn Hardison die Liturgie als mythisches Ritual interpretiert, bezieht er sich auf eine Meta-Geschichte, die in der Liturgie nur anspielungshaft präsent ist, und nimmt ein ›historisches‹ Re-Arrangement vor, das erst die Spiele anstreben; kritisch hierzu auch SCHECHNER (1990), S. 75. Ebd. Sp. 570ff.; vgl. auch YOUNG (1962), Bd. I, S. 83.

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Allegorese ist nicht notwendig theatral.25 Die Messallegorese muss diesen unterschiedlichen Status einebnen; sie setzt deshalb immer schon voraus, was sie zu beweisen vorgibt. Nur auf Grund exegetischer Anstrengung nämlich kann die Liturgie »im ganzen als Darstellung historischer Ereignisse, vor allem der Passion, aufgefaßt« werden.26 Um diese Schwäche der Argumentation zu verdecken, identifiziert schon Amalar von Metz die allegorische Beziehung mit einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den in den Evangelien berichteten Geschehnissen und den Aktionen der Messe. Er versteht letztlich (theologisch unhaltbar) die metonymische Struktur des Sakraments metaphorisch und behauptet, der Priester ähnele Christus, Brot und Wein seinem Leib, das Opfer des Priesters am Altar dem Kreuzesopfer Christi.27 Indem er eine allegorische Beziehung durch eine Ähnlichkeitsbeziehung substituiert, fallen spirituelle Einsicht und sinnliche Anschauung zusammen. Im Sinne mimetischer Evidenz kann zwar von Ähnlichkeit ernsthaft nicht die Rede sein, doch deutet gerade die Gewaltsamkeit dieser Verwechslung von Kategorien auf Amalars Interesse, der Übersetzung sakramentalen Handelns im erinnernden Nachvollzug eine tragfähige Basis in theatraler Mimesis zu verschaffen.

III. Amalars Versuch klagt die Beteiligung der Sinne am Kult gegen dessen abstrakt theologische Bedeutung ein; deshalb ist er so erfolgreich, und deshalb findet er funktional in anderen – auch außerliturgischen – Formen von Kulthandlungen seine Fortsetzung. Adressaten der lateinischen Messauslegungen waren vornehmlich noch die Kleriker selbst, denen ein komplexer ritueller Bewegungsablauf in seiner Bedeutung transparent gemacht werden sollte. Dies war umso notwendiger, als die Liturgie als scheinbar willkürliche Abfolge von Worten, Gesten, Bewegungen im Raum erscheinen konnte. Indem jeder rituellen Sequenz eine Bedeutung zugeschrieben wurde, wurde die Liturgie zum Erinnerungsraum der Heilsgeschichte,

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Die Verwechslung der beiden ist ein Defizit der einschlägigen Forschung, so bei SCHNU(1981), S. 141, wenn sie bei Amalar von einer »allegorisch-dramatischen Darstellungsform« spricht (vgl. das Fazit S. 263). K IRCHNER (1985), S. 176. Sacramenta debent habere similitudinem aliquam earum rerum quarum sacramenta sunt. Quapropter, similis sit sacerdos Christo, sicut panis et liquor similia sunt corpori Christi. Sic est immolatio sacerdotis in altari quodammode [!] ut Christi immolatio in cruce. Hingehen mag die (Ähnlichkeits-) Beziehung zwischen Letztem Abendmahl und Messe: Quae aguntur in celebratione missæ, in sacramento Dominicæ passionis aguntur, ut ipse præcepit dicens: Hæc quotiescunque feceritis, in mei memoriam facietis. Idcirco presbyter immolans panem et vinum et aquam in sacramento, est Christi panis, vinum et aqua in sacramento carnis Christi et ejus sanguis (PL 105, Sp. 989). SENBERG

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ohne dass die Wieder-Vergegenwärtigung einzelner heilsgeschichtlicher Vorgänge die liturgische Struktur verändern musste. Es ist verständlich, dass eine derartige Deutung vor allem für diejenigen attraktiv war, denen theologischer Gehalt wie liturgische Bedeutung schwer zugänglich blieben. Theologisch waren die Prioritäten freilich klar. Sie kommen in der Verurteilung der Messauslegung des Amalar von Metz zum Ausdruck:28 Entscheidend ist der sakramentale Kern der Liturgie, die Realpräsenz Christi, nicht die theatral gestützte Erinnerung an ein historisches Geschehen. Was damit dogmatisch geklärt ist, ist es jedoch frömmigkeitsgeschichtlich noch lange nicht. Trotz der Verurteilung Amalars erfreuen sich Auslegungen der Messe als Sequenz theatraler Handlungen im hohen und späten Mittelalter großer Beliebtheit und werden immer weiter ausgebaut und auf eine immer reichere liturgische Praxis bezogen. Für das Gros der mittelalterlichen Ausleger scheint dabei ein Gegensatz zwischen sakramentaler und rememorativer Funktion der Messe überhaupt nicht bestanden zu haben. Besonders beim niederen Klerus und den Laien war eine Veranschaulichung von Heilsgeschichte im liturgischen Handeln beliebt.29 Theatralisierung und Allegorese haben kompensatorischen Charakter bei Gruppen, denen die theologische Deutung allein nicht ausreicht oder gar unzugänglich ist. Die Ausgestaltung der Theatralität der Liturgie scheint insofern kein dogmatisches, sondern ein pastoraltheologisches Phänomen zu sein, die Ästhetik des Kults Mittel, nicht Zweck. Weil der sakramentale Gehalt durch theatrale Mittel wirksamer werden soll, werden diese auch dort eingesetzt, wo er sinnlich überhaupt nicht vermittelbar ist, etwa bei der Eucharistie, der unähnlichen Erneuerung der Abendmahlszene, in der die Verwandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut den Sinnen verborgen bleibt. Die Schaufrömmigkeit, die sich in der Verehrung des Altarssakraments seit dem 13. Jahrhundert ausbildet, ist immer mehr als bloßes Sehen, nämlich ein spiritueller Akt. Vom Anblick des Corpus Christi soll eine Gnadenwirkung ausgehen, wie sie – graduell nur unendlich stärker – auch die Kommunion vermittelt. Aber sie mobilisiert in der Elevatio die sinnliche Erfahrung für das spirituelle Ziel. Auch werden allegorisch-mimetisch ausdeutbare liturgische Handlungen, Gesten, Bewegungen hinzuerfunden, die an weitere heilsgeschichtliche Ereignisse erinnern sollen.30 Im Dienste der spirituellen Bedeutung wird der zeremonielle Aufwand erhöht. Indem die Messauslegungen ihrerseits liturgisch produktiv werden, verstärkt sich die Tendenz zu theatraler Mimesis, so dass das auf Anschaubarkeit angelegte Demonstrationshandeln das auf Heilswirkung berechnete liturgische Handeln zu überwuchern beginnt. Doch sollen die theatralen Mittel den liturgischen Rahmen nicht sprengen, sondern stabilisieren.

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Zu den Begründungen SCHNUSENBERG (1981), S. 180–183, deren Verteidigung Amalars auf eine »gallo-franko-romanische«, »bildliche Vorstellungsweise« hinausläuft (S. 183). WENZEL (1995), S. 226 zur Bedeutung der Memorialfunktion für die illiterati. NOWÉ (1985), S. 271.

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Aus diesem Grunde fehlt weiterhin ein konstitutives Kennzeichen theatraler Mimesis, das Als-ob: Das Beten mit ausgebreiteten Armen ›spielt‹ nicht Kreuzigung, sondern verweist anschaulich auf sie. Weder werden die Konsekrationsworte mit besonderer Betonung, noch in der selben Intonation wie beim ›Letzten Abendmahl‹ gesprochen, noch kommt es auf die Nachahmung passender Gesten an. Das Handeln des Priesters muss dem Ritus entsprechen, der Gesten, Bewegungen, Stimmführung festlegt, wobei gleichgültig ist, wie geschickt, glaubwürdig, suggestiv, demonstrativ usw. er die Handlung vollzieht. Erst recht hängt die Wirksamkeit der Transsubstantiation nicht von seiner Performanz ab, sondern von seiner Befugnis zu sakramentalem Handeln auf Grund seiner Weihe. Seine Gesten und Bewegungen verweisen auf Heilsgeschichte, täuschen sie aber nicht vor. Zwar spielt der Offiziant eine herausgehobene Rolle, kenntlich schon an seiner Kleidung; sein empirisches Ich tritt hinter dem Amtsträger zurück. Aber er ist kein Schauspieler; sein Gewand ist nicht Kostüm und Verkleidung, sondern Zeichen seines Amtes; es dient der Veranschaulichung dessen, was er für die Gemeinde wirkt. Dabei fingiert er nicht, ein anderer zu sein, sondern er handelt kraft seines Amtes als er selbst.31 Dank seinem Wirken erscheint Christus in der Mitte der Gläubigen, aber er wird eben nicht in der Gestalt des Zelebranten verkörpert, sondern unter den Gestalten von Brot und Wein. Die Differenz zwischen Priester und Gott und ebenso die zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist unaufhebbar. Zwar handelt (handeln) nur einer (einige); die anderen schauen zu. Aber die Rolle der mitfeiernden Gläubigen, so sehr ihr Mitwirken beschnitten wird, ist von der des Zuschauers grundsätzlich unterschieden, indem sie an der Eucharistiefeier teilhaben, ›zum Mahl geladen‹ sind und zur – und sei es stummen – Mitwirkung am Gebet des Priesters aufgerufen. Es gibt abgestufte Mitwirkungsrechte und verschiedene Grade von Teilhabe an der Kulthandlung, aber keine Position außerhalb, keine Position des Beobachters. Wer die Messe als Beobachter wahrnimmt, hat sich schon ausgeschlossen. Indem die Gemeinde mitfeiert, partizipiert sie an der Heilswirkung, und das gilt selbst für diejenigen, die nicht kommunizieren, d. h. am Liebesmahl der Eucharistie teilnehmen. Weil es keine Zuschauer, sondern nur Partizipanten gibt, kann die Messe, anders als die Theateraufführung, die in jedem Fall den zuschauenden Dritten braucht, auch ohne andere Personen als den Zelebranten stattfinden.32 Wenn der Grad der Teilhabe sich in der Aufteilung des Raumes ausprägt, der mehr oder weniger architektonisch akzentuierten Trennung des Altarraums vom übrigen Kirchenraum, dann entsprechen dieser Trennung nicht zwei unterschiedli-

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Es trifft nicht zu, dass Priester die heiligen Personen »im geistlichen Gewande« »sind« (DE BOOR [1967], S. 8). Dass Zelebrant wie Schauspieler aus der Alltagswelt heraustreten, bedeutet jeweils etwas anderes. Die eucharistische Bewegung unter Papst Pius X. zielte darauf, die minimale Partizipation der bloßen Anwesenheit, in die in der Regel die Messbesucher zurückgedrängt waren, wieder zu vergrößern.

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che Wirklichkeitsbereiche wie im Theater, sondern allein eine Hierarchie innerhalb der christlichen Gemeinde.33 Natürlich erweist sich der erhöhte Altarraum auch als günstig für theatralische Darbietungen, aber zunächst hat er die Aufgabe, die vom Kern der Liturgie Ausgeschlossenen wenigstens visuell an ihr partizipieren zu lassen. Wenn, wie dies fromme Erzählungen berichten, sich gelegentlich herausstellt, dass der Priester in Wirklichkeit Jesus selber ist, dann ist dies ein Mirakel und wird als Mirakel ausdrücklich gefeiert, nicht anders als die Eucharistie- und Kreuzesmirakel. Das Mirakel schreibt dem Sakrament für den einen wunderbaren Fall genau jene anschaubare Realität zu, die ihm gewöhnlich fehlt. Beim Mirakel gibt es keinen theatralen Kontrakt, nach dem ein Spieler Christus ist, denn es gibt gar keinen Spieler. Der Priester ist im Rahmen des Kults nur durch das Wunder zu ersetzen, das die Differenz von Stellvertreter und Vertretenem, zugleich von Zeichen und Bezeichnetem aufhebt.

IV. Der in der Liturgie wie erst recht in der Liturgieauslegung greifbare Versuch, die Gläubigen intensiver in die Kultübung einzubeziehen, wo sie von ihrer Durchführung ausgeschlossen sind, erklärt auch, warum sich zumal im Spätmittelalter vielfältige paraliturgische Bräuche an den liturgischen Kern anlagern, vor allem Feiern an den Hochfesten des Osterzyklus und Prozessionen innerhalb und außerhalb der Kirche.34 Sie vervielfältigen die in der Messe dem Hauptzweck untergeordneten theatralen Präsentationsformen. Ihre Wurzel ist meist liturgisch: das Gedenken der Menschwerdung und Erscheinung des Herrn, der Passion, der Auferstehung, des Pfingstwunders, der Ausstellung des Altarssakraments. Vor allem die zur Ausgestaltung der Liturgie hinzugefügten Tropen oder Umzüge während des Gottesdienstes werden zum Ausgangspunkt szenischer Handlungen.35 Wechselreden oder Bewegungsabläufe, die als individuell nicht zurechenbares liturgisches Handeln

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Vgl. die Beispiele bei R ADKE-STEGH (1978), S. 89ff. Gegenstand der Untersuchung waren vor allem die Osterfeiern; Texte bei LIPPHARDT (1975–1990); vgl. die Zusammenstellungen von YOUNG (1962); POCHAT (1990), S. 22f.; zum Verhältnis zur Liturgie DE BOOR (1967), S. 7–13; zur Überschreitung der Grenzen zum Spiel ebd., S. 237ff., 254f. – Außer Betracht bleiben hier theatrale Bräuche wie das Adamsspiel in Halberstadt, dem der Charakter einer in Raum und Zeit abgrenzbaren Handlung fehlt; es ist zweifellos theatral, aber weder Theater noch Liturgie (KOTTE [1994]). Etwa der Quem-queritis-Tropus bei der Entdeckung des leeren Grabes durch die drei Marien. K IRCHNER (1985), S. 38 hat die Prozession oder ›prozessionale‹ Bewegungsabläufe als Wurzel liturgischer wie außerliturgischer Theatralisierung herausgestellt. Prozessionen finden zu Beginn oder Ende oder in Übergangszonen der Liturgie statt.

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von Amtsträgern oder auch chorisch vollzogen wurden, erscheinen in den Feiern als individualisierte Handlung oder Rede einzelner Personen.36 Zumal im Umkreis der Karfreitags- und der Osterliturgie werden liturgische Akte nicht nur ästhetisch ausgestaltet, sondern in mimetische Handlung umgeformt; sie können, oft nur mit geringen Zusätzen, in Szenen des Geistlichen Spiels wiederkehren. Von diesen unterscheiden sie sich gleichwohl durch die Kultsprache Latein und die Einordnung in oder den Anschluss an den Gottesdienst. Die Mimesis steht also weiterhin im Dienst der Verkündigung des Heilsgeschehens. Noch überwiegen meist liturgische Mittel (etwa der gesungene Text), während in den Spielen liturgische Gesänge nurmehr Einsprengsel in den gesprochenen Dialog sind. Kontroverse Charakterisierungen der Feiern, einmal mehr als Theater, einmal mehr als Ritual,37 haben ihren Grund in ihrem Übergangsstatus. Das Rollenspektrum ist gegenüber der Liturgie im engeren Sinne erweitert; so gibt es nicht nur die Rollen abgestufter Teilnahme an der Kulthandlung, sondern Rollen aus der Heilsgeschichte: Propheten, Apostel, die drei Marien, selbst der als Gärtner erscheinende Jesus. Die liturgische Rollenverteilung zwischen Priester und gläubiger Menge wird durch eine Rollenverteilung innerhalb der Christenheit insgesamt erweitert, indem nicht nur Kleriker an Feier oder Umzug teilnehmen, auch andere darin bestimmte Rollen spielen können, wieder andere zuschauen. Es scheint so, dass die ›heiligen‹ Rollen in der Regel von Personen mit irgendeiner Art von Amtscharisma übernommen wurden, doch ist dies auch noch gelegentlich für Geistliche Spiele bezeugt.38 Eine besondere Übergangsform zwischen Kult und Theater sind die großen Prozessionen in England, bei denen auf Prozessionswagen heilsgeschichtliche Szenen nachgespielt wurden.39 Trotz der Tendenz zur Verselbständigung theatraler Darbietungen ist die Wirkungsabsicht der Feiern derjenigen der Liturgie verwandter als der der Spiele. Unterhaltende Elemente mögen zum kultischen Ablauf hinzutreten, doch bleiben sie dessen Zwecken unterworfen. Trotzdem gerät bei solchen Darbietungen neben der kultischen Funktion die Performanz in den Blick, die Angemessenheit von Maske, so vorhanden, Kostüm, Gestik. Dies gilt schon für die ›Regularis concordia‹ aus dem 10. Jahrhundert, die eine Osterfeier kodifiziert. Sie gibt Anweisungen für das

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YOUNG (1962), Bd. I, S. 80 nennt als Kriterium »impersonation«, die Bindung von Dialog und vorgeführten Handlungen an individualisierte Rollen; vgl. DE BOOR (1967), S. 148f., 249. LINKE (1987), S. 134: ›kultischer Vollzug‹; wechselseitige Durchdringung von »dramatische[r] Darstellung und Liturgie«; TYDEMAN (1978), S. 36: nicht mehr »liturgical ceremony«, sondern »ritual drama«. Zu Spielern und Rollenverteilung vgl. das reiche Material bei NEUMANN (1987). Die Corpus-Christi-Prozessionen in England integrieren das Ganze des politischen Körpers, Spieler und Zuschauer; hier ist liturgische Gemeindebildung ins paraliturgische Ritual verlängert, in das seinerseits theatralische Darbietungen eingelassen sind (JAMES (1983), S. 8–10).

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Kostüm, das angemessene Spiel einer Rolle, die Aussprache, den Bewegungsablauf, geschlechtertypisches Verhalten.40 Insgesamt aber sind die Feiern theatraler Mimesis stärker angenähert: Man sieht einen Propheten und nicht den Scholaren A; man sieht die drei Marien und nicht Priester und Diakone. Die Skripte für solche Feiern sprechen wie Dramentexte meist von den zu verkörpernden Rollen und nicht von den Personen oder Amtsträgern, die sie ausfüllen. Auch machen sie wie die Spiele gelegentlich auf die Fiktionalität von Rolle und Geschehen aufmerksam, indem sie auf das Rollenspiel der Zelebranten (ex persona mulierum), auf die bloß fiktive Bedeutung der Orte (imaginario sepulchro) oder den Nachahmungscharakter des Vorgeführten (ad imitationem) hinweisen. Zeichen werden doppeldeutig: Das Vorzeigen des leeren ›Grabes‹ und des ›Grabtuchs‹ richtet sich – liturgisch – an die versammelten Christen und – mimetisch – an die Apostel.41 Dadurch werden latent mimetische Elemente der Liturgie, die sekundär mittels Exegese kenntlich gemacht werden mussten, direkt wahrnehmbar. Die Heilsgeschichte wird statt durch einen Offizianten auch durch gespielte Figuren, etwa einen Apostel oder Propheten, vermittelt, die auch von einem Mitglied der Gemeinde gespielt werden können (wenn auch wohl clerici überwiegen). Aufs Ganze gesehen bleibt aber das Spektrum der Rollen noch begrenzt, prinzipiell durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christen. Diese ist über den Kreis der empirischen Gemeinde hinaus erweitert, bezieht also, wie das dem Selbstverständnis der Kirche entspricht, die Gemeinschaft der Seligen und Heiligen mit ein, die in einzelnen ihrer Vertreter leibhaftig auftreten. Das Böse hat in der Regel keinen aktiven Part,42 denn es geht um eine Feier der Erlösung, in der der Widersacher schon überwunden ist. Es besteht also ein Kontrakt zwischen Gemeinde und Zelebranten, der diese als Spieler von Rollen anderer anerkennt. Der Kontrakt aber ist begrenzt, weil er auf der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christen gebaut ist. Er ist also primär nicht theatral, d. h. Theaterkonvention, sondern dogmatisch begründet und setzt den pragmatischen Rahmen, die kultische Vermittlung von Heil durch Veranschaulichung von Heilsgeschichte, nicht außer Kraft. Verstärkt ist der Vorzeigegestus, den schon die Evangelien, angefangen vom Ecce homo bis zur Demonstration des leeren Grabes, kannten. Er ist verwandt,

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›Regularis concordia Anglicae nationis monachorum sanctimonialiumque‹ (1953), vgl. S. 49f.; weitere Beispiele bei NOWÉ (1985), S. 280; YOUNG (1962), Bd. I, S. 239f. u. passim (vgl. S. 241: weiblicher Kopfputz der Marien als Zeichen für »impersonation«?). Vermutlich handelt es sich bei den Kostümen meist noch um liturgische Gewänder wie bei der Augsburger Feier, die NOWÉ (1985) untersucht (S. 277); dort sind auch die verwendeten Requisiten zugleich liturgische Attribute. NOWÉ (1985), S. 278, 281. Es gibt allerdings gelegentlich Ausnahmen, wenn z. B. die verblendeten und korrupten Grabwächter dargestellt werden (vgl. YOUNG [1962] Bd. I, S. 408; DE BOOR (1967), S. 254).

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doch nicht identisch mit theatraler Demonstration, denn er richtet sich nicht auf eine Fiktion, sondern auf Veranschaulichung einer (spirituellen) Wahrheit. Es fehlt die theatrale Differenz (›etwas zeigt sich als etwas anderes‹). Aus diesem Grund ist der Vorhang, der z. B. das Grab verhüllt und weggezogen wird, damit die Menge sieht: ›Das Grab ist leer‹, gerade kein Theatervorhang.43 Die demonstratio ad oculos, die ein Theatercoup scheint, ist auf das Dogma der Auferstehung bezogen; der Gläubige sieht einen als ›Grab‹ bezeichneten Ort – den Altar oder auch ein architektonisches Gebilde, das mehr oder minder getreu ein Grab nachbildet – und er sieht ihn leer. Damit sieht er die Wahrheit der Auferstehung. Ein Fiktionskontrakt würde die Botschaft ruinieren. Natürlich wäre eine Verwendung des Altars als Theaterzeichen (›Grab‹) denkbar. Bedingung dafür wäre freilich, dass die liturgische Funktion des Altars für die Dauer des Spiels aufgegeben wäre. In den Feiern gibt es Ansätze zu theatraler Kohärenz. Mehrere Szenen können, angeregt durch liturgische Texte oder den Bericht der Evangelisten, zusammentreten, wie dies de Boor für die verschiedenen Typen von Osterfeiern mit Besuch des Grabes, Szene mit Jesus als Gärtner und Wettlauf der Jünger zum Kreuz nachgewiesen hat.44 Je weiter solche Szenen expandieren, desto lockerer wird ihre Einbindung in den kultischen Rahmen. Feiern verselbständigen sich, indem sie sich aus ihrem ursprünglichen liturgischen Zusammenhang lösen und an den Rand der jeweiligen Festtagsliturgie rücken: Die Ostermatutin, die sich von der Ostermesse absetzt, vereinigt Szenen, die ursprünglich innerliturgisch nur als – teils dialogisierte – Tropen präsent waren. Dogmatisch unerhebliche,45 doch leicht zu veranschaulichende Vorgänge wie der Jüngerlauf (erinnert im Tropus Currebant duo simul ) finden offenbar allein aus diesem Grund szenische Vergegenwärtigung. Der Zusammenfall von liturgischer Zeit und Realzeit – die Platzierung des Jüngerlaufs oder der Visitatio in den Gottesdienst am Ostermorgen z. B. – verschiebt liturgisches Gedenken in Richtung auf rituelle Wiederholung.46 Auch die Verlegung der Feier aus dem Altarraum an andere Orte der Kirche47 lockert den liturgischen Zusammenhang, ohne ihn zu sprengen. Dabei kann sogar die Abfolge des Evangeliums umgestellt werden, wenn dies den dramaturgischen Ablauf fördert, so dass für die Feier weder die Chronologie noch die liturgische Ordnung ausschlaggebend ist. Es ist dann nur noch ein Schritt zum Geistlichen Spiel, das das szenische Kontinuum und nicht den religiösen Kult als dominanten Rahmen setzt. Für den mittelalterlichen Gläubigen scheint die Unterscheidung zwischen im engeren Sinne liturgischen Akten und deren theatralischen Ausgestaltungen und Erweiterungen nebensächlich gewesen zu sein. Man bringt, wo man Liturgie von

43 44 45 46 47

Anders R ADKE-STEGH (1978), S. 96. DE BOOR s (1967) Typ III. NOWÉ (1985), S. 281. Vgl. die Überlegungen von H ARDISON (1965), S. 199. POCHAT (1990), S. 31: Westwerk der Kirche.

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paraliturgischen Feiern zu trennen sucht, somit ein modernes Kriterium zur Geltung. Wie wenig die Unterschiede der Durchführung für die Glaubenspraxis eine Rolle spielten, zeigt sich an den Requisiten. Mancherorts, etwa in Deutschland, war es Brauch, bei der Palmprozession einen hölzernen Palmesel, auf dem Jesus saß, mitzuführen, andernorts stattdessen die Hostie. Das eine Mal überwog der Charakter einer – ihr Als-ob ausstellenden – Mimesis, das andere Mal der einer religiösen Zeremonie eucharistischer Verehrung. Ähnliches lässt sich bei anderen Bräuchen dieser Art beobachten. Bei der ›Grablegung‹ Christi in der Karfreitagsliturgie konnte die Kreuzabnahme einen hölzernen Gekreuzigten mit beweglichen Armen benutzen, ebenso gut aber auch ein Kreuz oder die Hostie; das ›Grab‹ konnte durch einen nicht weiter ausgezeichneten Platz im Kirchengebäude symbolisch bezeichnet werden, aber man konnte auch – wie vor allem in England – eine wirkliche Grabarchitektur errichten, in der der Leib des Herrn zur Ruhe gebettet wurde.48 Für die spätmittelalterliche Frömmigkeit scheint die – theologisch fundamentale – Realpräsenz Christi in der geweihten Hostie und seine Repräsentation durch ein hölzernes Bild äquivalent gewesen zu sein. Nirgends finden sich Hinweise auf eine unterschiedliche Heilswirkung. Die mimische Repräsentation ist eine wirkungssteigernde Zutat zur sakralen Handlung; sie scheint gegenüber deren Kern ad libitum ausgestaltet werden zu können. Theoretisch entscheidend ist, dass der gottes-dienstliche Rahmen gewahrt bleibt; praktisch dürfte die Abgrenzung zum Geistlichen Spiel oft schwer zu treffen sein.

V. Die Theatralität mittelalterlicher Frömmigkeit ist nicht auf Rituale, kollektive liturgische und paraliturgische Akte beschränkt. Auch die spätmittelalterlichen Formen individueller Devotion enthalten theatrale Elemente, ohne doch Theater zu sein. Dies gilt insbesondere für die Passionsfrömmigkeit. Meditationstechnik und asketische Praktiken setzen sich zum Ziel, den leidenden Christus der frommen Seele möglichst eindrücklich zu vergegenwärtigen. Der Gläubige soll sich vorstellen, das Drama der Kreuzigung rolle vor seinen Augen ab, er sehe den leidenden Erlöser und höre die Schreie seiner Feinde. Das Heilsgeschehen soll auf einem imaginären Theater repräsentiert werden. Es entsteht eine breite Literatur, die solche mentalen Repräsentationen zu stimulieren sucht.49 Um die Passion suggestiv auszumalen, folgen Traktate, Visionsberichte, Klagen u. ä. häufig der narrativen Ordnung des Geschehens. Es wird also

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Beispiele bei DUFFY (1992), etwa S. 25. Der Zusammenhang der Spiele mit nicht-dramatischen Formen spätmittelalterlicher Frömmigkeitspraxis ist bisher überwiegend nur motivgeschichtlich erforscht. Im Folgenden geht es um funktionale Divergenzen und Äquivalenzen.

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die ›historische‹ Ordnung übernommen, die auch die Evangelien enthalten und die den Geistlichen Spielen, nicht aber der Liturgie, zugrunde liegt. So erklärt sich, dass zahlreiche Motive aus der Meditationsliteratur in die Spiele übernommen werden können. Der narrative Nachvollzug soll imaginärer Vergegenwärtigung und nachahmender Praxis Stoff liefern. Allerdings gibt es in diesem imaginären Theater kein Rollenspiel, denn es sind das wirkliche Passionsgeschehen und die wirklichen Akteure, die erinnernd vergegenwärtigt werden sollen. Der Gläubige tritt als imaginärer Augenzeuge in die – häufig erzählend vergegenwärtigte – Handlung ein. Er will immer mehr sein als bloßer Zuschauer; er will selbst mit-leiden. Die Imagination kann durch Mittel wie z. B. bildliche Darstellungen der Passion stimuliert werden; aber diese sollen das Erlebnis wirklicher Partizipation am imaginierten Geschehen herbeiführen und dienen deshalb – anders als theatrale Mimesis – nicht bloß einer Illusionierung, die den fiktiven Status des Dargestellten möglichst weitgehend zum Verschwinden bringt. Wenn empfohlen wird, sich strengen Bußübungen bis hin zu actus conformationis (›Angleichung in der Handlung‹) zu unterwerfen und Teile des Erlösungsgeschehens körperhaft nachzuvollziehen,50 dann ist das das Gegenteil von Theaterspiel, denn Ziel ist nicht Illusion, sondern Transformation. Der betende und betrachtende Gläubige soll sich dem leidenden Christus ähnlich machen. Conformatio actus versteht Nachfolge Christi radikal mimetisch: Man fügt sich Schmerzen zu, wie sie Jesus erlitt; zum Gebet mit ausgebreiteten Armen, also ein Kreuz bildend – wie der Priester in der Messe –, treten Akte des Selbstquälens, Backenstreiche, Zerkratzen der Kopfhaut, Geißelung. Die conformatio gipfelt in der Stigmatisierung, den willentlich selbst zugefügten oder gnadenhaft erscheinenden Wundmalen Jesu am eigenen Körper.51 Der Gedanke der conformatio actus ist dem Verfahren der allegorischen Messauslegung verwandt, indem dort Gesten und Bewegungen, die der Priester am Altar auszuführen hat, als Wiederholung von Gesten und Vorgängen, von denen die Evangelien berichten, verstanden werden. In den Auslegungen bleibt aber die Differenz zwischen verweisendem und gemeintem Akt, zwischen Zeichen und Bezeichnetem konstitutiv. In der Passionsfrömmigkeit sollen beide, soweit wie möglich, einander angenähert werden. Die conformatio ist imaginativ u n d körperhaft gedacht. Man soll sich nicht nur vorstellen, auf Golgatha dabei zu sein, den eigenen Körper an den des leidenden Jesus zu legen, mit Jesus am Kreuz zu hängen, sondern man soll dies alles tatsächlich fühlen, die Vorstellung soll ihre Basis in körperhaften Empfindungen haben. Die spätmittelalterliche Visions- und Vitenliteratur berichtet von körperlichen Symptomen imaginierten Mit-Leidens.

50 51

AUGUSTYN (1993), S. 225–229; vgl. SCHUPPISSER (1993), S. 190f. Verschiedene Grade der actus conformationis bis hin zur Selbstverstümmelung und -kreuzigung zwecks »Erzwingen der Christusförmigkeit« bei DINZELBACHER (1996), S. 157–181; vgl. S. 163.

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Daneben kennt die ekstatische Frömmigkeit die willkürlich induzierte körperliche Marter. Die Stigmatisierung ist nur die letzte Stufe in einem Assimilationsprozess an den leidenden crucifixus, der seinen Ausgang von der mentalen Vergegenwärtigung in der Meditation nimmt. Im Gedanken der Imitatio Christi bleibt die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf gleichwohl präsent. Im allgemeinen richten sich Empfehlungen für eine möglichst intensive Meditation auf »konsequenzverminderte«52 actus conformationis, die nie buchstäbliche Wiederholung sind, sondern in ›leichten‹ Schlägen und bloßen Andeutungen von Torturen, die die Imagination der Passion steigern sollen. Beim ›konsequenzverminderten‹ Nachvollzug der Passion in actus conformationis gibt es zwar ein Als-ob-Handeln – man tut so, als füge man sich die Verletzungen des leidenden Christus zu, aber man mildert ihre Intensität –, doch ist dies kein auf Täuschung angelegtes Spiel, sondern eine Form der Nachfolge, die den Abstand zwischen Erlöser und Sünder offenhält. Das Leiden ist wirklich, nur den schwachen Kräften des gewöhnlichen Christen angepasst. Der theatralisierten Frömmigkeit fehlen somit wesentliche Elemente theatraler Handlungen. Indem sich der Gläubige bemüht, Jesu Leiden nachzuahmen, scheint es nur, als spiele er eine Rolle.53 Er leidet tatsächlich, während weder der Priester noch der Spieler in einem Theaterstück selbst leidet. Der eine handelt qua Amt im Auftrag Christi und verweist auf sein Leiden, der andere führt bildhaft dieses Leiden vor, ohne selbst etwas zu empfinden. Die ekstatische Frömmigkeit soll gerade diesen Ausschluss des Körpers aufheben. Der unendliche Abstand zwischen dem leidenden Christus und dem mitleidenden Gläubigen ist nicht der Abstand des Schauspielers zu dem, dessen Rolle er verkörpert, sondern der Abstand der mitund nachleidenden Kreatur zu ihrem Gott. Dieser Abstand kann durch keinen mimetischen Akt überbrückt werden. Die actus conformationis haben also nicht die Struktur ›A stellt B für C dar‹. Eine solche Struktur wäre entweder blasphemisch oder Betrug. Auch fehlt die Position des Dritten (im Theater: des Zuschauers). Im Prinzip sollen die Gläubigen in der Meditation mit sich selbst allein sein, mit Gott als einzigem Zuschauer, der über die ›Wahrheit‹ der Devotion zu urteilen hat.54 ›Wahrheit‹ ist die zentrale Sorge in ekstatischer Frömmigkeit; unendlich die selbstquälenden Zweifel der Mit-Leidenden, ob sie nicht Opfer teuflischen Betrugs seien. Zwar scheinen einige Formen ekstatischer Frömmigkeit auf einen Zuschauer angelegt. Demonstrative Theatralität ist z. B. in den Umzügen der Geißler ebenso unübersehbar wie im Auftreten einiger charismatischer Asketen. Doch sind das Grenzphänomene, in denen der Gehalt solcher Akte gefährdet ist (und die entsprechend kritisiert wur-

52 53 54

Der Begriff nach KOTTE (1994), S. 139f. Daher ist es fraglich, ob man Franz von Assisi als Schauspieler bezeichnen kann (KÖPF (1993), S. 31). Es gibt Ausnahmen: die Ausstellung charismatischer Heiligkeit als eine Art von Schauspiel (DINZELBACHER [1996], S. 167).

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den und unter Betrugsverdacht standen).55 Vor allem aber: Wenn es Zuschauer gibt, dann sollen diese gerade nicht die Performanz bewundern, sondern ihrerseits zum Mitmachen aufgerufen werden, also aus ihrer Zuschauerrolle heraustreten: Theatralität ist Mittel, die theatrale Situation aufzuheben zugunsten einer authentischeren religiösen Praxis. Im Prinzip ist die Anwesenheit Dritter für das Gelingen der actus conformationis entbehrlich oder sogar störend, weil sie das besondere Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu seinem Gott als bloße Show denunzieren könnten. Deshalb werden übrigens die Zeichen eines solchen gnadenhaften Verhältnisses – die Wundmale z.B. – häufig dissimuliert und erst nach dem Tod bekannt gemacht, so dass jeder Gedanke an bloßes Spiel fernliegt. Wieder finden sich zahlreiche theatrale Komponenten, doch wieder in einem Kontext, der Theater ausschließt.

VI. Die Geistlichen Spiele56 nun bauen die theatralen Momente mittelalterlicher Frömmigkeitsübungen, liturgischer wie außerliturgischer, aus, setzen aber die Funktion theatraler Mimesis, die dort dem religiösen Zweck untergeordnet war, dominant.57 Durch ihre Verflechtung mit der religiösen Praxis58 setzen sie sich vom neuzeitlichen Theater ab, während sie ihm in anderer Hinsicht nahestehen: Sie sind an die historisch-chronologische Abfolge gebunden, indem sie die einzelnen Akte der Heilsgeschichte, die die Messallegorese in der Liturgie ›wiederfand‹ oder die in paraliturgischen Feiern punktuell aufgerufen wurden, in einer kohärenten Geschehensfolge vergegenwärtigen. Die Narration ist nicht bloß Stimulus für einen hier und jetzt zu vollziehenden Glaubensakt, sondern selbst der Zweck. Wenn in den Ablauf des biblischen Geschehens Gebete, Gesänge, Appelle, typologische Deutungen eingeschoben sind, die ursprünglich nicht zur repräsentierten Situation gehören, sondern diese liturgisch oder theologisch reflektieren, sind sie in der Regel von der dargestellten Situation her motiviert, knüpfen an sie an, so dass die Mimesis einer linear fortschreitenden theatralen Handlung das übergeordnete Organisationsprinzip bleibt. An einem Ausschnitt (z. B. dem Ostergeschehen) kann so wie in der Liturgie die Gesamtheit der Heilsgeschichte sichtbar gemacht werden. 55 56 57

58

Ebd., S. 171–173. Ich beschränke mich im Folgenden auf ganz wenige grundsätzliche Bemerkungen, die der Abgrenzung dienen sollen. NOWÉ (1985), S. 299: Die Bibel bildet »bloß noch die Grundlage für eine dramatische Darstellung«. – Grundlegend WARNING (1974) zur dadurch bedingten Tendenz der ›Remythisierung‹. Was keine »lineare Entwicklung des ›mittelalterlichen Theaters‹ aus dem liturgischen Drama« impliziert (so GUMBRECHT [1992], S. 830); gegen den Entwicklungsgedanken polemisiert schon H ARDISON (1965).

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Wo die Liturgie bei aller Rollendifferenzierung Offizianten und Gemeinde zu einer kultischen Handlung verband, in der es im strengen Sinne keine Spieler und keine Zuschauer gab, sind im Spiel die Funktionen klar geschieden.59 Zwischen ihnen verläuft eine Grenze, die zu respektieren zu Beginn der Spiele gelegentlich explizit gefordert wird und deren Überschreitung geahndet werden soll – mit ernsthaften oder bereits zur Spielfiktion gehörenden Strafen.60 Damit ist der Ort der Bühnenrealität als Kunstraum abgegrenzt.61 Eine solche Grenze gibt es auch dann, wenn im Laufe des Spiels nahezu die ganze Gemeinde in die Spielhandlung einbezogen wird. Man spielt immer vor Zuschauern; diese können z. B. auch von außerhalb kommen, wobei man von den Fremden Eintrittsgeld an den Stadttoren verlangen kann.62 Die Rollen sollen möglichst überzeugend gespielt werden; deshalb gibt es Anweisungen, wie die Spieler sich zu verhalten haben. Einige Spiele wie das ›Donaueschinger Passionsspiel‹ betonen ausdrücklich das Als-ob der Aktionen. Dass nicht Heilswirkung, sondern gelungene Performanz an erster Stelle gefordert wird, zeigen Proben zwecks Einstudierung der Spiele; in einigen Fällen ist Bezahlung der Spieler nachgewiesen63 oder der Rückgriff auf professionelle Mitwirkende.64 Es werden Requisiten und Kostüme vorgeschrieben und Theatertricks benutzt (z. B. um möglichst eindrucksvoll Blut fließen zu lassen). Wenn manchmal noch bestimmte Rollen weiter von Geistlichen gespielt werden, treten diese nicht in ihrer genuinen Funktion, als Amtsträger, vor die Menge, sondern in der Rolle, die das Spiel ihnen zuweist. Indem das Rollenrepertoire regelmäßig die Feinde der Erlösung – die Juden, die Heiden, die Teufel – einschließt, kann der in der Liturgie immer schon bewältigte, im Ursprung mythische Antagonismus zwischen Gott und seinen Widersachern re-inszeniert werden.65 Als christliche Gemeinde erfahren sich die Zuschauer in der Abgrenzung von den anderen. Das Ausspekulieren der von den Evangelien berichteten Situationen nach Maßgabe eines zeitgenössischen Alltags strapaziert gelegentlich den heilsgeschichtlichen Verweisungszusammenhang: Die Obszönitäten der Salbenkrämer- oder Hortulanusszenen, die Derbheiten des Jüngerlaufs, der Wirtshausklamauk in Emmaus oder Entsprechendes lassen sich zwar allegorice mit der Heilsbotschaft verknüpfen (der wahre Arzt Jesus gegenüber dem Quack salber, das irdische Mahl gegen das

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Zu den Raumdispositionen vgl. HEINZEL (1977); dort weitere Zusammenstellungen zur äußeren Einrichtung der Spiele, zum Rollenverständnis und zur Zuschauerposition. Eine größere Studie liegt nun vor von EHRSTINE (2002). So, wenn dem Zuwiderhandelnden angedroht wird, er werde von den Teufeln geholt. Vgl. HEINZEL (1977), S. 18. NEUMANN (1987), Bd. 1, S. 672. Ebd. S. 360; 587–590. LERER (1996), S. 376. Dies ist in liturgischen Feiern nahezu ausgeschlossen (DE BOOR [1967], S. 8); zur mythischen Struktur, die der Heilsgeschichte damit eingezeichnet wird: WARNING (1974), S. 22ff.; NOWÉ (1985), S. 305–308.

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himmlische usw.), doch geraten solche Ausdeutungen in eben die Nachträglichkeit, die bei der Liturgie die ›rememorative‹ Auslegung auf den sensus historicus hin kennzeichnete. In solchen Szenen drängt sich eine jede höhere Bedeutung abweisende, in der schieren Präsenz sich erschöpfende Körperhaftigkeit in den Vordergrund und blockiert oder erschwert das heilsgeschichtliche Verständnis.66 Weil der Überschuss an theatralem Mimus, der schon an den Feiern zu beobachten war, den sakralen Kern zu überwuchern droht, greifen gelegentlich Beschränkungen durch die kirchliche Obrigkeit ein. Die Verbindung zum liturgischen Anlass ist nämlich zwar gelockert, nie aber ganz gekappt. Das gilt selbst für scheinbar rein innerfiktional funktionierende dramaturgische Signale. Die Silete-Rufe der Engel sind dramaturgisches Mittel der Szenengliederung und der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das gespielte Geschehen; aber es sind eben auch Engel, die zur religiösen Sammlung aufrufen. Der Raum der Aufführung kann die Kirche sein, aber auch ein profaner Platz außerhalb wie der Markt. Dass beides nebeneinander möglich ist (und, soweit zu sehen, nicht das eine das andere ersetzt), belegt, dass offenbar zwar aufführungstechnische Gegebenheiten den Ausschlag geben, aber die Verbindung zum Kult bewusst bleibt. Das Datum der Aufführung kann ans liturgische Fest gebunden sein oder aber aus verschiedenen Gründen (z. B. Witterung, andere städtische Feste) sich davon lösen.67 Da aber die religiöse Wahrheit zeitlos gilt, das Erlösungsgeschehen zeitenthobene Wirksamkeit hat und im kirchlichen Festtagszyklus nur in seinen einzelnen Aspekten entfaltet wird, spricht selbst dies nicht gegen Fortgeltung kultischer Bedeutung. Dass sie einerseits weitergegeben, andererseits gefährdet scheint, lässt sich am Wechsel von Privilegierung (durch Ablass z. B.) und Verbot der Spiele ablesen.68 Gelegentlich wird die Trennung zwischen Zuschauern und Gemeinde durch gemeinschaftliche Kulthandlungen (Gebete, Gesänge) rückgängig gemacht. Das auf der Bühne dargestellte Geschehen betrifft ja unmittelbar das Heil der Zuschauer. Dennoch, wenn das Publikum ausdrücklich zum Mitagieren aufgefordert werden muss, dann weist die Überschreitung der Grenze indirekt auf ihre Stabilität.69 Indem an die Stelle der ›konsequenzverminderten‹ actus conformationis, d. h. des Nach-Lebens von Christi Leiden, das bloße Nachspielen einer Handlung tritt, verändert sich die Rolle des gläubigen Betrachters. Gemeinsam ist das Ziel, der Imagination des Heilsgeschehens Sukkurs zu leisten und so die religiöse Betrach-

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GUMBRECHT (1992), S. 830. NEUMANN (1987), Bd. 1, S. 104f., 114f., 117f., 259, 328, 415 u. ö. sowie J.-D. MÜLLER (2000a), S. 63f. Vgl. die zahlreichen Beispiele bei NEUMANN (1987), Bd. 2, S. 869ff. Freilich sind die Bereiche von Spielern und Zuschauern noch im 16. Jahrhundert nicht ganz scharf voneinander getrennt, Übergänge vom einen in den anderen Bereich (zumal bei den eben nicht beschäftigten Spielern) immer möglich (TAILBY [1994], S. 324).

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tung zu fördern. Auch das Spiel will den Rezipienten imaginativ in das Geschehen verwickeln, doch es betrifft ihn nicht – wie die Meditationspraxis – in seiner körperlichen Verfassung. Körperliche Erfahrung ist ausgeschlossen. Die conformatio wird nach außen verlagert in die mimische Repräsentation mittels fremder Körper. Der Spieler leidet aber ebenfalls nicht. Wenn ihm tatsächlich Schmerz widerführe, wäre dies ein Unfall. Er soll Schmerz darstellen, damit der Zuschauer mittels des Vorgeführten Schmerz imaginieren kann. Auch dies zielt zwar letztlich wieder auf eine religiöse Erfahrung, aber sie gleicht schon jener vermittelten, in ihren körperhaften Symptomen geschwächten Wirkung, die die aristotelische Tragödie als ›Furcht und Mitleid‹ anstrebt. In der Realität spätmittelalterlicher Devotion mögen die skizzierten Unterscheidungen nur eine geringe Rolle gespielt haben. Vermutlich wurden sie von den Besuchern der Messe, den Teilnehmern einer Feier, den über ein imaginäres Passionstheater Meditierenden oder den Zuschauern der Spiele nicht einmal wahrgenommen. Trotzdem sind sie nötig, um den Ausdifferenzierungsprozess des Geistlichen Spiels gegenüber dem religiösen Kult zu erfassen. Mit ihrer Hilfe müsste der Bestand an Feiern, Klagen, Spielen usw. erneut gesichtet werden, und zwar im Bewusstsein der kulturellen Distanz, die uns seit der Reformation von der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis trennt. Erst die Reformation und in ihrem Gefolge auch die Gegenreformation haben scharfe Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Gottesdienst und Theater, zwischen der geweihten Hostie und einem Requisit auf der Bühne gezogen, u. a. mit dem Ergebnis, dass das Übergangsphänomen der paraliturgischen Feier selbst im katholischen Kult zurückgedrängt wurde. Das Spätmittelalter scheint an einer Abgrenzung zwischen bloß imaginativer Vergegenwärtigung, Re-Präsentation im Spiel und Realpräsenz im liturgischen Akt nicht interessiert gewesen zu sein. Unterscheiden muss man sie trotzdem.

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Verabschiedung des Mythos Zur Hagen-Episode der ›Kudrun‹

I. Mythos im Mittelalter? Mittelalter und Mythos scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Die mittelalterliche Kultur ist durchgehend von einer der Hochreligionen geprägt, die das mythische Denken der Frühzeit ablösen und mythische Reste theologisch umdeuten. Man hat allenfalls daran gezweifelt, ob diese Prägung so vollständig war, ob nicht zumindest in Randbereichen mythische Residualbestände überdauerten, etwa in einer von den Zumutungen der wissenschaftlichen Theologie sich abwendenden Laienfrömmigkeit. Doch selbst solche Vorschläge – ich erinnere an Warnings Überlegungen zur »Re-mythisierung« im ›Geistlichen Spiel‹1 – stießen auf erbitterten Widerstand, indem noch die dogmatisch heikelsten Vorgänge im Sinne des Dogmas gedeutet, die heillosesten Aktionen der Gegner Christi als Steigerung christlicher Heilsgewissheit und das brutalste Vergnügen am Quälen und der Auslöschung des Heiligen als Mittel christlich-religiöser Erbauung gerechtfertigt wurden.2 Dabei ist gewiss zuzugestehen, dass die Hochreligionen ihre Überlegenheit und Durchsetzungsfähigkeit gerade solcher Assimilationsfähigkeit verdanken, so dass, was von späterer Position aus als Rückfall in den Mythos erscheinen könnte, von ihrem Standpunkt aus gerade als Sieg über ihn verstanden werden kann. Allerdings zeigen gerade solche Assimilationsvorgänge, wie vollständig auch immer sie gelingen mögen, die Virulenz des Mythischen: Unbestreitbar muss etwas da sein, das assimiliert werden soll, etwas, das sich zunächst der Integration widersetzt und das es in dieser Form in späteren Epochen des Christentums nicht mehr gibt. In der Tat haben Reformation und Gegenreformation (man muss beide zusammen sehen) Phänomene wie die von Warning am Geistlichen Spiel als ›Remythisierung‹ beschriebenen, von anderen als dogmen- und systemkonform gerechtfertigten, als ›heidnisch‹ oder ›abergläubisch‹ inkriminiert und konsequent aus dem religiösen Drama, geschweige aus dem Kult zu verdrängen gesucht (mit geringerem Erfolg im Bereich des Katholizismus). Aus nachreformatorischer Perspektive könnte man darin einen Selbstreinigungsprozess der Hochreligion sehen, die auf die im Mittelalter noch erforderlichen Assimilationsleistungen verzichten kann: den endgültigen Sieg über den Mythos gewissermaßen.

1 2

WARNING (1974). Vgl. ausführlich OHLY (1995).

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Das Bild vom mythenfreien Mittelalter ist insofern nachmittelalterlich, geprägt von der reformatorischen und gegenreformatorischen Austreibung oder Marginalisierung mythischer Restbestände innerhalb des westlichen Christentums (mit der paradoxen Konsequenz übrigens, dass dieses im Zuge der europäischen Aufklärung selbst unter Mythenverdacht gerät). Das Bild einer entmythologisierten Hochreligion wird in die Zeit vor der Glaubensspaltung zurückprojiziert, wobei angeblich zuletzt, einem bei allen Nuancierungen insgesamt überkonfessionellen Geschichtsbild zufolge, die Reinheit der Religion durch Fehlentwicklungen innerhalb der römischen Kirche befleckt worden wäre, doch, ob nun mit Hilfe von testes veritatis oder durch ein Reformkonzil, in ihrer ursprünglichen Form wiederhergestellt werden sollte. Rückprojiziert wird auch der (ebenfalls im Kern reformatorische) Anspruch einer vollständigen Durchorganisation von Kultur und Gesellschaft durch den Glauben (Martin Bucer spricht von einer administratio totius vitae), so dass auch außerhalb der i.e.S. religiösen Sphäre für Mythisches im christlichen Mittelalter kein Platz bleibt, oder allenfalls in Randbereichen, im ›Volksglauben‹, der ›Volksmedizin‹, bei den Erdrandvölkern usw., überall dort also, wohin die christliche Botschaft nicht oder nur verzerrt dringen konnte. Dahinter steckt letztlich das alte romantische Phantasma von der ›Christenheit und Europa‹, das Wunschbild einer homogenen Welt unter einer einzigen Religion. Erst allmählich hat man erkannt, dass von solcher Randständigkeit des nicht Integrierten keine Rede sein kann, sondern gerade umgekehrt das entmythologisierte Weltbild der Kleriker nur eine Insel innerhalb einer heterogenen und widersprüchlichen, überdies vorwiegend illiteraten Laienkultur darstellt.3 Im Hintergrund der Abwehr der Re-mythisierungsthese und – allgemeiner – einer Suche nach Residuen des Mythos im Mittelalter steht das Verlaufsschema ›vom Mythos zum Logos‹. Wenn Hochreligionen und Aufklärung diesem Schema zufolge den Mythos liquidieren, dann sind sie rigoros von dem Verdacht zu entlasten, selbst noch irgendwelche mythischen Elemente mit sich herumzuschleppen. Lassen sich solche Elemente nachweisen, oder werden sie sogar bewusst angestrebt, dann ist das nur als Komplizenschaft mit dem Terror des Mythos zu verstehen, den sie doch gerade überwunden zu haben vorgeben.4 Das ist unter der Prämisse eines solchen Verlaufsschemas auch einleuchtend: Man muss an Phänomene wie Rosenbergs ›Mythos des 20. Jahrhunderts‹ denken, in dem ja tatsächlich der Mythos-Begriff für einen Rückfall in die Barbarei instrumentalisiert wurde. Nur hat die neuere Mythosforschung jenes Verlaufsschema längst verabschiedet und vor allem die damit verbundene Vorstellung eines geschlossenen ›mythischen‹ Zeitalters, das dann von dem der Hochreligionen und der Herrschaft des Logos abgelöst wurde, als unhaltbar erwiesen.5 Man hat vielmehr auf vielen Feldern gezeigt, dass

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Insbesondere die frömmigkeitsgeschichtlichen Studien von Klaus Schreiner haben ein neues Mittelalterbild im Zentrum christlicher Religiosität geschaffen. FUHRMANN (1971); dort vor allem der Aufsatz von BLUMENBERG, S. 11–66. Überblick bei JAMME (1999).

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bestimmte Elemente und Strukturen des Mythos nicht irgendwann ein für alle Male überwunden, sondern in der Kultur der modernen Gesellschaften fortdauern, manchmal in Randbezirke abgedrängt, manchmal auf bestimmte Felder – wie z. B. Kunst und Literatur – eingeschränkt werden, manchmal aber auch im Zentrum ihrer Selbstentwürfe und -interpretationen stehen.6 Damit wird die Frage nach dem Umgang des Mittelalters mit Mythischem entdramatisiert: Ließen sich mythische Strukturen und Elemente nachweisen, dann würde das nicht gleich die Christlichkeit der mittelalterlichen Welt als ganze in Frage stellen. Vielmehr könnten romantische und nachromantische Vorstellungen von der mittelalterlichen Welt als einer ideologisch und sozial geschlossenen Einheit, die erst in den Pluralisierungsprozessen der Frühen Neuzeit sich auflöst, korrigiert werden zugunsten des Bildes eines komplexen kulturellen Gewebes mit durchaus widersprüchlichen Tendenzen und heterogenen Bestandteilen, wenn auch insgesamt dominiert von einer christlichen Religion, die alle Bereiche zu durchdringen trachtet. Dies ist umso dringlicher, als jüngst gezeigt wurde,7 dass das Erbe der feudalen Laienwelt sich in vielerlei Hinsicht als resistent gegenüber der Christianisierung erwiesen hat, mindestens aber nur oberflächlich von ihr tingiert wurden, so dass man das Mittelalter als einen mühsamen und an Rückschlägen reichen Prozess der Bewältigung dieses Erbes betrachten kann. In dieser Adelswelt (und keineswegs nur in einer diffusen ›Volkskultur‹) perennieren Elemente und Strukturen mythischen Denkens. Nun fragt sich allerdings, was mit Mythos und mythisch gemeint ist. Die Schwierigkeiten einer verbindlichen Definition und deren Abhängigkeit von kulturellen Grundannahmen sind bekannt: Man wird keine Bestimmung finden, die gleichermaßen der religiös-kultischen, der historischen und politisch-sozialen Funktion des Mythos gerecht wird, die auf archaische und moderne Gesellschaftszustände passt oder das, was der Ethnologie, und das, was der Literaturwissenschaft ›Mythos‹ heißt, verbindet.8 Es versteht sich von selbst, dass es im Mittelalter nicht die für archaische Kulturen typische Verklammerung von Mythos und Kult geben kann:9 Mythisches erscheint, wo es nicht in der offiziell inkriminierten Form magischer Praktiken auftritt, vor allem in mythischen Erzählungen.10 Doch treten diese nicht wie im nach-homerischen Griechenland zur Mythologie zusammen. Eine Mythologie wäre im Mittelalter allenfalls als Dämonologie möglich. Das mittelalterliche Weltbild scheint nicht einmal durch und durch mythische Erzählungen zuzulassen. Stattdessen hat man es mit Bruchstücken mythischer Überlieferungen zu tun, die sich meist nicht zur geschlossenen Erzählung for6 7 8 9 10

BARTHES (1991); M ARTÍNEZ (1996), darin besonders: SCHLAFFER (1996). FRIEDRICH (2009). Überblick bei JAMME (1999). »Mythen treten immer auf im Zusammenhang mit Ritualen; sie sind der kognitive Teil der kultischen Praxis« (ebd., S. 21). Das entspricht durchaus der Gegebenheit griechischer Mythen (ebd., S. 33); freilich ist deren Systematisierung zur Mythologie, wie sie bei Homer oder Hesiod vorliegt, im mittelalterlichen Weltbild undenkbar.

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men, mit ›mythomorphen‹ narrativen Komplexen, die erratisch und eingekapselt in anders strukturierte Erzählungen, deren Ablauf unterbrechend und störend, als überschüssige Details scheinbar ohne Funktion, auftreten können. Wo eine unwidersprochene Einigung auf einen alle Spielarten abdeckenden Mythosbegriff nicht zu erwarten ist, ist es zweckmäßig, von solchen mythomorphen Teilkomplexen, zentriert um mythische Motive, auszugehen. Mythomorph soll hier heißen, was den Strukturen und Verläufen ›echter‹ Mythen entspricht. Ich orientiere mich dabei an Cassirers Analysen mythischen Denkens in Bezug auf Raum, Zeit, Kausalität, Motivationstypen.11 Zweitrangig sind dagegen bestimmte mythische oder mythologische Inhalte, die man in nicht-mythischer Umgebung wieder zu finden glaubt. Sie setzen ein substantialistisches Verständnis des Mythos voraus. Der Mythos wird dann als ›Kern‹ einer textuellen oder außertextuellen Konfiguration betrachtet, den man aus seiner ›Einkleidung‹ herauszuschälen habe, da er ihre ›eigentliche‹ Bedeutung enthalte. In dieser Weise hat man im Artusroman keltische Mythen oder allgemeiner mythische Archetypen entdeckt.12 Das ist so lange methodisch fragwürdig, als man nicht bei der Überformung und ihrer Funktion ansetzt. Es sind eben die Formen der Verhüllung – besser Verarbeitung –, die aufschlussreich für die ›Arbeit am Mythos‹ sind. Die im Folgenden untersuchten mythischen Motive sind immer schon in einer bestimmten Weise strukturiert sowie in ein Raum-Zeit-Kontinuum und in Handlungsfolgen eingelassen. Diese, nicht schon die Motive selbst, können mythisches Gepräge haben, aber sie können es auch zum Verschwinden bringen. Literarische Gestaltung kann solche Strukturierungen aufnehmen, fortbilden oder verwerfen, doch ist sie – hier irrte der New Criticism13 – nicht mit ihr identisch. Im Gegenteil arbeitet sich die Literatur an ihnen ab, sucht ihren mythischen Charakter umzuformen und zu verwischen. Das gilt für mittelalterliche Texte nicht anders als für moderne. Als einen mythischen Motivkomplex in diesem Sinne möchte ich im Folgenden die Auseinandersetzung zwischen Heros und Chaos in der ›Kudrun‹ betrachten und zeigen, wie in dieser Auseinandersetzung mythische Strukturmuster angespielt, dann aber in der nicht-mythischen Anlage des Heldenepos verabschiedet werden. Die Bewältigung des Chaos ist Gegenstand vieler archaischer Mythen, deren Varianten hier nicht zu rekapitulieren sind.14 Die narrative Entfaltung des Motivs ist in der Regel an bestimmte Konzepte von Raum, Zeit und Kausalität gebunden, die als konstitutiv für mythisches Denken beschrieben wurden. Erst beides zusammen berechtigt, in der ›Kudrun‹ von einem mythischen 11 12

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CASSIRER (1994). Dies ist die übliche und meist als unangemessen kritisierte Form der Frage nach mythischen Restbeständen im Mittelalter. Sinnvoll kann sie in sagengeschichtlicher Perspektive sein, solange der Mythos nicht als Substanz seiner jeweiligen literarischen oder außerliterarischen Aneignung betrachtet wird und auf deren Differenz statt auf Identität geachtet wird. Anderenfalls bleibt das Verfahren reduktionistisch. FRYE (1964), S. 133–243. A NGEHRN (1996); JAMME (1999), S. 16.

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Rest zu sprechen, der freilich in einem der mythischen Struktur zuwiderlaufenden Sinne angeeignet wird.

II. Mythischer Raum – mythische Zeit Die ›Kudrun‹15 wird als Antwort und christliche Korrektur des ›Nibelungenliedes‹ verstanden,16 wobei ihr freilich der rechte Erfolg versagt geblieben sei. Das Interesse der Mediävistik fand vor allem die Titelheldin, die als Gegentypus zur übelen Kriemhilt des ›Nibelungenliedes‹, als Friedensstifterin nämlich, auftritt und die heillose Verkettung von heroischem Schlag und Gegenschlag zertrennt, indem sie zwischen den Gegnern eine Reihe von Hochzeitsbündnissen stiftet. Die ›Kudrun‹ erzählt eine Gründungsgeschichte, doch eben nicht eine heroische. Es geht nicht, wie in Gründungsgeschichten sonst meist, um die Anfänge einer Institution oder eines Geschlechts (dieses besteht bereits und setzt sich nach den üblichen heroischen Mustern fort), sondern um die Bewältigung einer Krise, in der die Legitimationsmuster heroischer Geschlechtermythologie unterzugehen drohen. Diese gründen auf dem – mehrfach wiederholten – Braut werbungsschema (dabei wechselt die fokussierte Dynastie; der Heros der einen Brautwerbungshandlung mutiert zum Brautvater der folgenden), doch führt die dreifache Kumulierung des Schemas in der Generation Kudruns in eine Pattsituation, aus der die Bewerber vergeblich durch immer neue Gewalt herauszukommen trachten und die mit dem Sieg des einen (Herwics) keineswegs für alle Zeit überwunden sein muss. Erst Kudruns Ehebündnisse sind geeignet, das Patt aufzulösen. In der letzten Brautwerbung, der um Kudrun, bei der es drei Bewerber gibt, wird das Schema ad absurdum geführt: Nach der Niederlage des Brautvaters Hetel gegen den Werber Herwic müsste schemagerecht die Geschichte zu Ende sein (oder allenfalls noch einmal durch eine Verdoppelung der gefährlichen Brautwerbung hinausgezögert). Doch gibt es noch zwei weitere Werber, den Mohren Siegfried,

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Zitiert wird der Text nach ›Kudrun‹ (1965). Überliefert ist die ›Kudrun‹ nur einmal, in einer Abschrift des frühen 16. Jhs. im sog. Ambraser Heldenbuch, das 1504–1515 durch Hans Ried, Zöllner am Eisack, geschrieben wurde, und zwar im Auftrag Kaiser Maximilians I., der planmäßig nach mittelalterlichen ›Heldenbüchern‹ forschen ließ, weil er darin uralte Geschichtskunde sah. Das Ambraser Heldenbuch ist die größte Sammlung ihrer Art und die heterogenste dazu, da sie neben Nibelungen- und Dietrichepik auch höfische Romane, Maeren und didaktisches Schrifttum enthält. Hier hat auch die ›Kudrun‹ ihren Platz, während sie im Umkreis von Heldenepik sonst fehlt und, sieht man von einigen Namen und Orten ab, auch sonst keine deutlicheren Spuren in der mittelalterlichen Heldensage hinterlassen hat. Zuerst K ETTNER (1891). Die Gegenüberstellung ist bis in jüngere Zeit eines der Hauptthemen der Kudrun-Forschung geblieben; vgl. den Sammelband von RUPP (Hg.): Nibelungenlied und Kudrun (1976); BENDER (1987); FRAKES (1994).

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der den erfolgreicheren Rivalen zuerst mit Krieg überzieht, und Hartmut, der, als sein Minnedienst erfolglos bleibt, die Braut entführt und jahrelang gefangen hält. Hartmut rutscht damit in die Rolle des Brautvaters, der dem legitimen Werber seine Frau vorenthält. Damit wird die Kette der Gewalttaten unabschließbar. Der Versuch, Kudrun zu befreien, endet mit einer blutigen Niederlage Herwics und Hetels, der fällt. Nur für eine Zeit ist Ruhe, da die militärischen Ressourcen der Hetelinge erschöpft sind. Hetels Vasall Wate rät aber, eine Zeit lang zu warten, bis die Jungen zu Männern geworden sind, und dann zurückzuschlagen. So kommt es auch. Um eine weitere Fortsetzung künftig zu verhindern, tötet Wate bei der Revanche die Kinder in der Wiege. Trotzdem gibt es keine Garantie, dass nicht wieder eine Generation später das Gemetzel weitergeht. Damit erweist sich das Brautwerbungsschema als desaströs. Hartmut fehlt die Zustimmung der Braut – eine häufige, doch für das Schema keineswegs unabdingbare Voraussetzung.17 Die negative Rolle des Brautvaters wird durch die Bosheit der Eltern Hartmuts ersetzt, die Kudrun in die Ehe zwingen (statt diese verhindern) wollen. Der ›richtige‹ Werber siegt schließlich, indem er sich mit einem Rivalen und der Familie der Braut verbündet und bringt damit vollends die übliche Personenkonstellation ins Durcheinander. Das alles endet um ein Haar katastrophisch und kann nur ganz zuletzt durch eine gewaltlose Form, dynastische Verbindung zu stiften, auf einen positiven Schluss umgelenkt werden. Insofern könnte man, wenn man genealogische Aitiologien als mythisch betrachtet, die Handlung des Epos insgesamt als Ablösung mythischer Geltung mit Hilfe mythischer Strukturen interpretieren. Ablösung des Mythos durch entstellendes Zitieren des Mythischen nun ist eine Figur, die sich auch sonst im Text findet. Aus der Folge jener Instituierungsakte mittels oder gegen das Brautwerbungsschema fällt nämlich eine Episode heraus: die Jugendgeschichte von Kudruns Großvater Hagen.18 Während die übrigen Aktionen im Licht gewöhnlicher Feudalgeschichte spielen, ist diese Episode in ihren Raum- und Zeitstrukturen von ihnen deutlich abgesetzt: Sie spielt in einer ›Anderwelt‹,19 einer Welt ›neben‹ der bekannten. Der Held gelangt in sie, indem er von einem Greifen entführt wird. Die Entführung durch die Luft zeigt an, dass es keinen gewöhnlichen Weg zwischen dieser Anderwelt und Hagens Heimat gibt; Hagen gelangt in einen Raum ›jenseits‹. Dieser hat mythisches Gepräge.

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Die Braut muss nicht notwendig gefragt werden. Ihr Einverständnis wird oft nicht problematisiert. Werner Hoffmann glaubt, dass dieser Teil »sicherlich die Erfindung des Kudrun-Dichters« ist, »d. h. des Mannes, dem die gedankliche Konzeption der Gesamtdichtung und ihre narrative Gestaltung zuzuschreiben sind« (HOFFMANN [1993], S. 298). Wenn dies für die Integration der Hagen-Sage in den Gesamtplan gelten mag (vgl. S. 299 zum Verhältnis der Hagen- zur Hetelgestalt), dann doch sicher nicht für deren Material, das weit archaischer ist als das der übrigen Erzählung – oder man müsste annehmen, dass der Erzähler archaisierend Elemente des Mythos zur Jugendgeschichte Hagens kombiniert habe. – Zur Jugendgeschichte insgesamt MCCONNELL (1988), S. 12–22. MCCONNELL (1983); DERS. (1988); S. 13–15.

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Doch bleibt das nicht so. Die Wildnis wird sukzessive der gewöhnlichen Welt angenähert. Nach einiger Zeit berühren nämlich Pilgerschiffe das fremde Land. Man erfährt nicht, ob sie sich auf dem Hin- oder Rückweg befinden, nur dass sie an der Küste scheitern. Pilgerschiffe sind Schiffe, die sich zwar maximal aus der bekannten Welt entfernen, doch auf dem Weg zu einem Ziel, das nicht an der Peripherie dieser Welt liegt, sondern in ihrem geistigen Zentrum: ins Heilige Land. Die Anderwelt wird damit zu jenem Zentrum in Beziehung gesetzt. Man kommt, wie die Kreuzfahrer beweisen, auf dem Weg dorthin oder zurück irgendwie (Ich weiz von welhem ende, 85,1) an ihr vorbei. Der mythische und der nicht-mythische (heilige) Raum werden relationiert. Die Verbindung ist vorerst labil (die Schiffe gehen unter, werden nie aus der Wildnis zurückkehren), auch reißt sie, kaum hergestellt, sogleich wieder ab, doch schafft sie die Voraussetzung für die Überwindung und dann das Verlassen der Wildnis. Deshalb gibt es später ein weiteres Pilgerschiff, und diesmal hält die Verbindung. Mit seiner Hilfe werden die in der Wildnis Exilierten – Hagen und drei Gefährtinnen, die er dort getroffen hat – nach Hause zurückfinden. Der Weg, anfangs unermesslich, ist jetzt zwar weit, aber messbar. Hagens Entführung in die Wildnis führte durch die Luft. Die Rückkehr erfolgt übers Meer. Ihr Gelingen wird vorbereitet, indem Hagen und seine Gefährtinnen sich vorher schon von ihrem Zufluchtsort in der Wildnis lösen und zu Fuß sich auf den Weg machen, um aus eigener Kraft die Rückkehr zu versuchen. Dazu waren sie 24 Tage durch den tan (108,1) gegangen, bis sie ans Meer kamen. Das ist insofern seltsam, als ihre Wohnung doch bisher schon in der Nähe des Meeres gelegen hatte, so dass sie auch dort hätten abwarten können. Doch solch eine Überlegung zu ›realistischen‹ Raumvorstellungen geht fehl, denn der Raum ist eine mythische Größe. Ihn zu verlassen, bedarf es mehrfacher Anstrengung, bis man einen Punkt erreicht, von dem aus die Rückkehr zu Schiff möglich ist. Mit dem Eintreffen des zweiten Pilgerschiffs (110,4) scheint das Schlimmste überwunden. Von diesem Schiff weiß man schon, woher es kommt (Garad[î]e). Doch auch auf ihm dauert es noch siebzehn Tage. Der tan ist ein gefährlicher Raum, in dem Heldensage – vor allem die aventiurehafte Dietrichepik – gewöhnlich spielt, und auch das Meer ist gefährlich. Trotzdem meistert der Held beide und findet sich zuletzt wieder in seiner angestammten Königsherrschaft, aus der ihn der Greif herausgerissen hatte. Der Raum verändert sich also: Die Grenzüberschreitung ist als Bruch mit der bekannten Welt inszeniert, doch nähert die Wildnis sich ganz buchstäblich dieser wieder an. Die Wildnis ist zuerst ›ganz woanders‹, dann in einer Welt, aus der man ›nicht‹ (1. Pilgerschiff ), schließlich in einer, aus der man ›nur mühsam zurückfindet‹ (2. Pilgerschiff ). Anfangs trägt sie mythische Züge, später ist sie nur noch exotisch. Auch die Zeitrelationen sind auffällig: Der Aufenthalt in der Wildnis fällt zwar mit Hagens Kindheit und Jugend zusammen, doch fügt er sich nicht bruchlos in seine Biographie. Hagens Leben in der Wildnis wurde als Prozess einer Initiation gedeutet, als »veritable rite de passage«.20 Sie erfolgt in der Tat in dem Alter, in

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MCCONNELL (1988), S. 13 verweist u. a. auf den symbolischen Tod des Helden durch

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dem der junge Ritter gewöhnlich aus dem Frauenzimmer in die Obhut männlicher Erzieher gelangt; Hagen wird mit sieben Jahren entführt.21 Insofern gehört das Leben in der Wildnis auf den ersten Blick – als Übergangszustand der Anomie – in eine kohärent fortschreitende Heroenbiographie. In Hagens Lebenslauf bleibt die Episode jedoch erratisch. Der Übergang des Jungen in die Welt der Männer hat nämlich schon am väterlichen Hof stattgefunden: Mit sieben Jahren beginnen sich recken um Hagen zu kümmern (24,1); er verlässt das Frauenzimmer (im leidete bî den frouwen und liebte bî den mannen, 24,3) und antizipiert seine künftige Rolle: wenn das Kind Waffen sieht, dann will es sie anlegen (25). Die Erziehung zum Mann hat am Hof schon begonnen und wird durch den Greifen abrupt unterbrochen. Es überlagern sich also zwei biographische Muster, und das zweite tritt als Störung des ersten auf.22 Eine ähnliche zeitliche Unstimmigkeit ergibt sich nach Hagens Rückkehr aus der Wildnis. Da heißt es von dem inzwischen doch längst erwachsenen Helden: Wahsen er begunde bevollen ze einem man./ dô phlag er mit den helden swes man ie began,/ daz ritter prüeven solten (163,1–3) und: Der junge Hagen lernte, daz helden wol gezam [...] er wart sô rehte milte [...] Darzuo wart er sô küene (165,1; 4; 166,1). Das sieht so aus, als müsse der Prozess des Hineinwachsens in seine Rolle als Ritter noch nachgeholt werden. Andererseits resümiert der Erzähler Er wuohs in einer wüeste (167,1).23 Die beiden Erzählstränge sind also auffällig locker miteinander verknüpft. Einerseits ist Hagen längst Heros, andererseits soll er noch lernen, was er in der Wildnis doch längst überreichlich bewiesen hat. Hagens ›Initiation‹ ist also überdeterminiert. Der Aufenthalt in der Wildnis ist überschüssig und wird als solcher ausgestellt. Unklar bleiben übrigens auch die Altersrelationen zwischen den Hauptfiguren. Hilde, die Braut, die Hagen aus der Wildnis mitbringt, scheint schon erwachsen, wenn er sie als Siebenjähriger trifft. Sie ist die älteste der drei gleichfalls von den Greifen entführten Königstöchter. Ihre Gefährtin Hildeburc, die zweitälteste, Tochter des Königs von Portugal und von Hilde erzogen nâch êre (485,2), begleitet später Hildes Tochter, die gleichfalls Hilde heißt, zu deren Mann Hetel (484f.). Noch später gibt es wieder eine Hildeburc, gleichfalls eine Königstochter (1059,1; 1062,3); sie teilt mit Kudrun deren Demütigungen und wird beim großen Friedensschluss mit Hartmut, dem Entführer Kudruns, verheiratet. Man erfährt nicht, wo sie herkommt, doch scheinen die meisten anzunehmen, dass sie mit der

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die Entführung, der von den übrigen Figuren als realer Tod verstanden wird (60,2; 146,2; vgl. 68,1); ausführlich auch K. SCHMITT (2002), S. 72–75. Hierzu K RAUSE (1996), S. 116. K. SCHMITT (2002), S. 71 sieht gleichfalls überwiegend die Koinzidenz, nicht aber die Konkurrenz der beiden Erziehungsgeschichten. Vgl. zu den unklaren Zeitstrukturen J.-D. MÜLLER (1998d), 122–124. Es wird gewissermaßen eine normale feudale Erziehung nachgeholt; vgl. FRIEDRICH (2009), S. 260–264: die mythischen Elemente würden nicht verabschiedet, sondern dienten der »Profilierung eines genuinen Adelsethos gegenüber rivalisierenden Kulturmustern« (S. 262).

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ersten Hildeburc identisch ist, da alle Merkmale auch auf sie zutreffen.24 ›Hildeburg‹ ist also nicht als ein Individuum mit dieser oder jener Biographie aufzufassen. Sie besetzt jedes Mal die Position ›treue Gefährtin‹ (in der Wildnis, in der Fremde, im Exil), und wenn eine solche gebraucht wird, ›hat sie ihre Zeit‹, ganz gleich, wie viel Lebensjahre man ihr dann zurechnen muss. Die Unebenheiten des raumzeitlichen Kontinuums bestätigen aber nur, dass auch die Handlungslogik dieser Szene, zumal in ihrer Verknüpfung mit vorausgehenden und folgenden, von derjenigen anderer Teile des Epos absticht, mythenförmig ist.

III. Bann des mythischen Schreckens Mythischen Charakter hat schließlich der Gegenstand der Erzählung, Hagens ›Initiation‹ zum Heros.25 Doch fragt sich, ob sie im Sinne des Mythos behandelt wird und die Modelle van Genneps, Turners u. a. den Kern treffen.26 Die Fixierung der Forschung auf die Haupthandlung um Kudrun hat den Blick darauf verstellt, dass die Episode mit dem zentralen Thema – der Verabschiedung eines heroischen Handlungsnexus und eines heroischen Ethos – eng verknüpft ist. Dieses Thema ist grundsätzlich wenig auffällig: Seit dem frühen Mittelalter bemüht sich der überwiegende Teil heroischer Dichtung um eine christliche Kontextualisierung heroischen Handelns. Die ›Kudrun‹ zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass die heroische Position zunächst stark gemacht wird, bevor sie sich dann als korrekturbedürftig erweist. Am spektakulärsten geschieht das in der Gestalt des Heros Wate. Doch gibt es auch andere Relikte einer mythischen Welt, die überwunden werden müssen. Solche Relikte konzentrieren sich in der Geschichte Hagens und werden dort, wie in der Hauptgeschichte generell, letztlich verabschiedet. Hagen wird aus einer funktionierenden höfischen Ordnung herausgerissen, bei einem Fest, das seine Eltern veranstalten, um ihren Herrschaftsverband zusammenzuführen und dadurch ihre Macht zu demonstrieren (27–50). In die geordnete Feudalwelt (vreude, schal, lachen) bricht das Böse (der übele tiufel ) ein (51–54). Dessen Bote, ein wilder grîfe (55,1) verdunkelt den Himmel (Ez begunde schatewen [...] als ez ein wolke wære, 56,1f.), reißt den Wald nieder (Vor des grîfen krefte der walt dâ nider brach, 57,1) und entführt das Kind Hagen in unerreichbare Höhen 24

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Das Epos behauptet das nicht ausdrücklich, doch mindestens sind beiden Figuren vom Typus her eng verwandt: Hildeburg ist immer Königstochter (vgl. 1639,3) und kommt ûz [...] fremeden landen (1584,3). MCCONNELL (1988), S. 14: »nothing less than the initiation into a heroic existence, the transformation of the uninitiated young prince into the initiated warrior king, endowed with both physical and spiritual attributes, which set him apart from the rest of his contemporaries«. K. SCHMITT (2002), S. 75.

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(gegen dem lufte zuo den wolken verre, 59,3). Das Fest ist damit zu Ende; es hêt mit sîner kraft/ der grîfe sô zefüeret, daz si mit arbeit/ sich alle muosten scheiden (61,2–4). Doch herrscht, trotz lauten Klagen über Hagens Entführung, eine seltsame Zuversicht über die Wiederherstellung der zerstörten Ordnung: ez müeze sich verenden, als got von himile gebot (62,4). Damit ist von Anfang an der Einbruch einer übermächtigen Gewalt depotenziert. Diese ist schon, indem sie als teuflisch identifiziert wird, in eine christliche Heilsordnung einbezogen, in der Gestalt des ewigen, doch auch ewig unterlegenen Widersachers. Man ist sicher: Ganz kann auch der Teufel die Welt nicht zum Einsturz bringen, und so wird, trotz des Zwischenfalls, das Fest ordentlich beendet mit den üblichen Freigebigkeitsorgien, bevor die Gäste auseinander gehen (63–66). Die Konfrontation mit einer übermächtigen Naturgewalt ist ein gängiges Motiv der Heldensage; an ihr findet der Heros einerseits seine Grenze (›Herzog Ernst‹), andererseits kann sich an ihr seine Ausnahmequalität erweisen. Sie erscheint hier in Gestalt des wilden grîfen (67,3), der sein Opfer zu verschlingen droht. Hagen ist ihr scheinbar hilflos ausgeliefert, aber eben nur scheinbar. Dass er überlebt, hat er freilich nicht sich selbst, sondern Gott zu verdanken: Ez [das Kind] was noch unerstorben, wan ez got gebôt (68,1).27 Der mythische Schrecken resultiert aus dem Willkürcharakter der Naturgewalt.28 Hier aber ist die Willkür von Anfang an durch die göttliche Vorsorge begrenzt. Mit nôt (68,2) und arbeit (68,4) sind typische Herausforderungen genannt, denen ein Heros ausgesetzt wird. Doch Hagen erleidet sie nur passiv, bewältigt sie nicht aus eigener Kraft; er wird nur dank gotes güete (69,4) nicht von den jungen Greifen verschlungen. Seine Rettung heißt wunder (70,2); das ist genau das Wort, das in heroischer Epik, etwa im ›Nibelungenlied‹ (Str. 1), die Exorbitanz heroischer Taten bezeichnet. Davon kann hier keine Rede sein. Hier meint wunder das Eingreifen Gottes in einer aussichtslosen Situation: Got tuot michel wunder; des mac man verjehen (73,1). Gott hat noch weiter vorgesorgt, dass ein Überleben in der Wildnis möglich ist: Die Greifen haben zuvor drei Königstöchter in die Wildnis entführt; auch ihr Schutz ist got von himile (74,2) zu verdanken. So überleben die minneclîchen meide in einem steine (74,4) wo sie sich vor den Greifen verbergen können und von wo aus sie karge Nahrung finden. Indem Hagen auf sie trifft, wird seine Isolation relativiert; er bleibt nicht aleine (74,3),29 d. h. er ist nicht völlig auf sich gestellt. Gefasst wird das in der standesgemäßen Rolle eines galanten jungen Ritters: sît kom er ze trôste in ir ellende manigem schoenen wîbe (72,4). Rudimentär wird Sozialität wiederhergestellt.

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Zur Rolle Gottes vgl. MCCONNELL (1988), S. 14 u. 16; McConnell betrachtet das Eingreifen Gottes freilich nicht als Korrektur der mythischen Initiationsstruktur. BLUMENBERG (1979), S. 50: »Depotenzierung durch Willkürentzug«; vgl. JAMME (1999), S. 96. MCCONNELL (1988), S. 15.

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Die Höhle30 ist ein archaischer Schutzraum gegen die Schrecken der Wildnis.31. Doch ist es wieder nicht der Heros, sondern got von himile (77,2), der ihnen die Wohnung anweist. Gleichwohl steht die erste Begegnung zwischen Hagen und den Mädchen im Zeichen dieses Schreckens. Die Unheimlichkeit eines Raums fern christlicher Zivilisation ist als verwischter, gewissermaßen durchgestrichener Hintergrund noch zu erkennen. In der Wildnis muss man nämlich damit rechnen, auf dämonische Wesen zu treffen. So glauben die drei Damen zuerst, als sie Hagen sehen, er sei ein wildez twerc/ oder ein merwunder von dem sê gegangen (75,2f.); er solle zurück zu seinesgleichen in dem wilden sê (77,3). Sie fliehen vor ihm, ê daz si erfünden, daz ez ein kristen wære (76,3). Nach einem Augenblick der Irritation stellt sich aber heraus, dass die Angst grundlos war und alles unter Gottes Fürsorge steht. Die Unheimlichkeit der Anderwelt erweist sich als Täuschung. Als das edele kindel die Damen darüber beruhigt, dass es kristen sei (78,2), empfangen sie es freundlich und teilen mit ihm, was sie von gotes güete (81,4) zu essen haben, und sogleich taucht am Horizont der Wildnis die höfische Welt als Folie auf, wenn auch vorerst e negativo:32 Die Nahrung, wurzen und ander krût (82,1), auf die die Höhlenbewohner angewiesen sind, ist für die vornehme Gesellschaft fremede spîse (82,4), und es gibt keine truhsæzen, die sie servieren (81,3). Und doch wird in Analogie zu einer höfischen Geschichte erzählt:33 Hagen wächst in der huote von Frauen auf, denen er dafür dient (daz er ir güetlîche mit irem dieneste phlac, 83,4). Noch sind freilich höfisches Leben und höfischer Frauendienst defizient.

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Pearson liest die Höhle als Raum einer infantilen Regression und interpretiert ihr Verlassen entsprechend als Gewinnen einer ›männlichen‹ (›phallischen‹) Identität (PEARSON [1997], S. 154f.). Dafür lassen sich keine Anhaltspunkte im Text finden. Zur mythischen Bedeutung der Höhle und der mythischen Urangst JAMME (1999), S. 92f.; BLUMENBERG (1979), S. 40f. – Eine monokausale Erklärung des Mythos aus dem Schrecken wird zwar von der neueren Forschung abgelehnt, doch finden sich allenthalben Spuren einer mythischen Urangst, so auch in dieser nach-mythischen Erzählung: Die Wildnis bedroht das Leben des hilflosen Kindes elementar, und es wird erzählt, wie es dieser elementaren Bedrohung Herr wird. MCCONNELL (1988), S. 16; ebd., S. 103 spricht er sogar von einem »miniature court«. – FRIEDRICH (2009) weist auf den ambivalenten Status des Helden zwischen natur- und kulturverhaftetem Heros, indem Hagen sich vom Anbeginn der Episode in der »kulturellen Gemeinschaft der drei Königstöchter« (S. 261) befindet. Nach K. SCHMITT (2002) ist Hagen auf einen »vorhöfischen oder gar ›vorzivilisatorischen‹ Naturzustand« (S. 72) zurückgeworfen. Seine und der Mädchen Lage ist durch »Abwesenheit adlig-materieller Lebensstandards bei Hof« gekennzeichnet. Der Hof ist dennoch durchweg die Folie des dortigen Lebens. So sehe ich – mit der älteren Forschung – durchaus sowohl eine christliche wie eine höfische Komponente (vgl. etwa SIEBERT [1988], S. 73f.).

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Die Höhle ist sicher, aber ohne Perspektive. Um Heros zu werden, muss Hagen sie verlassen.34 Wieder kommt der Anstoß von außen: vor dem holen steine erstuonden aber diu sunderbæren mære (84,4). Der Übergang ist auffällig christlich konnotiert. Es erscheint nämlich die erwähnte Pilgerschar; gotes hêr wird sie genannt (85,2; 88,2); sie strandet; alle kommen ums Leben und werden zum Fraß der Greifen. Der junge Hagen hofft, bei ihnen Proviant zu finden, weshalb er sich in den gefährlichen Außenraum begibt: vor den übelen grîfen sleich er zuo dem stade harte lîse (88,1). Er trifft auf den letzten zurückgebliebenen Leichnam eines gerüsteten Gotteskriegers und eignet sich dessen Waffen und Rüstung an. Seine Investitur zum Heros vollzieht Hagen also selbst: Do garte sich selbe daz wênige kint (90,1), im Hintergrund aber wacht Gott, denn Hagen kleidet sich in die Waffen eines christlichen Streiters, und den ersten Kampf, den er darin zu bestehen hat, gewinnt er nur dank Gottes Hilfe. Die Selbstermächtigung des Heros wird also umgebogen; Hagen soll wie Siegfried beides sein, Held und höfischer Ritter, aber beides ist er dank Gott. Seine Initialtat und das Wirken Gottes fallen zusammen, und wunder heißt wieder nicht nur, wie im ›Nibelungenlied‹, das Handeln von Helden (95,1). Hagen kann zwar den Greifen, der zum Aas zurückkehrt, bezwingen – es heißt: dô wart der küene Hagene in vil guotes heldes mâze funden (91,4) -; doch ist dieses ›Maß‹ christlich bemessen, denn er selbst kann nur mit bloeden krefte (92,1) und siten tumben (93,1) kämpfen.35 Dass er siegt, des half im got von himile; jâ mohte er solher krefte niht gewalten (94,4).36 Mit dem Sieg über die Greifen ist die Gefangenschaft in der Enklave der Höhle beendet. Er ist der erste Schritt zur Rückkehr aus der Wildnis; die Exilierten gewinnen Bewegungsfreiheit,37 gedeutet wird sie für die höfischen Damen als Möglichkeit von Muße und Zeitvertreib. Der siegreiche Hagen fordert die Frauen auf,

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»Dabei spielt eine zentrale Dialektik eine Rolle, dass sich nämlich in der Höhle zwar leben lässt, nicht aber der Lebensunterhalt (d. h. die Jagd) gefunden werden kann« (JAMME [1999], S. 92 nach BLUMENBERG [1979]). »Selbstbehauptung« (S. 152) hat BLUMENBERG (1979) als Wesen des mythischen Heros beschrieben; vgl. JAMME (1999), S. 10. So kämpft m. E. Hagen gerade nicht »instinktsicher« und macht sich nicht aus eigener Kraft zum Helden (anders K. SCHMITT [2002], S. 72). Die Forschung legt großen Wert auf Hagens ›Selbstermächtigung‹, Selbstausbildung, den »Übergang zu männlicher Identitätsbildung« und dgl. (hier S. 73f.). Weniger beachtet wird, dass diese immer durch die Lenkung Gottes möglich ist. Das mythische Motiv der ›Selbstermächtigung‹ ist damit relativiert. Das »Strukturmuster des Heldenlebens« (S. 80) wird in seinem Zentrum verändert. Wie wenig Selbstmächtigkeit gilt, zeigt sich, wenn nach Hagens Rückkehr an den Hof das christliche Ritual der Investitur als Ritter (Nâch kristenlîchen siten, 179,1), die feierliche Schwertleite, nachgeholt wird (171). Dazu kann man sich nicht selbst ermächtigen. »Der erste Schritt der Gewaltdemonstration sichert den bedrohten Menschen die Verfügung über das von den wilden Tieren befreite Territorium« (FRIEDRICH [2009], S. 261); vgl. dort auch zu den folgenden Tierkämpfen.

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lât iu erschînen den luft und ouch die sunnen (95,3). Die Wildnis ist jetzt ein Raum für Spaziergänge. Und auch das, betont Hagen, ist Gottes Werk (sît uns got von himile wil etelîcher freuden gunnen, 95,4). Diese höfische Perspektive konkurriert auffällig mit einer heroischen: Im erweiterten Raum kann Hagen nach anderer, standesgemäßerer Nahrung suchen. Er jagt, erlegt alle Vögel, lernt von den Tieren springen, läuft wie ein Panther, greift sich Fische aus dem Wasser. Vor allem besiegt er eine Art gabilûn, ein Untier, das ihn verschlingen will. Er zieht ihm die Haut ab, bedeckt sich mit ihr wie Herkules, und trinkt das Blut; dô gewan er vil der krefte (101,4). Höhepunkt ist die Unterwerfung eines Löwen, der den Helden nicht anzugreifen wagt, sich ihm friedlich nähert und den er güetlîche aufnimmt (102,2–4). Das sind alles typische Elemente von Heldensage. Es könnte scheinen, als würde der wilde Hagen (so zuerst 106,1) selbst Teil der Wildnis,38 die er in den Tieren bezwingt, in die er sich ›einkleidet‹ (101,2), die er sich einverleibt (99,4; 101,3) und die sich ihm endlich kampflos als dem Stärkeren ergibt. Wie es sich für einen Heros gehört, verdankt Hagen nichts gewöhnlicher Sozialisation im Kreis der angeborenen Gemeinschaft: jâ zôch er sich selbe; er was aller sîner mâgen eine (98,4).39

IV. Hagen als Kulturheros Dieses Heros-werden, das der anderen nicht bedarf, ist mit der Überwindung der heroischen Welt verknüpft: der wilde Löwe legt seine Wildheit ab, und das Ziel der Jagd ist eine angemessenere Ernährung: von der fremeden spîse hôhte sich ir herze und ir gemüete (103,4). Hof und höfische Lebensform bleiben insgeheim Maßstab (hôher muot!), wenn durch Hagens heroische Taten vor allem die Ernährungsfrage besser gelöst wird. Der Hof aber ist Inbegriff von Zivilisation. Wieder ist ein Schritt in sie zurück bewältigt. Trotzdem ist das Ergebnis nach wie vor unvollkommen: Zwar hat man bessere Speise, aber noch ist man weit von höfischer Kultur entfernt: sîn kuchen diu rouch selten (99,4): Es fehlt das Feuer. Jetzt wird Hagen noch in einem anderen Sinne Heros: als Schöpfer von Kulturtechniken. Im Geschwindschritt wird die Wildnis zivilisiert.40 Hagen lernt, Feuer aus einem Felsen zu schlagen. Dank dem Feuer muss das Essen nicht mehr roh verzehrt, sondern kann gekocht werden. Und trotzdem muss noch einmal die Differenz zum Hof 38

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MCCONNELL (1988), S. 17–19; McConnell spricht von »assimiliation« (S.17f.), die Hagens »otherness« zur Folge habe (S. 18f.). Entgegenstehende Hinweise deuten eher darauf hin, dass Hagen stellvertretend die Anderwelt besiegt. Mir scheint es allerdings auch weniger eine ›natürliche‹ Sozialisation. K RAUSE (1996) spricht sogar von einer »Mimikry an seine Lehrerin Natur« (S. 115). Das ist nach-rousseauistisch gedacht (durch »Mimikry« kann man übrigens schwerlich schiezen lernen). K RAUSE (1996) nennt Hagens Leben in der Wüste »ein beeindruckendes Lehrstück zum Thema gesellschaftliche Evolution« (S. 113). K. SCHMITT (2002) sieht ihn in der Rolle des ›Kulturheros‹ (S. 82).

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markiert werden: Die Damen müssen, anders als sie es gewohnt sind, das Fleisch selbe bî der glüete brâten (104,4). Trotzdem verdanken sie ihre Wiederherstellung dem Feuer findenden Hagen. Immerhin verwandelt sie nämlich die standesgemäße Speise in das zurück, was sie einmal waren: Dô si die spîse nuzzen, dô mêrte sich ir kraft./ ouch kuchten sich ir sinne von gotes meisterschaft (105,2).41 Ihre adlige Gestalt kehrt zurück: si wurden an ir lîben schoene und ouch lobebære,/ sam ir ieteslîchiu in ir vater lande wære (105,3f.). Seltsamerweise parallel dazu dehnt sich die Verwandlung auch auf den Heros aus: Das Heros-werden steht in Zusammenhang mit einer Restituierung höfischer Lebensform; alles aber steht unter gotes meisterschaft. Verschaffte schon das Blut des wilden Tieres Hagen außerordentliche Kräfte, so wird erst jetzt, nach der Entdeckung des Feuers, von ihm gesagt, dass er (weil er nichts Rohes mehr, sondern Gebratenes isst?) sich durch die mythische Zwölfmännerstärke auszeichnet. Und erst jetzt, nachdem er sich der höfischen Kultur bereits wieder angenähert hat, wird er zum ersten Mal als wilde bezeichnet (106,1).42 Restitution der Kultur und Heros-werden sind enggeführt. Die Wildnis beginnt sich allmählich der höfischen Welt anzuähneln, in genauer Umkehrung der Tendenz des ›Nibelungenliedes‹, wo sie schleichend in diese hineinwuchert, bis hinein in den Vernichtungskampf an Etzels Hof.43 In der ›Kudrun‹ liegt sie zwar am äußersten Rand der christlichen Welt, doch gehört sie ihr letztlich zu. Als randständig ist sie nicht radikal anders, sondern nur schlechter, gekennzeichnet durch eine Situation des Mangels: Anfangs hat man nur Wurzeln und Kräuter zu essen, ohne jede Bedienung (82,1), dann zwar Fleisch, aber kein Feuer (99,4), dann keine Dienerschaft, die das Fleisch brät (104,4). Der Held kann Schritt für Schritt den Mangel beseitigen und sich und seine Umgebung langsam wieder der Welt annähern, in die er, wie der Hörer weiß, gehört. Er muss durch die Anderwelt gehen, um sie möglichst rasch hinter sich zu lassen. Noch sind Hagen und die drei Frauen Bewohner einer Wildnis, die allen Schrecken einjagen. Der Wiederherstellung der adligen Gestalt (105,3f.) entsprechen noch keine angemessenen Kleider (107,2f.), so dass die Frauen sich schämen (schamelîchen, 107,2). Kaum der höfischen Zivilisation näher gebracht, empfinden He-

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Es trifft also nicht zu, dass Gott keine Rolle mehr spielt (MCCONNELL [1988]): Gott verdankt Hagen, dass er die Höhle überhaupt verlassen kann, und Gott ist es, der die Wiederherstellung der adligen Identität garantiert (S. 17). McConnell nennt demgegenüber Gottes Wirken (was er S. 14 noch verworfen hatte) »perhaps superficial« (S. 19): »Hagen has become self-sufficient«. Gewiss fehlen nach Hagens Rückkehr in die Zivilisation Anspielungen auf Gott weitgehend, doch ist die höfische Welt eine selbstverständlich christliche, weshalb nicht dauernd Gottes Wirken betont werden muss. So ist Hagens Erkennungsmal ganz selbstverständlich ein Kreuz. Wieso erweist das Hagens »Christianity as basically superficial in nature« (S. 22)? Die Erwähnung erst an dieser Stelle hat schon Ian Roy Campbell befremdet (C AMPBELL [1978], S. 22). J.-D. MÜLLER (1998d), S. 337–343.

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ros wie Damen den Aufenthalt in der wüeste als unerträglich (106,4) und suchen, ihm zu entkommen. Der Weg ist, wie zu sehen war, langwierig und mühsam, doch endlich erreichen die vier das Meer und treffen wieder auf ein Pilgerschiff. Hagen macht sich bemerkbar, und diesmal gelingt die Re-integration.

V. Der Rückkehr des Heros in der Feudalwelt Von den Pilgern, Bewohnern der christlichen Welt, wird wieder der Raum der Heldensage als fremdartig-dämonisch erfahren, und wieder erweist sich das als bloßer Schein. Die Leute auf dem Schiff fürchten nämlich die Frauen als wilde merkint (109,4), und die Furcht hält die Seefahrer fern vom Land. Erst als Hagen sie von weitem beschwört, ihn und die Frauen durch die gotes güete von dem wilden sande mitzunehmen, horchen die Pilger auf, dô er Krist sô frevenlîche nande (111,3f.). Die Fremden können, wo sie Gott im Munde führen, so fremd nicht sein. Doch ein Zweifel bleibt. Der Schiffsherr will der fremdartigen, doch imposanten Erscheinung auf den Grund gehen und herausfinden, ob ez schrawaz wæren oder wilde merwunder./ er gesach bî sînen zîten nie sô hêrlîche kunder (112,3f.). Als er sie sieht, erkennt er die adlige Gestalt unter den aus Not gefertigten Kleidern (in jungen mies gewunden, 113,3). Das Problem des Status wird mit einer Katechismusfrage gelöst: »sît ir kint getoufet, waz tuot ir dann hie?« (113,2). Damit ist der mythische Schrecken gebannt. Der Schiffsherr trifft auf seinesgleichen, auf Christen und Adlige. Bevor er die Fremden in sein Schiff aufnimmt, erhalten die vier von den Pilgern Kleider, die sie mit sich führen. Es sind immer noch nicht die vornehmen, auf die sie Anspruch haben,44 so dass sie sich immer noch schämen: trotzdem ein weiterer Schritt der Annäherung, wenn auch noch nicht vollständig. Die Frauen werden höflich empfangen, obwohl man sie zuvor für wild und ungehiure gehalten hatte (115,4), beherbergt und beköstigt. Dann werden sie gefragt, wo sie herkommen, und als Königstöchter aus fernen Ländern (Indien, Portugal und Iserland) ihrem Rang entsprechend behandelt. Die Rückkehr in die höfische Kultur scheint ohne Schwierigkeit zu gelingen. Hagene und sîn künne, kennt der Schiffsherr; er ist nâchgebûre des Vaters (110,2f.). Hagen ist also sogar in seine ›Heimat‹ zurückgekehrt, während die Königstöchter weiter in der Fremde sind. Allerdings verläuft die Rückkehr des Heros in die gewöhnliche Welt nicht ganz reibungslos. Wenigstens einen Augenblick lang deutet sich eine Konfrontation an. Als Hagen seine Geschichte erzählt (dabei natürlich wieder gotes güete erwähnt, 125,3), erschrecken alle über die fürchterliche Kraft, die das kint (127) haben muss, das sie aufgenommen haben: ez het unmæzlîch sterke (128,1f.). Hagen sprengt das Maß der gewöhnlichen Welt; von ihm ist daher schaden und leit zu befürchten, und die müssen neutralisiert werden. Deshalb sucht man ihn mit listen zu entwaffnen,

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Der Kommentar vermerkt sogar S. 28, es handle sich um Männerkleider.

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was Hagen jedoch zorneclîche vereitelt (128,3f.). So wird auf die übermenschlichmythische Potenz des Heros, vergleichbar derjenigen Siegfrieds in Worms, mindestens angespielt, allerdings nur, damit die Gefahr sogleich abgebogen werden kann: Ein alle Maße sprengender Heros widerspräche der gesamten Anlage der ›Kudrun‹: Hagen soll ein König wie alle seine Nachfolger sein. Deshalb wird der drohende Konflikt zwischen gewöhnlicher und Anderwelt rationalisiert: Der Graf, dem das Schiff gehört, entdeckt im unheimlichen Heros den Sohn seines Feindes: Hagens mâge haben ihm schaden zugefügt: si hiezen mîne helden in einem herten sturme slahen unde vâhen (130,4): Nicht Hagen ist also der eigentliche Gegner, den es zu entwaffnen gilt, sondern seine friunde, ein konkurrierendes Herrschergeschlecht, gegen das der Graf ein phan[t] in der Hand zu haben glaubt (129,4). Seine Reaktion bewegt sich im Rahmen taktischer Überlegungen in einer Fehde: Er will Hagen als gîsel benutzen und die Königstöchter als hovegesinde (132,1).45 Die Fürchterlichkeit des Heros wird auf das Maß einer Nachbarschaftsfehde zurechtgestutzt, und folgerichtig kann Hagen auf seine Unschuld an dem Konflikt verweisen und anbieten, ihn zu versüenen (131,3). Der Fortgang zeigt allerdings, dass die Konfrontation damit noch nicht ganz aus der Welt ist. Der Graf versucht trotzdem, sich Hagens zu bemächtigen. Der Anschlag scheitert, doch jetzt an Hagens übermenschlicher Kraft. Hagen packt voller Wut 30 Pilger bei den Haaren und wirft sie ins Wasser. Er hätte auch den Grafen getötet, wenn die Frauen das nicht verhindert hätten. Der Heros schert sich in seiner Übermäßigkeit, die sich in maßloser Rache austobt, nicht um gesellschaftliche Ordnungen; er wütet gegen jeden: si wâren im gelîche, die armen zuo den hêren (136,3). Indem er eine Probe seiner Kraft gibt, zwingt er das Schiff zur Umkehr nach Irland: si vorhten in al gemeine, wan si sâhen in übel gebâren (137,4). Die heroische Kraft bleibt bedrohlich. Auch später wird sie noch einige Male in der ›Kudrun‹ ausbrechen. Hagen selbst ist, seinem Beinamen vâlant aller kunige 46 zufolge, einer ihrer Repräsentanten; doch ist in ihm die Stärke des Heros in die Stärke des Herrschers umgedeutet, der gegen den übermuot von Feudalherren vorgeht (195,3; 196,2). In Hagen tritt also einerseits das Bedrohliche heroischer Kraft ans Licht, andererseits ist es immer schon domestiziert.47 Das Anarchische

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Bei dieser Gelegenheit stellt sich heraus, dass er Gottes Wirken für die Frauen egoistisch zu seinem eigenen Vorteil auslegt: Gott habe dafür gesorgt, vermutet er, dass sie nicht im Schutz ihrer mâgen blieben (121,1f.). Es bleibt im Wesentlichen bei diesem Namen. Erzählerisch begründet wird er nicht. Die destruktiven Züge seiner heroischen Natur werden zum Verschwinden gebracht (anders K RAUSE [1996], S. 117). Der »Mangel« an (höfischem) »Sein« (S. 120), den er konstatiert, wird in einer Weise korrigiert, dass er fast keine Spuren hinterlässt. Daher geht MCCONNELLS (1988) Frage, ob Hagen sich der superbia schuldig mache (S. 17), am Text vorbei, S. 103f.: Hier wird eine ahistorische Vorstellung von Christentum auf die heroische Erzählwelt projiziert; übermuot und superbia decken sich in Heldenepik nicht. Auch dass Hagen später seine Tochter von Freiern fernhält, ist nicht aus seinem ›Charakter‹ und seinem individuellen übermuot zu erklären (S. 26),

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der heroischen Potenz verkörpert sich später in der Kudrun-Handlung vor allem in Wate, der kämpfend zum Tier wird (882,2: limmen), der seinen Herrn niederschlägt (1493,1), der tobt (1494,1), Kinder in der Wiege erschlägt (1501), der auch Frauen nicht schont und keine menschlichen Rücksichten mehr zu kennen scheint. Ihm kommt das Prädikat vâlant eher zu als Hagen, der ein mächtiger und gefürchteter Landesherr wird und streng Gerechtigkeit übt. Seine heroische Potenz wird in der Wildnis zugunsten der Wiederherstellung höfischer Lebensordnung eingesetzt und nach der Rückkehr in der Beilegung einer Fehde, also zugunsten legitimer politischer Herrschaft. Bei Wate gelingt solche Bändigung zunächst nicht. Hat ihn einmal die Kampfwut ergriffen, versucht man vergeblich, ihn zu bändigen, aber zuletzt unterwirft er sich doch Kudruns Friedensordnung. Auch seine heroische Kraft wird depotenziert. Nach der Bewältigung der Störung gelangt man in Hagens Land; die Reise ist weit, dauert 17 Tage und ist doch ohne Probleme. Anstelle von wilden oder dämonischen Wesen fürchtet man dort wieder den gewöhnlichen Feind (139,3). Hagen bietet den Pilgern seine Vermittlung an und versöhnt sie mit seinen friunden (158f.). Ein letztes Mal muss die Fremdheit der Wildnis überwunden werden, wenn Hagen, den niemand kennen kann, als Mitglied des Königshauses identifiziert werden soll. Auch das gelingt leicht, und zwar mit einem guldîn kriuze vorne auf Hagens Brust (143,4); die Mutter ervant diu wâren bilde (153,4). Die Identität des Helden ist, wie in der Gattung typisch,48 an seinem Körper ablesbar, aber das Zeichen, das den Heros im Wortsinne auszeichnet, ist ein christliches: Er ist nicht Fremder, sondern Glaubensgenosse und Verwandter. In Wirklichkeit hat Hagen die bekannte Welt nie vollständig verlassen. Die letzten Spuren der Wildnis werden getilgt. Noch vor der Begegnung mit dem Königspaar erhalten die Ankömmlinge rîchiu kleider (150,1), jetzt endlich die richtigen: Man kleite die schoenen frouwen als ez in wol gezam. die zît muostens dulden dar under michel scham, unze si behangen 〈mit〉 rîchen borten giengen. (157,1–3)

Nach dem Wiedersehen mit den Eltern und der höfischen Einkleidung, die gleich mehrfach erwähnt wird, ist das Abenteuer in der Anderwelt beendet. Der heroischen folgt eine dreifache, ausführlich erzählte Investitur des Helden als Ritter, Dynast und Herrscher, Schwertleite, Hochzeit und Übertragung der Herrschaft

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sondern gehört zu seiner epischen Rolle im Brautwerbungsschema, deren Konsequenz – die Liquidierung des Vaters und seiner Herrschaft – hier allerdings abgebogen wird. Insgesamt scheint es mir unangemessen, nach »Hagen’s character« zu fragen (S. 19) und seine ›Reife‹ bei der Rückkehr in die Zivilisation zu untersuchen (S. 20). Das ist weit verbreitet, ob in Siegfrieds Auftritt vor Brünhild oder der ›Auszeichnung‹ der heroischen Söhne Melusines.

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(171–193).49 Kontinuität wird mittels der üblichen feudalen Rituale gesichert. Das Greifen-Abenteuer wirkt nur darin nach, dass es Hagen die Frau verschafft, mit der er seine Erbin zeugen wird. Nur an der auffälligen Störung narrativer Kohärenz in dieser Überleitungsphase, am a-logischen Fortspinnen der Handlung,50 kann man noch Spuren der Bewältigung jener Anderwelt sehen. Bald lenkt der Erzähler zu den Braut werbungsgeschichten zurück, die die Handlung in Gang halten. Hagen, der Sieger über eine übermächtig-feindliche Wildnis, wird ein mächtiger, wenn auch, wie sich herausstellt, nicht unbesiegbarer Herrscher.

VI. Verabschiedung des Mythos Die mythischen Züge der Greifenepisode wurden seit langem gesehen, nicht jedoch die planmäßigen Strategien ihrer Aufhebung. Hagen erfüllt die Rolle eines mythischen Heros: Er wird aus der bekannten Welt buchstäblich ›ausgebürgert‹; er ist Sieger über das Chaos. Er unterwirft sich sukzessive einen angstbesetzten Raum, verleibt sich seine außermenschlichen Gegner ein, kleidet sich in ihre Hülle und wird ihnen ähnlich. Doch ist dieser Prozess identisch mit seiner allmählichen Rückkehr in die höfische Kultur. Mit Hilfe eines Mythos wird der Mythos verabschiedet. Auch die mythomorphe Welt heroischer Selbstmächtigkeit steht unter Gottes Lenkung, auch in der zivilisationsfernen Wildnis wächst der junge Mann unter der Leitung höfischer Frauen heran, und auch in ihr wird die Erinnerung an eine höfische Ordnung wach gehalten (Kleider, Essen). Der vormalige Schrecken ist nur mehr an den schreckhaften Reaktionen derer, die die Bewohner jener Welt wahrnehmen, ablesbar, doch erweist er sich letztlich als Täuschung. Zuerst liegt sie ›ganz woanders‹, dann am Rand der bekannten Welt, und schließlich gibt es sogar Verbindungen zwischen beiden, so beschwerlich sie sein mögen. Warum dann aber überhaupt der Schlenker, der auffällig schlecht in das raumzeitliche Kontinuum der Epenwelt integriert ist?51 Offenbar kann auch ein Heldenepos, das den heldenepischen Weltentwurf zu überwinden trachtet, den mythischen Grund, auf dem Heldensage ruht, die mythischen Motive, die sie

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MCCONNELL (1988) spricht zu Recht von einer zweiten Initiation (S. 23 u. 24). Die erste allein ist eben nicht gültig. J.-D. MÜLLER (1998d), S. 122–124. – Das Zeitebenen vermischende, Ursache und Folge vertauschende Erzählen ist dem Erzählen des Mythos verwandt. Der Zusammenhang mythischen Erzählens mit Mündlichkeit, der sich hier andeutet (vgl. JAMME [1999], S. I), kann hier nicht näher erläutert werden. Er bildet sich vor allem in auffälligen Wiederholungsstrukturen ab. Das verbindet die Episode mit der Bewältigung des Mythischen im ›Nibelungenlied‹: Hagens Erzählung von Siegfrieds Jugendtaten (J.-D. MÜLLER [1998d], S. 130–136). Anders als diese wird die »mythologische Qualität« hier geradezu ›wegerzählt‹ (vgl. aber K. SCHMITT [2002], S. 82).

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aufruft, und die mythischen Strukturen der Aneignung von Welt, die sie zitiert, nicht einfach beiseitelassen.52 Eingekapselt in eine geschlossene, syntagmatisch nur oberflächlich integrierte Episode wird eine Sonderwelt aufgebaut, die Entfaltungsraum heroischer Potenz ist. In ihr kann Hagen Heros werden und ineins damit die Grenzen dieser Welt sprengen. Auch später bleibt er, angezeigt durch seinen Namen, eine erratische Gestalt, der ›wilde Hagen‹ (199,4), der vâlant aller kunige (168,2; 196,4). Er ist eine Sagengestalt: des hôrte man in dem lande von dem helde sagen oder singen (166,4) Er ragt mit dieser Wildheit in die Feudalwelt hinein und wird von Fall zu Fall in ihr als Bedrohung erfahren. Aber diese Bedrohung wird immer nur angespielt, um sofort bewältigt oder aber in den Kategorien der gewöhnlichen Welt entschärft zu werden: Der wilde Heros entpuppt sich als der gefährliche Nachbar, mit dem man einen Frieden aushandeln muss. Es ist ausgerechnet der vâlant aus der Wildnis, der als erster Friedensstifter wirkt, indem er den feindlichen Grafen mit seinen Eltern versöhnt. Der Abschluss der Episode – das durch die Entführung unterbrochene Fest wird fortgesetzt – präfiguriert das Friedensfest, das das Epos insgesamt beschließt. Anders als Siegfried im ›Nibelungenlied‹ muss der refeudalisierte Hagen daher nicht beseitigt werden, und anders als im ›Nibelungenlied‹ beginnt die mythische Anderwelt nicht zu wuchern und die bekannte zu verschlingen, sondern wird, dank Gottes Hilfe, von einem schwachen Kind bezwungen. und später von einer Frau gebannt.53 Sie ist extraterritorial, anfangs weit ›jenseits‹ aller erreichbaren Orte, doch nach und nach immer näher an die höfisch-feudale Ordnung sich angleichend. Das ist die Gegenbewegung zu der im ›Nibelungenlied‹, die über den Verrat an Siegfried in die Barbarisierung des Schlusses führte. Hier bleibt vom Ausflug in die Wildnis (fast) nichts zurück. Im weiteren Verlauf werden die Bahnen gewöhnlicher Kriegshandlungen nicht mehr verlassen. Die Friedensordnung, die Kudrun stiftet, ist umso stärker, je deutlicher sie sich ihre heroische Gegenwelt unterworfen hat. Der zu überwindende heroische Weltentwurf ist fortan nicht mehr mythenförmig, Er steht zwar in einem Spannungsverhältnis zur christlichen Rechtsordnung; doch diese Spannung wird unter den Bedingungen der gewöhnlichen Welt aus-

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Entmythologisierung durch Umbesetzung des Mythischen findet sich auch an späterer Stelle: Der Befreiung Kudruns geht eine Prophezeiung voraus, die diese Befreiung emphatisch als Überwindung eines rechtlosen Zustands, aus der Perspektive des Mythos: als Überwindung des Chaos, erscheinen lässt. Diese Prophezeiung ist jedoch 1) christlich konnotiert (es ist ein Engel Gottes, der das Erscheinen der Retter ankündigt), und sie ist 2) im handlungslogischen Zusammenhang überschüssig (sie hat keinerlei Konsequenz, denn als die angekündigten Retter kommen, reagiert Kudrun, als habe sie nie etwas von Rettung gehört. Sie verkennt die Retter, versucht sich ihnen zu entziehen und glaubt der Vorhersage nicht). Die Prophezeiung ist also zugleich christianisiert und entwertet. Das entspricht übrigens auch dem Ausgang der Nibelungenklage; vgl. J.-D. MÜLLER (1998d), S. 451f.

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getragen: Beim ersten Krieg der Hetelinge gegen die Normannen requiriert Wate Pilgerschiffe, die – Gott sei dank (got tuot mit gewalte als ez umbe in stât (838,2) – in der Nähe sind. Die Proteste der Pilger prallen an ihm ab: er ahte ez niht ein brôt (943,2), verspricht nur unbestimmt Entschädigung nach der Rückkehr (842,4). Das ist die rücksichtslose Praxis einer Kriegergesellschaft, die keine Rücksicht nehmen zu müssen glaubt. Alle teilen Wates Ansicht: Hetele der enruochte, ob si immer ûf das mer/ mit ir kriuze koemen (844,1f.). Nur der Erzähler fragt, ob solch ein Vorgehen sich auszahlt: Ich 〈en〉weiz, ob des engulte Hetele und sîne man (845,1); ich wæne got 〈von himile〉 ræche dâ selbe sînen anden (845,4). In der Tat, die Schlacht geht übel für die Hetelinge aus. Nach der Niederlage gibt Wate die Schiffe zurück, Hilde lässt den Pilgern ihren Schaden bezahlen, kein Pilger flucht mehr über die gewaltsame Enteignung. Wate handelt dabei nicht nur aus Gerechtigkeitssinn, sondern aus dem nüchternen Kalkül, dass man Gott besser nicht gegen sich aufbringt: ob wir mêre strîten, daz uns danne baz müge gelingen (931,4). Und tatsächlich, die Korrektheit gegenüber den Dienern Gottes zahlt sich dann schließlich auch aus. Andere christliche Gesten kommen hinzu: Auf Wülpensand gründet man ein Kloster (914–917; 949f.). Es soll die Gebetssorge für die Gefallenen übernehmen, die unvorbereitet in den Tod gehen mussten.54 So wird der heroische Tod nachträglich christlich überformt. Doch bewegt sich das innerhalb der Grenzen einer christlichen Kriegergesellschaft, die nirgends mehr überschritten werden. Erzählt wird die Verabschiedung eines mythischen Raums der Heldensage mit der anonymen Erzählstimme des Epos. Es gibt keine Instanz, die wie im höfischen Roman die gegenläufigen Tendenzen perspektiviert. Widersprüchliches oder mindestens Heterogenes wird einfach nebeneinander gestellt oder übereinander kopiert; Selbstermächtigung und Erwählung durch Gott fallen zusammen; unvereinbare Raum- und Zeitkonzepte werden miteinander kombiniert; die Anderwelt ist zugleich jenseitig und benachbart. Auch in der Greifenepisode erscheint der Mythos immer schon als bewältigter.

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So verstehe ich 914,3f.: wie sie von gotes hulden die von Hegelingen/ von ir grôzen schulden und von ir missetât möhten bringen; das bezieht sich m. E. nicht auf eine ›Schuld‹ der Hegelinge allgemein (etwa durch Raub der Pilgerschiffe), sondern auf den gefürchteten plötzlichen Tod ohne Sterbesakramente (anders K NAPP (1994), S. 320).

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3. INTERAKTION – WAHRNEHMUNG – WISSEN

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Die hovezuht und ihr Preis Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹

Literarische Texte als kulturgeschichtliche Dokumente zu lesen, war eine Zeit lang in Verruf gekommen. Skepsis erregen heute jene Kulturgeschichten älteren Typs, die sich weithin mangels anderen Materials auf fiktionale Texte stützten, sie zwar nicht umstandslos als Spiegel der Realität nahmen, aber doch unterstellten, nach Abstrich idealisierender oder satirischer Übertreibungen zum Leben der vergangenen Zeit vorzudringen, das die Kunst, in welchen Stilisierungen auch immer, einzufangen bemüht gewesen sei.1 Wo dagegen die neuere Geschichtswissenschaft sich in den letzten Jahren verstärkt historischen Alltagswelten zuwandte, da entnahm sie ihr Untersuchungsmaterial zumeist anderen als literarischen Quellen. Ihre Ergebnisse waren entsprechend weit entfernt von denen der älteren Kulturgeschichte, und zwar nicht nur in dem Sinne eines vom schönen Schein befreiten Bildes alltäglicher Realität; vielmehr wurden ganz andere Schichten herausgehoben: demographische Verschiebungen, Ernährungsprobleme, Heiratsregeln und -gebräuche, Formen des Zusammenlebens usw., damit zusammenhängend dann langfristige Einstellungen, psychische Dispositionen, Wahrnehmungsweisen, Verhaltensregeln, kurzum »mentalités« der unterschiedlichen sozialen Gruppen.2 Diese konnten kaum zureichend an literarischen Texten abgelesen werden, die ihre materiellen Voraussetzungen in der Regel überspringen, ohnehin sich nur an eine äußerst schmale ständische Elite wenden und einen eng begrenzten, auf deren Selbst- und Weltbild zugeschnittenen Wirklichkeitsausschnitt enthalten. Aussagekräftiger schienen allenfalls literarische Werke, die selbst vergangene Alltagswelt thematisieren oder zu thematisieren vorgeben, wie z. B. die maeren/fabliau-Überlieferung. Allerdings folgen diese, obwohl scheinbar so realiengesättigt, ja nur anderen Auswahl- und Stilisierungsprinzipien als denen der höfischen oder heroischen Epen und sind, als Quellen wie historiographische Texte gelesen, um nichts zuverlässiger. Trotz verstärkter Bemühungen vor allem seitens einer Literaturwissenschaft, die ihren Gegenstand in seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Wirkungsmöglichkeiten untersucht, ist bei den Sozialhistorikern der Beitrag der Literatur

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Paradigmatisch die immer noch nicht ersetzte, methodisch freilich anfechtbare Kulturgeschichte von SCHULTZ (1889/1965). Vgl. etwa die Vorrede S. IX-X. Die Rezeption der »Nouvelle histoire« innerhalb der germanistischen Mediävistik ist – mit Ausnahme der Werke von Georges Duby – vorerst zögernd. Zu Chancen wie Schwierigkeiten der Vermittlung: PETERS (1985); MÜLLER (1986a). – Allgemein: BLOCH, BRAUDEL, FEBVRE u. a. (1977); DUBY, L ARDREAU (1982); JÖCKEL (1984).

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zur Erkenntnis vergangener Alltagsrealität umstritten, die methodischen Probleme noch nicht ausdiskutiert. Methodisch unbedenklich ist die Auswertung literarischer Texte am ehesten noch im Rahmen einer historischen Realienkunde.3 Dagegen ist ihr Status selbst innerhalb einer projektierten ›Geschichte des Imaginären‹ (GEORGES DUBY) so lange problematisch, solange ihre spezifisch literarischen Konstitutionsbedingungen nicht mitbedacht werden und sie auf gleicher Ebene mit Träumen, Visionen, Sagen, ja sogar theoretischen Gesellschaftsentwürfen, kollektiven Selbstbildern, ständespezifischen Ideologien erscheinen.4 Wenn nämlich unstreitig literarische Texte zur Kultur einer historischen Epoche gehören, so ist ihr Platz in ihr doch offenbar nicht nur über einzelne Realien zu bestimmen, etwa soziale oder psychische Inhalte, die hier wie dort wiederkehren, noch über einzelne Normen und Leitbilder, die, hier entworfen, dort mehr oder minder verwirklicht, verbogen, verdrängt werden. Zu berücksichtigen sind vielmehr die literarischen Verfahren selbst, die Ergebnisse einer eingespielten Praxis literarischen Sprechens sind und zum ›Wissensbestand‹ einer Epoche gehören. Sie erlauben es, Elemente einer historischen Lebenswelt zu verarbeiten, nach bestimmten Regeln auszuwählen und zu kombinieren, sie in Verlaufs- oder Beweisschemata sinnhaft zu ordnen, zu neuen Beziehungsmustern zu verknüpfen, Handlungs- und Verhaltensalternativen in fiktiven Lösungsmodellen durchzuspielen. Der – freilich historisch jeweils zu bestimmende – fiktionale Status ist nicht defizitär im Blick auf eine ›eigentlich‹ zu vermittelnde Realität, sondern Bedingung dafür, dass an ihr bestimmte Strukturen und Beziehungen entdeckt werden können, und zwar eben weil das Sprechen von einem Teil gewöhnlicher Realitätsverpflichtungen entlastet ist. So können literari3

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JARITZ (1986). Jaritz warnt, gegenüber der gängigen Kritik an der Kulturgeschichte älteren Typs, die Grenze »zwischen ›Realität‹ und ›Fiktion‹ bzw. zwischen ›Realität‹ und ›Topik‹« zu scharf zu ziehen, da »›Fiktionen‹, die sich auf die Ausgestaltung der Sachkultur beziehen, aus einer Anzahl einzelner ›Realitäten‹ zusammengesetzt sein können, die erst durch die Art der Zusammenstellung oder durch die Kumulierung zur Fiktion werden« (S. 9). – Stärker einschränkend: SCHÜPPERT (1982). Vgl. DUBY (1982), S. 25. – Duby teilt den Raum der ›Vorstellung‹ in den des »Wirklichen« und des »Imaginären«: Weltbilder, Gesellschaftsbilder, Ordnungen, Selbsteinschätzungen, die die materielle Welt in einer bestimmten Weise uminterpretieren. Hier wird nun der Raum der Literatur nicht eigens ausgegrenzt. Sie erhält denn auch in den mentalitätsgeschichtlichen Darstellungen einen abgeleiteten Status. Sie geht auf Tagträume (»rêves«) zurück, die sich von der Realität bereits entfernen, freilich durch deren materielle Bedingungen motiviert sind. So sind z. B. die höfischen Romane »illustrations du rêve que la bonne société poursuit d’elle même. Situant ce rêve sur deux plans, ou bien tout à fait hors du réel dans la fiction, l’imaginaire. Ou bien sur une trame de faits vécus, dans la mémoire vraie, dans l’histoire« (S. 232). Nachdem er sich einige Zeit mit Erzählungen »de pure invention« (S. 232) befasst hat, fragt er: »Que vaut cependant la littérature d’évasion? Elle déforme. Ou, jusqu’à quel point! Le moment vient de placer en regard d’autres récits qui rélatent d’histoires vraies. L’imaginaire y joue son rôle mais, par force, il ne s’écarte pas autant du réel« (S. 439): Fiktion ist defizitär (vgl. DUBY [1981b]; zum Problem des Imaginären vgl. auch J.-D. MÜLLER in diesem Band).

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sche Texte nicht quasi additiv unser Wissen über eine vergangene Kultur ›ergänzen‹ (geschweige nicht-literarische Informationen ersetzen), sondern sie erschließen eine andere Schicht der vergangenen Kultur, neben den politisch-sozialen Strukturen und den religiösen, wissenschaftlichen, rechtlichen, pädagogischen etc. Diskursen.5 Wenn es also nicht um einige realgeschichtlich identifizierbare Sachverhalte der vergangenen Kultur geht, sondern um literarische Verlaufsschemata, Konfliktmodelle, Rollenentwürfe, Deutungsmuster, dann erübrigt sich die Unterscheidung in mehr oder weniger ›realistische‹ Texte. Denn in jenen fiktionalen Modellen sind, so weit sie sich auch vom alltagsweltlich Möglichen oder Wahrscheinlichen entfernen mögen, allgemein akzeptierte Annahmen über das, was ist oder sein soll, sedimentiert, wobei diese auf unterschiedliche Weise durch literarische Tradition wie soziale Erfahrung vermittelt sind. Solche Modelle sind also nicht beliebig, sondern von bestimmten historischen Vorgaben abhängig, die sich nicht einfach mit denen alltäglicher Lebenspraxis decken. Sie sind daher als besondere Figurationen von Sinn zu entschlüsseln, nicht aber auf ihren Zeugniswert für etwas anderes zu reduzieren. In ihnen sind weder soziale Strukturen oder Konflikte noch kollektive Mentalitäten direkt greifbar, und so können sie auch nicht ohne weiteres als Indikatoren für diese ausgelegt werden. Ihre soziale Bedeutung wächst ihnen als deren besondere fiktionale Verarbeitung zu. Ohne sie selbst zu repräsentieren oder ganz in ihnen aufzugehen, kann deshalb der literarische Text transparent auf solch übergreifende Ordnungen gemacht werden, freilich in seiner spezifischen, von ihnen abgehobenen Bedeutung. Einige Probleme, die sich dabei ergeben, sollen am verhältnismäßig überschaubaren maere ›Diu halbe bir‹ (A) näher erläutert werden. Auf übergreifende Theorien kultureller Prozesse und Darstellung realgeschichtlicher Zusammenhänge will ich in diesem Rahmen weithin verzichten, nicht nur aus Raumgründen, sondern auch, um die Aussagekraft des begrenzten Beispiels nicht überzustrapazieren, vor allem aber, um die Signifikanz des Besonderen nicht von vorneherein mit dem allgemeinen Raster zuzudecken.6

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SCHÜPPERT (1982), S. 221 stellt pointiert fest: »Der Realitätsgehalt eines didaktischen Werks nimmt ab mit dem Grad der Poetisierung des Textes.« »Einschränkung realitätsnaher Beschreibung« (S. 232) sieht sie u. a. durch »Symbolgestaltung und Funktionalität des Symbols«, »Toposvorgabe und rhetorische Sprachmodelle«, »Stilisierung auf ein literarisches Schema hin«, »Gattungsimplikationen« usw. Bei all dem handelt es sich jedoch ebenfalls um historische Sachverhalte, z. T. um Strukturen langer Dauer (Rhetorik), die die poetische Aneignung von Welt präformieren, mithin nicht nur als »Abweichungen vom Kurs realitätsnaher Schilderung« (S. 237) zu eliminieren sind. Die berechtigte Kritik an der älteren Auffassung vom ›Realismus‹ des Spätmittelalters darf nicht deren Literaturbegriff übernehmen, der sich an einer wie immer ›objektiv‹ gegebenen ›Realität‹ orientiert und an ihr den Grad getreuer Abschilderung misst. Um Missverständnisse auszuschließen: Damit ist weder die Bedeutung solcher Prozesse für die Literatur geleugnet noch das literarische Werk zur Monade erklärt, die von sozialen Strukturen und Gebrauchszusammenhängen zu isolieren sei. Wohl aber scheint mir, dass häufig eine sozial- und kulturgeschichtlich interessierte Literaturwissenschaft

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I. ›Diu halbe bir‹ (A) gibt sich als Werk Konrads von Würzburg aus, entstand aber wohl später (ca. 1300). Die verhältnismäßig breit bezeugte Fassung (A) wird zu Ende des 15. Jahrhunderts noch einmal von Hans Folz überarbeitet.7 In Kürze ihr Inhalt: Ein König veranstaltet ein Turnier, bei dem der beste Ritter die Hand seiner Tochter und die Nachfolge im Reich erringen soll. Am meisten tut sich beim Stechen der Ritter Arnolt hervor. Der König lädt ihn zu Tisch, doch begeht der helt dort in der Gesellschaft der Königstochter einen Faux-pas: Beim Dessert – Birnen und Käse – teilt er zwar die Frucht, ›wirft‹ jedoch ungeschält die eine Hälfte in den Mund, bevor er seiner Gastgeberin die andere vorlegt. Wieder auf dem Turnierplatz, hilft ihm seine Überlegenheit nichts mehr, denn laut verkündet die Königstochter seinen Mangel an hovezuht. Aus Schande muss er vom Hof sich entfernen und sinnt auf Rache. Sein treuer Knecht rät ihm, als taubstummer Narr zurückzukehren und unter dem Deckmantel der Narrenfreiheit die Königstochter genau zu beobachten. So geschieht es. Eines Abends lässt diese den Narren zu ihrer und ihrer Hofdamen Unterhaltung in den palas holen, wo er seine einfältigen Scherze treibt. Dabei wird die Königstochter vom riesigen Genital des halbnackten Narren erregt. Sie schickt ihr Gefolge bis auf eine alte Dienerin schlafen, die ihre Wünsche errät und den Narren zu ihr ins Bett bringt. Der spielt den ahnungslosen Tölpel und tut nicht, was die Königstochter von ihm erwartet, so dass die Dienerin erneut eingreifen und, angefeuert von den Rufen ihrer Herrin, den Narren mit Stichen einer Nadel in den Hintern an das erwünschte Ziel dirigieren muss: die Königstochter zu befriedigen. Kaum ist der minne süessikeit zerronnen, wird der Narr hinausgeworfen. Er entfernt sich vom Hof, um wieder als Ritter zurückzukehren. Wieder verspottet ihn die Königstochter öffentlich, diesmal kann er ihr aber mit Zitaten aus den anfeuernden Rufen jener Nacht antworten. So bringt er die Dame zum Schweigen: auf Rat der Dienerin sucht sie möglichst rasch das Einverständnis des Ritters für eine Heirat, damit die Schande nicht weiter ruchbar wird.

Ein derber Schwank, aus dem der Erzähler eine ganze Reihe von Mahnungen ableitet: ein hübescher minnaere (V. 504) darf auch nicht mit einer cleinen missetât (V. 508) seine Ehre aufs Spiel setzen; die Frauen sollen die zühte triben (V. 488) und sich von leckerheit (V. 495) fernhalten; es bestätigt sich – in den Worten der Kammerfrau – der Satz, den auch der deutsche ›Cato‹ kennt,8

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ihre textanalytischen und interpretatorischen Möglichkeiten unterschätzt hat. Wenn sie die Ergebnisse allgemeinhistorischer Untersuchung nicht bloß verdoppeln will, muss sie an den Konstitutionsbedingungen des Textes, seinen semantischen Strukturen, wahrnehmungssteuernden Verfahren und seiner Verflechtung mit literarischen Traditionen ansetzen. PS.-KONRAD V. WÜRZBURG: ›Diu halbe bir‹ (1893); vgl. Codex Karlsruhe (1974); Folz (1961). – Zur Überlieferung: WOLFF (1893), S. LXlCXXXV sowie N. R. WOLF (1981). – Zur vermeintlichen Verfasserschaft Konrads von Würzburg: WAILES (1974). Z ARNCKE (1966), S. 131, V. 108–110. Zur Überlieferung jetzt: HENKEL (1978/1980).

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daz er ze spote gerne wirt swer boeses schimpfes niht verbirt (V. 463f.).

Insofern lassen sich an dem Vorfall einige eher triviale Regeln alltäglichen Verhaltens exemplifizieren, die wiederum auf umfassenderen kollektiven Auffassungen beruhen (z. B. über die moralische Schwäche des weiblichen Geschlechts oder das Leitbild eines höfischen Ritters). Freilich ist die Handlungsfolge für solche Lehren weithin beliebig. Sie enthält ein Mehr an Bedeutung, das diskursiv nicht formuliert wird. Spezifischer schon scheint die implizite Wertung der Vergehen: die Rache für die übertriebene Ächtung (V. 135–137) mangelnder hovezuht (V. 114) bringt an den Tag, dass es der Kritikerin unhöfischen Benehmens an zuht in einem weit umfassenderen ethischen Verstand fehlt; so bestätigt der Verlauf e negativo eine allgemein akzeptierte Hierarchie von Verhaltensregeln, in der gesellschaftlich ›richtiges‹ Benehmen sich dem ›richtigen‹ Ethos unterzuordnen hat und in ihm zu begründen ist.9 Weiter noch ging STEPHEN WAILES, der die Ziererei mit der ungeschälten Birne als Parodie von »exaggerated courtliness« deutete: Eine auf begrenzte Gruppen beschränkte, vielleicht nicht einmal dort von allen akzeptierte Regel würde in schwankhafter Verkehrung infragegestellt.10 Das maere sagt also einiges über das Welt- und Regelverständnis aus, auf das der Erzähler ausgesprochen oder unausgesprochen rekurriert. Trotzdem sind damit die besonderen Erzählkonstellationen noch nicht gedeutet. Handlungslogik, Figurenkonstellationen, Wertungen, Bildfelder und Argumentationsstrategien des Textes enthalten ein Mehr an Bedeutung als jene lehrhaften Abstraktionen. Sie sind in Erzählschemata eingelassen, die der Schwank mit anderen Texten gemeinsam hat. Solche Erzählschemata gehören gleichfalls zum Wissensbestand einer Epoche. Sie enthalten Hypothesen über den ›Lauf der Welt‹ über ›richtige‹ oder ›falsche‹ Ordnung. In ihnen sind fundamentale Orientierungen einer Gesellschaft niedergelegt, die tiefer gelagert sind als explizite Wertungen und Moralisationen, indem sie nämlich als selbstverständlich vorgegeben erscheinen und den Akteuren nicht hintergehbar sind. Sie setzen einen Rahmen von Alternativen, in dem allererst ›richtiges‹, ›erfolgversprechendes‹, ›typisches‹ Handeln möglich ist. Die Wahlmöglichkeiten müssen nicht den tatsächlich vorhandenen entsprechen, aber sie gründen in Erwartungen, die sich aus einer historischen Alltagswelt und dem Selbstbild historischer Subjekte ergeben. Für solche Erzählschemata ist aber primär die Literaturwissenschaft zuständig.

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Diese Wertung ist im Text angelegt (V. 135–137; 460–461; 480–483; 486–497). Die Moral betont u. a. SCHIRMER (1969), S. 36, 193, 229. WAILES (1974), S. 114.

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II. SCHIRMER wies auf das literarische Brautwerbungsschema hin, das dem maere zugrunde liegt, und WAILES arbeitete den parodistischen Bezug auf Konrads von Würzburg ›Engelhard‹ heraus.11 Die Bedeutung konstituiert sich in einem Spiel mit literarischen Konventionen. Sie sind auch im Aufbau der Handlung greifbar, die als gewissermaßen verkürzter und degradierter ›Doppelweg‹ verstanden werden könnte.12 Ohne einen sowieso schon inflationierenden Begriff weiter entleeren oder die erheblichen Differenzen zum Modell des höfischen Romans herunterspielen zu wollen, kommt es mir hier nur auf einige, allerdings bedeutungskonstitutive Gemeinsamkeiten an: Der erste kürzere Abschnitt führt den Helden kraft seiner überlegenen ritterlichen Tüchtigkeit – fast – ans Ziel: die Anerkennung durch den Hof, der der Gewinn von Frau und Land greifbar nahe zu folgen scheint. Da aber wendet sich mit einer scheinbar kleinen, anfangs kaum bemerkten Verfehlung sein Glück: offen vor dem Hof ausgebreitet, bringt die Dame ihn in Schande und zwingt ihn, den Hof zu verlassen. Er ist aus der höfischen Gesellschaft ausgeschlossen: die Rolle des toren ist der angemessene Ausdruck dafür. Sie fällt ihm jedoch anders als dem Iwein Hartmanns nicht zwanghaft zu, sondern er wählt sie, wenn auch mit all ihren diskriminierenden Konsequenzen, in bewusstem Kalkül als Mittel der Wiederherstellung seiner Ehre. Es folgen Rückkehr und erneuter ›Aufstieg‹ im zweiten Handlungsabschnitt; jedoch wiederholen sie nicht Stationen der Bewährung unter – ich vereinfache bewusst – anspruchsvolleren ethischen Prämissen, sondern unterschreiten die anfangs gesetzten Bedingungen erfolgreicher Werbung, indem sie sie auf bloße Körperfunktionen zurückführen. Unter dieser Voraussetzung kommt der Ritter zum Ziel: Frau und Land – wenn auch der Schluss bloßes Zerrbild einer idealen, in der Dame repräsentierten höfischen Ordnung ist. Das sind verhältnismäßig grobe Parallelen. Trotzdem ist die Wiederholungsstruktur deutlich erkennbar, der Wendepunkt in der Mitte, das Schema von Vergehen und Wiedergutmachung bzw. vorläufiger und endgültiger ›Bewährung‹ in Minne und Abenteuer, der Hof als Bezugspunkt des Handelns. Durch solch ein Strukturschema werden scheinbar isolierte Elemente des Textes signifikant aufeinander

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SCHIRMER (1969), S. 192; er spricht hier ebenfalls von »Krise«, sieht aber den Kern in der exemplarischen Bestrafung; S. 98 scheint er stärker auf das dreigliedrige Schema ›Herausforderung – Rat – Strafe‹ abzuheben. – WAILES (1974), S. 109–114. Das Modell soll hier nur heuristisch verwendet werden. Schon vom Typenarsenal und der narrativen Entfaltung her kann im Schwank nicht der Prozeß der Identitätsbestimmung erzählt werden, der den klassischen Artusroman kennzeichnet (vgl. R AGOTZKY, WEINMAYER [1979], S. 243–245). Auch sollte man die große Verbreitung ähnlicher Erzählschemata in Rechnung stellen (K ÄSTNER (1979)). Trotzdem sind dergleichen Schemata signifikant für den »outillage mental« einer Epoche, ihre besondere ›Besetzung‹ gibt Aufschluss über die Einstellung zu allgemein akzeptierten Vorstellungsmustern, und hier sind einige Parallelen bzw. Negationen des Artusmodells umso signifikanter, als der Verfasser, wie WAILES (1974) betont, ja höfische Muster zitiert.

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bezogen, und sie treten in ein kontrafaktisches Verhältnis zu indirekt mitthematisierten Verlaufs- und Deutungsmustern, wie sie der höfische Roman, wenn auch weitaus anspruchsvoller und voraussetzungsreicher, für die ›Biographie‹ des Helden in einem ritterlich-feudal interpretierten Weltzusammenhang entwirft.13 Der Hof ist einzige relevante Sphäre des Handeins und sozialer Geltung. Der Held tritt erst in den Horizont des maere, wenn er sich aus seiner unbestimmten Nähe zum Hof (gesezzen dâ bî, V. 33) an diesen begibt, um am Wettstreit um prîs, Frau und Land teilzunehmen. Bei Hof ist seine Überlegenheit im Kampf darstellbar (sîn ellen wart vil harte schîn, V. 58), wird bemerkt (V. 65) und ausgezeichnet. Wie über die êre so wird hier aber auch über daz laster und die schande (V. 116) letztgültig entschieden. Blamiert vor allen, die dâ wâren (V. 119), bleibt ihm nur die Rückkehr in das ungreifbare Nirgendwo seines Herkunftsortes (heim, V. 121), wo Arnolt aus der Verborgenheit heraus (an eine heimlîche stat, V. 133) seine râche – Mittel, die verletzte êre wiederherzustellen – vorbereitet; im Zustand sozialer Nichtexistenz, gar tobelîchen (V. 122) vor Zorn, muss Arnolt sich verwilden an êren und an guote (V. 124f.), um die Schande heimzuzahlen. Weniger radikal in der Konsequenz als der ›Iwein‹ weist das maere gleichwohl in dieselbe Richtung: Es gibt keine Alternative zur höfischen Existenz unter den Augen aller, wo in der Rückspiegelung des eigenen Selbstwertgefühls durch alle, auf die es ankommt, sich Identität konstituiert.14 Diese höfische Sphäre nun zeichnet sich durch einen hohen Grad an Formalisierung des Handelns und Verhaltens aus. Schon die Wettkampfbedingungen drücken dies aus: der Kampfpreis fällt nicht der ernsthaften militärischen Anstrengung oder der aventiurehaften Erlösungstat zu; vielmehr ist ritterlicher Kampf im Turnier kanalisiert, das durch al die schoenen sumerzît (V. 29) unablässig wiederholt wird. Außerdem gilt es offenbar, bei Tisch zu bestehen. Die Qualifikation für den prîs ist also eine doppelte: hovezuht muss zu ritterlicher Überlegenheit treten, diese wiederum ist aufs Kampfspiel beschränkt.15 Die beim Turnier in wohl abgesteckten Grenzen noch prämierte Gewaltsamkeit wird Arnolt in der unbeherrschten Geste bei Tisch zum Verhängnis. Beide Qualifikationen stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, doch besteht bis dahin kein Zweifel, dass sie zusammentreffen müssen. Arnolt verstößt also gegen ein vor allem auch von gelehrten

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Zum verwickelten strukturellen Zusammenhang solcher Verlaufs- und Deutungsmuster im frz. Artusroman exemplarisch: WARNING (1978). Zu êre und feudaler Identität: FISCHER (1983), S. 29–36; 96–103. Auch dies in deutlicher Parallele zu Konrads ›Engelhard‹, wo jede ernsthafte ritterliche Aktion fehlt und die Teilnahme am turnei (V. 2359) und die Anerkennung vor der Hofgesellschaft (V. 2860–2892) den Helden der Königstochter würdig machen, nachdem er zuvor schon durch seine zuht ihre Minne gewonnen hat (KONRAD V. WÜRZBURG: ›Engelhard‹ [1963]). – Gegenüber dieser verhöflichten Form von Rittertum wird Arnolt als tapferer Krieger eingeführt (V. 3637; 52–53; 57–63) und bei seinem Faux-pas und danach als helt (V. 89; 103; 439) apostrophiert.

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Theoretikern des Hofs verbreitetes Leitbild, das curialitas morum neben armorum industria verlangt.16 Nun ist dem ein anderes Bild vom Hof entgegengesetzt, das aufnimmt, was das erste ausspart. Diese Gegenwelt ist anders als im Artusroman nicht bedrohliches Außen, sondern nicht minder bedrohliches Innen.17 Eingeführt wird sie mit der Figur des (angeblichen) Narren: schwachsinnig, taubstumm, schmutzig, zerlumpt, hässlich, brutal, negiert er Punkt für Punkt die Werte, auf denen das höfische Selbstverständnis beruht. Er ist Außenseiter nicht nur der höfischen, sondern jedweder ständischen Ordnung.18 Der Narr ist nicht beliebige Maske, sondern Zerrbild dessen, was Arnolt bis dahin war: statt ritterlicher Waffen trägt er den Kolben swaere alsam ein blî (V. 154); er gebraucht ihn gegen jeden, der ihn zurechtweisen will (V. 160f., vgl. V. 198–202): Gewalt ist nicht im regelgeleiteten Spiel gebändigt, sondern bricht rücksichtslos mitten in der höfischen familia aus, und sie lässt Verletzte zurück (V. 200). Nicht mehr eine besonders gesuchte Regel der Tischzucht steht zur Disposition, sondern der Narr stört die im höfischen Mahl repräsentierte Ordnung insgesamt: loufent vür des küneges tisch: ez sî reiger oder visch. daz werfent al dar nidere. (V. 157–59)

Auch das Getöse oder das blödsinnige Gaffen mit aufgerissenem Mund sind offenbar bewusste Verstöße des Narren Arnolt gegen das, was Arnolt als Ritter an gemessenem Benehmen und gebildeter Konversation zu leisten hätte.19 Das Frappierende dabei ist: die Hofgesellschaft macht mit. Sie ist vom Grausen vor dem Narren fasziniert und von seiner komischen Untermenschlichkeit angezogen; man schreit um Hilfe und läuft dem brutalen Unhold nach (V. 188–193);

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K RÜGER (1977), S. 311, vgl. S. 306. Krüger betont, wie dieses von Klerikern (Aegidius Romanus, Konrad von Megenberg) vertretene Programm in deren Argumentation durchaus als kontrovers eigens gegenüber anderen verbreiteten Ansichten gerechtfertigt wird. Obwohl die Chronologie wie der Rezeptionskontext direkte Abhängigkeit ausschließen, nimmt das maere auf ein vergleichbares Programm Bezug, zerlegt es aber in seine beiden Bestandteile, die gerade nicht als miteinander vereinbar scheinen. Zum Zusammenhang von ›äußerer‹ und ›innerer‹ Wildnis im höfischen Roman: WENZEL (1986). SWAIN (1932), S. 10–26. – WELSFORD (1935), S. 113–127; 218–242. – MEZGER (1981). Vgl. KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹, V. 602 (offener Mund), V. 680 (offenes Gewand) u. ä.: Im Narren wird also weit detaillierter als in der Tischszene höfisches Verhalten vorgeführt, freilich in Verkehrung. Die Fassung (A) konzentriert den expliziten Mangel an hovezuht auf die Geste beim Nachtisch. Bei FOLZ (1961) ist sie dagegen nur letzte Bestätigung schlechten Benehmens (V. 28–47), zu dem auch Mangel an Konversation und Unaufmerksamkeit gegen die Tischnachbarin gehören. Damit baut er die im gegenbildlichen Verhalten des Narren angelegte Pointe weiter aus (anders WAILES [1974], S. 113).

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man ekelt sich vor seinem Schmutz (V. 244) und findet sein Gebaren spaehe (V. 249). Trotz reichlich unvollständiger Kleidung wird er in die Gesellschaft der Frauen geholt, damit sich die Königstochter an seinen idiotischen Späßen ergötzt. Diese Ambivalenz lässt sich nicht in den theologischen Interpretationen der Narrenrolle auflösen, ob sie nun auf die tiefere Weisheit des Toren vor Gott oder auf die Verbindung von Narrheit und Sünde abheben, um dem Anstößigen oder Verkehrten seinen Platz in der Ordnung der Welt zuzuweisen.20 Auch die spätmittelalterliche Mode, Geisteskranke, Schwachsinnige oder Krüppel zur Belustigung an den Hof zu ziehen, erklärt nichts, sondern ist aus dem gleichen Grunde erklärungsbedürftig.21 Hier wie dort wird der Außenseiter nicht verjagt, sondern hereingeholt. Er repräsentiert, was höfische Ordnung auszugrenzen vorgibt, ohne es ganz ausgrenzen zu können. Anfangs bloß geduldet wie die natürlichen Narren im mittelalterlichen Hofstaat, bringt Arnolt an der Hofgesellschaft ganz buchstäblich die ›Nacht‹seite zum Vorschein, die seiner faszinierend-abstoßenden Narrenexistenz entspricht. Und indem er das tut, sichert er seinen Erfolg im Tageslicht höfischer Ehre. Der Ritter-Narr verklammert also die beiden entgegengesetzten Sphären innerhalb des Hofes. Der Wechsel ist abrupt: in der Sprache, die von geblümt höfischer Rede in eine drastische Ausdrucksweise mit ironisch verzerrten Einsprengseln höfischer Floskeln übergeht; in Gesten, Bewegungen, der sexuellen Metaphorisierung ritterlicher Aktionen; überhaupt im thematisierten Weltausschnitt, bis hin zu nebensächlichen Motivationspartikeln wie dem, weiß Gott, gleichgültigen Umstand, dass eine Hofdame den Narren entdeckt, wenn sie vor dem palas Wasser lassen geht.22 Waren zuvor die Figuren auf ihre ständisch-exemplarische Rolle eingeschränkt (bzw. wurden an dieser gemessen), so jetzt auf die animalisch-körperhafte Sphäre, die die höfische Ordnung zu disziplinieren vorgab: statt des treuen Knechtes die kamerbirse oder kamerbelle, eine ›Hündin‹, die instinktiv erspürt, wie sie den Instinkten ihrer Herrin Vorschub leistet; ein halb tierischer, sprachloser Narr, in der entscheidenden Szene auf sein Genital reduziert, nicht mehr agierend, sondern von der starken natûre agiert (V. 274); dann nur noch ein jaulender Köter

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Diesen Aspekt betont insbesondere MEZGER (1981), S. 15–16, 21, 24, 29 u. ö. Ebd. S. 60–61. – SWAIN (1932), S. 54–55. – WELSFORD (1935), S.113–127. V. 230–231; die Verse fehlen in der Wiener Handschrift (V), was zugleich ihre Entbehrlichkeit im Handlungsablauf wie ihre paradigmatische Bedeutung zur Bezeichnung der Gegenwelt belegt. – Zitate eines höfischen Minnediskurses, die durch den drastischen Kontext ironisiert werden: V. 283–285, 322–323, 355, 386–387. Dagegen die verschiedenen Schimpfworte für den Außenseiter: gief (V. 210), snürrinc (V. 216, 268), blazen (V. 232), tôre (V. 233, 306, 336, 374, 388), nar (V. 241), tumbe (V. 254, 330), der ungeweschen (V. 264), gebûre (V. 273), tumben wihte (V. 288), gouch (V. 326), ein rehter stumbe (V. 329), der ungevüege stampf (V. 341), der tumbe gouch (V. 353), ungefüeger slûch (V. 365), ein alter hovewart (V. 369), der arge rîbalt (V. 378), der toerehte man (V. 396): Die Inflation der Bezeichnungen deutet an, wie radikal die anfangs aufgebaute Sphäre ritterlich-höfischer Vorbildlichkeit widerrufen werden soll.

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(V. 369) oder ein lebloser Klotz (V. 341; Hs. K V. 347); die Königstochter nurmehr brennbares Material: si enbran reht als ein zunder (V. 284) da sôt von minnen unde bran diu minneclîche künegîn (V. 350f.).

Die Minne schließlich degradiert über die bloß noch sexuelle Attraktion bis hin zum leblosen Mechanismus, der von außen bedient werden muss. Die eine Sphäre ist die ›öffentlich‹ geltende: vor allen, die dâ wâren (V. 119); die andere ist an ir heimlîche gebunden (V. 214); Bedingung des abweichenden Verhaltens ist, dass man unvermeldet (V. 325) zu bleiben hofft. Wo der Druck des ›man‹ fehlt oder die Rolle des Narren die Abweichung erlaubt, da schlägt das Verhalten um. Die normativ geltende, von ›allen‹ sanktionierte und kontrollierte Ordnung treibt als Kehrseite eine Sphäre von ›Heimlichkeit‹ hervor, in der rücksichtslos egoistische Antriebe auf Kosten der anderen sich durchsetzen.23 Das ›wissen‹ die Figuren, denn darauf beruht ihre Intrige. Zwar erscheint diese Sphäre aus dem Blickpunkt höfischer Ordnung als regressiv: Schmutz und Lumpen, rohes Dreinschlagen, Umstoßen der Tische, bewusstlose Stumpfheit, Sich-Ausliefern an körperliche Bedürfnisse. Aber in der Handlungslogik des maere ist sie paradoxerweise Durchgangsstation zur Wiederherstellung ritterlicher Ehre. Sie wird weder überwunden noch integriert, denn auch, wenn mit Tagesanbruch scheinbar hovezuht wieder in ihr Recht tritt und mit der Hochzeit das vorgegebene Ziel erreicht wird, bleibt die Harmonie gestört durch jenen dunklen, unbewältigten Rest (V. 480–485). Der Schlüssel zum Übergang von der einen in die andere Sphäre liegt in der Tischszene. Wäre sie bloße Parodie übertriebener Künstelei, wie WAILES glaubt, dann bliebe ihre Bedeutung innerhalb des Handlungsnexus unverständlich. WAILES stützt sich vor allem auf den geringen Wert der Speisen, um die es geht: Birnen und Käse seien für Bauern, gehörten nicht auf die höfische Tafel.24 Dieser Behauptung widerspricht nicht nur die kulturgeschichtliche Überlieferung:25 Die Regeln der Tischzucht werden vor allem nämlich auch sonst meist an einfachen Speisen

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Zur Dissoziation von gefährlicher oder verdrängter ›Heimlichkeit‹ und wertbesetzter ›Öffentlichkeit‹: WENZEL (1986) – Zum Problem der Öffentlichkeit im späteren Mittelalter und einem auf deren Herstellung abzielenden Handeln, vgl. THUM (1980) bes. S.17–26 u. S. 36–42. WAILES (1974), S. 110–111. Beispiele bei SCHULTZ (1889/1965), S. 396–398. – Birnen wie Käse finden sich ganz selbstverständlich in den Diätregeln über richtige Speisefolge (vgl. etwa WITTENWILER: ›Der Ring‹ [1999], V. 4311–15 und die in WIESSNER s (1936) Kommentar angegebenen Stellen aus dem ›Regimen sanitatis Salernitanum‹ und Konrads von Megenberg ›Buch der Natur‹ (S. 162f. u. S. 202). Solche Regeln richten sich bekanntlich nicht an die Unterschichten. – Zur Bedeutung der Zubereitung: HUNDSBICHLER, JARITZ, VARVA (1982) S. 61, vgl. S. 67. Sogar die Art und Weise, in der man Äpfel und Birnen schält, unterliegt höfischer Regel (Wittenwilers Parodie V. 5643/44 und WIESSNER [1936], S. 202).

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exemplifiziert, Brot, Eiern, Äpfeln. Der Regelverstoß zeigt sich an der minimalen Differenz, gerade auch am scheinbar wertlosen Objekt. So sind die Tischzuchten oft gleichgültig gegenüber dem, was aufgetischt wird; auch wenn es schlecht sein sollte, gilt die Forderung der zuht fort. Sie als ganze wie auch einzelne Gebote (z. B. Essen oder Trinken zu teilen) stehen nämlich stellvertretend für weit umfassendere Regelsysteme.26

III. Seit NORBERT ELIAS‹ Studien hat man Tischzuchten als Zeugnisse für den ›Prozess der Zivilisation‹ lesen gelernt: für die Distanzierung körperlicher Bedürfnisse, die Disziplinierung von Affekten, das Eindämmen von Gewalt, die Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge.27 Trotzdem sind die Texte selbst, die jeweilige Kompilation oder Auswahl von Regeln, ihre Gebrauchssituation und ihre Einbindung in größere Überlieferungszusammenhänge noch kaum erforscht worden. Das liegt zum Teil an ihrem disparaten Charakter, der immer nur recht generelle Aussagen zuließ oder aber die einseitige Auswahl des Skurrilen bzw. des (etwa für soziologische Theorie) Interessanten begünstigte.28 Das liegt ferner an einem extrem konservativen Regelbestand, der sich vom 16. Jahrhundert bis hin in die frühen lateinischen Anfänge verfolgen und vielfach Veränderungen nur als Übersetzungsvarianten erscheinen lässt.29 Schließlich erscheinen – zumal im Vergleich mit den viel differenzierteren Verhaltensformen in gleichzeitigen fiktionalen Texten – die Anweisungen oft reichlich nichtssagend, unvollständig und verspätet zu sein. Al-

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THORNTON (1957a), S. 23 (›Thesmophagia‹); S. 48 (›Rossauer Tischzucht‹). – THORNTON (1957b), S. 21 (›Wolfenbütteler Prosatischzucht‹). – KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹ (1984), S. 26, V. 614f. (Teilen wertvoller Speisen!). – Vgl. M ERKER (1920). – M ASSER (1977). – NEUER (1980/81). ELIAS (1969a), S. 110–174. Das letztere gilt gelegentlich für die um der These willen allzu einsinnig auswählende und argumentierende Untersuchung von ELIAS (1969a). Das erste äußert sich in einem neuerdings grassierenden Interesse an archaischen Gewohnheiten des Essens, der Hygiene, Liebe, Erziehung usw.; das für gegenwärtiges Bewusstsein bloß Kuriose erhält aber im Kontext einer historischen Alltagswelt eine einsehbar systemspezifische Bedeutung. So findet sich ein Kernbestand der immer wiederholten Vorschriften bereits in der ›Disciplina clericalis‹ des Petrus Alphonsi (PL 157, Sp. 700). ›Facetus‹ und ›Thesmophagia‹ stammen in der lateinischen Fassung wohl noch aus dem 12. Jahrhundert. Die deutschen Überlieferungen sind überwiegend viel später, doch demonstrieren THORNTONs Sammlungen den konservativen Regelbestand. Erst im 16. Jahrhundert ändern sich die Vorschriften. Andererseits beweist ›Der Jüngling‹ aus dem 13. Jahrhundert, dass eine Ausdifferenzierung der Regeln höfischen Verhaltens schon weit früher auch in der Volkssprache möglich war.

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lerdings ist dabei zu bedenken, dass in der halbliteraten mittelalterlichen Laienwelt verschriftlichte Verhaltensregeln nur ergänzend zu einer Sozialisation treten, die sich hauptsächlich durch Nachvollzug, Mithandeln, mündliches Unterweisen vollzieht. Was auf Latein in merkspruchartigen Versen recht früh fi xiert wurde, kann deshalb in der Erziehungspraxis schon wirksam gewesen sein, lange bevor es als Textganzes in der Volkssprache aufgezeichnet wurde. Der Bezug auf und die Rückführbarkeit in den mündlichen Gebrauch ist noch der schriftlichen Überlieferung weithin eingezeichnet.30 Außerdem sind Tischzuchten nicht aus dem größeren Kontext praktisch orientierenden Schrifttums abzulösen, das, anfangs wohl nur für ständisch herausgehobene Gruppen, in der Volkssprache umfassend Regeln richtigen Lebens festhält, angefangen von Religionsübung und Heilssorge über Diätetik, Moral, Anstandsregeln, Ökonomik bis hin zu Recht und politischem Regiment.31 Dieses überlieferungsgeschichtlich ausgewiesene Gebrauchsinteresse pragmatischer Schriftlichkeit im Umkreis des Hofes oder der Stadt müsste als ganzes untersucht werden.32 Übrigens verknüpfen ja auch die Texte selbst Tischregeln mit moralischen Normen und religiösen Vorstellungen.33 Wenn ihre Anweisungen deshalb manchmal kraus und unsystematisch erscheinen, sich aus ihnen auch kaum ein vollständigeres Zeichensystem sozialen Verhaltens innerhalb der ständischen Oberschichten gewinnen lässt, so enthalten sie doch Elemente eines solchen Systems und Anschlussstellen für viel weiter reichende Regeln. So kann das Mahl ebenso zum Modell ›richtiger‹ sozialer Beziehungen werden, wie dies auf andere Weise der höfische Frauendienst ist.34

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Gesprächsform (›Disciplina clericalis‹, Cato-Fiktion) und Merkverscharakter belegen diese Nähe zur Mündlichkeit. Noch Jacob Köbels 1492 dem Kurfürsten Philipp dem Aufrichtigen gewidmete Tischzucht bestimmt den Text zum Erstleseunterricht (THORNTON [1957b], S. 24), setzt also nicht schon geübte Leser voraus; die Regeln sollen sich nebenbei einprägen: der sie alweg on groß sinlichkeyt inn gedechtniß vnd übung ze haben ermant sein sollen. Auch in den Cato-Redaktionen ist der nur sehr zögernde Übergang von schriftgestützter Mündlichkeit zu dominant schriftvermittelter Rezeption in den verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen zu beobachten (vgl. die praefatio des 2. und 3. Buchs in den bei Z ARNCKE (1966) wiedergegebenen Versionen). Den ethischen Zusammenhang von Tischzuchten betont z. B. ROCHER (1976), S. 352– 353, 363–365, 375–377; die politisch-soziale Bedeutung hebt RÖCKE (1978), S. 98–101. Dagegen werden z. B. in den Sammlungen von THORNTON (1957) die Anweisungen zur Tischsitte aus ihrem Argumentationszusammenhang gelöst. Während in der Regel die vollständigen Texte (Thomasin, Konrad v. Haslau, ›Cato‹ usw.) greifbar sind, fehlen Untersuchungen zur Überlieferungssymbiose des Genres. So etwa die merkwürdigen Drohungen, beim Verstoß gegen die Tischzucht das Seelenheil einzubüßen (Hofzucht des Tannhäuser V. 166 oder 233–234. In: THORNTON (1957a), S. 42 und 44). Vgl. M ERKER (1920), S. 5. Vgl. meine Überlegungen in: J.-D. MÜLLER (1984a), bes. S. 46–66.

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Dazu nur einige vorläufige Hinweise: Die Vorschriften der Tischzuchten beziehen sich vor allem auf drei Komplexe: Hygiene, Regulierung konkurrierender Bedürfnisse und Darstellung sozialer Ordnung. Die erste Funktion leuchtet vom Wortlaut her unmittelbar ein und ergibt sich im Übrigen auch zwanglos aus mittelalterlichen Essgewohnheiten.35 Trotzdem ist sie mit dem modernen Begriff nur unzulänglich bezeichnet, weil die einzelnen Anweisungen nicht von einem abstrakten Gesundheits- oder Sauberkeitspostulat her verständlich sind – das läge ganz außerhalb der Denkmöglichkeiten –, vielmehr gewinnen sie erst im Zusammenhang der beiden anderen Funktionen Sinn. Die zweite zielt einmal auf die Disziplinierung der Essgier (nicht zu große Bissen; nicht sich mit Brot vollstopfen; nicht mit beiden Händen essen; nicht den Becher immer ausleeren; nicht die besten Stücke herausfischen),36 zum anderen auf Rücksicht gegenüber dem gesellen (warten bis zum Beginn der Mahlzeit; den anderen nicht mit den eigenen Gliedmaßen beim Essen behindern; ihm beim Zugreifen nicht zuvorkommen, sondern ›zuvorkommend‹ auf seine Wünsche eingehen; Speisen miteinander teilen; einander vorlegen usw.).37 Der dritte Typus bezieht solche Forderungen zusätzlich auf die ständische Ordnung: in der Tischzucht hat sich reale oder prätendierte ständische Hierarchie darzustellen (Tischordnung; Verhalten gegenüber einem Vornehmeren oder einer Dame).38 Gleichzeitig aber soll die geselligkeit des Mahls Rangunterschiede vernachlässigen, – zweifellos in eng begrenztem Rahmen – ›Gleichheit‹ zelebrieren.39 Die einzelnen Vorschriften sind keineswegs genuin höfisch. Sie werden aber im 12./13. Jahrhundert, wahrscheinlich unter dem Einfluss von Klerikern am Hof, zum Bestandteil höfischer zuht, die ihrerseits Ausweis wahrer edelkeit ist.40 Der 35 36

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M ASSER (1977), S. 437f.; MERKER (1920), S. 6, 15 u. ö. Vgl. die Belege bei MERKER (1920) S. 7, 9, 14 u. ö. – KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹ (1984), V. 598–611, 864–865; ›Rossauer Tischzucht‹ V. 39–42; ›Thesmophagia‹ V. 33–37, 192–195, 232–241 u. ö. (THORNTON (1957a), S. 47, 21, 24–25 u. passim). RÜCKERT (1965), V. 497–510; KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹ (1984), V. 558–565; ›Hofzucht des Tannhäuser‹, THORNTON (1957a), V. 157–160; ›Thesmophagia‹, ebd. V. 186–188,350–352; ›Ein spruch der ze tische kert‹, ebd. V. 283–84, u. ö. Vgl. etwa THORNTON (1957a), S. 16–17,21,24,31,50; THORNTON (1957b), S. 20, 26; KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹ (1984), V. 627–676 u. ö. Die in Anm. 37 zitierten Regeln haben gesellikeit zum Ziel (vgl. KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹ (1984), V. 572–73). Weitere Belege: THORNTON (1957a): ›Facetus‹ S. 14–15; ›Thesmophagia‹, V. 107–108, 147–49; ›Hofzucht des Tannhäuser‹, V. 150–52, 158–66; KONRAD V. H ASLAU: ›Der Jüngling‹, V. 125–26, 137–41 (hier geht es schon um umfassendere Regeln ›geselligen‹, eigene Rangansprüche zurückstellenden Verhaltens; ähnlich Thomasin V. 377–88, wo zuht sich im höfischen Gruß gerade unabhängig vorn Status des Gastes bei Hof bewähren soll). Die lateinische Überlieferung zeigt an, dass sich die Regeln zuerst innerhalb des gebildeten Klerus durchsetzen. Dieser, durch mannigfache Aufgaben teils gleichfalls an den Hof gebunden, hat bekanntlich die neue ritterlich-höfische Kultur entscheidend mitgeprägt. Zum 13.–14. Jahrhundert: K RÜGER (1977), S. 306.

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zugleich als bäurisch wie als tierisch charakterisierten Lebensweise, von der sie sich abgrenzt, mangelt weit mehr als gutes Benehmen, nämlich jene entwickeltere und befriedetere Sozialität, auf deren Entwurf implizit die scheinbar trivialen Regeln fußen.41 Explizit wird diese weit reichende Bedeutung am literarischen Vorbild, das das maere zitiert: dem ›Engelhard‹ Konrads von Würzburg.42 Das Teilen eines Apfels wird dort zum Zeichen gelingender höfischer geselleschaft: Engelhard muss sich aus Mangel an guot von Familie und angestammtem Herrschaftsverband trennen, um im Dienst eines Hofes sein Glück zu machen. Der Vater gibt ihm drei Äpfel mit; wenn er jemandem begegne, der sein geselle werden könnte, solle er ihm einen Apfel anbieten. Esse der ihn allein, so tauge er nicht zum Gesellen. Teile er aber, dann solle Engelhard sich ihm anschließen. Nach zwei misslungenen Versuchen (die Fremden ›vergessen‹ ihre zuht [V. 437] und geben nichts ab) trifft Engelhard auf Dieterich, der nicht nur die Hälfte zurückgibt, sondern den Apfel zuvor schält. In dieser Geste hovelîcher zuht (V. 560) kündigt sich die künftig unauflösliche triuwe der beiden gesellen an. Im Handlungskontext bedeutet sie zunächst Sicherung des sozialen Zusammenhangs ›draußen‹, ûf einer wilden heide (V. 488), abgelöst von den Garantien von Sippe und Herrschaftsverband und fern von der Ordnung des Hofes, da wo keine Institutionen oder verlässliche Zeichen die Identität des einzelnen und seine Beziehungen zum anderen abstützen.43 Die geselleschaft (V. 531), angezeigt in der höfischen Geste, überspielt aber außerdem ständische Rangunterschiede. Dieterich ist nämlich Thronfolger des Herzogtums Brabant, Engelhard nur der Sohn eines verarmten Freiherrn. Ihre zuht lässt sie trotzdem auf gleichem Fuße miteinander umgehen. Sehr viel später erst erfährt Engelhard den Stand seines gesellen; nun klagt er sich an, dass er aus zuht dem Ranghöheren mehr êre hätte erweisen müssen (V. 1488) und dass eines landes herre grôz niemals ze hove

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Was die Tischzuchten als abschreckend zurückweisen, entspricht in vielen Punkten wieder dem Bild des Narren: Tiervergleiche besonders ausgeprägt in der ›Wolfenbütteler Prosatischzucht‹, THORNTON (1957b), S. 20–21; vgl. ›Rossauer Tischzucht‹, THORNTON (1957a), S. 46–47, V. 33,43; ›Hofzucht des Tannhäuser‹, ebd. S. 39, V. 61; ›Ein spruch der zu tische kert‹, ebd. S. 60, V. 315–20 u. ö. WAILES (1974), S. 109–110; KONRAD V. WÜRZBURG: ›Engelhard‹ (1963). Die Rolle des Rivalen und Neiders fällt dagegen dem Verwandten des Königshauses, Ritschier, zu (V. 1664–1690). Er spielt den Standesunterschied und die Fremdheit Engelhards innerhalb des höfischen Personenverbandes aus (V. 3530–3544); ähnlich der König (V. 3710–3713). Ritschier ist voraussetzungslos ungetriuwe (V. 3279, 4724), selbst da noch, wo er die êre seiner Verwandten schützt. Engelhard wiederum erkennt den gesellschaftlichen Abstand und seine Rolle als Gast an (V. 2055–2059; 3736–3739), und doch wird er beides dank seiner höfischen zuht überwinden. BRUNNER (1981), S. 297 sieht darin spezifi sche Gönnerinteressen, die den ›Engelhard‹ von anderen Werken Konrads abgrenzen, wo sozialer Aufstieg kritisch beurteilt werde. Die integrative Funktion höfischer zuht oberhalb ständischer Unterschiede ist aber weder auf den ›Engelhard‹ beschränkt noch an das Motiv des Aufstiegs gebunden.

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solte mîn genôz / an geselleschefte sîn (V. 1463; 1464/65). Dieterich dagegen will aus zuht sein Vorrecht der Geburt nicht gegen den gesellen geltend machen. Sogar die Mitherrschaft bietet er ihm an. Auch wenn Engelhard ablehnt, Abstufungen der Geburt und Machtpositionen also bestehen bleiben, ja im weiteren Verlauf der Handlung sich gar konfliktträchtig auswirken, erweist sich letztlich die geselleschaft der treuen Freunde als überlegen, die zunächst auf gemeinschaftlichen Regeln statt den naturwüchsigen Beziehungen des adeligen Personenverbandes beruht. Paradoxen Ausdruck findet ihre ›Gleichheit‹ jenseits geburtsständischer Ordnung in der körperlichen [!] Ununterscheidbarkeit der beiden gesellen: sicherlich altes Motiv und für den Gang der Handlung unentbehrlich, aber auch Ausdruck der gleichen adligen Auszeichnung (V. 461–65; 765–79). Das formvollendete Angebot und Teilen der geringen Frucht setzt jenes Gegeneinander von Opfer und Zurückweisung in Gang, jene Wechselbeziehung von Rücksichtnahme auf den anderen und Rücksichtnahme auf dessen Rücksichtnahme, in der die Interessen des eigenen Selbst ohne Einschränkung aufs Spiel gesetzt werden und trotzdem sich alles auf wundersame, wenn auch nicht durchweg zweifelsfreie Weise für alle zum Guten fügt. Die extremen Bewährungsproben der Freundestreue entfalten nur, was sich in der ersten Begegnung – von geschiht und zugleich Fügung Gottes (V. 489) – zeichenhaft und voraussetzungslos vollzogen hat.44

IV. So ist Arnolts gebiureschlîhe art (V. 86) bei Tisch alles andere als gleichgültig. Mag das Schälen nun als gesuchte Geste gelten oder mit sonstigen Regeln zur Säuberung oder besonderen Behandlung von Speisen zusammenhängen: in jedem Fall kontrolliert der unbedâhte helt (V. 89) mit seiner ungeduldigen (V. 84) und heftigen (V. 97). Bewegung nicht die eigene Gier; der übermäßige Bissen der Birnenhälfte ist eins vrâzes site (V. 96); der unterlassene Dienst verletzt die Achtung vor dem Höhergestellten, noch dazu einer Dame. Dabei muss nicht einmal wie bei Konrad geselleschaft in einer offenen, ungesicherten Situation erst hergestellt werden; sie ist im gemeinsamen Mahl vorausgesetzt und wäre nur angemessen auszufüllen. Indem das misslingt, zerstört der Held das komplizierte Wechselverhältnis von Ehre und Zurücknehmen des eigenen Selbst, von gestisch angedeuteter Dienstfertigkeit und zelebrierter Gleichheit, mehr noch: die auf friedlichen Umgang gerichtete höfische Ordnung (gehezzer, V. 92). Die Dame zerrt vor die Augen aller, was beim Mahl unbemerkt blieb, dennoch schon dort Arnolts Stellung bei Hof vernichtet

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Zu Recht wurde die triuwe als tragendes Prinzip herausgearbeitet, das noch scheinbar fragwürdige Handlungen rechtfertigt (so K ESTING [1970], S. 255–259). – Zu zeigen wäre freilich, wie diese triuwe neu begründet wird: in Spannung zum alten Personenverband, ja selbst zu geltenden ethischen Normen.

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hat. Die Rolle des Narren, die er nun spielen muss, radikalisiert nur den ersten Verstoß gegen die Tischsitte als Prototyp von höfischer Ordnung: Unsauberkeit, unvollständige Kleidung, Lärm, Gier, Aggression sind die immer neu aufgerufenen Themen auch der Tischzuchten. Allerdings wird im maere nicht mehr die Norm exekutiert, sondern die Normwidrigkeit genossen. An dieser Stelle ›kippt‹ die Geschichte. Arnolts Verwandlung in den tôren ist bloße Maske, deren Regeln er jeden Augenblick beherrscht; wirklich verändert dagegen erscheint die Hofgesellschaft mit der Königstochter an der Spitze. Der Verstoß gegen die hovezuht wird nicht korrigiert, sondern überboten. Erfolgreich führt Arnolt sein Vorhaben zu Ende, indem er bleibt, was er war, und den bei Tisch zutage getretenen Defekt (unfuoge, vgl. V. 107) bis zur Untermenschlichkeit steigert. Müsste sich nach dem Artusmodell der ausgestoßene Ritter in einem mühevollen Aventiureweg erneut die êre des Hofes verdienen und sich die verletzte Norm aneignen, so verfällt in dieser âventiure (V. 171) umgekehrt der Hof der im Narren verkörperten Regellosigkeit. Indem der Narr in der heimlîche die destruktiven Kräfte des Hofes (Lärm, Prügelei, Triebhaftigkeit, Faszination durch den schmutzigen Geisteskranken) entbindet, hat er, rein handlungstechnisch gesehen, ein Druckmittel, seine verlorene Stellung bei Hof wiederherzustellen. Der Preis für den Erfolg auf der Oberfläche ist aber die Destruktion der Einheit von individueller Bewährung und gesellschaftlicher Ordnung, die mit dem arthurischen Erzählschema gesetzt war. Die normativen Instanzen werden nicht durch den Weg des Helden – auf welche prekäre Weise auch immer – nachholend bestätigt, sondern desavouiert. Nur nach außen, vor den anderen, bleiben sie intakt; was ›öffentlich‹ gilt und was insgeheim der Fall ist, deckt sich nicht mehr. Wieder schärft der Vergleich mit Konrads ›Engelhard‹ den Blick für die Dissoziation ›öffentlich‹ normativer und ›heimlich‹ handlungsbestimmender Sphäre. Auch dort ist die Liebespassion Engelhards und Engeltruts von Anfang an gegen den Hof abgeschirmt und bleibt dies auch dank des manipulierten Gottesurteils. Nur verbal und zum eigenen Schutz (etwa V. 3836–3877) kann Engelhard aufrechterhalten, die êre des Königs und seiner Geliebten nicht verletzt zu haben. Die Minne, die man bis zuletzt den liuten offenlîch (V. 2341) nicht eingestehen darf, ist gleichwohl nicht zu unterdrücken; ihre pathologischen Konsequenzen zwingen die Liebenden zum Handeln, so dass sich auch hier die ›heimlichen‹ Wünsche gegen die von den andern vertretene Ordnung durchsetzen. Nur gründet hier das heimliche Einverständnis der Liebenden auf eben den Normen, die auch allgemein, für die Hofgesellschaft, gelten: zuht, êre, triuwe, ritterliche Bewährung usw. rechtfertigen das abweichende Verhalten, das dann zusätzlich durch den Handlungsverlauf – die Legalisierung des weiterhin unentdeckten Liebesverhältnisses – bestätigt wird. So bleibt zwar hier und in den folgenden Episoden radikal getrennt, was vor aller Augen bestehen kann und was man insgeheim für die Geliebte oder den gesellen tut. Trotzdem bleiben beide Sphären in einer Art prästabilisierter Harmonie aufeinander bezogen: Eine gegen den Hof sich ausdifferenzierende Heimlichkeit ist den gleichen Gesetzen unterworfen, die die höfische Gesellschaft regieren sollten 220

und kann dank der zerbrechlichen Konstruktion der Handlung sich letztlich konfliktlos in sie einfügen.45 Ganz anders die heimlîche (V. 214) im maere: Anstößig ist weniger die heimliche Liebesbeziehung selbst, auch nicht zwischen ständisch Ungleichen – moralische Bedenken gegen »niedere Minne«46 scheinen gemessen am ›Engelhard‹ eher als bürgerliches Missverständnis –, anstößig ist die kalkulierbare Verkehrung höfischer Verhaltensregeln, die Depersonalisierung von minne unter blindem Naturzwang, die Aufhebung gesellschaftlicher Hierarchie (Mann-Frau, Königin-Narr), mithin die Labilität höfischer Ordnung überall dort, wo soziale Kontrolle fehlt. Indem das Disziplinieren körperlicher Bedürfnisse eine der Funktionen von Tischzuchten war, verweist auch die unbezwingbare leckerheit (V. 345) der Königstocher auf die Essszene zurück. Hinzukommt, dass ›Birnen/Äpfel essen/braten‹ etc. in der Tradition Neidharts, im Schwank, später in den Fastnachtspielen eine nicht weiter erklärungsbedürftige Umschreibung für den Geschlechtsakt ist.47 Vor diesem Assoziationshintergrund beziehen ›Verfehlung‹ und ›Wiedergutmachung‹ sich also auf den gleichen, einmal wörtlich, einmal metaphorisch verstandenen Situations-

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Auch die gegenseitige Hilfe der gesellen muss sich vor den anderen verbergen (›Teilen‹ des ehelichen Lagers, Opfer der Kinder). So wird auch hier höfische Contenance gelegentlich zur Fassade, die nur dank der glücklichen Wendungen des Geschehens intakt bleibt (Engelhards Beteuerungen vor dem König; Engeltruts Äußerung ihres Liebesschmerzes, der sich den Tod der Mutter als willkommenen Anlass zunutze macht, um offenliche [V. 1785] die Trauer zeigen zu können, die sie verborgenlîchen [V. 1783] um Engelhard leidet). Trotzdem beansprucht Konrad, dass der höfische Verhaltenscodex beide Sphären bestimmt und damit letztlich harmonisiert. Hier scheint der Grund dafür zu liegen, dass die kaum wegzudisputierenden moralischen Fragwürdigkeiten des Geschehens ausgeblendet werden können. Der legendarischen Struktur wird ein anderes, spezifisch höfisches ›Heil‹ unterlegt. SCHIRMER (1969), S. 192. WAILES (1974), S. 110 zitiert Neithart WL 8, 4–6, ohne jedoch auf den erotischen Nebensinn einzugehen. Er ist auch verkannt bei FRITSCH (1976), S. 166. Einschlägig jedoch: Codex Karlsruhe (1974), Nr. 2. S. 60. V. 311: Min fraw eße gerne bruch birn, was auf die sexuellen Wünsche der Frau zu beziehen ist. Besonders deutlich ist der Assoziationshintergrund in den späteren Fastnachtspielen: VON K ELLER (1853), Nr. 7, S. 72, V. 9 (epfel essen für sexuelle Potenz). Nr. 8, S. 93, V. 29; S. 94, V. 2 (Birnen braten bzw. essen als Umschreibung für den Sexualakt, vgl. S. 91, V. 6). Nr. 24, S. 222, V. 5 (wie Nr. 7). Nr. 27, S. 235, V. 17 (Verzicht darauf, im Obstgarten Äpfel zu essen, für Impotenz). Nr. 59, S. 521, V. 2 (die stolze diern, die nicht Nonne werden will, weil sie gern gepraten piern isst, nicht fasten, sondern sich gern von knaben an tasten lässt). Nr. 76, S. 640, V. 19 (Vorwurf an den wirt, dass er für eine dirn so wol getan nicht ümb ain manspirn gesorgt habe, so dass man sie bis nach Ostern ein salzen muss; zu letzterem Motiv auch Nr. 77). Nr. 88, S. 711, V. 26 ff. (Ehebruch und Obstdiebstahl). Nr. 95, S. 737, V. 21 (wie Nr. 59). Nr. 99, S. 758, V. 12 (der gemeinsame Besuch im Obstgarten mit epfe1 und pirn). Nr. 112, S. 958, V. 20 (wie Nr. 7, Ausspielen des Doppelsinns). – Vgl. auch RÖHRICH (1967), S. 67. – DANCKERT (1978), S. 1030.

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kontext: ›richtiges Birnenessen‹. Arnolt zeigt im Bett die Zurückhaltung, die ihm bei Tisch abging; aber er entzieht sich dem Naturtrieb nicht im Namen höfischer Selbstdisziplinierung, sondern indem er noch weiter auf die Stufe eines willenlos manipulierbaren Stücks Körper regrediert. Seine Passivität wiederum ist gegenbildlich auf die Rolle bezogen, der er als ritterlicher Bewerber seinen Erfolg verdankt. Das maere spielt metaphorisch die Analogie zwischen liebesbereitem Narren und kampfbereitem Ritter aus,48 aber nur um sie im Verlauf der Szene umzubiegen: im bewegungslosen Herumliegen (V. 341, 353, 368, 382), dem Rollentausch zwischen Mann und Frau, in der grotesken Vertauschung des ›Speers‹ mit der ›Nadel‹. Arnolt verweigert – so lässt sich aus den metaphorischen Verknüpfungen folgern – die ihm auf dem Turnierplatz zugefallene Rolle des überlegenen helt, der auch bei Tisch ohne allzu viele Umstände sich nimmt, was er haben will, verweigert sie, um der Königstochter zu beweisen, dass es gerade diese Rolle ist, die er bei ihr spielen müsste. Was als Lektion über hovezuht angelegt war, setzt im konventionell glücklichen (?) Ende deren Gegenteil voraus.

V. Darin ist gewiss das gattungstypische Bild der bösen und lüsternen Frau erkennbar, die der Mann arcwaenic (V. 480) kontrollieren muss, statt sich höfisch ihrem Dienst unterzuordnen.49 Eben dies forderte jedoch der höfische Verhaltenscodex, der nach außen weiter in Kraft bleibt. Wichtiger als die Entlarvung falschen Scheins ist der untergründige Zusammenhang der gegenläufigen Antriebe, die nicht miteinander vermittelt werden. Denn gegenüber dem ›Engelhard‹ ist Sexualität vom höfischen Verhaltenscodex abgespalten und in eine Sphäre abgedrängt, in der Schmutz, Gewalt, tierische Dumpfheit herrschen. Aber in dieser Negativität behauptet sie ihre Macht bis hinein in die höfische Öffentlichkeit. Solche Abspaltung ist keine Eigenart nur dieses maere, sondern in unterschiedlichem Grad genretypisch. Mit bilderbuchhafter Deutlichkeit ist – nun nicht mehr im höfischen, sondern im bürgerlichen Bereich – die Trennung und zugleich wechselseitige Abhängigkeit einer öffentlich-wertbesetzten und einer heimlich-triebgesteuerten Sphäre in Kaufringers ›Suche nach dem glücklichen Ehepaar‹ inszeniert.50 Dort führt die Suche den Helden zu einem Paar, das vor der Welt in vollkommener Harmonie lebt. Er fragt den Gründen nach und muss in guoter gehaim (V. 351) erfahren, dass verborgen vor den Leuten dem Einvernehmen eine ganz andere Realität entspricht: Sonnt sich ›oben‹,

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Zur Tradition: FRITSCH (1976), S. 164. – Vgl. V. 280–282 und das ›Stechen‹ der Dienerin. Vgl. LONDNER (1973). – BRIETZMANN (1912). K AUFRINGER (1972), S. 92–104. Auf dem gleichen Prinzip beruht die erste Episode, dass nämlich die vollkommene Fassade nur die Kehrseite des Lasters ist.

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vor den anderen, der Ehemann in der Ehre einer ihm treu ergebenen Gattin, so hält er sich ›unten‹ im Keller angekettet einen halb tierischen ungehür baur (V. 376/77), den er vor Jahren haimlich (V. 409) ins Haus holte, um die unersättlichen sexuellen Wünsche seiner Frau befriedigen zu lassen. Seither ist seine und seines Geschlechts Ehre intakt, die Frau ist hochangesehen (V. 419), und von schand und laster (V. 432) der ›unechten‹ Nachkommenschaft weiß der Mann allein: so ist mein ere vast versert gar heimlich und gar leise. (V. 421f.)

Gewiss soll der suchende Held daraus lernen, den kleineren Dissens mit seiner eigenen Frau zu ertragen; insofern ist die Konstellation wieder didaktisch instrumentalisierbar. Trotzdem, der Fall selbst bleibt ambivalent: Das Ansehen des Paares vor der Welt wird nur durch das geheime Wirken des baur im Keller aufrechterhalten. Grotesk verschärft ist die Abspaltung in maeren wie ›Das Nonnenturnier‹ oder ›Der weiße Rosendorn‹.51 Die drastischen Verwicklungen gehen beide Male aus einer Konstellation hervor, die aus der Minnekasuistik bekannt ist und von da auch in die maeren-Dichtung (›Die Heidin‹) wirkt: aus der Auseinandersetzung um verschiedene Formen von Minne und körperlichem Begehren. Hier jedoch führt sie buchstäblich zu einer Dissoziation von verschiedenen Instanzen der Person: des entkörpert liebenden ›höheren‹ Ich und der im personifizierten Genital repräsentierten Sexualität. Die Trennung hat jedes Mal katastrophale Folgen für beide Teile, ironisch wieder rückgängig gemacht im ›Weißen Rosendorn‹, mit ungewissem Ausgang im ›Nonnenturnier‹: Der Held verkommt dort in der Wildnis. Um sein Genital entbrennt ein blutiger Kampf im Nonnenkloster. Wo es schließlich geblieben ist, weiß niemand. In seine grausig-komischen Konsequenzen wird hier ein höfischer Minnecodex getrieben, in dessen Namen – aus Selbstüberschätzung das eine, aus Heimtücke das andere Mal – der Körper einem vermeintlich schöneren oder besseren Selbst aufgeopfert wird. ›Diu halbe bir‹ treibt die Abspaltung nicht so weit. Es bleibt bei der Trennung zweier Sphären mit konträren Antrieben und Werthierarchien, aufeinander bezogen durch das Schema ›vorläufiger‹ und ›endgültiger‹ Bewährung, ›Verfehlung‹ und ›Wiedergutmachung‹. Nicht die hovezuht, sondern die rücksichtslos ausgelebte nature behauptet das Feld. Da die Reduktion auf den stumpfen Körper bloße Verstellung war, kann Arnolt nach außen als hübescher minnaere (V. 504) scheinbar den Preis für seine ritterlichen Erfolge ernten; der tôre verschwindet, und (fast) niemand weiß, dass er mit dem vorbildlichen ritter eins ist. Auch solch ein Sieg hat in der Maerendichtung Parallelen, am deutlichsten in der Erzählung vom Bauern Konni,52 der bei Hof hovezuht (V. 49) lernen will

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FISCHER: ›Deutsche Maerendichtung‹ (1966), S. 31–47 bzw. 444–461. H AGEN: ›Turandot‹ (1961). Vgl. SCHIRMER (1969), S. 229 zur Verwandtschaft der maeren. Ich kann allerdings nicht entdecken, dass bei der grotesken Freierprobe »die geistige Fähigkeit der Redegewandtheit« siege (S. 306); wenn durch Konni zweifellos VON DER

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und dabei in einen Wettbewerb um die Hand der Königstochter gerät: nicht ein ritterlicher Kampf, sondern ein Redestreit mit der Dame ist auszufechten (schallen heißt das abwertend). Kein Wunder bei derart ›verkehrter‹ Ausgangssituation, dass alle ritterlichen Bewerber scheitern und den Kopf verwirken, während der Bauer mit seiner Grobheit die Dame über reden (V. 101), d. h. durch Rede überwinden, kann. Sogar die Moral auf deren Kosten scheint dieselbe: Wer überspricht und spothaft ist [...] der wirt es ergezzet Mit spot und uneren (V. 3,6f.).

Vor allem ist die Personenkonstellation verwandt: Konni kommt nämlich zum Hof als Geselle eines Ritters, dessen Vorzüge (edel schoen und minniklîch, (V. 73) ihn in aller Augen zum würdigsten Bewerber machen. Der hat den gebiurschen man (V. 85), und zwar als tôren (V. 86), in seine Umgebung aufgenommen. Höfisch vollkommener Held und nar (V. 40, 203) / tôr (V. 86, 185) / gebûre (V. 202) / törpel (V. 110) sind hier in zwei Figuren gespalten, die Rollenverteilung aber ist dieselbe. Wieder scheiden sich die Verhaltensformen beim Essen; scham rôt sieht der Ritter, wie der Gefährte sich mit beiden Händen vollstopft:53 ein stük er in die hant nam / Vleisches, und in die ander brôt (V. 112f.). Die Belehrung, Wie er ezzen solte (V. 117), bleibt fruchtlos: Konnî was dâ so vol, Daz er kûme gesâz (V. 124/25; vgl. V. 136).

Vom Ritter werden aber nicht nur Manieren wie von Arnolt verlangt, sondern obendrein Redegewandtheit. Er versagt und wird geköpft; der mit werke und mit worte (!) bäurischste aller Bauern (V. 44) gewinnt den Redestreit, nicht zuletzt, weil sein unflätiges Essen und die noch unflätigere Ausscheidung ihm das Mittel an die Hand gibt, die Königstochter mundtot zu machen. Statt intellektueller Brillanz entscheidet ein stumpfer Fäkalwitz den Wettkampf. Indem hier die Alternativen auf zwei Stände verteilt sind, kann die wertbesetzte höfische Ordnung unangetastet bestehen, auch wenn ihr Repräsentant, der junkherre fîn (V. 109) untergeht. In der ›halben bir‹ (A) dagegen geht der Riss durch die höfische Welt selbst. Die Barbarei kommt nicht von außen, sondern von innen. Wie beunruhigend das ist, zeigt Hans Folz, der aus Arnolt einen Parvenü von zweifelhaftem Adel macht, bei dem der Mangel an hoffzucht (V. 66) deshalb weniger erstaunt. Hier ›stimmen‹ dann wenigstens die ständischen Ordnungen wieder.54

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der »Hochmut« der Königstochter bestraft wird, so wird doch im Verlauf des »Siegens« eher die Absurdität der Probe erwiesen. THOMASIN: ›Der wälsche Gast‹ (1852), V. 486f.: Essen mit beiden Händen. FOLZ (1961), V. 15f.

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VI. Von Zumutungen und Gegenbildern höfischer zuht war die Rede. Im Schwank kann hereingeholt werden, was eine zunächst vom Hof, dann auch von der Stadt ausgehende Disziplinierung des Verhaltens verbietet. Die Schwankkonstellationen sind deshalb vielfach als Zitate und Umkehrungen exemplarischer Handlungsschemata höfischer, später auch stadtbürgerlicher Literatur zu lesen. Die verkehrte Welt weist auf die richtige. Doch gehen die Schwänke durchweg nicht in der Bestätigung der geltenden Ordnung auf. Verschlüsselt in ›unwahrscheinliche‹ Geschehensabläufe spielen sie die Dialektik von Ausgrenzendem und Ausgegrenztem durch. Die scheinbar willkürlich-zufällig verknüpften Handlungsstränge folgen einer Erzähllogik, die vermeintlich unanfechtbare normative Ordnungen relativiert. In den komischen Deformationen erweist sich das Ausgegrenzte gegenüber der Norm als stärker. Dabei erscheint es nicht im gesicherten Interpretationsrahmen als eine widergöttliche Unordnung, sondern bleibt ambivalent. Im Lachen sind Wunsch und Abwehr ununterscheidbar. Der höfische Verhaltenskodex mutet dem einzelnen eine verstärkte Selbstkontrolle zu, die primär nicht religiös sondern standesethisch ist. So sind auch die Gegenbilder, die ihn von Anfang an begleiten, vor allem ständisch und ethisch diskriminiert. Gewiss trägt die Gegenwelt auch dämonische oder satanische Züge, vor allem aber ist sie als ›untermenschlich‹ (bäurisch, tierisch) gekennzeichnet. So bildet sich in den Schwänken eine Polarisierung ständischer Verhaltensmuster ab. Sie ist jedoch eher vordergründiger Nebenaspekt. Immerhin bestätigt sie jene ›gedachten Ordnungen‹ mittelalterlicher Ständegesellschaft,55 die nicht den faktischen sozialen Verhältnissen entsprechen müssen, um das Weltbild historischer Individuen zu bestimmen und ihr Handeln zu beeinflussen. Im Entwurf solcher Ordnungen sind literarische Fiktionen weniger verbindlich als theologische Traktate, Ständelehren, Rechtsbücher usw., dafür vielleicht aber möglichkeitsreicher (etwa im ›Engelhard‹ der Entwurf höfischer geselleschaft gegen den geburtsständisch-hierarchischen Personenverband). Mit Abbildern sozialer Realität sind sie nicht zu verwechseln, auch dort nicht, wo sie kritisch sich gegen die offiziell gültigen Leitbilder richten (etwa in Folz‹ Entlarvung höfischer Ziererei oder prätendierten Rittertums). Vielmehr ist ihre ›strategische‹ Funktion gegenüber realgeschichtlichen Verhältnissen erst noch zu untersuchen. Allerdings ist damit nur eine erste Schicht erfasst. Eine zweite bilden die Normen und Verhaltensregeln, die der Erzähltext handelnd miteinander ins Spiel bringt, statt sie systematisch-diskursiv zu entfalten.

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Die Bedeutung solcher ›gedachten Ordnungen‹ wurde etwa an der programmatischen Dreiteilung der mittelalterlichen Gesellschaft in bellatores, oratores und laboratores diskutiert (Duby, Le Goff, Oexle). Für das Spätmittelalter sind die Ordnungssysteme komplexer. Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit zur ›besseren‹ Gesellschaft ist auf reale ständische Formationen nicht direkt abzubilden.

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Wieder ist die Frage nach ihrer tatsächlichen Wirksamkeit zunächst einzuklammern (erzählt ›Diu halbe bir‹ die ungeschminkte Wirklichkeit hinter der Fassade höfischer zuht? zeigt sie gar den Zusammenbruch des höfischen Wertesystems zu Ende des 13. Jahrhunderts an?) und stattdessen nach Zusammenhang und Leistung der einzelnen Regeln und Gebote zu fragen, die Teil einer historisch-sozialen »Semantik« sind.56 Hier können sich präskriptive Texte (wie Tischzuchten) und narrative (wie maeren) gegenseitig erläutern. Die ersten können dem ›systematischen‹ Platz des einzelnen Elements in einer Folge einander stützender Anweisungen bestimmen helfen, sie sind insofern vollständiger, allerdings auf nur einen Geltungsbereich eingeschränkt. Die zweiten wählen zwar nur einzelnes aus, stellen es aber in einen fiktiven Lebenszusammenhang und legen so seine Bedeutung in einer komplexen Alltagspraxis (konkurrierende Normen, vielfältige Handlungsantriebe, besondere Personenkonstellationen usw.) fest. Literarische Fiktionen setzen derartige semantische Ordnungen voraus (die dann bei der Interpretation zu rekonstruieren sind) und tragen selbst zu ihnen bei. Dies gilt in besonderem Maße für mittelalterliche Literatur, insofern sie stets auch eine lebenspraktische Bedeutung – utilitas – beansprucht. Auf dieser zweiten Ebene sind also vor allem die didaktischen, gesellschaftsbildenden Funktionen der maeren zu untersuchen.57 Unterhalb dieser manifesten Intentionen und expliziten Regeln ist jedoch noch weiter nach der Bedeutung der narrativen Ordnungen zu fragen, die zwischen den Versatzstücken einer historischen Alltagswelt und zwischen den Normen und Regeln des Verhaltens hergestellt werden. In der Wahl bestimmter Erzählschemata sind Sinnvorgaben eingeschlossen, die vor aller ausdrücklichen Wertung (u. U. auch gegenläufig zu ihr) wirksam werden. Sie wecken Erwartungen, die auch bei abweichender Besetzung einzelner ›Leerstellen‹ des Schemas Wahrnehmung und Beurteilung des Erzählten noch steuern. Sie schaffen durch Verknüpfung von diskursiv wie handlungslogisch scheinbar disparaten Elementen eine Bedeutungsstruktur, in der verborgene Zusammenhänge zutage treten (wie hier zwischen hovezuht und der Faszination durch eine abstoßend rohe und zugleich komische Körperhaftigkeit, darstellbar an der exakten Gegenbildlichkeit von Aktionen, Personal, Rede, Metaphorik, die das zitierte Erzählmodell herstellt). Eine Untersuchung solcher Erzählmodelle ›oberhalb‹ der Besonderheit von Einzelwerken, aber unterhalb der ahistorischen Allgemeinheit strukturalistischer Minimalschemata, könnte eine herkömmliche Gattungsgeschichte ersetzen58 und einen spezifisch literaturgeschichtlichen Beitrag zum ›Wissensbestand‹ einer Epoche leisten. Unsere Beispiele boten nur einige Vorüberlegungen dazu. Weiterer Prüfung muss überlassen werden, ob die am Einzel-

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Zur Terminologie und zur soziologischen Seite des Problems: LUHMANN (1980/81). Auf diese Ebene konzentriert sich SUCHOMSKI (1975). So auch WARNING (1978); vgl. jetzt meinen Versuch ›Höfische Kompromisse‹ (J.-D. MÜLLER (2007)).

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fall belegbaren und global an einigen anderen maeren skizzierten Beziehungsmuster verallgemeinerbar sind. Vor aller Didaxe scheinen sie den Antagonismus zwischen archaischen oder abweichenden Verhaltensweisen einer Adelsgesellschaft, wie sie faktisch weiterhin sich behaupten, und einem anspruchsvolleren Programm der Selbst- und Gesellschaftskontrolle durchzuspielen und dabei auch diskriminierte Handlungen, abgewiesene Bedürfnisse, tabuisierte Wünsche und Ängste zur Sprache zu bringen. Selbst wenn dies in der Regel im Horizont der geltenden oder durchzusetzenden Normen und der allgemein akzeptierten Auffassung ständischer Ordnung geschieht, so tritt hier doch unter der Lizenz der Fiktion eine verborgene Schicht kollektiver Imaginationen zutage. Indem Alltagssituationen grotesk zugespitzt oder gültige Prinzipien sozialer Ordnung in absurde Konsequenzen getrieben werden, werden die Grenzen alltäglicher Praxis und realitätsbezogener Orientierung sichtbar gemacht und damit möglicherweise überschritten.59 Freilich stellt sich meistens am Ende die ›richtige‹ Ordnung wieder her, aber ihre Grundlagen standen momentan zur Disposition, erscheinen als ambivalent wie das Ehebündnis zwischen dem Ritter, der Birnen nicht richtig essen kann, und der Königstochter, die nachts ihren Narren braucht, einem Paar, das doch zugleich das allgemein akzeptierte Schema feudaler Epik: ›die Schönste dem Stärksten‹ nur neuerlich bestätigt.

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GUMBRECHT (1980). – Vgl. J.-D. MÜLLER (1984b), bes. S. 301.

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Kleine Katastrophen Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfischen Literatur des deutschen Mittelalters

Höfische Verhaltenscodices und ihre bürgerlichen Derivate sind auf Minimaldifferenzen aufgebaut, mit Pierre Bourdieu zu reden, auf ›feinen Unterschieden‹.1 Höfisch verhält sich nicht, wer das Gute und Richtige tut, sondern wer es in der richtigen Form tut. Das erste gilt zwar meist als stillschweigend vorausgesetzte, notwendige Bedingung, doch reicht sie nicht hin, damit ein Verhalten mit den Regeln der Guten Gesellschaft konform geht. Wo aber umgekehrt diese Regeln beachtet werden, da kann man schon einmal über den Mangel an ethischer Qualität hinwegsehen. Deshalb beklagt die hof kritische Literatur von ihren Anfängen an, dass unter der glatten Oberfläche höfischer Umgangsformen moralische Verderbtheit: Lüge, eigennützige Schmeichelei, Hinterlist, Verrat, Intrige lauern.2 Hofkritik ist anfangs vor allem eine interne Angelegenheit, eine Sache der Intellektuellen bei Hof. Seit der Frühen Neuzeit richtet sie sich zunehmend von außen gegen den Hof und das gesellschaftliche System, von dem er getragen wird, bis hin zu den Karikaturen von Höflingen, die die bürgerliche Aufklärung entwirft.3 Die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung, darin Erbin der Aufklärung, hat die Empörung über die miseria curialium für bare Münze genommen und meist nicht gesehen, dass die bedenk liche Moral des Hofmanns nur die Kehrseite dessen ist, was man sonst von ihm fordert, kühle Selbstbeherrschung, das Verbergen von Af fekten, die Vermeidung lauter und unkontrollierter Ausbrüche, ein bis in die Nuancen rational gesteuertes Betragen. Aus mora listischer Perspektive will nicht

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BOURDIEU (1983). Bourdieus Untersuchung richtet sich freilich nicht auf eine aristokratische Gesellschaft, sondern auf die ebenfalls auf Minimaldifferenzen (des Essens, der Kleidung, des Konsums, der kulturellen Vorlieben usw.) basierenden, symbolisch vermittelten Hierarchien einer modernen Massengesellschaft. Die Differenzierungen innerhalb eines relativ geschlossenen Stratums wie der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit sind im Ganzen homogener, aber ebenso subtil (vgl. allgemein zum Modell und künftige Forschung anregend ELIAS (1969b), bes. S. 134–139 u. ö.; LUHMANN [1980], S. 72–161). – Für die mittelalterliche Literatur auch die Beiträge in: K AISER u. J.-D. MÜLLER (1986). UHLIG (1973); K IESEL (1979). Die frühe hofkritische Literatur stammt bezeichnender weise meist von Klerikern, die spätere so gut wie immer von Leuten, die nicht dazugehören. LUHMANN (1980), S. 73 weist auf die notwendige Unterscheidung von Außen- und Binnenkommunikation, die den Grad der Differenzierungen ebenso beeinflusst wie die Funktion der Abgrenzung.

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einleuchten, dass dissimulatio nicht nur heimtückische Verstellung, sondern auch souveräne Selbstkontrolle bedeuten kann.4 In der Entrüstung darüber, dass in der besseren Gesellschaft ein Fehltritt schlimmer sein kann als ein Verbrechen, wurde oft übersehen, dass der höfisch-aristokratische Code von der späteren bürgerlichen Gesellschaft problemlos adaptiert werden konnte, wobei einige der alten Probleme im Gewande der ›Lebenslüge‹ wiederkehren, die sich hinter der schönen Fassade verbirgt. Nun ist dies ein Befund, der vor allem an Hand der frühneuzeitlichen Hofkultur erhoben wurde, der man, wie Peter von Moos ausführte, auch die »Ausprägung eines Wortschatzes und einer Wahrnehmung der Peinlichkeit« zu verdanken hat und die insoweit als »extremer Gegenpol« zum Mittelalter erscheint, das weder im Lateinischen noch in den Volkssprachen ein Vokabular für kleinere Fehltritte kennt, die unterhalb der Ebene manifester Verstöße, doch oberhalb unauffälliger individueller Verhaltensvarianten liegen, die deshalb nicht unter Strafe gestellt werden können und müssen, jedoch Unbehagen und Abneigung auslösen und ihre Urheber ins Abseits stellen, sie zwar nicht sozialer Ächtung preisgeben, aber doch aus einem inneren Kreis derer, die Bescheid wissen, ausschließen.5 Ein solches Vokabular zur Bezeichnung von Fehlverhalten hat sich, wie von Moos betont, im Französischen erst seit dem 16. Jahrhundert ausgebildet, und die übrigen europäischen Sprachen sind ihm darin gefolgt. Für das Mittelalter scheint es da kein Bezeichnungsproblem gegeben zu haben, was die Vermutung nahelegt, dass auch der Sachverhalt nicht wahrgenommen wurde, weil er sich als solcher noch gar nicht konstituiert hatte. Allerdings lassen sich, wie von Moos darlegt, auch im Mittelalter trotz der nahezu »tota len Klammer der moralischen Defizienzsemantik«, also trotz der theologischen Belastung der Begriffe peccatum, vitium o. ä. »Sonderdiskurse« beschreiben, in denen – etwa im Umkreis des »Kernbegriff[s] der inhonestas« – Phänomene erfasst werden, die dem, was man heute ›Peinlichkeit‹, ›Fehltritt‹, Verletzungen des Anstandes, Fauxpas nennt, verwandt sind.6 Damit stellt sich die Frage nach rudimentären Ansätzen des Peinlichkeitssyndroms. Sie richtet sich vornehmlich an die volkssprachige Literatur im Umkreis des Hofes, d. h. einer Gesellschaft, die sich primär nicht über ihre politischen und ökonomischen Privilegien definiert, sondern über ein System der ›Ehre‹, in dem jeder einzelne seinen Platz und dadurch seine Identität erhält.

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Der rhetorische Begriff der dissimulatio könnte Ausgangspunkt einer neutralen Behandlung des Phänomens höfischer Verstellung sein (vgl. NÉPOTE-DESMARRES, TRÖGER [1994]). Vieles, was die moralistische Hof kritik als adulatio, ambitio, assentatio zusammenträgt (zu diesen Topoi UHLIG [1973], passim), lässt sich auch als interessegeleitetes Verbergen der eigenen Antriebe deuten. VON MOOS (2001), S. 5. VON MOOS (2001), S. 15ff.

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Die Zugehörigkeit zu diesem System wird im Allgemeinen über Erbe (also etwa Geschlecht, Stellung im Heerschild, Reichtum, auch Stärke und Schönheit) und Bewährung der ererbten Vorzüge (Tapferkeit, Liebesfähigkeit, körperliche und intellektuelle Vorzüge) bestimmt; dabei wird beider Identität behauptet; im Konfliktfall ist das Verhältnis auszutarieren. Eine Binnendifferenzierung aber muss über Feinabstufungen erfolgen: des Betragens, der Erziehung, der Interaktion, der Nähe zum höfischen Zentrum usf.7 So ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich auch hier ein spezifischerer Code ›richtigen‹ Verhaltens herausbildet. Das war nicht unbedenklich, wie Reaktionen im späteren 13. Jahrhundert die moralisch anfechtbaren Seiten eines über wiegend auf ›feines‹ statt auf ›frommes‹ Verhalten gestellten Codes zeigen. Schon in dieser Spannung bereitet sich sie spätere Dissoziation von (religiös gestützter) Moral und exklusiv vornehmen Verhaltens vor.8 Ort höfischer Verhaltenslehren wie der Kritik an den Implikationen höfischen Verhaltens sind ursprünglich für Kleriker bestimmte Lehrschriften. Ihre Normen werden seit dem 12. Jahrhundert von »courtly clerics« zunehmend auf die höfische Laienwelt übertragen. In der Diskussion um den »courtly cleric« wird raue Moral gegen verderbte Eleganz ausgespielt, meist mit eindeutigen Prä ferenzen.9 Die Dichotomien dieser zeitgenössischen Diskussion sind aber zu schlicht; ein ausschließlicher Rekurs auf Ethik und Religion auf Kosten höfisch polierter Umgangsformen würde nicht nur Auswüchse der höfischen Gesellschaft, sondern diese selbst in Frage stellen,10 und folgerichtig bemüht sich die höfische Literatur

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Man darf gewiss die Rangempfindlichkeiten und Skrupulositäten in den Memoiren des Herzogs von Saint Simon nicht verallgemeinern und – wie ELIAS (1969b) – zum Prototyp höfischer Vergesellschaftung erklären. Doch sind Ansätze zu analogen Feindifferenzierungen im Mittelalter unübersehbar, so etwa in der Mantelprobe des ›Lanzelet‹ von Ulrich von Zatzikoven: Alle Damen des Artushofes werden ihr unterzogen (= Zugehörige des gleichen Stratums; über Wert ist damit immer schon entschieden), aber jede lässt beim Tragen des Mantels einen winzigen Mangel erkennen, der auf einen kleinen moralischen Defekt verweist. Selbst unter den Artusrittern gibt es – trotz der virtuellen Gleichheit der Tafelrunde – Unterschiede. Auch bei ihnen haben die ästhetischen Differenzen stets ethische (auch politische usw.) Implikationen. Diese Auseinandersetzung hat BERTAU (1983), S. 107 auf die prägnante Formel ›von den Feinen zu den Frommen‹ gebracht. Offenbar wurde in den höfischen Epen und der höfischen Liedkunst um 1200 Spielräume eröffnet, die eine Generation später als gefährlich und zentrale gesellschaftliche Werte unterminierend erkannt wurden. Die Brüchigkeit der zunächst entworfenen Konsensmodelle lässt sich am Spätwerk Walthers von der Vogelweide ebenso demonstrieren wie an den Fortsetzungen von Gottfrieds Tristan-Roman oder den Auseinandersetzungen mit dem Werk Wolframs von Eschenbach. JAEGER (1985). Dies hat JAEGER (1985) an vielen Beispielen gezeigt, in denen sich moralische, politische und ästhetische Kriterien überlagern. Aus diesem Grunde glaube ich, anders als DERS. (1983), zwischen unterschiedlichen Positionen der Kritik am Fehlverhalten des Adels unterscheiden zu müssen, im Nibelungenlied etwa vom ständisch-politischen Stand-

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von Anfang an um die Integration ethischer und ästhetischer Normen. Das erfordert, die Verstöße gegen die einen oder die anderen zu relationieren, wobei man sich nie ausschließlich auf Prinzipien der einen oder der anderen Seite verlassen darf, also rein ethisch oder rein ästhetisch urteilen kann. Für die mittelalterliche Adelskultur typisch ist daher die Verklammerung beider Aspekte, fast bis hin zur Ununterscheidbarkeit.11 Unter dieser Prämisse lassen sich Phänomene identifizieren, die auf die Semantik des Fehltritts vorausdeuten – was bei der strukturellen und genealogischen Verwandtschaft der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hofgesellschaften auch nicht weiter erstaunlich ist. Die folgenden Überlegungen setzen – wieder mit von Moos – voraus, dass eine terminologische Lücke nicht »Undenkbarkeit der Sache« bedeutet.12 Wohl wird man damit zu rechnen haben, dass mangels terminologischer Differenzierung eine scharfe Abgrenzung dessen, was man aus späterer Perspektive als gesellschaftlichen Fehltritt bezeichnen würde, zu anderen, vornehmlich ethischen Typen des Fehlverhaltens (Sünde, Schuld, Verbrechen) weder gelingt noch auch nur beabsichtigt ist, im Gegenteil das Verschwimmen der Grenzen die Regel sein dürfte und dass eben dieser Umstand dem, was wir mit unserem »heuristischen Anachronismus«13 ›Fehltritt‹ nennen, seine katastropha len Folgen zudiktiert. Wenn es also, wie ich zu zeigen hoffe, durchaus Äquiva lente für das gibt, was man später eher unter dem »Oberbegriff der ›bévue‹ [...] für alle Arten unbedachter, fahrlässiger, dummer und peinlicher Fehler, aber auch für halbintentiona le Ausrutscher und Verletzungen« zusammenfassen würde,14 dann sind sie in der Regel noch mit anderen, weit gravierenderen Formen des Fehlverhaltens kurzgeschlossen oder überlagern sich mit ihnen, so dass ihre Auswirkungen in ein groteskes Missverhältnis mit den Ursachen geraten können. Ich möchte unter ›Fehltritt‹ das verstehen, was man im Deutschen mit frz. Fauxpas bezeichnet, ein Fehlverhalten unterhalb der Schwelle direkt inkriminierter

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punkt einer kriegerischen Feudalgesellschaft aus, in geistlicher Didaxe vom religiösmoralischen Standpunkt monastischer Weltabsage, im höfischen Roman von dem eines elitären Verhaltenscodes usw. Das lässt sich bis in die Bildlichkeit verfolgen: Die Mantelprobe im ›Lanzelet‹ gibt über das Ethos der vriundinne der Artusritter Auskunft. Das aber geschieht mittels der Ant wort auf die Frage: wem passt der Mantel am besten. ›Tugend‹ zeigt sich in ›Mode‹, Ethos in Ästhetik. VON MOOS (2001), S. 33. So ebd., S. 1. Ebd., S. 3. Dabei wird allerdings zu prüfen sein, ob man alle Merkma le, die man heute gewöhnlich mit ›Fehltritt‹ assoziiert, auch hier unterstellen darf. Als problematisch wird sich insbesondere die Komponente der ›Unabsichtlichkeit‹ erweisen, mit der eine »ungeschriebene, allseits akzeptierte Verhaltensregel« (ebd. bei Anm. 5) verletzt wird. Unabsichtlichkeit kann sich nämlich auf eine Handlung/ ein Verhalten selbst beziehen oder auch auf die von ihnen ausgelösten Folgen, und schließlich gibt es Grade der Intentionalität (»halbintentionale Ausrutscher«, sagt von Moos).

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Handlungen, nur von schwachen Sanktionen bedroht, ein Fehlverhalten, das unwillkürlich auf treten kann, an dem aber auch intentionale Akte beteiligt sein können, das aber in Unkenntnis geltender Regeln und unter Absehen von möglichen Konsequenzen erfolgt. ›Fehltritt‹ soll das ganze Spektrum, gewisserma ßen zwischen ungeschicktem Stolpern und unpassendem Betragen, heißen, wobei nur der im Deutschen noch weiter gehende Sprachgebrauch, der darunter auch moralische Verfehlungen wie Ehebruch versteht, beiseite bleibt, selbst wenn sich herausstellen wird, dass auch hier die Grenzen fließend sind.

Höfischer Code in der ›Krise‹ Höfische Gesellschaften, auch die ritterliche Gesellschaft des hohen Mittelalters bilden Verhaltenscodices aus, die auf der Übereinstimmung von moralisch gutem und gesellschaftlich gefälligem Handeln aufbauen, was nicht ausschließt, dass die Spannung zwischen ihnen jederzeit auf brechen kann. Entscheidend ist jedenfalls: Man muss das Richtige auch in der richtigen Form tun. In der Frühen Neuzeit verfestigt sich das zu der Regel, dass sich keinesfalls die Erfüllung der Norm allzu sehr nach vorne drängen und auf der Oberfläche sichtbar werden darf; daher das unablässige Fragen, ob ›gutes Handeln‹ nicht bloßer Schein ist; daher umgekehrt das Insistieren auf sprezzatura und disinvoltura, auf affektierter Nachlässigkeit; daher Umschreibungen höfisch-gebildeter Umgangsformen als Je ne sais quoi, als der kleine, kaum bemerkbare Überschuss über Regelkonformität, der aus einem richtigen Verhalten erst eines macht, das in Guter Gesellschaft allgemein gefällt; daher der Kult der ›feinen Unterschiede‹ auf Kosten der großen Alternativen. Wer da zugehört und wer nicht, entscheidet sich an Kleinigkeiten.15 In der höfischen Literatur des Mittelalters sind solche Codes allenfalls rudimentär erkennbar. Was im hofdidaktischen Schrifttum als Regeln feinen Anstandes propagiert wird, hat meist sehr elementaren Charakter und ist von ethischen Vorschriften und Vorschriften der Hygiene oft nicht zu unterscheiden.16 Die geselligästhetische Perspektive löst sich nie vollständig von der ethisch-normativen, be-

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Zu den Grundstrukturen die in Anmerkung 1 zitierten Untersuchungen; die soziologischen Implikationen hat besonders LUHMANN (1980) herausgearbeitet (vgl. etwa S. 104f.). Das betrifft nahezu alle sog. ›Hofzuchten‹, die in der Regel eher grobe Empfehlungen, meist für Essen und Trinken, geben, die aus moderner Sicht allenfalls die Vermeidung von Ekel garantieren, kaum dagegen einen Codex verfeinerter Sitten bieten. Aus ihnen lässt sich deshalb für unser Thema so gut wie nichts gewinnen (vgl. die Texte bei WINKLER [1982] oder die Sammlungen von THORNTON [1957ab]). Auch H AFERLANDS Untersuchung zur höfischen Interaktion (1989) enthält nur wenig Material zum Thema (etwa unter ›Höflichkeit‹, S. 172–179).

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hauptet ihr gegenüber allenfalls ein gewisses Eigenrecht.17 Allerdings scheint beim Charakter dessen, was in Erzähltexten als Verfehlung gilt und als solche geahndet wird, sich das Gewicht vom Verbrechen und der ethisch verwerflichen Tat weg, hin zu Nachlässigkeit, Vergessen, Acht- und Gedankenlosigkeit zu verschieben, der dann freilich eine fundamentale, auch ethisch relevante Bedeutung zugeschrieben wird. Dies entspräche dem Befund, dass theoretisch noch nicht gedacht werden kann, was praktisch durchaus schon Bedeutung hat. Man denke an die sog. ›Krise‹ in der Doppelwegstruktur des Artusromans. Natürlich hat die jahrzehntelange Forschung recht, wenn sie in dieser Krise ganz zentrale Verfehlungen des Helden aufgedeckt hat, die ihn zwingen, den schon einmal zurückgelegten Weg noch einmal, jetzt aber mit neuem Ethos zu gehen.18 Die Verfehlung hat deshalb exemplarischen Charakter, indem sie grundsätzliche Normen wie z. B. triuwe verletzt: Auch ein kleiner Verstoß gegen die triuwe ist gefährlich und hat schlimme Auswirkungen, wenn – wie dies im mittelalterlichen Gesellschaftsverband der Fall ist, da er über personale Beziehungen aufgebaut ist – triuwe Inbegriff aller funktionierenden und harmonischen gesellschaftlichen Beziehungen ist. Doch wird im höfischen Roman auffälliger weise der Verstoß nicht als spekta kulärer Treuebruch erzählt, als Verrat also wie etwa im ›Nibelungenlied‹, sondern als scheinbar kleine Abweichung, so klein, dass sie anfangs vom Handelnden selbst nicht einmal wahrgenommen wird. Vielmehr muss er erst auf sie hingewiesen werden. Dies geschieht – exemplarisch im ›Iwein‹ und im ›Parzival‹ – vor der Instanz, die allein solche Verstöße zu ahnden befugt ist, vor der um König Artus versammelten Hofgesellschaft. Auch im ›Erec‹ ist diese Instanz latent anwesend, wenn Enite über Erecs Einbuße an Ehre klagt, denn was sie vor sich hin spricht, ist nur das Echo dessen, was ›man‹ sich von Erec sagt. Für die Verfehlung des Helden im Artusroman ist keine Rechtsinstanz zuständig, nicht das Hofgericht (wie etwa nach Hagens Hortraub oder dem Verrat an Roland), das Opfer der Verfehlung ist nicht zur Selbsthilfe mit der Waffe im Rahmen des Rechtsinstituts der Fehde aufgerufen (wie z. B. die Gefolgsleute nach Siegfrieds Ermordung), sondern angesprochen ist ein informeller Kreis derer, die wissen, was man zu tun hat, und der deshalb den Übeltäter, der in Wahrheit keiner ist oder sich nicht so fühlt, tadeln und ausschließen soll. Der informelle Charakter wird noch dadurch unterstrichen, dass dieser Kreis keine wirklichen Sanktionsmöglichkeiten hat, er manchmal die Reaktion des Helden auf den Vorwurf nicht einmal als angemessen billigt und diese Reaktion daher als Akt der Selbstbestrafung erscheint.

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So sind selbst die eher rohen Vorschriften der Tischzuchten mit ethischen oder religiösen Konnotationen verklammert: in ›Tannhäusers‹ Hofzucht‹ (THORNTON [1957a]) fördern gute Manieren bei Tisch das Seelenheil (V. 228–231); Gottes wird nicht nur bei den Tischgebeten gedacht, und in jedem Fall sind êre und zuht das Ziel. Exemplarisch H AUG (1989b), weiter ausgeführt in einer Reihe von späteren Untersuchungen des Autors.

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Auf der Erzähloberfläche erscheint der Anlass der Krise als verhältnismäßig geringfügig – ein unbedachtes Wort über den Ehr verlust des Helden, der zuviel sich der minne widmet, ein im Überschwang ritterlicher Selbsterprobung versäumter Termin, eine aus ängstlichem Bemühen um gutes Benehmen unterlassene Frage. Die Folgen sind gleichwohl beträchtlich, denn sie setzen einen Prozess der Selbstfindung in Gang, der das Verhältnis des Helden zur Gesellschaft grundlegend ändern wird, weil nämlich hinter dem vermeintlich geringen Anlass weit mehr steckt: ein Verstoß gegen die Ehre als identitätsverbürgendes Prinzip der Adelsgesellschaft, gegen das Prinzip der Gültigkeit des gegebenen Wortes ›nach Jahr und Tag‹ und gegen die Verpflichtung christlicher compassio. Insoweit wird man den Untersuchungen, die solch tiefere Gründe herausgearbeitet haben, nur beipflichten können. Desungeachtet bleibt festzuhalten, dass auf der Erzähloberfläche eben nicht jener Fundamentalkonflikt um êre, triuwe, compassio verhandelt wird, er vielmehr im scheinbar Geringfügigen camoufliert wird, dem Stoßseufzer, den niemand Fremdes hören konnte, der kleinen Verspätung, der unausgesprochenen Frage.19 Die scheinbare Geringfügigkeit registrieren sogar die Protagonisten, Erec, der seine Frau für die (doch eigentlich zutref fende) Bemerkung hart bestraft, Iwein, der über die Anschuldigung wahnsinnig wird, Parzival, der Gott jahrelang seine Kleinlichkeit übelnimmt. Gewiss werden die Helden letztlich indirekt zur Einsicht in ihr Fehlverhalten geführt, doch zunächst einmal herrscht Befremden über ein offenkundiges (wenn dann zuletzt auch scheinhaftes) Missverhältnis. Dieses Missverhältnis hat auch die Interpreten immer wieder beunruhigt: Wo massive Strafe ist, muss massive Schuld sein.20 In solch einer Annahme manifestiert sich das Bedürfnis neuzeitlich-bürgerlicher Wissenschaftler, für eine schwerwiegende Folge einen zureichenden, und das heißt: ihrem eigenen Verständnis gesellschaftlicher Ordnung nachvollziehbaren Grund zu finden. Dies gelingt, indem man an der gering scheinenden äußeren Verfehlung die grundlegende ethische Fehlhaltung

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Gerade an Wolframs ›Parzival‹ wird das deutlich: Was Gawan vorgeworfen wird, ist ein Rechtsbruch, der massiv Regeln der Kriegergesellschaft verletzt hätte, wäre er denn wahr. Solch ein Rechtsbruch ist aber in der Erzählwelt des ›Parzival‹ bei den positiven Helden nicht zugelassen, dergleichen kennzeichnet allenfalls die Lähelin-Sippe. Dieser Vorwurf ist also gegenstandslos. Anders bei Parzival, dem mangelnde triuwe anlässlich einer Verfehlung vorgeworfen wird, für die es keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gibt, die aber für den Helden trotzdem verheerende Folgen hat. Gewiss handelt es sich hier um ein ethisches Defizit. Es tritt aber als Konsequenz einer starren Fixierung auf einen höfischen Verhaltenscode auf, d. h. der noch unerfahrene Parzival beweist noch nicht die Souveränität im Umgang mit Regeln, die von einem vorbildlichen Ritter zu fordern ist; deshalb wird er ja auch zuerst vor Artus und seinem Hof angeklagt und erst später vom frommen Eremiten zurechtgewiesen: Zeichen der Verklammerung von christlicher Ethik und höfischen Interaktionsregeln. So erklärt sich etwa die anhaltende Suche nach ›Enites Schuld‹, die, wie WORSTBROCK (1985) gezeigt hat, gegenstandslos ist.

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abliest. Eine solche Argumentation wird von den Autoren z. T. explizit gestützt,21 was aber an der eigenartigen narrativen Verknüpfung und dem Spannungsverhältnis zwischen narrativer Organisation und Kommentar nichts ändert. In diesem Spannungsverhältnis der höfischen Romane zwischen Ethos und Form scheint sich mehr als eine – gegenüber der Heldenepik vor allem – Verschärfung der moralischen Empfindlichkeit abzuzeichnen, die nicht mehr nur das Verbrechen, sondern die zuerst kaum wahrnehmbare Verfehlung zum Maßstab nimmt, mehr auch als nur eine Verschiebung von außen nach innen. Eher bereitet sich hier die für aristokratische Gesellschaften typische Verschiebung von politischen und ethischen Alternativen auf ethisch neutrale Minimaldif ferenzen vor. Warum würde sonst, wenn eine fundamentale politische oder sozia le Frage zur Debatte steht, diese nicht auch als solche verhandelt? Es bleibt bei den Krisen des klassischen Artusromans ein unauflösbarer Rest, der sich am ehesten mit den voraussetzungslos verhängnisvollen Verfehlungen des Märchens vergleichen lässt.22 Ihre Bewältigung gelingt wie dort nie allein durch ethische Anstrengung, sondern schließt immer auch ein Stück voraussetzungslosen Glücks ein.23 Das Glück torpediert zwar nicht das Ethos, aber relativiert doch ein wenig seine Bedeutung: Was wäre gewesen, hätte sich Erec vor seinem letzten Abenteuer zur anderen Seite gewandt, wäre Iwein zu den Gerichtskämpfen zu spät gekommen, wäre Parzivals Schwert nicht zerbrochen und hätte er weitergekämpft, statt eine Unterhaltung über Familie und Abstammung anzufangen? Gewiss sind solche Fragen einem fiktionalen Text unangemessen, der seine Bedingungen selbst setzt, doch erinnern sie daran, dass diese Bedingungen providentielle Implikationen haben. Die Providenz ist vor allem eine höfische;24 sie sorgt dafür, dass der durch seine Verfehlung ausgestoßene Held wieder in die höfische Gesellschaft zurückfindet, und schafft die Voraussetzung für die Korrektur des Fehltritts, der zur Entfremdung geführt hatte: Indem Gott ihm das Abenteuer Joie de la cour zufallen lässt, ist Erecs Ehre wiederhergestellt (›Erec‹); Gott selbst stellt sicher, dass Iwein keine Rettungstat versäumt (›Iwein‹), und er gibt Parzival die unvorhersehbare Gnade, noch einmal Gelegenheit zur Frage zu haben (›Parzival‹). Vielleicht ist der vielbeklagte Verzicht des späteren Artusromans auf die Krise aus diesem Blickwinkel gar nicht so spektakulär, wie die an Chrétien und Hartmann orientierte

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Vgl. Sigunes Vorhaltungen gegenüber Parzival. Weit eher hier als in den relativ nichtssagenden Propp’schen ›Funktionen‹, die um ihre entscheidende Dimension verkürzt werden müssen, um auf den höfischen Roman zu passen, scheint mir die von SIMON (1990) herausgestellte Märchenähnlichkeit der Handlungsstruktur begründet. Für den ›Parzival‹ hat H AUG (1995a) betont, dass nichts im Handeln und Verhalten des Helden nach der Verstoßung vom Artushof seine Wiederberufung zum Gral ›erklärt‹: Sie ist Gnade. GOTTFRIED VON STRASSBURG hat die höfische Modellierung göttlicher Vorsehung als Bedingung der Romanpoetik in der provokanten Formulierung vom wintschaffen Krist (nach V. 15739f.) pointiert.

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Forschung suggeriert:25 Wenn die Zeitgenossen das Ausbleiben der krisenhaf ten Gefährdung des Helden und seines Ethos nicht gestört zu haben scheint, könnte das auch daran liegen, dass die Gefährdung auf der Oberfläche sich kaum zeigte.26 Ethische Makellosigkeit wird zur selbstverständlichen Anforderung an den Helden. Wie eng Gut-sein allerdings mit richtigem Benehmen zusammenhängt, zeigt die Mantelprobe in Ulrichs von Zatzikoven ›Lanzelet‹ ebenso wie das unpassendpassende Lachen der Cunneware in Wolframs ›Parzival‹27 oder – um ein früher kommentiertes Beispiel aufzunehmen – Konrads von Würzburg ›Engelhard‹, wo der selbstlose und rück sichtslos sich aufopfernde Freund daran erkannt wird, wie er einen Apfel teilt.28 Die Verfehlung lässt sich also nicht allein aus einer ethischen oder gar politischen Wertordnung, ihre Wiedergutmachung nicht allein aus Providenz und ethischer Bewährung ableiten. Der klassische Artusroman scheint eine Zusatzregel vorauszusetzen, die jenes latente Missverhältnis erklärt. Sie ergibt sich aus der Struktur höfischer Verhaltenscodices, die Sanktionen für Minimalverfehlungen vorsehen. Man darf bei den Überlegungen zu tieferen Gründen der Krise des Artusritters nie die primäre Strafe vergessen, die das Vergehen spiegelt: dass nämlich die manifeste Sanktion zunächst und vor allem die Verstoßung aus der höfischen Gesellschaft ist. Für eine Zeit ›gehört der Held nicht dazu‹.

Rechtsbruch und Geschmacklosigkeit Weit deutlicher als in der Artusepik ist die Bindung der politisch-sozialen Ordnung an Regeln höfischer Interaktion bei dem Minnesänger Neidhart erkennbar, der in einer – moderne Interpreten immer wieder befremdenden – Weise schlechtes Benehmen und universelle Katastrophe kurzschließt: Solange die dörper sich so aufführen, wie Neidharts Sommer- und besonders Winterlieder unablässig beklagen,

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Vgl. H AUG (1989a). Viel wichtiger als die Krise ist der Zustand der Selbstentfremdung, den auch angeblich makellose Artushelden zu durchlaufen haben. Die Fixierung auf inneres Verschulden verdankt sich den Präferenzen späterer Literatur und späterer Literaturwissenschaft. Ich hoffe, anderwärts zu zeigen, dass sie dem höfischen Roman unangemessen ist (womit das Skandalon beseitigt wäre, dass man gerade einmal zwei Muster-Artusromane, eine Komplizierung des Schemas und sonst nur Trivialisierungen hat). Cunnewares Lachen ist unpassend, aber es wird von Keie bestraft, weil es eine Aussage über das Ethos desjenigen, über den sie lacht, enthält. Bestraft wird nicht die Ungezogenheit oder mangelnde contenance (die doch bei Parzivals Auftritt naheläge), sondern das ethische Fehlurteil (das sich dann letztlich als richtig herausstellen wird). Das Lachen ist ein typisch mittelalterlicher ›Fehltritt‹, der Ethos und Interaktionsregeln verklammert. J.-D. MÜLLER (1984/85), bes. S. 299–301.

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ist es nicht nur nichts mit dem Liebesbegehren des Sänger-Ich, nicht nur nichts mit höfischer Minne überhaupt, sondern es geht auch sonst alles drunter und drüber, in der Umgebung des Riuwentalers, im Herzogtum, in der Welt. Gewiss erzählen die Lieder29 unablässig auch von Gewaltakten, die solch ein Urteil rechtfertigen könnten, von groben Zudringlichkeiten gegenüber der Frau – Bedrängen und Betatschen, selbst Vergewaltigung –, von Drohungen, Rempeleien oder direkten Attacken auf den Sänger – bis hin zu Fehdehandlungen wie Zertrampeln einer Wiese (WL 17,V,6) oder Brandstif tung (WL 11,VII,1) – oder von blutigen Streitigkeiten der dörper untereinander und von Usurpation adliger Privilegien im Dienst des Landesfürsten (WL 28,VIII,7–IX,4; WL 29,VIII,1f.; WL 34,IX u.ö.): alles in allem wahrlich nicht nur harmlosen Störungen von Ordnung. Auf fällig ist jedoch, dass solche manifesten Bedrohungen in Neidharts Liedern meist in einem Atemzug und mit demselben Ton der Empörung beklagt werden wie scheinbare Kleinigkeiten: die degoutant geschnittenen Wämser der dörper, ihre von keinem Haarkünstler zu bändigenden Frisuren, ihre sperrigen, ungeschickt gehandhabten Waffen, ihre prätentiöse Sprache mit einem affektierten und falschen ›flämischen‹ Akzent, das misstönende Geleier oder Gegröle, das sie für Musik halten, der alberne Gang, die plumpen und verdrehten Bewegungen beim Tanz, die die Tanzpartnerinnen schmerzhaft zu spüren bekommen. In dieser Welt sind die ›feinen Unterschiede‹ längst nicht alles, im Gegenteil geht es durchweg um beträchtliche und ernsthafte Übertretungen. In der Kritik an ihnen aber sind Rechtsbruch und Geschmacklosigkeit gar nicht weit auseinander; in den dörpern sind beide aneinander gekoppelt, und sie sind – vornehmlich in den Winterliedern – beide unablässig bejammerter Gegenstand. Dank dieser Koppelung können läppische Verfehlungen und rechtlich relevante Vergehen füreinander eintreten. Insofern täuschen sich die Interpreten über die angebliche »Banalität der Vorfälle«, aus denen Neidhart seine Empörung bezieht,30 denn nicht nur haben auch jene »Banalitäten« verheerende Folgen, sondern »Bana litäten« sind sie nur für unsere funktional differenzierte Welt, in der die Sphären der Politik, des Strafrechts, der Moral und des Benehmens klar gegeneinander profiliert und untereinander hierarchisiert sind. In Neidharts Welt verläuft die Grenze zum Banalen offenbar anders. In stratifikatorischen Gesellschaften wie der höfischen des hohen Mittelalters ist der entscheidende Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzungen die (Oberschichten-)Interaktion.31 Tatsächlich treten die Konflikte, die Neidhart thematisiert,

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Zitiert nach NEIDHART (1984). Ich folge der Zählung dieser Ausgabe. Dabei konzentriere ich mich auf die in R überlieferten Strophen, zu denen nur ausnahmsweise solche aus anderen Handschrif ten treten. So schreibt LIENERT (1989), S. 1–16: »Daß der Sänger jeden neuen Vorfall im für ihn typischen Überbietungsgestus als immer noch unerträglicher hinstellt als den letzten, macht ihn lächerlich und entlarvt die Banalität der Vorfälle« (S. 14). LUHMANN (1980), S. 84 u. ö.

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überwiegend als Interaktionskonflikte auf. In der Interaktion ist aber eine Ungeschicklichkeit oder ein Formverstoß ebenso störend wie gravierendere Verstöße (mögen deren Auswirkungen auch nachhaltiger sein). Interaktionsregeln können das eine so wenig wie das andere dulden. Zwischen geschmacklicher Entgleisung, tölpelhaf tem Betragen, Anmaßung, allzu gewagtem Scherz, frechem Übergriff, sexueller Aggression und Rechtsbruch gibt es bruchlose Übergänge. Das schließt nicht aus, dass das Missverhältnis zwischen den im einzelnen beklagten Vorfällen, die paranoid scheinenden Kurzschlüsse zwischen dem Lauf der Welt und den Erfahrungen im Nahbereich, immer wieder komisch ausgeschlachtet werden; verhandelt werden beide als Probleme scheiternder Interaktion.32 Schon Wolfram von Eschenbach hat sich im ›Willehalm‹ über Neidharts ewige Klagen aus nichtigem Anlass lustig gemacht:33 Den vriunden klagen muss man, wo kriegerische Auseinandersetzungen drohen: Man sucht sich bei Verwandten, Vasallen, sonstigen Verbündeten Schutz und Unterstützung und erwartet von ihnen rât unde helfe gegen den fremden Aggressor. Mit dem Rechtsterminus klagen ist bekanntlich mehr angesprochen als eine harmlose Beschwerde. Aber genau auf solche Anlässe scheint Neidhart seine Klagen zu übertragen. Fehdevokabular (ureliuge, widersagen, tratz, gewalt, schade, gevêch u. ä.) wird auf das Minneverhältnis übertragen, nicht nur, wie im hohen Minnesang häufiger, auf das Verhältnis Sänger – Dame,34 auch nicht auf das Verhältnis Sänger – Riva len/ Merker (in dem Gewalt tabuisiert ist)35, sondern auf die die Rivalität überlagernden differenten Lebensformen und ihre Protagonisten, den Riuwentaler und die dörper. Die ungenâde der Dame (WL 17,II,8), ihre Feindschaft (WL 16,II,6) wird überboten durch die ungenâde eines geteling (WL 16,III.2). Die Zerstörung durch die minne (WL 17,II) mündet in die Klage Mir schat Engelbolt [...] (WL 17,III,1); nimmt man die Fortsetzung als Explikation des schaden, dann besteht er in einem zügellosen Tanz (III,9) und im Nichtausweichen auf der Straße. Der Hass ist gegenseitig und beiderseits lächerlich begründet: er ist mir gevêch (IV,1), denn ›er‹ schiebt es ›mir‹ zu, dass ›sie‹ ihm beim Tanz die Hand entzog: seht, daz was im leit!/ sînen vriunden er kleit [...] (IV,5f.). Die Gegenvor würfe sind nicht besser: er ist tump unde geil, ein alberner Gang, bunte Schuhe, Zertrampeln der Wiese, laut-störende Liebeslieder (V): Fehdegründe? Natürlich hat wieder eine Reihe der ›Übertretungen‹ massiv sexuellen Nebensinn und erfordert ethische Sanktionen: ›Abweichen vom Weg‹, ›nach Blumen springen‹, ›Niedertreten des Grases‹, obszö-

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Ablesbar ist das an der Gestalt der Vrômuot – Allegorie höfischer Freude, des harmonischen Umgangs der Mitglieder der Hofgesellschaft untereinander (und als solche, wie noch zu sehen, aufs engste mit Vrideruns Spiegel verknüpft), und zugleich Inbegriff funktionierender politischer Ordnung. Willehalm, 312,12–14. Etwa FRIEDRICH VON H AUSEN (1988) MFr 46,9; 52,17; 52,37; 53,22; so auch WL 16,II,6; WL 17,II,3–6. FRIEDRICH VON H AUSEN 50,19 oder Reinmars angestrengte Haltung der Selbstkontrolle.

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ne Lieder – aber vorgetragen werden sie – im Kontext der gemalten Schuhe – als lächerliche Beschwerden. Exemplarisch zeigt diese dauernde Verwechslung der Ebenen, das Changieren zwischen ›Fehlern‹ ganz unterschiedlicher Art, das WL 24.36 An seinem Beginn (I, II) steht eine Natur- und eine Minneklage, die überraschenderweise auch über einen Riva len um die Gunst der vrouwe klagt, Hildebolt. Von ihm und einem Willeger37 ist dann weiter die Rede, in der Form offener Polemik gegen die Rivalen: Der ist nû der tumbist unter geilen getelingen (III, 1); er lasse sich nicht aus ›ihrer‹ Nähe verdrängen (III, 3); im Gegenteil hätten der twerhe[] blic der beiden (III, 5) den Sänger vertrieben (III,6). Plötzlich sind es mehr (sô manger), die ihn von lieber stat gedrungen haben (IV, 1). Aus Rivalität um die Gunst der Frau wird ein handfester Konflikt. Ablesbar ist er an der Art und Weise des Tanzes: oedelîchen wart von in ûf mînen tratz gesprungen (IV, 3). ›Fehltreten‹ hat hier eine ganz wörtliche Bedeutung: Der plumpe bäuerliche Springtanz – die Abweichung also von einem höfischen Bewegungsvokabular – ist Herausforderung für den höfischen Verhaltenskodex, und dies wird gewalt (IV,4) genannt, die daran schuld sein soll, dass der Sänger vorzeitig altert. Zwar kehrt der folgende Vers (IV,5) zum Minnediskurs zurück (ein kleiner Gunstbeweis der Dame nährt neue Hoffnung), doch nur um den Kontrast zum folgenden zu steigern. Die Empörung beißt sich noch mehr an Kleinigkeiten fest: gerne mugt ir hoeren, wie die dörper sint gekleidet: üppiclich ist ir gewant (IV, 6). Das wird in V,1f. (und X) detailliert: übertrieben modische Kleider, monströse Waffen und Rüstung (röcke, schaperûne, hüete, schuohe und hosen). Die Geschmacklosigkeit der Rivalen, gipfelnd in seidenen Beuteln (phellerîne phosen), ruft den Vergleich mit dem ominösen (noch näher zu untersuchenden) Spiegelraub durch Engelmar herauf, mit dem, Neidhart zufolge, doch alles Unheil in der Welt anfing. Jetzt erfährt man, dass er nicht so schlimm ist wie jener modische Missgriff. Mit der Empörung über die modische Extravaganz verbindet sich wieder die über sexuelle Aggression: [...] ich nîde ir phellerîne phosen, die si tragent: dâ lît inne ein wurze, heizet ingewer,

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Die Strophen zu diesem Lied in R müssen in dieser Form keine Liedeinheit gebildet haben. Vor allem die scheinbar ›biographischen‹ Aussagen über den Sänger in Str. VII u. IX (= R 7 u. 8) scheinen locker angefügt; Str. VIII ist nur in c überliefert. In jedem Fall bilden die Strophen I-VI in R (und auch in A) eine sinnvolle Abfolge, zu der auch Strophe X (= R 9, nicht in A) – möglicherweise als Amplifikation (oder Ersatz?) von V (= R 5) – passt. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf diese Strophen. In diesem Lied wird die Strophengrenze durchweg überschritten. I und II sind durch einen Vergleich verbunden. III schließt an II durch nähere Charakterisierung des zuletzt (II,6) genannten Hildebolt an. IV nimmt den Vorgang des Verdrängens auf (III,6). In IV,6 wird das Thema angeschlagen, das dann V beherrscht (der unmögliche Aufzug des dörper). Am Ende wird von einem gewaltsamen Übergriff erzählt, und von dem Streit, der daraus entsteht, berichtet VI.

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der gap Hildebolt der guoten eine bî dem tanze; die gezuhte ir Willegêr. (V,4–6)38

Daraus erwachsen neue Gewaltsamkeiten zwischen den dörpern, die die Flucht des höfischen Sängers zur Folge haben.39 Rivalität bei der Frau, Bedrohung des Riuwenta lers, unpassende Kleider, angemaßte Waffen, sexuelle Protzerei und Aggression mit der wurze, blutiger Kampf miteinander – das geht alles ineinander über. Durch Aufzählungen dieser Art verschieben sich die Gewichte zwischen manifesten Fehdehandlungen (wie sie sich in einigen Liedern andeuten) und mehr oder minder harmlosen Verfehlungen und Geschmack losigkeiten. Alle diese Formen abweichenden (dörperlichen) Verhaltens bilden für Neidhart ein Kontinuum. Fehdewürdiges Verbrechen und Geschmacksverirrung sind die beiden Extrempunkte eines und desselben Fehlverhaltens.

Frideruns Spiegel Ungefähr in der Mitte zwischen den Rechtsbrüchen, die der Sänger anprangert, und den Geschmacksverirrungen, über die er sich aufregt, steht der ›Raub‹ von Frideruns Spiegel durch den dörper Engelmar. Ohne dass Neidharts Hörer jemals ein genaueres Bild erhielten, was genau vorfiel,40 werden sie in Sommer- wie Winterliedern immer wieder an diesen Vorfall erinnert. Mit ihm fing alles an; an ihm wird alles gemessen, was sonst noch an den dörpern reizt, von ihm ging alles aus, was seither an Ungeheuerlichem noch geschah. Dank dieser Verklammerung kann der Spiegelraub – ein scheinbar geringfügiges Vergehen – am Scheitern höfischer Minnewerbung das Scheitern von gesellschaftlicher Ordnung überhaupt erklären. Als ›Spiegelraub‹ ist der Vorfall in die Mediävistik eingeführt; der Terminus roup kommt aber bei Neidhart nicht vor. Meist wird in den Liedern mit neutraleren Bezeichnungen an den Vorfall erinnert: Engelmar nam den Spiegel (WL 26,V,7), Friderun vlôs ihn durch Engelmar (WL 23,V,1). Der Status des Vergehens verschiebt sich damit ein wenig; roup ist eine schwer inkriminierte Fehdehandlung (wie brant) und wird mit entsprechend schweren Sanktionen bedroht; ohne Zweifel wird auch hier ein Gegenstand entwendet und widerrechtlich ›bis heute‹ angeeig-

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Was auf der Erzähloberfläche kohärent (und harmlos) scheint, weist mit den herausgeputzten ›Beuteln‹, der phallischen ›Wur zel‹ und dem ›Wegreißen‹ auf sexuelle Aggression. Die Kämpfe werden in späteren Fassungen ausphanta siert. Va bringt den Streit mit dem sog. Fassschwank in Verbindung; VIa verknüpft ihn mit dem Potenzgeprotze eines dörpers; Xa und Xb erzählen von ihnen als waf fenstarrenden Feiglingen. WENZEL (1999), S. 47. Wenzel verzeichnet die ältere Literatur. Um eine Rekonstruktion der Vorgänge ist GAIER (1976), S. 25f. besorgt.

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net (WL 32,V,7); auch geschieht das ohne Zweifel gewalteclîchen (WL 15,II,2; WL 27,V,9), und gegen Frideruns Willen (WL 18,IV,3); gewalt zeigt außerdem die hef tige Gebärde an – Engelmar brach ihn ihr von der sîten (SL 22,VI,8; WL 32,VI,8). Aber trotzdem, roup wird das explizit nicht genannt. Gegenüber der breiten Forschung, die sich der Bedeutung des Spiegelraubs angenommen hat,41 ist der schlichte sprachliche Befund festzuhalten: Der Übergriff wird explizit nicht als gravierender Rechtsbruch stigmatisiert. Das schließt nicht aus, dass er in Neidharts Welt den Charakter eines peccatum originale annimmt. Doch was für eines peccatum? Dass sie sich Fremdes aneignen, ist immer wieder ein Vor wurf gegen die dörper, und auch mit gewalt ist das meist verbunden. Frideruns Spiegel ist insofern ein Beispiel unter vielen Übergriffen. In diesem Fall richtet sich die Aggression nicht gegen den Ritter-Sänger, sondern gegen ein Mädchen, das offenbar zur Gemeinschaft der dörper gehört, doch auch das kommt in anderen Liedern vor. Der Spiegelraub gehört also in die lange Reihe der Zwischenfälle, die Neidharts Lieder unablässig beklagen.42 Was also ist der Spiegelraub? Nimmt man die zahlreichen, untereinander durchaus nicht widerspruchsfreien Anspielungen Neidharts zusammen, so lässt sich etwa Folgendes erkennen: Der dörper Engelmar hat Friderun einen Spiegel weggenommen (›gebrochen‹). Der Spiegel war an einer spiegelsnuor befestigt, die Friderun selbst aus Seide geflochten hatte (WL 23,V,8–11); die Schnur wurde zerrissen.43 Es war ein kleiner Spiegel, von der Größe eines Schwertknaufs (WL 16,III,8f.).44 Friderun trug ihn an der sîten (SL 22,VI,8; WL 32,VI,8). Den Übergriff soll man sich bei Gelegenheit eines Tanzes vorstellen, an dem Friderun teilnahm und dem Engelmar zuschaute (so deutet SL 22,IV,4f.; 8 an). Etwas später folgt die Klage, dass Engelmar ihr den Spiegel wegnahm (SL 22,VI). Auch ein Vergleich legt die Situation des Tanzes nahe: So wie damals Friderun den Spiegel Alsô vlôs mîn vrouwe ir vingerrîde,/ dô si den krumben reien ûf dem anger trat (WL 18,IV,1f.). Schon die alten Neidhart-Handschriften (A, C, R) enthalten weitere Einzelheiten, die mit den bisherigen nicht ganz zusammenstimmen und wohl deshalb von den Herausgebern der Neidhart-Lieder als unecht angesehen wurden:45 Der

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GOLDIN (1962); BIRKHAN (1971); K AISER (1981); MÜCK (1986); Gaier (1976), S. 29–33; Lienert (1989); Wenzel (1999). GAIER (1976), S. 30. Gaier versucht, hinter die Geschichte des Spiegels im Liebesverhältnis des Sängers zu kommen, was den Texttypus seltsam verfehlt. Seine Deutung, der Spiegel sei »so ungemein wichtig, weil hier zum ersten Mal ein Mädchen nicht mehr zu ihm [dem Sänger] hält« (S. 32) basiert auf einer biographistischen Auffassung von Minnesang, wie sie in der Mediävistik seit den 1940er Jahren obsolet ist. âne golt ûz glanzer sîden [...] sîdenslaht (WL 23,V,9f.). Das spiegelglas im Schwertknauf soll der Geliebten als Spiegel dienen. Ich halte diese Herausgeberentscheidung für falsch. Mindestens sollte versucht werden, bei der Herstellung eines Liedes die Version einer Handschrift zugrunde zu legen, statt auszuwählen und nach Gusto zu kombinieren (zu den textkritischen Problemen: WEN-

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Spiegel der was von helfenbeine, wæhe, ergraben kleine,46 also fein und aus wertvollem Material gearbeitet und verziert; die kostbare Schnur stammt aus Irland, d. h. von weit her und war mit Tieren von rôtem golde bestickt.47 Jedenfalls herrscht trotz widersprüchlicher Details der Eindruck vor, es handele sich um einen sehr kostbaren Gegenstand: einen Lu xusartikel, der auf eine elitäre – höfische – Gesellschaft ver weist. Neidharts verworrene Anspielungen sind nur verständlich, wenn man im Spiegel das exklusive Requisit einer exklusiven Gesellschaft erkennt. Der Übergriff erfolgt in der scheinbar harmlosen Situation höfischer Minnewerbung. Dazu noch einmal ein Blick auf SL 22, das die ganze Banalität des Vorfalls ausbreitet. Friderun war die Geliebte des Sängers; er hat ihr einen wol getânen kranz verehrt (SL 22,II,8). Das könnte in den höfischen Kontext des Maitanzes gehören.48 Die folgende Strophe richtet sich eher an ein ländliches Gegenüber: stolze mägde, ir sult ein niuwez tîchen./ [...] tuot, als ich iuch lêre,/ strîchet iuwer kleider an! (III,3; 7f.); die Mädchen sollen sich zu einem ausgelassenen Tanz herrichten (stroufet ab die rîsen, IV,2), an dessen Spitze Friderun tanzt (Vriderûn als ein tocke/ spranc in ir reidem rocke/ bî der schar, IV,4–6), heimlich von Engelmar beobachtet (des nam anderthalben/ Engelmâr vil tougen war, IV,7f.). Jetzt verschiebt sich die Blick richtung,49 weg von Engelmar, wieder auf die Tanzszene allgemein, mit dem Sänger in der Mitte:50 Dô sich aller liebes/ gelîch begunde zweien,/ dô sold ich gesungen haben den reien (V,1–3). Doch dazu kommt es nicht: wan daz ich der stunde/ niht bescheiden kunde (V,4f.). Der Sänger bleibt aus der sumerwünne, die manegem herzen vreude gît (V,6f.) ausgeschlossen, und dies scheint auf den ›Raub‹ vorauszudeuten. Das ist auch Ausgangspunkt der folgenden Strophe. Die nochma lige Aufforderung, ›jetzt‹ vorzusingen (Nu heizent sî mich singen, VI,1),

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ZEL u. WENZEL [2000]). Es ist bei Neidhart durchaus denkbar, dass die Ver wirrung beabsichtigt ist (J.-D. MÜLLER [1986]). Besonders wirr und willkürlich ist die Herstellung des SL 22, die ursprünglich die Strophen VIa, VIb, VId und VIe ausschloss, die sich durchaus in der Neid hart-Handschrift R finden, die doch nach wie vor als die dem Autor nächste angesehen wird. Es ist ein unbefriedigender Kompromiss, sie jetzt, zusammen mit ›unechten‹ Strophen aus anderen Handschriften zur Strophenfolge VIa-e zu ordnen, die es so nirgends gegeben hat. Nach SL 22,VId 4f. = R 9. Nach SL 22,VIe 3–7 = R 10. Vgl. etwa Walther von der Vogelweide La 74,20, Nemt vrouwe disen kranz. Zu solch dauerndem Perspektivenwechsel vgl. J.-D. MÜLLER (2003a). In c ist auf Situationskohärenz geachtet: Erst nachdem der Tanz geordnet ist, schließt sich (als c 5) die Strophe mit der Kranzgabe des Sängers an (R 2 = II), ihr antwortet Engelmars Abwehr: Darumbe wil si aber/ Engelmâr vertriben (c 6; anders dagegen R 8: Engelmar will dort in, einen ungenannten Rivalen, vertreiben, den vriunt [VIa,7], der offenbar Friderun gegen Übergriffe schützt); daraus erwächst Frideruns Ärger über Engelmars Nachstellungen, auf die der Sänger mit dem Rat reagiert: Friderûn! fliuch gein Riuwental (c 7). Erst dann folgen die beiden Strophen, an deren Ende der Spiegelraub steht (V und VI = R 5 u. 6).

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wird zurückgewiesen: ich muoz ein hûs besorgen (VI,2). Die ratlose Frage wie sol ich gebâren (VI,4) scheint durch die rückblickende Klage begründet: Mirst an Engelmâren/ ungemach,/ daz er Vriderûnen/ ir spiegel von der sîten brach (VI,6–8). Dem schließen sich in R noch vier Strophen an, die um das Ereignis kreisen; die letzten beiden handeln vom Spiegel und seiner Gestalt, die ersten beiden von Engelmar und einem anderen, die Friderun belästigen (tuont ir leit, VIa,6), dazu von noch jemandem, bei dem Friderun großzügiger gewesen wäre (Sîner basen bruoder/ hiet sis wol erlâzen, VIa,1f.); auch von einem? (mehreren?) vriunt auf ihrer Seite ist die Rede, Gegnern offenbar des gemzinc Engelmar – das übliche Personengewirr.51 Fest steht nur: Engelmar übt gewalt (VIb,6; vgl. VId,7), und es gibt eine Parteiung mit unklaren Zugehörigkeiten. Damit erhält der scheinbar unbedeutende Vorfall eine grundsätzliche Dimension. Neidhart legt auf eine kohärente Narration augenscheinlich keinen Wert, sondern allein auf Umrisse eines Konfliktes: Der höfische Sänger wird aus der Mitte des Festes verdrängt; dort macht sich Engelmar breit (VIb,4–8), und das bedeutet gewalt. Von zwei Seiten ist das Fest gestört, durch die Daseinsfürsorge (hûssorge), die dem, der die höfischen Werte zu formulieren hätte, keine Muße gestattet, und durch den, der eigentlich nicht dazugehört, aber sofort seinen Vorteil aggressiv nutzt. Im Zentrum der entwendete Spiegel: Der het ir genomen/ in schimphe ein tockenwiegel/ daz hiet wir verklaget, niewan der spiegel (VId,1–3 [= R 9]). Wer ist Friderun? Das Opfer heißt die liebe Vriderûn; lieb heißt diejenige, ›die dazugehört zu uns‹. Das unterscheidet sie von den männlichen toerschen dörpern sonst: an der lieben Vriderûne huop ez Engelmar (WL 25,VII,12). Andererseits ist der Name mehrdeutig. Er enthält als zweiten Bestandteil das ominöse rûnen, heimliches und deshalb verbotenes Liebesgeflüster, wie es die regelgerechte Minnewerbung eigentlich ausschließt, das aber zum Ärger des Sängers mehr Erfolg bei den Frauen hat als höfischer Gesang.52 Hängt das Wegnehmen des Spiegels vielleicht damit zusammen, dass sie gar nicht die unberührbare Minneherrin ist? Friderun ist der Kristallisationspunkt eines Fehlverhaltens, das sich über sexuelle Aggression zu einer kosmischen Katastrophe auswächst. Auch andere Übergriffe der dörper haben erotische Konnotationen: der geraubte oder usurpierte Ring (WL 18,IV,1; WL 34,VIII,9), die zerrissenen Kleidungsstücke oder – in der Metaphorik am nächsten – der Schwertknauf, in dessen ›Spiegel‹ sich nach Willen eines dörpers das Mädchen ›ersehen‹ soll. Das scheint einen erotischen Akt der Hingabe zu meinen, den der Mann vom Mädchen erwartet

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Fügt auch der ihr – mit noch einem anderen – leit zu (VIa,6)? Oder bezieht sich er kan sich deheiner dinge mâzen (VIa,3) schon wieder auf Engelmar? Unklar ist auch der genaue Bezug zwischen den Strophen VIa und VIb. Bezieht sich si auf vriunt in der vorausgehenden Strophe, auf jene Instanz, die es dem anderen Belästiger nichts durchgehen lässt? (Plural oder Singular? Vgl. VIa,7f. und den Apparat zum Anschluss von VIb). J.-D. MÜLLER (1986), S. 445–447.

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(WL 16,III,10), den aber das Mädchen ver weigert (IV,1), denn: ich bekenne iuch niht an iuwer hövescheit sô kluogen (IV,4) und noch drastischer: liupper, heime ich noch hân guoter spiegel drî (IV,7): Wenn solch ein Spiegel gar nichts Einmaliges ist, wenn dörper-Mädchen mehrere davon haben, wie kann dann, ihn zu rauben, so schlimm sein? In jedem Fall scheint das Entreißen des Spiegels ein Akt gewaltsamer sexueller Bemächtigung. Es geht um mehr als um die Entwendung eines Galanterieartikels. Das ist der Spiegel zwar auch, so wie er auch als Glücksbringer verstanden werden kann, wenn mit seinem Verlust das Unglück einsetzt.53 Doch haben die Interpreten zu Recht auf die Bedeutung des Spiegels in der religiösen und ethischen Dida xe des Mittelalters verwiesen.54 Der Spiegel fängt das Bild einer idealen Ordnung auf und wirft es zurück; in ›Spiegel‹ betitelten Werken kann der Mensch sein Selbst, wie es ist und wie es sein sollte,55 erkennen, die Anforderungen, denen er zu genügen hat, wie die Fehler, die ihn verunstalten. ›Spiegel‹ ist daher eine verbreitete Metapher für lehrhaf te Literatur, die zur Angleichung des Selbst an das bessere Vorbild oder die Ausmerzung der im Gegenüber des Spiegels bemerkten Makel anleitet.56 Das Buch als Spiegel repräsentiert den Kosmos, die rechte Lebensordnung, das Recht (Rechtsspiegel wie der Sachsen-, Schwaben-, Deutschenspiegel). Die höfische Minnelyrik hat die Spiegelmetapher aufgenommen (etwa im Narzißmotiv). Die Liebenden spiegeln sich ineinander; im Bild der/ des Geliebten begegnet der/ die Liebende dem besseren Selbst; in Ulrichs von Zatzikoven ›Lanzelet‹ drückt sich die vollkommene Liebe zwischen Lanzelet und Iblis darin aus, dass beide im Spiegel statt des eigenen nur das Bild des anderen sehen.57 Insofern schließt Neidhart an eine lange Tradition an, wenn er im Sich-ineinander-spiegeln ein Minneverhältnis umschreibt. Der Spiegel fasst das Liebesverhältnis als visuelles. Der Verzicht auf Berührung ist Bedingung der Idealität.58 Doch kann auch über das Spiegelbild Gewalt geübt werden. Die Frau zwingen zu wollen, sich im Spiegel des Schwertknaufs – das Schwert als Metonymie der von den dörpern angemaßten virilen Potenz – zu betrachten (WL 16), ist ein Versuch, sich ihrer zu bemächtigen und wird deshalb anklagend zurückgewiesen. Das gleiche geschieht in Engelmars Spiegelraub. Engelmar ergreift den Spiegel nicht nur, sondern bricht ihn weg: Seine Tat ist ein Akt unkontrollierter und da-

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BOOR u. NEWALD (1965), S. 346; BIRK HAN (1971), S. 9; vgl. BÄCHTOLD-STÄUBLI u. HOFFMANN-K RAYER (1987), Sp. 569. Die ältere Literatur ist bei GRABES (1973) zusammengestellt; vgl. DERS. (1995). Zu dieser Doppelbedeutung der Spiegelmetapher BRADLEY (1954). Daher ist es so empörend, dass der dörper die Geliebte zwingt, in seinen Spiegel, den am Schwertknauf befestigten, zu blicken, denn damit wird sie auf ein schlechteres Bild ihrer selbst ver wiesen, der Spiegel also in malam partem gedeutet. V. 4914–4923. Dies scheint die Pointe in HEINRICHS VON MORUNGEN sog. ›Narzißlied‹ MF 145,1; hier 145,4: daz ez den spiegel gar zerbrach. DE

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her verpönter Rivalität.59 Dahinter steht auch das egoistische Liebesbegehren des Sängers, der sich von den dörpern ausgestochen sieht, im Grunde aber dasselbe will wie sie und sich beklagt, dass er seit Engelmars Übergriff keinen Erfolg mehr hat.60 jener Engelmâr, von des schulden bin ich grîs, der hiute noch den spiegel hât, den der dörper Vriderûnen von der sîten brach, von der zît immer sît warp ich nimmer mêre, ich enhiete ein niuwez herzeleit. (WL 32,V,5–11)

Unabhängig von sexueller Rivalität erhält der Vorfall aber darüberhinaus eine grundsätzliche Bedeutung, denn er richtet sich ›gegen uns‹, bedroht die Identität eines nicht näher spezifizierten Kollektivs. Der scheinbar wenig bedeutende Vorfall ist Symptom eines beschädigten Weltzustandes.

Vom Zwischenfall beim Tanz zur säkularen Katastrophe Es bleibt ein irritierendes Missverhältnis zwischen Anlass und Folgen. Neidhart spielt es unermüdlich aus. Engelmars Tat fehlt die Unabsichtlichkeit des bloßen Versehens – sie ist mehr als ein bloßer Fehltritt –, doch erscheint sie eben auch nicht als geplantes, in seinen verheerenden Folgen bewusst herbeigeführtes Verbrechen – eher könnte man im Sinne eines Faux-pas sagen: Er benimmt sich daneben. Das wird schimph genannt; in schimphe hat er Friderun auch ein tockenwiegel abgenommen (vgl. SL 22,VId,2), aber beim Spiegel ging er zu weit; der Spiegelraub ist ein übertriebener, daneben gegangener schimph: iuwers schimpfes was ze vil (WL 23,V,7). Die Wortbedeutung von schimph reicht von ›Scherz‹ bis zu ›Beleidigung‹, hat aber vor allem auch sexuelle Konnotationen; schimphen kann Synonym für Ge-

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Der Vers ich getuo ir einem sînes herzen küneginne alsam (WL 25,VII,15) deutet darauf hin, dass Friderun, ›mit der es Engelmar anfing‹, die vrouwe des Sängers ist und dass er sich an der vrouwe des anderen rächen will. Ähnlich sind wohl die Schlüsse der (als unecht gewerteten, doch in R und Cb überlieferten) Strophen SL 22,VIa,VId,8 (dâ von mir al mîn vreude swant) und VIe,8 (nie geschach sô leide mir) zu verstehen. Rivalität bei ›ihr‹ ist der stereotype Vor wurf gegen die dörper. Vgl. auch WL 23,IV,12f.: mîn gelücke ist wider sî [!] sô kleine./ von iuwern schulden hân ich disiu leit, her Engelmâr.

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schlechtsverkehr sein.61 Damit kann also wieder an die erotische Bedeutung des Vorfalls angeknüpft werden. Doch die Konsequenzen gehen noch weiter: beidiu laster unde schaden sî doch nie verkôs noch verkiesen niht enwil. iuwers schimpfes was ze vil. (WL 23,V,5–7)

Laster unde schaden – Ehrverlust und materielle Einbußen – sind Folgen von Fehdehandlungen. Engelmars Nachstellungen können in diesem Horizont als Hinterhalt ausgeben werden (daz er ir torste lâgen, SL 22,VIc,462). Friderun macht den Spiegelraub deshalb auch wie eine Fehdehandlung öf fentlich und klagt den Vorfall al ir mâgen (SL 22,VIc,5), wie man dies bei feindlichen Angriffen tut. Wie über ein Verbrechen erhebt sie öffentlich gerüefde, das den Rechtsbrecher zeichnet und die anderen zur Vergeltung aufruft.63 Die klage vor den mâgen setzt den Vorfall in Beziehung zu einem Rechtsbruch und den Prozeduren, mit denen man ihm begegnet. Allerdings entzieht sich, was geschehen ist, den üblichen Formen, Recht wiederherzustellen. Schon in R wird der Übergriff wie eine inkriminierte Fehdehandlung behandelt. Erst recht nennt die schwank hafte späte Nürnberger Handschrift c als Strafe für den entwendeten Spiegel, dass Engelmar ein Fuß abgehackt wurde, und das sei immer noch viel zu mild gewesen: jâ hât er mit dem fuoze, der im dô wart ab geslagen vergolten niht den spiegel breit, als er ze rehte solte [...], wan ez ist vil ungelîch dem, daz er den spiegel brach. (WL 22,IIe,7–10)

Abhacken von Gliedmaßen ist die Strafe für ein schweres Verbrechen, denkt man an ›spiegelnde‹ Strafen,64 dann ist es der ›Tänzer‹ Engelmar, der verstümmelt wird: der muoz nû ûf einer stelzen gân (IId,12). Aber rechtfertigt ein präpotentes und töl-

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Die bei Lexer II, Sp. 744–746 aufgeführten Bedeutungen von schimpf und seinen Ableitungen heben eher auf die harmlose Bedeutung von ›Scherz‹ u. ä. ab, doch ist an einer Reihe von Stellen der obszöne Nebensinn unübersehbar. Diese Strophe steht allerdings nur in Cb und c; die zitierte Formulierung findet sich allein in c, wo die angedeutete Konsequenz weitergedacht ist; in Cb steht stattdessen Gitorste ir ie ginahen, SL 22,VIc,4). Vgl. THUM (1980). In diesem Fall verschlimmert das gerüefde die Folgen; die Sanktion greift nicht: umbe den schal/ solt dû dich nu hüeten,/ Friderûn! fliuch gein Riuwental. (SL 22,VIc,6–8). Soll Friderun sich demnach, auf der Flucht vor öffentlichem Gerede, sich dem werbenden Sänger überantworten, also vor seiner Minnewerbung kapitulieren? Vgl. K AUFMANN (o. J.).

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pelhaftes Benehmen beim Tanz gleich die Amputation eines Fußes? Und muß die Verstümmelung sogar noch durch die Rache zweier anderer dörper am Übeltäter überboten werden?65 Gewiss sind das Übersteigerungen, die in der als autornächste angesehenen Handschrift R fehlen, wie ja überhaupt c immer wieder weit über den alten Strophenbestand hinausgeht. Trotzdem wird in diesen Strophen nur ausspekuliert, was auch im R-Corpus angelegt ist. All die vielen Einzelheiten dörperlichen Fehlverhaltens, die die Lieder unablässig bejammern, sind Manifestationen einer und desselben Katastrophe, die darin besteht, dass dörper Minnewerbung zu spielen vorgeben und immer wieder fürchterlich danebengreifen. Neidhart spielt mit dem Missverhältnis zwischen Anlass und Vergeltung. So nehmen die Folgen des Spiegelraubs die apoka lyptischen Folgen einer Zeitenwende an und werden zum Maßstab, an dem alle anderen Unverschämtheiten der dörper gemessen werden: Diese kommen dem Spiegelraub gleich,66 oder sie überbieten ihn:67 nu ist in allen landen niht wan trûren unde klagen, sît der ungevüege dörper Engelmâr der vil lieben Vriderûne ir spiegel nam. Dô begunde trûren vreude ûz al den landen jagen daz si gar verswant. mit der vreude wart versant zuht und êre; disiu drî sît leider niemen vant. (WL 34,V,3–9).

Mit vreude ist der Kernbegriff höfischer Ordnung schlechthin genannt:68 Die kollektive Harmonie höfischer Freude ist zerstört, und zwar überall; mit der Freude verschwindet zuht als Inbegriff höfisch-kontrollierten Verhaltens, und damit ist dann auch êre, nicht etwa, wie von bürgerlicher Sexualmoral her gesehen, scheinen möchte, die Ehre der beleidigten Frau, sondern das Selbstwertgefühl jedes einzelnen aus dem werden ingesinde und damit der höfischen Gesellschaft insgesamt, zerstört. Daher die pathetische Engführung von höfischer Freude und Spiegelraub: Vrômuot ist ûz Osterrîche entrunnen: wir mugen uns ir und Vriderûnen wol verkunnen. (SL 27,VIII,1f.).

›Wir müssen auf sie und den Spiegel die Hoffnung aufgeben, auf beide verzichten‹.69 Das ganz Große und das ganz Kleine sind nur zwei Seiten derselben Katastrophe.

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Hildebolt und mîn her Amelrîch/ Friderûn an Engelmâren rach (WL 22,IIe,11f., nach c). WL 26,V,8; WL 31,VII,13; allgemeiner als Bezugspunkt WL 15,II,2; WL 18,IV,1; V,10. WL 20,II,11; WL 24,V,3f.; WL 27,V,9; WL 30,VIII,5; vgl. WL 14,II,10; WL 33,V,11f. EROMS (1970). Das Verb verkunnen ist hier wohl reflexiv konstruiert mit Genitiv der Sache.

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›Wenn jemand sie (Vromuot?) uns wiederbrächte ...‹- nur dann könnte man den Spiegel verschmerzen: den spiegel solte wir verklagen, Vrômuot ûf den handen tragen, dies uns her wider gewunnen (SL 27,VIII,3–5)

Der Riuwentaler steht mit seinem Unglück bei der Geliebten – mit Friderun falsch besetzt – für die höfische Gesellschaft insgesamt, denn der Spiegelraub betrifft alle.70 Der Bruch der höfischen Ordnung bedeutet Chaos überhaupt: Sît von iuwern Vriderûn den spiegel vlôs, sô ist unbildes vil geschehen (des genuoge müezen jehen), dazs in hundert jâren nie sô vil dâ von geschach. (WL 23,V,1–4)

Von solchem, ›seit Menschengedenken unerhörten‹, nämlich ›seit 100 Jahren unbekanntem‹ Unglück handelt auch Neidharts Zeitklage in seinen religiös gefärbten Liedern, und über die Allegorie der Vromuot ist auch die politische Zeitklage mit diesem verknüpft: Vrômuot vert in trûren nu von lande hin ze lande (WL 29,II,1, nach R) und: Si hât mit versuochen elliu tiutschiu lant durch wallen/ dazs eht leider niemen gar in ganzen vröuden vant (WL 29,III,1f.). Die abwesende Vromuot zurückholen kann nur einer, der Landesfürst. Religiöse, politische und höfische Ordnung hängen voneinander ab. Daher der dauernde Wechsel von einem zum anderen: Ein militärisches Aufgebot des Landesfürsten, das sich auch aus – grundsätzlich nicht zum Waf fentragen berechtigten – dörpern rekrutiert, also die Ständeordnung gefährdet, ist nur ein Fall unter vielen Usurpationen adliger Prärogative, der zeigt, wohin es führt, wenn sich dörper so kleiden und frisieren, wie sie es tun. Engelmar überschreitet beim Tanz die Grenzen, die dem schimph beim Fest gezogen sind, und er gefährdet so die vreude als Inbegriff einer befriedeten Sozialität. Ein Verbrechen ist das kaum. Wenn er aber solch schwerwiegende Folgen an den Vorfall knüpft, dann unterstreicht Neidhart, dass die höfische Ordnung von kleinen Dingen abhängt, von dezenten Kleidern (nicht zinzerlîch, WL 30,IX,1), angemessenem Sprechen (nicht snabelræze, WL 26,V,6 noch in falschem Flämisch), kontrolliertem gebâren (nicht tretzig unde hoenic, WL 15,II,3), sich auch beim Tanz schön bewegen (nicht oedeclîch, WL 20,II,4). Das Sündenregister eines Madelwig stellt alles auf einer Ebene: ungemach (WL 26,V,1), ungenâde (V,2), ungevüege (V,3), schließlich ungelimph (V,9). Die Antwort sind nicht (wie das bei Verbrechen

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In c wird das ausgesprochen: WL 22,IId,4: der uns [!] Friderûne gewaltiklîche den spiegel nam; IIe, 2: daz sul wir wol verklagen. In WL 29,IVb,1f. (nur in C und c) sind es die dorf knappen insgesamt, die hânt mir an Friderûnen leides vil getân; vgl. oben zur lieben Friderun.

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oder Sünde doch sein müsste) äußere Sanktionen, sondern scham (V,9). Scham empfindet man für einen anderen, wenn er eine Peinlichkeit begeht. Man darf also auch für Frideruns scheinbar harmlosen Verlust eine ernsthafte Hintergrundsmetaphorik voraussetzen, die den Spiegel zum Zeichen einer intakten Ordnung macht, deren Symbol Engelmar nimmt, zerreißt, wegbricht,71 und muss den Spiegel doch als höfisches Requisit ernst nehmen, an dem sich zeigt, wer dazugehört und wer nicht. In diesem Kontext ist er mehr als ein luxuriöser Gebrauchsgegenstand, ein elegantes Utensil, das nicht in die Hand eines Engelmar gehört, und mehr auch als Symbol kosmischer Ordnung. Es ist gerade die scheinbare Geringfügigkeit, die den Spiegel zum Zeichen einer aus den Fugen gegangenen Welt qualifiziert. Nicht obwohl, sondern gerade weil der Vorfall so bedeutungslos scheint,72 ist er symptomatisch für den Zerfall einer höfischen Ordnung, die auf der kleinen Differenz basiert. Überspringt man diese Geringfügigkeit meist gleich zugunsten der allegorischen Bedeutung von ›Spiegel‹, dann bringt man die Eigenart dieser Ordnung zum Verschwinden. Selbst wenn man annimmt, dass einem aufgeschlossenen mittelalterlichen Hörer jene Bildtradition geläufig war, wird auch für ihn auffälligerweise von jener Tradition abgelenkt, hin auf ein Ärgernis erregendes, doch letztlich triviales Geschehen, das mit dem Pathos der Zeitenwende reichlich belastet ist.

Mittelalterliche Hofgesellschaft und Fehltritt Wie bei Frideruns Spiegel hat man in den Elementen dörperlichen Fehlverhaltens und Geschmacksverirrungen bloße Symptome sehen wollen, Chiffrierungen eines tiefgreifenden politischen Konfliktes, der sich zwischen aufstiegsorientierten Bauern und abstiegsbedrohtem Landadel zugespitzt habe.73 Dass es im Österreich des 13. Jahrhunderts derartige Konflikte gab, soll gar nicht bestritten werden. Literarische Texte – der ›Meier Helmbrecht‹ oder ›Seifried Helbling‹ – spielen darauf an. Auch Neidhart greift – etwa mit der Bewaffnung der dörper – die entsprechenden Reizthemen auf. Doch argumentieren seine Lieder in den seltensten Fällen auf der Ebene politischer Auseinandersetzungen, sondern mit der Verletzung höfischer Interaktionsregeln. 71 72

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NAUMANN (1932); er meint, dass das Requisit beliebig ist (S. 298). Gaier (1976) bemerkt, syntaktisch ein wenig verrutscht: »Der Spiegel hat also wahrscheinlich nicht als zeichenhaftes Objekt das Gewicht, das erforderlich wäre, um einen derartigen Aufwand an Gefühlserregung aufzuwiegen« (S. 31). Dies dominiert vor allem in der älteren Neidhartforschung (zum Hintergrund SCHINDELE [1975]). Vor allem sozialge schichtlich interessierte Untersuchungen identifi zierten in den dörpern aufstiegswillige Bauern, deren Prätention vor allem den niederen Adel in Österreich oder Bayern bedrohte (vgl. etwa, frühere Ergebnisse zusammenfassend, GILOY-HIRTZ [1982]).

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Diese Strategie wird in den meisten Neidhart-Deutungen vernachlässigt. Man ersetzt den – in den Augen des modernen Interpreten – marginalen Fauxpas durch den nachvollziehbaren politischen Antagonismus, räumt jenem bestenfalls allegorische Zeichenfunktion ein. Damit verlässt man den Horizont einer höfischen Welt und ihrer Werthierarchien, denn eine höfische Ordnung scheint in diesem Punkt nicht zwischen ›Nebensächlichem‹ und ›Wichtigem‹, zwischen ›Oberfläche‹ und ›darunter eigentlich Verborgenem‹ zu unterscheiden. Neidhart geht es um die Oberfläche, und da erscheint als Fehltritt, was sehr viel ernstere Konsequenzen hat, und eine Geschmacksverirrung ist nur ein erster Schritt auf abschüssiger Bahn. Was für die politisch-sozialen Verhältnisse gilt, gilt auch für das Geschlechterverhältnis. Die dörperlichen Fehlgriffe sind nicht nur Zeichen für die Korruption jener Geschlechterordnung, die der höfische Frauendienst eben erst zu etablieren versucht hat. Gewiss lassen sich Neidharts Lieder als satirische Darstellung (im höfischen Sinne) ›falscher‹ Geschlechterbeziehungen verstehen, die das hochgespannte höfische Minneideal desavouieren. Deshalb wird als Kern dörperlichen Potenzgehabes immer wieder Aggression gegen Frauen herausgehoben: sich vor- und herandrängen, alle übertönen, berühren, betasten bis hin zu jenem von der Forschung schamvoll umschriebenen ›kühnen Griff‹: zur Attacke auf die weiblichen Genitalien und zu ähnlichen metaphorisch kaum verhüllten Vergewaltigungsphantasien.74 Aber auch hier ist für Neidhart typisch, dass zwischen harmloseren und brutal-direkten Übergriffen gar nicht unterschieden wird, das eine in das andere übergeht. Die dominierenden Ansätze der Neidhart-Forschung – der politische wie der auf den Geschlechterkampf bezogene – tendieren dazu, die manifesten Verstöße gegen die Herrschafts- und Ständeordnung, gegen das Recht und gegen die Sexualmoral auf Kosten jener kleineren Vergehen, der Geschmacklosigkeiten, Ungeschicklichkeiten, Tölpeleien und Ungezogenheiten, in den Vordergrund zu rücken, die kleineren geradezu als Verschlüsselung jener wichtigeren zu deren Interpretation zu benutzen. Das entspricht den Werthierarchien der neuzeitlich-bürgerlichen Welt, nicht aber einem elitären höfischen Verhaltenskodex. Bei Neidhart gibt es keine scharf gezogene Trennlinie zwischen Verbrechen und Fauxpas. Dauernd wechseln die Lieder zwischen umfassender Zeitkritik und Klage über den Zustand der Welt und Gejammere über diesen oder jenen dörper und seine Albernheiten. Für eine höfische Ordnung ist das eine so wenig gleichgültig wie das andere; Neidhart führt Reflexion politisch-gesellschaftlicher Ordnung unter der Bedingung eines höfischen Codes vor, und das heißt als inszenierte Aufregung über Interaktionsverstöße. Darin steht er nicht allein, es scheint sich um ein Grundmuster höfischer Entwürfe zu handeln, nicht erst im Frank reich des 17. Jahrhunderts. Zu erinnern ist

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Solche Verhaltensweisen sind in Neidharts Liedern bekanntlich nicht auf die dörper beschränkt, sondern betreffen auch den Riuwentaler als selbsternannten Repräsentanten feinerer Sitten.

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an Ulrich von Liechtenstein, der den Ausbruch politischer Konflikte um den Herzog Friedrich den Streitbaren als Störung höfischer Freude bei einem Artusturnier erzählt und im Schlussteil seines ›Frauendienstes‹ eine scharfe Trennlinie zwischen der Welt höfischen Minnewerbens und der politisch-militärischen Handelns zieht.75 Oder – um dieses Beispiel nochmals zu nennen – Konrads von Würzburg ›Engelhard‹, bei dem die Befähigung zu höfische Freundschaft am kunstgerechten Teilen eines Apfels abgelesen werden kann.76 Bei Neidhart ist es der Spiegelraub, der in einem doppelten Bezugssystem steht, in dem er Fauxpas zugleich und Signum der Zeitenwende sein kann. Der Spiegelraub ist als Minimalverfehlung das Todesurteil über eine (höfische) Gesellschaft, die sich über Minimaldifferenzen herstellt. Er ist so verhängnisvoll, eben weil er so lächerlich und nichtig scheint. Dass da hinter – wie bei der Krise des Artusromans – eine Metaphorik des Spiegels steht, die dem Vorfall exemplarische Bedeutung zuweist, soll gar nicht bestritten werden. Entscheidend ist nämlich, dass diese Metaphorik von Neidhart nicht ausgespielt wird und latent bleibt.

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J.-D. MÜLLER (1984a). Vgl. J.-D. MÜLLER (1984/85).

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Visualität, Geste, Schrift Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik

I. In den letzten Jahren hat die Mediävistik die Bedeutung non-verbaler Kommunikation entdeckt. Das gilt für die Geschichtswissenschaft ebenso wie für die Kunstund Literaturwissenschaften. Gegenstände der Forschung sind seitdem Memorialzeichen, Kleidercodes, Gesten, Inszenierungen von Körpern, Rituale usw. In der mittelalterlichen ›Kultur der Sichtbarkeit‹ übernehmen sie einen Teil der Aufgaben, die in den neuzeitlichen Kulturen das gesprochene und vor allem das geschriebene Wort erfüllen. ›Lesbar‹ ist die orale Laienkultur, indem man andere als sprachliche Zeichen entziffert. Eine mediävistische Kulturwissenschaft kann sich deshalb nicht mit der Entschlüsselung und Deutung schriftlicher Überlieferung zufriedengeben. So hat – um nur wenige Untersuchungen zu nennen – Gerd Althoff politische Rituale wie deditio, satisfactio o.ä. als komplizierte Inszenierungen vertraglicher Abmachungen interpretiert, wie sie in einer literarisierten Gesellschaft in umfangreichen Verträgen niedergelegt werden. Jean Claude Schmitt hat die kalkulierte Bedeutung, die ›Logik‹ – oder französisch: die ›raison‹ – von Gesten vor allem an Kathedralplastiken untersucht. Horst Wenzel hat Kleider, Körperhaltungen, Bewegungsabläufe, Handlungen, wie sie z.B. in höfischer Epik beschrieben werden, als nicht-schriftvermittelte Sozialisationsprogramme gedeutet. Weitere Namen ließen sich anfügen.1 Die gemeinsame Basis dieser Untersuchungen ist die Erkenntnis, dass es sich bei jenen sichtbaren Phänomenen – Körpern, Bildern, Gegenständen, Bewegungen usw. – um Träger von Bedeutung handelt, um Elemente komplexer Zeichenordnungen, dass also die Körper und die gegenständliche Realität besondere Medien von Kommunikation sind, einer Kommunikation, die die sprachliche ergänzt oder ersetzt und in einer noch nicht voll litteraten Laiengesellschaft weithin an die Stelle der randständigen schriftlichen Kommunikation tritt. All jene Zeichen ›bedeuten‹, senden Botschaften aus, vermitteln Sinn, stehen also für etwas anderes als sie selbst, und dieses andere muss an ihnen abgelesen werden. Die dafür beigebrachten Beispiele und die an ihnen vorgenommenen Analysen sind so überzeugend, dass man zu recht von einem neu- oder wiederentdeckten Sektor mittelalterlicher Kultur sprechen kann, ohne den deren Erkenntnis unvollständig bliebe.

1

A LTHOFF (1997, mehrere ältere Studien zusammenfassend); J.-C. SCHMITT (1992); WENZEL (1995).

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Allerdings, wie bei allen neu entdeckten Paradigmen, dachte man über die Reichweite des Entdeckten erst später nach, galt es doch zunächst einmal das zuvor unbekannte Bedeutungspotential zu sichern. Doch stellt sich die Frage früher oder später, wie differenziert jene nicht-sprachlichen Zeichenordnungen sind, wie sie sich zu sprachlichen verhalten, wie vollständig sie die sichtbare Realität organisieren und in welchem Umfang die visuelle Kultur bedeutungsbesetzt ist.2 Aus dem Umstand, dass in weit höherem Maße als in der neuzeitlichen Kultur Bedeutung visuell, d. h. über Gegenstände, Bilder, Bewegungsabläufe usw. und nicht über Schriftzeichen vermittelt wird, folgt ja nicht, dass Visuelles generell Bedeutung transportiert, und vor allem nicht, dass dies mit der gleichen Dichte und Differenziertheit wie beim symbolischen Zeichengebrauch geschieht. Das Problem wird dringlich, nachdem ein Aufsatz von Silke Philipowski die Zeichenhaftigkeit der visuellen Realität in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Wenzel (1995) und seiner Schule an einem zentralen Punkt in Frage gestellt hat, nämlich in Bezug auf Gesten in mittelalterlicher Literatur.3 In Gesten bringe sich, so Philipowski, der Körper unmittelbar zur Geltung und sei insofern nicht Medium von Zeichenproduktion. Gesten würden also nicht als Zeichen für etwas anderes gebraucht, sondern seien nichts als sie selbst. Sie ›bedeuten‹ nicht, sie ›sind‹. Der Körper ›re-präsentiert‹ nicht, er ist reine Präsenz. Indem sich Philipowski entschieden gegen eine semiotische Auffassung des Visuellen wendet, macht sie indirekt darauf aufmerksam, dass die aktuellen Konzeptionen von Visualität dieser ein differentielles Moment zuschreiben, das sie mit Sprache verbindet und mit Sprache vergleichbar macht. Bei Philipowski scheint im Hintergrund ein romantizistisches Epiphanie-Phantasma zu stehen, wie es auch einige Arbeiten Peter Czer winskis kennzeichnet: Man glaubt im Mittelalter in der Präsenz des Körpers (in den ›vollen Körpern‹) eine verlorene Unmittelbarkeit zu finden, nicht zersetzt von der Differentialität der Schrift, vor dem Sündenfall der Dissoziation von ›Zeichen‹ und ›Bezeichnetem‹, von ›Geist‹ und ›Materie‹, und entsprechend schreibt man dem Mittelalter eine radikale Alterität zu.4 Doch nicht um die Kritik dieser Position soll es hier gehen, sondern um einige Probleme der Lesbarkeit des Visuellen, die Philipowski eher nebenbei berührt, nämlich inwieweit man von

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Hierzu vgl. J.-D. MÜLLER (2005). PHILIPOWSKI (2000). Philipowski folgt in den Grundzügen ihrem Lehrer CZERWINSKI (1989). Vgl. meine Rezension zu CZERWINSKI (1989) in PBB 114 (1992), S. 509–515. – Was Philipowski ein wenig idiosynkratisch ›Gesten‹ nennt, hieße richtiger Manifestationen des Körpers. Diese sollen nicht in die hergebrachten Schemata der abendländischen Metaphysik gepresst werden, in die fragwürdige Opposition von Innen und Außen, von ›Hülle‹ und Seele‹, von Körper und einer diesen agierenden Person usw. (PHILIPOWSKI [2000], S. 477). Letztlich geht es Philipowski also um etwas anderes als die Deutung von ›Gesten‹. Darüber, dass jene Relationen von denen in der Moderne abweichen, wird man sich rasch verständigen, ohne die übrigen Schlussfolgerungen übernehmen zu müssen.

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einer ›Codierung‹ der sichtbaren Welt sprechen kann, auf Grund welcher Kriterien man Gesten und – allgemeiner – Körperzeichen in einer Kultur der Visualität Zeichenhaf tigkeit zuschreiben darf und in welchem Verhältnis diese zum sprachlichen Zeichengebrauch steht und diesen supplementiert. Indem Philipowski den Gesten ihren Zeichencharakter bestreitet, macht sie auf kulturspezifische Grenzen einer Kultur der Visualität aufmerksam. Ich bin mir bewusst, dass der Kulturbegriff – in Opposition zu ›Natur‹5 – eine neuzeitliche Prägung ist, die das Mittelalter nicht kennt. Er soll hier deshalb nur als Abkürzung für komplexe Sachzusammenhänge und unbelastet von neuzeitlichen Konnotationen verwendet werden. Unter ›Kultur‹ verstehe ich nutritura als Inbegriff der durch Sozialisation – zwischen bewusster Erziehung und unbewusst nachahmender Aneignung – erworbenen konventionalisierten Eigenschaften und Fertigkeiten, auf die man handelnd-sich-verhaltend zurückgreifen kann. Offensichtlich setzt die Lektüre des visuell Wahrnehmbaren eine solche Sozialisation voraus.

II. Einleitend grenzt Philipowski einen bestimmten Typus von Gesten aus, indem sie, der anthropologischen Forschung folgend, zwischen symbolischen und ikonischen Gesten unterscheidet. Die symbolischen sind kulturspezifisch und werden deshalb in bestimmten Kulturen eingeübt und nur dort verstanden; die ikonischen dagegen sind universal.6 Diesen Gegensatz muss man freilich als polaren, nicht kontradiktorischen verstehen; man wird also mit Skalierungen rechnen müssen. Es gibt bei beiden Typen unterschiedliche Reichweiten von Verständlichkeit. Die Handbewegung, die zum Sitzen einlädt – Philipowskis Beispiel7 –, mag in gegenwärtigen Kulturen universal scheinen, doch setzt sie Konventionen voraus (mögen diese in der heutigen Welt auch allgemein gelten), ohne die sie unverständlich wäre. Anderes dürfte weniger kulturabhängig sein, etwa das Gewaltlosigkeit signalisierende Lächeln bei der Begrüßung (das allerdings auf anderen Stufen der Evolution geradezu die entgegengesetzte Bedeutung haben kann, wenn man der Verhaltensforschung folgt). ›Universal‹ wäre das Lächeln, bei dem die 5

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›Natur‹ meint, Grubmüllers begriffsgeschichtlicher Untersuchung zufolge, die Kräfte, die in der Schöpfungsordnung ein Wesen gemäß göttlichem Schöpfungsauftrag in seinem So-sein bestimmen, sein Verhalten steuern und die seiner Willkür entzogen sind; ›Kultur‹ wäre dann alles lernend Erworbene (lat. nutritura), vgl. GRUBMÜLLER (1999) – Eine klare Abgrenzung ist natürlich schwierig, insofern es keine natura des Menschen gibt, die nicht schon – wie minimal auch immer – kulturell geprägt ist, und weil insofern jede nutritura an einem ihr vorausliegenden weniger geformten Zustand ansetzen muss. Nach GEBAUER u. WULF (1998), S. 301; vgl. PHILIPOWSKI (2000), S. 458. PHILIPOWSKI (2000), S. 458.

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Zähne entblößt werden, also nur für einen bestimmten Evolutionstypus, vielleicht denjenigen, in dem sich die Gattung Mensch von der Gattung Tier getrennt hat. Insofern sind gerade die Zwischenstufen für die Deutung der visuellen Kultur des Mittelalters interessant. Philipowski konzentriert sich auf den ikonischen Typus; den symbolischen Gesten gesteht sie selbstverständlich den Charakter bewussten Zeichengebrauchs zu. Sie fasst sie als ›Inszenierungen‹ auf, so dass ›Inszenierung‹ der Gegenbegriff zu ›Geste‹ in ihrem Sinne wird: Die ›Inszenierung‹ setzt den Körper bewusst zur Vermittlung einer Botschaft ein; sie kann deshalb lügen, was für ›Gesten‹ ausgeschlossen ist. Den Begriff der Geste fasst Philipowski sehr weit. Sie nennt so die äußere körperliche Gestalt (als stark, schön, adelig usw.), die durch schlechte Gewänder durchscheinende Schönheit Enites, Markierungen des Körpers (wie z. B. eine Narbe), alle Arten von Körperzeichen, von unwillkürlichen Reaktionen wie Erröten bis zum mimischen Ausdruck von Emotionen, endlich alle vom Körper ausgeführte Bewegungen wie z. B. Hagens Schwertgeste.8 Als Extremfall rechnet sie zu den Gesten sogar das Bluten der Wunden eines Leichnams. Die unter ›ikonische Gesten‹ verbuchten Phänomene sind also äußerst ungleichartig und im Einzelfall schwerlich trennscharf von ›symbolischen‹ Inszenierungen abgrenzbar. Gemeinsam ist allen nur die sichtbare Äußerung von Körpern. Gerade diese Allgemeinheit macht aber darauf aufmerksam, dass das Phänomen der Sichtbarkeit allein bei weitem nicht ausreicht, diesen Typus nonverbaler Zeichenpraxis zu bestimmen. Philipowski hat sicherlich Recht, dass Sichtbares nur z. T. und nur unter bestimmten Bedingungen sprachanalog ›gelesen‹ werden kann. Bei der ›Lesbarkeit‹ des Visuellen handelt es sich um komplexe Überlagerungen von Zeichenordnungen und Zeichengebrauch. Von A-Semantizität und Semantisierung kann man immer nur in Bezug auf bestimmte Beobachter sprechen. Solche zeichentheoretischen Aspekte sind in der Diskussion um Visualität im Allgemeinen und Gestik im Besonderen bisher vernachlässigt worden. Ihre Untersuchung erweist, dass weder die Annahme einer durchgängigen Semiotisierung des Visuellen noch deren grundsätzliche Bestreitung haltbar ist. Dass Philipowskis Gegenüberstellung zu einfach ist, zeigt sich schon im Blick auf die Augustinische Zeichentheorie.9 Augustinus unterscheidet bekanntlich zwischen ›natürlichen‹ und ›willkürlich gegebenen‹ Zeichen (der Rauch, der auf Feuer 8

9

Die Unterscheidung ›intentional‹ – ›nicht-intentional‹ will Philipowski nicht treffen; sie erklärt die Unterscheidung für irrelevant (ebd., S. 462). ›Intentional‹ würde in der Tat Bewusstseinsakte voraussetzen, die die behauptete unvermittelte Präsenz des Körpers zerstören müssten. Der Verzicht ist gewiss pragmatisch sinnvoll – wo wollte man Kriterien dafür hernehmen, was an den Reaktionen literarischer Figuren absichtlich oder nicht ist? –, doch spricht das keineswegs gegen die systematische Notwendigkeit zwischen willkürlich steuerbaren und unwillkürlich sich einstellenden Körper zeichen zu unterscheiden. Vgl. die Zusammenfassung bei C. HUBER (1977), S. 6–21.

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verweist; das Wort, das einen Gegenstand bezeichnet). Der erste Typus, die sog. indexalischen Zeichen, sind Zeichen nur, wenn sie gelesen werden: Das Feuer brennt und raucht, auch wenn niemand es bemerkt und daraus seine Schlüsse zieht; es ist einfach da. Symbolische Zeichen dagegen bedeuten immer, auch wenn niemand sie versteht, insofern sie nämlich darauf zielen, ›gelesen‹ zu werden. Philipowski scheint ikonische Gesten in Analogie zu indexalischen Zeichen aufzufassen. Doch schon Augustinus’ Gegenüberstellung von indexalischen und symbolischen Zeichen umschreibt einen polaren, nicht einen kontradiktorischen Gegensatz. Das betrifft vor allem indexalische Zeichen, die vom menschlichen Körper ausgehen. Ein Schrei z. B. kann unwillkürliche Reaktion auf einen Schmerz sein, dessen hörbare Erscheinungsform; er weist für einen Ohrenzeugen auf diesen Schmerz wie der Rauch aufs Feuer. Aber er ist meist nicht bloßes Symptom des Schmerzes, sondern kann ihn mehr oder weniger deutlich und bewusst spezifizieren: als Wut, als hilfloses Leiden, als scheiternden Versuch der Selbstbeherrschung usw. Schließlich kann er mittels Sprache und begleitender Gestik in komplexere Artikulationsformen eingebettet werden, ins Ritual etwa, das ihn ausstellt, oder in einen rhetorisierten Planctus, der ihn modelliert. Das für Sprache konstitutive Merkmal der Arbitrarität ist in diesen Fällen unterschiedlich ausgeprägt. Momente von Arbitrarität sind bei Körperzeichen nie vollständig ausgeschlossen.10 So wie es in der Sprache zwar schwache, aber doch erkennbare Elemente motivierten, nicht-arbiträren Zeichengebrauchs gibt, so sind nicht alle Körperzeichen prinzipiell nicht-arbiträr, vielmehr nimmt von nicht-gestischen Körperzeichen über die ikonischen Gesten hin zu symbolischen ›Inszenierungen‹ der Anteil an Arbitrarität sukzessive zu. Um es an zwei Extremen zu verdeutlichen: Die Falten auf dem Gesicht sind kein arbiträres Zeichen für Alter, sondern dessen Erscheinungsform. Dagegen ist es eine arbiträre Setzung der mittelalterlichen Adelskultur, dass der Zügeldienst, den ein Mann einem anderen leistet, eine Aussage über den ständischen Rang der beiden machen kann und dass daraus Konsequenzen für soziales Handeln abzuleiten sind. Phänomene wie körperliche Spuren des Verfalls, Markierungen des Körpers wie Narben, körperliche Zeichen der Verwahrlosung und dadurch Entfremdung von der angeborenen Identität (Iweins und anderer Wahnsinn), Bewegungsabläufe beim Grußritual oder ausdrück lich vorgeführte Körperkonfigurationen können (müssen aber nicht) alle als Zeichen verstanden werden, doch in ganz unterschiedlichem Sinn und von unterschiedlichen Zeichenbenutzern. Wesentlich ist dabei erstens die Unterscheidung zwischen Beobachter und Beobachtetem.11 Der Beobachter kann (muss aber nicht) alle Erscheinungsweisen des

10 11

Diesen Eindruck erweckt PHILIPOWSKI (2000), S. 458. Man könnte sagen, dass PHILIPOWSKI (2000) die Perspektive des Beobachteten verabsolutiert, dessen Körperreaktionen nicht als Zeichen für etwas anderes ›ausgesendet‹ werden, sondern die nichts als sie selbst sind (vgl. aber S. 462: »Die Geste ist eine Botschaft [...]«; S. 477: »zeigt«), während die von ihr kritisierten Überlegungen WENZELS (1995)

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Körpers, von den Spuren des Alters über Narben und unwillkürliche Affektäußerungen bis zu willkürlich ausgeführten Handlungen als Zeichen lesen. Das aber heißt noch nicht, dass sie vom Beobachteten als Zeichen gesetzt sind. Zu Zeichen werden sie erst, indem jemand sie als Zeichen auffasst: Eine unauffällige Besonderheit am Körper wird erst in medizinischer Diagnose zum ›Symptom‹. Erst dann ist sie ›Zeichen‹. Die in der Forschung zum Problem der Visualität übliche Rede von der ›Codierung‹ der sichtbaren Welt überspielt diese Differenz: Was ich an meinem zornigen Gegenüber als ›Zorn‹ decodiere, muss von diesem nicht encodiert sein. Im Gegenteil kann er alle Anzeichen des Zorns zu dissimulieren und sich den Anschein von Gleichgültigkeit zu geben suchen (und damit scheitern, weil ›sich‹, wie man zu sagen pflegt, der Zorn unwillkürlich doch auf seinem Gesicht ›malt‹). Das gilt a forteriori von anderen Dingen, die am Körper sichtbar werden, wie Alter, Krank heit, selbst von einer Narbe, die jemanden ›zeichnet‹. Um bei diesem Fall zu bleiben: die Narbe zeigt, je nach Perspektive, Unterschiedliches an: Narben sind zunächst einmal insignifikante Körpermale, die auf eine frühere Verletzung der Haut deuten; dies gilt ganz allgemein. Im Mittelalter können bestimmte Narben (beileibe nicht alle) – vage und uneindeutig – Zeichen der Zugehörigkeit zu den milites, der adligen Kriegergesellschaft, sein. Sie können drittens, wenn es sich um besondere Narben handelt, zur Identifikation ihres Trägers dienen – wie bei Willehalm ›mit der kurzen Nase‹ –, können also die Funktion von Eigennamen übernehmen. Gyburc erkennt Willehalm an der Narbe (und nicht an der Stimme), weil die Narbe den unbekannten Menschen, den sie wahrnimmt, als den besonderen adligen Helden Willehalm kenntlich macht. Ein ›Zeichen‹ ist die Narbe, indem jemand sie in der einen oder anderen Hinsicht entziffert. Doch kann man schwerlich von einem Narben-Code sprechen.12 Auch in einer Kultur der Visualität, deren Teilnehmer sich überwiegend nicht über Schrift (wohl allerdings, was man nicht vergessen sollte, mittels Sprache!), sondern über Bilder, Gesten, Gegenstände und dgl. verständigen, ist nicht notwendig alles Sichtbare Zeichen, und was für die einen Zeichen ist, ist es nicht für die anderen. Zweifellos ist Sichtbares stärker mit Bedeutung aufgeladen als in den modernen Schriftkulturen, doch ist die sichtbare Welt nie vollständig semiotisiert (und – nebenbei – auch nie vollständig semiotisierbar), denn für die Teilnehmer ist sie zuvörderst nicht Medium von Kommunikation, sondern begegnet ihnen in ihrer schieren Materialität als Rahmen ihrer gesellschaftlichen Praxis. Insofern warnt Philipowski zu Recht davor, die sichtbaren Körperreaktionen durchweg als ›gestisch‹ zu verstehen, d. h. sie gewissermaßen durchweg unter Zeichenverdacht zu

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sich primär an der Beobachter-Perspektive orientieren, indem sie von einer universellen Lesbarkeit ausgehen. Vgl. PHILIPOWSKI (2000), S. 474. Auch die Bezeichnung »Narbenschrift« (Urban Küsters) gilt – hat man nicht einen Fall wie Kafkas ›Strafkolonie‹ im Auge – nur metaphorisch.

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stellen. Die Lesbarkeit der visuellen Welt ist abgestuft zwischen expliziten kulturspezifischen Codierungen und opaker Materialität.

III. Philipowski schränkt ihre Thesen ausdrücklich auf Gesten und Körperreaktionen in literarischen Texten ein, während sie ihnen in der sog. historischen Realität, wie sie in »Chroniken, Regesten und anderen historischen Dokumenten« wiedergegeben ist, durchaus Zeichencharakter zubilligt, insofern dort »Gesten ganz spezifische Funktionen haben« und »nicht als unkontrollierte Expressivität oder Emotionalität missverstanden werden dürfen, sondern aus ihrem Kontext heraus als ›perfekte Inszenierungen‹ erkannt werden müßten«.13 Dies ist nun in der Tat überraschend, denn man würde annehmen, dass es sich eher umgekehrt verhält und der Grad der Semiotisierung in literarischen Texten höher ist. Gewiss haben etwa Althoffs Analysen frühmittelalterlicher Chroniken wahrscheinlich gemacht, dass scheinbar ›spontanen‹ Gesten und Abläufe politischen Handelns ausgefeilte ›Drehbücher‹ zugrundelagen, die allgemein akzeptierten ›Spielregeln‹ folgten, so dass also eine visuelle Realität, die für den modernen Betrachter kontingent scheint, von den Zeitgenossen als durchgeformte Botschaft zu verstehen war, als – in Philipowskis Terminologie – sorgfältig geplante ›Inszenierung‹. Althoffs Beobachtungen waren, nicht zuletzt für Literatur wissenschaftler, Anlass, alles, was aus dem Mittelalter an sichtbarer Realität überliefert ist, auf Bedeutung zu durchforschen. Allerdings gibt es zwei Einwände, die keineswegs den Ertrag von Althoffs Analysen infrage stellen, wohl aber ihre Grenzen aufzeigen. Der erste besteht darin, dass jene ›Inszenierungen‹ nie vollständig inszeniert sein können, dass sie vielmehr Anteile enthalten, die sich der Planung entziehen. Solche Vorgänge können dann trotzdem von Beobachtern als Zeichen gelesen werden, ohne als Zeichen intendiert zu sein; sie sind mit den von Philipowski untersuchten Phänomenen eng verwandt, so dass ihre Kritik auch an ihnen (und nicht nur an literarischen Texten) überprüft werden muss. Der zweite Einwand betrifft den Umstand, dass auch jene visuelle Realität, von der historische Quellen berichten, uns nicht direkt zugänglich, sondern in der Regel ihrerseits textuell vermittelt ist, so dass zu einem literarischen Text möglicherweise ein gradueller, nicht jedoch ein grundsätzlicher Unterschied besteht. Dieser Einwand stellt Philipowskis Unterscheidung in Frage.

13

PHILIPOWSKI (2000), S. 470, unter Bezug auf A LTHOFF (1997), S. 70. Damit geht Philipowski der fälligen Auseinandersetzung mit dem o. g. Forschungsparadigma aus dem Weg. Dass es sich auch bei historiographischen Texten um spezifische Formen der Aneignung handelt, deren Zeichen wieder, je nach Beobachterebene, ganz unterschiedlich gelesen werden können, spielt bei Philipowski keine Rolle.

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Bei der Veranschlagung des Ungeplanten und nicht Beherrschbaren muss man wohl weiter gehen als Althoff; man muss jene ›Spielregeln‹, die politische Rituale steuern, als ein informelles, allgemein verfügbares soziales Wissen auf fassen, das relativ unspezifisch ist und deshalb gewisse Spielräume der Ausfüllung offen lässt; nicht alles, was vom Ablauf erzählt wird, muss daher genaue Vorverhandlungen voraussetzen.14 Wie soziales Wissen stets, eröffnet es einen Rahmen, der handelnd genutzt werden kann und neben festliegenden auch ungeplante, vielleicht nicht planbare (z. B. emotionale) Reaktionen zulässt. Freilich lässt sich in der historischen Überlieferung seit dem frühen Mittelalter ein Prozess zunehmender Semiotisierung und Durchformung politischer Rituale beobachten, an dessen Ende die hybriden Zeremonialisierungen der Frühen Neuzeit stehen. Je weiter diese allerdings durchgeplant sind, desto prekärer wird paradoxerweise ihr Wahrheitsund Geltungsanspruch. Am Ende jenes Prozesses erscheinen zeremonialisierte Inszenierungen häufig als bloßes ›Theater‹, das von einer neuen, bürgerlichen Position aus kritisiert werden kann, weil es das, ›was in Wahrheit abläuft‹, verschleiere. Dieser in der Neuzeit verbreitete Verdacht gegen Rituale und Zeremonien ist übrigens schuld daran, dass die politischen Szenerien, die Althoff untersucht hat, vor seinen Entdeckungen in ihrer Semantik nicht verstanden oder als kontingent angesehen wurden. Dass sie für das frühe und hohe Mittelalter authentisch Sinn – z.B. einen Zustand des Rechts oder die Wiederherstellung politischer Ordnung – vermitteln und zur Anschauung bringen, hängt gerade damit zusammen, dass sie nicht willkürliche Setzung sind und daher nie vollständig manipuliert werden können. Sie müssen als sachlich ganz einfach gebotene Figuration der rechten gottgewollten Ordnung erscheinen. Bei solchen Ritualen gibt es kulturell stärker und weniger stark codierte, stärker und weniger stark planbare Anteile. Den Fußfall z. B. im Rahmen einer deditio wird man als ›ikonische‹ Geste mit transkultureller Verständlichkeit auffassen können (was freilich ihre bewusste Wahl nicht ausschließt), während seine Ausgestaltung (Kleidung, Barfüßigkeit, begleitende Gebärden, und erst recht Worte) ›symbolisch‹ die Botschaft des Aktes spezifizieren, sie z. B. an bestimmte kulturelle Konventionen wie die kirchliche Bußpra xis anschließen können. Andere Aspekte beim Ablauf des Rituals – z. B. Alter, Gebrechlichkeit, Krankheit eines der Akteure oder gerade umgekehrt riesige Körperkraft, die sich vor dem Schwachen demütigt, aber auch das Kalenderdatum, die Witterungsverhältnisse, der Raum, die Augenzeugen und dgl. – sind Begleitumstände, die man zu einem Teil einfach hinnehmen muss, vielleicht ausnutzen, aber nicht verändern kann. Dergleichen kann von den Akteuren nur in engen Grenzen abgesprochen und gezielt eingesetzt werden; es unterliegt nie vollständig ihrer Verfügung. Das gilt, wenn auch in geringerem Maße, ebenfalls für bestimmte Ausdrucksformen von Emotionen, also z. B. Tränen, die der sich Unterwerfende wie derje-

14

Vgl. zusammenfassend – nach mehreren mündlichen Diskussionen zuvor – meine Rezension zu Althoff: J.-D. MÜLLER (2000b).

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nige, dem die Unterwerfung gilt, vergießen können. Tränen werden in unserer Kultur in der Regel nicht willkürlich erpresst, und deshalb wird man sie nur schwer verbindlich verabreden können; doch ist hier Vorsicht geboten, denn wie wir aus orientalischen Trauerritualen wissen, ist die Möglichkeit der Selbstinduktion von Emotionen und ihren Äußerungen kulturspezifisch durchaus verschieden. Wenn bei den von Althoff untersuchten Akten also Tränen vergossen wurden, dann könnte man das zwar erwartet haben, doch wären solche Tränen keineswegs ›bloße Inszenierung‹, vielmehr konnten sie sich ›spontan‹, d. h. ungeplant, aber trotzdem regelmäßig einstellen, auch wenn vorher niemand vereinbart hatte: ›Ich werde bei dieser Gelegenheit weinen‹. Von den Akteuren wären sie dann nicht als Zeichen gesetzt (was Philipowskis These entspräche), würden aber von ihren Interaktionspartnern trotzdem gelesen werden (was die Semiotisierung der sichtbaren Welt im Sinne Wenzels bestätigt). Erst recht wird der Unterwerfungsakt von Körpern ausgeführt, die für die Betrachter als Zeichen lesbar sind, aber in ihrer Materialität zunächst einfach vorhanden sind. Selbst keine Gesten, verleihen sie für den Betrachter dem Geschehen und den Gesten, die es begleiten, zusätzliche Bedeutung. Es ist nicht einzusehen, wieso Philipowskis Überlegungen für solche durch historische (statt literarische) Quellen bezeugten Phänomene nicht gelten sollen.

IV. Der gewichtigere Einwand betrifft die textuelle Vermittlung derartiger Rituale. Bei Texten nämlich, und zwar nicht nur literarischen, ist die Beobachterposition verdoppelt. Die in Texten thematisierte Körperwelt erscheint immer als eine codierte, wobei der Grad expliziter Codierung zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten noch einmal differiert. Daraus ergibt sich eine weitere Unterscheidung in Bezug auf den Zeichencharakter: Die Perspektiven zwischen Beobachtern ersten und zweiten Grades differieren, d. h. des Beobachters im Text und des Beobachters des Textes (wozu eventuell noch diejenige des im Text Beobachteten kommt). Wenn für den Rezipienten des Textes alles Zeichen ist, so nicht in gleicher Weise für die Figuren, von denen in diesem Text die Rede ist, und diese unterscheiden sich wieder, je nach dem sie Beobachter oder Beobachtete sind. Jeder Text ist im Vergleich mit der Alltagspraxis, die er thematisiert, übercodiert. In Texten steht die thematisierte Realität und jedes ihrer Elemente potentiell unter Bedeutungsverdacht, indem Texte sie in (sprachliche) Zeichen verwandeln. Texte bilden ihren Gegenstand nicht einfach ab, sondern konstituieren ihn durch Selektion und strukturieren ihn im Blick auf bestimmte Bedeutungen und Interessen. Während der Selektions- und Strukturierungsspielraum historiographischer Texte dadurch begrenzt wird, dass sie auf eine außersprachliche Realität referieren, entfällt in literarischen Texten grundsätzlich diese Beschränkung. Wo im ersten Fall Aussagen zum Raum, zur Zeit, den Umständen usw. durch den intendierten Referenzbezug motiviert sein können, sind die gleichen Aussagen im zweiten reine Bedeutungs261

träger. Ihre Elemente können also z. B. als Glieder einer Isotopienkette fungieren, die eine Bedeutungsspur durch den Text legt; in ihnen potenzieren sich Intensität und Vielfältigkeit der Codierung; sie sind im Vergleich mit historiographischen Texten ›übercodiert‹. Die semantische Aufladung von Körperreaktionen in einer Kultur der Visualität ist insofern in literarischen Texten gesteigert, dies jedoch nicht dank ihrer visuellen Präsenz, sondern mit den Mitteln der Sprache, also in symbolischer Kommunikation. Das lässt sich u. a. an Wenzels Gewährsmann Thomasin von Zerclære und seinem ›Welschen Gast‹ ablesen. Thomasin fordert für eine höfische Erziehung, man solle am Körper des anderen, an seinen Bewegungen im Raum, seinen Gebärden Regeln richtigen Verhaltens ablesen, so dass der junge Mensch durch solch ein ›empraktisches‹ Lernen mittels Beobachtung und Nachahmung ähnlich geformt wird, wie in Schriftkulturen durch schriftliche Erziehungsprogramme. Thomasin interpretiert mit dieser Empfehlung höfische Praxis, die zunächst nichts ist als eben dies: Praxis, als ein Zeichenensemble. Doch fehlt diesem die Explizitheit eines Codes. Ohne genauere Anweisungen sind die Spielräume der ›Lektüre‹ relativ weit (Wen wählt man zum Vorbild? Was an ihm wird als vorbildlich, was als kontingent wahrgenommen? Was wird sanktioniert und warum? Welche Lizenzen bestehen? usw.). Thomasin muss deshalb die allgemeine Aufforderung zur Nachahmung durch spezielle Vorschriften ergänzen, und diese sind sprachlich realisiert, eben im Text des ›Welschen Gastes‹. Zusätzlich ist der Text mit Bildern ausgestattet, diese aber sind keineswegs visuelle Repräsentationen richtigen Verhaltens, also Abbildungen von vorbildlichen, zu erlernenden Gebärden, Haltungen, Handlungen, sie sind gerade nicht mimetisch, sondern überwiegend Merkbilder, die die Aussage des Textes bildlich zusammenfassen und mit deren Hilfe sie offenbar memoriert werden soll.15 Die Bilder sind zu erheblichem Teil allegorisch, bedienen sich häufig des Mittels der Personifikation, wobei diese zusätzlich durch Schrift ausgelegt wird. Visuelles ist alles andere als selbstevident. Was man bei Hof oder anderwärts tatsächlich sehen kann, ist, als Code betrachtet, offenbar defizient und muss daher einmal durch Sprache (Schrift), zum anderen durch allegorische Übersetzung ergänzt werden. Es handelt sich um eine Potenzierung symbolischer Kommunikation. Erst Thomasins Text-Bild-Kombination verwandelt die höfische Praxis in Ensembles von Zeichen. Die semantische Aufladung der sichtbaren Welt der Gesten und Körperzeichen ist Stimulans literarischer Zeichenproduktion. Je mehr Elemente mit Bedeutung besetzt werden, desto mehr wird das Sichtbare allegorisiert, und desto weiter entfernt es sich aus der Reichweite alltäglicher Wahrnehmung. Ein Grenzfall der Visualisierung von Bedeutung und Bedeutsamkeit des Sichtbaren ist der

15

Zu den verschiedenen Typen von Illustrationen vgl. WENZEL u. LECHTERMANN (2002). Die Analysen legen zurecht das Hauptgewicht auf die Strategien der Visualisierung von Bedeutung; ebenso wichtig ist aber ihre Versprachlichung, die sogar bis in die Bilder hinein geht, indem diese Textelemente enthalten.

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›ideale Mann‹ Reinmars von Zweter, der aus Gliedma ßen unterschiedlicher Tiere zusammengesetzt ist, von denen jedes eine der Tugenden dieses Idealmenschen anzeigt. Alles an seiner körperlichen Erscheinung ist Bedeutung. Hier kann man in der Tat von einer ›Codierung‹ des Sichtbaren sprechen. Jedoch ist dieses Sichtbare schon im Blick auf die diskursive Aussage (wie muss ein idealer Mann beschaffen sein?) verformt. Der ›ideale Mann‹ ist kein Mensch mehr, sondern eine Chimäre, ein (nirgendwo in der Welt auffindbares) Denkbild. Dieses Denkbild ist auf Kommentar angelegt, auf allegorische Auslegung mittels Sprache.16 Hier zeigt sich, dass die radikale Besetzung des Visuellen mit Bedeutung ein Extremfall ist, der sich weit von der gewöhnlich wahrnehmbaren Realität entfernt und überdies in das differenziertere Medium, die Sprache, transzendiert, und weiter, in die Schrift.

V. Zugegebenermaßen sieht der Normalfall anders aus. Doch auch bei Gesten und Körperzeichen, die ohne Sprache auskommen, differiert das Potenzial an Zeichenhaftigkeit des Sichtbaren, je nach kulturellem Kontext, erheblich. Das zeigt die häufig kommentierte Szene der ersten Begegnung Siegfrieds mit Brünhilds im ›Nibelungenlied‹. Siegfried muss bekanntlich Gunther bei der Werbung um Brünhild vertreten, weil dieser aus eigener Kraft keinen Erfolg haben kann. Dazu ist es nötig, dass Brünhild Gunther als Werber akzeptiert. Siegfried muss deshalb von Anfang an hinter Gunther zurücktreten. Um den Betrug beim Wettkampf vorzubereiten, stellt daher schon der Stratorendienst, den Siegfried dem König vor den Augen von Brünhilds Hof leistet – er führt Gunthers Pferd am Zügel vom Schiff auf den Strand –, beider Rangverhältnis dar, wie es gesehen werden soll. Allerdings kommt die Botschaft nicht an. Brünhild liest nämlich an Siegfrieds überlegener Gestalt ab, dass er, und nicht Gunther, der Held ist, und begrüßt ihn und nicht Gunther deshalb als ersten. Siegfried muss sie ausdrück lich korrigieren: Gunther, der vor ihm steht, sei sein Herr. In dieser Szene gibt es ein komplexes Ineinander von Inszenierung, Geste, Körperzeichen und Sprache. Dreimal fungiert der Einsatz des Körpers als Zeichen, doch in unterschiedlichem Sinne und mit unterschiedlichem Ergebnis, so dass Rede klärend eingreifen muss. Die Rede lügt aber, und der Hörer weiß das. Deshalb kann er auch die Zeichen richtiger deuten als die Akteure im Text, und diese unterscheiden sich noch einmal voneinander. In der Welt Brünhilds und der

16

ROETHE: ›Die Gedichte Reinmars von Zweter‹ (1887), Spruch 99 und 100. Ursprünglich ist der Entwurf des idealen Mannes also ein Text, nicht ein Bild, doch tendiert der Text zur Verbildlichung, die seine Aussage memorierbar zusammenfasst. Vor allem für sein Kontrapost, das Lasterweibchen lassen sich verwandte Typen tatsächlich in der Bildtradition nachweisen; vgl. GERHARDT (1987); CURSCHMANN (1989).

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höfischen Welt zu Worms wird Sichtbares verschieden gedeutet.17 Im einen Fall ist, was man sehen kann, explizit ›codiert‹, im anderen nicht. Für jemanden, der aus der höfischen Welt von Worms kommt, ist klar, was die ›Inszenierung‹ des Stratorendienstes und die die Geste des ›Vortritts‹, den Siegfried Gunther lässt, bedeuten, und deshalb setzen die Wormser dieses Wissen auch bei Brünhild und den Leuten an ihrem Hof voraus. Brünhild aber versteht die Bedeutung nicht. Sie hält sich an etwas anderes, das man gleichfalls sehen kann: Siegfrieds überlegene Gestalt, die ihn für sie als einzig möglichen Werber erscheinen lässt. Siegfrieds Überlegenheit muss nicht gestisch vermittelt werden. Sie ist, das ist Philipowski zuzugeben, keine ›Botschaft‹, die einen ›Sender‹ voraussetzte (im Gegenteil, der Beobachtete, Siegfried, will solch eine Botschaft gerade vereiteln); heroische Überlegenheit ist der Verfügung durch ihren Besitzer entzogen; sie wird unvermittelt in seiner physischer Erscheinung präsent. Das hindert jedoch nicht, dass die Beobachterin Brünhild diese als Botschaft liest. Siegfrieds Körper ist nicht ›codiert‹, aber seine Stärke wird ›verstanden‹. Um die Wirkung außer Kraft zu setzen, muss Siegfried verbal – also in symbolischer Zeichenverwendung – widersprechen, mit den bekannten Folgen. So stellt sich die Szene für die Beteiligten dar. Der Hörer des ›Nibelungenliedes‹ ist Beobachter zweiten Grades. Er ›liest‹ die Wormser Inszenierungen und Gesten (und weiß, sie sind Täuschung), er ›liest‹ Brünhilds Lektüre von Siegfrieds sichtbarer Überlegenheit (und weiß, sie hat recht); er ›liest‹ Siegfrieds korrigierende Worte (und weiß, sie sind gelogen). Der mediävistisch geschulte moderne Rezipient ›liest‹ darüber hinaus, dass die Lektüre des Visuellen zwischen (ich vereinfache) höfischer und heroischer Welt differiert (und zieht daraus vielleicht Schlüsse auf die Entwicklung der feudalen Kultur im Hochmittelalter). Er ›liest‹ also die Verortung der Figuren in antagonistischen Welten. Im literarischen Text entsteht also ein komplexes Gewebe wahrer und falscher Zeichen, an dem Worte, Inszenierungen, Gesten und Körperzeichen zusammenwirken, die insgesamt wieder als Elemente des ›Textes‹ einer Kultur gelesen werden können (was sie für die Akteure nie nur sind). Für den Rezipienten wird alles zum Zeichen, während die Akteure jeweils nur einen Teil als Zeichen auffassen: Für Brünhild sind die Inszenierung des Stratorendienstes und die Geste des Vortritts bedeutungsleere Kontingenz. Für Gunther und die übrigen Wormser dagegen existiert Siegfrieds Körper, an dem Brünhild seine Rolle als Werber abliest, nicht als Zeichen oder ist mindestens nur Zeichen von nachrangiger Bedeutung. Siegfried will erst recht nicht seinen Körper als Zeichen verstanden wissen. Das misslingt zunächst. Erst der Tarnmantel löscht mit dem Körper seine potenzielle Zeichenhaftigkeit aus. Indem Siegfried ihn unter dem Tarnmantel verschwinden lässt, kann er ihn desto ungestörter in seiner physischen Materialität einsetzen. Beim Stratorendienst handelt es sich um eine kulturspezifische Geste, um symbolvermittelte, non-verbale Kommunikation. Der Code, in dem sie funktioniert, muss eingeübt werden, ist Teil höfischer nutritura. Doch auch Brünhilds Reaktion

17

J.-D. MÜLLER (1998d), S. 410–423.

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ist nicht ohne kulturelle Voraussetzungen. Sie ist abhängig von der Erwartung, dass derjenige, der seiner körperlichen Erscheinung nach der stärkste ist, allein sie im Wettkampf überwinden kann. Deshalb ist Siegfrieds Körper für Brünhild Zeichen, das indexalisch auf seine Stärke und metonymisch auf seine Rolle im Kampf um Frau und Land verweist. Diese Zeichenrelation ist sinnvoll nur in einer adligen Kriegergesellschaft, in der Herrschaft auf persönlicher Überlegenheit basiert und deshalb der künftige Herr Brünhilds nur der stärkste sein kann. Die Deutung des indexalischen Zeichens erweist sich letztlich als zuverlässiger als die symbolische Inszenierung: Siegfried, nicht Gunther wird Brünhild besiegen. Während also der ›inszenierte‹ Code Täuschung zulässt und Siegfrieds Worte zu Brünhild schlicht gelogen sind, kann man sich über die Wahrheit, die Siegfrieds Körper zur Geltung bringt, nicht täuschen. Mit Steigerung der Arbitrarität der Zeichen zur Inszenierung und weiter zur symbolischen Kommunikation steigert sich die Möglichkeit, sie zu manipulieren.18

VI. Zeichencharakter oder a-semantische Materialität der visuellen Welt sind je nach Kontext zu ermitteln. Es gibt transkulturelle und kulturspezifische, intuitiv verständliche und gelehrt verschlüsselte Zeichen, aber auch visuelle Phänomene, deren Opazität sich jeder Deutung, auch der des nachgeborenen (Literar-)Historikers verschließt. Die Kommunikation über den Körper im Mittelalter ist, wie Philipowski zu Recht herausstellt, nur zum Teil in Analogie zu verbaler Kommunikation zu verstehen. Sie ist asymmetrisch zwischen Beobachter und Beobachtetem, indem

18

Als betrügerische Inszenierung kann der Stratorendienst deshalb nicht, wie PHILIPOWSKI (2000) suggeriert, ein ›wahreres‹, nämlich das im Fortgang sich faktisch realisierende Verhältnis zwischen Gunther und Siegfried zeigen. Siegfried bleibt von Anfang bis Ende der Stärkere, der nur durch Lüge und Betrug zur Strecke gebracht werden kann. Es trifft nicht zu, dass »das Gelingen höfischer Kommunikation« durch »Objektivität und Eindeutigkeit des Sichtbaren« gewährleistet ist, sondern das ›Nibelungenlied‹ beweist auf Schritt und Tritt das Gegenteil und bestätigt damit die Anklagen der zeitgenössischen Hofkritik, dass der Hof auf nichts als Lüge (verharmlost als dissimulatio) beruht. – Philipowski muss übrigens ihrer These zuliebe die »Inszenierung« des Stratorendienstes in dieser Hinsicht als »Geste« (in ihrem Sinne) interpretieren, »die Realität schafft, indem sie sie vorwegnimmt und damit die Wahrheit über die Körper sagt, nicht die Unwahrheit«: »Die Geste ist so mächtig, dass sie, wenn sie mit der Wahrheit nicht in Einklang steht, nicht lügt, sondern sich die Wahrheit unterwirft: Siegfried stirbt durch Gunthers Machenschaften, unterliegt ihm also, obwohl er ihm überlegen ist. So schließt die Geste in sich zwei Wahrheiten zusammen: die der Überlegenheit Siegfrieds und die seiner Unterlegenheit« (S. 460). Hier werden die Ebenen der Zeicheninterpretation verwechselt. Was Philipowski sagt, gilt allenfalls aus der Perspektive des Rezipienten.

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der Empfang des Zeichens nicht notwendig einen Sender voraussetzt, und sie ist asymmetrisch zwischen Beobachtern ersten und zweiten Grades, indem dem letzteren prinzipiell alles, der Beobachter ersten Grades eingeschlossen, zum Zeichen werden kann. Was Bedeutung ist und für wen, entscheidet der Betrachter. Liegen hier Grenzen einer Semiotik der Visualität, so ist umgekehrt – gegen Philipowski – festzuhalten, dass Körperzeichen nie in schierer Präsenz aufgehen, in der Alltagskultur so wenig wie erst recht nicht in deren Verarbeitung im Text. Sie sind immer schon eingelassen in ein Netz kultureller Deutungen. Vorsicht ist andererseits beim Begriff des ›Codes‹ angezeigt und seiner Applikation auf die visuelle Welt. Im erörterten Beispiel war nicht alles encodiert. Von ›Code‹ sollte man vornehmlich bei jenen Elementen der visuellen Kultur sprechen, die bewusst eingesetzt, verändert und mit anderen Elementen verbaler und non-verbaler Kommunikation verknüpft werden können. Die semiorale Kultur des Mittelalters hat zahlreiche solcher Codes ausgebildet, neben denen der höfischen Gesellschaft auch die des religiösen Kults, des Rechtslebens, der Ständeordnung usw. Solche Codes sind nicht natur wüchsig, sondern Produkte gesellschaftlicher Arbeit. Ihre Ausdifferenzierung seit dem 12. Jahrhundert erfolgt in Konkurrenz zur überlegenen klerika len Schriftkultur mit ihrem prinzipiell reichhaltigeren Bestand differentieller Zeichen. Visuelle Zeichenordnungen gehen nicht einfach der Schrift voraus, sondern bilden sich in Auseinandersetzung mit ihr aus.19 Die Kompetenz, die Welt der Gesten und Körperzeichen zu lesen, ist eine Kompetenz, die erlernt werden muss wie der Schriftgebrauch. Äußerungen des Körpers, die erst Betrachter erster oder zweiter Ordnung als Zeichen lesen, müssen sich nicht zum ›Code‹ (in einem nicht nur metaphorischen Sinne) ordnen. Die Lesbarkeit der Visualität ist in jedem Fall eine hergestellte, also kulturell vermittelte, und sie ist, je nach Analyse-Ebene, nicht unbegrenzt. Philipowski hat auf ein Problem hingewiesen, das die Rede von der Codierung der Visualität außer Acht lässt: dass Visua lität und Zeichenhaf tigkeit sich nicht durchweg decken.

19

J.-D. MÜLLER (2001).

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Wissen ohne Subjekt? Zu den Ausgaben von Gesners ›Bibliotheca universalis‹ im 16. Jahrhundert

Die neuen Dimensionen in der Erschließung von Wissen durch die elektronischen Medien – Datenbanken, Internet – sind schwer abzuschätzen. Gegenwärtig hat man den Eindruck, dass die immensen neuen Möglichkeiten zwar immer wieder gefeiert, die Folgeprobleme aber kaum je in den Blick genommen werden: Wenn alles ›ins Netz gestellt werden‹ kann, wenn die Bestände sämtlicher Bibliotheken der Welt zumindest theoretisch auf Knopfdruck verfügbar sind, wenn die Untersuchung von Handschriften nicht mehr nur am Ort ihrer Aufbewahrung, sondern weltweit möglich ist, wenn, die entsprechende Initiative vorausgesetzt, alles, was irgendwo gewusst wird, prinzipiell allen zugänglich ist, dann stellt sich vor allem die Frage der Organisation, der Selektion, der Strukturierung und der Erschließung von Wissensbeständen, soll die Wissensgesellschaft nicht in Entropie enden und einer immer größeren Menge von Daten deren immer größere Irrelevanz und Beliebigkeit gegenüberstehen, mit der Folge einer immer geringeren Beachtung des überlieferten Wissens. Die Organisation des Zugangs und des Gebrauchs ist nur in relativ wenigen Sektoren unserer Kultur in Angriff genommen und in noch schmaleren Sektoren (z. B. Geldverkehr, Medizin) gelöst, während im übrigen, zumal in den Geisteswissenschaften, viele unkoordinierte Initiativen nebeneinander entwickelt werden. Die neue Infrastruktur, neue Erschließungs- und Suchmethoden, Interaktivität und neue Fertigkeiten bei dem, der speichert, und dem, der sucht, sind nach wie vor erst schwach ausgebildet. Das ›globale Dorf‹, der Zusammenschluss von Chat-groups, die ›Wissensgesellschaft‹, das ›Netz‹ – und wie die Modelle alle heißen, mit denen der neue Zustand beschrieben werden soll – sind alles Metaphern der Dezentralisierung, und sie suchen alle die Nebenwirkungen dieser Dezentralisierung herunterzuspielen. Das ›globale Dorf‹ suggeriert Face-to-face-Kontakte, Nähe und Geborgenheit auch in einem (global) entgrenzten Raum, der der Vorstellung von ›Dorf‹, dem unscheinbaren regiona len Zentrum von ›Heimat‹, genau entgegengesetzt ist; im ›globalen Dorf ist jeder jedem benachbart; Nähe ist weder räumlich noch zeitlich beschränkt. Die Chat-groups, die sich zum globalen Gespräch über die Kontinente hinweg versammeln, pflegen offenen Gedankenaustausch über gemeinsam interessierende Themen, statt im privaten Freundeskreis, in Fanclubs, am Stammtisch oder dergleichen in einem weltumspannenden Raum, auf den Normen aus dem Bereich der Nahkommunikation übertragen werden: Spontaneität, rückhaltlose Of fenheit, Aufhebung konventioneller Zwänge. ›Wissensgesellschaft‹ bindet Wissen nicht mehr an bestimmte Zentren (wie z. B. Universität, Forschungslabor, Bibliothek, 267

Brain trust) oder Kompetenzen (z. B. Natur wissenschaft, Handwerkerfertigkeiten, kultische Überlieferung). Es ist ›demokratisiert‹, nicht Eigentum weniger Experten oder Funktionsträger; zur Wissensgesellschaft gehört ›jedermann‹; jeder kann, was er für sich und seinen Alltag braucht, aus einem Meer frei flottierender Wissenselemente herausfischen, und das, was ihn bewegt, was er empfindet, was er erarbeitet und erkannt hat, in dieses Meer einspeisen, damit irgendein unbekannter anderer es für sich herausholt und darauf antwortet. Im Begriff der Wissensgesellschaft sind deshalb Hierarchisierungen des Wissenswerten aufgehoben; ›Wissen‹ ist alles, von trivialen Alltagsfertigkeiten bis zu hochspezialisierten Kenntnissen; insofern hat virtuell jeder teil an den Wissensbeständen, auch wenn er von den vorhandenen Möglichkeiten immer nur einen Teil nutzen wird. Ein Netz schließlich hat Knoten und Maschen, doch keinen Mittelpunkt, und es ist an den Rändern offen; das ist aber kein Problem, weil jeder Punkt gleich zentral ist, indem er mit jedem anderen Punkt verknüpft werden kann; das Netz fasst potentiell alles zusammen, alle, die sich um Wissen bemühen, und alles Wissen, um das sie sich bemühen. Jedes Subjekt kann mit jedem anderen verknüpft werden. Summa summarum scheint erst jetzt das Subjekt zu seinem Recht zu kommen. Der Titel dieses Beitrags scheint der gegenwärtigen Ent wicklung, wie sie die Lobredner des globalen Dorfs darstellen, also stracks zu widersprechen. Wenn ich trotzdem daran festhalte, dann weil mir dieses Bild einseitig scheint, indem es die Verluste nicht mit den Gewinnen bilanziert, die Dezentrierung nicht gegen den Verlust zentraler Orientierungspunkte aufrechnet. Bekanntlich fehlen dem globalen Dorf die wichtigsten Charakteristika eines wirklichen Dorfs; nicht Nähe garantiert den Kontakt, sondern die mühelose Überwindung maximaler Entfernungen; es gibt kein Außen, keine Umwelt, die erlaubte, das Eigene in Abgrenzung von einem anderen zu definieren; und die globale Integration ist das Gegenteil von Integration in eine Dorfgemeinschaft, denn wer in alles integriert ist, ist es nirgends. Das Geplauder der Chat-groups aber ist nur Surrogat vertrauter Nähe; der Körper, meist auch die Stimme, ist daraus ausgeschlossen; alle Versuche, etwa durch Bilder oder durch andere Präsenzillusionen die Kommunikationspartner einander nahezubringen, sind und bleiben Surrogate, die den Ausgangstatbestand nicht aufheben können, dass die Partner de facto körperlich getrennt sind; übrigens machen die Simulationen präsenter Körperlichkeit bezeichnender weise vor unangenehmen Körpererfahrungen halt: Man hat noch nicht gehört, dass man sich um die Simulation von Mundgeruch bemüht. In der Regel besteht an allzu wirklichkeitsgetreuen Simulationen kein Interesse; häufig wird selbst der Name des jeweiligen Sprechers unterdrückt; der rückhaltlose Austausch zwischen Individuen setzt also paradoxer weise voraus, dass erhebliche Teile dessen, was sie als Subjekte ausmacht, ausgegrenzt wird. Wo die Gesellschaft insgesamt sich über Wissen definiert, da um den Preis, dass der Begriff diffus wird und die faktische Arbeitsteilung und Funktionsdifferenzierung von Wissen als quantité négligeable aus dem Blick gerät. Die faktisch fortbestehenden immensen Differenzen und Asymmetrien in der Verteilung von Wissen werden marginalisiert, indem Wissen sowohl Expertenwissen wie alles mögliche 268

Wissbare sonst meint. Wissen löst sich von seiner kollektiven Verbürgtheit und subjektiven Relevanz ab. Das zeigt sich paradoxerweise in der Prämierung von Wissen in seiner reinsten Form – wo es subjektiv belanglos und sozial unbrauchbar ist, sich also den Verwertungszwängen der Wissensgesellschaft faktisch entzieht, in der aktuelles Wissen stets aktuell brauchbares Wissen meint: in den Ratespielen der Unterhaltungsindustrie.1 Das Netz schließlich tritt dem einzelnen Benutzer als ein monströser Apparat entgegen, als scheinbar beliebige Anhäufung von Daten, die, weil sie jeden angehen wollen, nur zum geringsten Teil jemand bestimmten angehen. Im Netz ist alles prinzipiell gleichwertig, und es ist grundsätzlich beliebig, was womit verbunden werden kann und verbunden wird. Es kommt nicht darauf an, was, sondern dass es vernetzt wird. Die Metapher des Surfens beschreibt eine gerade nicht vom Subjekt zielgerecht gesteuerte Bewegung, sondern im Gegenteil die Preisgabe an die Vorgabe der Maschine, zwar durchaus mit der Chance kontingenter Funde, ›die mich betreffen‹, doch vor allem mit der Erwartung, auf etwas zu treffen, ›das mich nichts angeht‹; das Subjekt muss sich auf den Wellen der Information zu behaupten suchen, um nicht darin unterzugehen; das ist die Hauptsache. Man muss diese Defizite im Blick behalten, will man die immensen Möglichkeiten richtig einschätzen. Mein Ziel ist deshalb kein kulturkonservatives Jammern, sondern eben die nüchterne Bilanzierung von Gewinn und Verlust, und eben darum geht es mir auch jetzt, wenn ich mich meinem historischen Gegenstand, der frühneuzeitlichen Enzyklopädik, zuwende, in der ein vergleichbares Verhältnis von Verlust und Gewinn sich auftat und das Problem von Wissen und Subjekt sich, auf andere Weise zwar, aber doch auch schon einmal stellte.

Conrad Gesner, ›Bibliotheca universalis‹ Ich gehe einmal mehr2 von Conrad Gesner und seiner ›Bibliotheca universalis‹ aus und verfolge in verschiedenen Bearbeitungen dieses Werks das Problem der Depersonalisierung von Wissen. Die ›Bibliotheca universalis‹ erschien 1545, also etwa hundert Jahre nach Erfindung des Buchdrucks.3 Sie will alle jemals vorhandenen Bücher verzeichnen und wurde 1548 von Gesner selbst durch ein komplementäres 1

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Dazu gehört das Wissen, das, wie Hans Magnus Enzensberger in ›Wahnsinn und Mittelmaß‹ ausführt, an die Stelle bürgerlichen Bildungswissens getreten ist, z. B. das Wissen über die Charts, über die Affären von Filmschauspielern oder die Ergebnisse der Fußballbundesliga in den letzten fünf Jahren; ähnlich die offenbar hohen Unterhaltungswert besitzenden Wissenssplitter, die im Quiz abgefragt werden. Ich knüpfe an zwei ältere Beiträge an, vgl. J.-D. MÜLLER (1998b), bzw. DERS. (1996b). Grundsätzlich hat das Problem der Bibliothek WEGMANN (2000) aufgegriffen; zum Vollständigkeitsphantasma S. 47–77, zu Gesner S. 58. GESNER: ›Bibliotheca Vniversalis‹ (1545). – Grundlegend ZEDELMAYER (1992).

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Erschließungsinstrument, die ›Pandekten‹, vervollständigt.4 Es folgten wieder ein Jahr später – bezogen auf ein bestimmtes Sachgebiet, die Theologie, – die ebenfalls wissenerschließenden ›Partitiones‹ (1549).5 Ein ebenfalls angekündigter erschließender Band zur Medizin erschien nie. Gesners monumentales Werk war teuer und schwer zu handhaben; so publizierte 1551 Conrad Lycosthenes in Basel den ›Elenchus‹, eine gekürzte, auf bestimmte Typen von Daten beschränkte, jedoch nach Titeln umfangreichere Version.6 1555 erschien eine weitere Appendix zum ursprünglichen Bestand der ›Bibliotheca‹.7 Im gleichen Jahr veröffentlichte Josias Simler in Gesners Auftrag eine ›Epitome‹ der ›Bibliotheca‹, die ihrer Anlage und Datenauswahl nach auf Lycosthenes‹ ›Elenchus‹ fußte, diesen aber noch einmal erheblich erweiterte.8 Es folgten weitere Bearbeitungen und Ergänzungen von Gesners Freunden Simler und Frisius.9 An der Druckgeschichte der ›Bibliotheca‹ – wir würden vielleicht eher von einer Bibliographie sprechen – lassen sich zwei parallele, bis heute sich fortsetzende Entwicklungen beobachten: die wachsende Akkumulation und die zunehmende Dezentrierung von Wissen. Für die entstehende Wissensgesellschaft des 16. Jahrhunderts war die ›Bibliotheca‹ vor allem ein riesiger Wissensspeicher, ein Nachschlagewerk, obwohl sie von Gesner ursprünglich nur als Basis einer umfassenden Erschließung des überlieferten Wissensbestandes geplant war. Die dieses Wissen mittels einer Topik des Wissbaren für bestimmte Fragen erschließenden ›Pandekten‹ und ›Partitiones‹ waren aber weit weniger erfolgreich, was an der kaum mehr zu bewältigenden Fülle des Stoffes und den überforderten, im einzelnen widersprüchlichen Ordnungsmustern der Topik lag. Dabei ist auch die ›Bibliotheca‹ in der Ausgabe von 1545 eine aus späterer Perspektive ungenießbare Sammlung von Autornamen, Buchtiteln, Editionen, vermehrt um scheinbar willkürlich ausgewählte Auszüge aus Vorreden und sonstigen Paratexten, Kapitelverzeichnissen, Inhaltsangaben, Ankündigungen von Druckern, eigenen und fremden Kommentaren. In Gesners erstem Zugriff war das Wissen nicht gefiltert und geordnet, sondern wurde dargeboten, wie es eben dem Verfasser zuhanden war, nur in alphabetischer Reihenfolge. Im Gegensatz zu Gesners Erstausgabe suchten die späteren Herausgeber, angefangen von Lycosthenes, der beispielgebend auf die folgenden Bearbeitungen einwirkte, das Informationsdickicht zu lichten und eine gleichmäßigere Auswahl der Daten durchzuführen, indem sie diese überwiegend auf Autornamen, Titel und ggfs. Publikationsdaten beschränkten. 4

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GESNER.: ›Pandectarum sive Partitionum universalium libri XXI‹ (1548). Die das Wissen praktisch erschließenden ›Pandekten‹ sind vor allem Gegenstand der Anm. 3 genannten Beiträge. Die ›Pandekten‹ fungieren wie eine noch wenig entwickelte Suchmaschine. DERS.: ›Partitiones theologicae‹ (1549). LYCOSTHENES: ›Elenchvs scriptorvm omnivm vetervm scilicet recentiorum‹ (1551). ›Appendix Bibliothecae Conradi Gesneri‹ (1555). SIMLER: ›Epitome Bibliothecae Conradi Gesneri‹ (1555). SIMLER: ›Bibliotheca instituta et collecta primvm a Conrado Gesnero‹ (1574). – FRISIUS: ›Bibliotheca instituta et collecta, primvm a Conrado Gesnero‹ (1583).

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So ist bereits die Druckgeschichte des Werks aufschlussreich für die Umorganisation von Wissen und die beginnende wissenschaftsgeschichtliche Ausdifferenzierung. An ihr lässt sich die Eliminierung des Subjekts aus dem Wissensspeicher ablesen. Wissenschaft erscheint dann als kollektiver Akkumulationsprozess. Er setzt Teamarbeit voraus. Schon Gesners ›Appendix‹ ist keineswegs nur als Ergänzung der eigenen ›Bibliotheca‹ konzipiert, sondern versteht sich auch als Ergänzung der gleichzeitigen ›Epitome‹, die in ihrer Anlage auf der Kurzfassung des Lycosthenes beruht, dessen Ergänzungen übernimmt und ihrerseits noch einmal erweitert.10 Diese ›Epitome‹ des Josias Simler war hortante et adiuuante Conrado Gesnero11 erschienen, was darauf schließen lässt, dass Gesner das Bemühen des Lycosthenes grundsätzlich anerkannte. An seiner ›Appendix‹ waren also schon drei Autoren beteiligt. Gesner folgt darin nicht dem eigenen, sondern Lycosthenes’ Auswahlprinzip, beschränkt sich also auf die von diesem standardisierten Datentypen. Auch die künftigen Ausgaben knüpfen nicht an die ›Bibliotheca‹ von 1545, sondern an dieses Gemeinschaftswerk von Gesner, Lycosthenes und Simler an. Es handelt sich nicht mehr um das Werk eines einzelnen; der Raubdruck des Lycosthenes wird absorbiert, Empfindlichkeiten wegen der kommerziellen Ausbeutung von Gesners Plan spielen angesichts des Wissensfortschritts keine Rolle. Gesner reagiert damit auf den medialen Umbruch des Buchdrucks.12 Innerhalb von knapp hundert Jahren hat sich das allgemein zugängliche Schrifttum vervielfacht, sowohl was die Zahl von Titeln wie die Stückzahlen einzelner Titel betrifft. Erstmals scheint eine vollständige Übersicht über die schriftsprachliche Tradition denkbar. Diese ist nicht mehr nur von den Interessen einzelner Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen und vor allem durch die Kontingenz der Erreichbarkeit limitiert, sondern in zunehmendem Maße überregional verfügbar. Die potentiell allgemeine (wenn auch faktisch noch vielfach beschränkte) Zugänglichkeit des Gedruckten hat die Kehrseite möglicher Orientierungslosigkeit auf einem unübersichtlichen Markt. Wissen wird aber in der Tendenz hier schon ›demokratisiert‹.13 Statt den institutionell gestützten Selektionsprinzipien der alten Träger von Schriftkultur ist es allein der Markt, der entscheidet. Auch hier also Dezentrierung im doppelten Sinn: geographisch und institutionell. Mit der Titelmetapher ›Bibliotheca universalis‹ sucht Gesner freilich diese Dezentralisierung aufzufangen. Eine Bibliothek ist ein Raum, in dem man Bücher

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In diesem Sinne kündigt der Titel an, man könne sich uel Bibliothecam cum Appendice tanquam integrum authoris opus [...] uel eius Epitomen, uel etiam utranque, pro sua cuique fortuna, sibi comparare. Als weiteres Erschließungsinstrument enthält die ›Appendix‹ ein Verzeichnis von Namen, die die (in der Bibliographie zugrunde gelegte) Reihenfolge Vor- und Zuname umkehrt und damit das Auffinden erleichtert. SIMLER.: ›Bibliotheca instituta et collecta primvm a Conrado Gesnero‹ (1574), Bl. 4v. Vgl. u.a. EISENSTEIN (1979); GIESECKE (1991). In ähnlicher Weise lässt sich ja auch die lutherische Reformation mit ihrer Forderung nach Bibellektüre für Laien und ihrer ursprünglichen Ablehnung institutioneller Strukturen mit abgestuften Rechten der Verfügung über Wahrheit erklären.

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findet und in den man hineingehen kann. Eine Universalbibliothek hat dagegen keinen bestimmten Ort mehr, und man kann sie deshalb nur metaphorisch ›begehen‹, eben als Verzeichnis benutzen. Die ›Bibliotheca universalis‹ ist nur als bibliotheca bibliothecarum oder catalogus catalogorum (so übrigens ein parodistischer Titel Fischarts14) denkbar. Doch soll sie allen wirklichen Bibliotheken vorgeordnetes Mittel der Orientierung sein. Die plötzliche Fülle von allgemein zugänglichen Schriften und ihre große Verbreitung droht ohne Vernetzung, Strukturierung und Orientierung verloren zu gehen. Gesner stellt in Aussicht, alle Bücher, die irgendwo als Handschriften liegen oder gedruckt worden sind, ja sogar diejenigen, von denen man weiß, dass es sie irgendwann einmal gegeben hat, zu verzeichnen, so dass also die Universalbibliothek ihrer Absicht nach wirklich ›alles‹ was es an Schriften gibt oder gegeben hat, versammelt.15 Es soll keine Lücke geben, ne infimæ quidem notæ scriptores silentio transire proposuerim (Bl. 179v). Nur wer den Überblick über das Ganze hat, kann seine persönliche Entscheidung treffen. Damit tritt eine paradoxe Situation ein: Damit der einzelne nicht mehr durch irgendwelche Vorentscheidungen gegängelt wird, muss zunächst einmal jede besondere Selektion ausgeschieden werden. Das aber übersteigt die Arbeitskraft eines einzelnen Menschen und überfordert das Aufnahmevermögen jedes einzelnen Lesers. Akkumulation von Wissen und individuelle Bedürfnisse sind also schon hier nur mehr auf sehr prekäre Weise aufeinander bezogen. Das zu verzeichnende Wissen wächst kontinuierlich. 1800 Autoren fügt Lycosthenes hinzu, weitere 2000 die erste Bearbeitung Simlers; in dessen Ausgabe von 1574 hat sich der Bestand noch einmal verdoppelt (Bl. 4v). Simler kann sich, wie er in seiner Vorrede ausführt, auf inzwischen hinzugekommene Kataloge stützen; Gelehrte von überall nennen ihm bisher nicht verzeichnete Bücher; die Kenntnis mittelalterlicher Schriften hat zugenommen; Bibliothekare wie Sambuccus informieren über die Bestände ihrer Bibliothek; es gibt die Frankfurter Messkataloge; aus ganz Europa werden Simler Nachrichten zugesandt. Jeder einzelne wird aufgefordert, an diesem Akkumulationsprozess beizutragen, indem er neue oder bisher unbekannte Titel am Rand notiert.

Neutraler Wissensspeicher Es gibt konventionelle Relikte. Gesner beschränkt sich auf die drei Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch, jene Sprachen also, in denen humanistischer

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FISCHART: ›Catalogus catalogorum perpetuo durabilis‹ (1993). In den Worten der Vorrede: extantes et non extantes, ueteres ac recentiores, doctos cum indoctis, excusos et adhuc latentes (Bl. 3r). Nullus à me scriptor contemptus est, non tam quod omnes catalogo aut memoria dignos existimarem, quàm ut instituto meo satisfacerem, quo me imperaueram sine delectu simpliciter omnia quae incidissent commemorare (Bl. 3v).

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Auf fassung zufolge allein gelehrtes Wissen aufbewahrt wird; nur selten nennt er deutsch-volkssprachige Titel. Doch kann er schon damit durchaus einen ›universalen‹ Anspruch erheben. Wissen scheint identisch mit gelehrtem Wissen; gelehrtes Wissen ist in einer der Gelehrtensprachen abgefasst und steht deshalb über einzelsprachliche Grenzen hinweg ›allen‹ zur Verfügung. Was den Weg nicht in die Gelehrtensprache findet, ist für Gesner noch unbeachtlich.16 Im Laufe der Zeit aber erweist sich das als problematisch: Die späteren Ausgaben von Simler und Frisius verzeichnen weit konsequenter volkssprachige Übersetzungen. Das entspricht dem Wissensfortschritt zumal in der Naturkunde. Die Einschränkung auf die Gelehrtensprache sollte aber schon in Gesners Verständnis keine wirk liche sein, vielmehr garantierte sie universale (oder, modern gesprochen, globale) Geltung, denn Gesners Horizont war nicht mehr durch das Bildungsideal der Humanisten begrenzt; er nimmt keine Auswahl und keine Wertungen in ihrem Sinne vor. Schon seine Quellen – neben älteren Schrif tenverzeichnissen auch Druckeranzeigen, Bibliothekskataloge und Bestände von Bibliotheken, die er selbst besuchte – greifen über die humanistische Bildungswelt hinaus. Auch rudes oder barbari libri – das sind die Bezeichnungen für mittelalterliche Schriftsteller – sind eingeschlossen. Gesner unterscheidet bei ihnen zwischen Stil und Inhalt; nur wo beides schlecht ist, sind die Bücher nutzlos. Was dem Gebildeten vulgaris scheint, bietet vielleicht irgendwo brauchbares Wissen. Anders als die Humanisten, die im Buchdruck im Wesentlichen ein Mittel zur Propagierung ihrer eigenen Ziele sahen, erkennt Gesner, dass der Markt solche Ziele unterläuft. Wissen ist de facto enthierarchisiert. Gesners Ausgangspunkt ist nicht die Fülle des Wissens, sondern die Gefahr des Verlustes, die droht, weil das, was ubiquitär verfügbar ist, keine Wertschätzung mehr genießt17 und deshalb vom Verderben bedroht ist. Das Verzeichnis soll den Prozess des Vergessens aufhalten. Ohne die Tradition schriftlich fi xierten Wissens fiele die Menschheit auf den Stand von Tieren zurück und gliche sich – wie Gesner schön eurozentrisch bemerkt – den Völkern an, die die weit entfernten Länder und Inseln bewohnen, die ›wir‹ kürzlich entdeckt haben, den ›kulturlosen‹ Indianern.18 Als Gegenmittel gegen das Vergessen reicht das Verzeichnis freilich nicht aus. So plädiert Gesner für neue Bibliotheken, die Fürsten und Mäzene einrichten sollen. Die virtuelle Bibliothek ist nur ein Hilfsmittel zur Einrichtung wirklicher Bibliotheken, öffentlichen und privaten.19 Außerdem soll jeder das Werk benutzen, um die Standorte seiner eigenen Bücher zu verzeichnen und auch diejenigen der Freunde einzutragen. So soll das Wissen nachträglich doch ein Zentrum bekommen,

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Ein Beispiel für den Transfer ist Aegidius Tschudi, dessen deutsches – Germanicè – Buch über die Schweiz von Sebastian Münster ins Lateinische übersetzt wird (Bl. 5r). So schon BRANT: ›Das Narrenschiff‹ (1968), Kap. 103. quæ remotissimas à nobis terras aut insulas nuper inuentas habitant (Bl. 3r). Tatsächlich sind nach der von Gesner in den ›Pandekten‹ ent worfenen Ordnung die Bibliotheken von Wien und Wolfenbüttel eingerichtet worden (ZEDELMAIER [1992], S. 21).

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besser viele Zentren, die alle vor dem Hintergrund der einen Universalbibliothek stehen. Dies gelingt umso besser, je neutraler der universale Speicher ist. Von hieraus betrachtet, ist ein individueller Verfasser im Grunde ein Störfaktor. Das zeigt sich in der ersten Ausgabe an einer Reihe von Relikten, die auf Gesners persönliches Engagement deuten. Allenthalben sind im Katalog Spuren des Verfassers Gesner zu finden, der seine Lesefrüchte und Vorlieben mitteilt. Nur wo er nichts Genaueres weiß, beschränkt er sich auf Titellisten, knappste Bemerkungen zur Person des Autors und ggfs. Angaben zu Druckort und -datum. Von Anfang an bringt Gesner sich selbst ins Spiel: ›dessen Vornamen ich nicht kenne‹, heißt es über den Abbas Urspergensis; ›es scheint mir notwendig‹; ›dies habe ich mir vor kurzem in Venedig genau angesehen‹; ›[das] habe ich im Katalog der Vaticana gelesen‹; ›ich habe einige handschriftliche Exemplare gesehen‹; ›ich glaube nicht ...‹; ›davon wurde mir weniges bekannt‹.20 Gesner spricht über seine Überlastung und seine Zeitknappheit und beklagt gelegentlich seinen Überdruss (tædium) an dem Unternehmen (Bl. 4v). Es sind seine wissenschaftlichen Interessen, die über den Grad an Ausführlichkeit in der Darstellung eines Oeuvres entscheiden, so insbesondere bei den naturkundlichen Fächern, die in den Umkreis seines Berufs als Mediziner gehören. So werden die Gegenstände, die der antike Naturhistoriker Aelian behandelt und die Gesner später in seiner ›Historia animalium‹ aufgreifen wird, in extenso referiert (Bl. 5v–6v). Aber auch die argumenta von Briefen des Enea Silvio Piccolomini, die ad rem literariam beitragen und die ihm besonders wichtig sind, werden aufgezählt (Bl. 8v), ebenso die Kapitel von dessen Geschichte Böhmens oder der Europas. Nicht immer sind die Gründe für breite Zitate einsehbar; manchmal dürften Gesners gerade aktuelle Beschäftigungen der Anlass für eingehendere Notate sein. So enthält das Kapitel über Flavius Josephus ausführlichste Zitate aus Vorreden des Josephus bzw. seiner Herausgeber in lateinischer Sprache, die ein genaues Studium dieses Autors dokumentieren und dem Leser einen Überblick über wichtige auf dem Markt befindliche Josephus-Ausgaben geben (Bl. 241r– 244v). Die kontingenten Arbeitsbedingungen und Vorlieben des Bibliographen bestimmen nicht nur faktisch, sondern explizit Reichweite und Detailgenauigkeit des Wissensspeichers. Hinter diesem taucht ein Subjekt auf, auf dessen Horizont er bezogen bleibt, obwohl sich dieses Subjekt programmatisch zurück nimmt, sich aller idiosynkratischen Auswahl und jeder Wertung, aller persönlicher Vorlieben enthalten will: delectum iudiciumque liberum reliquimus alijs (Bl. 3v). Die programmatische Neutralität des Verfassers soll demgegenüber den individuellen Wünschen des Lesers zum Durchbruch verhelfen. Das erklärt die vielen erläuternden Zusätze. Dem Leser wird – nach Gesners Willen – eine elegendi copia (Bl. 4r) vor Augen geführt, und er wird von einer großen Last befreit, indem er

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In der Reihenfolge der Zitate: cuius proprium nomen ignoro (Bl. 1r); necessarium mihi uidetur (Bl. 2r); ea nuper Venetijs diligenter inspexerim (Bl. 2v); in bibliothecae Vaticanae catalogo legi (Bl. 2v); Ego aliquot exemplaria manuscripta uidi (Bl. 5v); non puto [...] (ebd.); pauca eorum ad notitiam meam peruenerunt (Bl. 15v).

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nicht die ganzen Bücher, nicht einmal die ganzen Vorreden prüfen muss, sondern nostra tantum excerpta (Bl. 4r).21 Wer sich eine Bibliothek einrichten will, braucht Relevanzkriterien, Empfehlungen und Warnungen. Deshalb zitiert die ›Bibliotheca‹ ausführlich aus erklärenden Titelangaben, Druckernotizen, Literaturhinweisen, Inhaltsangaben, Kapitelübersichten, gibt Proben von Stil, Vorreden, Kommentaren und dergleichen, damit der Leser selbst entscheidet, was er brauchen kann. In den einzelnen Artikeln werden Gelehrte, Geistliche, Drucker als Kronzeugen für dieses oder jenes Urteil genannt, so dass der Leser von den kompetentesten Repräsentanten der ›Wissensgesellschaft‹ beraten wird. Versammelt ist die Gelehrtenrepublik insgesamt, repräsentiert durch einzelne Stimmen, als Auskunftsinstanz für alle. So wird bei Gesner ein Wissen, das von seiner Bindung an ein Hier und Jetzt und an bestimmte Sammler- und Benutzerinteressen gelöst ist, letztlich doch immer noch an bestimmte, persönlich verantwortete Interessen und die Autoritäten wissenschaftlicher Tradition gebunden. Für die späteren Bearbeiter stehen genau diese Interessenschwerpunkte quer zur Anlage des Werks, und die den Leser leitenden Zusätze scheinen ihnen zwar nützlich, aber dem umfassenden Anspruch doch letztlich hinderlich. Lycosthenes entwirft in der Praefatio die Geschichte des menschlichen Wissens als einen gigantischen Akkumulationsprozess, in dessen Verlauf, göttlichem Schöpfungsauftrag gemäß, der Mensch die Welt erforscht. Subjekt dieses Wissens ist das Menschengeschlecht insgesamt. Erst durch die Gottesgabe (divinitus) der ars typographica, d. h. eine Technologie, die nicht mehr an bestimmte Orte und Institutionen gebunden ist und für eine relativ gleichmäßige Verteilung von Wissen sorgt, kann der göttliche Auftrag richtig erfüllt werden. Diesem allgemeinen Auftrag hat der ›Elenchus‹ zu dienen. Natürlich fördert er auch die Einrichtung von Privatbibliotheken, die optimis libris uel leuiter instructa[e] sind und doch immer nur einen schma len Ausschnitt aus dem ständig wachsenden Bestand an Wissen bieten (Lycosthenes, Bl. b1r). Gesners Unternehmen sei dagegen durch die zusätzlichen Informationen zu jedem Buch, die dem Benutzer die Auswahl für die eigene Bibliothek erleichtern sollte, letztlich doch wieder zu sehr auf den einzelnen ausgerichtet; seine übertriebene Sorgfalt (nimia eruditissimi diligentia) hatte Weitschweifigkeit (prolixitas) zur Folge; dadurch wurde das Buch zu teuer und verfehlte seinen Zweck (ebd.). Der immense Zuwachs an Wissen hat Zeitknappheit zur Folge; diese erfordert Erschließungsinstrumente, die den einzelnen entlasten. So wünscht er sich auch für andere Bücher abbreviatores (Bl. b1v); die Menschen seien in Interessen und Begabung verschieden (diuersa hominum ingenia), und angesichts ihrer zeitlichen Belastung sei Kürze (Laconica brevitas) notwendig, damit etwas überhaupt zur Kenntnis genommen werden kann. ›Wissen‹ ist für Lycosthenes weit mehr als für Gesner eine kollektive Angelegenheit, oberhalb einzelner Vorlieben und der Besonderheit einzelner Disziplinen. Auf

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Das Internet erlaubt wegen der riesigen Speicherkapazität gleichfalls die Ausweitung auf allerlei ergänzendes Datenmaterial. Von der Möglichkeit wird reger Gebrauch gemacht.

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der Ebene dieses kollektiven Wissens ordnen sich die Gegenstände neu und anders. Bei Lycosthenes geht die Depersonalisierung deshalb weiter. Er setzt bei den Relikten eines personenbezogenen Wissens an und reduziert sie radikal, indem er sich im Wesentlichen auf Autoren, Titel und knappste Hinweise zu den Themen beschränkt.22 Aber es geht ihm nicht um Kürzungen aus Ersparnisgründen, sondern um einen anderen Typus von Buch. Deshalb erweitert er das Werk um 1800 zuvor übergangene Autoren (autores, in prima editione omissos), damit es das menschliche Wissen besser repräsentiert. Insofern ist der Vorwurf des Plagiats der ›Bibliotheca Universalis‹ unangemessen, denn solch ein Werk gehört nicht einem einzelnen und kann deshalb nicht dessen Unwillen erregen (Bl. b1v). Lycosthenes begründet seine Arbeit zwar noch herkömmlich mit einer Dienstleistung gegenüber seinen Freunden und dem Wunsch, ein erschwinglicheres Buch zur Verfügung zu stellen, doch ist das Ziel größtmöglicher Vollständigkeit übergeordnet, eine Bibliothek, die alles Wissen allen verfügbar macht (Bl. b2v). Das haben Gesners Mitarbeiter verstanden und den ›Elenchus‹ nicht als kommerzielles Konkurrenzunternehmen, sondern als Basis ihrer Weiterarbeit betrachtet. Auch der nächste Fortsetzer Simler erkennt in seiner Vorrede von 157423 zwar den Informationsgehalt der vielen Zusätze Gesners an, die nicht nur darüber informieren, wer was geschrieben hat, sondern auch wie, mit welcher Reichweite, in welchem Stil, so dass daraus ein Interesse [am Buch] erwachsen kann,24 doch empfindet er sie als unzureichend. Dergleichen verlange angesichts der Vielfalt der beteiligten Disziplinen die Beteiligung vieler Gelehrter (multorum hominum etiam doctissimorum operam, Bl. 5r), der Zuwachs an Wissen könne nicht mehr in einem Band aufgehoben werden, angesichts der knappen Ressourcen an Zeit und Geld könne keiner ein solches Gesamtwerk noch nutzen oder auch nur bezahlen (hinderlich sind vel prolixitas, vel operis precivm, Bl. 4v). Der Gesnersche Arbeitsstil

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Längere naturkundliche Ausführungen (etwa bei Aelian, Sp. 10) entfallen, allenfalls bei religiösen Texten, denen sein Interesse besonders gilt, gibt es kommentierende Ausführungen. Tatsächlich geht die Zahl der genannten Titel immer noch erheblich über die Zahl selbständiger Schriften hinaus; Lycosthenes verschiebt gewissermaßen Gesners Kategorien, indem er manches zum selbständigen Werk aufwertet. Bei Enea Silvio Piccolomini führt er unter den scripta auch einzelne Briefe auf, also etwa die an König Ladislaus, doch behandelt er sie als selbständige libella (Sp. 14). Die Werke des Flavius Josephus nehmen knapp eine halbe Spalte ein (Sp. 286). Die Vorrede von 1574 ist in die Ausgabe von FRISIUS (1583) übernommen und zusätzlich von Johann Jacob Frisius unterzeichnet. Geplant war dort, einen neuen Nomenclator des Frisius hinzuzufügen, der die alphabetisch aufgeführten Namen der Autoren, die angesichts der Fülle der Namen nicht mehr handhabbar ist, secundum artes et facultates eorumque titulos ordnen sollte: Hinweis auf die notwendige disziplinäre Ausdifferenzierung. SIMLER: ›Bibliotheca instituta et collecta primvm a Conrado Gesnero‹ (1574), Bl. 5v: in qua non tantum quid quisque scripserit, sed quo modo, quatenus, quoque stilo exponeretur, vt delectus librorum inde fieri possit.

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ist dem Unternehmen unangemessen. Wissen ist nur noch mit Arbeitsteilung zu bewältigen. Es entsteht ein neuer Typus des Wissensspeichers. Die Zurückdrängung der Interessen des Bibliographen geht dabei entschieden weiter als in anderen enzyklopädischen Werken der Zeit, demjenigen Possevinos z. B. oder dem Zwingers.25 Possevino und Zwinger bringen noch das Kriterium konfessioneller Rechtgläubigkeit zur Geltung. Simler lehnt selbst dies als Selektionskriterium ab: Seine theologische Position sei bekannt, hier aber habe sein Urteil über Bücher keinen Platz (quod hoc ab instituto meo alienum sit). Wenn etwas fehle, dann sei der Grund, dass es vergessen wurde oder nicht bekannt war (obliuionis aut ignorantiae culpa), nicht Abneigung, Neid oder irgendein anderer Affekt des Bibliographen (odio aut inuidia aut alio affectu). Auch Häretiker und Katholiken fänden, da in Büchern bezeugt, Erwähnung (Bl. 5v). Simler unterscheidet also bereits klar zwischen verschiedenen Rollen des Wissenschaftlers, dem Bibliographen und dem Theologen. Im Speicher universellen Wissens hat nicht nur das Subjekt, sondern auch die Gruppe, zu der es sich zählt, keinen Platz mehr, und disziplinäre Grenzen sind allenfalls sekundäre Ordnungskriterien.

Neuer und alter Gelehrtentypus Allerdings steht der ursprüngliche Versuch Gesners noch an der Schwelle dieser neuen Auffassung von Wissenschaft. Gewiss wäre es nun zu einfach, in den Spuren von Gesners individuellen Interessen Relikte eines obsoleten Wissenschaftsstils zu sehen, der mit der Ausbildung größerer anonymer Apparate noch nicht zurechtkommt, und die Fortschrittsgeschichte moderner Wissenschaft mit Gesners Nachfolgern Lycosthenes, Simler und Frisius oder dem völlig nüchterndepersonalisierten Labbé26 beginnen zu lassen, in deren Händen die ›Bibliotheca universalis‹ zu dem wird, was Gesner angeblich beabsichtigte, zu einem neutralen Informationsmedium. Neutrale Wissensspeicher sind nämlich schon dem Mittelalter bekannt. Bei Vincenz von Beauvais z. B. gibt es zwar den Wahrheitsvorbehalt der christlichen Lehre, an der alle Wissensbestände gemessen werden, doch drängt sich das Subjekt des Enzyklopädikers gleichfalls nicht in den Vordergrund. Im Gegenteil tritt er ausdrücklich nur als Sprachrohr der Tradition, als recitator, auf, der für die Wahrheit des Verzeichneten nicht selbst eintreten will.27 Allerdings bedeutet dieses Zurücktreten des Verfassers hinter die Tradition in der mittelalterlichen Enzyklopädie etwas anderes als in der frühneuzeitlichen. Gesners Projekt geht

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POSSEVINO: ›Bibliotheca selecta Qua agitur de ratione studiorum‹ (1593); ZWINGER: ›Theatrum vitae humanae‹ (1565). L ABBÉ: ›Bibliotheca bibliothecarvm cvris secvndis avctior‹ (1664). So ausdrücklich Vincenz von Beauvais; vgl. J.-D. MÜLLER (1995b); zu Vincenz‹ Selbstverständnis vgl. VON DEN BRINCKEN (1978), S. 410–464; zur Edition S. 465–499.

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nämlich – darin radikaler als Possevino und Zwinger – davon aus, dass es nicht die eine, alle verpflichtende Tradition gibt und dass das Tradierte nicht mehr mit einer Zunge spricht. Die drei heiligen Sprachen könnten die Illusion einer einheitlichen Tradition erzeugen, doch was Gesner aus ihnen aufzeichnet, ist nach den selbst gesetzten Kriterien dispers. Wo Vincenz hinter einer Tradition verschwinden kann, weil sie mit der Wahrheit identisch ist, sieht der Verfasser der ›Bibliotheca‹ sich vor einer Pluralisierung der Wissenstraditionen – antiker, mittelalterlicher, zeitgenössischer –, gegenüber der kein fester Standpunkt mehr möglich ist. Vielmehr muss jeder gegenüber diesen Traditionen seinen eigenen Standpunkt gewinnen, und eben dazu will die ›Bibliotheca‹ anleiten. Deren Verfasser, will er in diesem Meer nicht ertrinken, muss sich gegenüber seinen Adressaten durch ein besonders umfangreiches Wissen und durch die Sorgfalt, mit der er alles registriert, auszeichnen. Damit kommt auf beiden Seiten, wenn auch in ganz anderer Weise als bei Vincenz, das Subjekt der Wissenschaftler ins Spiel. Und hier zeigt sich, dass Gesner, ungeachtet seines Vorhabens, einem traditionellen Wissensverständnis anhängt. So ist es symptomatisch, dass genau an der Stelle die Entkoppelung von Wissenstradition und Forschersubjekt am deutlichsten aufgehoben wird, wo Gesner von sich selbst, seinen Schrif ten und dem Projekt der ›Bibliotheca‹ spricht. Es handelt sich um einen umfangreichen Artikel.28 Dieser beginnt zunächst wie alle anderen in der dritten Person; der Verfasser der ›Bibliotheca‹ stellt sich vor, nimmt freilich schon Bezug auf das vorliegende Werk: Conradus Gesnerus Tigurinus, huius bibliothecae consarcinator (anno aetatis suae vicesimo octauo, et anno salutis 1544). Insoweit ist der Duktus dem der übrigen Artikel ähnlich. Doch schon im nächsten Satz wechselt Gesner in die erste Person (proposuerim), und nachdem er noch einmal seine Absichten mit der ›Bibliotheca‹ wiederholt hat, wechselt er vollends in die IchPerspektive (nonnihil etiam de meipso ac meis scriptis dicere uolui). Es scheint nur so, als gebe Gesner wie bei vielen anderen knappe Daten zu Lebensgeschichte und -umständen und als wolle er damit seinen Platz innerhalb der gelehrten Tradition bestimmen, indem er die Reihe seiner Vorgänger im Verfassen von Katalogen aufzählt. Tatsächlich nämlich beschränkt er sich nicht auf sein Werk als Autor, sondern erzählt unter mancherlei Entschuldigungen (pudor enim ingenuus orationem contrahit) seine Bildungsgeschichte. Er nennt seine Lehrer und Gönner, berichtet von seiner Familie, von seiner Krankheit, seinen Freunden, seinen Geldsorgen, von Drucker willkür, von Erfolgen wie Verirrungen, seinem polyhistorischen Bildungshunger, seinen medizinischen Interessen von Jugend an, (Bl. 180r/v). Der Artikel enthält in seinem zweiten Teil natürlich auch eine Bibliographie in nuce, die die einzelnen Werke, wie man das aus mittelalterlichen Accessus kennt, in den Lebens-

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Bl. 179v–183r = ca. 7 Seiten! Dieser Umfang wird in den Ausgaben von Simler und Frisius noch leicht überschritten, obwohl sie bestimmte Passagen des Artikels nicht übernehmen. Das hängt damit zusammen, daß sie weit ausführlicher als dieser selbst Gesners Schriften aufnehmen, auch die nach Erscheinen der ›Bibliotheca‹ entstandenen. Das Bild des Polyhistors Gesner wird damit enzyklopädisch gestützt.

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zusammenhang zurückgestellt, dem sie entsprungen sind. Am Ende werden auch künftig geplante Schriften erwähnt (communicabimus). Vor allem aber erzählt er von sich selbst. Der Lebenszusammenhang gewinnt selbständiges Interesse gegenüber dem Verzeichnis der Schriften. Der Text ist autobiographisch im Sinne der Zeit. Gesner thematisiert das Verhältnis von individueller Biographie und Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs als Problem. Die Nachlässigkeit eines Druckers bei der Bearbeitung eines von ihm besorgten Lexikons wird kritisiert, das gelehrte Werk mit Lebenszeit bilanziert.29 Seine Vielschreiberei erklärt er mit der Notwendigkeit, unablässig für den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen zu müssen. Er führt die eigene Lebensgeschichte für exemplarische Einsichten an, bis hin zu moralischen Überlegungen, was man aus den Verirrungen des jungen, gerade achtzehnjährigen Gesner (quae aetas maxime sui negligens est, si desit consiliarius aut hortator) in Paris lernen könne (Quamobrem ego etiam curiosius hæc de me scribo, ut meo exemplo admoneam quàm noxium sit adolescentes sibi suoque arbitrio permittere). Er wendet sich emphatisch an die bildungshungrige Jugend und mahnt sie, den Rat der Gelehrten nicht zu verwerfen (Vos autem ô boni iuvenes [...] moneo et adhortor, uiros eruditos sæpe accedite, nihil absque consilio eorum agite) (Bl. 180r). Was hat das in der ›Bibliotheca‹ zu suchen? Im Grunde ist diese Schreibweise der Textsorte Bibliographie unangemessen und Gesner erkennt die Abschweifung selbst (Sed rapior longius extra oleas, Bl. 181). Dass er sie trotzdem in dieser Ausführlichkeit bringt, zeigt, dass ihm das Verhältnis von neuem Wissen und Subjekt problematisch ist. Gesners Werk markiert eine Schwelle disziplinärer Professionalisierung. Er sieht sich zwar als Mitwirkender einer kollektiven Sicherung von Wissen, an dem viele einzelne arbeiten, die in seinem Werk allenthalben präsente sodalitas eruditorum, Fürsten, Mäzene, Drucker, und er weiß, dass die Vervielfältigung der Wissensbestände die Ausbildung transpersonaler Institutionen wie öffentlicher Bibliotheken und Archive verlangt. An eben dieser Schwelle zur Institutionalisierung und Professionalisierung stellt sich die Frage nach der Position des einzelnen Forschers innerhalb dieses kollektiven Prozesses. Sie ist auf der einen Seite marginalisiert (was der Fortgang des Unternehmens bestätigt), drängt aber auf der anderen ins Zentrum. Gesner bringt sich selbst ins Spiel, indem er unablässig beteuert, wie sehr er eigene Wünsche, sein eigenes Leben dem Ziel, einer rastlosen wissenschaftlichen Tätigkeit, unterordnete und wie doch immer wieder kontingente Umstände – Geldknappheit z.B. und der Zwang zu dauerndem Gelderwerb – diese Ziele behinderte. So erzählt er seine mühsamen Versuche, Wissenschaftler zu werden. Schwierige persönliche Umstände erklären den raschen Rhythmus und manche Flüchtigkeit der wissenschaftlichen Publikationen. Gesner reiht sich nicht einfach unter seine Vorgänger und Mitstreiter ein, sondern beschreibt die Schwierigkeiten und Anstrengungen, die das voraussetzt. Er bestimmt sich nicht über eine Gruppenidentität, sondern in der Auseinandersetzung seiner persönlichen Ziele

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Gesner beklagt, tantum nostrum laborem tam negligenter tractatum esse (Bl. 180r).

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mit ihr. Die abstrakten Erfordernisse der Institution Wissenschaft und der individuelle Lebensplan sind konflikthaft aufeinander bezogen.30 Er sucht sich ihnen anzupassen und weiß doch, dass er ihnen nur teilweise gerecht werden kann wie sie ja auch nur einen Teil seines Lebens ausmachen. Mit anderen Worten, an jener Schwelle zeichnet sich ab, was die Soziologie als Identitätsbildung durch Exklusion und als partizipative Identität des modernen Subjekts beschreibt.31 Wissenschaftler und Wissenschaft treten auseinander. Dieser Prozess wechselseitiger Ausdifferenzierung, in dessen Verlauf auf der einen Seite Wissenstradierung sich als kollektiver Vorgang organisiert und auf der anderen Seite sich Subjekte in der Abgrenzung von diesem definieren, spiegelt sich in der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Textsorten. Verkürzt gesprochen: es trennen sich subjektübergreifende Wissenschaft und eine subjektzentrierte Literatur. In Gesners ›Bibliotheca‹ von 1545 sieht man gewissermaßen die beiden Tendenzen miteinander kämpfen. Der autobiographische Einschub in der Bibliographie erscheint im Rückblick nur als eine kuriose Panne. Er zeigt aber, wie Gesner versucht, die Kontingenz des Nur-Individuellen mit der Verbindlichkeit eines für alle bestimmten, alles abdeckenden Wissens zu kombinieren. Das Bedürfnis, den Verlust an Autorität zu kompensieren, lässt das Bemühen um Neutralität in den Hintergrund treten.

Ausdifferenzierung eines neuen Texttypus Bezeichnenderweise setzen nun genau hier Kürzungen der Nachfolger an. Für die ›Bibliotheca‹ ist Gesners Lebensbeichte dysfunktional. In Conrad Lycostenes‹ ›Elenchus‹ ist selbstverständlich die Ich-Perspektive aufgegeben.32 Das liegt natürlich auch am Charakter einer Epitome, die Platz sparen muss und sich daher auf die wichtigsten Daten beschränkt. Trotzdem entspricht Lycosthenes’ Kargheit weit eher dem von Gesner geäußerten Programm. Wenn Gesners Mitarbeiter später die vollständige ›Bibliotheca‹ erneuern und ergänzen, bleibt deshalb konsequenterweise das Gerüst des Lycosthenes maßgeblich, d. h. man konzentriert sich auf den Wissensspeicher. Der Gesner-Artikel umfasst bei Lycosthenes nicht einmal 2,5 Spalten. Die ganze biographische Einleitung entfällt; das dort erwähnte lexikographische Jugendwerk (für Gesner Anlass über die Manipulationen der Drucker zu klagen)

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Im Sinne des Münchner Sonderforschungsbereichs 573: Das Verhältnis von Autorität und Pluralisierung konfiguriert sich neu. H AHN (1997), vgl. WILLEMS u. H AHN (1999), S. 9–29, bes. S. 14–18. Vgl. für das folgende LYCOSTHENES: ›Elenchvs scriptorvm omnivm vetervm scilicet recentiorum‹ (1551), Sp. 194–197. Der Artikel ist immer noch länger als die meisten anderen, aber fällt nicht mehr – wie dann bei Simler und Frisius wieder – aus dem Rahmen.

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ist aus dem autobiographischen Kontext herausgezogen und leitet die Aufzählung der Schriften ein, mit denen Gesner erst begann, nachdem er ausführlich von sich selbst und den Schwerpunkten seiner Interessen berichtet hatte. Der Artikel setzt nicht anders ein als die übrigen: Conradus Gesnerus Tigurinus uir Græcè Latinèque ac in literis humanioribus solidè doctus, medicus insignis (Sp. 194); es folgen die einzelnen Schriften, manchmal mit knappen Charakteristiken, einschließlich der ›Bibliotheca universalis‹, der ›Pandekten‹ und ›Partitiones‹, bei der ›Bibliotheca‹ ohne jeden Hinweis, dass es sich um die Basis des vorliegenden Werks handelt (Sp. 196). Insgesamt ist Gesner ins Kollektiv zurückgetreten, unter den Tausenden von Schriftstellern, deren Werke insgesamt das Gedächtnis der Menschen ausmachen, einer von vielen, der nur besonders viel geschrieben hat. Dasselbe macht Lycosthenes auch mit dem Eintrag seines eigenen Namens: Conradus Lycosthenes, Rubeaquensis, scripsit commentaria in Plinium iuniorem (Sp. 198). Der Autor Lycosthenes unterscheidet sich in nichts von den anderen Autoren. Als letzte seiner Schriften erscheint die Bibliographie selbst, hier immerhin zur Charakteristik auf die Vorrede zurückgreifend: Contraxit etiam Conradi Gesneri Medici clarißimi magnum ac multis laboribus congestum Bibliothecae opus, in breue hoc Compendium, in gratiam eorum qui breuitate gaudent, ac ob æris penuriam ab emptione magni operis deterrentur (Sp. 199). Das betrifft allein das Werk, nicht das Leben. Gesners Schüler Simler geht mit dem Lehrer etwas großzügiger um. Sein Gesner-Artikel umfasst (einschließlich der Corrolaria) immerhin mehr als dreizehn Spalten.33 Gesner wird – darin wird man ein Relikt der skizzierten Funktion sehen dürfen – mit seinen eigenen Worten zitiert,34 doch ist die Ich-Perspektive ausschließlich auf die Darstellung seiner Bücher beschränkt, indem das Exzerpt erst dort ansetzt, wo Gesner auf seine Schriften zu sprechen kommt, also nach dem lebensgeschichtlichen Teil. In Gesners Worten ist immer noch viel PersönlichBiographisches.35 Wo Bemerkungen zu einzelnen Werken ursprünglich in die Pathogenese einer jungen Gelehrtenkarriere eingebettet waren, da lässt Simler diesen Kontext weg, übergeht die Erzählung vom Aufenthalt am Genfer See, von den Freunden dort, einem Onkel, dem der junge Gesner das Interesse an Medizin verdankt, vom Studium in Montpellier, von der unglücklichen Rückkehr nach Lausanne, dann nach Zürich, von den familiär beengten Verhältnissen dort usw.

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SIMLER: ›Bibliotheca instituta et collecta primvm a Conrado Gesnero‹ (1574), S. 136– 142; ebenso umfangreich ist der Artikel bei FRISIUS: S. 161–168. Die Corrolaria enthalten die nach dem Katalog erschienenen oder in Gesners Nachlass vorhandenen Werke, die Ausgaben von 1574 und 1583 stimmen überein. Conradus Gesnerus Tigurinus, medicus et philosophus clarissimus, cum ipse plurima scripsit, tum multa etiam aliorum in lucem edidit, quorum omnium Catalogum cum ipse ediderit, visum est eundem ipsius verbis apponere (Sp. 136a). Im Wortlaut wie in einigen Details weicht das von der Ausgabe von 1545 erheblich ab. Die Geschichte ist bis 1562, zur Abfassung der Version des Textes durch Gesner, auf die Simler sich beruft, fortgeführt.

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Simler führt die Publikationsgeschichte der Werke Gesners folgerichtig bis zur Gegenwart, und das heißt, über Gesners Tod hinaus.36 So gibt nicht mehr die Chronologie der Biographie die Ordnung vor, sondern das einzelne Werk, bei dem meist Drucker, Druckort, Erscheinungsdatum, Format und Seitenzahl genannt werden: Gleichmäßigkeit der Information statt lebensgeschichtlicher Justierung. Ganz wird die Rückbindung an den Verfasser nicht gekappt. Die umfangreichsten Werke Gesners werden genau vorgestellt in ihren Voraussetzungen und Absichten. Es finden sich immer wieder Hinweise auf die kontingenten Umstände, die diesen Fund begünstigten oder jenen Abschluss verhinderten. Doch unterbleiben – im Vergleich mit der Erstausgabe – einige charakterisierende Bemerkung zu den einzelnen Werken, ihren Absichten, ihrer Einrichtung. Der Text ist eine Hybride: Da Simler sich auf Gesners eigene Darstellung stützt, ist er überwiegend in der ersten Person (Singular wie Plural) geschrieben, doch wird ihm passagenweise der depersonalisierte Kommentar des Herausgebers inseriert (Vltima editio publicata est Basileæ 1560, in fol.). So wechseln dauernd Ich-Rede (immer nur bezogen auf einzelne Werke) und nüchternes Registrieren von Daten. Gesners Zitate passen nicht immer für ein Buch von 1574, denn sie sind manchmal auf einen vergangenen Zeitpunkt im Leben Gesners bezogen oder kündigen etwas für eine Zukunft an, die aus der Perspektive des Bearbeiters bereits ferne Vergangenheit ist (Sp. 139a). Am Ende formuliert Gesner eine Art Vermächtnis, indem er seinen unermüdlichen Arbeitswillen bekundet und Nachfolger aufruft, seine Bemühungen fortzusetzen. Diesem persönlichen Appell Gesners schließt sich ein Corrollarium Simlers an, denn Nachlass und Publikationsgeschichte reichen über den Tod hinaus. Vom autobiographischen Exkurs wird das Verzeichnis zwar freigehalten, doch entsteht eine Mischform zwischen Selbstdarstellung und bibliographischem Konzentrat.37 Es ist ein mühsamer Prozess, der da in Gang kommt, und die ersten Schritte sind widersprüchlich. Bibliographien tragen heute allenfalls in Vorworten Spuren ihres Verfassers; sie selbst sind auf streng sachliche Information beschränkt. Im ersten Jahrhundert des Drucks sucht Gesner noch jene beiden Tendenzen zu verbinden, die sich zunehmend gegeneinander ausdifferenzieren: Subjektivität und anonymen Wissensspeicher. Schon seine Nachfolger gehen über diesen Versuch hinweg. Verlängert man die Linien bis zur Gegenwart, dann scheint im 16. Jahrhundert erstmals der Zusammenhang von kollektivem Wissen und individueller Lebensgeschichte nicht mehr vermittelbar. An der Druckgeschichte sind gewissermaßen noch die Schlacken wechselseitiger Ausdifferenzierung zu erkennen. Die Epoche aber, in der Autobiographisches als Fremdkörper im Wissensspeicher erscheint, ist dieselbe, die den Durchbruch der Autobiographie als literarische Gattung bringt. Das Verhältnis von Tradition und Subjekt muss neu konfiguriert werden.

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Vgl. etwa die lateinischen und deutschen Ausgaben des Stobaeus (S. 137a). FRISIUS: ›Bibliotheca instituta et collecta, primvm a Conrado Gesnero‹ (1583) geht nicht über das Erscheinungsjahr von Simlers Neufassung voraus.

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Ausblick Die Steigerung der Kapazitäten von Wissensspeichern allein scheint nicht auszureichen. Sie ruft eine Reihe neuer Ordnungsversuche hervor. Auf einer ersten Stufe nutzt man aus, dass Zugangsbeschränkungen aller Art gefallen sind, personale, soziale, ökonomische, regionale, zeitliche. Gesner reagiert darauf mit einer immensen Akkumulation von Wissbarem. Es bleibt de facto beschränkt durch das, was ihm erreichbar ist. So ist sein Werk von Anfang an auf Ergänzung durch andere angelegt. Wissensakkumulation ist ein nur kollektiv zu bewältigender Prozess. Die Bindung von Wissen an ein Subjekt wird Schritt für Schritt gelöst. Damit werden andere Strukturierungen des Wissensbestandes notwendig. Die den Zeitgenossen sich zuerst anbietende ist die Topik, im Sinne einer Findelehre für Sachverhalte und Argumente. Rückblickend kann man sagen, dass die Topik an dieser Aufgabe gescheitert ist: Gesners ›Pandekten‹ wurden mit gutem Grund nicht wiederaufgelegt, denn ihre Erschließung der ›Bibliotheca universalis‹ schickt den Leser in ein nicht mehr überschaubares Labyrinth von Büchern und vermag ihn nicht sicher zu den Informationen zu leiten, die er braucht. Und auch allgemein hat die alte Lehre von den loci et imagines, die der Speicherung des Wissens dienen sollten, die Fülle des Wissbaren nicht bewältigen können. Topik meint hier etwas anderes als in Schmidt-Biggemanns Entwurf einer Topica universalis, die die philosophischen Grundlagen jener Findelehre in einer von Gott nach Zahl, Maß und Gewicht geordneten Welt legt, in der jedes seinen ›Ort‹ hat. Doch ist das praktische Scheitern einer topischen Erschließung der Welt, wie es sich in Gesners ›Pandekten‹ schon abzeichnet, mehr als nur ein Problem der Durchführung. Es zeigt, dass die tradierten Ordnungsmuster gleichfalls dem Anspruch des neuen Wissens nicht mehr gewachsen sind.38 Die Theatra des Wissens, die dieses anzuordnen sich zu bemühen, entwerfen nurmehr an der Oberfläche überschaubare Ordnung des Wissens,39 die eine taxonomische Zuordnung der einzelnen Wissenselemente erlaubt, nicht aber deren systematische Verknüpfung zu einem Wirkungszusammenhang. Die sog. ›Buntschriftstellerei‹ kann als ein Zerfallsprodukt der alten Topik betrachtet werden: Sie dient der Unterhaltung und Belehrung über allgemein interessierende Themen, die in Inhaltsverzeichnissen aufgeführt werden; diese Themen stimmen zum Teil mit den traditionellen loci des Wissens überein, wählen aber unter diesen nur einige, eben konversationsrelevante aus; diese sind, anders als 38

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SCHMIDT-BIGGEMANN (1983). Schmidt-Biggemann untersucht allerdings nicht das Scheitern des topischen Entwurfs und würde eine entsprechende Feststellung als (illegitime) Außenperspektive auf die topische Ordnung kritisieren; vgl. aber L EPENIES (1974). Das gilt auch für die berühmten Schemata von Fludd, die zwar, geordnet um ein Zentrum, alle Felder des Wissbaren versammeln, doch um den Preis eines Reduktionismus, der sich um die faktischen Detailprobleme nicht mehr zu kümmern braucht. Die Theatrum-Tradition wurde im Rahmen des SFB 573 ›Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‹ von Dr. Markus Friedrich untersucht.

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die Topik anstrebte, nicht mehr möglichst vollständig untereinander verbunden, sondern allenfalls assoziativ verknüpft. Insofern lässt sich sagen, dass sie das Erbe der älteren Enzyklopädik antreten. Einige Abschnitte der ersten Ausgabe der ›Bibliotheca universalis‹ scheinen in ihrer Versammlung von diesem und jenem auf dem Weg zu diesem Typus von Schriften. Der wissenschaftsgeschichtliche Prozess geht andere Wege. Anstelle programmatischer Ordnungs- und Erschließungsversuche des heterogenen Materials, das die ›Bibliotheca‹ versammelt, haben Gesners Nachahmer und Nachfolger daran gearbeitet, den Texttypus ›Bibliotheca‹ selbst weiter zu entwickeln. Das bedeutete eine scharfe Selektion der darin verzeichneten Daten, von der hier nur der Aspekt der ›Depersonalisierung‹ verfolgt wurde. Das bedeutete auch, dass angesichts der Spezialisierung von Wissen spezifischere disziplinenbezogene Erschließungsinstrumente als notwenig erkannt wurden (so bei Simler, 1574, Bl. 5r). Arbeitsteilung muss neu organisiert werden. Wo Gesner selbst noch eine Art Skizze seiner wissenschaftlichen Laufbahn einfügte, da bleibt bei den späteren im Kern nur noch eine Abfolge von Titeln übrig. Die ›Bibliotheca‹ verband (neben vielem anderen) noch Bibliographisches mit Autobiographischem. Die jüngeren Ausgaben konzentrieren sich auf das erste; für das zweite entsteht (oder besser: wird wiederentdeckt und weiterentwickelt) eine besondere Gattung: die Autobiographie. In dem mit Gesners Namen verbundenen Werken kam das Subjekt vordergründig nur als wissenschaftlicher Benutzer vor. Das ist auch die einzige Rolle, die Gesners Nachfolger ihm zuweisen. Doch zeigte sich am Artikel über Gesner selbst, dass diese Rolle als unzulänglich empfunden wurde: In die Textsorte Bibliographie nistete sich eine dysfunktionale autobiographische Passage ein. Sie wurde à la longue ausgeschieden. Für Gesner scheint die Verknüpfung des Wissensspeichers mit seiner Person noch selbstverständlich gewesen zu sein.

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Nachweise

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